GA 62

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

ÖFFENTLICHE VORTRÄGE

Ergebnisse der Geistesforschung

Vierzehn öffentliche Vorträge
gehalten zwischen dem 31. Oktober 1912
und dem 10. April 1913
im Architektenhaus zu Berlin


GA 62

1988

Inhaltsverzeichnis


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WIE WIDERLEGT MAN GEISTESFORSCHUNG? Berlin, 31. Oktober 1912

Wie in den verflossenen Wintern werde ich mir gestatten, im Laufe dieses Winterhalbjahres eine Anzahl von Vor­trägen über Geisteswissenschaft hier an diesem Orte zu halten. Aus dem Programm wird ersichtlich sein, daß diese Vorträge sich zuerst auf das erstrecken sollen, was die Gei­steswissenschaft von ihrem Gesichtspunkte aus über die Fragen des Lebens vorzubringen hat, daß dann der Über­gang gemacht werden soll zur Beleuchtung einiger wich­tiger Kulturerscheinungen, hervorragender Kulturtatsachen und hervorragender Persönlichkeiten der Vergangenheit, wie etwa Raffael, Leonardo da Vinci, und daß zuletzt noch die Beziehung, das Verhältnis der Geisteswissenschaft zu mancherlei Erscheinungen im unmittelbaren gegenwärtigen Geistesleben beleuchtet werden soll. Heute sollen diese Vorträge in einer eigenartigen Weise begonnen werden. Es soll im Eingange nicht das vorgebracht werden, was zur Erhärtung und zur Bekräftigung dieser Geistesforschung gesagt werden kann, sondern im Gegenteil das, was an möglichen, an bedeutungsvolleren Einwänden gegen diese Geisteswissenschaft vorgebracht werden kann.

Es liegt in der Natur der Tatsachen, daß diese Geistesforschung in unserer Gegenwart infolge des Standes unserer Zeitbildung und infolge mancherlei anderer Tatsachen viele Gegnerschaft nach sich zieht. Aber nichts wäre gerade die­ser Geisteswissenschaft unangemessener, als wenn sie in Fa­natismus verfallen würde und sozusagen nur das sehen

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wollte, was von dem Gesichtspunkte ihrer Vertreter an Gründen für sie aufgebracht werden kann. Fanatismus muß gerade - und wir werden sehen, aus welchen Gründen - dieser Geistesforschung völlig fernliegen. Daher muß sie, mehr als dies vielleicht von irgendeinem anderen Stand­punkt aus nötig ist, darauf bedacht sein, die Einwände ihrer Gegner zu verstehen, ja, sie muß sie in einem gewissen Sinne geradezu tolerieren, und begreiflich muß es ihr er­scheinen, daß eine ganze Anzahl gerade ehrlicher Wahr­heitssucher der Gegenwart nicht mit ihr gehen können. Es ist ja meine Gewohnheit gewesen - die verehrten Besucher der früheren Vorträge werden das wissen, und diese Ge­wohnheit soll auch in der Folge fortgesetzt werden -, bei den einzelnen Vorbringungen zugleich auf die möglichen Einwände Rücksicht zu nehmen. Heute sollen sozusagen bedeutungsvollere, gewichtigere Einwände vorweggenom­men werden. Denn Einwände gegen das, was von dem Standpunkte der Geistesforschung zu sagen ist, ergeben sich wahrlich nicht bloß von den Gegnern her, sondern bei einem gewissenhaften Betriebe der Geistesforschung fühlt sich die Seele, die einem solchen Betriebe hingegeben ist, auf Schritt und Tritt selber vor diese möglichen Einwände gestellt. Weil ja die Wahrheiten der Geistesforschung in der Seele errungen, erkämpft werden müssen, so muß die Seele in einer gewissen Weise dem Gegner in bezug auf solche Ein­wände, die in der Seele selbst geltend gemacht werden, auch gewachsen sein, und viel besser wird man auf diesem Ge­biete fortkommen, wenn man sich von vornherein darüber klar ist, was alles eingewendet werden kann.

Nun soll es allerdings nicht meine Aufgabe sein, auf die­jenigen Einwände oder angeblichen Widerlegungen hier einzugehen, welche sozusagen auf der Straße gefunden oder aus den Fingern gesogen werden können, sondern es

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soll auf die Einwände Rücksicht genommen werden, die man sich als ehrlicher Wahrheitsucher aus unserer Zeitbildung, aus den geistigen Grundlagen unserer Gegenwart heraus selber machen kann und in einem gewissen Grade sogar machen muß. Auch nicht auf die Einwände gegen gar mancherlei soll eingegangen werden, was sich heute oft Gei­stesforschung oder Theosophie nennt; denn von vornherein soll zugegeben werden, daß man mit vielem - namentlich in der Form -, was heute als «Theosophie» auftritt, nicht gerade Staat machen kann. Aber das, was hier vertreten wurde und vertreten wird, das soll in meinen heutigen Ein­wänden berücksichtigt werden. Wenn wir uns aber auf solche Einwände einlassen wollen, so muß mancherlei von dem, was schon im Laufe der vorhergehenden Zyklen ge­sagt worden ist und was in den nächsten Vorträgen noch zur Sprache kommen wird, gleichsam im Umriß vor die Seele gerückt werden. Kurz wollen wir uns also darüber verständigen, was unter Geistesforschung nach ihrem In­halte und ihren Quellen hier gemeint ist.

Zunächst kann man ganz im allgemeinen Geisteswissen­schaft dadurch charakterisieren, daß man sagt, die Geistes­wissenschaft stelle sich auf den Standpunkt, daß sie über alles, was der Mensch durch seine Sinne wahrnimmt, was er mit einer Wissenschaft zu ergründen vermag, die vor­zugsweise auf die Sinne und auf den Verstand gebaut ist, der aus den Sinnen seine Schlüsse zieht - daß sie über alles dieses hinausschreiten muß zu den geistigen Ursachen der sinnlichen und durch den Verstand erforschbaren Tatsachen, so daß sie überall hinter diesen sinnlichen Tatsachen eine geistige Welt nicht nur annimmt, sondern zu beweisen ver­sucht, eine geistige Welt, in welcher die Ursachen zu alle­dem liegen, was die Sinne sehen und der Verstand erforschen kann.

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Von mancherlei anderen Geistesrichtungen der Gegen­wart und der Vergangenheit unterscheidet sich diese Geistes­wissenschaft dadurch, daß sie nicht nur im allgemeinen, etwa hypothetisch, behaupten will, es gäbe über den Ver­stand und die Sinne hinaus eine geistige Welt, sondern daß sie davon ausgeht, der Mensch sei imstande, seine Erkennt­niskräfte, seine Seelenkräfte so auszubilden, so zu entwickeln, daß sie in eine geistige Welt hineinzuschauen ver­mögen, wozu sie ohne diese Entwickelung nicht fähig sind. Also nicht nur die Möglichkeit einer geistigen Welt, son­dern die Erkennbarkeit einer geistigen Welt ist das Eigen­tümliche dieser Geistesforschung oder Anthroposophie, wenn wir sie so nennen wollen. Daß man mit der Eigenart der Seelenkräfte und mit den Eigenschaften der Erkenntniskräfte, wie sie der Mensch zu seinem gewöhnlichen Tagesgebrauch - wenn wir so sagen dürfen - besitzt, nicht in die geistige Welt hineindringen könne, das wird von vorn­herein zugegeben. Daß es aber richtig sei, diese Erkenntniskräfte seien unentwickelbar, daß sie sich nicht dazu ent­falten könnten, um nach ihrer Hinauforganisation zu die­sem höheren Standpunkte in eine geistige Welt hineinzu­schauen, wie die Augen in die Sinneswelt hineinschauen, das bestreitet die Geisteswissenschaft. Damit stehen wir aber schon an den Quellen dieser Geistesforschung.

Diese Quellen ergeben sich der Seele, wenn diese Seele durch innerliche Arbeit, durch innere Entwickelung - und oft wurde hier von den Methoden dieser inneren Entwicke­lung gesprochen - sich selber zu einem höheren Stand­punkte ihrer Anschauung hinaufarbeitet. Dann steht zu der Sinneswelt, die uns umringt, so zeigt die Geisteswissen­schaft, eine andere da, eine geistige Welt, von der die wah­ren Ursachen aller Erscheinungen der Sinneswelt ausgehen.

Durch die Erforschung der geistigen Welt kommen wir

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aber dazu, den Menschen als ein viel komplizierteres Wesen anzusehen, als er es für die gewöhnliche sinnliche oder ver­standesmäßige Anschauung ist. Wir kommen dazu, den Menschen als ein viergliedriges Wesen anzusehen. Dasjenige, was man den physischen Leib nennt, betrachtet die Geistes­forschung nur als einen Teil der gesamten menschlichen Wesenheit. Diesen physischen Leib kann das gewöhnliche Sinnesleben beobachten, kann der Verstand begreifen. Die­ser Sinnesleib ist der Gegenstand der gewöhnlichen Wissen­schaft. Für einen großen Teil unserer heutigen Zeitanschau­ung ist dieser physische Leib die Gesamtheit der mensch­lichen Wesenheit. Für die geisteswissenschaftliche Forschung ist er nur ein Teil unter vier Gliedern dieser menschlichen Wesenheit.

Über diesen physischen Leib hinaus unterscheidet die Geistesforschung den sogenannten Ätherleib oder Lebensleib, der dem physischen Leibe eingegliedert ist. Aber nicht so spricht sie von diesem Ätherleib oder Lebensleib, wie wenn er bloß dem Verstande erschlossen wäre, sondern so, daß die entwickelten Seelenkräfte ihn zu schauen vermögen, wie das entwickelte Auge die Farben Blau oder Rot schauen kann, während das farbenblinde Auge diese Farben nicht schauen kann. Und sie spricht dann davon, daß sich die notwendige Folgerung ergibt, daß der physische Leib durch die ihm eigenen Kräfte mit dem Tode selbstverständlich zerfällt, weil die Kräfte, die dem physischen Leibe ange­hören, seine Zersetzung, seinen Zerfall bewirken und nur dadurch zusammengehalten werden, daß während der Zeit des Lebens zwischen Geburt und Tod diesem physischen Leibe der Ätherleib oder Lebensleib eingegliedert ist, der als ein fortwährender Kämpfer gegen den Zerfall des phy­sischen Leibes da ist. Erst wenn mit dem Momente des Todes die Trennung von dem Ätherleibe eintritt, folgt der

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physische Leib seinen eigenen Kräften, die aber dann, weil sie in ihrer Eigenart wirken, seine Zersetzung hervorrufen. Den physischen Leib hat der Mensch gemeinschaftlich mit der ganzen mineralischen, unlebendigen Welt. Den Ätherleib hat er gemeinsam mit allem Lebendigen, mit der gan­zen Pflanzenwelt.

Dabei kann aber die Geisteswissenschaft noch nicht stehen­bleiben. Sie erkennt noch ein drittes Glied der mensch­lichen Wesenheit an, das so selbständig ist wie der physische Leib. An Ausdrücken braucht man sich dabei nicht zu sto­ßen; sie werden noch zur Erklärung kommen und sind zum Teil schon erklärt worden. Als drittes Glied wird der astralische Leib unterschieden. Er ist der eigentliche Träger der Leidenschaften, Begierden, Triebe, Affekte, also alles dessen, was wir unser Seelenleben nennen, was im Innern verläuft. Und von diesem astralischen Leibe unterscheiden wir in der Geistesforschung dann wieder den eigentlichen Ich-Träger. Während der Mensch den astralischen Leib mit allem gemeinschaftlich hat, was zum Beispiel in der tie­rischen Welt Affekte, Leidenschaften hat und ein inneres Vorstellungsleben entwickeln kann, hat er als die Krone seiner Eigenheit den Ich-Träger als das vierte Glied seiner Wesenheit für sich. In dem physischen Leib, in dem Äther- oder Lebensleib, in dem astralischen Leib und in dem Ich-Träger liegt zunächst des Menschen Wesenheit für die Geistesforschung.

Weiter erzeugt sich für den, der in die geistige Welt ein­zudringen vermag, die Erkenntnis, wie sich ein großer Teil unserer Lebenszustände, denen wir unterworfen sind, von dem gewöhnlichen Leben unterscheidet, nämlich das Schlaf-Leben. Der Schlaf unterscheidet sich für den Geistesforscher von dem wachen Leben dadurch, daß beim schlafenden Menschen der Ich-Träger und der astralische Leib des Menschen

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abgetrennt werden von seinem Ätherleib und phy­sischen Leib. Die beiden letzteren bleiben während des Schlafes wie ein pflanzliches Gebilde im Bette liegen, der Ich-Träger mit dem Astralleib und mit den Affekten, Trie­ben, dem Vorstellungsvermögen und so weiter bewegen sich dagegen während des Schlafes aus dem physischen Leib und Ätherleib heraus und entfalten in einer für sich bestehen­den geistigen Welt dann ein eigenes Leben. Nur ist für den heutigen normalen Menschen, wenn Ich und Astralleib im Schlafe für sich sind, das gewöhnliche Leben unmöglich, weil dieser Astralleib und das Ich keine Organe haben, um die Umwelt wahrzunehmen, nicht Augen und Ohren haben wie der physische Leib. So ist es unmöglich, daß Astralleib und Ich die Weit wahrnehmen, in der sie dann sind.

Darin besteht gerade die höhere Entwickelung der Seele, daß Astralleib und Ich fähig werden, Organe auszubilden, um ihre Umgebung wahrzunehmen, und daß dadurch für den Geistesforscher ein Zustand eintreten kann, in welchem er die geistige Welt wahrnimmt; so daß er dann außer dem Wachzustand und dem Schlafzustand noch einen wachen Schlafzustand hat, wenn wir ihn so nennen dürfen, der gerade derjenige Zustand ist, in welchem der Geistesforscher die geistige Welt wahrnehmen kann, welcher der Mensch seinem eigentlichen Ursprunge nach angehört. So versucht die Geisteswissenschaft aus den geistigen Tatsachen heraus den Übergang des Menschen zwischen je vierundzwanzig Stunden in Wachen und Schlafen zu erklären.

Das Weitere für die Geisteswissenschaft ist, daß sie an das große Rätsel von Tod und Leben herantritt, das heißt mit anderen Worten an die Frage, die das Menschenherz so bewegt: an die Frage nach der Unsterblichkeit des Men­schen. Da kommt die Geisteswissenschaft dazu, daß das eigentliche geistige Wesen des Menschen nicht etwa nur

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ein Ergebnis seiner physischen Organisation ist, sondern eine selbständige, einer geistigen Welt angehörende Ein­heit und Wesenheit, welche sich den physischen Leib auf­baut, welche vor der Geburt, ja, vor der Empfängnis exi­stiert und von dem ersten Momente, wo der Mensch als Keimzelle ins Dasein tritt, an seinem Organismus aufbauend wirkt. Es ist dies mit anderen Worten das Geistig-Seelische, das eigentlich Tätige und Aufbauende, das den Menschen durch sein Leben hindurch organisiert, das nur die Früchte seiner Lebenserfahrungen durch das Tor des Todes hin­durchträgt und das mit dem Tode in eine geistige Welt übergeht, um dann weitere Erlebnisse zu haben, und das sich dann einen neuen physischen Leib für ein weiteres Leben organisiert, um ein neues Leben durchzumachen und den Zyklus zu wiederholen.

Die Geisteswissenschaft spricht mit anderen Worten von wiederholten Erdenleben, spricht von wiederholten Erdenleben so, daß wir von unserer gegenwärtigen Verkörperung innerhalb des Sinnendaseins zurückblicken zu anderen Ver­körperungen in der Vergangenheit, aber auch in die Zu­kunft blicken zu späteren Verleiblichungen unserer Wesen­heit. So daß wir das Gesamtleben des Menschen teilen in ein Leben zwischen Geburt und Tod und in ein anderes, welches für die Sinne und für den Verstand rein geistig verläuft zwischen dem Tode und der nächsten Geburt. Aber nicht in einer ewig wiederkehrenden Art stellt sich die Gei­steswissenschaft dies vor, sondern so, daß sie in diesen Wie­derholungen nur Zwischenzustände anerkennt, das Gesamtleben des Menschen aber auf ein ursprüngliches Geistiges zurückführt, welches allem Leben, vor allem unserem Pla­neten, vorangegangen ist; so daß die Erdenleben einmal einen Anfang genommen haben, als der Mensch aus einem rein geistigen Dasein heraustrat, und daß, nachdem sich

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einst die Bedingungen erfüllt haben werden, der Mensch wieder in rein geistige Zustände eintreten wird, welche in sich die Früchte alles dessen enthalten werden, was der Mensch durch die verschiedenen Erdenleben durchgemacht hat. Das ist allerdings nur ein Umriß, der in den kommen­den Vorträgen mit einzelnen Farben ausgefüllt werden soll, der aber zeigen kann, zu welchen Ergebnissen eine geisteswissenschaftliche Forschung kommt. Wenn wir uns dieses ganze Tableau vor Augen stellen, dann muß man allerdings sagen, für einen großen Teil der denkenden Menschheit unserer Tage wird dieses Bild nicht nur etwas Unverständliches, Unbeweisbares, sondern vielleicht sogar etwas Verletzendes haben, etwas sogar, was Ironie, Hohn und Spott herausfordern kann. Schon wenn von dem Wesen der Geisteswissenschaft gesprochen wird, muß der Mensch, der alles für ihn Wichtige heute auf den rechten Boden der Wissenschaft beziehen will, gewichtige Einwände machen. Der Mensch, der auf diesem Boden der Wissenschaft steht, muß sich sagen: Was bedeuten einer solchen Vorbringung gegenüber alle die großen, nicht nur einzelnen Errungen­schaften der Wissenschaft, sondern was bedeuten denn die wissenschaftlichen Methoden, was bedeutet gegenüber der Geistesforschung der Ernst, die Würde, die Exaktheit, was bedeuten alle die Anstrengungen, welche die Wissenschaft in den letzten Jahrhunderten und Jahrzehnten gemacht hat, um zu einer Sicherheit, zu einer objektiven Sicherheit zu kommen? Es will die Geistesforschung selbstverständlich nicht etwa gegen die Wissenschaft arbeiten, das ist oft betont worden, sondern im vollen Einklange mit der Wissen­schaft stehen. Daher muß sie sich bewußt sein, was die Wissenschaft gegen sie einzuwenden hat, nicht nur von ihrem Inhalte aus, sondern namentlich von ihrem Ernste und ihren Errungenschaften der letzten Jahrhunderte aus.

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Da kann man mit Recht sagen, es werde von der Geistes­wissenschaft darauf hingewiesen, daß diese Quellen der Geistesforschung in einer gewissen Entwickelung der Seele liegen, indem die Seele gewisse innere Vorstellungs-, Emp­findungs- und Willensprozesse durchmacht, das durchmacht, was man Meditation nennt, so daß sie dadurch innere Er­lebnisse hat, die natürlich rein beschränkt sind auf die eigene Seele, die kein anderer kontrollieren kann, als der sie selber erlebt, und dann wird so etwas durch nichts zu Kontrollierendes als wissenschaftliches Resultat über die geistigen Welten hingestellt. Wo bleibt, kann die Wissen­schaft sagen, das, was gerade die schönste Errungenschaft dieser Wissenschaft ist, daß sie durch die Forschungen der letzten Jahrhunderte nur das gelten läßt, was von jedem Menschen objektiv und überall und zu jeder Zeit kontrol­liert werden kann? Das äußere Experiment, die äußeren Beobachtungen haben die Eigentümlichkeit, daß jeder an sie herangehen kann. Nicht so dasjenige, was im Innern errungen und erkämpft wird. Wenn man auf Menschen hinblickt, die so in ihrem Innern erleben, zeigt sich denn dann nicht an der großen Mannigfaltigkeit dessen, was sie fortwährend an Widerspruchsvollem zum Ausdruck brin­gen, das ganz Unsichere, wie wenig die Erlebnisse übereinstimmen, die durch ein mystisch vertieftes Bewußtsein gegeben werden? Wie müssen dagegen die Forschungen übereinstimmen, welche die einzelnen Forscher in der Kli­nik, im Laboratorium und so weiter machen! Man wird darauf hinweisen, daß dies gar nicht anders sein könnte, so daß also das, was der Mensch subjektiv erlebt, sich da­durch als unwissenschaftlich zeigt, und dies besonders auch deshalb, weil es durch keinen anderen kontrolliert werden kann, da der andere nicht hineinschauen kann in die Seele des betreffenden Geistesforschers.

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Haben nicht diese Erlebnisse der Seele, kann man sagen, eine volle Ähnlichkeit mit alledem, was nachweislich aus irgendwelchen krankhaften Zuständen, aus Übertreibungen der Seele, in der Ekstase und so weiter, in der Seele erlebt wird? Wenn der Geistesforscher einwendet, daß er ja nicht gewillt ist, jede beliebige Vision, die in der Seele auftritt, als Forschungsergebnis gelten zu lassen, sondern daß er nach bestimmten Methoden vorgeht, dann kann man doch ein­wenden, und dieser Einwand erscheint durchaus berechtigt:

Ja, zeigt es sich denn nicht bei allem, was die Menschen durch Visionen, Halluzinationen und so weiter erleben, daß solche Menschen, wenn sie derartigen Seelenzuständen ausgesetzt sind, einen viel größeren Glauben an ihre fixen Ideen, an ihre Halluzinationen und Visionen entwickeln als an das, was ihnen äußerlich die Sinne geben oder was ihnen der Verstand aufdrängt? Wenn man auf den starren und unbeugsamen Glauben der Illusionisten hinblickt, so muß man bedenklich werden gegenüber dem, was der Geistesfor­scher aus den Tiefen seiner Seele heraufholen will als etwas, was nicht eine Illusion ist, was einen objektiven Bestand in der geistigen Welt haben soll. Es kann, so könnte man sagen, so etwas sein, was einen objektiven Bestand in der geistigen Welt hat, aber gegen die Gültigkeit eines solchen Seelen-Experimentes muß gesagt werden, daß der Illusionist zu seinen Wahnideen ein ebensolches Vertrauen hat wie der Geistesforscher zu seinen Forschungsresultaten, die er dem verdankt, was aus den Tiefen der Seele heraufkommt.

Nur wer die Entwickelung der objektiven Forschung, der, wie man sagen kann, gesunden Wissenschaft der letzten Jahrhunderte und Jahrzehnte nicht mitgemacht hat, kann etwa mit einem Lächeln über einen solchen Einwand hinweggehen. Er ist gewichtiger, als man gewöhnlich meint, bei denen meint, die aus einer einseitigen Richtung zu ihren

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geisteswissenschaftlichen Resultaten kommen. Es muß ge­sagt werden, zum Beispiel mit Bezug auf das, was in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Wel­ten?» mitgeteilt ist, wo gewisse Angaben für die einzelne Seele gemacht sind, daß die Seele, wenn sie sich bei einem solchen Erleben ganz sich selber überläßt, nirgends einen Anhaltspunkt hat, der sie kontrolliert. Das alles bezeugt, daß man sich in der ernstesten Weise mit einem solchen, für einen oberflächlichen Geistesforscher sogar trivial erschei­nenden Einwand auseinandersetzen muß. Es wird so viel über die Natur der, wie man sagen kann, unwahren Vor­stellungen vorgebracht, daß das dagegen Vorgebrachte sich auch auf die Geisteswissenschaft anwenden läßt, indem man sagt: Alles, was ihr da vorbringt als Methoden, um die Seele auszubilden, braucht nichts anderes zu sein als nur ein raffinierteres Illusions- und Halluzinations-Vermögen.

Dann aber nimmt sich besonders die Geisteswissenschaft deplaciert aus gegenüber der ernsten, kontrollierbaren Wis­senschaft, wenn sie auf die einzelnen Ergebnisse hinweist. Da könnte der. gewissenhafte Wahrheitsucher der Gegen­wart, der mit der Entwicklung der letzten Jahre bekannt­geworden ist, sagen: Wißt ihr denn nichts von alledem, was vorgegangen ist? Da sprecht ihr von einem Ätherleib oder Lebensleib, der gegenüber dem physischen Leibe ein selb­ständiges Dasein haben soll. Wißt ihr denn nichts davon, daß bis ins neunzehnte Jahrhundert herein das gespukt hat, was man Lebenskraft nannte, und daß durch ernste wissen­schaftliche Anstrengungen der Glaube an diese Lebenskraft endlich beseitigt worden ist? Wißt ihr denn nichts von der folgenden Tatsache: Man hat in früheren Jahrhunderten gesagt, zwischen den einzelnen chemischen Stoffen spiele sich in der leblosen Natur draußen ein chemischer Prozeß ab. Wenn aber dieser selbe Zusammenhang von Stoffen in den

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menschlichen Organismus eintrete, so bemächtige sich seiner die sogenannte Lebenskraft; da würde unter den einzelnen Stoffen nicht das vor sich gehen, was wir in der Chemie und Physik lernen, sondern es wirkten da die einzelnen Stoffe unter dem Einflusse der Lebenskraft aufeinander ein. Ein großer Fortschritt war es, daß diese Lebenskraft über Bord geworfen worden ist, daß man versucht hat, zu sagen:

Diese Lebenskraft hilft gar nichts, sondern man muß so zu Werke gehen, daß das, was man in der unlebendigen Welt erforschen kann, im lebendigen Organismus weiter ver­folgt werden muß, daß man nur die kompliziertere Art, wie dort die Stoffe zusammenwirken, berücksichtigen müsse und daß man sich nicht auf das Faulbett der Lebenskraft zu werfen habe.

Gerade als ein solches «Faulbett der Wissenschaft» wurde die Lebenskraft beseitigt, indem man zeigte, wie die Wirk­samkeit gewisser Stoffe, die man sich früher nur unter dem Einflusse der Lebenskraft denken konnte, auch im Labo­ratorium zustande kommt. Und weil es noch nicht aller Tage Abend ist, so müsse sich die Wissenschaft doch jenes hohe Ideal stellen, auch jene Zusammensetzung der Stoffe ins Auge zu fassen, wie sie in der Zelle der Pflanze vorhan­den ist, und dürfe sich nicht auf das Faulbett einer Lebens­kraft legen, wenn es darauf ankommt, zu untersuchen, wie die Stoffe und Kräfte im Organismus wirken.

Solange man nicht imstande war, gewisse Stoffzu­sammensetzungen im Laboratorium zu erzeugen, war es berechtigt, zu sagen, sie kämen nur zustande, wenn die einzelnen Stoffe durch die Lebenskraft eingefangen wer­den. Seit es aber gelungen ist - besonders durch Liebig und Wöhler -, nachdem man an die Lebenskraft nicht mehr glaubt, gewisse Stoffe ohne die Lebenskraft darzustellen, seitdem muß gesagt werden, daß auch die komplizierteren

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Zusammenfügungen im menschlichen Organismus die Zu­hilfenahme einer besonderen Lebenskraft nicht mehr nötig haben. So trat im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts vor die Wissenschaft das hohe Ideal, das die meisten Forscher festhalten, selbst wenn es auch «Neo-Vitalisten» gibt, das Ideal, das sich erfüllen wird: solche Stoffzusammenhänge, wie sie sich im lebendigen Organismus zusammenfügen, zu erkennen und ohne die Zuhilfenahme einer nebulosen, my­stischen Lebenskraft herzustellen, die, wie die ernste wissen­schaftliche Forschung des neunzehnten Jahrhunderts immer behauptet hat, gar nichts nützt, weil sie gar nichts beiträgt zur objektiven Erkenntnis der Natur.

Wer diese Tatsachen erkennt und vor allem den Ernst und die Würde ins Auge faßt, die dieser Entwickelung der Wissenschaft zugrunde liegen, der darf wohl einwenden:

Ist es erhört, daß nun eine Anzahl von Menschen als so­genannte Geistesforscher auftreten, die in Form ihres Ätherleibes oder Lebensleibes die alte Lebenskraft wieder auf­wärmen? Ist es nicht ein Zeichen eines wissenschaftlichen Dilettantismus? Sie mögen «glauben», sie, die nichts von dem Ideal der Wissenschaft wissen; der wissenschaftliche Forscher selber aber kann nicht von dem ergriffen werden, was ja doch nur als eine Aufwärmung der Lebenskraft erscheinen kann. So arbeitet die Geisteswissenschaft, kann man sagen, dilettantisch mit Außerachtlassung alles dessen, was gerade zu den schönsten Idealen der modernen Wissen­schaft gehört, und sie benutzt nur den Umstand, daß es heute der Wissenschaft noch nicht gelungen ist, gewisse Stoffe, die im lebendigen Organismus anzutreffen sind, auch im Laboratorium herzustellen, um einstweilen behaupten zu können, es sei zur Erzeugung des Lebens ein besonderer Ätherleib oder Lebensleib nötig. Man kann sagen, die fort­schreitende Wissenschaft werde dem Menschen diesen Ätherleib

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oder Lebensleib schon austreiben. Solange es der Wis­senschaft in ihrem Schreiten von Triumph zu Triumph noch nicht gelungen ist, zu zeigen, daß kein Ätherleib da ist und daß die Zusammenfügung der Stoffe des lebendigen Orga­nismus auch in der Retorte erzeugt werden kann, solange mögen die Theosophen oder Geistesforscher Staat machen mit dem Ätherleib, der doch nur eine Aufwärmung der alten Lebenskraft ist! - So könnte dieser Vorwurf erhoben werden zunächst als eine Tatsache des Dilettantismus.

Wenn nun gar die Geisteswissenschaft von dem Schlaf­leben sagt: Affekte, Triebe, Begierden des Menschen seien an einen besonderen Astralleib gebunden, und dieser trete, wenn der Schlaf den Menschen übermannt, aus dem Ätherleib und physischen Leib heraus und führe ein eigenes Dasein, so kann man sagen: Es ist sehr leicht, von einem inneren Seelenleben zu sprechen, wenn man sich die Sache einfach macht, indem man dieses innere Seelenleben nicht mit allen Schwierigkeiten und Rätseln hinnimmt, welche sich der Wissenschaft bieten, sondern wenn man sagt: Da ist ein Astralleib, und daran ist das gebunden, was sich im Innern abspielt. - Da kann man wieder mit den Fort­schritten der Wissenschaft kommen und sagen: Was be­deuten denn da die großen Fortschritte, welche besonders in den letzten Jahrzehnten gemacht worden sind, um eine Erscheinung wie das Schlafleben oder das Traumleben rein naturwissenschaftlich zu erklären? - Es würde lange dauern, wenn ich Ihnen alle die Anstrengungen der Wissenschaft vorführen wollte - die durchaus mit Ernst und Würde zu nehmen sind -, um das Schlafleben und Traumleben zu erklären. Namentlich deshalb würde es eine lange Zeit in Anspruch nehmen, weil gerade in der letzten Zeit eine große Anzahl von Forschungen zutage getreten sind, die durchaus diskussionsmöglich sind.

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Es genügt, einen Gesichtspunkt ins Auge zu fassen, der zeigen kann, wie schwer es dem ernsten Wahrheitsforscher der Gegenwart wird, sich zu dem zu bekennen, was zunächst nur wie eine Behauptung erscheinen kann: das Ich und der Astralleib des Menschen ziehen sich mit dem Einschlafen aus dem physischen Leib und Ätherleib zurück.

Wenn wir, eine große Anzahl von verschiedenen Hypo­thesen und Aufstellungen über das Schlafleben zusammen­fassend, gleich eine Pauschalerklärung dieses Schlaflebens nehmen, so ist es die folgende: Es wird gesagt, daß man zur Erklärung des Schlaflebens durchaus nichts anderes brauche als ein unbefangenes Hinblicken auf die Erschei­nungen des menschlichen oder tierischen Organismus. Es zeige sich, daß das wache Leben darin bestehe, daß die Erscheinungen der Umwelt auf die Sinnesorgane Eindruck machen, daß sie auf das Gehirn Reize ausüben. Den ganzen Tag hindurch üben sie solche Reize aus. Wie wirken sie auf das Gehirn und Nervensystem des Menschen? Sie wirken so, daß sie die Substanz, aus der das Nervensystem besteht, zerstören. Den ganzen Tag hindurch - sagt die moderne Naturwissenschaft - haben wir es damit zu tun, daß die äußeren Farben, Töne und so weiter auf unsere Seele, das heißt auf unser Gehirnleben, eindringen. Dadurch werden Dissimilationsprozesse hervorgerufen, das heißt Zerstö­rungsprozesse. Es lagern sich bestimmte Produkte ab.

Der Mensch ist, solange diese Prozesse stattfinden, nicht in der Lage, den umgekehrten Prozeß, den des Wieder­aufbauens seines Organismus, zu bewirken. Daher wird jedesmal, nachdem wir aufwachen, das innere Seelenleben in gewisser Beziehung zerstört, so daß wir, bis wir müde geworden sind, dazu gelangt sind, daß wir unseren Organis­mus zerstört haben und daß er kein inneres Seelenleben mehr entwickeln kann; es hört auf. Man braucht nichts

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anderes vorauszusetzen, als daß sich durch das Tagesleben Ermüdungsstoffe in unserem Organismus ablagern. Man braucht nur die Aufreibung der organischen Substanz anzu­nehmen, daß die organische Substanz für eine gewisse Zeit nicht mehr imstande ist, ihre inneren Prozesse zu entwickeln. Dann aber wirken die äußeren Reize nicht mehr, und die Folge ist, daß der innere Organismus jetzt anfängt, seine Ernährungsprozesse zu entwickeln, das Gegenteil von den Dissimilationsprozessen, die Assimilationsprozesse, daß er jetzt die zerstörte organische Substanz wiederherstellt, und dadurch wird der Nachtschlaf bewirkt. Ist die organische Substanz wiederhergestellt, so ist auch das innere Seelenleben wiederhergestellt, und so kann das wache Leben wieder neue Reize ausüben, bis wieder Ermüdung eintritt. So hat man es dabei mit dem zu tun, was man eine Selbst-Steuerung des Organismus nennt.

Darf man nicht zugeben, daß der gewissenhafte Wahr­heitsforscher, der mit den Ergebnissen der heutigen Wissen­schaft bekannt ist, sagen muß: Wenn so durch Selbststeuerung des Organismus das Wachleben und Schlafleben in ihrem Wechsel ganz gut erklärbar sind, dann ist es nicht nur über­flüssig, sondern direkt schädlich, wenn ihr den Fortschritt einer solchen menschlichen Wissenschaft dadurch beeinträch­tigt, daß ihr sagt, nicht eine Selbststeuerung liege vor, son­dern weil der Mensch selbständig ist, trete etwas aus dem Organismus heraus. Da es durch den Organismus ganz allein erklärbar ist, daß der Wechsel von Schlaf und Wachen zustande kommt, so ist es unnötig und schädlich, anzunehmen, daß das Bewußtsein etwas Besonderes sei und aus dem Or­ganismus heraustrete, um während der Nacht ein besonderes Leben zu entwickeln. - Wieder kann man darauf hinweisen, daß auf seiten der Geisteswissenschaft ein furchtbarer Dilet­tantismus vorliegt, an den nur solche glauben, die den Weg

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der Wissenschaft selbst nicht kennen, um den Organismus aus sich selbst zu erklären.

Wenn von Selbständigkeit des Geisteslebens gesprochen wird, wenn davon gesprochen wird, was ja plausibel er­scheint, daß das Geistesleben selbständig sei, daß wir den menschlichen Organismus als physischen durch unsere Sinne vor uns haben und durch die Methoden der Wissenschaft erforschen, wie die physischen Vorgänge verlaufen, wäh­rend dann aber doch noch das Geistige da ist, so ist das etwas, was oft betont worden ist, zum Beispiel von Du Bois-Reymond und auch von anderen, die sich nicht ohne weiteres zum Materialismus bekennen. Denn man nehme beispielsweise irgendeine Gehirnvorstellung: wenn man sich das menschliche Gehirn so vergrößert dächte - das hat schon Leibniz gesagt -, daß man darin spazierengehen könnte, so würde man darin nur materielle Prozesse sehen. Das geistige Leben sei aber noch etwas Besonderes, und das be­zeuge, daß man es doch mit einem von den Vorgängen des physischen Lebens abgesonderten Geistesleben zu tun habe. Wenn das berechtigt sei, so zeige dies doch das, was zum Beispiel Benedikt sagt: Die Tatsache des Bewußtseins ist im Grunde genommen von keiner anderen Ordnung, als die Tatsache der Wirkung der Schwerkraft in Verbindung mit der Materie. Denn wir sehen die physische Materie zum Beispiel eines Weltenkörpers. Diese übt nach Annahme der physischen Wissenschaft Schwerkraft aus, und da ist etwas, was angezogen wird, zum Beispiel von der Sonne. Bei sol­chen Wirkungen zwischen Sonne und Erde oder Mond sprach man dann früher von etwas Übersinnlichem. Aber das ist nur so, wie wenn wir ein Stück weiches Eisen haben und außer ihm die elektrische Kraft oder den Magnetismus. Und wenn wir das Gehirn vor uns haben und in ihm zusammengedrängt Vorstellungen, Leidenschaften, Affekte

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und so weiter, so ist das ebenso wie die Tatsache, daß um die materielle Erde die Schwerkraft und andere Kräfte wal­ten. Warum sollte es also von einer anderen Wirkung her sein, wenn um das Gehirn herum Prozesse spielen, die eben­so auftreten wie die Schwerkraftprozesse um die materielle Erde herum? Die Erde in Verbindung mit der Schwerkraft und dem anderen, was unsichtbar um sie waltet, ist nichts anderes, als was um das Gehirn als Affekte, Vorstellungen und andere Vorgänge waltet. Wie hat man da ein Recht, so könnte gefragt werden, von einer Selbständigkeit des Geisteslebens zu sprechen, wenn man sich kein Recht zuschreibt, davon zu sprechen, daß die Schwerkraft auch dann ausgeübt werde, wenn kein anziehender Körper vorhanden ist? - Und man kann weiter sagen: Wie man kein Recht habe, in solchem Falle im freien Weitenraume von einem die Schwerkraft entwickelnden Weltenkörper zu sprechen, so habe man kein Recht, von einem besonderen Seelischen zu sprechen, das nicht an materielles Dasein bei einem Ge­hirn gebunden sei.

Daß nicht mit einem unwissenschaftlichen Fanatismus über solche Dinge hinweggegangen werden darf, das sollte jedem ernsten Geistesforscher klar sein.

Wenn sich nun schon gewichtige Einwände erheben gegen die geisteswissenschaftliche Annahme über das Schlaf- und Wachleben, gegen die Selbständigkeit des Bewußtseins über­haupt, wie kann dann der, welcher mit den wissenschaftlichen Methoden der Gegenwart Ernst macht, sich irgend­wie in Übereinstimmung versetzen mit dem, was von der Geisteswissenschaft über die wiederholten Erdenleben ge­sagt wird, über ein Vorhandensein eines menschlichen We­senskernes, der über den Tod hinaus ein Dasein führt, der Erlebnisse durchmacht in der Zeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt und dann in einem neuen, nächsten

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physischen Erdenleben wiedererscheint! Hier wird nicht nur ein Einwand gemacht von denen, die auf naturwissen­schaftliche Tatsachen bauen, sondern auch von denen, die heute selber Geisteswissenschaftler in vieler Beziehung sein wollen: von den Psychologen, von den Seelenforschern der Gegenwart. Es wird gefragt: Was ist denn das notwendige Kennzeichen dafür, daß der Bestand der menschlichen Wesenheit verbleibt? Dies kann der Seelenforscher der Gegen­wart in nichts anderem als darin finden, daß das mensch­liche Bewußtsein gedächtnismäßig von seinen Zuständen weiß, die es während des Lebens durchgemacht hat. Fort­dauer, Kontinuität des Bewußtseins ist das, was der Psy­chologe der Gegenwart besonders ins Auge faßt. Er kann sich nicht auf das einlassen, was nicht in das Bewußtsein der menschlichen Persönlichkeit hereinfällt, und er wird sich immer darauf berufen müssen, daß der Mensch zwar ein Gedächtnis über seine besonderen Zustände in seinem Leben zwischen Geburt und Tod habe, daß aber nichts Analoges gezeigt werden könne für den Bestand der menschlichen Wesenheit, die aus früheren Erdenleben herüberkäme.

Gegen mancherlei andere Dinge noch, die im Verlaufe dieser Vortragsreihen vorgebracht worden sind, wird man­cher ernste Wahrheitsforscher der Gegenwart etwas ein­wenden können. Da kann gesagt werden: Du kannst zwar vorbringen, gewisse Dinge im Menschenleben erscheinen so, daß man sie aus den Vorgängen des einzelnen Lebens nicht erklären kann, sondern daß man annehmen muß, daß sich der Mensch gewisse Anlagen, Talente und so weiter durch die Geburt hindurch mitbringt, so daß man annehmen kann, die Seele existiere schon vor dem Eintritt in das physische Leben. Aber das bleibt denn doch alles nur gewagte Hypo­these. Das bleibt alles gegenüber der modernen Seelenforschung insofern ungenügend, als diese wieder einen Weg

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nimmt, der scheinbar ganz gewissenhaft nach einem Ideale hinsteuert.

Was hier vorliegt, kann man in folgender Weise charak­terisieren: Wer das menschliche Leben unbefangen betrachtet, wie es sich abspielt mit diesen oder jenen Leidenschaften, mit dieser oder jener Gefühlsschattierung, mit einer Hinneigung zu diesen oder jenen Vorstellungen, der wird, wenn er sich ohne viel Bedenken auf den Standpunkt der Geistes­wissenschaft stellt, sagen: Durch unsere Erziehung haben wir uns ja mancherlei errungen; aber nicht alles kann da­durch erklärt werden, sondern wir bringen uns durch die Geburt hindurch etwas mit, was aus früheren Erdendaseins­stufen stammt. - Aber, so kann der ernste Wissenschaftler entgegnen, haben wir nicht damit einen Anfang gemacht, das erste Kindheitsleben zu erforschen, jenes Kindheitsleben, an das man sich später nicht zurückerinnert?

Der moderne Naturforscher oder der Philosoph wird dann vielleicht sagen: Da will der Geistesforscher einen genialen Menschen, wie zum Beispiel Feuerbach, dadurch erklären, daß er sich gewisse Kräfte aus dem vorhergehenden Leben mitgebracht hat und dadurch in die Lage gekommen ist, künstlerisch zu arbeiten. Nun hat man aber die folgende Entdeckung gemacht: Ein solcher Maler malt mit einer ganz besonderen Farbenstimmung, bevorzugt einen bestimmten Gesichtsausdruck und so weiter nach einer ganz bestimmten Richtung. Geht man dem nach, so findet man, daß er in seinen ersten Kinderjahren zum Beispiel in seinem Zimmer eine Büste sah und daß eine besondere Art, wie das Licht immer darauf fiel, sich in die Seele des Kindes eingegraben hat. Das tritt dann später wieder auf, und es zeigt sich dann, so kann man sagen, daß solche Eindrücke tief wirk­sam und bedeutsam sind. Es ist dadurch möglich, vieles zu erklären. Die Geisteswissenschaft will alles auf frühere

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Erdenleben zurückführen, während man vielleicht durch eine sorgfältige Beobachtung und Erforschung der ersten Kindheit alles erklären kann.

Man kann dann weiter hinweisen auf die moderne Na­turwissenschaft, die durch das biogenetische Grundgesetz zeigt, wie der Mensch die Tierformen, von denen man an­nimmt, daß sie das Menschengeschlecht in früheren Erdenzuständen durchlaufen habe, wirklich im vorgeburtlichen Zustande auch durchmacht, so daß es also eine Berech­tigung habe, dies zu zeigen. Daran anknüpfend, kann man sagen: Wo hat die Geisteswissenschaft auf so etwas Ähn­liches hinzuweisen, daß sich im einzelnen individuellen Leben etwas wiederholt, was der Mensch in früheren Erdenleben durchgemacht hat? Das müßte man fordern können, wenn man als rechtmäßiger Wahrheitssucher der Gegen­wart glauben soll, daß in dieser Beziehung in der Geistes­wissenschaft jener Ernst und jene Würde angewendet wer­den, die bei einer ähnlichen Behauptung auf dem Boden der Naturwissenschaft da ist. So ist es gekommen - und mit einem gewissen Recht kann man sagen -, daß der Mensch, wenn er sich über das menschliche Leben, über das tierische Leben und auch über das planetarische Leben, das uns durch die Astronomie zugänglich wird, ein wenig naturwissen­schaftliche Erkenntnisse angeeignet hat, seiner Phantasie dann freien Lauf lassen kann, Schlußfolgerungen zieht und allerlei andere Welten ersinnt, die einen recht starken Ein­druck von Wirklichkeit machen. Gewiß, bei dem, der keine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse hat, wird sich die Sache sehr bald in Widersprüche verwickeln, und seine Un­kenntnis wird sich bald zeigen, indem er alles Mögliche herausprojizieren wird, was mit den naturwissenschaft­lichen Ergebnissen nicht übereinstimmt. Wer aber die Na­turwissenschaft kennt, der wird zeigen, daß sich seine Ideen

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sehr hübsch in das hineinfügen, was die Naturwissenschaft zeigt. Dann wird man ihn nicht widerlegen. Aber wer tritt in der Geisteswissenschaft dafür ein, so kann man jetzt wieder fragen, daß so etwas nicht unberechtigterweise aus solchen Behauptungen herausprojiziert und dann phanta­stisch ausgebildet worden ist? Wer bürgt dafür, daß man sich auf den Standpunkt stellt, daß nur das von jedem Erforschbare Geltung haben soll? Daher müßte man sich darauf einlassen, aus dem einfachen Grunde, weil man sieht, wie im neunzehnten Jahrhundert etwas heraufgekommen ist, das sich auch in der modernen Geisteswissenschaft gel­tend macht.

Wir haben es ja erlebt, daß sich im neunzehnten Jahr­hundert im deutschen und im französischen Geistesleben die Dinge geltend gemacht haben, welche die Geisteswissen­schaft behauptet. 1854 ist von Reynaud ein Werk erschienen, «Terre et ciel», und von Figuier ein Werk über das, was mit dem Menschen nach dem Tode folgt. Es hat zahlreiche Gegner mit naturwissenschaftlicher Bildung gegeben, welche gesagt haben: Ja, was ist denn besser, daß ihr euch auf Grundlage der Naturwissenschaft Tatsachen ausdenkt über eine Vielheit der menschlichen Erdenleben, über ein Leben nach dem Tode, und so weiter, oder ist es besser, irgend­eine andere, ebenso ausgedachte Hypothese über diese Dinge anzunehmen?

Wenn solche Einwände gemacht werden, und wenn sie nicht in frivoler Weise gemacht werden, sondern durchaus auf dem Boden ernsten Wahrheitssuchens, dann muß man sagen: Es sind nicht Einwände, die nur aus Widerspruchsgeist entstehen, sondern solche, die sich die menschliche Seele selbst machen muß, sich um so mehr machen muß, als man auf der anderen Seite wieder sieht, wie wenig gewissen­haft auf seiten derer, die Geisteswissenschaft pflegen wollen,

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oft vorgegangen wird, wenn «Beweise» dafür vorgebracht werden, daß das menschliche Leben ein individuelles sei und gesagt wird, daß man außerhalb des individuellen Le­bens keine Erklärung finden könne für Erscheinungen, wie es zum Beispiel das menschliche Gewissen und das Verant­wortlichkeitsgefühl sind, wenn man nicht gewisse Anlagen und Tendenzen aus früheren Erdenleben heraus annehmen wollte. Da sagen manche: Wenn ich mich verantwortlich halte, so muß ich mir die Anlage dafür erworben haben. Da ich sie mir in diesem Leben nicht erworben habe, so muß es in einem früheren gewesen sein.

Es wird auch gesagt, das menschliche Gewissen sei eine Erscheinung, welche beweise, daß eine innere Stimme in uns hereinspricht, die wir nicht aus dem jetzigen Leben ableiten können, und deshalb müssen wir sie aus einem früheren herleiten. Dann wird auch gesagt: Man sehe sich die verschiedenen Kinder des gleichen Elternpaares an, sie weisen ganz verschiedene geistige Eigenschaften auf. Wenn aber alles auf dem Wege der Vererbung von den Eltern auf die Kinder übergegangen sein soll, wie kann man sich dann solche Verschiedenheiten erklären, wie sie ja selbst bei Zwillingen auftreten? Daher dürfe man schließen - so sagen die Leute dann -, daß die Kinder des gleichen Eltern-paares verschiedene Individualitäten haben, die nicht ver­erbt sein können, sondern aus einem früheren Erdenleben in das jetzige herübergezogen sein müssen.

Da wird der gewissenhafte Wahrheitsforscher einwen­den: Berücksichtigt ihr denn gar nicht, daß die Indivi­dualität eines Menschen, wie er uns entgegentritt, aus der Vermischung des väterlichen und des mütterlichen Elementes entsteht, und daß daher bei den einzelnen Kindern die Mischung eine verschiedene sein muß? Müßten denn nicht selbst bei Zwillingen, weil eben verschiedene Mischungen

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da sind, die Individualitäten, wenn man sie nur aus der Vererbung erklärt, verschieden sein?

Ein solcher Einwand ist nicht ein hergesuchter, sondern einer, der sich aus der Sache selbst aufdrängt. Wenn man alles berücksichtigt, so findet man es durchaus verständlich, daß die, die immer eine «kontrollierbare» Wissenschaft verlangen, die Geisteswissenschaft nicht aufnehmen, weil sie nicht kontrollierbar ist; und wenn man bedenkt, daß solche Gegner ein Bedeutsames für sich haben, so begreift man sie. Sie haben das für sich, daß neben dem kritischen Geist in unserer Zeit noch etwas anderes vorhanden ist. Dieser kritische Geist ist wohl durchaus vorhanden, und wenn die Geisteswissenschaft etwas sagt, so ruft sie ja sofort die Geg­ner auf, die nicht nur logisch irritiert, sondern auch sittlich entrüstet sind, daß solche Theorien vorgebracht werden. Solche Gegner werden aufgerufen, und die Kritik ist etwas, was wir überall hervorsprießen sehen. Und weil sich die Geisteswissenschaft mit ihren Ideen als etwas Schockieren­des in unsere Zeit hineinstellt, so ist eine solche Kritik durch­aus begreiflich.

Aber neben dem kritischen Geist lebt in unserer Zeit die Leichtgläubigkeit, das Nachlaufen hinter einem jeden, wenn von ihm nur etwas aus der Geisteswissenschaft behauptet wird. Die Sehnsucht, die Dinge so zu bekommen, daß man sie auch einsehen kann, ist bei den Menschen wenig vor­handen, ist ebensowenig vorhanden, wie stark vorhanden ist der kritische Geist und die Leichtgläubigkeit. So sehen wir, daß durch die Leichtgläubigkeit, durch das Auf-Au­torität-Hinnehmen eines leichtgläubigen Publikums, das alle möglichen Dinge aus der Geisteswissenschaft hinnimmt, geradezu demjenigen Vorschub geleistet wird, was sich gegenüber der wirklichen, ernsten Geistesforschung jeder­zeit geltend gemacht hat, nämlich der Scharlatanerie. Es ist

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eine Herausforderung zu Scharlatanerie, wenn die Leute allem leichtgläubig nachlaufen. Und es ist eine große Ver­suchung für den Menschen, wenn ihm alles Mögliche ge­glaubt wird, wenn er der Schwierigkeit enthoben ist, diese Dinge wirklich vor dem Forum der Wissenschaft, vor dem Forum des Zeitgeistes zu rechtfertigen. Auch in unserer Zeit ist das, was hier angeführt ist, nur zu weit verbreitet. Wir sehen, wie die Leichtgläubigkeit, wie der krasseste Aberglaube sehr stark grassiert. Daher gibt es wohl kaum zwei andere Dinge in der Welt, die so verschwistert sind wie Geisteswissenschaft und Scharlatanerie. Wenn man die beiden Wege nicht unterscheiden kann, wenn man alles nur auf blinden Autoritätsglauben hin annimmt, so wie schon seiner Natur nach manches auf Autorität hin angenommen werden muß, was ja oft in der Gegenwart der Fall ist, dann fordert man heraus, was mit Recht von ernsten Wahrheits-forschern kritisiert wird: die Scharlatanerie, die so sehr mit der Geisteswissenschaft verknüpft ist. Man kann es begreiflich finden, wenn jemand, der nicht in der Lage ist, den Scharlatan von dem Geistesforscher zu unterscheiden, dann den Einwand hat, daß alles Scharlatanerie sein müsse.

Nichts ist schneller gefunden als der Übergang zu dem, was auf moralischem und religiösem Gebiete liegt. Wir kön­nen die Einwände, die sich für dieses Gebiet ergeben, schneller charakterisieren, weil sie leichter verständlich sind.

Man kann sagen: Man sehe hin, wie das, was intimste Angelegenheit der Menschenseele sein muß, was der Mensch für sich als Glauben, als sein subjektives Fürwahrhalten finden kann, zu einer scheinbaren Wissenschaft aufgebauscht wird! - Und einwenden kann man dem Geisteswissenschaft-1er: Wenn du das als deinen Glauben hinstellst, so wollen wir dich unbehelligt lassen. Wenn du aber das, was du als Lehre von den höheren Welten aufstellst, für andere Menschen

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geltend machen wirst, so ist das gegen die Natur und den Charakter dessen, wie sich das Innere des Menschen zu den geistigen Welten, zu dem religiösen Leben überhaupt verhalten soll. - Will man dann auch die Früchte in dieser Beziehung zeigen, so kann man sagen: Man sehe hin auf Menschen, welche sich in geisteswissenschaftlichen Kreisen zum Beispiel die Idee der wiederholten Erdenleben zur Überzeugung gemacht haben; ihnen kann man ansehen, wie das, was moralische Weltanschauung ist, gerade durch eine geisteswissenschaftliche Weltanschauung in den krassesten Egoismus hineingeführt wird. - Und man kann das, was sich aus der Geisteswissenschaft ergibt, zusammenstellen mit dem Materialismus des neunzehnten Jahrhunderts, indem man sagt: Da hat es zahlreiche Menschen gegeben, die mit ihrem Geiste über die bloßen materiellen Vorgänge hinauskonnten, und die da sagten: Ich sehe meine höhere Moral nicht darin, nach meinem Tode auf eine geistige Welt An­spruch zu machen, um von ihr aufgenommen zu werden und dort fontzuleben, sondern wenn ich etwas Moralisches tue, so tue ich es ohne Hoffnung auf eine geistige Welt, weil es mir die Pflicht gebietet, weil ich gerne hingebe, was mir meine eigene Egoität ist.

Viele hat es gegeben, für welche die Unsterblichkeits-Moral nur eine egoistische Moral war. Diese Moral erschien ihnen viel weniger gut als die, welche alles, was getan wird, mit dem Tode des Menschen übergehen läßt in das all­gemeine Weltenleben. Demgegenüber steht die Moral derer, welche sagen, es hätte keinen Sinn, wenn nicht das, was sie tun, in folgenden Erdenleben seinen Ausgleich fände. Dieses Karma-Gesetz, können nun die Gegner der Geisteswissen­schaft sagen, begünstige nur den menschlichen Egoismus; ganz abgesehen von solchen Leuten, die vielleicht geradezu sagen: Ich erkenne viele Leben in der Zukunft an. Was

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brauche ich daher jetzt ein anständiger Mensch zu werden? Ich habe viele Leben vor mir, und wenn ich auch in der Gegenwart dumm bleibe, gescheit und klug kann ich in den nachherigen Leben noch werden. - So könne man doch sagen, daß die wiederholten Erdenleben gerade dazu her­ausfordern, ein bequemes und lässiges Leben zu führen. Das alles zeige an der Idee der wiederholten Erdenleben, daß der Egoismus, der sein Ich erhalten will, von einer selbstlosen Moral sehr weit entfernt ist.

Und ein Einwand kann aufgenommen werden, den Friedrich Schlegel gegen die Anschauung von den wieder­holten Erdenleben gemacht hat, wie sie bei den Indern an­genommen werden: Die Anschauung von dem Leben der Menschenwesenheit, die da eile von Verkörperung zu Ver­körperung, führe dazu, daß der Mensch dem tätigen, un­mittelbaren Eingreifen in die Wirklichkeit entfremdet wird, daß er das Interesse verliere an allem, worin er sich ent­falten soll. - Eine gewisse weltfremde Sonderlingsart ist ja leicht zu bemerken bei denen, die sich in die Geisteswissen­schaft hineinleben. Ein gewisser Geistes-Egoismus, eine ge­wisse weltfremde Lehre wird dadurch gezüchtet. Ja, es zeigt sich, daß solche Menschen sagen: Nachdem ich mich eine gewisse Zeit hindurch mit der Geisteswissenschaft be­schäftigt habe, verliere ich das Interesse für das, was mir früher lieb war. - Das ist etwas, was oft auftritt, was aber zeigt, daß der Einwand mit Ernst gemacht wird, daß der Mensch arbeiten solle in der Welt, der er zugeteilt ist! Es ist ein ernster Einwand, daß die Geisteswissenschaft die Menschen dem unmittelbaren starken Wirklichkeitsleben nicht entfremden, sie nicht zu Sonderlingen machen soll, die alles drunter und drüber gehen lassen.

Und nun das religiöse Leben! Man kann sagen: Worin liegt die schönste Blüte, die herrlichste Blüte dieses religiösen

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Lebens? Sie liegt in der Hingabe, in der selbstlosen Hingabe der menschlichen Individualität, kann man sagen, an ein außermenschliches Göttliches. Das Sichverlieren des Ge­mütes, das sich opfernde Hingeben des Gemütes an das außermenschliche Göttliche erzeuge die eigentliche religiöse Stimmung. Nun kommt aber die Geisteswissenschaft und erklärt dem Menschen, daß ein göttlicher Funke in ihm ist, der zuerst in einer geringfügigen Weise in einem Erdenleben zum Ausdruck kommt, dann aber ausgebildet wird und sich immer mehr und mehr vervollkommnet, so daß der Gott im Menschen immer stärker und stärker werde. Das ist Selbstvergottung statt selbstloser Hingabe an die außer-menschliche Göttlichkeit.

Ja, man kann mit einem gewissen Recht einwenden, wenn man es mit der religiösen Anschauung ernst nimmt, daß durch dieses Sichhineinleben in die eigene göttliche Na­tur, wenn es sich durch die verschiedenen Inkarnationen hindurch verwirklicht, die wahre religiöse Stimmung zer­stört werden kann, wie auch das Leben in Liebe zerstört werden kann. Wenn der Mensch nicht in der unmittelbaren liebevollen Hingabe sich dazu getrieben fühlt, sondern wenn er daran denkt, daß in einem späteren Erdenleben in dieser Beziehung ein Ausgleich stattfinde, so. liebt er also nur auf den Ausgleich hin. Und der Religiöse kann sagen:

Das religiöse Leben wird in der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung durch den Egoismus begründet, daß der Mensch den Gott nicht außer sich habe, sondern in sich. - Und berechtigt ist der Einwurf: Welche Summe von Überhebung, von Hochmut und Selbstvergottung kann dadurch in der menschlichen Seele begründet werden!

Die, welche sich solche Einwände machen, brauchen sie sich ja nicht auszumalen. Man kann aber daran sehen, wie treumeinende Anhänger der Geisteswissenschaft zu einem

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solchen Hochmut und immer wieder zu solcher Selbstver­gottung kommen können. Daher kommt es, daß wir im Abendlande ein solches Auflehnen gegen das Bestehen des Gorttesfunkens im Menschen finden, gegen das Bestehen des menschlichen Wesenskernes vor der Geburt. Man soll es nicht leicht nehmen, was man bei einem ernsten Wahrheits-forscher als einen solchen Einwand gegen die wiederholten Erdenleben im Gegensatze zu den Vererbungsverhältnissen finden kann.

Einen Einwand, den ich vorlesen will - worüber ich wei­ter nicht sprechen will, um ihn nicht abzuschwächen -, fin­den wir bei Jacob Frohschammer, der als ein Typus eines der Menschen genommen werden kann, die vieles gegen die Annahme einer Präexistenz der Seele einwenden können:

«. . . Als Gottes Wesen oder als Teil Gottes kann sich die Menschenseele unmöglich betrachten, weniger wegen der Thomistischen Besorgnis um die Einheit Gottes, da sie im­merhin als Momente in ihm sein könnten, ohne seiner Ein­heit zu schaden, - als vielmehr nach dem eigenen Bewußt­sein und Zeugnis der Menschenseele selbst, die weder sich noch die Welt als direkten Ausdruck göttlicher Vollkom­menheit oder als Verwirklichung der Idee Gottes selbst betrachten kann. Als von Gott stammend, kann sie nur als Produkt oder Werk göttlicher Imagination gelten; denn es muß die Menschenseele wie die Welt selbst in diesem Falle zwar aus göttlicher Kraft und Wirksamkeit kommen (da aus bloßem Nichts eben nichts werden kann), aber diese Kraft und Wirksamkeit Gottes muß, wie vorbildend für die Schöpfung, so auch bildend bei deren Realisierung und Forterhaltung wirken; also als Gestaltungskraft (nicht bloß formaler, sondern auch realer Art), demnach als Phantasie, d. h. als in der Welt immanent fortwirkende und fort-schaffend erhaltende Kraft oder Potenz, also als Weltphantasie,

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- wie dies früher schon erörtert wurde. Was die Lehre von der Präexistenz der Seelen betrifft (der Seelen, die ent­weder als ewig betrachtet werden oder als zeitlich geschaffen, aber schon am Anfang und insgesamt auf einmal), die man, wie bemerkt, in neuerer Zeit wieder hervorgezogen und zur Lösung aller möglichen psychologischen Probleme für taug­lich hält, - so steht sie mit der Lehre von der Seelenwan­derung und Einkerkerung der Seelen in irdische Leiber in Verbindung. Danach fände also bei der Zeugung der Altern weder eine direkte göttliche Schöpfung der Seelen statt, noch eine schöpferische Produktion neuer Menschennaturen nach Leib und Seele durch die Ältern, sondern nur eine neue Verbindung der Seele mit dem Leibe, also eine Art Fleisch­werdung oder Versenkung der Seele in den Körper, - we­nigstens einer teilweisen, so daß sie teils vom Körper umfangen und gebunden ist, teils darüber hinausragt und eine gewisse Selbständigkeit als Geist behauptet, aber doch nicht davon loskommen kann, bis der Tod die Verbindung aufhebt und für die Seele Befreiung und Erlösung bringt (wenigstens von dieser Verbindung). Der Geist des Men­schen gliche da in seinem Verhältnis zum Körper den armen Seelen im Fegfeuer, wie sie von malenden Pfuschern auf Votivtafeln dargestellt zu werden pflegen, als Körper, die halb in den auflodernden Flammen versenkt sind, mit dem obern Teil aber (als Seelen) hervorragend und gestiku­lierend! Man bedenke doch, welche Stellung und Bedeutung bei dieser Auffassung dem Geschlechtsgegensatz, dem Gat­tungswesen der Menschheit, der Ehe und dem Älternverhältnis zu den Kindern zukäme! Der Geschlechtsgegensatz nur eine Einkerkerungseinrichtung, die Ehe ein Institut zur Ausführung dieser schönen Aufgabe, die Altern den Kin­derseelen gegenüber die Schergen zum Festhalten und Einkerkern derselben, die Kinder selbst den Altern diese elende,

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mühselige Gefangenschaft verdankend, während sie weiter nichts mit ihnen gemein haben! All das, was sich an dieses Verhältnis knüpft, beruhte auf elender Täuschung! »

Man kann, wenn man fanatischer Geistesforscher ist, über eine solche Sache ja lächeln, aber Fanatismus soll der Geisteswissenschaft fernliegen. Verstehen soll sie und wirk­lich tolerieren das, wogegen sich die Seele aufbäumt. Aus diesem Grunde wurde dieser einleitende Vortrag nicht als eine «Begründung», sondern wie eine «Widerlegung» der geisteswissenschaftlichen Forschung gehalten. Aber um so fester wird das stehen können, was in dem nächsten Vortrage «Wie begründet man Geistesforschung?» vorzubrin­gen sein wird, wenn wir uns die berechtigt zu machenden Einwände selbst machen können. Daß ich in Wahrheit die Geistesforschung nicht widerlegen will, wird man mir wohl glauben!

Ich konnte ja nur eine ganz kleine Anzahl von Einwänden hier anführen. Es könnten viele solcher Einwürfe gemacht werden. Das kann zum Teil in der kommenden Zeit geschehen, und es wird dann die Widerlegung gleich auf dem Fuße folgen. Aus allem aber, was angeführt wird, kann man sehen, wie der Mensch durch die Entgegennahme der geisteswissenschaftlichen Forschung innerlich auf einen Kampfplatz gerufen wird, wie nicht bloß die Dinge sich ergeben, die für die wiederholten Erdenleben, für den Durchgang des Menschen durch eine geistige Welt und so weiter sprechen, sondern wie sich aus den dunklen Seelen-tiefen heraus auch alle Gegengründe ergeben können. Gut ist es, wenn der, welcher sich in einer ruhigen Weise mit Geistesforschung beschäftigt, auch diese Gegengründe kennt. Dann wird er auch die richtige Toleranz den Gegnern gegen­über anwenden können. Nur einfach sich mit Geisteswissen­schaft zu beschäftigen oder sich blind zu stellen oder zu

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lachen über Einwände der Gegner, kann nimmermehr die Art des Geistesforschers sein. Daß das nicht zuträglich wirkt, zeigte sich schon an einem besonderen Falle im neun­zehnten Jahrhundert, den ich hier wiedererzählen möchte.

Im Jahre 1869 erschien die «Philosophie des Unbewuß­ten» von Eduard von Hartmann. Wenn man auch nicht mit ihr einverstanden sein wird, so kann man doch sagen, daß in ihr ein guter Versuch vorlag, über die Sinnesanschauung hinauszukommen. Daher mußte sich Eduard von Hartmann gegen manches wenden, was damals gerade als ein Ideal der Wissenschaft herausgekommen war, besonders gegen das, was aus dem neu aufblühenden Darwinismus kam. So fin­den wir vieles in der «Philosophie des Unbewußten», was gegenüber dem Darwinismus nicht hat modern werden sol­len. Aber das besondere Übereinstimmende aller derjenigen, die sich auf seiten des Darwinismus nicht mit diesem Buche einverstanden erklären konnten, war, daß sie sich gegen Eduard von Hartmann auflehnten als gegen einen, der sich nicht bekanntgemacht habe mit dem, was aus der Natur­wissenschaft der Gegenwart folgte. Eine große Flut von Gegenschriften erschien. Man braucht nicht zu denken, daß diese Gegenschriften lauter Torheiten enthielten; sie erschie­nen zum Teil von solchen, die hervorragende Menschen auf ihrem Gebiete sind, zum Beispiel von Ernst Haeckel, von dem Zoologen Oskar Schmidt und anderen. Unter diesen Schriften war auch eine, deren Verfasser sich nicht nannte, mit dem Titel «Das Unbewußte vom Standpunkte der Phy­siologie und Deszendenztheorie». Darin wurde mit schla­genden Gründen bewiesen, wie viele Dinge in der «Philo­sophie des Unbewußten» nicht haltbar wären und wie ihr Verfasser damit gezeigt habe, daß er auf dem Gebiete der Naturwissenschaft nichts anderes als ein Dilettant wäre. Viele Menschen waren geradezu frappiert über die schlagfertige

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Art, wie dieser Anonymus in dieser Schrift vorging, und Oskar Schmidt, damals an der Universität Jena, meinte, sie sei das Beste, was vom Standpunkte der Naturwissen­schaft aus gegen die «Philosophie des Unbewußten» gesagt werden könne. Manche sagten: Er nenne sich uns, denn er ist einer der Unsrigen; und Ernst Haeckel sagte, er selber könnte nichts Besseres gegen die «Philosophie des Unbe­wußten» schreiben.

So war es kein Wunder, daß die erste Auflage dieser Schrift «Das Unbewußte vom Standpunkte der Physiologie und der Deszendenztheorie» bald vergriffen war. Eine zweite Auflage erschien, und jetzt nannte sich der Ver­fasser: es war - Eduard von Hartmann! Jetzt hörten manche Stimmen auf, die vorher gesagt hatten: er nenne sich uns, er ist einer der Unsrigen. Aber das Bedeutungsvolle hatte sich vollzogen, daß ein Mensch gezeigt hatte: er kennt alles, was die ernstesten Gegner gegen ihn vorbringen können. Einmal ist damit der Beweis geliefert worden, daß man nicht glauben soll, wenn gegen eine Weltanschauung etwas vorgebracht werden kann, daß der Verfasser dieser Welt­anschauung sich das nicht selbst hätte sagen können.

Für die Geisteswissenschaft ist dies geradezu eine Lebens­frage. Nun konnte ich heute zwar nicht alles sagen, was gesagt werden könnte. Aber die Geisteswissenschaft muß kennen, was gegen sie eingewendet werden kann, und es wäre nur zu wünschen, daß manche von denen, welche glau­ben, ein abgrundtiefes Wissen aufzubringen, um die Geistes­wissenschaft mit dem oder jenem guten wissenschaftlichen, exakten Grunde zu widerlegen, sich manchmal überlegen könnten, wieviel besser derjenige, gegen den das einge­wendet wird, die Sache kennt, als der, welcher es einwendet. So ist es bei einem gewissenhaften Geistesforscher. Er kann natürlich nicht sein Publikum damit langweilen, daß er immer

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auch alle Gegengründe anführt, die möglich sind. Wenn aber irgend etwas für die Geisteswissenschaft vorgebracht wird, und wenn dann mancher Gegner auftritt, dann sollte dieser sich selbst erst fragen, ob das, was er vorbringt, sich derjenige nicht selbst sagen kann, der die Geisteswissen­schaft vertritt.

Die Aufgabe des nächsten Vortrages soll es nun sein, die Frage aufzuwerfen: Wie stellt sich die Seele in richtiger Art zu dem, was in ihr selbst als Gegengründe aus ihren Tiefen herauf sich geltend macht? Sollte es wirklich wahr sein, daß sich der Mensch gegenüber der Geisteswissenschaft, weil so vieles gegen sie eingewendet werden kann, wirklich so zu stellen habe, wie - in einer etwas übertragenen Weise gesagt - Goethe zuletzt seinen Faust sagen läßt: «Könnt ich Magie von meinem Pfad entfernen»? Sind die Gegengründe der Geistesforschung so, wie sich Faust gegenüber den Ge­gengründen der Magie verhält? Sind sie so, daß ein Philo­soph wie Geoffroy de Saint-Hilaire recht hat, wenn er sagt:

Gegenüber der Weltbetrachtung gibt es im Ernste nur das Folgende. Wir sehen, daß der Mensch in vieler Beziehung schwach ist. Warum sollten wir uns diese Schwäche nicht gestehen, und warum sollte es nicht gerade eine Stärke sein, wenn man sich mit seiner Schwäche abfindet? Wie muß sich der Mensch gestehen, daß er schwach ist gegen Wind und Wetter, gegen vulkanische Gewalten und Elementarereig­nisse! Wie muß sich der Mensch gestehen, daß er schwach ist gegenüber dem, was die Natur über ihn verhängt, wenn er den Samen in die Erde legt und die Ungunst der Witte­rung ihn nicht reifen läßt, die aus seinem Fleiß nur eine Hungersnot hervorgehen läßt! Wenn sich der Mensch oft seine Schwäche zu Gemüte führen muß, warum sollte er es nicht sagen, aus Ehrlichkeit heraus sagen: Zwar kann der Geist in manchem über sich hinaus, aber auch er ist schwach

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und beschränkt und kann nichts vermögen über das, was die Natur über ihn verhängt; so kann er nichts erkennen über das, was unsere Natur ist - wir müssen resignieren!

Wären die Gründe, die jetzt vorgebracht sind, so ge­wichtig, daß der nächste Vortrag nicht gehalten werden könnte, so gäbe es nichts anderes als eine solche Resignation, die nicht nur Geoffroy de Saint-Hilaire, sondern die viele aus einer ehrlichen, wahrheitsliebenden Seele heraus emp­finden und die das vertreten zu müssen glauben, daß der Mensch nicht in eine geistige Welt eindringen könne. Weil die Gegengründe nicht aus Widerspruchsgeist sondern aus der Natur der Sache selbst hervorsprießen, deshalb ist die Auseinandersetzung über Natur und Wert der Gegengründe der Geisteswissenschaft nicht bloß eine theoretische Tatsache, sondern etwas, was sich aus dem Kampfplatze der Seele heraus ergeben muß, wo Meinungen gegen Mei­nungen ein scheinbar mehr oder weniger berechtigtes Kämp­fen aufführen, und wo man erst durch harte Kämpfe er­kennen kann, welche von diesen dort auftretenden Grün­den Sieger bleiben können. Wenn man sich offen und rück­haltlos dem inneren Kampfe der Seele gegenüberstellt und sagen kann, was für und wider eine Erkenntnis der geistigen Welt spricht, so wird man zwar nicht ein fanatischer Ver­treter dieses oder jenes ausgedachten oder erklügelten Prin­zipes, sondern ein Anerkenner jenes Prinzipes, daß eine ruhige Überzeugung sich auf Grundlage derjenigen Gründe aufbaut, die erst dann, und nie vorher, für sich geltend ge­macht werden, nachdem sie in der eigenen Seele ihre Gegengründe aus dem Felde geschlagen haben.

Wenn so der Wahrheitssucher seine Überzeugung sucht, dann darf er sich sagen, er mag getrost der Entwickelung des Geisteslebens in die Zukunft entgegengehen; denn wahr ist, was der ernste Wahrheitssucher gesagt hat: Was unwahr

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ist, und mag es noch so oft vorgebracht werden, es wird von dem sich fortentwickelnden Wahrheitsstreben der Mensch­heit hinausgeworfen werden. Das aber, was wahr ist und sein Dasein so gegenüber den Gegengründen erkämpfen mußte, wie wir es immer in bezug auf die Vorgänge in der Weltgeschichte sehen, das findet seinen Weg in der Ent­wicklung der Menschheit in der ganz besonderen Weise, daß man stehen kann vor dieser Entwickelung der Wahrheit in die Jahrhunderte und Jahrtausende hinein und sagen kann:

Und seien noch so viele von verdeckenden Eindrücken, das heißt Vorurteile und Widersprüche, aufgetürmt, die Wahr­heit findet immer wieder Spalten und Risse, um sich zu behaupten, um sich zum Segen, zum Fortschritt und Nutzen der Menschheit geltend zu machen.

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WIE BEGRÜNDET MAN GEISTESFORSCHUNG? Berlin, 7. November 1912

In den vorangehenden Ausführungen gestattete ich mir, eine Anzahl von Einwendungen, von Widerlegungen der Geistesforschung oder Anthroposophie anzuführen. Es würde nun ein Mißverständnis sein, wenn etwa der Glaube herrschen sollte, der heutige Vortrag sei dazu bestimmt, diese Widerlegungen wiederum zu widerlegen; denn das soll von vornherein gesagt sein: nicht um ein Gedankenspiel, nicht um ein dialektisches Spiel mit Gründen und Gegengründen soll es sich handeln. Diejenige Geistesfor­schung, von der hier die Rede sein soll und immer die Rede gewesen ist, soll durchaus in vollem Einklange mit der Wissenschaft und der Bildung der Gegenwart arbeiten. Da­her sind die letzthin erwähnten Entgegnungen auch nicht in dem Sinne angeführt worden, als ob man sie leichten Herzens so ohne weiteres aus der Welt schaffen könnte, sondern sie sind in dem Sinne angeführt worden, daß sie gewissermaßen berechtigterweise in der heutigen Seele auf­tauchen, in der Seele, welche mit den Errungenschaften unserer Geisteswissenschaft, mit den Fortschritten unserer Geisteskultur bis in die Gegenwart rechnet. Nicht als un­berechtigte Einwendungen, sondern als in ihren Grenzen berechtigte Einwendungen sind sie vorgebracht worden, und es sollte das Gefühl erweckt werden von dem Ernste, mit dem die Geistesforschung arbeiten möchte und von dem Bewußtsein, daß sie aus ihren Quellen heraus die volle Ver­antwortung für sich selber übernehmen kann, trotzdem

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diese Geistesforschung durchaus begreift - das sollte haupt­sächlich mit diesen Einwendungen gesagt sein -, daß sie gewissermaßen allein auf sich selber angewiesen ist in einer, man möchte sagen in der Hauptsache dreifachen Gegner­schaft, welcher sie sich gegenübersieht.

Die eine Gegnerschaft erwächst ihr von der zeitgenös­sischen Wissenschaft oder wenigstens von derjenigen Wissen­schaft, welche oftmals glaubt, auf dieser zeitgenössischen Wissenschaft widerspruchslos aufgebaut zu sein. Die zweite Gegnerschaft erwächst ihr aus mancherlei religiösen Be­kenntnissen, und die dritte erwächst ihr aus dem gewöhn­lichen Bewußtsein des Tages, das sich ja instinktiv in vieler Beziehung gegen das auflehnt, was Geisteswissenschaft, Geistesforschung zu sagen hat.

Es könnte leicht scheinen, als ob so ohne weiteres die Frage berechtigt wäre: Wie beweist also die Geistesforschung gegen die gemachten Einwände ihre Behauptungen? Wie beweist sie das, was sie zu sagen hat? - Wir werden im Ver­laufe dieser Wintervorträge manches über den Inhalt dieser Geistesforschung, über wirkliche Resultate der Forschung über eine übersinnliche Welt zu hören haben. In diesen bei­den ersten Vorträgen muß mir schon gestattet sein, in der Art zu sprechen, wie es vielleicht mancher abstrakt, obwohl es nicht abstrakt gemeint ist, schwer verständlich oder un­interessant findet. Denn wenn auch vielleicht nicht mit allem einzelnen meiner Ausführungen im ersten und zweiten Vortrage mitgegangen werden kann, so kann trotzdem wohl das Gefühl gewonnen werden, daß ein wahrhaft guter Un­tergrund für diese Geistesforschung gesucht wird. Daher darf vielleicht heute manche Frage aufgeworfen werden, welche derjenige uninteressant findet, den es mehr interes­sieren würde, gleich diese oder jene Erzählungen aus der übersinnlichen Welt entgegenzunehmen. Die Frage darf aufgeworfen

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werden: Ist denn überhaupt auf die Begründung einer Weltanschauung das in dem vielfach geglaubten Sinne anzuwenden, was man so gewöhnlich Beweise nennt? Kann man Beweise als etwas ansehen, was, wenn es vorhanden ist, den Zwang für die Überzeugung eines jeden Menschen in sich schließt?

Jeder, der sich zu irgendeiner Weltanschauung im Ernste bekennt, glaubt gewöhnlich, er könne sie beweisen, und er wird für diese Weltanschauung ganz gewiß, wenn er ernst genommen sein will, seine Beweise anführen. Gegenüber diesem so vielfach verbreiteten Glauben möchte ich zunächst ein Wort eines energischen, tatkräftigen deutschen Philo­sophen anführen, das Wort Johann Gottlieb Fichtes, der sagt: Was man für eine Philosophie hat, das hängt davon ab, was für ein Mensch man ist.

Wenn man auf den Grund eines solchen Wortes kommen will, wie es Fichte hier ausgesprochen hat, wenn man mit anderen Worten fragen will, was er gemeint hat, so muß man sich sagen: Es kommt nicht bloß auf Beweise an, son­dern darauf, welche Beweise man für maßgebend hält, welche Beweise für einen Menschen nach seiner Seelenentwickelung das Gewicht haben, um Einsicht gewinnen zu wollen in dieses oder jenes. So werden wir selbst von einem Philo­sophen wie Fichte auf das menschliche Innere gewiesen, wenn es sich um die Bewertung von Beweisen handeln soll. Es wird gleichsam verlangt, daß der Mensch durch seine Seelenentwickelung sich die Fähigkeit erworben habe, um das Gewicht von Beweisen einsehen zu können. Trivial ge­sprochen, möchte ich sagen: Was nutzen alle Beweise schließ­lich demjenigen, der an diese Beweise nicht glauben kann? Und wie es sich um die sogenannten Beweise verhält, das können wir vielfach gerade aus der Methodik mancher Weltanschauungen studieren, die scheinbar ganz auf dem

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festen Untergrunde naturwissenschaftlicher Tatsachen auf­gebaut sind.

Wenn ich so etwas sage, wie ich es jetzt sagen will, so muß ich allerdings immer wieder vorausschicken: Ich glaube nicht, daß irgend jemand für die naturwissenschaftlichen Fortschritte in unserer Zeit mehr Achtung und Anerken­nung haben kann als der echte Geistesforscher. Und heute möchte ich noch insbesondere das vorausschicken, daß alle die Einwendungen, die heute vor acht Tagen gemacht wor­den sind, durchaus so gemeint sind, daß sie insofern berech­tigt sind, als die unmittelbaren Einwendungen des Geistes-forscheres gegen das vor acht Tagen Gesagte unberechtigt wären. Denn der Geistesforscher leugnet dasjenige nicht, was die naturwissenschaftliche Forschung behauptet, mit Recht behauptet. Er erkennt es voll an. Diese Tatsache muß man auch ins Auge fassen.

Die Geistesforschung wird fortwährend von der Natur­wissenschaft bekämpft; dagegen die Geistesforschung selbst bekämpft ihrerseits die Naturwissenschaft gar nicht, wenn man die richtige Sachlage zu würdigen in der Lage ist. Aber es gibt viele naturwissenschaftliche Tatsachen, die von ge­wissen Weltanschauungsströmungen heute so verwertet wer­den, so scheinbar in ein gewisses Licht gesetzt werden, daß man mit den Tatsachen völlig einverstanden sein kann, nicht aber mit der Art, wie manchmal gewisse Weltan­schauungen auf Grund dieser Tatsachen etwas beweisen wollen. Die Tatsachen, die sich aus der Naturwissenschaft ergeben, werden zumeist von der Geistesforschung erst recht bekräftigt, und es darf gesagt werden, die Zeit werde kom­men, in welcher dasjenige, was am Darwinismus und an der modernen Entwicklungslehre berechtigt ist, gerade durch die Geistesforschung die richtige Würdigung finden wird.

So kann auch insbesondere durch die Geistesforschung

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klar sein, daß die Seele des Menschen, indem sie sich in der äußeren physischen Welt wirksam erweisen soll, sich zu gewissen geistigen Verrichtungen gewisser Teile, gewisser Partien des Gehirnes bedienen muß, wie man sich zu an­deren Verrichtungen der Hand bedienen muß. Wie die Hand gewissen Verrichtungen des Menschen zugeteilt ist, so sind gewisse Partien des Gehirnes als Werkzeuge dem seelischen Erleben zugeteilt. Gerade durch die Geistesfor­schung wird der richtige Sinn, die richtige Bedeutung dieser Zuteilung ins Auge gefaßt werden können, und mit dem, was die Naturwissenschaft in dieser Beziehung heute viel­fach vertritt, steht die Geistesforschung nicht im geringsten im Widerspruch. Dagegen sind die sogenannten Beweise, die angeführt werden, vor demjenigen, welcher Beweiskraft versteht, oftmals recht sehr brüchig. So zum Beispiel, wenn für die wahren Tatsachen, daß zum seelischen Leben be­stimmte Partien, gewisse Teile des Gehirns hinzugehören, immer wieder und wieder angeführt wird, es werde durch die Erkrankung dieser Gehirnteile die betreffende seelische Tätigkeit ausgeschaltet, und man kann daher nicht wahr­nehmen, daß die Seele gewisse Verrichtungen wie zum Bei­spiel die Sprache zuwege bringt, so daß also das Sprachzentrum ausgeschaltet wird.

Es sind solche Beweise für den, der Beweiskraft versteht, wirklich mit dem Einwande des berühmten, wenn auch nicht existierenden Professors Schlaucherl getroffen, der ja, wie vielleicht einigen von Ihnen bekannt sein wird, den Beweis führen wollte, wie der Frosch empfindet. Dazu setzte er einen Frosch auf den Experimentiertisch und klopfte auf den Tisch, und siehe da: der Frosch sprang fort - also hatte er es gehört. Jetzt riß er ihm die Beine aus und klopfte wieder auf den Tisch. Jetzt sprang der Frosch nicht fort, weil ihm ja die Beine ausgerissen waren. Aber daraus, daß

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er jetzt nicht mehr fortspringen konnte, folgert der Pro­fessor Schlaucherl, daß der Frosch mit den Beinen hört; denn wenn er keine Beine hat, zeigt sich an nichts, daß er hören kann.

Man muß, wenn man eine solche Sache vorbringt, selbst­verständlich um Entschuldigung bitten. Aber sie ist logisch, methodisch durchaus mit dem zusammentreffend, was viel­fach heute zu Beweiszwecken an Tatsachen angeführt wird, die nicht im geringsten durch die Geisteswissenschaft be­zweifelt werden sollen, die sogar wahr sind. Aber die an­geführten Beweise werden niemals denjenigen wirklich überzeugen können, der beweiskräftiges menschliches Aus­sagen zu beurteilen vermag.

So ist es mit vielem von dem, was gerade im vorher­gehenden Vortrag angeführt worden ist, wie es ein ge­wichtiger Einwand sei, der im wissenschaftlichen Sinne gerade von ernsten und würdigen Forschern der Natur­wissenschaft der Gegenwart gemacht werden kann, daß man sagt: Da haben sich die Menschen in vergangenen Zei­ten die Lebenskraft ausgedacht und alles, was Vorgänge im lebendigen Leibe sind, aus dieser Lebenskraft heraus zu erklären versucht. Aber das neunzehnte Jahrhundert hat gezeigt, daß man diese Lebenskraft zu nichts brauchen kann und daß man, wenn man nur die gewöhnlichen Kräfte in gewissen Stoffen voraussetzt, zeigen kann, sobald man laboratoriumsmäßig vorgeht, wie gewisse zusammengesetzte Stoffe, von denen man früher geglaubt hat, daß sie nur im lebendigen Organismus durch die Lebenskraft zustande kommen können, im Laboratorium ohne diese Lebenskraft dargestellt werden können. So daß daher das Ideal der Wissenschaft darin bestehen muß, vorauszusetzen, daß es einmal gelingen werde, auch kompliziertere Substanzen des Lebendigen auf diese Weise wirklich herzustellen. Nun

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kommen die Geistesforscher und behaupten, daß es im lebendigen Organismus einen besonderen Lebensleib oder Ätherleib gebe, der notwendig ist, damit die lebendigen Erscheinungen zustande kommen. Das sei aber nichts an­deres als eine Aufwärmung der alten Lebenskraft. Das könnte also nur von dilettantischen Seelen herkommen, die in bequemer Weise ein Erklärungsprinzip dort suchen, wo sie wegen ihrer Unkenntnis nicht mit den Fortschritten der wahren Wissenschaft zu rechnen wissen.

Ich möchte zuerst durch eine Art historischen Zeugnisses erklären, wie diese ganze Schlußfolgerung auf eine Seele wirkt, die nicht, voreingenommen durch die, wieder sei es gesagt, berechtigten Fortschritte der Wissenschaft, sich so ohne weiteres ihren Schlußfolgerungen hingibt. Ich möchte es zunächst durch etwas Historisches zeigen. Man glaubt, die Annahme eines Ätherleibes oder Lebensleibes aus dem Felde geschlagen zu haben, indem man sagt: Es muß als ein Ideal der Wissenschaft gelten, einmal die lebendige Substanz aus ihren einzelnen Stoffen laboratoriumsmäßig zusam­menzusetzen; daher könnte man nicht mehr an eine Be­gründung des Lebens durch etwas Übersinnliches glauben, sondern man müsse es als eine Wirkung im rein Stofflichen ansehen, wenn man im Laboratorium arbeitet und die zu­sammengesetzten Substanzen aus den einfachen zusammenfügt.

Es gab eine Zeit, in welcher man wahrhaftig mehr, als ein heutiger ernster Wissenschaftler wagen wird, daran glaubte, daß man laboratoriumsmäßig nicht nur eine ein­zelne lebendige Substanz, sondern auch unterste Lebewesen, ja sogar einen kleinen Menschen, den bekannten Homun­kulus zusammensetzen könnte. Die Zeit, in der man fest glaubte, daß man laboratoriumsmäßig den Homunkulus erzeugen könnte, nahm diesen Glauben durchaus nicht so

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auf, als ob damit das Übersinnliche der Lebenserscheinungen aus der Welt geschafft wäre; sie glaubte gerade erst recht an das Übersinnliche der Lebenserscheinungen. Das ist ein historischer Einwand gegen die Behauptung, es sei für das menschliche Denken unverträglich, an den übersinnlichen Ursprung des Lebens zu glauben und zugleich mit dem Na­turforscher voll die Ansicht zu vertreten, daß das Lebendige im Laboratorium dargestellt werden könnte. Die beiden Dinge sind eben verträglich, und daß sie verträglich sind, dazu muß man vielleicht wieder eine recht triviale Gedan­kenverbindung ins Feld führen, die aber deshalb nicht min­der bedeutsam ist für denjenigen, der sich nicht nur nicht etwas durch eine naturwissenschaftliche Weltanschauung hypnotisieren oder suggerieren läßt, sondern der auf das ganze Gefüge des menschlichen Seelenlebens einzugehen vermag.

Da sehen wir, wie vor uns gewisse Stoffe sind. Wir fügen sie zusammen. Wir sehen - wir nehmen das hypothetisch an -, wie daraus lebendige Substanz entsteht. Sind wir des­halb berechtigt, daraus den Schluß zu ziehen, daß aus dem, was wir vor uns an den einzelnen Stoffen gesehen haben, das Leben dieser Substanz sich wirklich gebildet hat? Nein, das sind wir nicht! Und wir sind es von dem Momente an nicht mehr, da wir zugeben, daß sich an den Nahrungs­resten, welche sich in einem Zimmer befinden, die Fliegen nicht heranentwickelt haben, die sich nach einer gewissen Zeit einstellen. Wenn wir ein Zimmer voll Fliegen sehen, so können wir sagen, diese Fliegen sind deshalb da, weil in dem Zimmer Unordnung herrscht und Nahrungsreste ge­blieben sind. Diese Nahrungsreste waren die Bedingung, aber sie haben die Fliegen nicht gemacht. Es stellt sich aber die Anwesenheit der Fliegen immer ein, wenn die Bedin­gungen da sind, und wenn die Bedingungen da sind, dann

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wird sich das Leben einstellen. Aber niemand darf behaup­ten, daß es daraus hervorgegangen ist, sondern nur, daß sie die Veranlassung gewesen sind, daß das Leben sich ein­gestellt hat.

Ein übersinnlicher Vorgang darf auch dann angenommen werden, wenn laboratoriumsmäßig die Dinge zusammenpassen. Daher wäre es von seiten der Geistesforschung ganz falsch, wenn sie sich darauf begründen wollte, daß sie sich in mehr oder weniger ironischer oder geistvoller Weise über das erheben wollte, was die Naturwissenschaft als ihr Ideal anstrebt. Mit dem geht sie durchaus mit, damit ist sie völlig einverstanden. Aber das räumt nicht das aus dem Wege, was die Geistesforschung zum wirklichen, völligen Begreifen der Dinge beiträgt.

Nehmen wir als ein anderes Beispiel den im ersten Vortrage gegen die Geistesforschung gemachten Einwand, inso­fern diese die Erscheinungen des Schlafens und Wachens dadurch erklärt, daß sie sagt, es sei im Menschen ein Über-sinnliches, das sich mit dem Einschlafen des Menschen aus dem physischen Leibe und Ätherleibe heraus erhebt, in eine besondere geistige Welt geht und beim Aufwachen wieder in sie untertaucht. Wir haben den gewichtigen Einwand er­wähnt, der durchaus schlagend ist, daß die Naturforschung das Phänomen des Schlafes dadurch zu erklären versucht, daß sie eine Art Selbststeuerung des Organismus vorführt, daß sie zeigt, wie die Reize, die durch die Eindrücke des Tageslebens ausgeübt werden, die organische Substanz ge­wissermaßen zerstören, verbrauchen, so daß dadurch ein Punkt eintritt, wo diese organische Substanz, die Lebens­substanz, wiederhergestellt werden muß. Während sie wiederhergestellt wird, ist Dumpfheit über das Bewußt­sein ausgebreitet, und ist die Wiederherstellung vollendet, dann können die äußeren Reize wieder wirken. So hätten

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wir es mit einer Selbststeuerung des Organismus zu tun und könnten sagen: Was braucht es da noch einer beson­deren Geistesforschung, die sich in einer besonderen Be­schreibung dessen ergeht, was während des Schlafes aus dem Menschen herausgehen soll, um in einer anderen Welt dann zu sein - wenn die Erscheinung des Schlafes aus dem menschlichen Leibe selbst erklärt werden kann?

Welches Gewicht der durchaus in gewissen Grenzen wah­ren naturwissenschaftlichen Darstellung beizumessen ist, ergibt sich durch folgende Betrachtung. Mögen die einzelnen Dinge, die ich vorbringe, auch nur skizzenhaft angeführt werden können, sie stimmen, wenn auch nicht in allen Ein­zelheiten, so doch zu dem ganzen Geiste der heutigen natur-wissenschaftlichen Forschung.

Was geschieht denn, wenn der Organismus im Schlafe vor uns liegt, auch durchaus nach naturwissenschaftlicher Anschauung? Wir müssen nach naturwissenschaftlicher An­schauung sagen: da werden gleichsam die durch die Ein­drücke der Sinne und durch die anderen äußeren Eindrücke verbrauchten organischen Substanzen ausgebessert. Da ge­schieht also ein innerer Prozeß, ein Prozeß, der völlig durch die Natur und das Wesen des menschlichen Leibes, des menschlichen Organismus bedingt ist, und wir können das­jenige, was so innerlich geschieht, selbstverständlich nur aus dem erklären, was eben in den Gesetzen des menschlichen Leibes, in den Gesetzen des Organismus liegt. Diese Gesetze des Organismus können uns aber niemals, in keiner Gegen­wart und in keiner Zukunft, etwas anderes geben - das muß jeder, der die Sache gründlich durchschaut, anerkennen -, als was uns etwa die Lunge für den Atmungsprozeß gibt. Wer den menschlichen Atmungsprozeß durchforscht, wird ihn vollständig verstehen können aus den Gesetzen des Lungenlebens. Was aber der Mensch nicht wird verstehen

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können, das ist die Natur und das Wirken des Sauerstoffes. Der wird außerhalb der Lunge zu erforschen sein, der muß erst von außen in die Lunge hineinkommen, und wer glaubte, durch die Erforschung der Lunge die Natur des Sauerstoffes kennenzulernen, der würde sich gewaltig irren.

Der Lungenvorgang, alles was im Organismus geschieht, ist aus dem Inneren des Lungenlebens zu erfahren. Um die ganze Atmung zu verstehen, ist notwendig, daß wir aus dem Lungenleben herausgehen und die Natur des Sauerstoffes draußen für sich verstehen, und nichts gewinnen wir an Erkenntnis über die Natur des Sauerstoffes aus dem Pro­zesse des Lungenlebens. Ebensowenig gewinnen wir, wenn wir untersuchen, was im Organismus während des Schlafes vorgeht, an Erkenntnis für alles dasjenige, was sich im wachen Bewußtsein vom Morgen bis zum Abend abspielt, indem Triebe, Leidenschaften, Affekte, Ideale und so weiter auf- und abwogen. Sowenig das Lungenleben einerlei mit der Natur des Sauerstoffes ist, so gewiß der Sauerstoff in die Lunge von außen hereinkommen muß, so gewiß ist es, daß alles, was in den Bewußtseinserscheinungen beschlossen ist, sich mit dem vereinigen muß, von außen in es herein­kommen muß, was wir innerlich während des Schlafpro­zesses als innere leibliche Vorgänge studieren und beob­achten können.

Einen solchen Gedankengang wird man allerdings nicht sofort ganz durchschauen können. Er ist aber, wenn Sie ihn verfolgen, nicht etwa eine bloße Analogie, er ist mehr als das: er ist eine Art Erziehungsmittel, um die Dinge, die uns bei der charakterisierten Erscheinung im Leben ent­gegentreten, wirklich richtig zusammen zu betrachten. Und wer sich wirklich aufklärt über das Verhältnis des Sauerstoffes, der außen ist und in die Lunge hineingeht, zu dem, was in der Lunge geschieht, der lernt an einem solchen Begriffe,

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an einer solchen Idee erkennen, wie er über das zu denken hat, was während des Schlafes außerhalb des phy­sischen Organismus ist und zu den Vorgängen, die im phy­sischen Organismus während des Schlafes vor sich gehen, ebenso hinzukommen muß, wenn Bewußtsein sich erleben soll, wie der Sauerstoff zu den inneren organischen Vor­gängen der Lunge hinzukommen muß, wenn ein Atmungs­vorgang wirklich lebendig eintreten soll.

Die Dinge, die man nennen kann ein «Begründen der Geisteswissenschaft», sind eben durchaus nicht so einfach wie man oftmals glaubt. Weil sie das nicht sind, deshalb sieht es oft so aus, als ob sie sich durch leichtgeschürzte Widerlegungen aus der Welt schaffen ließen. Es handelt sich wirklich bei der Anerkennung von Gründen und Gegengründen auf diesem Gebiete im Fichteschen Sinne darum, was für ein Mensch man ist, das heißt, welche Seelenver­fassung man mitbringt, um die Dinge in ihrem richtigen Lichte zu sehen. Wie oft hört man sagen: Ach, da kommen diese Geistesforscher oder Anthroposophen und sagen, der Mensch, den man doch als einen einheitlichen wahrnimmt und für den wir uns die Anschauung errungen haben, daß er ein einheitlicher ist, zerfalle in verschiedene Glieder oder Teile, in einen physischen Leib, einen Ätherleib oder Le­bensleib, einen astralischen Leib und ein Ich. Ja, so ein­teilen kann man ja alles. - Aber nicht darum handelt es sich, daß man überhaupt einteilt, sondern darum, daß man nach den berechtigten Anforderungen eines wirklich in die Dinge eindringenden Denkens solche Forschungsmethoden vollzieht. Wenn jemand Wasser vor sich hat, dann wird er dem Chemiker nicht unrecht geben, der ihm sagt: Du kannst, solange du dies «Wasser» sein läßt, niemals darauf kommen, welches die chemischen Bestandteile dieses Wassers sind; dazu mußt du es zerlegen in Wasserstoff und Sauerstoff.

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Solange man auf einem solchen konkreten Gebiete bleibt, wird man vielleicht den Einwand nicht hören: Du begehst eine Todsünde wider den Monismus, denn das Wasser ist ein Monon. Du darfst es nicht zerteilen in Wasserstoff und Sauerstoff, sonst wirst du ein ganz abergläubischer Dualist. - Auf einem solchen konkreten Gebiete wird man vielleicht einen solchen Einwand nicht hören, weil hier die Notwen­digkeit zu sehr in die Augen springt, eine solche Zerteilung vorzunehmen. Was ist denn ein Hauptkennzeichen für die Berechtigung einer solchen Zerteilung, wenn man nicht bloß das Wasser ins Auge faßt, sondern wenn man das ganze hier in Frage kommende Seinsgebiet berücksichtigt? Das Wesentliche ist, daß der Sauerstoff nicht bloß im Wasser sein kann, sondern, wie ihn der Chemiker meint, auch in anderen Substanzen, mit denen er sich ganz verbinden kann, und daß ebenso der Wasserstoff sich mit anderen Substan­zen verbinden kann, so daß man also Wasser zerteilen kann, und die einzelnen Teile können ganz andere Ver­bindungen eingehen und haben in diesen Verbindungen wie­der ihre besonderen Schicksale.

Wenn es bei der Geistesforschung nur darum zu tun wäre, in dem was sich als Mensch darlebt, zu unterscheiden, sagen wir den Ätherleib und den physischen Leib, um das andere nicht zu erwähnen, so könnte man sagen: Da machst du eben eine Einteilung. - Aber verfolgen Sie einmal die Geistesforschung - es kann heute nicht alles angeführt wer­den -, da geht es geradeso zu wie zum Beispiel in der Chemie. Nicht deshalb zergliedern wir den Menschen in einen physischen Leib und in einen Ätherleib, weil uns das in bezug auf diesen Menschen so bequem ist, die Erschei­nungsarten in dieser Weise auseinanderzuschälen, sondern weil wir in der Tat zu zeigen haben: ebenso wie Wasser­stoff und Sauerstoff, wenn sie von ihrem Wasser-Sein getrennt

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werden, in den verschiedenen Substanzen verschie­dene Schicksale durchmachen, so macht der physische Leib im Tode seine besonderen Schicksale durch, wie der Ätherleib auch, und auch der astralische Leib geht andere Ver­bindungen ein. Wie der Chemiker das Wasser verfolgt, wenn er es nicht ein Monon sein läßt, sondern es als die Dualität von Wasserstoff und Sauerstoff auffaßt, wie er zeigt, daß der Wasserstoff ganz andere Wege nehmen kann als der Sauerstoff, so verfolgt der Geistesforscher die Wege des physischen Leibes, des Ätherleibes oder Lebensleibes, des Astralleibes und des Ichs in den verschiedensten Ge­bieten des Lebens. Das gibt ihm die Berechtigung, von einer realen Teilung zu sprechen. Ein Einwand, daß er damit gegen den Monismus verstoßen würde, wäre ganz gleich­bedeutend damit, daß derjenige gegen den Monismus ver­stößt, der Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff zerlegt.

Es handelt sich also darum, daß der Mensch durch die wirkliche Einsicht in die Tatbestände den Wert, die Berech­tigung der Einwände und auch die Grenzen der Einwände versteht. Der wahren, echten, ernsten Geisteswissenschaft wird man es ansehen, wenn man auf sie eingeht, daß sie nicht leichtherzig über die Einwände weggeht, sondern daß sie gerade dadurch zu ihren Resultaten die Begriffe zu finden versucht, daß sie das Für und Wider wohl erwägt. Wenn nun aber schon wiederholt heute hingewiesen worden ist auf den Fichteschen Ausspruch: Man hat eine solche Philo­sophie, wie sie sich ergibt, je nachdem man als Mensch geartet ist -, so könnte man auch das sagen, was auch schon vor acht Tagen gesagt worden ist: Da wird ja gerade alles zurückgeführt auf ein inneres Subjektives, da wird die Überzeugungskraft nicht in dem gesucht, was äußerlich gegeben wird, sondern in der Art und Weise, wie sich der Mensch zu den Erscheinungen der Welt verhalten könnte.

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Da kommen wir dann auf die Besprechung dessen, worauf im ersten Vortrage hingewiesen worden ist: auf die Quel­len der geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse. Es wurde ge­sagt, daß diese Quellen sich durch eine Entwickelung der menschlichen Seele ergeben. Wie diese Entwickelung vor sich geht, welche Wege die Seele zu durchwandern hat, da­mit sie wirklich zu Erkenntnissen und Anschauungen der übersinnlichen Welt hinaufsteigt, darüber werden wir noch sprechen. Heute soll nur gesagt werden, daß die Seele innere Vorgänge durchzumachen hat, die man zum Beispiel bezeichnet als Meditation, als Konzentration des inneren Lebens. Was wird durch solche Vorgänge bewirkt?

Wenn derjenige, der wirklich ein Geistesforscher werden will, seine Seele sozusagen zum Apparat für die Geistesforschung machen will, so muß er eben künstlich einen ähn­lichen Zustand bei sich herstellen, wie es sonst der Schlafzustand ist, das heißt, er muß künstlich durch scharfe Wil­lenskonzentration in der Lage sein, das herbeizuführen, was sich sonst nur durch die Ermüdung als Schlafzustand einstellt. Er muß alle äußeren Sinneseindrücke ausschließen können, muß auch alles an das Gehirn gebundene Denken unterdrücken können, und dennoch muß er jenen Zustand vermeiden, der sonst im Schlafe eintritt: die völlige Leer­heit des Bewußtseins. Das vermeidet er dadurch, daß er sich ganz bestimmten Vorstellungen - wir werden sie später noch charakterisieren - hingibt, die geeignet sind, seine Seelenkräfte zu konzentrieren, zusammenzuziehen, so daß sie stärker werden als sie sonst sind. Während sie sonst gleichsam dünn sind und daher, wenn sie während des Schlafes aus dem physischen Leibe herausgehen, nichts von sich und der Welt wissen können, ihre innere Wahrneh­mungskraft also zu schwach ist, werden sie durch solche Meditationen und Konzentrationen in sich erstarkt, verdichtet.

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Der Mensch zieht sich dann aus dem gewöhnlichen Denken nicht so heraus, daß er nichts von sich weiß, wie es beim gewöhnlichen Schlafe der Fall ist, sondern so, daß er sich bewußt zu halten vermag und durch die Eigenart dieses Zustandes erfährt: Jetzt hörst du nichts durch die Ohren, siehst nichts mehr durch die Augen, denkst nicht mehr durch das an das Gehirn gebundene Denken, sondern jetzt erlebst du dich im rein Geistigen und hast eine Realität im rein Geistigen.

Gesagt ist, daß ein gewöhnlicher und wiederum berech­tigter Einwand gegen eine solche Behauptung der Geistesforschung der ist: Da kann man durch eine solche Seelenentwickelung zum Beispiel zu inneren Vorstellungswelten kommen, die man als einen Ausdruck einer übersinnlichen Welt ansieht. Man kann auch durch die Art, wie sich diese Vorstellungsarten ergeben, die Meinung haben; sie wiesen auf etwas Reales hin. Aber man wisse doch - so kann gesagt werden -, daß der, welcher Halluzinationen, Wahn-Ideen, Visionen hat, auch mit aller Kraft an diese Halluzinationen und so weiter glaubt, und es sei daher ganz unmöglich, in Wahrheit eine Unterscheidung zu finden zwischen den Halluzinationen, Wahn-Ideen und so weiter und dem, was sich so beim Geistesforscher einstellt. - Warum sollte man das, wozu der Geistesforscher auf diese Weise kommt, nicht auch, zwar als eine raffiniertere, aber doch als eine bloße Halluzination ansehen? Abgesehen davon, daß man sagen kann: Was so im Innern erlebt werde, sei nur subjektiv und könne nicht von einem anderen zu jeder Zeit kontrolliert werden, wie dies zum Beispiel beim physikalischen Expe­riment der Fall ist.

Nun muß aber darauf hingewiesen werden, daß es durch­aus nicht im Charakter aller Wahrheiten liegt, daß sie durch äußere Veranstaltungen gefunden oder auch nur bekräftigt

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werden können. Man kann sagen, es könnten für jeden, der nur denken will, die Vorstellungen der Mathematik im äußersten Sinne dafür überzeugend sein, denn sie wer­den im Innern gewonnen. Wir brauchen, um das einzu­sehen, nicht auf höhere, sondern nur auf die gewöhnliche Vorstellung, dreimal drei ist neun, hinzuweisen. Um das einzusehen, bedarf es nur eines inneren Vorstellens der Seele, und es ist nichts weiter als eine Versinnlichung, wenn sich jemand zum Beispiel durch dreimal drei Erbsen ver­anschaulicht, daß dreimal drei neun ist. Es hängt von der inneren Seelenentwickelung ab, wenn jemand die Erkennt­nis hat, daß dreimal drei neun ist, und er braucht sie sich durch einen äußeren Vorgang nicht erst zu bekräftigen. Er weiß, was er erlebt hat, er weiß es ohne jede äußere Kon­trolle. Es gibt also ein inneres Seelenarbeiten, für welches äußere Kontrolle nichts weiter als Veranschaulichung ist, die sich in dem Veranschaulichten erschöpft, und dem man es ansieht, daß dieses innerlich Durchzumachende wahr ist.

In einer ganz ähnlichen Weise, nur auf höherer Stufe, wird der Unterschied erlebt zwischen Irrtum und Wahrheit der übersinnlichen Welt. Der Geistesforscher muß alle die Dinge durchmachen wollen, die ihn zur Erkenntnis führen können: wo hören Halluzinationen, Visionen und Illusionen auf, und wo beginnt die übersinnliche Realität? Wo das eine aufhört und das andere beginnt, das kann nur auf eine ähnliche Weise eingesehen werden, wie die mathe­matischen Wahrheiten eingesehen werden können. Aber es kann eingesehen werden. Wer ein wirklicher Geistesforscher ist und die Natur, die wirklich zur Geistesforschung hin­führt, kennt, der wird ohnedies nicht die Welt mit seinen Visionen unterhalten, und wenn Sie jemanden finden, der die Menschen über die übersinnliche Welt dadurch unter­hält, daß er von seinen Visionen mitteilt, so können Sie

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immer voraussetzen, daß er von einem wahren Geistes-forscher sehr weit entfernt ist. Denn der wahre Geistes-forscher weiß, daß alles imaginäre, visionäre Leben, das man in der äußeren Welt kennt, nichts als eine Vorstellung des eigenen Seelenlebens ist, daß es nichts anderes darstellt als ein Hinausprojizieren der eigenen Seele in den eigenen Raum. Und nicht in diesem Raum, nicht in dem, was man eigentlich meint, wenn man von dem Vorstellen des Geistes­forschers als ein Nichtkenner spricht, liegt das, was seine Wissenschaft begründet, sondern in demjenigen, was erst hinter diesem Vermeintlichen liegt, nachdem er ganz den Vorgang durchgemacht hat, wie sich das Seelenleben ver­objektiviert und wie dann die Wand durchbrochen wird, welche sich zuerst als eine Widerspiegelung unserer inneren Seelenvorgänge aufrichtet.

Gerade das ist für den Geistesforscher wichtig, daß er das Wesen der Halluzinationen, der Visionen und Illusionen in ihrem Zusammenhange mit dem inneren seelischen Leben erkannt hat und sich lange genug sagen kann: Was so er­scheint, ist nicht als das objektiv Maßgebende, sondern rein als innere Seelenvorgänge aufzufassen. Und es gehört nicht so sehr zu den Anforderungen einer wirklichen geistes-wissenschaftlichen Schulung, durch gewisse Verrichtungen, die man in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Weiten?» nachlesen kann, die Seele dazu zu brin­gen, daß sie frei vom Leibe Erlebnisse hat, daß sie aus dem Leibe heraustritt; sondern wichtiger ist es, daß die Seele über diese Erlebnisse außerhalb des physischen Leibes, im rein Geistigen, ein richtiges Urteil gewinnt.

Von einem gewissen Punkt ab weiß die Seele durch das, was sie erlebt, daß sie nicht mehr subjektive Vorgänge erlebt, sondern daß sie ihre Subjektivität abgestreift hat und in ein Objektives hineinkommt, das für jeden objektiv

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ist, wie das Mathematische objektiv ist, trotzdem man seine Beweiskraft nur im Innern erleben kann. Der Fehler, den die Menschen machen, die an ihre Illusionen glauben, besteht darin, daß sie nicht lange genug die Widerstandskraft gegen die illusionäre Welt aufrechterhalten können, daß zu früh der Glaube eintritt an das, was sie erleben, daß sie sich von ihren Erlebnissen nicht lange genug sagen: Das erscheint zunächst nur als eine Widerspiegelung von dir selbst, und erst wenn du alles Subjektive von dir abgestreift hast, wie du es bei der Mathematik machen mußt, trittst du in die Sphäre der objektiven Wirklichkeit ein.

So entfällt auch der Einwand, daß man es bei den geistes­forscherischen Erlebnissen mit etwas Subjektivem zu tun hat. Man hat es ebensowenig mit etwas Subjektivem zu tun, wie man es bei mathematischen Wahrheiten damit zu tun hat. Wenn Geisteswissenschaft mitgeteilt wird, so han­delt es sich nicht eigentlich darum, Beweise zu liefern. Wenn es sich darum handelt, so muß man vor allem das Wesen des Beweises verstehen. Wenn es niemals in der Welt vorgekommen wäre, daß jemand einen Walfisch ge­sehen hätte, so würde niemand beweisen können, daß es einen Walfisch gibt. Aus allen Kenntnissen, die er hat, würde er nie das Dasein eines Walfisches beweisen können, denn ein Walfisch ist eine Tatsache, und Tatsachen kann man nicht beweisen, sondern man kann sie nur erleben. Damit ist etwas außerordentlich Gewichtiges über die Lo­gik gesagt, aber man muß sich erst von diesem Gewich­tigen überzeugen.

Von diesem Gesichtspunkte aus handelt es sich bei den Mitteilungen der Geistesforschung auch nicht darum, daß man Beweise für die übersinnliche Welt oder zum Beispiel für die Unsterblichkeit der Seele liefert, sondern um etwas ganz anderes. Davon werden sich diejenigen überzeugen,

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die eine längere Zeit den wahren Betrieb der Geistesfor­schung mitmachen. Nicht um ein logisches Spintisieren han­delt es sich, sondern um ein Kennenlernen, um ein Mit­teilen der übersinnlichen Tatsachen. Wenn der Geistesfor­scher durch die schon geschilderte Entwickelung der Seele in die Lage gekommen ist, daß er das Leben zwischen dem Tode und der neuen Geburt überblickt, so handelt es sich darum, daß er dann die Tatsachen, welche er für das Leben der Seele in der Zeit zwischen dem Tode und der nächsten Geburt anzuführen hat, mitteilt, daß er mitteilt, was er in der übersinnlichen Welt erlebt. Um Mitteilung von Erleb­nissen, von Tatsachen, die er in seiner Seele durchwandert, handelt es sich.

Von dem anderen darf man sagen: es ergibt sich an der Hand dieser Mitteilungen. Wenn gezeigt wird, wie die Seele in sich geschlossen bleibt, wenn die Teile des Leibes zerfallen, wie die Seele dann gewisse Vorgänge durchmacht, wie sie etwas in einer rein übersinnlichen Welt erlebt und die Kräfte zu einem neuen Leben sammelt, um in einem Leibe wieder ins physische Dasein zu treten, wenn das in allen Einzelheiten angegeben wird, so wird ja gezeigt, wie die Seele lebt, wenn sie durch die Pforte des Todes durchgeschritten ist. Dann wird hingewiesen auf Tatsachen. Um ein solches Hinweisen auf Tatsachen, um eine solche Mit­teilung von Tatsachen handelt es sich, und nicht um ein abstraktes Beweisen.

Nun könnte man sagen: Dann hätte aber ein solches Kennenlernen von entsprechenden Tatsachen nur für den eine Bedeutung, der in die geistige Welt hineinschauen kann, der eine entwickelte Seele hat. Oh, es sieht ein solcher Einwand außerordentlich überzeugend aus, und es soll dies auch gar nicht in Abrede gestellt werden. Wer aber das wirkliche Seelenleben kennt, der wird auch zu diesem Einwande

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ein ganz anderes Verhältnis gewinnen, als manche glauben. Da müssen wir die Frage aufwerfen: Werden wir denn in unserer Seele im normalen Leben überhaupt da­durch von etwas überzeugt, daß uns jemand abstrakte Be­weise liefert? Nehmen wir ein Beispiel. Nehmen wir ein Bild, zum Beispiel die Sixtinische Madonna. Irgend jemand, der keine Ahnung von dem hat, was in einem solchen Bilde liegt, trete vor dieses Bild hin. Ein anderer stelle sich neben ihn und beginne, ihm zu beweisen, was da drinnen liegt. Ja, der, welcher da zuhört, versteht gar nicht, wovon der andere redet. Der kann lange «beweisen», daß in diesem Bilde etwas Besonderes liegt; der Zuhörende kann an seine Beweise nicht glauben. Denn daß man Beweise herbeischafft, das ist noch nicht das Wesentliche, sondern das Wesentliche ist, daß der Zuhörer die Möglichkeit hat, an diese Beweise zu glauben. - Ein anderer steht vor diesem Bilde; ein Zwei­ter tritt hinzu und spricht zu ihm, und der Zuhörende hat jetzt die Möglichkeit, so etwas wahrzunehmen, was durch das Bild ausgedrückt werden soll. Dann regt durch das, was er erkannt hat, der andere in ihm das an, wovon er glaubt, daß es in dem Bilde liegt. Der redet vielleicht gar nicht beweisend. Er schildert nur, was in ihm wirkt, schildert nur das, was in ihm spricht, und hat der Zuhörende einmal in der Seele erfaßt, wovon der andere spricht, und sieht er sich dann das Bild an, dann sieht er das andere in dem Bilde, dann wirkt es so, daß er weiß: es ist in dem Bilde drinnen. Nicht auf eine abstrakte Beweiskraft kommt es an, sondern darauf, daß jemand an uns herantritt, der weiß, was in dem Bilde liegt, und daß wir wirklich das in uns aufnehmen können, was in dem Bilde liegt, wenn wir eine Anschauung von dem gewinnen wollen, was in ihm ist.

So ist es, wenn der Mensch der Welt und den mensch­lichen Erscheinungen gegenübertritt, und der Geistesforscher

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tritt zu ihm. Würde der Geistesforscher mit abstrak­ten Beweisen kommen wollen, so würde der, welcher nicht in der Lage ist, in seiner Seele das nachzuerleben, was der Geistesforscher sagt, niemals durch einen Beweis überzeugt werden können. Der Geistesforscher aber macht es so wie jener Erklärer des Bildes, von dem ich zuletzt gesprochen habe. Er erklärt, was sich ihm in der Seele ergeben hat, die er erst zum Instrumente für die geistigen Wahrheiten ge­macht hat, als im Hintergrunde des geistigen und mensch­lichen Lebens stehend. Er gibt die Tatsachen, die er erlebt hat. Und wenn nun der andere in der Lage ist, daß er diese Begriffe und Tatsachen in sein ganzes Seelenleben aufneh­men kann, so sieht er jetzt die Welt so, daß sich ihm durch das, was der Geistesforscher zu sagen hat, dieses als sein eigener Seeleninhalt ergibt.

Das kann natürlich nicht immer so sein. Wenn der Gei­stesforscher oder Geisteserfahrer dem Zuhörer mit ganz fernen Behauptungen kommt, die für ihn selbst vielleicht Erfahrungswahrheiten sind, wenn er ihm - und selbst wenn er noch so viel in der geistigen Welt erlebt hat - erzählt, was dort alles für Wesenheiten sind und was sie tun, dann hat selbstverständlich der Zuhörende, wenn er es zum ersten Male hört, nicht die geringste innere Verpflichtung, das zu glauben, was er hört. Er wird es und kann es nicht glauben. Warum kann er es nicht glauben? Weil der Abstand zwischen dem, was in der Seele erlebt wird, und dem, was ein solcher geistiger Seher in der Seele erlebt hat, zu groß ist.

Ebenso unberechtigt wäre es, wenn jemand glaubte, sagen zu können, in dreißig Jahren werde einmal ein neuer Weltheiland oder ein neuer Weltmessias kommen, auf den man warten könne, und der ganz besonders große Wahrheiten mitteilen werde. Eine solche Behauptung könnte jemand vor einem anderen, der nicht dazu vorbereitet wäre, nur

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dann tun, wenn er vor der menschlichen Seele und vor den Errungenschaften der menschlichen Kultur keinen Respekt hätte. Aber es gibt einen Weg, um alles dieses eben anders zu machen, indem man an das anknüpft, was wirklich jeder mit unbefangener Seele in einer gewissen Weise verfolgen kann. Daher muß es immer wieder gesagt werden, daß der Einwand unberechtigt sei: Geistesforschung gelte nur für den, welcher selber durch seine entwickelte Seele in die geistige Welt hineinkommen kann. Das ist nicht richtig. Die geistige Welt erforschen kann man nur, wenn man diese Seele zu einem Instrumente der Wahrnehmung in der gei­stigen Welt umbildet. Was man aber dort erlebt, das ist man gleichsam verpflichtet, in solche Begriffe zu gießen, welche für jeden Menschen nach der betreffenden Zeitbil­dung bei unbefangener Seele verständlich sein können, wenn er sich nur eben unbefangen ihnen hingibt und nicht durch irgend etwas, zum Beispiel durch eine vermeintliche oder falsche Gelehrsamkeit, sich dagegen sträubt. Daher kommt es viel mehr darauf an, wie die Tatsachen des hell­sichtigen Bewußtseins irgendeinem Zeitalter mitgeteilt wer­den, als daß solche Tatsachen mitgeteilt werden.

Man kann es zum Beispiel erleben, wenn irgend jemand eingeständlich nur ein Buch gelesen hat, daß er dann über Geistesforschung glaubt ein Urteil zu haben und berechtigt ist, sagen zu dürfen: diese Geistesforscher fangen immer an, das Wort «esoterisch» zu gebrauchen, wenn ihnen Begriffe ausgehen. Vielleicht könnte es aber auch so sein, daß bei dem Betreffenden, der so etwas sagt, das Wort esoterisch immer die Folge hätte, daß er selber bei seinen Begriffen etwas wie eine Leere fühlt, so daß auf ihn selber das Wort esoterisch begriffs-auslöschend wirkt. Also wenn sich jemand auf diese Weise dagegen sträubt und nicht das aufruft, was in seiner Seele ist, um die Ergebnisse der Geistesforschung

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auf sich wirken zu lassen, dann ist es selbstverständlich - das haben wir vor acht Tagen gesehen -, daß die allee-gründlichsten Einwände gegen die Geistesforschung vorzu­bringen sind. Wenn sich aber die Seele unbefangen dem hingibt, was die Geistesforschung gibt, dann genügt der gesunde Menschenverstand, das gesunde unbefangene Den­ken, um mitzuerleben - nicht was der nicht geschulten Seele erlischt, wohl aber das, was von ihr verstanden werden kann. Denn wie verhält sich denn jede menschliche Seele zu der Seele des Geistesforschers, der über gewisse konkrete Tatsachen der übersinnlichen Welt ein Urteil hat, weil er sich in sie hineinbegeben hat? Es verhält sich eine jede Seele zu der Seele des Geistesforschers, wie ein Lebenskeim zu dem vollständig entwickelten Leben; und in derselben Weise, wie im Lebenskeime, zum Beispiel im Ei, das voll­ständige Lebewesen schon enthalten ist, so ist in jeder Seele das vorhanden, was nur jemals der Geistesforscher dieser Seele sagen kann. Wie auch schon im unentwickelten Le­benskeime gezeigt werden kann, wie daraus das Einzelne hervorgeht, so kann die einzelne Seele, welche die Ergeb­nisse der Geistesforschung mitgeteilt erhält, in sich keimhaft, aber mit vollständiger Überzeugungskraft, Einsicht gewinnen in die geistigen Welten.

Daher ist es niemals begründet, wenn man dem, der sich nicht bloß auf seine intellektuelle Kraft des logischen Spie­les, sondern auf seine ganze Seelenkraft verläßt, vorwirft, er müsse ein leichtgläubiger Mensch sein, wenn er sich auf das einlasse, was der Geistesforscher zu sagen hat. Der Ver­stand allein wird es nicht einsehen können; die ganze Seele aber wird es hinnehmen können. Daher ist ein wirkliches Prüfen - nicht ein Hinnehmen auf Autorität - der Geistesforschung möglich, ist in jeder Zeit möglich gewesen und wird auch immer möglich sein.

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Es ist wohl zu merken, daß ich den heutigen Vortrag nicht genannt habe «Wie beweist man Geistesforschung?» sondern «Wie begründet man Geistesforschung?», das heißt:

woher holt man sie, und wie kann die menschliche Seele ein Verhältnis zu ihr gewinnen? Dieses Verhältnis wird für viele Menschen wahrhaftig schwer zu finden sein, aus dem Grunde, weil viele Einwände gegen diese Geistesforschung Gewicht zu haben scheinen. Wie sollte es denn nicht Ge­wicht haben - und hier komme ich wieder auf einen Punkt, wo ich wieder abstrakt und uninteressanter sprechen muß-, wenn jemand sagt: Der Geistesforscher behauptet, daß er in seinem übersinnlichen Bewußtsein die Seele bis in die Zeit hinter der Geburt oder der Empfängnis verfolgen kann, wie sie lebt zwischen dem Tode und der nächsten Geburt und wie sie sich dann in das gegenwärtige Leben hereinlebt. Nun, man kann ja zeigen - so konnte jetzt ein-gewendet werden -, wie gewisse Eigentümlichkeiten, welche die Seele während des Lebens ausbildet, in der Kindheit vorgebildet werden oder vor der Geburt im Leibe der Mutter vorgebildet werden! - Vielleicht ist unter den Ein­wänden gegen die Geistesforschung für viele nichts von solchem Gewicht, als gerade ein solcher Einwand. Die, welche öfter solche Vorträge gehört haben, werden wissen, wie ich selber solche Einwände auch mache, so zum Beispiel, daß in der Familie Bach so und so viele größere und kleinere Musiker gelebt haben, so daß man mit einem gewissen Recht darauf hinweisen könnte, wie der Mensch rein in der phy­sischen Vererbungslinie das empfängt, was ihn zum Mu­siker macht. So kann man darauf hinweisen, wie durch Ver­erbung oder durch Aneignung während des Lebens das an den Menschen herankommt, was er später als seine beson­deren Eigentümlichkeiten und als seine Individualität zeigt. Oh, es ist ein solcher Einwand, wenn man sich mit ihm beschäftigt,

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wenn man sich seiner suggestiven Kraft überläßt, sehr bedeutsam, und jeder Geistesforscher wird es ver­stehen, daß es Menschen gibt, welche von einem solchen Einwande nicht loskommen können, auf welche die Ge­walt der Tatsachen, die man da anführen kann, außer­ordentlich stark wirkt.

Aber es gehört noch etwas anderes dazu, sich so einer Beweiskraft hinzugeben, nämlich einzusehen, daß Ursachen, richtige Ursachen vorhanden sein können, und dennoch nichts verursachen, dennoch nicht wirklich der Anlaß sind, daß tatsächlich etwas entsteht. Ich sage etwas scheinbar sehr Paradoxes, und für den, welcher das Gewichtige der geisteswissenschaftlichen Tatsachen auf seine Seele wirken läßt, ist es gar nicht notwendig, sich darauf einzulassen. Aber hier handelt es sich darum, gegenüber dem Zeitalter darauf einzugehen, um darauf aufmerksam zu machen, was vom philosophischen Gesichtspunkte aus zeigen kann, daß Ursachen da sein können und dennoch nichts verur­sachen.

Warum hat ein Huhn, wenn es entsteht, Federn, einen Schnabel oder diese oder jene Eigenschaft seines Leibes? Ganz gewiß kann jemand sagen: Die hat es vererbt bekom­men von dem Eltern-Huhn, und für die besondere Aus­prägung des Schnabels und so weiter sind die vererbten Merkmale die Ursachen, die wir bei jenem Huhn finden, von welchem das betreffende abstammt. Aber nun muß man einsehen, daß noch etwas Besonderes dazu gehört, wenn die Eigenschaften des Federn-Habens, des Einen-bestimmten­Schnabel-Habens und so weiter, die bei dem Mutter-Huhn da sind, auch bei dem Tochter-Huhn auftreten sollen: es kann etwas eine ganz richtige Ursache sein, aber es ist not­wendig, daß ein bestimmter Keim unter bestimmten Din­gen entsteht, damit die Ursachen «Ursachen» werden können.

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Nicht darauf kommt es an, daß man von dem Folgen­den auf die bestimmten Ursachen hinweist, sondern daß man zeigt, inwiefern die Ursachen auch haben Ursachen werden können.

Hier stehen wir an einem Punkt, wo die Geisteswissen­schaft aus ihren eigenen Tatsachen heraus ein Verhältnis gewinnen kann zum Beispiel zum Darwinismus. Niemand, der nicht ein vorwitziger' sondern ein ernster Geistesfor­scher ist, wird die Tatsachen und ernsten Ausführungen Darwins und der Darwinianer bestreiten. Er wird sogar zustimmen, wenn Darwin fragt: Warum schmiegt sich das Kätzchen so an, wenn der Mensch in seine Nähe kommt? Da weist der Forscher darauf hin, daß es sich schon auf seinem Lager an die Mutter anschmiegt, und daraus sieht man, wie das Spätere mit dem Früheren zusammenhängt. Man kann auf die Ursachen hinweisen, wie ein Mensch diese oder jene Eigenschaft hat, die er vielleicht durch die Mutter erhalten hat, bevor er geboren worden ist. Man kann darauf hinweisen; man hat aber nichts darüber gesagt, inwiefern die Ursachen nun Ursachen geworden sind. Alles, was von einer Weltanschauung gesagt werden kann, die scheinbar fest auf dem Boden der Naturwissenschaft gebaut ist, was erklärt werden kann durch vererbte Merkmale und so weiter, das wird ja von der Geistesforschung ohne wei­teres zugegeben, und wer von dorther Einwände holt, lebt gewöhnlich unter der Voraussetzung, daß sie nicht zuge­geben werden. Sie werden zugegeben, aber der andere geht nicht darauf ein, daß Ursachen erst Ursachen werden müs­sen, so daß es sich also um etwas viel Tieferes handelt, als er im Auge hat. Das ist überhaupt heute der Fall, daß man dasjenige, was Geistesforschung aus der Tiefe des Seins herauszuschöpfen sich bemüht, immer nur nach der Oberfläche beurteilt, die man gerade selbst zu überschauen vermag.

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Wenn das nicht immer geschähe, dann könnte zum Beispiel ein Feuilleton nicht zustande kommen wie jenes, welches am letzten Sonntage im «Berliner Tageblatt» erschienen ist, das eingeständlich nur auf einem einzelnen Buche fußt. Ich möchte nur einmal fragen, was man einem Menschen sagen wird, der sich ein abschließendes Urteil zum Beispiel über Chemie nur aus einem einzigen Buche gemacht hat? Aber so machen es unsere Zeitgenossen. Man darf sagen, die Geistesforschung hat noch gewichtige Gründe, in der Ge­genwart sich erhärtet zu fühlen.

Für die, welche diese Vorträge längere Zeit angehört haben, darf ich wohl sagen, daß hier vieles aus der philosophischen Entwickelung angeführt worden ist. Wer das kennt, wird vielleicht zu dem Urteil kommen: es haben viele Philosophen Beweise geliefert für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Ich selbst muß gestehen, ich habe mich gegenüber dem, was von philosophischer Seite an Be­weisen für die Unsterblichkeit der Seele oder für eine über­sinnliche Welt herbeigebracht wurde, nie recht behaglich gefühlt, denn was die Philosophen meist im Auge haben, sind nur die Begriffe der Dinge. So haben die Philosophen selbst vom menschlichen Ich nur den Begriff des Ichs. Daß man aber aus dem Begriffe des Ichs nichts Reales folgern kann, das sollte jedem ebenso klar sein, wie es klar ist, daß ein bloß gemalter Maler kein Bild malen kann. Ebenso sollte man sich darüber klar sein, daß das Bild des Ichs nichts für das Ich selbst sagt. Wer sich auf die Geisteswissenschaft einläßt, der wird sehen, daß die Überzeugung von der Realität des Ichs durch etwas ganz anderes gewonnen wird, nämlich durch die ganze Art des Fortlebens des Ichs nach dem Tode.

Also an dem, was gutgläubige Philosophen nach dieser Richtung hin vorbringen, kann einem nicht behaglich werden.

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Aber aus dem, was diejenigen vorbringen, welche als Gegner oft so recht gegen die Dinge wettern, gewinnt der, welcher die Dinge tiefer durchschaut, einen recht guten Be­weis für die Natur des Ichs. Denn es gibt ja Philosophen, welche sagen, sie könnten das Ich überhaupt nur als eine Zusammenfassung aller möglichen physiologischen usw. Tä­tigkeiten erfassen. Da sieht man dann, daß diese Forscher alles Mögliche anführen, nur kann sich das, was sie an­führen, nicht auf ein Ich beziehen. Sie sind da in dem­selben Sinne, nur umgekehrt, wie jene Richtung, welche die Lebenserscheinungen durch die Lebenskraft erklären will. Denn wie die Lebenskraft das fünfte Rad am Wagen ist, so wird durch die Erklärungen, die für das Seelenleben bei­gebracht werden, nicht nur nichts erklärt, sondern sie sind sogar ganz überflüssig, wenn es sich um das wahre Erfor­schen des Seelischen handelt. Man sieht dann, daß solche Erklärer das Seelische wirklich ungeschoren lassen und gar nicht dort herankommen, so daß also das Seelische für sich bleibt und sich als etwas erweist, woran die äußeren Er­klärungen nicht herankommen können. Erst wenn im Zeitbewußtsein das Gefühl entstehen wird, daß man Geistesforschung nicht nach der Oberfläche, sondern nur durch ein vertieftes Hineingehen in sie beurteilen kann, erst dann wird nicht irgendein Urteil maßgebend sein können, das von außen über die Geistesforschung kommt.

Wie es mit den wissenschaftlichen Einwänden ist, so auch mit den Einwänden, die im ersten Vortrage in moralischer oder religiöser Hinsicht gegen die Geistesforschung vorge­bracht worden sind. Wenn zum Beispiel gesagt wird, es sei unendlich viel wertvoller, wenn jemand aus reiner Selbstlosigkeit, selbst mit der Aussicht, im Tode vernichtet zu werden, das Gute tue, nur aus der Einsicht und dem Willen, daß es in die Allgemeinheit übergehe - als wenn er es tue

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im Hinblick auf einen Ausgleich in folgenden Erdenleben, so ist ein solches Urteil durchaus wahr und soll nicht be­stritten werden. Wahr ist es, wenn gesagt wird, daß jemand nur aus Egoismus heraus etwas Gutes tue, wenn er glaube, daß es ihm dann durch das Karma in einer Art Vergeltung wieder als ein Gutes im neuen Erdenleben zukomme, oder wenn er das Böse deshalb unterläßt, weil es sich als eine Art Strafe im neuen Leben wieder zeigen könnte. Es ist gewiß, daß man eine solche Behauptung als den Egoismus begrün­dend einsehen kann und daher mit vollem Rechte sagen darf: Also werde ja gerade durch das, was die Geistesfor­schung über den Menschen zu sagen habe, der Egoismus unter den Menschen gefördert.

Schopenhauer hat einmal mit Recht gesagt - Sie wissen, daß ich durchaus nicht überall mit ihm übereinstimme -:

«Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer.» Was heißt Moral begründen? Es heißt, eine Seelenverfassung herbeiführen, durch welche der Mensch zu einem moralischen Handeln kommen kann. Wer das Völkerleben kennt, der weiß, daß Moral predigen nicht nur leicht ist, sondern mei­stens sehr nutzlos ist; denn man kann sehr wohl recht gute Moralgrundsätze kennen - und recht schlecht handeln. Wenn es sich bloß um das Anhören von Moralpredigten handelte, so würde es ganz gewiß viel mehr moralische Menschen geben, als es der Fall ist.

Es könnte jemand zum Beispiel sagen: Man nehme ein Elternpaar an, das seinen Kindern gegenüber alles anstre­ben würde, damit diese ordentliche und tüchtige Menschen werden. Denn, so sagen die Eltern, wenn wir sie zu ordent­lichen, tüchtigen Leuten machen, so werden sie uns im Alter eine Stütze sein können, und wir werden alles Mög­liche von ihnen haben können. Wenn die Eltern ihre Kinder unter diesem Gesichtspunkte erziehen, so ist es zweifellos

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ein höchst egoistischer Gesichtspunkt. Aber nehmen wir nun an, die Kinder werden ordentlich, so daß sie tüchtige Leute sind, wenn sie herangewachsen sind. Dann haben die Eitern zwar etwas Egoistisches getan, aber sie haben Moral nicht selbst gepredigt, wohl aber Moral begründet, und es könnte sich herausstellen, daß sie, wenn sie die Kinder zu tüchtigen Leuten machen, und diese dann später etwas ganz anderes zeigen, als sie sich vorgestellt haben, noch zu einer ganz anderen ethischen Auffassung kommen. Da wäre auch für die Eltern Moral begründet, nicht gepredigt.

Nehmen wir an, ein Mensch hätte nicht die Gelegenheit, für sein nächstes Erdenleben den Ausgleich für schlechte Handlungen zu berechnen. Aber indem er nun unter dem Einflusse einer solchen Anschauung von dem Karma Hand­lungen begeht, wird sich ihm allmählich eine moralische Weltanschauung herausbilden. Sie wird aus der mensch­lichen Natur heraus begründet werden. Wer noch auf einer niederen moralischen Stufe steht, wird ja gewiß aus einer egoistischeren Auffassung des Karma heraus handeln. Wer aber auf den höheren Standpunkt gekommen ist und daher auch eine höhere Auffassung von dem Karma hat, wird in sich eine selbstlose Moralforderung erfüllen.

So handelt es sich darum, daß man nicht abstrakt auf etwas hinweise, indem man eine Karma-Idee egoistisch nennt, sondern daß man zeigt, wie sie den Menschen zu einer höheren Entwicklung hinaufführt. Das könnte noch weiter ausgeführt und gezeigt werden, wie die Geistesfor­schung auf das Reale, auf das Wirkliche der Menschennatur geht. Wenn jemand den anderen Einwand erheben würde, daß viele sich sagen könnten: Ich habe spätere Erdenleben vor mir, da brauche ich erst in den späteren Leben ein ordentlicher Mensch zu werden; jetzt habe ich noch Zeit, jetzt kann ich noch ein unordentlicher Mensch sein -, so

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wäre das ein Einwand, der auch theoretisch zu widerlegen ist. Um sich aber richtig zu ihm zu stellen, dazu gehört, daß man die praktischen Verhältnisse kennt. Man muß wissen, daß jemand, welcher der Ansicht wäre, er brauchte in seinem jetzigen Leben noch kein ordentlicher Mensch zu sein, er wolle dies erst im nächsten Leben werden, durch einen sol­chen Vorsatz in sein nächstes Leben hineingewirkt hat. Wenn er nicht jetzt beschließt, ein ordentlicher Mensch zu werden, so hat er eben auch für das nächste Leben nicht die nötigen Grundlagen dazu. Er benimmt sich also jetzt schon die Fähigkeit, um später ein ordentlicher Mensch zu sein; er schafft sich selbst die Kräfte dafür hinweg. So könnte wieder Stück für Stück über die berechtigten moralischen Einwände gesprochen werden.

Auch der religiöse Einwand ist berücksichtigt. Es wird gesagt: Da muß die Geistesforschung erklären, daß in jeder Seele ein Funke des Göttlichen ist und daß der Mensch diesen Gottesfunken von Leben zu Leben immer mehr und mehr entwickelt. Es wird also der Funke des Göttlichen in die menschliche Brust verlegt.

Wie man sich zu dieser Sache verhält, wenn man sie in das richtige Licht zu bringen weiß, das versuchte ich zu zeigen in der ersten Szene meines Mysterien-Dramas «Die Prüfung der Seele». Gewiß, man kann sagen, es gehe durch eine solche Anschauung das verloren, was gerade das religiöse Prinzip genannt werden kann, das Abhängigkeitsgefühl von dem Göttlichen, außerhalb dessen der Mensch steht, das kindliche Hinaufblicken zu diesem außer ihm befind­lichen Göttlichen. Aber man nehme nun das, was von dem anderen Standpunkte aus zu sagen ist, daß der Mensch völlig einsehe, daß das Göttliche einen Funken in ihn gelegt hat, den er erleben muß und zur Entfaltung bringen muß; daß er tatsächlich einzusehen vermag: Du trägst in dir einen

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göttlichen Funken, und läßt du ihn unentwickelt, so läßt du ihn verkümmern! Dieses Beisammensein mit dem Gött­lichen, und doch wieder die Notwendigkeit, diesen Funken erst entwickeln zu müssen, das ist ein Antrieb von einer unendlich viel größeren Stärke, als jeder andere religiöse Antrieb.

Wer sich auf die Geisteswissenschaft einläßt, wird schon sehen, daß es sich nirgends um eine Gegnerschaft zu irgend­einem religiösen Bekenntnisse handelt. Man glaubt, weil sich religiöse Bekenntnisse so gerne gegen anthroposophische Geisteswissenschaft wenden, daß sich nun die Geisteswissen­schaft auch gegen religiöse Bekenntnisse wenden werde. Aber wie mit den vorhin charakterisierten wissenschaft­lichen Einwänden ist es gerade auch mit diesem religiösen Einwande: keinem religiösen Bekenntnisse kommt Geistes­wissenschaft in die Wege, denn sie hat es mit dem Verhält­nisse der Menschenseele zu den übersinnlichen Welten zu tun, während es die Religion zu tun hat mit dem Verhält­nis zu der einzelnen Seele.

Wer wirklich zu sehen vermag, der wird sehen, wie es für den Menschen durchaus möglich ist, Geistesforschung zu treiben, trotzdem er voll in einem für ihn naturgemäßen religiösen Bekenntnisse drinnen stehen bleibt. Die wahre Begründung von Geistesforschung aber, wenn sie von der Welt aufgenommen wird, wird dem Menschen das geben können, was man nennen kann eine vertieftere Auffassung des seelischen Lebens, sowohl des einzelnen seelischen Le­bens wie des Zusammenlebens der Seelen. Wer sich nur ein wenig davon überzeugen kann, daß alles äußere mensch­liche Zusammenleben nur ein äußeres Bild dessen sein kann, wie die Seelen zueinander stehen, der wird das Unermeß­liche einsehen, was sich für die Seele ergibt, wenn sie zu der Erkenntnis kommt, wie die einzelne Seele zu der anderen

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steht, wie die einzelne Seele zur anderen stehen kann, wenn sie richtig erfaßt hat, wie die Schicksale der einzelnen Seele gegenüber der anderen Seele sind im Leben zwischen dem Tode und der nächsten Geburt, welches die Schicksale für die einzelne Seele sind, was es heißt, von einer anderen Seele abgetrennt zu sein, was es heißt, ein neues Verhältnis zu gewinnen zu der abgeschiedenen Seele, wenn die Seele, die hier geblieben ist, etwas von der übersinnlichen Welt wissen kann. Über alles menschliche Wissen und über alle sonstigen Verhältnisse des Menschenlebens wird neues Licht ausge­gossen, wenn sich das in die Seelen zu senken vermag, was aus den Tiefen der übersinnlichen Welt für jede einzelne Seele hervorgeholt werden kann. Ein Hineinleben, nicht bloß ein Hineindenken, gehört zu dem Erkennen, zu dem Erschauen, zu dem Verstehen der geistigen Wahrheiten.

Das hat man nicht erst durch die Geistesforschung der neueren Zeit erkannt, sondern das hat man im Grunde ge­nommen immer schon überall da erkannt, wo man aus einer wirklichen Erkenntnis der geistigen Welt heraus gesprochen hat. Nicht von mir selbst aus möchte ich sagen, was ich zu sagen hätte für die Stellung der Geistesforschung gegenüber denen, welche sie, ohne sie wirklich zu kennen, ablehnen, wohl aber von Johann Gottlieb Fichte aus möchte ich es sagen. Wenn manches Schwerwiegende, vielleicht auch für manchen Verletzende in diesem Ausspruche ist, so berück­sichtige man, daß er von einem Manne herkommt, der, voller Enthusiasmus für Geistesforschung, seinen Zorn verkünden wollte allen denjenigen, welche, ohne wirklich einen Einblick in die geistige Forschung gewinnen zu wollen, sie ablehnen und sie bekämpfen zu müssen glauben. Diesen ruft Fichte zu:

«Sie können nicht anders, als jene sie beschämende Über­zeugung von einem Höheren im Menschen und alle Erscheinungen,

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die diese Überzeugung bestätigen wollen, wütend anzufeinden; sie müssen alles Mögliche tun, um diese Erscheinungen von sich abzuhalten und sie zu unterdrücken; sie kämpfen für ihr Leben, für die feinste und innigste Wurzel ihres Lebens, für die Möglichkeit, sich selber zu er­tragen. Aller Fanatismus und alle wütende Äußerung des­selben ist, vom Anfange der Welt an bis auf diesen Tag, ausgegangen von dem Prinzip: wenn die Gegner recht hätten, so wäre ich ja ein armseliger Mensch. - Vermag dieser Fanatismus zu Feuer und Schwert zu gelangen, so greift er den verhaßten Feind an mit Feuer und Schwert; sind diese ihm unzugänglich, so bleibt ihm» (dieses letztere muß man ja für unsere Gegenwart doch auch sagen) «die Zunge, welche, wenn sie auch den Feind nicht tötet, doch sehr oft seine Tätigkeit und Wirksamkeit nach außen kräftig zu lähmen vermag. Eines der gebräuchlichsten und belieb­testen Kunststücke mit dieser Zunge ist dieses, daß sie der nur ihnen verhaßten Sache einen allgemein verhaßten Na­men beilegen, um dadurch sie zu verschreien und verdäch­tig zu machen. Der stehende Schatz dieser Kunstgriffe und dieser Benennungen ist unerschöpflich und wird immerfort bereichert, und es würde vergeblich sein, hierbei einige Voll­ständigkeit anzustreben. Nur einer der gewöhnlichsten verhaßten Benennungen will ich hier gedenken: der, daß man sagt, diese Lehre sei Mystizismus.

Bemerken Sie hierbei, zuvörderst in Absicht der Form jener Beschuldigung, daß, falls etwa ein Unbefangener dar­auf antworten würde: Nun wohl, laßt uns annehmen, es sei Mystizismus und der Mystizismus sei eine irrige und gefährliche Lehre, so mag er darum doch immer seine Sache vortragen, und wir wollen ihn anhören; ist er irrig und gefährlich, so wird das bei der Gelegenheit wohl an den Tag kommen, - jene, der kategorischen Entscheidung gemäß,

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mit welcher sie dadurch uns abgewiesen zu haben glauben, darauf antworten müßten: da ist nichts mehr an­zuhören; schon vorlängst, wohl seit anderthalb Menschen­leben, ist der Mystizismus durch die einmütigen Beschlüsse aller unserer Rezensionskonzilien als Ketzerei dekretiert und mit dem Banne belegt.»

So Johann Gottlieb Fichte. Fichte spricht sich so aus, daß es einigermaßen auch heute noch gelten kann über das Ver­hältnis der Geistesforschung, sagen wir zu denen, die nur ihren Sinnen vertrauen wollen und die Welt nach dem ein­gerichtet haben wollen, was ihnen ihre Sinne sagen. Fichte vergleicht solche Menschen - obwohl dieser Vergleich viel­leicht nicht ganz berechtigt ist -, die nur ihren Sinnen vertrauen wollen und nicht zugeben wollen, daß es eine nähere Erkenntnis der Wahrheit gibt, mit Taubstummen und Blindgeborenen, die auch nicht Töne und Farben zu­geben wollten, wenn ihnen durch die Sehenden davon ge­sprochen wird. Nun kann man Blindgeborene und Taube allerdings nicht mit denen vergleichen, die nicht aufnehmen wollen, was durch die hellseherische Forschung gegeben werden kann, weil jede Seele fähig ist, sich in ein Ver­hältnis zu den übersinnlichen Wahrheiten zu bringen. Aber Fichte sagt:

«Daß man sich auch der Taubstummen und der Blind­geborenen annimmt und einen Weg sich ausgesonnen hat, um an sie Unterricht zu bringen, ist alles Dankes wert - von den Taubstummen nämlich und den Blindgeborenen. Wenn man aber diese Weise des Unterrichts zum allge­meinen Unterrichte, auch für die Gesundgeborenen' machen wollte, weil neben ihnen doch immer auch Taubstumme und Blindgeborene vorhanden sein könnten, und man dann sicher wäre, für alle gesorgt zu haben; wenn der Hörende ohne alle Achtung für sein Gehör ebenso mühsam reden

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und die Worte auf den Lippen erkennen lernen sollte, als der Taubstumme, und der Sehende ohne alle Achtung für sein Sehen die Buchstaben durch Betastung lesen, so würde dies gar wenig Dank verdienen von den Gesunden; ohn­erachtet diese Einrichtung freilich sogleich getroffen werden würde, sobald die Einrichtung des öffentlichen Unterrichts von dem Gutachten der Taubstummen und Blindgeborenen abhängig gemacht würde.»

Vielleicht würde man sagen können, wenn man schon gegen diesen Fichteschen Satz einen Einwand machen wollte, daß es nicht einmal so bei den Blindgeborenen und Taub-stummen zugehen würde. Wenn es aber auf diejenigen ankäme, die nur auf die Sinne und auf den Verstand ver­trauen, um darauf zu kommen, wie die Welt gestaltet sein sollte, so würden sie diese nicht so gestalten, wie die Sehen­den sie erblicken. Sie würden zwar wettern und sich auf­lehnen gegen alle spirituelle Interpretation der Welt von seiten anderer, würden aber sich selbst für unfehlbar er­klären in bezug auf das, was sie über die Welt zu sagen wissen. Hohnlachend würden sie sich verhalten, wenn ver­langt würde, daß nur der über eine solche Sache sprechen sollte, der von ihr weiß, und daß diejenigen nichts darüber sagen sollten, die nichts von ihr wissen. Der Hauptgrund aller Leugner der Geistesforschung ist ja nur der, daß sie nichts von ihr wissen. Logisch wäre die erste Forderung, daß nur derjenige über eine Sache sprechen soll, der etwas von ihr weiß. Aber solche Gründe, daß man etwas ableug­net, von dem man nichts weiß, werden nur zur Ablehnung einer geisteswissenschaftlichen Weltanschauung in unserer Zeit gebraucht.

Wer aber in seiner Seele durchleben kann, was in dem ersten Vortrage gesagt worden ist, wer nicht zu warten braucht auf die Einwände, die er in sich selber erleben kann

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und in seinem Geistesleben zu durchschauen vermag, der wird auch immer einen Weg finden zur Begründung der Geistesforschung, so daß für ihn ein Wahrwort wird, was ich auch in der ersten Szene der «Prüfung der Seele» aus­gesprochen habe, und das in der ganzen Verfassung des Be­wußtseins zusammenfassen kann, was uns das Wissen von den übersinnlichen Welten geben kann, geben kann für unsere Lebenshoffnung, für unsere Kraft im Leben, für unsere Sicherheit im Leben, für alles, was wir zu einem menschenwerten Dasein gebrauchen. Alles, was gesagt wer­den kann, was man sagen kann als in der Seele sich er­hebend, in der Seele sich erlebend und erfühlend, das kann eben zusammengefaßt werden in die Worte: Nicht bist du mit deinem Denken, Fühlen und Wollen allein. Wie du mit deinem Leib in den Stoffen lebst, die im ganzen Weltall verbreitet sind, so lebst du mit deinem Denken, Fühlen und Wollen in etwas, was in dem ganzen Kosmos, in den Raumesweiten ausgebreitet ist. Das heißt, es kann der Aus­spruch, den ich an der bezeichneten Stelle meines Mysterien-Dramas gesagt habe, Überzeugung werden:

«In deinem Denken leben Weltgedanken,
In deinem Fühlen weben Weltenkräfte,
In deinem Willen wirken Weltenwesen.
Verliere dich in Weltgedanken,
Erlebe dich durch Weltenkräfte,
Erschaffe dich aus Willenswesen.
Bei Weltenfernen ende nicht
Durch Denkenstraumesspiel-- -;
Beginne in den Geistesweiten,
Und ende in den eignen Seelentiefen: -
Du findest Götterziele,
Erkennend dich in dir.»

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DIE AUFGABEN DER GEISTESFORSCHUNG FÜR GEGENWART UND ZUKUNFT Berlin, 14. November 1912

Geisteswissenschaft, wie sie hier in diesen Vorträgen ge­meint ist, will nicht etwas sein, was aus der Willkür dieses oder jenes Menschen entspringt, was etwa auf einem subjek­tiven Einfall eines einzelnen oder mehrerer beruht, sondern sie will eine geistige Weltauffassung sein, die sich mit einer gewissen Notwendigkeit in die Bedürfnisse und in die For­derungen unserer Zeit hineinstellt, insofern sich diese Zeit als ein erkennbares Produkt der Entwickelungsgeschichte der Menschheit ergibt. Nur dann, wenn eine Weltanschauung gewissermaßen von ihrer Zeit gefordert wird, kann sie mit einer gewissen Berechtigung jene vertrauensvollen Worte für sich in Anspruch nehmen, welche in dem ersten Vortrage dieses Winters ausgesprochen worden sind. Nur unter solcher Voraussetzung kann sie sagen: Wie auch von dieser oder jener Seite her die Gegnerschaft gegen sie sich geltend machen möge: enthält sie irgend etwas von Wahrheit, so darf sie darauf bauen, daß die Wahrheit immer, und wenn man sie noch so sehr verschüttet, die Ritzen und Spalten finden werde, durch die sie im Geistesleben der Menschheit Verbreitung gewinnt.

Wir werden nun, nicht mit allgemeinen Redensarten, sondern mehr mit konkreten Tatsachen, darauf hinzuweisen versuchen, wie im Laufe der letzten Jahrhunderte und namentlich in der allerletzten Zeit bis zur Gegenwart her­auf die suchende Menschenseele sich immer mehr und mehr

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zu dem hinentwickelt hat, was die hier gemeinte Geistes­wissenschaft dieser suchenden Menschenseele sein will.

Wer könnte heute nicht, wenn er aus seinem Gemüte, aus den Bedürfnissen seiner Seele heraus sich gezwungen sieht, für die Stärke, für die Sicherheit seines Lebens sich Auf­schlüsse über die Weltenrätsel zu verschaffen, wer könnte da nicht versucht sein, zunächst Anfrage zu halten bei dem, was die ganz gewiß von der Geisteswissenschaft nicht unterschätzte, sondern in ihren Triumphen und Errungenschaften voll anerkannte Naturwissenschaft zu geben hat? Unzählige Menschen sind ja heute des Glaubens, daß es von einer weiteren Ausbildung der naturwissenschaftlichen Fragen, der naturwissenschaftlichen Forschung abhängen werde, ob man gleichsam durch eine Zusammenfassung dieser naturwissenschaftlichen Tatsachen und Gesetze auch zu einer Weltanschauung kommen werde, welche dem Menschen die Ausblicke in dasjenige eröffnet, was hinter den Dingen liegt, die er mit den Sinnen wahrnehmen kann, die er mit seinem Verstande begreifen kann und mit denen er sich verbunden fühlt in seinem Dasein, die er aber zu erkennen bestrebt ist, damit er wissen kann, welches das Schicksal der Seele, ja, das Schicksal ihres Wirkens in der ganzen Welt ist.

Einer solchen Sehnsucht und einer solchen Hoffnung ge­genüber darf aber wohl darauf hingewiesen werden, daß sich im Laufe der Menschheitsentwickelung das Verhältnis der Seele zu dem, was die äußere Wissenschaft sein kann, vollständig geändert hat, und gerade an dem Beispiele, das wir hier in bezug auf Seelenfragen im Verhältnisse zur Wissenschaft anführen können, mag sich uns so recht zeigen, wie unsere Zeit in einer Beziehung doch nicht nur mit dem trivialen, oft gebrauchten Worte einer «Übergangszeit» bezeichnet werden darf, sondern wie sie eine Zeit ist, welche in bezug auf geistige Forschungen im eminenten Sinne eine

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neue Epoche fordert. Wir brauchen da nur an das Beispiel einer großen Persönlichkeit zu erinnern, die wie viele andere ihrer Art dazu beigetragen hat, unsere Geisteskultur vor­wärts zu bringen, an Kepler, welcher der eigentliche große Ausgestalter der kopernikanischen Weltanschauung ist, von welcher ausgehend sich dennoch ja viele Fragen unserer heutigen Weltanschauung aufwerfen.

Wer würde heute nicht, wenn er nicht Herz und Sinn hat für eigentliche Geisteswissenschaft, vielleicht sogar dazu kommen können, zu sagen: Durch solche Leistungen wie diejenigen Keplers ist es der Menschheit gelungen, mit reiner objektiver Naturwissenschaft und ihren Gesetzen die Bewegungen der Himmeiskörper zu erfahren. Und wie kann - könnte der Mensch sagen - daneben etwa der Glaube bestehen, daß diese Bewegungen der Himmelskörper in irgendeiner Weise von geistigen Wesenheiten geregelt seien, auf welche die Geisteswissenschaft hinweisen will, von gei­stigen Wesenheiten, die hinter dem Materiellen und seinen Gesetzen stehen, da sich doch alles auf mechanische, phy­sikalische Art erklären läßt! Wozu bedarf es da noch irgend­welcher hinter diesen physikalischen Gesetzen stehender geistiger Kräfte?

Ein solcher Ausspruch sieht außerordentlich berückend aus, und man kann darauf hinweisen, daß es gerade die Erlösung von altgewohnten Vorurteilen der alten spiri­tuellen Weltanschauungen war, daß solche Leute wie Kepler aus rein physikalischen Gesetzen heraus die Bewegungen der Himmelskörper im Raume erklärt haben. Gehen wir aber objektiv, ohne Zeitvorurteile, auf Kepler selber ein, studieren wir ihn in seinen seelischen Eigentümlichkeiten, so finden wir das Merkwürdige, daß alles, was Keplers Blick in die Himmelsräume hinausgerichtet hat, was ihm die eigentlichen inneren Impulse gegeben hat, um seine

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großen, gewaltigen Gesetze aufzufinden, das Bewußtsein war, mit seiner Seele eingebettet zu sein in geistige Ur­gründe des Daseins, in die Wirksamkeit geistiger Wesen­heiten, welche die Räume erfüllen und durch die Zeit hin­durch wirken. Er war sich klar, daß das, was er den Pla­netenbewegungen als «Gesetze» zuschrieb, ihm nur dadurch eingegeben werden konnte, daß die Gesetze die Gedanken göttlich-geistiger Wesenheiten seien. Wenn wir nachfor­schen, worauf bei Kepler solche Impulse beruhten, so müs­sen wir sagen, sie beruhten eben darauf, daß der ganze Gang der Menschheitsentwickelung immer die menschliche Seele in Zusammenhang gehalten hat mit dem Geistig-See­lischen, und daß dasjenige, was man wie ein selbstverständ­liches Geistig-Seelisches hinnahm, zu Keplers Zeiten eben noch da war, da war in der Tradition, in dem allgemeinen Glauben, da war, um die Seele zu befeuern, zu beflügeln und in ihr Gedanken wach werden zu lassen.

Aber wer könnte daneben leugnen, daß dies bei Kepler so klar im Hintergrunde seines Schaffens Stehende gerade im Laufe der letzten Jahrhunderte allmählich hingeschwun­den ist, hingeschwunden durch das, was aus ihm geschaffen worden ist, so daß heute die Menschenseele sehr leicht glau­ben kann, daß Keplers Gesetze und alles, was in dieser Art zustande gekommen ist, zum Beweise aufgerufen werden könnte gegen die Annahme einer geistig-göttlichen Welt. Wenn wir von Kepler durch die Jahrhunderte herauf bis in unsere Zeit gehen, so sehen wir, wie dasjenige, was zwar noch aus dem Bewußtsein des Zusammenhanges des Men­schen mit dem Göttlich-Geistigen geboren ist, immer mehr und mehr dieses Bewußtsein selbst hinwegschafft, und wie eine Zeit heraufrückt, groß und gewaltig durch ihre natur­wissenschaftlichen Errungenschaften, groß und gewaltig durch die Schöpfungen bedeutsamer Erkenntnisse auf dem Gebiete

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der Naturwissenschaft, eine Zeit, in welcher die Men­schenseele allmählich unfähig ist, aus der Fülle dieses naturwissenschaftlichen Materials, aus der Fülle dessen, was man auf materiellem Gebiete erkannte, wirklich zum Geistigen aufzusteigen. Man könnte sagen: Dadurch charakterisiert sich der Hergang unserer Geistesentwickelung der letzten Jahrhunderte, daß das Mehr dessen, was sie gebracht hat, ungeheuer ist, groß und bewunderungswürdig, daß aber die Möglichkeit der Menschenseele, von diesen Leistungen aus hin auf ein Geistiges durchzublicken, gerade durch die Fülle und die Art der naturwissenschaftlichen Leistungen beeinträchtigt, ja geradezu vernichtet worden ist.

Anschaulich wird uns das, wenn wir zum Beispiel die Art auffassen, wie noch Goethe mit seiner Art des For­schens über Naturvorgänge hineingestellt war in die ganze Weltanschauungsrichtung seiner Zeit. Es ist interessant, wie zum Beispiel Herman Grimm, dieser geistvolle und zu­gleich tiefe Kenner Goethes, sich veranlaßt fühlt, das Hin­eingestelltsein Goethes in die naturwissenschaftlichen Rich­tungen seiner Zeit zu charakterisieren. Herman Grimm fragt: Wie dachten die dem goetheschen Zeitalter voran­gegangenen Jahrhunderte sich noch das Verhältnis des Menschen zur Natur?

Wer diese Jahrhunderte kennt, wird Herman Grimm recht geben: so unterschieden sie sich von dem Späteren, daß der Mensch auf der Erde stand und man sich befugt glaubte, wenn man das Wesen von Tieren, Pflanzen und anderen Dinge ansah, in dem Menschen etwas wie eine Art Abschluß der ganzen übrigen Erdenschöpfung, ja Welten-schöpfung anzusehen; daß man sich befugt glaubte, zusagen:

Es liegt ein solcher Sinn in der ganzen Entwickelung, daß man erkennen kann, wenn man auf Stein, Pflanze und Tier hinblickt, wie eine innere Wesenheit sich allmählich heranentwickelt

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hat, den Menschen schon im Auge habend, sich heraufentwickelt hat, um alles andere für den Menschen und sein Ziel hinzustellen. Wie weit man dabei noch der alten mosaischen Schöpfungsgeschichte anhängen wollte, darauf kommt es nicht an. Aber diese Überzeugung war da:

in allen Weltenreichen etwas wie einen Impuls zu sehen, der schon den Menschen in sich schließt und alles Übrige nur zur Vorbereitung macht, um den Menschen, der von Anfang an geistig da ist, zum Gipfel dieser ganzen Schöp­fung zu machen.

Was bildete sich dem gegenüber immer mehr und mehr heraus? Zuerst - meint auch Herman Grimm - begann die Astronomie. Die Erde wurde zu einem unbedeutenden Wel­tenkörper im Weltall gemacht und der Mensch so hinge-stellt auf die Erde, als ob er sich, ohne daß er in den anderen Reichen von vornherein veranlagt worden wäre, wie eine Naturnotwendigkeit zuletzt ergeben hätte, so daß er nicht berechtigt wäre, seinen Sinn mit dem ganzen Hergang der Sache zu verbinden. Ungeheure Zeiträume nimmt die Geo­logie an, die verflossen sind, bevor der Mensch auf der Erde auftrat, und die keineswegs im Sinne der Naturforschung schon die Spuren zeigen würden, daß alles andere da wäre, um den Menschen später vorzubereiten. Goethe darf man in einer gewissen Weise geradezu einen radikalen Naturforscher nennen. Hier habe ich es öfter erwähnen dürfen, wie er durch seine eigenen naturwissenschaftlichen Ent­deckungen bemüht war, aus den Anschauungen über den äußeren Bau des Menschen das hinwegzuräumen, was ihn von den übrigen Organismen der Erde scheiden könnte, und man darf Goethe einen Deszendenz-Theoretiker, einen Entwicklungs-Theoretiker vor Darwin und den anderen Entwicklungs-Theoretikern unserer Zeit nennen. Aber mit Recht weist Herman Grimm darauf hin, wie Goethe es sich

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doch nicht habe nehmen lassen, hinter dem, wo der Dar­winismus nichts mehr sieht als materielle Vorgänge, ein «Geistiges» zu sehen, welches sich geistig in allen mate­riellen Vorgängen entwickelt, so daß der Mensch doch dort hineingestellt ist.

Wir haben von Goethe ein merkwürdiges Wort, das so recht aufmerksam machen kann, wie er bemüht war, ob­wohl er so recht naturwissenschaftlich gesinnt war, den Menschen als den Gipfel und die Krone des geistigen Seins hinzustellen. Er sagt: Was sollen denn schließlich alle die Millionen Sterne in der Welt, wenn sich nicht zuletzt ein menschliches Auge ihnen entgegenstellen kann, um sie zu betrachten und in sein Wesen aufzunehmen? - Und nicht mit Unrecht. Es brauchte ja freilich vieles, was, wenn wir alle diese naturwissenschaftlichen Tatsachen und naturwissen­schaftlichen Gesetze durchgehen, das Recht zu der Frage belegen kann: Wo finden wir irgend etwas draußen außer dem Menschen, was uns Anhaltspunkt werden könnte, daß Geist in allem Lebendigen und in allem Leblosen walte? Wo finden wir, wenn wir naturwissenschaftlich den Men­schen selbst ins Auge fassen, nachdem einmal die Erkenntnis errungen ist, daß das seelische Leben an die Gehirnvorgänge gebunden ist, wo finden wir einen Hinweis darauf, das Seelendasein außerhalb der Grenzen von Geburt und Tod zu denken?

Man braucht heute nur eine der bedeutenderen und be­rühmteren Philosophien aufzuschlagen, zum Beispiel die des weltberühmten Wundt, und man wird überall finden, wenn solche Philosophen von der naturwissenschaftlichen Forschung ausgehen, daß gewisse Schlüsse, gewisse Ergeb­nisse aus den naturwissenschaftlichen Tatsachen gezogen werden, und daß die Philosophen überall herankommen -meinetwillen - bis an das Geistige, daß sie aber in dem

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Augenblick, wo es sich darum handeln würde, das Geistige zu ergreifen, gezwungen sind, stehenzubleiben. Warum das? Aus dem einfachen Grunde, weil die ganze Art und Weise des Denkens, wie es sich in Anlehnung an die naturwissenschaftlichen Forschungen herausgebildet hat und die naturwissenschaftlichen Tatsachen Stück für Stück verfolgt, keine Möglichkeit ergibt, um innerhalb dieser Denkgewohn­heiten, innerhalb dieser ganzen Art des Forschens, den Weg zu finden aus der Materie und ihren Gesetzen heraus in das wirkliche geistige Geschehen und sein Wesen, weil über­all der Denkfaden abreißt. Warum riß er Goethe nicht ab? Weil Goethe noch durchdrungen war von Impulsen, die als uralte heraufgekommen waren in der Menschheitsentwicke­lung, weil in ihm noch etwas von dem Historisch-Geblie­benen, von den uralten geistigen Anschauungen lebte - die wir noch kennenlernen werden -, und weil seine Seele in einer gewissen Weise noch nicht von dem entleert war, was der Seele auf direktem geistigem Wege im Laufe der Jahr­tausende zugekommen war, wenn diese Seele in die Dinge des materiellen Geschehens hinausblickte.

Aber schnell entwickelte sich unsere Zeit, und daher ist bei ihrer schnellen Entwicklung in denjenigen, die ihre Denkgewohnheiten nach den naturwissenschaftlichen For­schungen einrichteten, heute kaum mehr das vorhanden, was bei Goethe noch vorhanden war. Daher haben wir es erlebt, daß Darwin zwar ausführlicher und eindringlicher als Goethe die Zusammenhänge der lebendigen Wesen an den Tag gelegt hat, aber trotzdem stehengeblieben ist bei dem ganzen Sinn und der Art seines Forschens. Während aber Goethe bei dieser ganzen Art und dem Sinn des For­schens überall noch hinter den Erscheinungen den Geist sah, haben die Darwinianer - nicht Darwin selbst! - das, was Goethe nicht gehindert hat, zum Geiste zu kommen, auffassen

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müssen als ein Hindernis, um irgendwie zum Gei­stigen zu kommen.

Deshalb können wir es begreifen, daß diejenigen, die ihre eigentlichen Hoffnungen für eine Weltanschauung bei der zeitgenössischen Wissenschaft sehen, diese Hoffnungen vielfach getäuscht sehen müssen. Allerdings geht etwas, was in der Menschheit vorhanden war, nicht so ohne weiteres verloren. Wir können es bis in die neueste Zeit herein er­leben, daß auch ernste Forscher, die nur Wissenschaft wol­len, durchaus nicht der Meinung sind, daß diese Wissen­schaft nur äußere Tatsachen darstellen müsse, sondern sehr wohl dazu dienen könnte, den fortlaufenden Gang einer Weltenweisheit, die in den Dingen lebt, zu belegen. Interes­sant ist es, daß selbst ein Historiker aus der Schule Rankes, Lord Acton, bei einer bedeutsamen Universitätsrede in Cam­bridge im Jahre 1895 als Geschichtslehrer zu seinen Zu­hörern sagen konnte: Ich hoffe, daß die ganz objektive Schilderung geschichtlicher Tatsachen das Wirken einer gött­lichen Weltenweisheit enthüllen werde. - Ja, Lord Acton sprach sogar dazumal vom Wirken des «Auferstandenen» in der Geschichte.

So sehen wir, daß noch in unsere Zeit hereinragt aus den Zeiten, da man das Dasein einer geistigen Welt als etwas Selbstverständliches hingenommen hat, etwas wie ein Ge­tragenwerden des Forschens, wie ein Getragenwerden des ganzen wissenschaftlichen Denkens von einer solchen Ge­sinnung, wie noch hereinragt bei diesem Getragensein aus den alten Zeiten das Durchdrungensein der Seele so, daß dieses Getragensein sich noch in sich durchdrungen fühlt vom Geistigen. Aber ebenso wahr ist es, daß der, welcher sich heute ganz an die naturwissenschaftlichen Denkgewohn­heiten anschmiegt und zum Beispiel verfolgt, wie die ein­zelnen Seelentätigkeiten ihre entsprechenden Äußerungen

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in Gehirn- oder anderen Nervenvorgängen haben, daß ein solcher, gerade indem er Tatsache auf Tatsache verfolgt, sich leicht sagen kann: Ja, für das, was der Mensch zu denken, zu fühlen und zu empfinden vermag im materiellen Leben, dafür gibt es auch überall Anhaltspunkte des For­schers; aber was etwa für die Seele davor oder darnach liegen könnte, darüber sagt mir die Naturwissenschaft nichts.

Wie verbreitet ist der Irrtum, daß die Naturwissenschaft, weil sie schon einmal aus ihrer Betrachtung der Tatsachen und ihrer Gesetze nicht zu dem Geistigen hinüberkommen kann, deshalb auch das Geistige ablehnen müsse! Zwar wird, und das ist wieder charakteristisch für die ganze Weltanschauungslage unserer Zeit, selbst von denjenigen, welche auf dem Standpunkte stehen, daß wir zu einer Welt-anschauung überhaupt nur durch Zusammenfassung der naturwissenschaftlichen Tatsachen und Gesetze kommen konnen, immerdar gewarnt vor voreiligen Schlüssen, vor der Hypothesenmacherei, die immer ein paar Tatsachen zusammenfassen will, um Schlüsse zu ziehen, wie das Leben der Seele an dieses oder jenes gebunden sei, wie der ganze Weltenzusammenhang sei oder dergleichen.

Eine solche Warnung erging erst wieder vor kurzem an bedeutungsvoller Stelle. Auf der diesjährigen Naturfor­scherversammlung hielt der sehr bedeutende Naturforscher Wettstein eine Rede über Biologie, über die Wissenschaft vom Leben, in ihrer Verwertbarkeit für die Weltanschauung, und er warnte davor, aus den Tatsachen, wie sie vorliegen, allgemeine Schlüsse für die Weltanschauung zu ziehen. Aber es glauben dennoch viele, daß man deshalb warten müßte in bezug auf die Rätsel, die sich auf das Leben der Seele beziehen, bis die Naturwissenschaft mit ihren Tatsachen zu Ende gekommen sei. Zwar erinnert das, was hier vorge­bracht ist - wenn man nämlich behaupten wollte, es müßte

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der Mensch, der in die Geheimnisse der Seele und des Gei­stes eindringen will, um über Seele und Geist zu Schlüssen zu kommen, durchaus überall in der Welt naturwissen­schaftlicher Tatsachen herumgegangen sein-, es erinnert das an einen schönen Goetheschen Ausspruch: «Um zu begreifen, daß der Himmel überall blau ist, braucht man nicht um die Weit zu reisen.»

Ich möchte aber im Konkreten zeigen, wie der Weg der Menschenseele zu ihren Geheimnissen im Geistigen in einer gewissen Beziehung unabhängig ist von allem, was die ein­zelnen Gesetze der Naturwissenschaft, was die einzelnen Gesetze der Gelehrsamkeit überhaupt dieser Menschenseele geben können. Um dies zu erhärten, möchte ich auf fol­gende Tatsache hinweisen: Wir hatten im neunzehnten Jahrhundert einen bedeutenden Philosophen in München, Moriz Carriere. Er gehörte zu denen, die aus einer Fülle nicht nur von Gedanken, sondern aus einer Fülle wirklicher wissenschaftlicher Gelehrsamkeit heraus die Welt und ihre Erscheinungen zu begreifen versuchten. Hat doch Carriere durch sein großes Werk über die Kulturentwicklung der Menschheit bewiesen, wie er Tatsache auf Tatsache aus den alten Zeitaltern gelehrt zusammengetragen hat, um den Gang des Geistes durch die Weltentwicklung zu begreifen. Aus allen solchen Vorgängen hat sich nun Carriere eine Weltanschauung gebildet, die ich deshalb um so lieber er­wähne, weil sie noch durchaus vor der Ausbildung einer eigentlichen Geisteswissenschaft lag, eine Weltanschauung, welche durch sich zu der Einsicht kam von dem Zusammen-hange der Seele mit einer geistigen Welt, die durch Räume und Zeiten ausgebreitet ist, so, wie es einen Zusammenhang gibt zwischen dem, was körperlich im Körper des Menschen liegt, und den Stoffen und Kräften, die draußen im Raume ausgebreitet sind, und die in der Zeit wirken.

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Eines Tages nun bekam Moriz Carriere das Manuskript eines einfachen Mannes gezeigt, eines Mannes, der ganz und gar nicht gelehrt war, der nichts hatte von der Fülle der Gelehrsamkeit, durch welche Moriz Carriere zu der Anschauung des eben geschilderten Zusammenhanges der Seele mit dem Geistigen gekommen war. Zeuner hieß dieser einfache Mann, 1813 ist er geboren. Durch einen Lebens­lauf, dessen Schilderung hier aus Mangel an Zeit nicht mög­lich ist, kam Zeuner in die Lage, viele, viele Monate einsam hinbringen zu müssen; er hatte sich von der revolutionären Bewegung hinreißen lassen, und dies hatte ihn ins Gefäng­nis gebracht. Aber er war, ohne Gelehrter zu sein, einen hochgeartete Seele. In dem Manuskript, das er nun in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts Morizn Garriere gezeigt hat, erzählt er, wie er in seiner einsamen Zelle gebrütet und gebrütet hat, angefüllt nur - wie es im Geiste seiner Zeit und der Menschen lag, die ihn bis dahin umgeben hatten - mit materialistischen Anschauungen, wie aber seine Seele öde geworden war in der Einsamkeit, wie sie gelitten hat unter dem Hunger, etwas zu haben, an das er aber nicht glauben konnte. Dann erzählt er weiter, wie er einmal von seiner Zelle aus einen merkwürdigen Gesang hörte, der sich draußen erhob, der ihn erinnerte an Erleb­nisse seiner ersten Kindheit und ihn mit anderen Erlebe-nissen in Zusammenhang brachte, wie dies wieder einen Funken Freude in der Seele auslöste, und wie dieser Impuls, der dadurch der Seele gegeben war, ein Impuls von innerer Frische und Aktivität der Seele, Gedanken in dieser ein­fachen, schlichten Seele auslöste, Gedanken, die nun Zeuner niederschrieb. Und dieses Manuskript hat er dann später an Moriz Carriere übersandt. Wenn man es liest - Moriz Carriere hat es später abdrucken lassen -, so muß man Carriere recht geben: Zeuner hat, indem er sich der einsani

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aus seiner Brust gebieterisch herausarbeitenden Seele über­lassen hat, etwas gefunden, was in derselben Weise den Zusammenhang der Seele mit dem Weltengeiste darstellt, wie ihn Carriere darstellen konnte, nachdem er ein Leben von Gelehrsamkeit und ein Leben von Wissenschaft hinter sich hatte.

Man braucht nicht um die Erde herumzureisen, um zu begreifen, daß der Himmel überall blau ist. Der Weg zum Geistigen muß eben in einer anderen Art gefunden werden als durch ein bloßes Zusammenfassen naturwissenschaft­licher Gesetze oder durch ein Konsequenzen-Ziehen aus den naturwissenschaftlichen Forschungen. Die Auseinanderset­zung aber mit der Naturwissenschaft muß vielmehr eine andere sein. Keine Weltanschauung kann heute bestehen, und keine Weltanschauung darf bestehen - weil die Bedürf­nisse der Menschenseele sie hinwegfegen würden -, welche mit der Naturwissenschaft im Widerspruch stehen würde. Daher mußte in den beiden ersten Vorträgen so scharf betont werden, was von seiten der Naturwissenschaft gegen Geistesforschung gesagt werden kann und wie sich die Geisteswissenschaft dagegen zu verhalten hat. Und nicht oft genug kann es betont werden, daß man sich beirrt fühlen sollte in bezug auf irgendeine geisteswissenschaftliche Er­kenntnis, wenn man mit ihr heute in Widerspruch zu einem berechtigten Ergebnisse der Naturwissenschaft kommen wird. Aber wenn man sich dann wieder diese Naturwissen-schaft ansieht und wenn man einen Sinn und ein Herz hat für die notwendige Autorität, die von der Naturwissen­schaft ausgehen muß, so wird man um so mehr auf das hin­deuten müssen, was die Seele beirren kann, was sie gerade beirren muß durch die Fülle des Vorhandenen, wenn sie den Weg zum Geiste antreten will. Auch das möchte ich durch Beispiele erhärten.

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Da sei auf zwei Forscher aufmerksam gemacht, die beide auf dem Boden der Entwicklungsgeschichte, auf dem Boden der Naturwissenschaft standen. Beide Forscher faßten den Hervorgang der einzelnen lebendigen Organismen ausein­ander so auf, wie die Darwinianer die Sache auch auffassen, aber sie nahmen nur den Menschen aus. Sie waren sich klar, daß man die auf die Tierwelt anzuwendenden Gesetze nicht auf den Menschen anzuwenden habe, sondern daß man, wie man sein Körperliches aus dem Physischen, so sein Geistig-Seelisches aus einem Geistig-Seelischen herleiten müsse. Darüber waren sich beide vollständig klar. Sie waren ebenso gute Naturforscher wie Erkenner des Geistigen, aber ihre Denkgewohnheiten standen unter denjenigen der natur­wissenschaftlichen Richtung. Sie dachten wie man als echter Naturwissenschaftler denkt. Wie dachte der eine, Mivart, und wie dachte der andere, Wallace, ein Zeitgenosse Dar­wins, über die eigentlichen Vorgänge in der Entwicke­lung?

Wallace sagte sich, der Mensch könne nicht so einfach in die Tierreihe hineingestellt werden. Schon aus dem Grunde nicht, weil schon im äußeren Bau des Gehirnes ein beträcht­licher Unterschied zwischen dem Menschen und dem höchst-entwickelten Affen vorhanden sei, wenn man auch nur den Wilden ins Auge fasse, und weil das Affengehirn gegen­über dem Gehirn des Wilden viel zu unvollkommen sei, wenn nur im geraden Fortgange der Entwickelung der Mensch sich aus dem Affen entwickelt haben soll.

Der andere Forscher, Mivart, fand, daß die Kulturstufe des wilden Menschen gar nicht äußerlich verschieden sei von der Entwicklungsstufe des höchstentwickelten Affen. Wenn man aber die geistigen Betätigungen des Wilden und da­gegen die Betätigungen des höchstentwickelten Affen ins Auge fasse, so müsse man voraussetzen, da die Gehirne der

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beiden so viel Ähnlichkeit miteinander haben, daß der Mensch deshalb nicht in die Tierreihe gehöre. Wenn man wieder die Gehirne ins Auge fasse, so sehe man ganz klar, daß sich das Gehirn des Menschen nicht aus dem Affengehirn entwickelt hat durch Anpassung an äußere Ver­richtungen, sondern es entwickle durch die Zivilisation alle Möglichkeiten schon so, daß es nur so scheine, als ob schon alles veranlagt wäre, damit es einmal das Werkzeug der Zivilisation werden könnte.

Also weil das Affengehirn und das Menschengehirn so stark voneinander abweichen, glaubt der eine, Wallace, annehmen zu müssen, daß keine Verwandtschaft des Men­schen mit der Tierreihe bestünde. Und gerade die Ähnlich­keit der geistigen Eigenschaften bei beiden war für Wallace ein Beweis für das, was er sagte. Für Mivart, seinen Zeit­genossen, war das gerade Umgekehrte vorhanden; er war der Ansicht, wenn man die geistigen Eigenschaften des wilden Menschen mit dem höchststehenden Affen vergleiche, so trete ein so großer Unterschied hervor, daß man wegen dieses Unterschiedes keine Stammverwandtschaft zwischen dem Wilden und dem Affen annehmen könne.

Wir sehen also zwei Naturforscher, beide an natur­wissenschaftliches Denken gewöhnt, die beide aus entgegen­gesetzten Gründen das annehmen, was ihre Meinung ist; der eine, weil die Eigenschaften des Wilden und des höchst­stehenden Affen so ähnlich, der andere, weil sie so ver­schieden sind. Wenn nun schon zwei Forscher, die beide dazu neigen, den Menschen vom Geistigen abzuleiten, in bezug auf ihre Beweisgründe so durch das beirrt werden können, was sich an Fülle der Tatsachen ausbreitet, wie sollte erst der, welcher noch mehr vorurteilsvoll in den Denkgewohnheiten des bloß materialistischen Denkens be­fangen ist, nicht noch mehr durch die Fülle der Tatsachen

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unfähig sein, aus diesen Tatsachen und Gesetzen selber her­aus zum Geistigen zu kommen!

Die Naturwissenschaft führt uns eben nur von Tatsache zu Tatsache. Haben wir die Geisteswissenschaft, dann kann aus dieser Geisteswissenschaft gerade das Naturwissenschaft­liche begriffen und ins rechte Licht gerückt werden. Niemals aber können die Gesetze der Geisteswissenschaft aus der Naturwissenschaft heraus irgendwie gefunden werden. Da­her müßte es immer mehr und mehr geschehen, daß der menschlichen Seele ihre ganze geistige Nahrung entzogen würde, wenn sie darauf angewiesen bliebe, «wissenschaft­lich» nur das gelten zu lassen, was die Naturwissenschaft hervorbringt. Die Naturwissenschaft selbst wird gerade da­durch ihre Größe und Bedeutung erlangen, daß sie sich in ihren Grenzen hält.

Wer aber nur ein wenig einen Blick in das menschliche Seelenleben tut, der wird bald finden, daß die Seele zu ihrer Sicherheit, zur Kraft und zur Arbeit im Leben die Ant­worten braucht auf die Frage nach dem Geiste. Waren sie in alten Zeiten - wir haben es an Kepler, an Goethe erhärtet und können es an anderen erhärten - für die Menschen-seele von selber schon in den ganzen Anschauungen über die Welt enthalten, so sind sie es heute nicht, und eine neue Aufgabe entsteht, die wir schon charakterisieren konnten, und die wir in ihrem Wesen noch charakterisieren werden:

die Aufgabe der Geisteswissenschaft. Gerade was durch die Größe der Naturwissenschaft verschwunden ist, das muß auf selbständige Weise wieder durch die Geisteswissenschaft gefunden werden, indem die Wege gezeigt werden, auf welchen die Menschenseele in ihre geistige Heimat hin­gelangen kann. Wer das Zeitalter richtig versteht, der wird begreifen, wie sich, nachdem der Hergang nun einmal so war, wie er geschildert worden ist, ein starkes Bedürfnis,

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eine starke Sehnsucht zeigt, immer mehr vom Geiste aus nun auch die Welt zu begreifen und eine selbständige Gei­steswissenschaft neben die Naturwissenschaft hinzustellen.

Wenn wir auf Einzelheiten eingehen, selbst auf das viel­leicht heute von vielen Geistgläubigen verworfene Gesetz der wiederholten Erdenleben, so sehen wir es langsam und allmählich heraufkommen und sich in die neuere Kultur einleben, zum Beispiel bei Lessing in seiner Abhandlung über die «Erziehung des Menschengeschlechts». Immer wie­der sehen wir, wenn man auch heute wenig davon weiß, wie im neunzehnten Jahrhundert innerlich konsequente Seelenforscher hingeführt werden zu dem für die mensch­liche Seele einzig und allein angemessenen Gesetz der wie­derholten Erdenleben.

Je mehr die Naturwissenschaft auf dem Boden des Ma­teriellen ihre großen Triumphe feiert, desto mehr erblüht für den Geist die Sehnsucht, seine eigenen Wege zu gehen. Und wieder an einem konkreten Beispiele möchte ich zeigen, wie der ganze Hergang des Geisteslebens unserer Zeit so gestaltet ist, daß er wie von selbst in das einläuft, was die Geisteswissenschaft heute sein will. Auf einen Denker, auf einen Forscher möchte ich aufmerksam machen, den ich im Laufe dieser Wintervorträge noch mehr besprechen werde, der gerade mit Hinblick auf ein Sehnen nach der Geistes­wissenschaft interessant ist, auf Herman Grimm, den Kunst­historiker. Ein umfassender Geist, zeigt er uns gerade als ein solcher, wie die Seele in der neueren Zeit aus einer bloßen naturwissenschaftlichen Auffassung des Geschehens herausdrängt, namentlich im Menschenleben herausdrängt, und wie durch die Impulse und Kräfte der Zeit die Seele wieder zurückgehalten wird vor dem letzten Schritt des Hinausdrängens, vor dem Hineindrängen in die Geistes­wissenschaft.

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Wer die Schriften Herman Grimms sorgfältig durch­nimmt, wird sehen, daß Herman Grimm nach einem Wel­tenprinzip sucht, aber nicht nach einem toten Weltenprinzip, sondern nach einem schaffenden Gesetz, woran sich zum Beispiel der praktische Geschichtsforscher halten kann, und was etwas anderes sein muß als die sogenannten histo­rischen Ideen. Ideen können ebensowenig etwas schaffen, wie - nach dem Bilde des letzten Vortrages - ein gemalter Maler ein Bild malen kann. Ideen sind etwas Totes. Wirk­sam kann nur etwas Lebendiges sein. Herman Grimm suchte nach dem Lebendigen in der Geschichte, das kraft­voll schaffen kann von Epoche zu Epoche, das einstmals in der Urepoche der Menschheit aus unpersönlichen Gründen die Gestalt der menschlichen Seele schuf und dann von Volk zu Volk, von Zeitalter zu Zeitalter aus sich die einzelnen Errungenschaften hervorzauberte. Und was glaubte er als ein solches gefunden zu haben? Die schaffende Phantasie.

Auch ein deutscher Philosoph, Frohschammer, hielt die Phantasie für das nicht nur im geschichtlichen Werden, son­dern auch in der Natur Schöpferische. Herman Grimm konnte nicht dazu kommen - was er ja wollte - zu zeigen, wie die Phantasie wirklich eine Art von Gottheit ist, welche in dem Willen lebt und die Taten in der Menschheits­geschichte hervorbringt, wie der einzelne Mensch die Taten seiner Seele aus sich heraus. Was er tat, hat er im Lichte dieser Anschauung geschaffen, daß hinter dem geschicht­lichen Werden die schöpferische Phantasie steht, daß alles aus der schöpferischen Phantasie heraus zustande gekom­men ist. Aber was ist ihm die Phantasie? Sehen wir nicht in dem Drange eines Forschers, die Tatsachen verstehen zu können, das Heranrücken an etwas Geistiges, das aber doch kein Geist ist? Denn die schaffende Phantasie bleibt doch nur ein Abstraktum, welches zwar lebendiger ist als die

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Geschichts-Ideen, aber für den realistisch Denkenden doch nur ein Abstraktes ist.

Man möchte sagen, bis vor das Tor der Geisteswissen­schaft dringt ein Forscher wie Herman Grimm. Er kann nicht bei den äußeren materiellen Tatsachen und dem äußeren Geschehen stehen bleiben, er sieht hinter allem äußeren Geschehen das, was die Phantasie schafft, und ver­objektiviert es im Weltgeschehen. Aber niemand kann in der Phantasie ein Wirkliches, etwas real Schaffendes er­kennen. Sie bleibt ein Abstraktum, und erst wenn man hinter sie dringt zu dem, was nicht mehr ein Abstraktum ist, was geistig ist, was so real ist wie ein real Sinnliches, erst wenn man herandringt zu den geistigen Tatsachen, die nicht umschriebene Ideen sind, sondern wesenhaft sind, kann man verstehen, wie das, was um uns herum ist, in der Welt wirklich geschieht. Deshalb sehen wir an einem sol­chen tiefen Denker, wie die Sehnsucht unserer Zeit zum Geistigen hin heranrückt, und wie die durch die Zeit ge­schaffenen Verhinderungsgründe so gewaltige sind, daß die Menschen nicht durch das Tor zum Geistigen kommen können. Sehen wir nicht den Drang, zu dieser Geistes­wissenschaft heranzukommen? Sehen wir nicht, wie diese Geisteswissenschaft für Gegenwart und Zukunft Aufgaben hat, welche der Sehnsucht, dem Drange, den Forderungen der Zeit entsprechen?

Schauen wir uns die Behinderungsgründe der heutigen Seelen genauer an! An der Sehnsucht nach dem Geistigen können wir so klar erkennen, wie die Menschen gar nicht anders können, wenn sie in die Zeitverhältnisse klar hin­einschauen, als nach dem Geiste und seinen Gesetzen zu begehren, wie sie aber doch nicht in das Geistige hineindringen können und nun sozusagen auf ein Geistiges war­ten. Wo man hinblickt, merkt man den Drang nach dem,

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was man eben noch nicht kennt. Aber an der Art des Dran­ges selber merkt man ganz genau, daß einstmals eine Zeit kommen werde, die gar nicht mehr so ferne liegt, wo die Menschen verstehen werden: zu der Sehnsucht, zu dem Drange, den sie haben, ist die Geisteswissenschaft die Erlösung.

Man hat vor kurzer Zeit auf jedem Bahnhofe bei den Buchhändlern ein Buch sehen können, das wahrhaftig nicht von einem Manne verfaßt ist, der sich leicht jeder einzelnen Schwärmerei hingeben würde. Nicht von einem einsamen Grübler und einem Nichtkenner der geistigen Bedürfnisse der Zeit rührt dieses Buch her. Wenn die Geisteswissen­schaft ihre Berechtigung zeigen will, so darf sie sich ja nicht auf die oft sonderbaren Schwärmer stützen, die in ihrem sektiererischen Wesen verstehen wollen, was der Mensch­heit forthelfen kann; aber berufen darf sie sich auf das, was in dem jetzt gemeinten Buche «Zur Kritik der Zeit» von Walter Rathenau zum Ausdruck gebracht ist, das ein Mann geschrieben hat, der im industriellen und kommer­ziellen Leben mitten drinnen steht und der das Räderwerk unserer Zeit kennt.

Nicht, als ob ich mich mit allem darin einverstanden er­klären wollte. Gegen jede Seite dieses Buches könnte etwas eingewendet werden, aber gerade was man nennen könnte den Drang der Zeit nach geistiger Erkenntnis, das zeigt sich symptomatisch an einem solchen Buche. Was stellt Walter Rathenau dar? Er stellt gerade das dar, was ich aus demn Geiste der Zeitentwicklung im letzten Jahrhundert etwas tiefer zu begründen versuchte. Bei Rathenau ist es so: Durch die Fortschritte der naturwissenschaftlichen Entwicklung hat sich allgemein eine Mechanisierung des Lebens ergeben. Während der Mensch früher das, was sich seinen Sinnen darbot, aus dem Geiste heraus zu erklären versuchte, erklärt

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er es heute aus dem Mechanischen heraus. Aber auch das VerhältnisvonMenschzuMensch hat sich mechanisiert. «Mechanisierung» ist das, was durch die großen Fortschritte und die bedeutenden Errungenschaften der Zeit heraufge­kommen ist. Und empfinden kann man - und Walter Rathenau empfindet es -, wie die Seele innerhalb des Denk - und sozialen Mechanismus verödet, wie sie allmählich leer wird unter solchen Zielen, wie man ihr zwar die Nahrung nehmen kann, ihr aber nicht durch die Mechanisierung den Hunger tilgen kann.

Was viele der besten Kenner der Zeit gesagt haben, das ist auch hier gesagt: Man drängt zurück, was die Seele geistig verlangt, und man wird sehen können, wenn sich auch die Seele mit etwas Scheinbarem zufrieden gibt, daß der betreffende Hunger um so mehr sich zeigen wird. - So sehen wir denn, wie ein ganz in seiner Zeit drinnen ste­hender Mensch schreibt:

«Die Zeit sucht nicht ihren Sinn und ihren Gott, sie sucht ihre Seele, die im Gemenge des Blutes, im Gewühl des mechanistischen Denkens und Begehrens sich verdüstert hat.

Sie sucht ihre Seele und wird sie finden; freilich gegen -den Willen der Mechanisierung. Dieser Epoche lag nichts daran, das Seelenhafte im Menschen zu entfalten; sie ging darauf aus, die Welt benutzbar, und somit rationell zu machen, die Wundergrenze zu verschieben und das Jen­seitige zu verdecken. Dennoch sind wir wie je zuvor vom Mysterium umgeben; unter jeder glatten Gedankenfläche tritt es zutage, und von jedem alltäglichen Erlebnis bedarf es eines einzigen Schrittes bis zum Mittelpunkt der Welt. Die drei Emanationen der Seele: die Liebe zur Kreatur, zur Natur und zur Gottheit konnte die Mechanisierung dem einzelnen nicht rauben; für das Leben der Gesamtheit wer­den sie zur Bedeutungslosigkeit verflüchtigt. Menschenliebe

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sank zum kalten Erbarmen und zur Fürsorgepflicht herab und bedeutet dennoch den ethischen Gipfel der Gesamt­epoche; Naturliebe wurde zum sentimentalen Sonntagsver­gnügen; Gottesliebe, überdeckt vom Regiebetriebe mytho­logisch-dogmatischer Ritualien, trat in den Dienst dies­seitiger und jenseitiger Interessen und wurde so nicht bloß unedlen Naturen verdächtig. Es gibt wohl keinen einzigen Weg, auf dem es dem Menschen nicht möglich wäre, seine Seele zu finden, und wenn es die Freude am Aeroplan wäre. Aber die Menschheit wird keine Umwege beschreiten. Es werden keine Propheten kommen und keine Religionsstifter, denn dieser übertäubten Zeit wird keine Einzelstimme mehr vernehmlich werden: sonst könnte sie heute noch auf Chri­stus und Paulus hören. Es werden keine esoterischen Ge­meinden die Führung übernehmen, denn eine Geheimlehre wird schon vom ersten Schüler mißverstanden, geschweige vom zweiten. Es wird keine Einheitskunst der Welt ihre Seele bringen, denn die Kunst ist ein Spiegel und ein Spiel der Seele, nicht ihre Urheberin.

Das Größte und Wunderbarste ist das Einfache. Es wird nichts geschehen, als daß die Menschheit unter dem Druck und Drang der Mechanisierung, der Unfreiheit, des frucht­losen Kampfes die Hemmnisse zur Seite schleudern wird, die auf dem Wachstum ihrer Seele lasten. Das wird ge­schehen nicht durch Grübeln und Denken, sondern durch freies Begreifen und Erleben. Was heute viele reden und einzelne begreifen, das werden später viele und zuletzt alle begreifen: daß gegen die Seele keine Macht der Erde stand­hält.»

Insofern solche Worte Sehnsuchten ausdrücken, und in­sofern unsere Zeit den Geist fordert, kann man durchaus damit einverstanden sein. Nur muß man hinzufügen: es herrscht hier ein vollständiges Wissen von dem, was die

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Zeit bedarf, aber ein vollständiges Unbekanntsein mit dem, was diesen Drang und diese Bedürfnisse befriedigen kann. Es herrscht auch ein klares Urteil, daß der berechtigte Indi­vidualismus unserer Zeit nicht mehr dazu angetan ist, einen einzelnen Religionsstifter oder Propheten aufzunehmen, oder auf irgendeine sektiererische Seite hin, die sich «eso­terisch» nennen will, Geheimschulen zu begründen.

Wahre Geisteswissenschaft wird weder das eine noch das andere wollen. Wahre Geisteswissenschaft weiß, wie das richtige Esoterische dann berechtigt ist, wenn es nicht zum Exoterischen werden will, sondern innerhalb seiner selbst stehenbleibt. Denn nicht auf das, was als ein Esoterisches sich einleben will, wird es ankommen, sondern auf das, was sich in unsere Zeit so einleben will, daß es von dem gesunden Sinn aufgenommen werden kann. Insofern wird nicht die Autorität irgendeines Propheten dem Zeitalter genügen können, sondern nur die vom Menschen und seiner subjektiven Individualität ganz unabhängige Wahrheit, welcher sich die Menschenseele hingeben kann, wenn sie es nur will. Insofern ist das, was mit Geisteswissenschaft hier gemeint war, gerade mit den Worten dieses Praktikers Rathenau getroffen.

Aber warum ist es unserem Zeitalter so schwierig, nun wieder zur Geisteswissenschaft zu kommen? Warum türmt sich so etwas auf wie eine unübersteigliche Wand zwischen dem Drang der Zeit und der eigentlichen Geisteswissenschaft?

Auch dies kann man zeigen, worin die eigentlichen Hin­dernisse liegen. Was würde zum Beispiel jemand über eine Naturwissenschaft sagen, die «Wissenschaft» sein will und sich als den Bedürfnissen des Menschengeistes entgegen­kommend erweisen will, wenn der Mensch, der da Natur­wissenschaftler sein will, auf jede Frage nach dem Zusam­menhange des physischen Menschenleibes mit den naturwissenschaftlichen

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Tatsachen nur immer antworten würde:

Da ist diese oder jene Organisation im physischen Leibe des Menschen; das entspricht dem, was auch draußen in der Natur ist. - Kann sich jemand eine ernste Naturwissen­schaft denken, die auf alles, wonach man sie fragt, nur immer antwortet: Das ist Natur! Die Natur ist hinter den Bewegungen der Sterne, die Natur ist hinter den chemischen Verrichtungen, Natur, Natur, Natur. - Ein Wort nur! Kann man sich vorstellen, daß der, welcher so etwas täte, als ein ernsthafter Erkenner der Natur aufgefaßt würde?

Nun kann man wieder sagen: Die Impulse der Menschen-seele, um in die geistige Welt hineinzukommen, sind in der letzten Zeit so schwache geworden, daß der ganz lebendig sich bekundende Drang in unserer Zeit sich noch in gar nichts anderem äußert als in dem, was in der Geisteswissen­schaft ganz ähnlich wäre wie in der Naturwissenschaft, wo die Menschen nur immer schreien würden: Natur, Natur, Natur! Sehen wir doch gewichtige Stimmen sich erheben, die energisch dafür eintreten, daß die naturwissenschaftliche Betrachtung unserer Zeit den Menschen hinlenken müsse nach dem Seelischen. Aber sie kommen nicht weiter, indem sie diese Hinlenkung nach dem Seelischen fordern, als zu betonen: «Der Mensch hat eine Seele, es gibt eine Seele», und so weiter; «Seele, Seele, Seele - Geist, Geist, Geist», sagen sie, so wie der wenig befriedigende Naturforscher sagen würde: Natur, Natur, Natur!

Da sehen wir - und es seien nicht unbedeutende, sondern durchaus bedeutende Tatsachen angeführt -, wie ein be­deutender Mann der Gegenwart bei einer Festfeier der Harvard-Universität in Amerika eine Rede darüber hielt, wie eine allgemeine Weltanschauung, welche zum Geistigen führt, aus der Naturwissenschaft herausgeboren werden müsse, Dr. Elliot, ein Mann, der fest auf dem Boden der

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Naturwissenschaft steht, der ein genauer Kenner der Natur­wissenschaft der Gegenwart ist. Ich möchte wirklich wieder eine Stelle aus einer Rede anführen, die an einem hervor­ragenden Orte der Erde gehalten worden ist. Dr. Elliot sagte:

«Die Menschen haben immer eine vom Körper verschie­dene, obgleich ihm innewohnende Seele angenommen. Nie­mand ist willens, in seinem Körper aufzugehen. Im Gegen­teil glaubt jetzt jedermann, und alle Menschen haben dies geglaubt, daß es im Menschen ein belebendes, herrschendes, eigenartiges Wesen oder einen Geist gibt, der er selber ist. Dieses ist etwas gerade so Wirkliches, als der Körper, und Charakteristisches . . . Dieser Geist oder diese Seele ist der wirksamste Teil des menschlichen Wesens, er wird als sol­cher erkannt, und dies war immer der Fall.»

Weiter sagt Dr. Elliot nichts, als daß er auf die «Seele» hinweist, analog dem, wie wenn jemand immer nur auf die «Natur, Natur, Natur» hinweisen würde. Wir sind eben in unserer Zeit noch nicht soweit, daß sich die Denkgewohn­heiten in bezug auf den Geist diesem ebenso anbequemen würden, wie bei der Natur. In der Naturwissenschaft unter­scheiden wir Sauerstoff und Wasserstoff im Wasser, und wir sagen nicht: Sauerstoff und Wasserstoff gehören der «Natur» an. - Da gehen wir auf die Einzelheiten der Natur ein. Ebenso muß die Geisteswissenschaft dahin kommen, dasjenige, was in der Seele als Kräfte und als Betätigungen lebt, nicht nur auf ein «allgemein Geistiges» zu beziehen, sondern auf eine geistige Welt, auf ein konkretes Reich des Geistes, das unterschieden wird, das im einzelnen beschrie­ben wird wie die einzelnen Tatsachen der Naturwissenschaft.

Erst wenn die Geisteswissenschaft so dastehen wird vor der Betrachtung der einzelnen Tatsachen der Menschenseele, wie die Naturwissenschaft vor der Betrachtung der einzelnen

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Naturtatsachen steht, wird sie der Menschenseele das geben können, was die Seele verlangt. Zu zeigen, wie diese Wege sind, dazu ist der nächste Vortrag bestimmt. Aber das sollte vor allen Dingen auseinandergesetzt wer­den, wie in unserer Zeit der Drang nach etwas vorhanden ist, über dessen Bedeutung und Wesenheit man sich noch nicht klar ist, und wie der Geisteswissenschaft in unserer Zeit die Aufgabe erwächst, eine Erkenntnis des Geistigen zu bringen, wie die Naturwissenschaft eine Erkenntnis der Naturtatsachen bringt. Und so wie es die Naturwissenschaft als ihre Aufgabe betrachtet, einen Stoff, der sich auch im menschlichen Leibe findet, in seiner Entwickelung draußen in der Welt zu verfolgen, um den ganzen Zusammenhang zu erkennen, so wird es die Geisteswissenschaft als ihre Aufgabe betrachten, irgendeine Betätigung der mensch­lichen Seele auf die geistigen Kräfte und die geistigen Schöpfungsprinzipien draußen im Weltall zurückzuführen.

Daraus wird sie aber auch erkennen, wie das, was in der menschlichen Seele lebt, sich zu dem ganzen Weltall, zu Raum und Zeit verhält. Nur dadurch kann sie zu den Ant­worten auf die Rätsel der Unsterblichkeit und des Schick­sals des Menschen zwischen dem Tode und einer nächsten Geburt kommen. Nicht das abstrakte Hinweisen auf «Geist» und «Seele» im allgemeinen kann zu etwas Ersprießlichem führen. Das wird immer nur zum Zweifel gegenüber den wahren Antworten, zum Beispiel über die Unsterblichkeits­frage, führen. Erst wenn man sieht, wie an etwas ganzn anderes angeknüpft ist, das im Zeitenlaufe nicht der Ver­gänglichkeit unterworfen ist, werden sich diese Fragen aus der Geisteswissenschaft heraus beantworten lassen.

Wenn man dies bedenkt, darf man allerdings sagen: Die Aufgaben der Geistesforschung für Gegenwart und Zu­kunft stellen sich ähnlich, wie sich die Aufgaben der Naturwissenschaft

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gerade bei der Morgenröte der naturwissen­schaftlichen Entwicklung in der neueren Zeit gestellt haben. Wie man zur Zeit des Kopernikus, Galilei, Kepler und so weiter die alten Traditionen überwand und den mensch­lichen Geist selber auf die naturwissenschaftlichen Tatsachen hinlenkte, und wie durch Verfolgung dieses Weges bis in unsere Zeit herein eine gewisse Fülle der naturwissenschaft­lichen Errungenschaften entstanden ist, so muß es unserer Zeit die ernsteste Aufgabe sein, in ausführlicher Art eine Geisteswissenschaft zu begründen und die Wege zu zeigen, welche die Seele zu den einzelnen geistigen Wesenheiten und den einzelnen geistigen Tatsachen zu gehen hat.

Leicht hat es die Naturwissenschaft nicht gehabt. Sie hat auch ankämpfen müssen gegen Hindernisse, wie wir sie heute wieder gegenüber der Geisteswissenschaft haben. Öfter habe ich auf solche Hindernisse hingewiesen. So suchte zum Beispiel Galilei den Menschen seiner Zeit klarzumachen, wie man durch das ganze Mittelalter hindurch geglaubt hatte, daß die Nerven des Menschen vom Herzen aus gin­gen, und er wollte zeigen, wie die Nerven vom Gehirn aus gehen. Da sagte ihm ein Freund: Das widerspricht allem, was Aristoteles gelehrt hat. - Abgesehen davon, daß es Aristoteles gar nicht so gemeint hat, hat man aber doch geglaubt, daß die Nerven des Menschen vom Herzen aus gehen. Das ganze Mittelalter hat nicht auf die Natur selbst hingeschaut, sondern nur alte Traditionen und Vorurteile fortbewahrt. Als nun Galilei seinem Freunde am Leichnam zeigte, er solle sich davon überzeugen, daß die Nerven vom Gehirn aus gehen, da entgegnete ihm dieser: Wenn ich es mir anschaue, so sieht es so aus, als ob die Nerven des Menschen vom Gehirn aus gehen, aber das widerspricht Aristoteles, und wenn ich in Konflikt komme mit Aristoteles, so glaube ich dem Aristoteles und nicht der Natur.

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So stark können sich die Vorurteile der Menschen auftür­men. Und als später, ganz im Galileischen Sinne, Francesco Redi das noch zu seiner Zeit herrschende Vorurteil um­warf, lebendige Wesen könnten sich aus etwas Unleben­digem entwickeln, niedere Tiere, Würmer und dergleichen könnten aus Flußschlamm entstehen, als er den Satz aus­sprach: «Lebendiges kann nur aus Lebendigem entstehen», und es sei nur eine ungenaue Beobachtungsweise, wenn man glaube, daß aus dem Flußschlamm, in welchem kein Keim war, Würmer hervorgehen könnten, da entging er nur mit knapper Not dem Schicksale des Giordano Bruno.

Wenn nun heute der geisteswissenschaftliche Forscher sagt:

Wenn ihr glaubt, daß bei einem sich entwickelnden Kinde alles, was es seelisch hervorbringt, nur durch die Vererbung von den Eltern und Voreltern bedingt sei, so beobachtet ihr ungenau; es rührt vielmehr von einem geistigen Keime her, der schon durch ein früheres Erdenleben ging, auf der Erde war, und dann ein Leben im Geistigen durchgemacht hat, - wenn so die Geisteswissenschaft auf einen geistigen Keim hinweist, wie Francesco Redi auf den materiellen Keim hingewiesen hat, dann stehen ihr wieder die Vor­urteile der Zeit entgegen. Wenn man auch heute nicht mehr verbrennt, so hat man heute andere Mittel, um solche ket­zerische Behauptungen unschädlich oder wenigstens lächer lich zu machen. Die Art, wie die Zeit ihre Menschen behan­delt, wird zwar von Epoche zu Epoche eine andere, aber es bleibt das Wesen der Vorurteile immer dasselbe. In ähn-n licher Weise steht heute die Zeit zu der Erforschung der geistigen Bedürfnisse, wie sie in der Zeit der Morgenröte der naturwissenschaftlichen Entwicklung zu den damaligen naturwissenschaftlichen Bedürfnissen gestanden hat. Und wenn die Naturwissenschaft durch ihre Früchte der Mensch­heit eine Erhöhung der äußeren Kultur gebracht hat, so

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werden die Früchte der Geisteskultur noch ganz andere sein. Sie werden vor allem Früchte für das Leben der Seele sein.

Wie leidet heute mancher Mensch praktisch unter den naturwissenschaftlichen Vorurteilen! Da steht ein Mensch, und wenn er ein naturwissenschaftlicher Gläubiger und den Geist Ablehnender ist, so sagt er sich wohl: Da habe ich eine gewisse Art der Individualität an mir; ich schaue hinauf zu meiner Blutsverwandtschaft und muß erkennen, wie ich das Ergebnis der Vererbung seitens dieser meiner Blutsverwandtschaft bin. - Dann senkt sich Depression, Energielosigkeit und Unfähigkeit des Ankämpfens gegen ein Schicksal in manche Seele. Denn wenn es so wäre, daß der Mensch nur das Ergebnis der Vererbung wäre, dann würde es ebenso unmöglich sein, die schlimmen Wirkungen der Vererbung aufzuhalten, wie es unmöglich ist, den Blitz, der gegen einen Menschen zuckt, aufzuhalten. Wenn aber die Geisteswissenschaft nicht bloß eine Theorie bleibt, son­dern Kraft der Seele wird, so daß wir wissen: in uns lebt ein seelischer Kern, der das, was die Vererbungslinie gege­ben hat, nur als äußere Hülle an sich trägt, und der in sich immer tiefere und tiefere Kräfte suchen muß - dann wächst der Mut, die Hoffnung, die Energie, um das, was sich im äußeren körperlichen Dasein als Schwäche zeigt, durch das Geistige zu beherrschen und zu verbessern. Da gibt es dann keinen Augenblick im Menschenleben mehr, wo man nicht im Hinblick auf die geistigen Kräfte im Menschen die Sicherheit gewinnen kann, äußere Hindernisse zu über­winden.

So ist es auf vielen Gebieten. So vermag der bloße Glaube an das Materielle, in welches das Seelenleben eingespannt sein soll, unser Glück, unsere Energie herabzudrücken, und so vermag dagegen die Geisteswissenschaft, wenn sie zur

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lebendigen inneren Kraft der Seele wird, uns Sicherheit zu geben gegen alle Mechanisierung des Lebens. Das ist eine andere Aufgabe der Geisteswissenschaft, daß sie auf allen Gebieten die Möglichkeiten schaffen wird, sicher und gesund dem Leben gegenüberzustehen. - Dr. Elliot verspricht auch eine gesunde Wissenschaft in seiner Art. Er, der zwar auch den Drang der Seele zu dem Geiste kennt, aber sich so ver­hält wie der Naturerkenner, der bei allem nur immer von «Natur, Natur, Natur» sprechen würde, er sagt: Eine solche neue Wissenschaft wird nicht wie die alte von Tod und Trauer reden, sondern von Leben und Freude.

Das glaube ich gern, daß die Seele gar sehr nach einer Weltanschauung verlangt, die nach «Leben und Freude» drängt, die ablehnen will und nicht an sich herankommen lassen will «Tod und Trauer», auf welche vielfach alte Weltanschauungen zurückgingen, die vor allem das Rätsel des Todes vor den Menschen hinstellten. Das glaube ich gern, daß die Menschen Tod und Trauer abzulehnen ver­langen. Aber Tod und Trauer - kommen von selber. Die Menschen mögen noch so sehr sich wehren und sagen, sie wollen Tod und Trauer in ihren Weltanschauungen ab­lehnen, sie wollen Leben und Freude haben. Aber Tod und Trauer kommen von selber, und dann muß man mit ihnen fertig werden. Man wird aber nur mit ihnen fertig, wenn man den lebendigen Geist kennt, welcher das Leben auch dort fortsetzt, wo die äußere Natur Tod und Trauer hinsetzt, und der auch das schöpferische Prinzip in Schmerz, Leid und Trauer kennt. Das werden wir noch sehen, daß die Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist, das schein­bar Entwicklungshemmende, das Böse, das dem Leben Widersprechende, doch als die Welt vorwärtsbringend und dem Leben dienend anzusehen vermag.

Man könnte sagen: Was die Wahrheit der Geistesforschung,

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wie sie nicht aus der Willkür eines einzelnen, son­dern aus dem folgt, was der Mensch heute erkennen kann, wenn er die Umwelt richtig durch die Wege der Seele zu einer geistigen Erkenntnis auffaßt, was diese Wahrheit im ganzen Weltenzusammenhange bedeuten kann, das kann sich in dem Vergleiche darstellen, wie sich der geisteswissen­schaftliche Forscher verhält zu dem naturwissenschaftlichen Welterkenner in der Morgenröte der neueren Zeit. Schauen wir hin auf Giordano Bruno, bei dem die Weltanschauung des Kopernikus am prägnantesten zum Ausdruck kommt! Wie steht er da in seiner Zeit? Er nimmt die Gesetze des Kopernikanismus auf, richtet den Blick hinaus in die Rau­mesweiten. Vorher gab es eine Weltanschauung, die sich nur auf die äußere Sinnesanschauung verlassen hat. Wenn man heute hört, daß alles unsicher sei, was nicht von der ge­bräuchlichen Wissenschaft erforscht ist, so könnte man ein­wenden: Es sehe doch die Wissenschaft hin auf die Zeit des Kopernikus und des Giordano Bruno! Solange man sich in bezug auf den Sternenhimmel auf das verlassen hat, was sich dem Auge darbietet, hatte man von dem äußeren Welt­system nicht die richtige Anschauung, sondern erst, als man über die äußere Sinnesanschauung hinausging und sich den Gedanken hingab, hat man durch die innere Energie das gefunden, was man heute als wahr erkannt hat.

Erst als Kopernikus und Giordano Bruno so weit waren, daß sie die Täuschung des Sinnenscheins überwanden, konn­ten sie darauf hinweisen, wie irrig der bisherige Glaube der Menschen war, die Erde sei etwas fest im Raume Stehendes, um sie herum kreisten Mond, Sonne und die Planeten, dann käme die Fixsternsphäre' und dahinter sei gleichsam die sogenannte achte Sphäre, die begrenze alles. Giordano Bruno stellte sich hin und sagte den Menschen: Wenn ihr den Blick in den Himmelsraum hinausrichtet, dann ist keine

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«achte Sphäre» da, die macht ihr euch selbst; sondern da ist das blaue Firmament, und ausgefüllt sind die Raumesweiten mit Welten, wie die unsrige ist, und wir sehen hin­aus in ein Meer von Unendlichkeit, wenn wir nur die Grenze zu überwinden vermögen, die wir uns selbst gesteckt ha­ben! - Diese Überwindung der Raumesgrenze war die Größe der kopernikanischen und der Giordano Brunoschen Welt­anschauung, indem erkannt wurde: weil der Blick des Men­schen nicht weiter reichte, glaubte man an eine achte Sphäre, während in Wahrheit die Raumesweiten unbegrenzt sind.

Heute steht die Menschheit in bezug auf die Geistes-wissenschaft ganz auf demselben Boden. Wie Giordano Bruno zeigte, daß das blaue Himmelsgewölbe nur deshalb da ist, weil der Blick des Menschen nicht weiter reicht, so zeigt die Geisteswissenschaft, daß das Menschenleben zwi­schen Geburt und Tod nur deshalb begrenzt ist, weil der Blick des gewöhnlichen Menschen nur bis dahin geht. Eben­sowenig, wie für die Betrachtung des Weltenraumes das Firmament eine Grenze ist, ebensowenig sind Geburt und Tod eine Grenze für die Menschenbetrachtung, die wir nur aufrichten, weil der Blick des gewöhnlichen Menschen nur so weit reicht. Wie durch die Naturwissenschaft die räum­liche Begrenzung der Welt hinweggeschafft und der Welten-raum erschlossen wurde, so werden heute die Grenzen von Geburt und Tod durch die Geisteswissenschaft für den Men­schen hinweggeschafft, indem sie den geistigen Blick hinauszurichten lehrt in das Leben der Seele in der ewigen Dauer, so wie die Naturwissenschaft in der Morgenröte der neueren Zeit den Blick hinausgerichtet hat in die Ewigkeit oder, besser gesagt, in die Unendlichkeit des Raumes. Ganz dasselbe, heute wie damals, nur auf einem anderen Gebiete!

So wahr die Naturwissenschaft, die sich an das äußere Menschenleben und an die äußere Erkenntnis des Men­schenlebens

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gewendet hat, unendliche Vorteile und Errun­genschaften gebracht hat, so wahr auch wird dem, was die Seele zu ihrem Leben braucht, der über Geburt und Tod, über Zeitliches erweiterte Blick der Menschenseele unend­liche Werte bringen. Denn die geisteswissenschaftliche For­schung wird, wenn sie richtig getrieben wird, übergehen in die Menschenseele und wird dort Leben werden, wird Kraft und Zuversicht werden, wird uns hineinstellen in den gan­zen sozialen Zusammenhang und der Seele das bringen, wonach die Seelen, die nur ein bißchen zu verstehen be­ginnen, sich so sehr sehnen.

Durchaus wahr, nicht nur in der Theorie, sondern im Leben und in der Kraft, wird die Geisteswissenschaft das machen, was ich schon einmal in einige Worte zusammen­zufassen versuchte, mit denen ich auch heute meine Be­trachtung schließen will, die zeigen sollte, was Geist und Sinn und Ziel der Geisteswissenschaft ist, und was diese Geisteswissenschaft der menschlichen Seele sein soll. Sinn und Ziel der Geisteswissenschaft, wir können sie etwa so fassen:

Es sprechen zu dem Menschensinn
Die Dinge in den Raumesweiten;
Sie wandeln sich im Zeitenlauf.
Erkennend dringt die Menschenseele,
Unbegrenzt von Raumesweiten
Und unbeirrt vom Zeitensein,
in das Reich des Geistes ein.

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DIE WEGE DER ÜBERSINNLICHEN ERKENNTNIS Berlin, 21.November 1912

Schon in den einleitenden Vorträgen zu dem diesjährigen Winterzyklus wurde des öfteren darauf hingewiesen, wel­ches die Quellen der übersinnlichen Erkenntnisse des Men­schen sind, jener Erkenntnisse, von denen - und auch von ihrer Beziehung zu der Weit, in der wir leben - dieser ganze Vortragszyklus handeln soll. Es wurde darauf hingewiesen, wie diese Quellen übersinnlicher Erkenntnisse in der Men­schenseele, in jeder Menschenseele selber liegen, in ihr als schlummernde Kräfte und Fähigkeiten liegen, welche durch geeignete Mittel im intimen inneren Erleben hervorgebracht werden können, so daß der Mensch fähig werden kann, in die geistigen Welten hineinzuschauen. Die Entwicklung die­ser in der Seele schlummernden Fähigkeiten soll am heu­tigen Abend mit einigen Strichen gezeichnet werden. Weitere Ausführungen zu dem heute Darzustellenden werden sich dann in den nächsten Vorträgen ergeben.

Wenn es sich darum handelt, zunächst begreiflich zu ma­chen, wie die in der Seele schlummernden übersinnlichen Er-kenntniskräfte hervorgeholt werden, so kann man immer aüf eine Erscheinung, auf eine Tatsache hinweisen, die sich mit jedem Menschen im Verlaufe von vierundzwanzig Stunden abspielt: auf den Wechsel von Schlaf und Wachen. Der Mensch geht ja gewöhnlich gerade an denjenigen Lebens-rätseln vorbei, die täglich als etwas Gewohntes in das Le­ben hereinspielen, und das Seltene und durch seine Seltenheit

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Bedrückende wird in den meisten Fällen leicht die Sehnsucht hervorrufen, als Rätselfrage gelöst zu werden. Über solche bedrückende Lebensrätsel soll im nächsten Vor-trage hier gesprochen werden. Heute aber soll von einem Rätsel ausgegangen werden, das sich allerdings in seiner Rätselhaftigkeit nur deshalb dem Menschen entzieht, weil er die betreffende Erscheinung eben so gewohnt ist, nämlich der Wechsel von Schlaf und Wachen.

Wir müssen zur Aufrechterhaltung unseres Lebens mit jedem Tage aus dem Zustande der Bewußtheit in den­jenigen der Unbewußtheit übergehen. Was ist denn ge­schehen - wir brauchen es nur populär anzudeuten -, wenn der Mensch in den unbewußten Zustand des Schlafes über­geht? Die Aufnahmefähigkeit der Sinne hört auf, die Be­wegungsfähigkeit der organischen Glieder hört auf, das Denken, das ja an die Tätigkeit des Gehirns gebunden ist, insofern es sich in der äußeren Welt betätigt, hört auf. Wir fühlen im Einschlafen alle die Tätigkeiten und alle Bewußt­seinserfüllung, welche uns den Tag über ausfüllt, versin­ken. Es wäre für jeden unbefangen Urteilenden schon eine logische Unmöglichkeit, zu denken, daß dasjenige, was im bewußten Zustande vom Morgen bis zum Abend in un­serer Seele auf und ab wogt als unsere Vorstellungen, unsere Gefühle, Empfindungen, Affekte, Leidenschaften, ja, als unsere Ideale und Ideen, mit dem Einschlafen seiner eigent­lichen Wesenheit nach jedesmal ins «Nichts» überginge - und am nächsten Morgen wieder entstehen würde. Nur eine logische Befangenheit kann leugnen, daß des Men­schen geistig-seelischer Wesenskern auch vorhanden ist, wäh­rend der Mensch in der Bewußtlosigkeit des Schlafes ist.

Wenn wir heute zunächst einmal hypothetisch voraus­setzen - die folgenden Vorträge sollen diese Voraussetzung rechtfertigen-, daß der Mensch, während er in der Bewußtlosigkeit

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des Schlafes ist, sich mit seinem eigentlich geistig­seelischen Wesenskerne gewissermaßen herausgezogen hat aus dem physischen Leib und den diesen physischen Leib belebenden Kräften, und daß er dann in einer geistigen Welt lebt, so liegt es zunächst als Annahme, als Vermutung nicht fern, daß im Menschen der Grund zu suchen ist, wenn er mit seinem geistig-seelischen Wesenskerne aus seinem Leibe herausgezogen, nicht ebenso seine Umgebung wahr­nehmen kann, wie er sie wahrnimmt, wenn er in der phy­sischen Welt sich seiner Augen, seiner anderen Sinneswerk­zeuge und des Instrumentes des Gehirnes bedient. Es liegt, sage ich, nicht fern, zu denken, daß des Menschen geistig-seelische Kräfte zunächst darauf angewiesen sind, sich im gewöhnlichen Leben der Sinne und des Gehirnes zu be­dienen, um eine Welt um sich zu haben, und daß sie, wenn sich der Mensch, wie im Schlafe, der Möglichkeit entledigt, durch diese Instrumente wahrzunehmen, zu gering, zu schwach sind, um das wirklich zu schauen, wirklich zu emp­finden und zu denken, was sie dann wahrnehmen könnten.

Als richtig erweisen könnte sich eine solche Vermutung nur dann, wenn wirklich die Möglichkeit vorhanden wäre, die Kräfte, welche man da als schwache vermutet, tatsächlich aus ihrer Verborgenheit hervorzuholen, etwa wenn man imstande wäre, die seelischen Kräfte, die im gewöhnlichen normalen Leben gewissermaßen «dünn» sind, in sich zu verdichten, in sich zu konzentrieren, so daß dann nicht das eintreten müßte, was der Mensch im Schlafe erlebt, wenn er aufhört, sich seiner Sinne oder seines Gehirnes zu bedienen, sondern daß es auch einen Zustand geben könnte, der dem Schlafe ähnlich ist, und doch wieder in einer gewissen Be­ziehung ihm vollständig entgegengesetzt ist. Ähnlich müßte dieser Zustand dem Schlafe darin sein, daß der Mensch nicht gezwungen, wie beim Einschlafen, sondern willkürlich,

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durch seine inneren Kräfte, durch seinen Willen das Sich-zurückziehen aus den Sinnen oder aus dem Gehirn hervor­rufen würde; so daß er es bewirken könnte, daß er zwar vollständig wach ist, aber nicht durch seine Augen seine Umgebung sieht, auch durch die anderen Sinne nichts wahr­nimmt, sondern die Augen und die anderen Sinne zum vollständigen Schweigen bringt. Mit anderen Worten, daß er alle Sinnestätigkeit durch seinen Willen vollständig un­terdrücken kann, daß er ebenso das gewöhnliche Denken unterdrücken kann, jenes Denken, das sich im alltäglichen Leben durch die Vorstellungen über die äußere physisch-sinnliche Weit betätigt. Ferner müßte der Mensch, wenn er so durch seine Willkür unterdrücken könnte, was ihn sonst zum Wahrnehmen bringt, imstande sein, in seinem geistig-seelischen Wesenskerne nun nicht zu der Bewußtlosigkeit des Schlafes zu kommen, sondern Kräfte zu konzentrieren, die sonst schwach, dünn sind, so daß er sich auch ohne seinen Leib, außerhalb seines Leibes, richtig betätigen kann.

Es entsteht die Frage, ob das, was jetzt eben ausgespro­chen worden ist, sich irgendwie verwirklichen läßt. Das kann natürlich nur durch die Tatsachen beantwortet wer­den, welche der Mensch an sich selber hervorruft, nämlich einfach durch die Tatsache, daß er in die Lage kommt, auf seine Seele Mittel anzuwenden, durch welche das eben Cha­rakterisierte eintritt. Durch die Anwendung solcher Mittel auf die Seele kommt man zu übersinnlichen Erkenntnissen. Der Weg zur übersinnlichen Erkenntnis ist keiner, der durch äußere Mittel führt, der etwa allerlei bloß in der äußeren Welt vorhandene Machinationen erfordert, sondern er ist ein intimer Seelenweg, und alles, was für ihn vorgenommen werden muß, spielt sich in den Tiefen des seelischen Lebens selber ab.

Nun gibt es, wenn wir in die Welten hinaufsteigen wollen,

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welche uns die äußere Welt, in der wir leben, erklären sollen, wenn wir also in die übersinnlichen Welten hinauf­steigen wollen, drei Stufen, die wir übersteigen müssen. Eine eingehendere Darstellung dieser drei Stufen befindet sich in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der hö­heren Welten?» Hier sollen sie aber mit einigen kurzen Strichen nur angedeutet werden. Bei der Bezeichnung dieser drei Stufen bitte ich Sie, sich nicht an Worten zu stoßen. Die Worte sind zum Teil so, daß sie heute in der gebräuch­lichen Sprache für etwas ganz anderes angewendet werden, als hier gemeint ist, und zum Teil haben diese Worte keinen guten Klang in den Denkgewohnheiten der Gegenwart, weil sie für alle möglichen Dinge angewendet werden, die man ungenau oder unklar erkennt, oder auch für solche, die man mit Recht abweist. Dadurch wird zuweilen schon eine Art Gefühlsbetonung hervorgerufen, wenn man diese Worte hört. Allein es ist leicht einzusehen, daß es für die Dinge, die hier zu besprechen sind, in einem gewissen Grade so sein muß, denn unsere Sprache ist einmal für die äußere Welt da. Daher müssen die Worte für die Bezeichnungen ent­lehnt werden aus der äußeren Welt und können deshalb nie genau für das passen, was außerhalb der äußeren Sinnes-welt liegt, für welche die Sprache geschaffen ist.

Die erste Stufe der höheren, der übersinnlichen Erkennt­nis ist die sogenannte Imagination, die imaginative Er­kenntnis, wobei ich Sie eben bitte, damit der Irrtum nicht entsteht, von dem eben gesprochen worden ist, unter diese? Imagination für heute nur das zu verstehen, was ich sogleich charakterisieren werde. Die zweite Stufe der übersinnlichen Erkenntnis ist die Inspiration, und die dritte Stufe ist das, was man, wenn man das Wort so gebraucht, wie wir es nachher charakterisieren werden, und nicht so, wie es im gewöhnlichen Leben oft ungenau gebraucht wird, die wahre

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Intuition nennen kann. Zu diesen drei Stufen übersinnlicher Erkenntnis verhält sich die äußere Sinnes- und Verstandeserkenntnis, die wir im gewöhnlichen Leben und auch in der Wissenschaft von der äußeren Welt anwenden, wie eine Art Vorstufe, so daß man im ganzen, wenn man die übersinnlichen Erkenntnisstufen hinzuzählt, von vier menschlichen Erkenntnisstufen sprechen kann.

Nun gibt es viele Mittel, und viele Mittel müssen auch angewendet werden, wenn es sich darum handelt, aus der gewöhnlichen Sinnes- und Verstandeserkenntnis heraus sich zu der ersten Stufe der übersinnlichen Erkenntnis, der Ima­gination, zu erheben, und ich will, weil zu einer ausführ­licheren Darstellung nicht die Zeit vorhanden sein würde, mit aller Konkretheit hervorheben, wie es gewissermaßen die Seele mit einem der Mittel machen muß - andere finden Sie in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Wel­ten?» angegeben -, um die in ihr schlummernden übersinn­lichen Erkenntnisfähigkeiten zu wecken. Eines der Mittel ist die sogenannte Meditation.

Wenn wir uns die Frage vorlegen: Was ist diese Medi­tation im geisteswissenschaftlichen Sinne? so müssen wir sagen: Diese Meditation ist die Hingabe an eine Vorstel­lung, an eine Gedankenempfindung oder einen Willens-inhalt in einer so intensiven Weise und in einer solchen Art, wie es im gewöhnlichen Leben nicht geschieht, wie sie aber geeignet ist, um Kräfte, die sonst gleichsam verdünnt in unserem Seelenleben vorhanden sind, zu konzentrieren, zu verdichten. Dabei ist es gut, obwohl auch der andere Fall möglich ist, zu einer solchen Erkenntnis der Seele nicht Vor­stellungen zu verwenden, die man sonst im gewöhnlichen Leben oder in der gewöhnlichen Wissenschaft gewinnt. Diese Vorstellungen sind wohl auch verwendbar, aber sie sind nicht so gut zu verwenden. Die verwendbarsten Vorstellungen

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zur Meditation sind sinnbildliche, symbolische Vorstellungen. Ich will eine solche symbolische Vorstellung einmal hier entwickeln, die für einen Teil der Zuhörer in anderen Zusammenhängen bereits angeführt worden ist.

Zunächst mag es grotesk, paradox aussehen, daß jeman­dem zugemutet würde, das in seiner Seele wirken zu lassen, was jetzt besprochen wird, aber warum es geschehen soll, werden wir nachher charakterisieren. Nehmen wir an, je­mand bilde sich die Vorstellung, er habe zwei Gläser vor sich, ein leeres Glas und ein teilweise mit Wasser gefülltes. Nun schütte er das Wasser aus dem gefüllten Glase in das leere hinein und stelle sich vor, dadurch, daß er das Wasser aus dem gefüllten Glase in das leere gießt, würde das gefüllte Glas nicht, wie es in der Außenwelt geschieht, im­mer leerer und leerer, sondern immer voller und voller. Das ist wohl zunächst eine paradoxe Vorstellung, aber diese Vorstellung soll ein Sinnbild sein, und daß sie Sinnbild ist, soll im Bewußtsein des geistigen Forschers leben. Sie soll gleichsam sinnbildlich für unsere Seele die Natur und das Wesen menschlicher Liebe charakterisieren. Mit der mensch­lichen Liebe und mit alledem, was überhaupt unter die Idee der Liebe fällt, ist es gewiß so, daß diese Quelle der Liebe so unendlich tief und so unendlich reichhaltig ist, daß, wenn wir uns der Tatsache der Liebe in der Welt gegenübergestellt sehen, wir bescheiden jederzeit zugestehen müssen: Dieses Rätsel der Liebe ist in seiner wahren Wesenheit ganz gewiß für jede Seele unergründlich. Und je mehr wir dieses Gefühl der Unergründlichkeit haben, desto besser ist es für den Inhalt und für die Intensität unseres Lebens. Aber eine Eigenschaft können wir mit aller Klarheit von der wirk­lichen Liebe wissen und hervorheben: das ist die Eigen­schaft, die uns sinnbildlich durch das Bild dargestellt wird, von dem wir eben gesprochen haben.

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Der Mensch, der dem anderen Menschen Liebe, Taten der Liebe zuwendet, wird durch das, was er aus Liebe tut, niemals ärmer, niemals leerer, sondern er wird immer voller und voller, immer reicher und reicher in seinem Seelenleben. Diese Eigenschaft der Liebe, herausgehoben, haben wir gleichsam übersichtlich vor uns, wenn wir uns das Bild der zwei Gläser vorstellen und das Übergießen des Wassers vom einen ins andere.

Wir machen es da gewissermaßen ähnlich, wie man es auf einem anderen Gebiete des Erkennens macht und dabei für die äußere Sinneswelt zu wichtigen Resultaten kommt. Nehmen wir an, wir haben von irgendeiner uns unbekann­ten Substanz eine kreisförmige Platte. Wir können, wenn wir zunächst diese kreisförmige Platte ansehen, sagen: Was das als Substanz ist, wie die Stoffe zusammengeschweißt sind, das ist uns zunächst unergründlich. Aber eines können wir tun, wenn wir etwas von dieser Scheibe richtig wissen wollen: wir können einen Kreis vor uns hinzeichnen. Dann haben wir etwas von dieser Scheibe herausgehoben, nämlich daß sie kreisförmig ist, und dieses Herausgehobene ist ganz gewiß wahr, so wenig wir auch sonst von der Scheibe wissen. Wenn wir mathematisch denken, machen wir es auch so - und die ganze Mathematik ist in dieser Beziehung Symbolik -, daß wir einiges symbolisch herausheben. Dieser Vorgang, sinnenfällige und dann von der Seele festgehaltene Bilder zu schaffen, ist für seelisch-geistige Taten, für seelisch-geistige Erlebnisse die Vorbereitung zur imagina­tiven Erkenntnis.

Wenn jemand sagen würde: Dann geht ja der Geistesforscher darauf aus, in seiner Seele Bilder, Sinnbilder leben zu lassen, die gar keiner Wahrheit entsprechen, er geht also von vornherein darauf aus, Unwahrheit zu denken und Unwahrheit in seiner Seele leben zu lassen -, dann müßte

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geantwortet werden: Aber selbstverständlich hat der wahre Geistesforscher ein Bewußtsein davon, daß dies, was er so als Sinnbilder in seiner Seele leben läßt, keiner äußeren Wirklichkeit entspricht! Würde er einen einzigen Augen­blick das Sinnbild mit irgendeiner Wirklichkeit verwechseln können, so wäre er kein Mensch, der auf dem Wege zur übersinnlichen Erkenntnis ist, sondern auf dem Wege zur Illusion. Diese Sinnbilder sind eben nicht dazu da, äußere Wirklichkeiten abzubilden, sondern dazu, daß sie in un­serer Seele leben, daß wir sie mit unserem Seelenleben ver­binden und verquicken und unser Seelenleben darauf kon­zentrieren.

Sind wir nun imstande, ein solches Sinnbild so stark ins Auge zu fassen, daß wir unsere ganze Seelenkraft verwen­den, um nur dieses Sinnbild in unserer Seele leben zu lassen und alles beiseite zu schaffen, was von den äußeren Eindrücken auf uns eindringen könnte, auch alle übrigen Ge­danken beiseite zu schaffen, so daß wir einzig und allein ein solches Bild in den Mittelpunkt unseres Bewußtseins bringen, dann ist ein solches Bild schon deshalb besser als ein unmittelbarer Abdruck einer äußeren Wirklichkeit, weil ein solcher uns doch immer wieder mit unseren Seelenkräften zu der äußeren Wirklichkeit hinzieht, uns gleichsam aus uns selber herauslenkt. Wenn wir aber mit dem vollen Be­wußtsein, daß wir etwas rein Konstruiertes haben, eine bildliche, willkürliche Vorstellung gebildet haben, der wir uns jetzt hingeben, so ist das etwas, was nur insofern die Wirklichkeit behält, als es aus dieser entlehnt ist. Was wir auch für Bilder ausbilden: wir haben ja die Bestandteile dazu der äußeren Wirklichkeit entnommen. Diese Bilder sind in Farben, Formen und so weiter vorgestellt, sie sind der äußeren Wirklichkeit entlehnt, aber sie beziehen sich nicht auf die äußere Wirklichkeit. Denn das geschieht nicht

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in der äußeren Wirklichkeit, daß ein Glas voller wird, wenn man den Inhalt ausschüttet.

Eine solche Übung hat zur Folge, daß die Seele in einer ganz anderen Weise ihre Kräfte konzentrieren muß, als wenn sie zu ihrer Hilfe das nimmt, was sie sonst erlebt hat. Wenn nun der, welcher den Weg in die übersinnlichen Wel­ten gehen will, Geduld und Ausdauer hat, um immer wie­der und wieder solche Konzentrationen seines Seelenlebens zu üben, so wird er eine ganz bestimmte innere Erfahrung machen können. Diese Erfahrung zu haben, ist der erste Schritt zur imaginativen Erkenntnis. Er wird die Erfah­rung machen, daß er dadurch sein Seelenleben innerlich geändert hat, und daß er nach einiger Zeit gewahrwerden kann, wie aus seiner Seele selbst, ohne daß er das erst her­beiführt, solche Sinnbilder, solche Bilder auftauchen, so auftauchen, daß sie sich vor ihn hinstellen mit allem Schein von Realität, wie sich sonst nur Bilder hinstellen, wenn wir äußere Wahrnehmungen gemacht haben und uns Vorstel­lungen von ihnen gebildet haben.

Während im gewöhnlichen äußeren Leben die Vorstel­lungen aus der Seele sich gleichsam erheben als Spiegel­bilder der äußeren Wirklichkeit, erheben sich durch die genannten Übungen aus den Tiefen des Seelenlebens herauf Vorstellungen, die nur Bilder sind zunächst, selbstverständ­lich. Aber darin besteht die Erhöhung des Seelenlebens, daß die Seele sich nun innerlich stark fühlt und daß sie gleichsam in einen Zustand kommen kann, der ähnlich und doch entgegengesetzt ist dem Schlafzustande. Im Schlafe abstrahieren wir von allen äußeren Wahrnehmungen und auch von dem an das Gehirn gebundenen Denken, aber wir verfallen in die Bewußtlosigkeit. Im imaginativen Erkennen sehen wir auch ab von allen äußeren Wahrnehmungen und von allem Gehirndenken, denn wir unterdrücken das alles.

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Aber trotzdem wird die Seele nicht leer, wird nicht bewußtlos, sondern aus ihren Tiefen steigen Bilder auf, Bilder, die immer reicher und reicher, immer umfänglicher und um­fänglicher werden, und die sich dann vor die Seele hin-stellen wie eine neue Welt. Das ist eben die Welt, von der in diesen Vorträgen schon angedeutet worden ist, daß sie von dem Laien, der in solchen Dingen nicht bewandert ist, verwechselt werden kann, auch in ihrem Werte verwechselt werden kann mit der Welt krankhafter Illusionen, Hallu­zinationen, Wahnideen und dergleichen. Aber nur wer die Wirklichkeit auf diesem Gebiete doch nicht kennt, sondern eben nur nach dem krankhaften Seelenleben urteilt, kann eine solche Verwechslung begehen; denn es besteht ein ge­waltiger Unterschied zwischen den krankhaften, irgendwie auch nur im geringsten krankhaften Vorstellungen solcher Art, und den im rechten Sinne durch methodische Seelenerziehung gewonnenen.

Wer nur ein weniges über das erfahren hat, was man krankhafte Seelenerscheinungen nennt, Halluzinationen, Illusionen oder Wahnvorstellungen, der weiß eines: daß diejenigen Personen, welche von solchen Vorstellungen be­fallen sind, an die Realität derselben zuletzt so felsenfest glauben, daß der Glaube, den sie selbst den Erfahrungen der äußeren Sinneswelt entgegenbringen, gar nichts da­gegen ist. Das ist das Charakteristische der Wahnvorstel­lungen, der Illusionen, daß die von ihnen Befallenen zu­gleich einen überwältigenden Glauben an sie ausbilden. Es ist ja nichts schwieriger, als einem Menschen, der Illusionen hat - sie brauchen sich nicht einmal bis zum Grade der Hallu­zinationen zu gestalten, sondern nur gewöhnliche Wahn­vorstellungen, paradoxe Ideen zu sein -, solche Vorstel­lungen auszureden. Wenn zum Beispiel ein Mensch beginnt, in krankhafter Weise die Idee in sich auszubilden, daß er

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von anderen Menschen verfolgt werde, so ist es ungeheuer schwierig, etwa durch bloße Überredung diese Idee von ihm wegzubringen, und es kommt vor, daß ein solcher die wun­derbarsten logischen Gedankengebäude ausbildet, um zu beweisen, wie richtig das alles ist, was er als solche Wahn­vorstellungen hat. Besessen kann der Mensch von dem wer­den, was so über ihn kommt, und felsenfest glaubt er an die objektive Realität solcher Vorstellungen.

Wenn Sie nun nur in einigem das berücksichtigen, was in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» gesagt wird, so werden Sie sehen, daß, während der Mensch sich dazu bringt, solche Bilder, Bildvorstellungen in der Seele auf sich wirken zu lassen, von der richtigen Geistesschulung zugleich alles getan wird, damit in dem­selben Maße, wie diese Bilderwelt in der Seele erblüht, das Gefangenwerden durch diese Bilder, der Glaube an sie als an eine objektive Realität aus der Seele ausgetrieben wird, so daß in keinem Augenblick der geistig sich Schulende jemals zu der Idee kommen kann, es sei das, was sich ihm so als Imaginationen ergibt, eine objektive Wirklichkeit. Alle Geistesschulung ist unrichtig, die nicht zugleich in der Seele die Klarheit hervorrufen würde: Was da hereintritt zu­weilen an Wunderwerken wie neue Welten, das hat so, wie es über dich kommt, keine objektive Realität. Es ist alles zunächst nur da, um die Seele innerlich zu beleben, um sie in sich selber reicher und, wenn wir den paradoxen Aus­druck gebrauchen wollen, innerlich wirklicher zu machen, mehr erfüllt zu machen von Realem. Und das ist die beste, ja, die einzig richtige Errungenschaft des Schülers, daß er weiß: die Imaginationen, welche auftauchen, sind nichts anderes als ein Spiegelbild des eigenen Wesens.

Wenn der Geistesschüler in der Lage ist, allen Glauben an die Realität, an die Objektivität dieser seiner Imaginationen

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in demselben Augenblicke zu überwinden, wo er sie bekommt, dann ist die Geistesschulung die richtige. Im all­gemeinen ist es für manchen Menschen schwierig, das eine mit dem anderen hinzunehmen, denn der Mensch wird ja dadurch, daß er entsprechende Übungen in seiner Seele an­wendet, sozusagen mit einer neuen Welt beschenkt, mit einer Welt von zuweilen großartigen Vorstellungen. Das aber ist für viele Menschen eine außerordentliche Befrie­digung, eine außerordentliche Annehmlichkeit, etwas, was sie mit tiefer Sympathie erfüllt. Und der, welcher ihnen auch nur im geringsten den Glauben beibringen wollte, daß dies alles keine objektive Realität sei, sondern nur ein Spie­gelbild des eigenen Wesens, daß da nur das eigene Wesen sich inhaltvoller ausdrückt als früher, der würde von ihnen als ein Feind, als ein Verpfuscher der schönsten Seelenhoffnungen angesehen werden. Aber verstanden muß es werden, daß solche Imaginationen, wie sie zunächst auf­treten, gar nicht geeignet sind, wirkliche Erkenntnisse der höheren Welten zu geben, sondern daß sie nur eine Brücke für die Seele sind. Denn jetzt beginnt für die Seele eine ganz andere Aufgabe, jene Aufgabe, welche allmählich hinüberführt von der Imagination zur Inspiration. Es beginnt ge­wissermaßen jetzt ein Kampf zwischen der Seele und dem, was so auftritt als ihre Imaginationen. Soll ich charakteri­sieren, wie dieser Kampf beschaffen ist, so muß ich ein Gleichnis aus dem gewöhnlichen Leben gebrauchen.

Wir erfahren es im gewöhnlichen Leben immer wieder, daß wir nicht unseren gesamten Seeleninhalt im Bewußt­sein haben. Denken Sie, wie es wäre, wenn Sie alles, was Sie jemals vorgestellt haben, auf einmal im Bewußtsein hätten! Sie könnten sich an Vorstellungen erinnern, die Sie vielleicht vor Jahrzehnten gehabt haben. Die ruhen in den Untergründen Ihrer Seele, und bei irgendeiner Gelegenheit

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werden sie heraufgerufen. Das heißt, man hat im gewöhn­lichen Leben die Möglichkeit, zu vergessen, und das Ver­gessene wieder aus der Seele hervorzubringen. Man hat also die Möglichkeit, aus dem Bewußtsein herauszubringen, was das Bewußtsein als Vorstellungen erlebt, und es von un­serem bewußten Leben abzusondern, so daß es unabhängig von diesem irgendwo in unserer Seele ist. Es kann also der Bewußtseinsinhalt irgendwohin hinuntergesenkt werden, so daß er dann aus dem Bewußtsein heraus ist.

Dasselbe muß uns gelingen - wenn es auch auf diesem Gebiete etwas anderes ist - mit allen unseren Imaginationen, wenn wir Geistesforscher werden. Wir müssen willkürlich jede Imagination, die auftritt, aus unserer Seele heraustilgen können, müssen sie willkürlich auslöschen und in einen Zustand bringen können, wo sie so aus unserem Be­wußtsein herausgeworfen ist, wie eine vergessene Vorstel­lung aus unserem Bewußtsein herausgeworfen ist, die wir später wieder heraufholen können. Das ist notwendig. Wir müssen in dem ganzen Gebiete unserer Imaginationen Herr sein über jede einzelne Imagination, müssen jede einzelne von uns unabhängig machen können.

Wer ein gewissenhafter Geistesforscher ist, der solche gei­stige Forschungen anstellen will, die er dann gewissenhaft der Welt mitteilen will, der vollzieht das oft und oft, immer wieder und wieder, daß er dies, was so vor seine Seele als ein Bild tritt, das zunächst aufgetaucht ist, immer wieder und wieder hinunterstößt, es unbewußt macht, austilgt. Dann kommt es wieder, und zwar jetzt nicht nur durch Willkür, sondern durch etwas ganz anderes: durch eine innere Kraft, deren wir uns sogar erst in diesem Augen­blicke bewußt werden, wenn wir auf der entsprechenden Stufe stehen. Und nicht alle Imaginationen kommen herauf, sondern wir haben das deutliche Bewußtsein, es gibt Imaginationen,

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die da unten bleiben in einem Unbekannten, die nicht wieder heraufzubringen sind, oder wenn sie wie­der heraufkommen, zeigen sie sich als solche, die wir ab­lehnen.

Die Imaginationen ändern sich, wenn sie uns wieder zu­rückkommen; sie sind dann auch etwas ganz anderes. Sie dringen so zu uns, auch auf dieselbe Art, wie äußerlich in der Welt die Wahrnehmungen von den Dingen der phy­sischen Welt zu uns dringen. Aus denselben Untergründen heraus, warum wir, wenn wir gesunden Menschenverstand haben, äußerlich etwas Erträumtes, etwas Nichtvorhan­denes unterscheiden können von etwas Wirklichem, Vor­handenem, aus denselben Gründen können wir das, was als Imagination wieder auftaucht, in seiner Wirklichkeit, in seiner geistigen Wesenheit erkennen.

Es wurde einmal gefragt, als solche Dinge auseinander­gesetzt wurden: Wodurch kann denn der Mensch sicher sein, wenn ihm so die Imaginationen zurückkommen, die er erst aus seiner Subjektivität herausgeworfen und der Objektivität übergeben hat, um sie sich dann wiedergeben zu lassen, wodurch kann er überzeugt sein, daß sie Wirk­lichkeiten oder Unwirklichkeiten darstellen? Wissen wir doch, daß es Suggestionen, Einbildungen gibt, die so stark sind, daß sie den Menschen überwältigen, so daß er doch als Wirklichkeit empfindet, was gar nicht da ist. Man hatte ein anschauliches Beispiel angeführt: wenn jemand so sensi­tiv ist, daß er, ohne Limonade zu trinken, schon bei der bloßen Vorstellung derselben den Limonadengeschmack im Munde hat, so sei das ein Beispiel dafür, daß etwas da ist, was in Wirklichkeit nicht vorhanden ist. Man könne also auch bei dem, was die wiedergeborenen Imaginationen sind, einer ähnlichen Täuschung unterliegen.

Einen solchen Einwand kann man immer machen. Er

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kann auch bei einer bloßen Dialektik, bei einem bloßen Spiel mit Worten aufrecht erhalten werden, nicht aber der Wirklichkeit gegenüber. Denn wer seine Seele in der ge­schilderten Weise entwickelt, kommt zu derselben Möglich­keit, Wahrheit und Irrtum zu unterscheiden, wie man in der Außenwelt Wahrheit und Irrtum unterscheidet, wo man ja auch nichts anderes hat als die gesunde Seele, um Wahrheit und Irrtum zu unterscheiden. Davon kann sich jeder einen Begriff bilden, wenn er zum Beispiel an die Schopenhauerische Philosophie denkt mit dem Satz: Die Welt um mich herum ist meine Vorstellung.

Ich unterschätze nicht die Philosophie Schopenhauers, sonst hätte ich sie nicht selbst herausgegeben und eine Ein­leitung dazu geschrieben. Aber große Geister machen oft die einfachsten Irrtümer. Denn tatsächlich ist der Satz «Die Welt ist meine Vorstellung» dadurch widerlegt, daß man jemanden auf die ganz triviale Tatsache aufmerksam macht: wenn er sich die Vorstellung eines 900 Grad heißen Stück Stahles bildet und seine Finger damit verbunden denkt, so verbrennt er sich nicht. Er wird sich niemals durch eine solche Vorstellung verbrennen, und wenn sie noch so sehr gesättigt ist. Hat er aber den wirklichen Stahl vor sich, so wird er sich verbrennen. So wird er, nicht durch Begriffe oder durch Philosophien, wohl aber durch Erfahrung die Wirklichkeit schon von der Vorstellung unterscheiden kön­nen. Eine andere Unterscheidung aber gibt es nicht. Und eine andere Unterscheidung gibt es auch auf übersinnlichem Gebiete nicht, als daß man sich durch Schulung das richtige Zusammensein mit der übersinnlichen Wirklichkeit erwor­ben hat.

Daher ist eben für unser Bewußtsein notwendig, daß wir wissen: Wie die Imaginationen zunächst auftreten, hat sie unsere Seele selber gemacht, und so sind sie nur ein Spiegelbild

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unseres eigenen Wesens. Der Mensch kann die schönsten Imaginationen haben - er tut am besten, sie zunächst so auszulegen, daß er sich sagt: Was ist in mir für ein ver­borgener Gemütszustand, was ist in mir für eine verborgene Leidenschaft, was für ein Glaube oder Aberglaube, daß mir gerade diese oder jene Bilder vor die Seele treten? - Wenn er zunächst in den Bildern nichts anderes sieht als das Spiegelbild seiner selbst, dann hat er sich den richtigen Be­wußtseinszustand angeeignet, um die Wege in die übersinn­liche Welt hinauf zu gehen. Er muß dann imstande sein, aus den inneren starken Kräften seiner Seele ein Kämpfer gegen sich selbst zu sein. Er muß das, woran er oft am stärk­sten zu glauben versucht ist, was er am meisten liebt, was für viele Menschen schon Seligkeit bedeuten könnte, mit der Wurzel ausreißen und in eine Sphäre vergessener Vorstellungen hinuntertauchen lassen können. Wenn er dann das, was seine Seele erst gemacht hat, so selbstlos von sich losgerissen hat und der Welt außer sich übergeben hat, dann kommt es ihm wieder zurück als Inspiration. Dann ist er daran, mit denjenigen Wesenheiten, wirklichen Wesenheiten und Tatsachen der übersinnlichen Welt, zu denen solche Vorstellungen gehören, leben zu können.

Zunächst sind solche Imaginationen so, daß sie uns recht bekannt erscheinen, weil wir erforschen können, wie sie sich nicht anders gestalten, als wir selber in der Seele sind, wie sie nur ein Spiegelbild der Seele sind. Man kann von der Welt der Imaginationen immer nachweisen, daß diese Imaginationen so und so sind, je nachdem wir selber sind und je nach unserem Gemütszustande. Wenn sie aber zu­rückkommen, dann ist es allerdings anders. Dieselben Bil­der kommen nicht zurück, andere kommen zurück, Neues, dem wir früher überhaupt nicht gegenübergestanden haben, und das sich ebenso als eine Realität ankündigt, wie sich

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äußere Realitäten für uns als solche ankündigen. Nur hat man dem gegenüber ein ganz anderes Gefühl.

Den Dingen der äußeren Welt stehen wir so gegenüber, daß wir außer ihnen stehen. Ein Tisch, den wir anschauen, ist außer uns. Er ist da, und wir kommen in die Dinge nicht hinein. Bei den Tatsachen und Dingen der höheren Welten, die uns dann entgegentreten, haben wir, wenn wir uns in der geschilderten Weise dazu vorbereitet haben, sogleich als inneres Erlebnis das Bewußtsein: wir konnten überhaupt nur dadurch zu ihnen kommen, daß wir etwas, was wir in uns selber aus den Tiefen der Seele erst hervorgeholt haben, an sie abgegeben haben. Es ist wahrhaftig so, wie wenn ein Gegenstand vor mir liegt, und ich will ihn ergreifen: wie ich meine Hand ausstrecken muß und seiner Realität ge­wahr werde, so muß ich durch dasjenige, was ich erst durch die geschilderte Methode erreiche, das was mir dann als Imagination entgegentritt, von meiner eigenen Ichheit ab­sondern, in die Vergessenheit versenken. Damit aber strecke ich mein eigenes Wesen aus nach einer Welt, die ich dann ergreifen kann.

Man erlebt in der Welt viele Widerlegungen auch dessen, was jetzt eben gesagt worden ist. Aber so viel man auch herumsieht, so viel man sich auch mit diesen Widerlegungen gutwillig, noch so gutwillig bekannt machen will, eines tritt einem immer entgegen: die Menschen, die das wider­legen, was jetzt gesagt worden ist, haben es noch nicht ver­standen. Das zeigt die Art und Weise, wie sie darüber spre­chen. Und wer es verstanden hat, dem fällt es gar nicht ein, es widerlegen zu wollen. So trifft man namentlich sehr häufig diese vermeintliche Widerlegung, daß man sagen hört: Aber diese übersinnlichen Vorstellungen, die du dann hast, und die du für Eindrücke von Wesen hältst, die dich inspirieren sollen, unterscheiden sich dann doch nicht von

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ganz gewöhnlichen Illusionen oder Wahnvorstellungen! - Sie unterscheiden sich eben ganz gewaltig dadurch, daß der wirk­liche Geistesforscher ein anderes Bewußtsein zu ihnen hat, ein Bewußtsein, welches ihn ebenso seinen gesunden Men­schenverstand diesen Dingen gegenüber bewahren läßt, wie den Dingen der äußeren Welt gegenüber. Daher eignen sich auch zum wirklichen Geistesforscher am allerwenigsten aber­gläubische oder leichtgläubige Personen, solche, die man mit dem gebräuchlichen Ausdrucke als Schwärmer bezeichnet.

Wer leicht eine Wahrheit annimmt, wird ganz gewiß nicht im Geistigen sachgemäß forschen können. Phantasie und Glaube sind die größten Feinde wirklicher Geistes-forschung, trotzdem das, was zum Beispiel Phantasie in der Kunst ist und was Glauben an die Realität ist, doch wieder zuletzt die herrlichsten Geschenke der Geistesforschung sein können. Denn was im Geistigen erforscht werden kann, kann sich umgestalten zur Phantasie und zum Kunstwerke werden. Ebenso muß, wenn gesagt wird: Was die Geistesforscher verkünden, ist etwas, was doch nur zum Glauben spricht -, der Satz gelten: Gewiß glaubt der Geistesforscher das, was er weiß. Er wäre aber auch wahrhaftig ein Tor, wenn er das nicht glauben würde, was er weiß; doch nichts anderes glaubt er, als was er weiß.

Es ist eben gesagt worden, daß wir das, was wir uns zunächst erworben haben, wie aus der Seele herausreißen müssen, daß wir dadurch gleichsam geistige Organe aus­strecken müssen und durch sie die geistige Wirklichkeit zu­rückbekommen. Wenn wir uns immer mehr und mehr in ein solches Seelenleben hineinleben, so wachsen wir auch immer mehr und mehr mit den Wesenheiten und Dingen der geistigen Welt zusammen. Dann tritt das ein, was in unserem Bewußtsein so auftritt, daß wir nicht so mit diesen Wesen verkehren, wie ein Mensch mit dem anderen durch

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äußere Organe verkehrt, sondern durch das, was wie un­mittelbar von Wesen zu Wesen spricht, was wie unmittelbar von den Wesen wahrgenommen wird, indem unsere Seele unmittelbar bei dem Wesen ist, das sie wahrnimmt, so daß sie sozusagen nicht außer ihm, sondern in ihm ist. Dann tritt die Intuition ein, die eigentlich erst der Abschluß der übersinnlichen Erkenntnis ist, jener übersinnlichen Erkennt­nis, die uns nicht in ein verschwommenes, nebuloses Geistes­leben hineinführt, sondern in ein konkretes, wesengestal­tetes, wirklichkeitserfülltes Leben. Es gibt keine andere Art, um wirklich mit dem Geiste und seinem Dasein zusammen­zukommen, als gewissermaßen, wie es jetzt geschildert worden ist, mit ihm zu verschmelzen. Alles aber, womit wir nicht verschmelzen, kann nie als ein Beweis für den Geist gelten, denn einen anderen Beweis gibt es nicht, als das eigene Erleben mit dem Erleben des Geistes zusammen­fallend zu finden. Wer ein Geistwesen erfahren will, muß seine Seele so weit bringen, daß er sein eigenes Erleben zusammenfallen lassen kann mit dem Erleben dieses gei­stigen Wesens.

Der ganze Gang des geistigen Erlebens, wie er geschildert worden ist, kann es erklärlich machen - es würde ja nichts nützen, die Dinge zu verschleiern, sondern man muß sie offen aussprechen -, daß der Mensch am leichtesten schon durch die imaginative Erkenntnis, wenn ich so sagen darf, «reine» Geister erkennen kann, deren Dasein nur ein gei­stiges ist, die nicht mit einer anderen Hülle umkleidet sind als nur mit einer geistig-seelischen. Geistige Wesenheiten, die nicht zur Verkörperung kommen, die sich nicht in äußeren Naturwirkungen ausdrücken, können schon auf der Stufe der Imagination erkannt werden, wenn wir noch nicht die Fähigkeit haben, zur Inspiration durchzudringen. Das ge­schieht dann so, daß die Imaginationen, die wir ins Vergessen

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hinuntergesenkt haben, uns in einer veränderten Form zurückkommen, und wir erkennen sie dann als Bilder für geistige Wesenheiten, die so geistig sind, wie unser ohne einen Körper gedachtes Geistig-Seelisches.

Dagegen muß man schon zur Inspiration aufsteigen, wenn man Wesenheiten erkennen will, die zum Beispiel mit den Naturelementen, mit dem Leuchten in der Natur, mit den Wärmeverhältnissen in der Natur und so weiter zusammenhängen, kurz, die hinter der Sinneswelt schöp­ferischen Mächte und Wesenheitenkräfte zu erkennen, die sich im äußeren Dasein ausdrücken und nur in ihren äußeren Ausdrücken dort erkannt werden können. Das ist nur durch Inspiration möglich. Dazu muß das, was wir in der Seele haben, schon intensiver herausgerissen werden, damit es hinuntertaucht, als bei den Wesen, die ein bloß geistiges Dasein haben. Und die stärksten Seherkräfte müssen auf­gewendet werden, wenn man jene schöpferischen Kräfte erkennen will, die das äußere Verstandesbewußtsein nur als die materialistischen Naturkräfte anspricht, die aber in Wahrheit schöpferische Wesenheiten sind.

Wenn wir diese schöpferischen Wesenheiten erkennen wollen, die hinter allem äußeren Dasein verborgen liegen, dann müssen wir unser inneres Seelenleben so stark aus uns herausreißen können, wie es der Fall ist, wenn wir eben zur Intuition aufgestiegen sind. Das heißt, es gehört mit zu dem allerschwierigsten, durch übersinnliche Erkenntnis im konkreten Falle die vorhergehende Inkarnation eines Menschen zu erkennen, denn bei einem Menschen, wie er uns in der Sinneswelt entgegentritt, hat man es auch mit etwas zu tun, was sich in Naturwirkungen, in körperlichen Wirkungen darstellt.

Hinter diesen körperlichen Wirkungen liegt etwas wie Schöpfergewalten. Aber das verbirgt sich für den geistigen

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Seher hinter dem Äußeren des Körperlichen genau so, wie die geistigen Wesenheiten, welche im Blitz und Donner und hinter aller Natur vorhanden sind, sich hinter diesen ver­bergen; und das eine ist kaum leichter zu finden als das andere. Daher wird man es immer wieder erfahren können, daß Menschen, die zur Intuition kommen, alles mögliche, wirkliche Illusionen von früheren Inkarnationen erzählen. Daher ist es gut, wenn man dann möglichst wenig darauf gibt. Der wirkliche Geistesforscher weiß, daß dies zu dem allerschwierigsten gehört, was auch der entwickelten Seele nur in diesem oder jenem Momente möglich ist.

Was bisher gesagt worden ist, bezieht sich auf die Er­forschung des Übersinnlichen, des geistigen Lebens und We­bens. Wer seine Seele in einer solchen geschilderten Weise zubereitet, macht dadurch diese Seele selber zu einem Werk­zeug, um in die übersinnlichen Welten hineinzudringen. Für den Geistesforscher, der die geistige Erkenntnis der Welt mitteilen will, kommt aber dann erst die allerbedeutsamste Aufgabe. Denn dieses Hineinschauen in die geistigen Welten wird von den Menschen, die es nicht in der richtigen Weise kennen, zumeist mißverstanden, verkannt. Und auch das gehört zu der richtigen Abschätzung der Wege übersinn­licher Erkenntnis, daß sich der Mensch ein Urteil zu bilden vermag, was wirkliche Geisteserkenntnis ist und was nur entweder Unfug, Scharlatanerie oder Selbsttäuschung ist.

Da muß immer wieder und wieder gesagt werden: Zum Forschen in der geistigen Welt, zum Aufsuchen übersinn­licher Tatsachen und Wesenheiten gehört, daß sich die Seele selbst dazu erziehe. Wenn aber von dem Geistesforscher, der in der richtigen Art in die übersinnlichen Welten ein­gedrungen ist, seine Beobachtungen richtig geschildert werden mit den Begriffen, welche der gesunde Menschenverstand hat und die einem richtigen Wahrheitsgefühle entsprechen,

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dann kann das, was der Geistesforscher schildert, von jedem Menschen. der sich nicht befangen machen läßt, auch in der richtigen Weise verstanden werden. Zum Erforschen über­sinnlicher Tatsachen und Wesenheiten gehört die zubereitete Seele, zum Begreifen niemals. Das ist gewissermaßen das Geheimnis der Darstellung geistiger Dinge, daß sie, nach­dem sie durch die übersinnlichen Erkenntniskräfte erforscht worden sind, so dargestellt werden können, daß sie von jeder Seele verstanden werden können.

Nun gibt es ein Eigentümliches: die Menschenseele braucht zum Verständnis jener Dinge, von denen wir zum Beispiel beim nächsten Vortrage über «Lebensfragen und das Todes­rätsel» sprechen werden, die Ergebnisse der Geistesforschung. Die Menschenseele dürstet danach, Ideen und Begriffe zu haben über das, was über den Tod hinausgeht, Ideen und Begriffe, um das Wesen der Seele wirklich zu erfassen. Und wer es ablehnen wollte, dieses Wesen der Seele zu begreifen, der könnte wohl eine Weile das unterdrücken, was man Sehnsucht der Seele nach der Lösung der Weltenrätsel nen­nen kann. Aber es zeigt sich dann um so mehr, daß wir wohl der Seele die geistige Nahrung verweigern, ihr aber nicht den Hunger unterdrücken können, der hervorkommt und die Seele nicht nur in Verzweiflung, sondern in Un­gesundung hineintreiben kann. Der Mensch braucht gewis­sermaßen zu seinem Heile und zu seiner Sicherheit im Leben die Ergebnisse der Geistesforschung, und um die Seele in der richtigen Weise mit den Ergebnissen der Geistesforschung glücklich zu machen, dazu ist nur notwendig ge­sunder Menschenverstand. Es genügt der natürliche Wahr­heitssinn, um das zu begreifen, was der Geistesforscher mit­teilt. Solange es nicht erforscht ist, kann es nicht gesagt werden. Wenn es aber erforscht und in der richtigen Weise formuliert ist, kann es verstanden werden.

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Wie sehr dies wahr ist, das kann am besten daraus her­vorleuchten, daß der Geistesforscher selber für sein Seelenglück, für alles, was er im allgemeinen für seine Seele braucht, von seinem «Schauen» gar nichts hat. Er hat eine neue Welt. Aber diese neue Welt nutzt ihm gar nichts, so­lange er sie nicht so weit gebracht hat, daß sie zum Urteil über das Seelenleben geworden ist, das wir im Alltag führen, und das sich im Alltage sehnt nach der Lösung der Weltenrätsel. Was der Geistesforscher von seiner Forschung haben kann, das hat er ganz gleich und gemein mit dem anderen, dem sie nur erzählt wird, und der sie mit natürlichem Wahr­heitssinn und gesundem Menschenverstande begreift. Aber in bezug auf das, was die Seele zum Leben braucht, hat der Geistesforscher durch seine Forschung nichts, sondern einzig und allein durch das, was dann durch das Forschen heraus­kommt und jedem mitgeteilt werden kann. Auch der gan­zen Menschheit kann der Geistesforscher nur etwas sein, wenn er imstande ist, die Ergebnisse seines Forschens in solche Begriffe und Vorstellungen hineinzugießen, daß die Vorstellungen eines Zeitalters sie begreifen können, wenn diese nur vorurteilslos und unbefangen genug sind. Diese Vorurteilslosigkeit fehlt in der Gegenwart gewiß im wei­testen Umfange noch, weil man glaubt, daß andere Vor­stellungen, zum Beispiel die der Naturwissenschaft, diesen Ergebnissen der Geisteswissenschaft widersprechen. Wenn man aber genauer auf die Ergebnisse geisteswissenschaft-licher Forchung eingeht, wird man überall sehen, daß es nicht der Fall ist.

Aber noch ein anderes stellt sich zwischen den Geistesforscher und sein Publikum. Gerade das, was der Geistesforscher dadurch ist, daß er in die geistige Welt hinein­schauen kann, wird im weitesten Umfange eigentlich ver­kannt. Man gibt sich über den Geistesforscher als solchen

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gerade dort argen Irrtümern hin, wo man an die Geistesforschung herantreten will oder Sehnsucht nach ihr hat. Um nicht zu lang zu reden, will ich nur bemerken, daß der größte Irrtum gerade bei den Gutmeinenden der ist, daß man den Geistesforscher, weil er seine Seele zubereitet hat, um in die geistige Welt hineinzuschauen, als eine Art «hö­heres Tier» ansieht, daß er gegenüber den anderen Menschen etwas voraus hat. Aber durch eine solche Anschauung ver­legt sich der, welcher zur übersinnlichen Erkenntnis kom­men möchte, am allermeisten die Wege zu ihr. Es bildet sich sehr häufig aus einem gewissen guten Willen heraus die Ansicht, daß der Geistes forscher, weil er in die geistige Welt hineinsehen kann, deshalb über andere Menschen hinausragt, mehr wert sei als sie, daß es etwas besonders Erstre­benswertes für die Menschenseele und ihren Wert sei, in die geistige Welt hineinschauen zu können. Daß in unserer Zeit dieses Streben in den weitesten Kreisen auftritt, rührt von einer Tatsache her, die kurz in folgender Weise charakteri­siert werden kann.

In älteren Zeiten finden wir auch Mitteilungen aus der Geistesforschung, die den Menschen gemacht worden sind. Aber es wurden zumeist nur die Ergebnisse mitgeteilt. Über die Methoden wurde nicht so gesprochen, wie zum Beispiel heute gesprochen werden kann, oder wie es heute in einem öffentlichen Buche verbreitet werden kann, wie jenes ist «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» oder meine «Geheimwissenschaft im Umriß». Es wurde über die Methoden, aus gewissen Gründen, nur vor einzelnen wenigen gesprochen, deren man in bezug auf bestimmte Eigenschaften ganz sicher war. Das war für ältere Zeiten deshalb richtig, weil für ein größeres Publikum zwar Ge­fühl und Sinn und auch Wahrheitssinnn vorhanden waren, um die Ergebnisse auf die Seele wirken zu lassen und auch

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die Seele glücklich werden zu lassen, aber nicht genug, um die Schwierigkeiten zu überwinden, damit die Seele in die geistige Welt hineinkommen kann.

Heute leben die Seelen anders. Heute gibt es die Mög­lichkeit eines ganz anderen Denkens. Vergleichen wir nur, wie heute die Menschen ganz anders denken können, nicht nur durch die fortgebildete Naturwissenschaft, sondern wie schon durch die immer fortschreitende Bildung die Men­schen ganz anders denken lernen, als dies früher der Fall war. Dadurch hat sich das Zeitalter die Möglichkeit er­worben, die Dinge besser zu beurteilen. Daher können die Dinge mitgeteilt werden. Aber das ist eben erst im An­fange. Daher kann es nicht fehlen, daß Irrtümer entstehen.

Ein solcher Irrtum ist es, wenn man den Geistesforscher als etwas Besonderes ansieht. Aber der Mensch ist niemals dadurch, daß er seine Erkenntnis erhöht, wie es geschildert worden ist, etwas, was über die Menschheit, die keine solche Erkenntnis haben kann, hinausragt. Ebenso, wie der Che­miker dadurch nicht etwas anderes ist als die übrigen Men­schen, daß er die Chemie kennt, ebensowenig ist der Gei-stesforscher etwas anderes als die anderen Menschen. Nicht durch solche Dinge wird der Wert des Menschen bestimmt, sondern er wird in gewissen engeren Grenzen bestimmt durch die Intellektualität, durch die Kraft des gesunden Denkens. Ein Mensch ist mehr wert, wenn er gut denken kann, als ein anderer, der schlecht denken kann. Und im umfassenden Sinne ist der Wert des Menschen bestimmt durch seine Moralität, dadurch, daß er moralische Hand­lungen vollbringt und eine moralische Seelenverfassung hat. Nicht durch eine besondere Ausbildung der Seele hat er etwas voraus, sondern allein durch seine intellektuellen und moralischen Qualitäten.

Aus diesem Grunde sollte die üble Gewohnheit, die so

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sehr die Wege zur übersinnlichen Erkenntnis verlegt, ganz und gar bei denen ausgetilgt werden, welche an solche Er­kenntnis herantreten wollen: daß man den Geistesforscher, der in die geistige Welt hineinzuschauen vermag, deshalb, weil er dies kann, für eine besondere Autorität, für etwas Besonderes hält. Dadurch wird Autoritätsglaube und eine blinde Anhängerschaft hervorgerufen, die schon schlimm genug sind auf anderen Gebieten, die aber am allerschlimm­sten sind auf dem Gebiete geisteswissenschaftlicher For­schung, denn die Erfahrung zeigt für den Betrieb der Gei­stesforschung das Folgende.

Wer sich innerhalb des gewöhnlichen Lebens, so wie an­dere Menschen, die im gewöhnlichen Leben stehen, ein ge­sundes, ein gerades, ein logisches Denken erworben hat, der trägt dieses logische, gesunde Denken auch in die übersinn­liche Welt hinein und vermag dadurch zu beurteilen, was wirklich, was richtig und was wahr ist, und der allein kann dann aus dem, was er erkennt, richtige Urteile seiner Mit­welt überliefern. Nicht dadurch, daß man in die übersinn­liche Welt hineinschaut, prägt man richtige Urteile, sondern dadurch, daß man mit richtigem Intellekt, mit guter Logik hineingeht. Ein Tor, der noch so viel in der geistigen Welt schauen kann, der eine ganze Unsumme von allem mög­lichen Geistigen schaut, weil er auf irgendeine Weise seine Seele dazu gebildet hat, wird auch lauter unsinniges Zeug erzählen, wie es in der geistigen Welt ist. Ob man zur Wahrheit kommt, das hängt davon ab, wie man urteilen kann. Deshalb ist der Mensch mit gutem Verstande, wenn er auch gar nicht in die geistige Welt hineinschauen kann, jederzeit in der Lage, sich ein Urteil darüber zu bilden, ob das, was einer erzählt, und wenn er es noch so sehr in der geistigen Welt «gesehen» hat, ein Unsinn ist, oder ob es Hand und Fuß hat. Wenn jemand zeigt, daß er nicht gut

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denken kann, daß er die Dinge nicht richtig verknüpfen kann, dann sollte er, statt dem Geistesforscher aufzuhor­chen, lieber bei dem gesunden Menschenverstande Wache stehen, denn dann wird er jederzeit wissen, ob etwas aus einem klugen oder einem törichten Sinne kommt.

Noch bedeutender ist in dieser Beziehung die moralische Seelenverfassung. Wer mit schlechten Leidenschaften, mit schlechten Gefühlen und Empfindungen, namentlich aber mit Eitelkeit und Ehrsucht an die geistige Welt herantritt, der wird das, was sich ihm dann bietet, nur verzerrt und unwahr schauen. Er wird die schlechtesten Partien des Gei­stigen schauen, und diese werden sich ihm noch so darstellen, daß sie ihm nicht Wahrheit künden, sondern Illu­sionen aufbinden. Seine moralische Verfassung entscheidet bei dem geistigen Seher über das, was er in der geistigen Welt schauen kann. So sehr ist das geistige Schauen selbst nicht dazu geeignet, den Menschen irgendwie zu einer Au­torität zu machen. Vielmehr haben wir auf die Art zu achten, wie Geistesforschung vorbereitet wird, und müssen wissen, daß wir das größte Unheil anrichten, wenn wir nicht mit unserem gesunden Menschenverstand Wache hal­ten und nur auf das objektiv zu Beurteilende sehen.

Das ist der Weg zur Beurteilung übersinnlicher Erkennt­nisse von seiten derjenigen, die solche Erkenntnisse für das Heil und das Glück ihrer Seele ersehnen. Wenn sich der Mensch in dieser Weise zu dem Geistesforscher verhält, dann ist wahrhaftig dieses Verhältnis der Welt dem Geistesforscher gegenüber nicht anders als das Verhältnis der Welt zu anderen Wissenschaften. Wie nicht jeder auf die Sternwarte oder ins Laboratorium gehen kann, um dort Unter­suchungen zu machen, so können auch, obwohl heute immer schon eine gewisse Vertiefung in die geistige Welt möglich ist, verhältnismäßig wenige in dieselbe hineinschauen. Das

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ist aber auch nicht notwendig, denn das, was die Früchte einer geistigen Erkenntnis sind, das kann, wenn es mitge­teilt wird, durch unbefangenes Begreifen verstanden wer­den. Dies kann das richtige Verhältnis des Geistesforschers zu seinem Publikum werden, und dies ist auch immer das richtige im Zusammenleben der Menschen.

Je mehr man es dahin bringt, den Geistesforscher nicht als Autorität zu nehmen, sondern sich auf seinen gesunden Menschenverstand zu verlassen, alles zu prüfen, und je mehr man alles, was der Geistesforscher sagt, daran bemißt, wie man es einsieht, wenn man es mit dem Leben vergleicht, wenn man, mit anderen Worten, seinen gesunden Menschen­verstand anwendet - je mehr man das tut, desto mehr steht man auf einem gesunden Boden. Wir dürfen durch­aus sagen, daß Geisteswissenschaft, soweit sie die Welt braucht, heute jedem Menschen zugänglich ist aus dem Um­stande, weil sie begreifbar ist, auch wenn man nicht in die geistigen Welten hineinschauen kann. Wir sind heute schon auf dem Standpunkte, daß es eigentlich keiner Seele mehr versagt ist, den Weg in die geistige Welt zu gehen. Das erfordert unser Zeitalter, daß sich die Menschen immer mehr und mehr überzeugen, daß der Weg in die übersinn­lichen Welten hinein auch gemacht werden kann. Das ist das Richtige, im Gegensatze zu dem, was den Menschen zu einem blinden Autoritätsglauben bringt. Das aber allein, was richtig ist, hat für das Glück und das Heil der Seele einen Wert.

Das sollten einige Andeutungen sein über die Wege zur übersinnlichen Erkenntnis, zu jener Erkenntnis, die uns wirklich in eine geistige Welt hineinführt, welche hinter unserer Sinneswelt liegt, und die uns auch dazu bringt, diese geistige Welt zu begreifen. Der Geistesforscher selber hat für seine Persönlichkeit, für seine Wesenheit erst dann

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etwas von der geistigen Welt, wenn er nicht bloß schauen kann, sondern das Geschaute auch begreifen kann. Denn alles Geschaute ist, ohne daß es begriffen wird, noch nichts wert. Wenn es aber begriffen ist, begriffen ist von dem charakterisierten gesunden Menschenverstande und dem natürlichen Wahrheitsgefühl, dann gräbt es sich ein in un­sere Seele, verbindet sich mit ihr, und unsere Seele fühlt unmittelbar, was da drinnen ist, wie die Seele, wenn sie vor ein Bild tritt, unmittelbar fühlt, was in dem Bilde ist, wenn sie dieses Bild auch nicht selber machen kann. Wie es nicht notwendig ist, um von einem Bilde etwas zu haben, daß man ein Maler sein muß, ebensowenig ist es notwendig, um in eine für die Seele auch im höchsten Maße notwen­dige Erkenntnis, zum Beispiel der Unsterblichkeit oder des Durchganges durch wiederholte Erdenleben, einzudringen, oder um diese Erkenntnis genügend zu durchdringen, daß man selber diese Erkenntnisse im geistigen Schauen formen kann - obwohl es gut wäre, wenn immer mehr und mehr Menschen in das geistige Schauen eindringen würden. Das erobert sich aber die Zeit, und das werden auch immer mehr Menschen tun, weil das notwendige, gar nicht zu überwindende Bedürfnis auftreten wird, sich in die übersinn­liche Welt hineinzuleben. Die Seelen werden immer mehr und mehr gezwungen werden, auch sozusagen zum Seher zu werden, wirklich mit der geistigen Welt zusammenzu­wachsen.

Das aber gibt - sei es begriffenes Selbstschauen, sei es begriffenes Schauen des andern - der Besitz der übersinn­lichen Wahrheiten, der übersinnlichen Erkenntnisse, daß unsere Seele weiß, wie wir durch die äußere Wissenschaft erkennen, wie alle die äußeren Stoffe, die in unserem Leibe sich finden, in dem ganzen Universum vorhanden sind, so daß wir wie eingebettet sind in dem Gleichen, das in dem

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ganzen Universum ausgebreitet ist - Untersuchungen, die erst durch die Spektral-Analyse möglich gemacht worden sind -, wie der Mensch aus dem Universum heraus gestaltet ist. So lernt er durch die geistbegreifende Forschung auch erkennen, daß er in allem, was in seinem Bewußtsein oder in seinem Unterbewußtsein auf- und abwogt, mit einer Welt von geistigen Wesenheiten zusammenhängt, die wahr­haftig wirklicher sind als die Stoffe, mit denen der Leib zusammenhängt.

So fühlt der Mensch nach und nach die Früchte der Gei­stesforschung an seiner Seelenruhe, und fühlt auch die Kraft, zu arbeiten und tätig zu sein im geistigen All, im gott- und geistdurchtränkten All. Das aber macht es erst, daß der Mensch weiß, was er ist und die für ihn notwendige Er­kenntnis hat: daß er ruhend und tätig, denkend, fühlend und wollend im geistdurchtränkten All lebt und sich mit ihm verbunden fühlt und weiß. Und das macht das aus, was die Seele nicht entbehren kann, was sie sucht, wenn sie es für eine gewisse Zeitdauer nicht hat. Das braucht die Seele, wenn sie nicht in sich veröden soll und durch die Ver­ödung nicht unfähig werden soll, mitzuarbeiten an der Menschheit, so daß sie nicht nur zur Verzweiflung an dem Göttlichen, sondern auch in die Dekadenz kommen würde. Das Bewußtsein aber der Zusammengehörigkeit mit den übersinnlichen Welten liegt dem zugrunde, was wie instink­tiv fühlend in Goethe lebte, wenn er sagt:

Wär nicht das Auge sonnenhaft,
Die Sonne könnt es nie erblicken;
Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wie könnt uns Göttliches entzücken?

Wohl, das Auge ist sonnenhaft! Dieselbe Kraft, die in der Sonne ist, ist im Auge. Dadurch kann Gleiches von

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Gleichem, wie schon die alten Philosophen sagten, erkannt werden. In dem Menschen ist ein Göttliches, die ganze Welt ist durchtränkt von Göttlichem: dadurch kann das innere Göttliche das äußere Göttliche erfassen. Aber Goethe er­kannte auch, daß das Gegenteil davon eine Wahrheit ist.

Schopenhauer vermag, obwohl er die ganze Welt zu einer Willenserscheinung macht, nicht einzusehen, daß das, was in uns ist, nicht bloß notwendig ist für die Erkenntnis des Äußeren um uns, sondern daß umgekehrt auch das Äußere notwendig ist für das Dasein des Inneren. Im schopenhauerschen Sinne wäre es, daß die Sonne nur da­durch vorhanden ist, daß wir ein Auge haben. Dadurch ist ja die sonderbare Philosophie entstanden, welche die Welt als tonlos, als wärmelos und so weiter betrachtet und alles dieses erst beginnen läßt, indem die menschlichen Organe in die Welt treten. Aber Goethe wußte das Richtige: daß nicht nur, indem wir Augen haben, wir die Dinge sehen, indem wir Ohren haben, wir die Töne hören, sondern daß ein Auge erst dadurch auftreten kann, daß die Sonne da ist. Aus einer einstmals augenlosen Wesenheit hat sich der Mensch zu einem sehenden Wesen dadurch gemacht, daß das Licht den Raum erfüllte und aus dem Organismus, der noch kein Auge hatte, das Auge herausholte. Die Sonnenkraft hat das Auge geschaffen durch das von ihr verbreitete Licht. So kommt es nicht darauf an, daß wir das Göttliche in uns tragen und zum Beispiel in Feuerbachs Sinne das Göttliche, das wir erst in uns geschaffen haben, nur hinausprojizieren in die Welt, sondern wir müssen wissen, daß wir gar nicht diesen «Gottessinn» in uns hätten, wenn nicht das Göttlich-Geistige die Welt erfüllte und in uns ein Geist-organ geschaffen hätte, wie die äußere Sonne das äußere Auge geschaffen hat.

Deshalb können wir sagen: Das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit

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von Seele und Welt, das der Seele Stärke und Kraft gibt und sie ruhen und tätig sein läßt im geistigen All, das setzt sich aus zwei Dingen zusammen, zwei Din­gen, von denen wir das eine mit dem schönen Goetheschen Ausspruche charakterisieren können:

Wär nicht das Auge sonnenhaft,
Die Sonne könnt es nie erblicken;
Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wie könnt uns Göttliches entzücken?

Aber es ist ganz im goetheschen Sinne, wenn wir, diese einseitige Wahrheit durch das andere ergänzend, was sie erst zur vollen Wahrheit macht, den anderen Spruch hin­zufügen, der da heißen mag:

Wäre die Welt nicht Sonne-begabt,
Wie könnten Augen den Wesen erblühen?
Wäre das Dasein nicht Gottes Enthüllung,
Wie kämen Menschen zur Gottes-Erfüllung?

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ERGEBNISSE DER GEISTESFORSCHUNG FÜR LEBENSFRAGEN UND DAS TODESRÄTSEL Berlin, 5. Dezember 1912

Die größten Rätsel des Lebens, welche allgemeine mensch­liche Bedeutung haben, sind uns nicht durch besondere For­schungen der Wissenschaft aufgegeben, sondern sie begegnen uns auf Schritt und Tritt des Lebens. Und der größte FragesteIler ist ja wohl das Leben selbst, das fortwährend an uns herantritt, ein Fragesteller, der mit seinen Fragen nicht nur unsere Neugier, unsere Wißbegierde erregt, sondern der durch seine Fragen Glück und Leid, Befriedigung oder wohl auch Verzweiflung unserer Seele bedeuten kann. Geistes-wissenschaft, wie sie hier in diesen Vorträgen vertreten wird, soll ja vorzugsweise dazu da sein, diese vom Leben selbst gestellten Fragen zu lösen, soweit es menschlichem Erkenntnisvermögen gestattet ist, in die Geheimnisse des Daseins hineinzuschauen. Wenn auch gegenüber der heute gebräuchlichen Wissenschaft diese Geisteswissenschaft als etwas Neues, als etwas Ungewohntes erscheint, so ist das für den begreiflich, der nur einen Blick in diejenigen Zweige gebräuchlicher Wissenschaft tut, welche sich gerade mit Fra­gen der Seele, mit Fragen des geistigen Lebens beschäftigen. Was man heute Psychologie oder Seelenwissenschaft nennt, kann, soweit es sich darbietet, in weitem Maße durchforscht werden, und man wird finden, daß gerade die großen Da­seinsfragen, die großen Lebensrätsel in dieser gebräuchlichen Wissenschaft gar sehr zu kurz kommen.

Einer der größeren Seelenforscher der Gegenwart, Franz

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Brentano, hat es in seiner «Psychologie» ausgesprochen:

Wie man heute eigentlich in der gebräuchlichen Seelenfor­schung die Fragen beantwortet findet oder wie sie wenig­stens zu beantworten versucht werden, wie sich Vorstellung an Vorstellung reiht, wie die eine Empfindung die andere in der Seele wachruft, wie vielleicht noch diejenigen Seelenkräfte sich innerhalb unseres Bewußtseins ausgestalten, die wir mit dem Namen Gedächtnis bezeichnen, das alles - meint auch Franz Brentano - könnte doch kein Ersatz für das sein, was einstmals gerade die Seelenforschung als eine gewisse Lösung des Geheimnisses zu ergründen suchte, das sich an den Namen der Unsterblichkeit des menschlichen Wesens knüpft. - Nach solchen Fragen wie jener der Un­sterblichkeit der Seele wird man eben heute in der gebräuch­lichen Geistes- oder Seelenwissenschaft vergeblich suchen, und nach anderen Fragen auch. Sie können aus dieser ge­bräuchlichen Seelenwissenschaft heraus sozusagen gar nicht einmal aufgeworfen werden.

Man möchte sagen, mit einem trivialen Worte könnten die alleralltäglichsten großen Rätselfragen des Seelenlebens aufgeworfen werden, nämlich mit den Worten: Wie soll der Mensch überhaupt mit sich und der Welt fertig werden, wenn er an sich selbst erlebt, wie er in jedem Lebensalter ein anderer wird, wie jedes Lebensalter neue Aufgaben vor ihn hinstellt schon im Leben zwischen Geburt und Tod? Wie soll sich der Mensch das große Rätsel des Daseins beant­worten, das alltäglich an ihn herantritt und das, wie jeder merken kann, innig zusammenhängt mit dem ganzen Wesen des Menschen? Das große Rätsel, wie kommt es und was für eine Bedeutung hat es, daß alles, was vom Morgen bis zum Abend im wachen Zustande in uns auf- und abflutet an Vorstellungen, Trieben, Begierden, Leidenschaften, Affekten und so weiter, mit dem Eintritt des Schlafes in

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ein unbestimmtes Dunkel hinuntersinkt und wiederum aus diesem unbestimmten Dunkel auferweckt wird, wenn wir den neuen Tag beginnen? - Schlaf und Wachen, die so innig mit dem Daseinsrätsel des Menschen zusammenhängen, von ihnen muß die Wissenschaft selbst gestehen und gesteht es immer mehr, daß sie kaum irgend etwas zur Beantwortung dieser Rätselfragen zu sagen weiß. Und dann kommt das eben schon angedeutete Todesrätsel, jenes Rätsel, über wel­ches ein bedeutender Forscher der jüngst vergangenen Zei­ten, wie es hier schon angedeutet worden ist, nichts anderes zu sagen weiß, als was sozusagen die Beobachtung der äußeren Körperlichkeit ergibt. Huxley führt sie gleich im Beginne seiner «Grundzüge der Physiologie» an, die Worte des melancholischen Dänenprinzen Hamlet:

Der große Cäsar, tot, und Lehm geworden,
Verstopft ein Loch wohl vor dem rauhen Norden;
O daß die Erde, der die Welt gebebt,
Vor Wind und Wetter eine Wand verklebt!

Und weiter führt er das aus, was er sagen will, indem er zeigt, daß die einzelnen materiellen Teile, welche den Menschen zusammensetzen, wenn er durch die Pforte des Todes schreitet, sozusagen in alle Winde nach und nach ver­fliegen, in die anderen Materien übergehen, die um uns herum sind, und wie wir dort zusammensuchen müßten das, was der Mensch gewesen ist, wenn wir die stofflichen Atome dort, wo sie nach einiger Zeit anzutreffen sind, in den Weltenweiten, suchen würden.

Daß dies, was aus den Atomen des großen Cäsar gewor­den ist, gar nicht die Frage ist, die eigentlich der mensch­lichen Seele nahegeht, das fühlt sozusagen die äußere natur­wissenschaftliche Betrachtung gar nicht mehr. Daß die Frage die ist: Wo sind die Seelenkräfte, die in Cäsar gewirkt haben?

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Was ist mit ihnen geschehen? Wie wirken sie in der Welt weiter? - daß dies die große Frage ist, das kann auch eine äußere Wissenschaft nicht mehr fühlen. Und dann jene Frage, die sich einschließt in das bedeutungsvolle Wort Schicksal, die Schicksalsfrage, die uns eben wirklich auf Schritt und Tritt im Leben entgegentritt, die uns das große Rätsel aufgibt, das sich uns allüberall zeigt. Wir sehen einen Menschen ins Dasein treten, in Not und Elend geboren, so daß wir an seiner Wiege voraussagen können, daß ihm ein wenig günstiges Geschick beschieden sein wird, oder wir sehen ihn mit scheinbar geringfügigen Anlagen ins Leben treten, so daß wir wieder voraussagen können, er wird sich und den anderen Menschen nur wenig von Vorteil sein. Bei einem anderen wieder sehen wir, wie er ins Leben tritt, im Glück und Überfluß geboren, umgeben von sorgenden Hän­den von der Wiege an, mit Anlagen ausgestattet, welche von vornherein zeigen, daß er sich und seinen Mitmenschen ein nützliches Glied der Weltenordnung werden könnte. Wieviel von alledem, was wir Glück und Leid nennen, und was täglich, stündlich an uns herantritt, schließt sich in diese Schicksalsfrage ein! Man möchte sagen, die großen Fragen des Daseins beginnen erst dort, wo die Wissen­schaft gewissermaßen aufhören muß. Und wer heute mit einer solchen Weltanschauung sich bekannt zu machen ver­sucht, die aus rein wissenschaftlichen Unterlagen heraus gepragt ist, der wird sich sagen: Was mir da als Zusammen­fassung, als noch so schöne Zusammenfassung wissenschaft­licher Wahrheiten geboten ist, das zeigt mir erst den An­fang der Fragestellung, jener Fragestellung, wie ich die gro­ßen Rätselfragen des Daseins aufwerfen muß; von Ant­worten ist da noch nicht viel zu finden.

Dem allem gegenüber muß man aber betonen, daß im weitesten Umfange der Bildung der heutigen Zeit gar nicht

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die Möglichkeit vorhanden ist, auf die Lebensfragen der menschlichen Seele einzugehen, aus dem einfachen Grunde, weil durch Erscheinungen und Tatsachen, die sich im Laufe der letzten Jahrhunderte abgespielt haben - und die in den nächsten Vorträgen zur Sprache kommen sollen -, die menschlichen Denkgewohnheiten, die ganzen Anlagen des menschlichen Denkens mehr auf das äußere Materielle hingelenkt worden sind und sich eigentlich erst dann beruhigt fühlen, wenn sie mit dem Urteil, mit dem Forschen bei irgend etwas einsetzen können, was dem Augenschein ge­geben ist, oder was dem an das Gehirn gebundenen Ver­stande zugänglich ist. Es ist diesen Denkgewohnheiten vielfach die Möglichkeit entzogen, auf das nur hinzuschauen, was seelisches Leben ist, hinzuschauen auf die­jenigen Ereignisse, innerhalb welcher sich das abspielt, was nicht im Körperlichen sich erschöpft, sondern was spezifisch seelisch ist.

Es ist wohl aus den bereits in diesem Winter gehaltenen Vorträgen ersichtlich, daß es sich bei Beantwortung dieser Fragen nicht so sehr darum handelt, ob der Mensch etwa durch die Wege ins übersinnliche Leben, welche im letzten Vortrage hier angedeutet worden sind, in diejenigen Ge­biete hineinschauen kann, wo sich Antworten finden lassen können auf die angedeuteten Fragen. Mehrfach ist es be­tont worden, daß gewisse Dinge auf diesem Wege erforscht werden müssen, daß aber dann der unbefangene Menschen­verstand, das unbefangene Urteil durchaus in der Lage ist, das einzusehen, was die übersinnliche Forschung geben kann. Wenn dies der Fall ist, dann wird es auch verständ­lich sein, daß der im letzten Vortrage geschilderte Weg übersinnlicher Erkenntnis immer die Möglichkeit gibt, das­jenige, was im Leben ohnedies da ist, was sich im Leben überall darbietet, in richtiger Art anzuschauen und durch

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die richtige Anschauung Antworten zu bekommen auf die großen Rätselfragen des Daseins.

Das Geistige im Menschen ist überall vorhanden, ist im­mer da, und daß es uns seine Unsterblichkeit kündet, dazu ist nicht so sehr ein unmittelbares Hineinblicken in die übersinnliche Welt notwendig, als ein richtiges Anschauen - das allerdings herangezogen und geläutert werden kann -, als ein richtiges Anschauen der unmittelbaren Ereignisse unseres Seelenlebens selber. Darauf sollte das Hauptaugen­merk bei der Beurteilung dessen gerichtet sein, was hier Geisteswissenschaft genannt wird: in welcher Art das Leben betrachtet wird, in welcher Art durch das von der Geistes­wissenschaft herbeigeführte eigenartige Denken die Erschei­nungen des unmittelbaren Seelenlebens sich darbieten. Wer dabei genau zusehen will, der wird finden, daß die Geistes­wissenschaft die Erscheinungen des unmittelbaren Seelen­lebens im Zusammenhange mit dem äußeren Leben des Materiellen so betrachtet, daß die angedeutete große Rätselfrage des Daseins sich aus der unmittelbaren Lebensbeob­achtung heraus zur Beantwortung bringt.

Es ist hier schon mehrfach angedeutet worden, daß die Geisteswissenschaft heute in einer ähnlichen Lage ist, in welcher die Naturwissenschaft in der Zeit der Morgenröte der neueren Bildung war, als zum Beispiel Francesco Redi die große Wahrheit aussprach, die heute allgemein üblich ist und allgemein anerkannt wird: Lebendiges kann nur aus Lebendigem stammen. Damit war zunächst ein mäch­tiges Vorurteil bekämpft, das Vorurteil, welches damals nicht etwa bloß auf Laienkreise beschränkt war, sondern die ganze damalige Wissenschaft beherrschte - und diese Zeit liegt nur wenige Jahrhunderte zurück: Man glaubte noch vor drei Jahrhunderten etwa, beim Auftreten Fran­cesco Redis, daß niedere Tiere, wie Fische, Regenwürmer

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und dergleichen, aus Flußschlamm durch bloße Zusammenfügung des äußeren Materiellen entstehen können. Daß dies eine ungenaue Beobachtung war, zeigte Francesco Redi. Er zeigte, daß nichts von lebendigem Dasein entstehen kann, ohne daß ein von einem gleichen Lebendigen herrührender Lebenskeim in die unorganisierte Materie hin­einversetzt wird, und stellte den Satz auf: Lebendiges kann nur aus Lebendigem entstehen. In den Grenzen, in denen hier von diesem Satze gesprochen werden soll, erkennen ihn alle an, von Haeckel bis Du Bois-Reymond. Nicht an­erkannt war er zur Zeit Francesco Redis. Dieser mußte erst zeigen, wie nur eine ungenaue Beobachtung zugrunde liegt, wenn man glaubt, daß sich die unlebendige Materie zu Lebendigem zusammenformen könne.

In derselben Lage ist die Geisteswissenschaft heute dem Geistigen gegenüber, wie es dem Lebendigen gegenüber Francesco Redi war. Die Geisteswissenschaft zeigt heute durch die Art, wie sie die Seelenerscheinungen zu betrachten vermag, daß es einer ungenauen Beobachtung entspricht, wenn man glaubt, daß das, was mit einem Menschen an innerem Seelenleben ins Dasein tritt, etwa herrühren könnte zum Beispiel von der Vererbung, von den Eltern oder Großeltern usw. herauf, oder nur aus dem herrühren könnte, was die Seele des Menschen durch äußere Erfah­rung, durch äußeres Erleben der Umwelt in sich aufnimmt. Die Geisteswissenschaft hat zu zeigen, daß der Glaube, es könnte so sein, genau ebenso auf ungenauer Beobachtung beruht, wie der Glaube, daß aus unlebendiger Substanz sich ein gestaltetes Lebendiges zusammenformen könnte. Wie die unorganische Materie sozusagen nur von einem leben­digen Keim zusammengezogen werden kann, so kann alles, was an vererbten Merkmalen und Eigenschaften die Men­schenseele in sich gestaltet, alles, was sie aus der äußeren

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Welt durch die Sinne und durch den Verstand aufnimmt, nur zu dem, was als unmittelbar lebendiges Seelenwesen in uns lebt und webt, zusammengefügt werden, wenn ein lebendiger Geisteskeim da ist, ein Geisteskeim, der in sich zusammenfügt sowohl die vererbten Merkmale, wie alles, was aus der äußeren Umgebung aufgenommen wird.

Diesen Geistes- oder Seelenkeim faßt die Geisteswissen­schaft ins Auge, und sie steht damit allerdings einem sehr, sehr verbreiteten Vorurteile der Gegenwart gegenüber. Wenn man heute von dem Gepräge der menschlichen Seele spricht, wenn man von allem spricht, was der Mensch darlebt, dann wird man - und es ist dies durch gewissenhafteste Forschungen geschehen, die durchaus in ihrer Art anerkannt werden sollen - auf dieses oder jenes hinweisen, was von den Vorfahren «vererbt» ist. Man wird immer versucht sein, was in der menschlichen Seele lebt, und was der Mensch ausgestaltet, sozusagen zusammenzufügen durch diese oder jene Ursachen, welche innerhalb der Vererbungslinie liegen, auf die man nur einwirken lassen will, was von außen auf den Menschen einstürmt zur Gesamtgestaltung der mensch­lichen Seele.

Es wird einmal eine gewisse Harmonie zwischen der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft auf diesem Gebiete zustande kommen, wenn man eine Frage berück­sichtigen wird, welche der Geisteswissenschaft stets vorschweben muß, wenn vom menschlichen Seelenkern und von vererbten Anlagen die Rede ist, die Frage, die sich knüpft an die Erhaltung der ganzen menschlichen Gattung. Innerhalb des Gattungslebens, innerhalb dessen, was im Generationenwesen vom Großvater und Vater auf den Sohn und so weiter vererbt wird, sehen wir allerdings Merkmale von Generation zu Generation übergehen. Aber eines tritt uns fragestellend entgegen, wenn wir diese Aufeinanderfolge

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des Menschendaseins im Laufe der Gene­rationen ins Auge fassen: daß der Mensch in einer gewissen Zeit sozusagen die Mannbarkeit, die Geschlechtsreife er­langt, und in der Zeit, in welcher er diese erlangt hat, ist er in der Lage, sozusagen gattungsmäßig wieder einen voll­ständigen Menschen ins Dasein zu stellen. Das heißt mit anderen Worten, der Mensch ist mit erlangter Geschlechtsreife fähig, seinesgleichen hervorzubringen, hat also die Fähigkeiten, welche da sein müssen, damit er seinesgleichen hervorbringen kann.

Was also menschliche Entwickelung ist, das geht bis zur Geschlechtsreife hin so, daß der Mensch bis zu derselben in sich alle Fähigkeiten entwickelt, die es möglich machen, daß er ein Wesen seinesgleichen hervorbringen kann. Aber der Mensch entwickelt sich nach der Geschlechtsreife weiter. Neue Gestaltungen, neuer Inhalt der Seele treten auch nach der Geschlechtsreife auf, und es ist unmöglich, das, was die Seele in ihrer Entwickelung nach der Geschlechtsreife durchmacht, in derselben Weise mit der ganzen Entwickelung der menschlichen Gattung in Zusammenhang zu bringen wie das, was der Mensch bis zur Geschlechtsreife zur Herstel­lung der menschlichen Gattung durchmacht. Ein scharfer Unterschied muß gemacht werden in des Menschen ganzer Stellung zur Welt in bezug auf seine Entwickelung bis zur Geschlechtsreife, und in bezug auf die Zeit nachher. Das isr eine Frage, die, wie wir gleich sehen werden, nur von der Geisteswissenschaft richtig ins Auge gefaßt werden kann.

Eine andere, bedeutungsvolle Frage taucht damit auf, die aber zeigt, wie das aufzufassen ist, was mit dem Aus­drucke «Vererbung» bezeichnet wird, im Gegensatze zu dem, was überhaupt in der menschlichen Seele spielt und zur menschlichen Entwickelung gehört. Was im Menschen auftritt und sich deutlich als ein Produkt der Vererbung

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innerhalb der menschlichen Gattung zeigt, wir können es an einem radikalen Falle anfassen, wo eine Vererbung unter allen Umständen auftritt, einfach dadurch, daß der Mensch Mensch ist und von einem gleichartigen Wesen, einem We­sen seinesgleichen, abstammt. Eine solche Sache ist zum Beispiel der Zahnwechsel im ungefähr siebenten Lebens­jahre. Das ist etwas, was in den Kräften liegt, die der Mensch vererbt hat, die unter allen Umständen auftreten, auch wenn wir den Menschen von der menschlichen Gemein­schaft herauslösen und auf eine einsame Insel setzten, wo er wild heranwachsen würde.

So ist es mit allen Eigenschaften, welche eigentlich nur innerhalb der Vererbungslinie begründet sind. Nehmen wir aber einmal etwas, was so innig mit der menschlichen Seele zusammenhängt wie die Sprache, und da finden wir gleich, daß uns die Vererbungsbegriffe im Stiche lassen. Wo es berechtigt ist, von Vererbung zu sprechen, da werden die vererbten Merkmale auftreten wie beim Zahnwechsel. Wenn wir aber einen Menschen auf eine einsame Insel bringen und ihn wild aufwachsen lassen, so daß er keinen mensch­lichen Laut hört, dann entwickelt sich die Sprache nicht. Das heißt, wir haben da etwas, was uns zeigt, daß es in der menschlichen Seele etwas gibt, was nicht in gleicher Art an die Vererbung gebunden ist wie die Kräfte, die wir im eminenten Sinne als vererbte anzusprechen haben.

So könnten wir vieles anführen, was uns zeigen würde, wie wenig man mit den Vererbungskräften zur Erklärung des Gesamtwesens des Menschen auskommen kann. Aber gegenüber der Betrachtung des Geistigen durch die Geistes­wissenschaft macht man ja von vornherein dort, wo man in der Beurteilung vorurteilsvoll zu Werke geht, Fehler über Fehler, Fehler, die sich einfach als logische Fehler heraus­stellen. So glaubt man zum Beispiel immer wieder, die

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Geisteswissenschaft wolle sich gegen irgend etwas auflehnen, was die Naturwissenschaft zu sagen hat, während sie gerade den Errungenschaften der Naturwissenschaft die höchste Schätzung entgegenbringt.

So glaubt man dies zum Beispiel, wenn die Geistes­wissenschaft geltend macht, daß das, was wir den mensch­lichen Seelenkern nennen, nicht etwa bloß von den Eltern, Großeltern und so weiter abstammt, sondern als ein geistig-seelischer Kern auf ein vorhergehendes, weit zurückliegendes Leben des Menschen zurückgeht, so zurückgeht, daß die Geisteswissenschaft zu sagen hat: Das Erdenleben des Men­schen ist nicht nur ein einmaliges, sondern ein wiederholtes. Wenn wir durch die Geburt in das Erdendasein schreiten, so tritt ein Seelenkern ins Dasein, der in sich gewisse Eigen­tümlichkeiten, gewisse Kräfte in früheren Lebensläufen auf­genommen hat. Dadurch, daß er diese Kräfte in früheren Lebensläufen in sich aufgenommen hat, gleichsam in sich konzentriert hat, tritt er in einer gewissen Beziehung in einen neuen Körper ein, in eine neue physische Umgebung ein. Wie der lebendige Keim im physischen Leben sich in seine unorganische Umgebung versetzt und von dort die unorganischen Kräfte und Stoffe aufnimmt, so tritt dieser aus früheren Erdenleben kommende menschliche Seelenkern an die vererbten Merkmale heran, bindet sie, konzentriert sie, nimmt das, was die Außenwelt geben kann, und formt und gestaltet so an dem neuen Leben, welches wir dann die Zeit von der Geburt bis zum Tode durchführen. Das jetzige Leben ist wieder ein solches Zusammenziehen teil­weise der vererbten Merkmale, teilweise dessen, was das äußere Leben uns bietet. Und wenn wir durch die Pforte des Todes schreiten, dann ist dieser Seelenkern am konzen­triertesten. Dann durchläuft er in der Zeit zwischen dem Tode und einer nächsten Geburt ein rein geistiges Dasein

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und tritt, wenn er in diesem weiterhin dazu gereift ist, durch eine neue Geburt oder Empfängnis in ein neues Erdenleben.

Daß irgend etwas von dem, was heute gewissenhafte und gut erforschte naturwissenschaftliche Ergebnisse sind, durch solche Anschauungen der Geisteswissenschaft bekämpft oder irgendwie auch nur berührt werden müßte, ist leider nur ein landläufiges Vorurteil. Die Geisteswissenschaft versteht völlig - das ist bereits erwähnt worden -, wenn der Naturforscher kommt und zeigt, wie durch die Vermischung des väterlichen und mütterlichen Keimes in jedem einzelnen Falle sozusagen eine besondere Individualisierung des Kin­deskeimes stattfindet, und wie schon durch diese Vermischung des väterlichen und mütterlichen Elementes die Individua­litäten der einzelnen Kinder verschieden sein können. Die Geisteswissenschaft in ihrer Tiefe läßt sich nicht auf die triviale Behauptung ein, daß es schon ein Beweis für eine besondere menschliche Individualität wäre, daß in ein und derselben Familie die Kinder individuell und untereinander verschieden seien, denn diese Individualisierung kann durch­aus begriffen werden aus der verschiedenen Vermischung des väterlichen und mütterlichen Elementes.Wenn vielmehr der Naturforscher kommt und darauf aufmerksam macht, wie das, was der Mensch im Leben darlebt, auf diese oder jene organische Konstitution, auf diese oder jene Gestal­tung des Gehirnes und so weiter hinweisen könnte, so ist die Geisteswissenschaft damit völlig einverstanden, und es bleibt Dilettantismus in der Geisteswissenschaft, wenn man darauf nicht eingehen will. Wenn aber das, was die Na­turwissenschaft mit vollem Recht auf diesem Gebiete zu sagen hat, ein Einwand sein soll gegen die Ergebnisse der Geistesforschung, daß nämlich trotz aller Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung der menschliche Seelenkern die vererbten Merkmale erst heranzieht, um ein Leben

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zu gestalten, dann begeht man einen logischen Fehler, der etwa in der folgenden Weise charakterisiert werden kann.

Nehmen wir an, ein Mensch sieht einen anderen vor sich, der gesund atmet, und er sagt: Daß dieser Mensch lebt und jetzt als ein lebendiges Wesen vor mir steht, das rührt von der Luft und der Lunge her, die vorhanden sind. - Wer wollte bestreiten, daß dies eine völlige Wahrheit ist! Eben­sowenig wie dies von irgendeiner Geisteswissenschaft be­stritten werden kann, ebensowenig kann das bestritten wer­den, wenn der Naturforscher kommt und die materiellen Bedingungen aus der Vererbungslinie in Aussicht nimmt, um die individuelle Gestalt des Seelenlebens zu erklären. Wahr ist es, ebenso wahr, wie wenn der Naturforscher sagt: Da steht ein Mensch vor mir, der lebt in diesem Augen­blicke dadurch, weil außer ihm die Luft und in ihm die Lunge ist.

Darf deshalb der Naturforscher den Geistesforscher für widerlegt halten, wenn die Geisteswissenschaft sagt: Trotz allem, was da angeführt wird, ist das, was sich mit deiner Seele zuträgt, bestimmt, geistig-seelisch bestimmt in rein geistiger Art durch das, was die Seele in früheren Leben erlebt hat, trotz alledem ist das ganze Schicksal des Men­schen durch das bestimmt, daß der Mensch in früheren Leben selbst dieses Schicksal vorbereitet hat? Nein, der Naturforscher darf nicht den Geistesforscher, der eine solche Be­hauptung macht, für widerlegt halten. Es darf der Naturforscher, der da sagt: Der Mensch, welcher da vor mir steht, lebt in diesem Augenblicke dadurch, weil außer ihm die Luft und in ihm die Lunge ist, den Geistesforscher eben­sowenig für widerlegt halten, wie er denjenigen für wider­legt halten darf, welcher ihm sagt: Nein, deshalb lebt er nicht, sondern er lebt in diesem Augenblicke durch etwas ganz anderes; dieser Mensch wollte sich einmal erhängen,

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und er wäre ganz gewiß bei seinem damaligen Versuch des Erhängens mit dem Tode abgegangen, wäre ich nicht dazu­gekommen. Ich habe ihn aber abgeschnitten, und deshalb lebt er jetzt.

Hieran sehen wir also, wie die objektive Wahrheit, daß der andere nur deshalb lebt, weil außer ihm Luft und in ihm Lungen sind, dem Tatbestand nicht widerspricht, daß er in diesem Augenblicke nur deshalb lebt, weil ihn der andere abgeschnitten hat! Ebensowenig, wie diese letztere unwiderlegliche Wahrheit in Widerspruch steht mit der Er­kenntnis des Naturforschers, daß der Mensch lebt, weil Luft und Lungen vorhanden sind, ebensowenig steht das, was die Naturwissenschaft zu sagen hat, in Widerspruch mit dem, was die Geisteswissenschaft vorzubringen hat: daß die letzten, geistigen Gründe für das Dasein des Menschen in den wiederholten Erdenleben liegen.

Da handelt es sich darum, daß der Blick in richtiger Weise auf das Richtige gelenkt werde, und da können wir als ein gutes Beispiel geradezu die Sprache ins Auge fassen. Jeder Geistesforscher, der in die Tiefen der Dinge eindringt und die Naturwissenschaft versteht, kann begreifen, daß man leicht versucht sein kann, zu sagen: Der Mensch kann sprechen, weil er in seinem Gehirn ein Sprachzentrum hat. Das ist ganz gewiß richtig. Aber ebenso richtig ist es auch, daß dieses Sprachzentrum des Gehirnes erst zu einem leben­digen Sprachzentrum dadurch geformt ist, daß überhaupt eine Sprache in der Welr existiert. Die Sprache hat das Sprachzentrum geschaffen. Ebenso ist alles, was an Forma­tionen des Gehirnes und des ganzen organischen Apparates des Menschen existiert, durch das Geistig-Seelische geschaffen worden. Dieses hat erst in die unbestimmte Menschenmate­rie das eingeprägt, was geistiges Leben ist. Daher haben wir das eigentlich Schöpferische im menschlichen Seelenkerne,

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in dem Geistig-Seelischen zu suchen. Wir haben nicht das Geistig-Seelische als ein Ergebnis des Gehirnes anzu­sehen, sondern umgekehrt: das Gehirn mit seiner feinen Bildung als ein Ergebnis des Geistig-Seelischen.

Wenn wir das menschliche Leben betrachten, dann zeigt es sich uns sogar in jedem Punkte so, daß wir durch eine gesunde Lebensbetrachtung das eben Gesagte erhärtet füh­len. Fassen wir doch das einmal ins Auge, was wir nennen können menschliche Entwickelung über das Gattungsmäßige hinaus, was sich im Menschen also auch dann noch ent­wickelt, wenn sozusagen die Kräfte innerhalb der Ver­erbung voll ausgebildet sind, wenn er mannbar geworden ist, um durchaus die Kräfte in sich zu tragen, die ein Wesen seinesgleichen hervorbringen können. In ganz anderer Art zeigen sich uns die Seelenkräfte, welche die menschliche Entwickelung ausmachen, wenn wir sie denjenigen Kräften gegenüber betrachten, welche das ganze Menschenleben hin­durch als die vorhanden sind, die sich zum Beispiel in der Erhaltung der Gattung, in der Fortpflanzung ausprägen. Innerhalb dessen, was in den Fortpflanzungskräften liegt, sehen wir, wie sich sozusagen alles von innen nach außen entfaltet, wie der Mensch durch die Kräfte, die auf diesem Gebiete spielen, Wesen seinesgleichen neben ihm hervor­bringt, das heißt also wie das, was in ihm ist, den Weg nach außen macht. Den genau umgekehrten Weg nehmen die Kräfte, welche der inneren menschlichen Entwickelung angehören. Man muß nur überhaupt Geistiges als Wirk­liches ansehen können. Dann wird man die Betrachtung, die jetzt angestellt werden soll, von vornherein als eine berechtigte hinnehmen.

Wie leben wir unser Leben hin, wenn wir das inner­lich Seelische ins Auge fassen? Im gerade entgegengesetzten Sinne leben wir es, als wir das Leben innerhalb der Gattung

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hinleben: in der Gattung geschieht alle Entwickelung nach außen, in dem individuellen Leben geht alle Entwickelung nach innen. Das geht so vor sich, daß wir das, was von außen an uns herantritt, in uns aufnehmen, in uns verar­beiten, und nicht nach außen drängen wie bei der Fort­pflanzung, sondern daß wir das, was wir so durchleben, immer intensiver und intensiver in uns selbst konzentrieren, es immer intensiver sozusagen seines Charakters als Außen­welt entkleiden und zum Inhalt unseres eigenen Ichs machen.

Wer das menschliche Leben unbefangen betrachtet, wird finden, wie es zum Beispiel unserem Seelenleben unmöglich wäre, jemals in einem Augenblicke alles, was die Seele durchlebt hat, woran sie sich erinnern kann, wirklich jeweilig in der Erinnerung zu haben. Denken wir uns, daß irgendeiner der hier sitzenden Menschen in diesem Augenblicke in seiner Seele alles lebend haben sollte, was jemals an Begriffen, Vorstellungen, Empfindungen, Affekten und so weiter in der Seele gelebt hat. Das wäre eine reine Unmöglichkeit. Aber ist das, was wir früher durchlebt haben, was wir innerlich seelisch aufgenommen haben, deshalb verloren­gegangen, weil wir uns in diesem Momente nicht daran erinnern können? Es ist nicht verloren. Wenn wir unser Seelenleben in aufeinanderfolgenden Zeitmomenten ver­gleichen, so werden wir finden, daß vielleicht wichtiger als das, woran wir uns erinnern, dasjenige ist, was wir schein­bar vergessen haben, was aber an uns gearbeitet hat und uns zu einem anderen Menschen gemacht hat.

Wir sind ja im Laufe unserer Entwickelung immer ein anderer Mensch, fühlen uns mit immer anderem Inhalt durchtränkt. Wenn wir uns einmal beobachten, wie wir jetzt sind, und uns vergleichen mit dem, was wir etwa vor zehn Jahren waren, so werden wir nicht leugnen können, daß wir ein anderer Mensch sind, und daß das, was dies

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bewirkt hat, die verarbeiteten Erlebnisse sind, was in uns hereingeströmt ist, von uns aufgenommen worden ist und gerade den entgegengesetzten Weg gemacht hat als die Kräfte, welche zur Fortpflanzung dienen. Wir vernichten gleichsam mit unserm Anschauen, mit unserm vorstellungs­mäßigen Erinnern dasjenige, was wir erleben, nehmen es aber dafür in unser Ich herein. Unser Ich wird ein fort­während anderes. Daher können wir sagen: Eine genaue Lebensbetrachtung zeigt uns, wie dieses Ich sich das ganze Leben hindurch verändert, und wie das, wodurch es sich verändert hat, die aufgenommenen Erlebnisse sind. Wir fühlen, wie das Ich innerlich voller wird, sich immer mehr und mehr durchkraftet, immer reicher und reicher wird als es war, da wir jugendlich ins Leben getreten sind. Dem liegr eine sehr bedeutsame Erscheinung des Lebens zugrunde, die gewöhnlich nur nicht genug beachtet wird.

Goethe, der tiefe Lebenskenner, der das Leben vor allen Dingen so ansah, wie es sich ihm in seiner eigenen Persön­lichkeit darlegte, sprach den Satz aus: Im Alter werden wir Mystiker. Was wollte er damit sagen? Was heißt «Mystiker werden» im Goetheschen Sinne? Wir müssen da aus diesem Satze entfernen, was ihm an ungeklärten, nebelhaften Vor­stellungen anhaftet. Goethe meinte, daß der Mensch, indem er immer reifer und reifer wird, dasjenige immer weniger und weniger hat, was die Welt ihm äußerlich darbietet, sondern die Kräfte des Erlebens aus den Schächten der eige­nen Seele heranziehe, in die er sie hat hinuntertauchen lassen. «Der Mensch wird Mystiker» heißt: seine Seele ist immer voller und voller geworden, hat immer mehr und mehr Kräfte in ihrem Innern beschlossen.

Sehen wir genauer zu, wie das ist, was so unser Seelenkern in unserem Innern vereinigt hat, wie er das, was er erlebt hat, aufgenommen hat und was er daraus gemacht

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hat, dann können uns gerade diejenigen, welche unabhän­gig von irgendeinem Lebensalter Mystiker geworden sind, ein wenig auf die Fährte bringen, was eigentlich da in der menschlichen Seele vorgeht. Fragen wir bei den Mystikern an! Wovon reden die Mystiker am allermeisten? Von einem «zweiten Ich», von einem «höheren Menschen» im Men­schen, davon, daß in diesem menschlichen Ich, welches von Jugend auf mit uns heranwächst, ein zweites Platz greifen kann, welches viele Mystiker als ein «göttliches» inter­pretieren. Aber darauf kommt es nicht an, sondern darauf, wie sie gefühlt haben, daß mit dem Heranwachsen des Menschen etwas heranreift wie ein zweiter Mensch, den er festhält, der sich in ihm konzentriert. Wir sehen das genau Entgegengesetzte wie bei der Fortpflanzung, daß ein zwei­ter Mensch geboren wird neben dem ersten, daß der zweite abgestoßen wird: was als das «zweite Ich» wird, das ist nichts, was der Mensch von sich abstößt, sondern was er immer mehr und mehr in sich konzentriert.

So können wir in der Tat sagen: Indem der Mensch sein Leben durchlebt, gestaltet er in seiner Individualität etwas aus, was die entgegengesetzte Richtung nimmt, als die Fort­pflanzungsrichtung ist. Er gebiert nichts aus sich; er kon­zentriert etwas in sich, läßt nicht aus seinem Ich etwas her-austreten, sondern durchtränkt etwas in sich, was der My­stiker ganz gut als einen zweiten Menschen bezeichnet, welcher sich gleichsam innerhalb der Haut des ersten Men­schen ausgestaltet und immer mehr und mehr geistig-seelische Bestimmtheit erlangt. Das ist beim einen Menschen mehr, beim anderen weniger naheliegend; aber der Sinn des werdenden Menschen beruht darauf, daß wir einen entgegengesetzten Keimprozeß durchmachen, wo wir nicht entfalten, sondern im Gegenteil etwas in uns hineinkon­zentrieren. Nennen wir die Fortpflanzungsrichtung eine

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Evolution, eine Entwickelung, so können wir das, was da das Ich durchmacht, eine Involution, eine Einwickelung, eine innere Gestaltung der Erlebnisse nennen. Und es ist selbst­verständlich, daß die innere Spannkraft, welche das Ich, das herangewachsen ist, als zweites Ich in sich trägt, am größten ist, wenn wir am Ende unseres physischen Lebens sind, wenn wir also durch die Pforte des Todes schreiten.

Wenn wir das einmal prüfen und uns genauer ansehen, was sich so als ein zweites Ich ausgestaltet hat, dann müssen wir allerdings sagen: Der Mensch ist nicht immer geneigt, sich dieses genauer anzusehen. Das Leben nimmt ihn in Anspruch, und er lenkt nicht die genügende Aufmerksam­keit auf das zweite Wesen, das er da ausgestaltet. Wenn er aber die genügende Aufmerksamkeit darauf verwendet, dann wird er finden, daß dieses zweite Wesen ganz be­stimmte Eigenschaften hat, vor allem einen bedeutsamen Drang in sich trägt, selbständig und frei zu sein gegenüber dem, was wir im weiteren Leben aufnehmen können. Im weiteren Leben leben wir in einem gewissen Sprachzusam­menhange. Dadurch haben unsere Begriffe immer eine be­stimmte Färbung von diesem Sprachzusammenhange. Was wir aber im Innern entwickelt haben, das strebt darnach, sich von dem freizumachen, was nur ein bestimmter Sprachzusammenhang geben kann, und eine Lebensanschauung auszugestaiten, die frei und unabhängig von einem jeglichen Sprachzusammenhange ist. Hinauswachsen wollen wir über das, was ein bestimmter Sprachzusammenhang geben kann, und damit wachsen wir auch über das hinaus, worin wir von Jugend an heranwuchsen. Da müssen wir uns von Ju­gend an zum Beispiel schon eine gewisse Gestaltung des Ohres entwickeln. Von dem, was wir uns in unserem Ich heranentwickeln, merken wir, daß es etwas ist, was immer freier und freier werden will von der äußeren Körperlichkeit.

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Einen neuen Menschenkeim bilden wir heran, der unabhängig ist gegenüber dem, der sich aus unserer äußeren Körperlichkeit gestaltet hat, wenn der Mensch erwach­sen ist.

Das ist es, worauf die Geisteswissenschaft die Seele hin­lenken will: daß sich aus dem menschlichen Ich im Laufe des Lebens ein zweites Ich ausgestaltet, dessen Wesen ge­rade darin besteht, daß es sich um so voller, um so inten­siver fühlt, je unabhängiger es sich fühlen kann von dem, was seit der Jugend herangewachsen ist. Und wenn man dieses in unserem Ich gestaltete zweite Ich genauer ins Auge faßt, dann wird man sehen, daß es so in sich kräftebegabt ist, daß wir etwa sein ganzes Wesen damit charakterisieren können, daß wir sagen: Dieses Ich trägt die Kräfte in sich, um einen neuen, einen anderen Menschen zu gestalten als den, durch welchen es selbst herangebildet ist.

Es ist nicht eine Analogie, sondern nur verdeutlicht, wenn wir sagen: Das Ich, welches wir in uns haben, läßt sich mit dem Pflanzenkeime vergleichen, der sich von der Wurzel durch den Stengel und die grünen Blätter bis zur Blüte herangebildet hat. Dann ist er am meisten lebensbegabt und kann die Grundlage für eine neue Pflanze bieten. Da hat sich das ganze Pflanzenwesen im Keime zusammengezogen, und wenn der Keim reif ist, dann stirbt ab, was an Stengel, grünen Blättern und Blüte herangewachsen ist. So reift in uns heran ein geistig-seelischer Kern. Wie der Keim der Pflanze immer mehr und mehr heranwächst, wenn die Blätter verwelken und die äußere physische Gestalt der Pflanze dem Tode entgegengeht, so reift der geistig-seelische Kern im Menschen heran, indem das Außere immer mehr und mehr abstirbt, indem die Hüllen der Organe nach und nach welk werden und dem Tode entgegengehen. Daher haben wir einer richtigen Seelenbeobachtung gegenüber die

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eigentümliche Tatsache vor uns, die sich darin ausspricht, daß die inneren Spannkräfte eines neuen Ichs am stärksten sind, wenn wir durch die Pforte des Todes durchgehen. Da tragen wir die Kräftesysteme, die Kraftzusammenhänge durch die Pforte des Todes in eine Welt hinüber, welche nichts mit der Welt in unserem Leibe zu tun haben kann.

Wenn wir nun auch nicht weiter verfolgen wollen - was uns noch die folgenden Vorträge zeigen werden -, wie uns der Geistesforscher auch zeigen kann, was nun mit diesem im Ich ausgebildeten geistig-seelischen Kerne in einer rein geistigen Wek geschieht, welche der Mensch in einem Leben durchlebt, das zwischen dem Tode und der nächsten Geburt liegt, so können wir doch sagen: In derselben Art, wie der Naturforscher zu Werke geht, wenn er die Pflanze ver­stehen will, können wir zu Werke gehen, wenn wir das menschliche Wesen verstehen wollen. Der Naturforscher wendet den Blick auf den Keim der Pflanze und sieht, wie nun der Keim ein neues Pflanzenleben gedeihen lassen kann. So sucht er die neue Pflanze vom Keime aus zu verstehen, wie der übriggebliebene Keim in einer neuen Pflanze wie­der erscheint. So kann auch der Geistesforscher den Men­schen betrachten, wie er durch die Geburt oder Empfängnis ins Leben hereintritt. Da sehen wir, wie der Mensch zunächst äußerlich nichts anderes zeigt, als daß sich seine Organe in einer gewissen Weise ausgestalten. Dann tritt jenes seelische Leben auf, welches wir schon dadurch charakteri­siert haben, daß wir sagten: wenn es auftritt, dann kommt für den Menschen auch der Augenblick, bis zu welchem er sich später zurückerinnern kann. Denn er wird sich sagen:

Ganz offenbar war ich vor diesem Zeitpunkt schon da, aber ich kann mich nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkte zurückerinnern. - Es ist das jener Zeitpunkt, wo der Mensch in die Lage kommt, sich als ein Ich zu fühlen; aber

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ganz zweifellos ist er schon vorher als geistig-seelisches Wesen vorhanden. Warum tritt, so kann die Geisteswissen­schaft fragen, die Möglichkeit, daß man sich zurückerinnern kann, erst von einem gewissen Zeitpunkt an auf? Waren die inneren Kräfte, welche die Rückerinnerung bewirken, vorher nicht da? Es wäre ein völlig unlogisches Denken, wenn wir das Geistig-Seelische erst bei dem Zeitpunkte beginnen lassen wollten, bis zu dem sich der Mensch später zurückerinnert. Der alltägliche Schlaf kann uns lehren, wie die geistig-seelischen Kräfte in uns leben, bevor die Rück­erinnerung erwacht.

Man hat heute allerlei sonderbare Vorstellungen über den Schlaf. Die richtige Vorstellung darüber wurde zum Teil schon in den Vorträgen über Wachen und Schlafen zutage gebracht. So hat man heute zum Beispiel die Vorstellung, daß der Schlaf nur das sei, was man nennen kann, er sei herbeigeführt durch die Ermüdung. Die Zuhörer der frü­heren Vorträge bitte ich darauf zu achten, daß die Geistes­wissenschaft genau sprechen will. Wenn jemand sagen wollte, die Geisteswissenschaft habe selber gesagt, daß der Schlaf von der Ermüdung herrührt, so ist das nicht ganz richtig, denn es wurde gesagt: der Schlaf isr dazu da, um die Er­müdung fortzuschaffen. Es kommt in der Geisteswissen­schaft immer darauf an, ganz genau die Dinge aufzufassen, weil es auch das Bestreben sein muß, die Dinge genau dar­zustellen.

Kann die Ermüdung die Ursache des Schlafes sein? Wer das behauptet, der wird durch das Leben selber widerlegt. Wer behauptet, der Mensch müsse nur schlafen, weil er er­müdet sei, der wird schon dadurch widerlegt, wenn er sich anschaut, oder wenn er berücksichtigt, wie der oft gar nicht ermüdete Rentier nachmittags in seinem Stuhle einschläft, trotzdem er gar nicht ermüdet ist. Und besonders wird er

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widerlegt, wenn er in Betracht zieht, wann am meisten geschlafen wird: nicht wenn man am meisten ermüdet ist, sondern in der Kindheit wird am meisten geschlafen. Die Dinge müssen nur richtig betrachtet werden.

Die Geisteswissenschaft zeigt nun, daß sowohl während des gewöhnlichen Schlafzustandes wie auch während des dumpfen Bewußtseinszustandes des Kindes diejenigen Kräfte, welche zum bewußten Erleben verwendet werden, in den Organismus hineingeschickt werden und dort ar­beiten. Die Kräfte, die wir vom Aufwachen bis zum Ein­schlafen verwenden, um Vorstellungen, Empfindungen und so weiter zu bilden, dieselben Kräfte arbeiten während des Schlaflebens an uns, aber so, daß die abgebrauchten Körperkräfte wieder ersetzt, wieder hergestellt werden. Da regene­rieren sie uns, bessern aus, was abgenutzt und abgebraucht ist, das heißt, sie formen, sie gestalten. Während sie im wachen Tagesleben deformieren, die Gestaltung auflösen, und während das wache Tagesleben gerade darin besteht, daß wir die Gestaltung auflösen, ist der Schlaf dazu da, um die Form wieder herzustellen, das heißt, am mensch­lichen Bau direkt zu arbeiten. Weil wir während des Schla­fes unsere Bewußtseinskräfte häufig verwenden zum Auf­bau gewisser verfallener Kräfte, deshalb entziehen sich uns diese Kräfte, und wir versinken in Bewußtlosigkeit. Weil wir im Beginne des Lebens, bevor der Augenblick eintritt, bis zu welchem wir uns später zurückerinnern können, die­selben Kräfte, die in uns leben und unser Bewußtsein aus­füllen, in den ersten Kindheitsjahren zur feineren Aus­gestaltung und Formung der Gehirnorganisation und der Blutzirkulation verwenden, deshalb entziehen sie sich dem bewußten Ich. Das Ich ist vorhanden während der Kind­heit, und es ist eine sonderbare Sache heute, wenn die Art, wie das Ich zuerst auftritt, als maßgebend gehalten wird

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für die Betrachtung des Menschen. Wiederum ein grandio­ser logischer Fehler!

Sie können heute ganze Werke durchgehen, in welchen es heißt: Wir sehen, wie das Selbstbewußtsein entsteht, wie es sich beim Menschen bildet. - Man kann sich etwas Verkehrteres nicht denken, und auf jedem anderen Gebiete würde man eine solche Betrachtung strengstens ablehnen, wie man sie zum Beispiel bei jemandem ablehnen würde, der sich Kenntnis von einer Uhr nur dadurch verschaffen würde, daß er darauf achtet, wie die Uhr entsteht. Auf keinem Gebiete ist das so. Ebenso sollte man mit Bezug auf das Selbstbewußtsein zeigen, wenn man verfolgen will, wie die Vorstellungen heraufrücken, wie grandiose Fehler in dieser Beziehung gemacht werden. Das kann erst der, welcher sich geisteswissenschaftlich auf die Dinge genauer einläßt. Man merkt es sonst nicht. Ich-Bewußtsein, Selbst­bewußtsein sind so, daß das allmähliche Wissen um das Ich, wie es sich heranentwickelt, nichts zu tun hat mit der Realität des Ichs selber. Vielmehr, weil sich das Ich, die menschliche Wesenheit, kontinuierlich fortentwickelt von den Zeiten, da es im Kinde noch nicht bewußt ist, bis zu den Zeiten, in welchen es dann bewußt erlebt wird, deshalb können wir nicht sagen: Es ist nicht da! Es ist da, es ge­staltet den Menschen aus in seiner feineren Gliederung. Ja, noch viel mehr: es gestaltet den Menschen aus in dessen Zusammenhange mit dem ganzen Menschenleben, was wir erst merken, wenn wir in einer mehr oder weniger selbst­losen Weise auf das menschliche Leben eingehen.

So wie der Mensch das Leben gewöhnlich betrachtet, kann er gegenüber seinem Schicksale sagen: Da trifft mich das eine oder das andere. Das eine ist mir sympathisch, das andere ist mir unsympathisch; das eine betrachte ich als ein Glück, das andere als ein Unglück, das eine als Beschleunigung,

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das andere als Verlangsamung meines Lebens. - Das ist aber doch nur eine oberflächliche Betrachtung, denn der Mensch könnte sich überzeugen, daß er in jedem Zeitpunkte seines Lebens gar nichts anderes ist, als sein konzentriertes Schicksal. Daß ich jetzt zu Ihnen spreche, was ist es? Es ist mein konzentriertes Schicksal. Es sprechen meine Lebens­erfahrungen zu Ihnen, und nichts anderes bin ich, als meine Lebenserfahrungen, als mein Schicksal, und wollte ich mein Schicksal herausziehen, so müßte ich ein Stück von mir selbst herausschneiden. Der Mensch ist das, was er aus sich selbst gemacht hat, was sein Schicksal ist, was er in einem gegebenen Augenblicke ist. Wir können gar nicht unser Ich von uns trennen, von unserem Schicksal, und das Ich als etwas anderes ansehen in bezug auf den Inhalt, als das Schicksal.

Nun sehen wir aber, indem wir als Kind in einen be­stimmten Lebenszusammenhang hineingestellt sind, wie wir nicht nur bestimmt sind durch unsere Anlagen, durch unser Ich, auch wenn wir noch nicht wissend sind, indem unser Ich an unserer Blutzirkulation arbeitet, und indem es auch noch nachher ganz bestimmte Anlagen und so weiter ent­wickelt, sondern wir sehen auch, daß wir in einen bestimm­ten Volkszusammenhang hineingestellt sind, daß wir Kin­der eines bestimmten Eltempaares sind, in einem bestimmten Klima aufwachsen und mit diesen oder jenen Menschen zusammenleben müssen. Dadurch sehen wir uns für das ganze Leben schicksalsmäßig bestimmt. Wenn wir prüfen, was wir bewußt verfolgen können und als unser Schicksal ansprechen können, so ist es selbstverständlich, daß wir dieses als das mit unserem Ich zusammenhängende Schicksal ansprechen müssen, wie wir durch unsere Verhältnisse in ein Leben hineingestellt sind, das entweder mühselig und beladen ist, oder von sorgenden Händen umgeben ist. Es

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hängen nicht nur unsere späteren Schicksale mit dem zu­sammen, was wir selbst gemacht haben, sondern auch ebenso die Schicksalsschläge, die uns aus dem Unbewußten heraus zukommen, und die wir nicht mit dem Bewußtsein ver­folgen können.

So werden wir auf den geistig-seelischen Wesenskern des Menschen geführt, der in sich alle die Kräftesysteme enthält, welche das Gehirn ausgestalteten, das Blutsystem und so weiter formten und uns dadurch bestimmten. Wir werden aber auch schicksalsmäßig bestimmt durch dasselbe Ich, das sich in einen bestimmten Lebenszusammenhang hineinstellt. Auf dem Gebiete der Naturbeobachtung gibt dies jeder zu, wenn er zum Beispiel sagt: Wenn ich eine Alpenpflanze betrachte, so weiß ich, daß die ganze Alpen-natur dazu gehört, und deshalb kann die Alpenpflanze nicht in der Ebene wachsen. Was in der Naturbeobachtung jeder zugibt, das braucht nur auf einen geistig-seelischen Wesenskern übertragen zu werden. Dann wird man sehen, daß der geistig-seelische Wesenskern, der seine Körperlich­keit mit ganz bestimmten Anlagen versieht, auf der einen Seite an seine Körperlichkeit angepaßt ist, sich diese Kör­perlichkeit aufsucht, sich in sie hineinbegibt, auf der an­deren Seite aber sich auch sein Schicksal aufsucht.

Wenn dieses Schicksal als hart empfunden wird und dann dem Menschen gesagt wird: Das hast du dir selber geschaffen, das hast du dir durch deinen geistig-seelischen Wesenskern mitgebracht, - wenn man so für das hart empfundene Schicksal dem Menschen im ganzen die Schuld zuschreibt, so beruht dieses Empfinden doch auf einer kurz­sichtigen Betrachtung. Ein tieferes Prinzip urteilt anders, und wie es urteilt, das können wir uns begreiflich machen, wenn wir uns ein Beispiel aus dem Leben zur Verähnlichung nehmen. Stellen wir uns vor, ein junger Mann hätte dadurch,

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daß sein Vater wohlhabend war, so hingelebt, daß er aus der Tasche seines Vaters lebte und nicht viel zu sorgen brauchte. Da verliert der Vater durch irgend etwas sein ganzes Vermögen, und der Sohn kann nun nicht mehr so dahinleben wie vordem. Er wird vielleicht sagen: Welch herbes Schicksal hat mich getroffen! Wie unglücklich bin ich! - Wenn er aber nun etwas lernt, wenn er vom Leben durchgehechelt wird und ein tüchtiger Mensch geworden ist, wird er dann, wenn er fünfzig Jahre ist, ebenso sagen? Nein, sondern jetzt wird er vielleicht sagen: Für mein per­sönliches Leben war jene Schicksalswendung ganz gut, denn sonst wäre ich vielleicht ein Taugenichts geworden; das Unglück meines Vaters hat zu meinem Glücke beigetragen.

Was vom Standpunkte der achtzehn Jahre aus gesagt werden kann, das ist nicht besonders weitsichtig; mit fünf­zig Jahren sehen wir weiter. Dasjenige, was das tiefere Lebenspminzip in uns ist, das sucht das Unglück auf, das sucht Not und Elend auf, weil wir nur durch die Besiegung der Hindernisse in Not und Elend zu einem Glück uns fortentwickelt haben und so etwas geworden sind, was wir sonst nicht geworden wären. Von einer höheren Warte aus gesehen, und sobald wir nur zugestehen, daß in einem Men­schen ein tieferer Wesenskemn lebt, der von Leben zu Leben geht und notwendig macht, daß wir das Leben von einer höheren Warte aus betrachten, stellt sich uns vieles sofort als begreiflich dar.

Wenn wir den Menschen so anschauen können, daß er für uns, dem Alter zugehend, ein Kräftesystem im Innern entwickelt, das nach einem neuen Menschen hingeht, der geradezu unabhängig ist von dem, was der Mensch äußer­lich aus seinem früheren Leben oder aus den Verhältnissen seines jetzigen Lebens entwickelt hat, und wenn wir sehen, wie er eine innere Spannung von Kräften durch die Pforte

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des Todes hindurchträgt, dann können wir sagen: Dieser Mensch kann unmöglich jetzt gleich wieder nach dem Tode ins Dasein treten. Warum denn nicht? Was würde ge­schehen, wenn er gleich wieder ins Dasein träte? Er würde die äußere Umgebung noch ähnlich derjenigen finden, aus welcher er soeben herausgegangen ist und von der er durch Entwickelung des inneren Seelenkernes frei werden wollte. Ebensowenig, wie der innere Seelenkern zu sich selber ein unmittelbares Verhältnis in der Weise hat, daß er gleich wieder «er selber» sein will, ebensowenig kann sich der Mensch selber wieder gleich nach dem Tode verkörpern, denn er würde in sich selber hineinwachsen. Das heißt aber, es kann sich der innere Seelenkern nur nach einer bestimm­ten Zeit wieder verkörpern. Während dieser Zeit lebt er in einer rein geistigen Atmosphäre, nicht in der physischen Welt. Was sich als geistiger Kern herangebildet hat, sich ebenso herangebildet hat, wie man den Pflanzenkeim inner­halb von Stengel, Blätter und Blüte sich heranbilden sieht, das lebt in einer geistigen Welt, und wird sich erst wieder dazu hingezogen fühlen, das, was es herangebildet hat, äußerlich zu verkörpern, wenn andere Verhältnisse ein­getreten sind; das heißt, wenn sich die Erde verändert hat so, daß der Mensch in andere Verhältnisse hineinwächst, damit er sich weiter gestalten kann.

Deshalb wird zwischen dem Tode und der nächsten Ge­burt so viel Zeit vergehen, daß wir zum Beispiel nicht wieder in dasselbe Sprachgebiet hineingeboren werden und daß sich auch die anderen Verhältnisse ringsherum geändert haben. Wir wissen, daß sich auf der äußeren Erde die Ver­hältnisse im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende ändern. Was sich aber in der Zwischenzeit ereignet hat, rein äußerlich in der Kultur, das lernen wir durch den Unter­richt, durch die Erziehung hinzu. So treten wir also aus

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einer bestimmten Epoche mit unserem geistig-seelischen Wesenskerne heraus mit den Kräften, welche wir frei machen wollten, und warten, bis neue Verhältnisse auf dem Erdenrund herbeigeführt sind. Das aber, was wir in der Zwischenzeit nicht mitmachen konnten, müssen wir durch Erziehung und Unterricht nachholen. Deshalb müssen Erziehung und Unterricht ergänzend zu demjenigen hinzu­treten, was wir in den besonderen Anlagen und Fähigkeiten haben, die wir aus der Frucht früherer Leben heraufbringen.

Nichts anderes konnte ich in der verhältnismäßig kurzen Zeit entwickeln als das, was man nennen kann einen Weg, um die menschlichen Seelenverhältnisse so zu betrachten, daß diese Betrachtung auf der einen Seite streng natur­wissenschaftlich ist, daß aber auf der anderen Seite in diesen geistig-seelischen Erlebnissen etwas Reales gesehen wird und daß gesehen wird, wie in der Tat in dem Menschen, wie er vor uns lebt, sich schon dasjenige heranentwickelt, was in einem nächsten Leben wieder auftritt als Keim, der die Vererbungskräfte wie auch die Kräfte der Umgebung heranzieht, um sich weiter auszubilden.

Nicht nur auf die theoretischen Lebensfragen, sondern auf Stärke und Sicherheit und auf die Kraft des Lebens kann eine solche Weltanschauung, wie sie aus der Geistes­wissenschaft hervorgeht, einen eminent gesundenden Ein­fluß gewinnen. Wer freilich sich mit der Geisteswissenschaft nicht bekannt machen will, der wird nicht einsehen, daß ein gesundes äußeres Leben in vielem Wesentlichen durch ein gesundes Seelenleben bedingt ist, daß das gesunde Seelenleben seine Kräfte ausstrahlt in die Körperlichkeit, und daß, wenn die Seele verödet ist und aus dem eigenen Innern nicht herausholen kann, was ihr Bewußtsein mit Befriedigung erfüllt, dann die Unbefriedigung, das Unzu­sammenhängende, das In-Rätseln-Schwebende des Seelenlebens

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sich in Nervosität und so weiter als ungesundend bis in die Körperlichkeit hineinprägt. Wer es nicht einsieht, wird es vielleicht erleben. Das Leben stellt die größten Rätselfragen, und an Fällen, die für jeden Bedeutung haben, spielt sich das ab, was man so ausdrücken kann, daß man fragt: Wo anders rühren gewisse Krankheitserscheinungen eines Lebens her, das mit sich selber nicht zufrieden ist, als daher, daß das Seelenleben nicht gesundend, nicht vollinhaltlich ist und daher nicht gesundend ausstrahlt auf die Leiblichkeit? - Wer aber so den gesundenden Einfluß eines gesunden Seelenlebens auf das Leibliche in Betracht ziehen mag, der wird sich auch das Folgende sagen können.

Wenn man in unserer Zeit immer wieder und wieder auf die vererbten Eigenschaften hinweist und bei dem oder jenem, zum Beispiel in bezug auf das, was wir als Krank­heitsanlagen in uns fühlen, immer wieder sagt: Das haben wir von den Vorfahren vererbt, das können wir nicht ändern -, dann bedeutet dieser Gedanke etwas, was uns im tiefsten innern Seelenleben niederdrücken muß und eine De­pression des Seelenlebens bedeutet, die sehr bald auf das äußere Leibesleben einen ungünstigen Einfluß ausüben und von dem Betreffenden als etwas Herabstimmendes emp­funden werden muß, was nicht zu ändern ist, weil es in der rein physischen Vererbungslinie liegt. Wer aber aus der Geisteswissenschaft heraus die Überzeugung gewinnen kann, daß das, was in ihm lebt, nicht allein ein Zusammenhang der vererbten Merkmale und vererbten Kräfte ist, sondern etwas, was als geistig-seelischer Kern von Leben zu Leben geht, der kann, wenn die Geisteswissenschaft für ihn nicht nur eine Theorie ist, sondern etwas, was sein Leben durch­tränkt, sich dann immerzu darauf besinnen, daß gegenüber allen vemerbten Merkmalen und Kräften sein geistig-see­lischer Kern lebt, aus dem er sich die Kräfte holen kann,

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durch die er Sieger werden kann, auch wenn die Verer­bungslinie noch so sehr nach einer Dekadenz weisen sollte.

Das Bewußtsein, das man aus der Geisteswissenschaft heraus gewinnen kann, beantwortet nicht nur Lebensrätsel, die theoretisch sind, sondern beantwortet alle Fragen, die an das ganze Gemüt herandringen als Rätsel, die wir be­antwortet haben müssen, um in unserer Seele zu leben. Wenn wir nichts wissen von jenem geistig-seelischen Kerne, der von Leben zu Leben eilt, dann fühlen wir uns unter das Joch der Vererbung gebeugt, das uns bedrückt und schwach macht. Stark und kräftig fühlen wir uns erst und leben uns dar als geistig-seelische Menschen, wenn wir in der Verfassung unseres geistig-seelischen Wesenskernes auf­recht stehen und uns sagen können: Unversieglich sind die Kräfte unseres geistig-seelischen Wesenskemnes, denn sie erst sind es, welche das zusammenfassen, was uns in der Ver­erbungslinie gegeben ist, und durch sie können wir das, was scheinbar dem Niedergang geweiht ist, aus dem Zen­trum unserer Seele heraus wieder zum Aufstieg bringen. Da schreiben sich die Lösungen der Geisteswissenschaft in das Leben selber hinein. Dann erst wird die Geisteswissen­schaft ihre rechten Früchte tragen, wenn sie sich in dieser Weise in das Ganze der Seelengesinnung und Seelenstim­mung hineinfügen kann, und wenn wir stark werden, nicht nur gescheit werden durch Geisteswissenschaft. Aber wir werden auch in unserem Denken tüchtiger, namentlich in bezug auf gewisse feinere Lebensunterscheidungen, und ge­winnen an Kraft und Urteil für eine feinere Lebensauf­fassung.

Nur ein Beispiel dafür! Wenn diejenigen, welche alles gern auf Vererbung zurückführen wollen, irgendeinen be­deutenden Menschen in bezug auf seine Vorfahrenreihe untersuchen, so sagen sie wohl: Da kann man sehen, daß

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von dem, was dieser Mensch an sich zeigt, bei dem einen Vorfahren diese, bei einem anderen jene Eigenschaft sich findet. - Und man sagt dann: Das hat sich summiert und vererbt, und da sind dann die vererbten Merkmale in ein Seelenwesen zusammengeflossen. - Man prägt dann den Satz: So sieht man, daß das Genie am Ende einer Verembungsreihe steht und sich vererbt hat aus den Vor­fahren.

So ausgedrückt, ist damit sozusagen ein Gedanke über­quert. Denn wer würde bei diesem Gedankengange etwas bewiesen haben? Man würde nur etwas bewiesen haben, wenn man zeigen könnte, daß das Genie am Anfange einer Vererbungsreihe stünde, nicht aber, wenn es sich am Ende derselben zeigt. Denn wenn es am Ende einer Vorfahrenreihe auftritt, so beweist das nichts anderes, als, mit Ver­laub zu sagen: Wenn ein Mensch ins Wasser gefallen ist und herauskommt, so ist er naß. Es beweist nur, daß er durch ein bestimmtes Elemenr durchgegangen ist und von diesem etwas angenommen hat, wie der Mensch, wenn er aus dem Wasser gezogen ist, naß ist. Wollte man etwas durch die Vererbungslinie beweisen, so müßte man zeigen, daß das Genie am Anfange und nicht am Ende einer Vererbungsreihe steht. Das wird man aber hübsch bleiben lassen, denn die Welt spricht dagegen.

Überall die Fragen richtig stellen und beantworten, das ist es, was aus dem Geisteswissenschaft folgt. Dann wird man einsehen, daß die Geisteswissenschaft nicht der Naturwissenschaft widerspricht, aber auch, daß eine naturwissen­schaftliche Antwort auf die großen Lebensrätsel nicht aus­reicht. Die größte Lebensweisheit wird wohl aus der Geistes­wissenschaft dann gezogen werden, wenn einmal die ganze menschliche Erziehung in das Licht der Geisteswissenschaft gestellt werden kann, wenn der Mensch so heranwächst,

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daß sein Heranwachsen ein Bewußtwerden des geistig-see­lischen Kernes bedeutet.

Dann wird der geistig-seelische Wesenskern mit dem Menschen zwischen Geburt und Tod so heranwachsen, daß nicht nur in Realität jene Vollinhaltlichkeit der Seele ein­tritt, von welcher vorhin gesprochen worden ist, sondern daß sich die Seele auch des zweiten Ichs bewußt wird, jenes Keimes, der immer mehr und mehr sich konzentriert. Dann wird die Bewußtheit übergehen in eine andere Lebensform. Dann wird der Mensch zwar sehen, wie die Zeit heran­kommt, da die Haare bleichen, das Gesicht sich runzelt und die Kräfte nachlassen, welche die äußeren Organe bergen. Aber er wird dann auf das blicken, was er von Jugend an heranwachsen gesehen hat, was ihm Rest und Erbschaft eines früheren Lebens ist und wird fühlen, wie man beim Pflanzenkeim fühlt, wenn die abfallenden Blätter das Ende der Pflanzengestalt ankündigen, der Keim aber immer mehr und mehr sich erstarkt. So wird der Mensch sich fühlen als Keim eines neuen Lebens und sich sagen: Was von dir abfällt, das muß durch den Tod gehen, denn darin kannst du nicht bleiben; denn ein anderes muß es sein, was dir Hülle sein kann, einen anderen Leib mußt du dir aufbauen, denn du hast es schon in dir vorbereitet. In sich wird der Mensch das Leben heranreifen fühlen, das er nach fernen Zeiten wieder zu durchleben hat.

Daß die Lebenswiederholungen nicht ohne Anfang und ohne Ende sind, und wie die Frage sich beantworten wird, inwiefern diese Inkarnationen des menschlichen Wesens­kernes einen Anfang und ein Ende haben, das soll später beantwortet werden.

Wenn dem Mensch so das Leben als Keim zu einem fol­genden Leben berrachtet, dann wird er auch sehen, wie dieses wieder einen Keim ausbildet. Dann hängt er nicht

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an einer Unsterblichkeitslehre, die er gleichsam philoso­phisch untersucht, sondern dann setzt er Leben an Leben, das er blühen und gedeihen sieht, und durchdringt sich mit dem Bewußtsein der Unsterblichkeit, weil er weiß, daß aus jedem Leben wieder ein neuer Lebenskeim entstehen muß. In dem immer mehr und mehr wachsenden und Hoffnung ermegenden geistig-seelischen Lebenskeim beantwortet sich der Mensch die Fragen nach dem Lebens- und Todesrätsel Er beantwortet sie sich nicht nur theoretisch, sondern im lebendigen inneren Erleben ergreift er, erfaßt er, erlebt er Unsterblichkeit und sagt nicht bloß: Ich habe die Unsterb­lichkeit begriffen -, sondern er erfaßt die Seele in ihrer Wesenheit als ein Wesen, welches nicht anders sein kann als unsterblich, weil sie aus jedem Leben einen neuen Lebenskeim entwickelt, und der Mensch innerlich das Heranreifen dieses neuen Lebenskeimes schaut. Daher dürfen wir sagen: Die Geisteswissenschaft beantwortet die Frage nach dem Lebens-und Todesrätsel nicht nur theoretisch, gibt nicht nur eine theoretische Gewißheit, sondern sie kann unser Leben inner­lich so umwandeln, daß wir mit dem Erfassen der Unsterb­lichkeit Kräfte sammeln und fühlen, was von Leben zu Leben geht, und damit durch alle Leben geht.

So wandelt sich auf diese Weise Theorie in Lebenspraxis, das Unsterblichkeitsrätsel in ein Erfassen der Unsterblich­keitsfrage selbst. Das isr immer die beste Frucht der Geistes­wissenschaft, wenn sie sich aus der bloßen Betrachtung um­wandelt in etwas, was dann in uns selber lebt. Und man darf sagen: Wenn die Geisteswissenschaft vom Menschen in diesem Sinne erfaßt wird, dann ist sie nicht nur etwas, was ihm etwas begreiflich macht, sondern etwas, was sich in seine eigene Seele wie eine Lebenskraft senkt und in ihm lebt.

Daher dürfen wir am Schlusse die heutige Betrachtung

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darin zusammenfassen, daß wir sagen: Die Geisteswissen­schaft lehrt uns, indem sie auch für die menschliche Seele lebendig bewahrheitet, was uns ein Blick über die ganze übrige Welt lehrt, die große Anschauung von dem immerwährenden Verwandlung des Lebens, zugleich aber auch von der immer und immer sich uns zeigenden Dauer in allem Wandel; sie lehrt uns das Ewige in allem Zeitlichen. Wie in eherne Tafeln schreibt sich in unsere Seele die große Lebenserfahrung: Alles, was da lebt im Weltenall, es lebt nur, indem zu neuem Leben den Keim in sich es schafft. Und die Seele, sie ergibt sich nur dem Altern und dem Tode, um unsterblich zu stets neuem Leben hemanzureifen!

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NATURWISSENSCHAFT UND GEISTESFORSCHUNG Berlin, 12. Dezember 1912

Unter den Vomwürfen, welche man in der Gegenwart gegen Geisteswissenschaft und Geistesforschung erhebt, ist wohl einer der bedeutendsten derjenige, daß diese Geisteswissen­schaft oder Geistesforschung im Gegensatz stünde zu den gut gesicherten Ergebnissen der Naturwissenschaft, jener Naturwissenschaft, welche geradezu, und mit vollem Recht, der Stolz unseres gegenwärtigen Geisteslebens, ja, unseres ganzen gegenwärtigen Kulturlebens genannt wird. Sollte dieser Vorwurf begründet sein, daß Geisteswissenschaft und Geistesforschung sich gegen diese gesicherten Ergebnisse der Naturwissenschaft in einen Gegensatz zu stellen beabsich­tigten, so - man kann dies wohl sagen - stünde es wahrlich schlecht um diese Geistesforschung. Nicht nur um ihre Mög­lichkeit, den Zugang zum Verständnis und zum Herzen des Gegenwartsmenschen zu finden, sondern es stünde wohl schlecht um ihre Berechtigung überhaupt. Deshalb darf wohl zu alledem, was in den bisherigen Vorträgen über das Verhältnis von Geistesforschung zur Naturwissenschaft gesagt worden ist, heute noch diese besondere episodische Betrachtung eingefügt werden über die Beziehung von Gei­stesforschung zur Naturwissenschaft, bevor eben das nächste Mal eine im eminenten Sinne nur der Geisteswissenschaft zugängliche Gestalt betrachtet werden soll: die Gestalt Jakob Böhmes.

Geistesforschung, so wie sie hier in diesen Betrachtungen

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gemeint ist, stellt sich ohne Zweifel als etwas dar, was sich gegenüber den Denkgewohnheiten und den geistigen Be­strebungen unserer Gegenwart vielfach als etwas Neues aus­nimmt, als etwas, das aus diesen gewohnten Denkarten, aus den Vomstellungsweisen des gegenwärtigen Geisteslebens her­ausfällt. Und die Frage liegt ja nahe: Wie kommt es, daß ge­rade in einer Zeit, in welcher der gebildete Mensch, der sich für Geistesfragen überhaupt interessiert, alle Hoffnung auf das setzt, was die Naturwissenschaft geben kann - wie kommt es, daß in einer solchen Zeit sich diese Geisteswissenschaft Geltung verschaffen will, daß sie sich mitten hineinstellt in den Triumphzug des naturwissenschaftlichen Denkens?

Es wird sich vielleicht diese Frage am leichtesten beant­worten lassen, wenn man ein wenig Ausschau hält nach dem Geistesleben im letzten Drittel oder vielleicht in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Das ist ja die Zeit, in welcher nicht nur glanzvoll, Sieg auf Sieg emlebend, die naturwissenschaftliche Forschung zu ihrer Höhe aufgestiegen ist, sondern es ist auch die Zeit, in welcher die Hoffnungen immer größer und größer wurden, daß auch alle möglichen Auskünfte über die Bedeutung dessen, was man Geist und Geistesleben nennen kann, von seiten der Naturwissenschaft her kommen müßten. Wer mit vollem Bewußtsein das Geistesleben im letzten Drittel des neun­zehnten Jahrhunderts mitgemacht hat, oder sagen wir, wer in der Lage war, die großen Hoffnungen dieses Geistes­lebens des neunzehnten Jahrhunderts auf sich wirken zu lassen, zum Beispiel in den achtziger Jahren des neuzehnten Jahrhunderts, der konnte damals bemerken, wie aus allen Gebieten naturwissenschaftlicher Forschung die Fragen nur so herankamen, jene Fragen, welche alles menschliche Den­ken geradezu auf eine neue, mit dem Alten brechende Basis schienen stellen zu müssen.

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Es soll nur auf eines aufmerksam gemacht werden. In den siebziger, achtziger Jahren konnte der für das Geistes­leben sich Interessierende die Bekanntschaft mit dem machen, was damals auf naturwissenschaftlichem Felde mehr oder weniger neu war, zum Beispiel mit der mechanischen Wärmetheorie. Der im naturwissenschaftlichen Erkennen Drinnenstehende sah damals in so etwas wie der mechanischen Wärmetheorie eine ungeheure Errungenschaft des mensch­lichen Geistes. Vielleicht aber interessiert uns der Stand­punkt eines solchen weniger als der Standpunkt eines Men­schen, dem es vor allem um die geistige Erkenntnisfrage zu tun war. Was sah ein solcher?

Ein solcher hatte vielleicht bemerken können, daß unter den mancherlei Sinneseindrücken, welche auf den Menschen beim Gebrauch seiner Sinne einstürmen, die Empfindung dessen sei, was man eben als Wärme oder, sagen wir, als Wärme und Kälte bezeichnet. Wie die Farbe, wie das Licht und wie der Ton, so ist ja auch Wärme zunächst ein Sinneseindruck. Der Mensch fühlt durch seine Sinne, wie die Welt um ihn herum sich in einem gewissen Wärmezustande be­findet, und er nimmt diese Wärme zunächst wahr als einen Eindruck auf seine Empfindung. In dieser Zeit, von der eben gesprochen worden ist, betrachtete man es als eine durch die damaligen Forschungen emwiesene Tatsache, daß das, was der Mensch die Wärme nennt, wovon er glaubt, daß es so, wie es sich in seinem Empfinden ausnimmt, draußen im Raume ausgebreitet ist, die Körper durchdringt und auf die Wesen wirkt, daß dieses objektiv draußen in der Natur nichts anderes sei als Bewegung der kleinsten Körperteile. Also man konnte sich sagen: Wenn du die Hand in laues Wasser steckst und einen gewissen Wärme-zustand wahrnimmst, so ist diese Empfindung eines Wärmezustandes nur Schein. Was dir da als der unmittelbare Eindruck

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erscheint, ist nur Schein, ist nur eine Wirkung auf deinen Organismus, die durch irgend etwas hervorgerufen wird, was draußen ist. Das ist nur eine Bewegungsart im kleinen; die Bewegung nimmst du nicht wahr. Die kleinsten Teile des Wassers sind in Regsamkeit, aber nicht die Reg­samkeit, nicht die Bewegung nimmst du wahr, vielmehr weil die Bewegung so schnell verläuft, nimmst du sie nicht als solche wahr, sondern sie macht auf dich den Eindruck dem Wärme. - Als damals Bücher erschienen wie zum Beispiel «Die Wärme, betrachtet als eine Art von Bewegung», galt das als eine große Errungenschaft der Zeit, und wir damals jüngeren Leute hatten zu studieren, wie sich die kleinsten molekularen Teile in einer Flüssigkeit, in einem Gase be­wegen, in ihrer Regsamkeit gegen die Wände stoßen, in ihrem Innern aneinanderstoßen, und man war sich klar, daß das, was da innere Regsamkeit ist, in der Empfindung den Schein dessen errege, was man die Wärme nennt.

Von da ging dann überhaupt eine gewisse Denkgewohn­heit aus, eine gewisse Art, die Naturerscheinungen zu be­trachten, und ich selbst erinnere mich noch, wie damals, als ich ein kleinem Junge war, mein Schuldirektor, begeistert von dieser naturwissenschaftlichen Errungenschaft seiner Zeit, alle Naturkräfte als solche, von der Schwere ange­fangen bis zurWärme und den chemischen und magnetischen Kräften und so weiter, nur als einen Schein betrachtete und das Wahre in jenen Bewegungen, in jenen feinen Bewe­gungszuständen im Innern der Körper sah. Die Schwere, die Falikraft, die Gravitation zum Beispiel sah jener Schul­direktor - Heinrich Schramm hieß er - nur als eine Be­wegung der kleinsten Teile der Körper an. Innerhalb einer solchen Naturbetrachtung war wirklich etwas, was einen dahin bringen konnte, zu sagen: So ist ja alles «Wirkliche» nur der, sagen wir, ins Unendliche ausgedehnte Raum, die

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in diesem Raume befindliche, in kleinste Teile gegliederte Materie und die Bewegungen dieser Materie! Und es konnte wohl die Hoffnung entstehen, daß man, wie man zum Bei­spiel Wärme, Elektrizität, Magnetismus und Licht als eine feine Regsamkeit kleinster Teilchen der Materie erklären könne, so auch einst würde die Denktätigkeit, die Seelen­tätigkeit erklären können als eine feine Regsamkeit jener Materie, welche den menschlichen oder tierischen Leib zu­sammensetzt.

Es kamen dann mancherlei Phasen in der Entwicklung naturwissenschaftlich-theoretischer Denkweise. Während man in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts zum Beispiel das Licht und die ganze Farbenwelt, wenn man Physiker war, als eine Art von Schein aufzufassen hatte und unendlich komplizierte, feine Regungen und Be­wegungen innerhalb der Materie und des Athers zu studie­ren hatte, stellte sich dann im Verlaufe der achtziger Jahre ein, daß man an diesen feinen Regsamkeiten irre wurde und sich mehr darauf beschränkte, die Erscheinungen, die Tatsachen, wie sie sich darbieten, selber ins Auge zu fassen, durch die Rechnung auszudrücken, sie zu beschreiben, und nicht so sehr zu spekulieren über das, was ja doch nichtwahr­nehmbar sein soll, sondern nur allem zugrunde liegen soll: über die feineren Regsamkeiten der Materie und des Äthers. Das war mehr auf physikalischem Gebiete.

Es war auf physikalischem Gebiete so, daß man keine rechte Möglichkeit sah, aus der Denkgewohnheit herauszu­kommen, die sich eben ergab, wenn man diese feinen Reg­samkeiten der Materie im Verhältnis zu irgend etwas be­trachtete, was möglich machen sollte, den Geist in seinem Unmittelbaren zu erfassen. Es hielt einen sozusagen aus der Naturwissenschaft heraus etwas zurück, den Geist in einer solchen Weise zu betrachten, wie das in den letzten Vorträgen

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hier geltend gemacht worden ist. Dazu kamen noch ganz andere Dinge. Wer damals in der naturwissenschaft­lichen Entwicklung drinnen stand, hatte es nicht nur mit dem eben Charakterisierten zu tun, sondern auch mit dem Niederschlage alles dessen, was zum Beispiel die großen Ent­deckungen Schleidens und Schwanns in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ergeben hatten, durch welche die kleinsten Teile, die Zellen, innerhalb des pflanzlichen und tierischen Organismus gefunden waren. Dadurch war zwar nicht die Wirklichkeit der Atome und Moleküle nach­gewiesen, aber es waren die organischen Formen auf kleinste Bausteine zurückgeführt, auf die Zellen, die in ihren Formen nur dem Mikroskop zugänglich waren. Dann war vorhan­den der Niederschlag dessen, was sich an den Namen Darwin knüpft, und man stand weiter unter dem Eindrucke der großen Tat Ernst Haeckels, der im Gange der sechzigerJahre die Theorie Darwins auch auf den Menschen ausgedehnt hatte.

So hatte man eine naturwissenschaftliche Betrachtungsart vor sich, welche beim Einfachsten in der pflanzlichen und tierischen Welt anfing und betrachtete, wie von den un­vollkommenen bis zu den vollkommeneren Wesen und bis herauf zum Menschen die einzelnen Organe selber in der Art sich immer vollkommener und vollkommener ergaben, daß man den Hervorgang der einzelnen Organe, welche komplizierter waren, aus den einfacheren durch Verglei­chung sozusagen feststellen konnte. Ein ungeheures Mate­rial an Kenntnissen wurde gesammelt. Die Breite und die Weite dieses Materials war wirklich so groß, daß zum Bei­spiel in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts einer der bedeutendsten vergleichenden Anatomen der Ge­genwart, Carl Gegenbaur, in seiner «Vergleichenden Ana­tomie» (1878) sagen konnte, es sei gerade in den letzten

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Jahrzehnten eine Unsumme von einzelnen Kenntnissen ge­sammelt worden, welche zeigen, wie verwandt die Lebe­wesen in bezug auf ihre Organe sind, und man müsse auf die Möglichkeit warten - so meinte Gegenbaur -, die Kennt­nisse zu «Erkenntnissen» zu erheben; und er versprach sich von der darwinistischen Methode, daß es möglich sein würde, zu zeigen, was die Vergleichung der Organe höchster Lebe­wesen mit denen weniger vollkommener Wesen unwider­legbar ergeben werde, daß auch eine im physischen Sinne so zu nennende Abstammung der vollkommenen Lebewesen von den unvollkommenen bestehe. So sah man gleichsam die Kette sich schließen in der Entwickelung von den un­vollkommenen Lebewesen bis hin zu den vollkommenemen, ja, bis herauf zum Menschen, und man konnte sich sagen, durch eine Amt Summierung demjenigen Kräfte und Tätig­keiten, die schon unten bei den einfachsten Lebewesen wal­ten, ja, sogar schon durch eine Summierung der Kräfte und Tätigkeiten in der leblosen Natur selber entstehe zuletzt das komplizierteste Wesen, das wir kennen, der mensch­liche Leibesbau.

Ungeheure Hoffnungen knüpften sich an dieses natur­wissenschaftliche Ideal. Wirklich stand es damals so, daß man schwer unterscheiden konnte zwischen dem, was natur­wissenschaftliche Tatsachen waren und dem, was man zu den Tatsachen hinzudachte, hinzuspekulierte, denn ein Un­terschied war für jeden, der gründlich dachte, zwischen den Tatsachen und den Theorien ja doch vorhanden. Der Unter­schied war nämlich vorhanden, daß man sich sagen konnte:

Wenn man so vorsichtig, so subtil zu Werke ginge, wie etwa Darwin selber, besonders in seinen früheren Jahren, zu Werke gegangen war, dann fand man ein ungeheures Material an gegenseitigen Beziehungen, an gegenseitigen Vergleichspunkten zwischen den einzelnen Lebewesen, von

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den unvollkommenen des Tier- und Pflanzenmeiches bis herauf zum Menschen. Aber es sei doch ein Unterschied - konnte man sich sagen - zwischen dem, was sich so als Tatsache dem Ähnlichkeit des äußeren Baues, auch als Tat­sache der Ähnlichkeit der innemen Vorgänge ergab, und dem, was man doch nur erdenken konnte: der Hypothese, der Annahme der Abstammung der vollkommenen Lebe­wesen von den unvollkommenen, denn diese Abstammung konnte man nach den bis jetzt bekannten Tatsachen nicht verfolgen. Man hatte die Summe der Lebewesen vor sich, vollkommenere und wenigem vollkommene. Die Abstam­mung als solche aber blieb füm den, der gründlich denken konnte, doch immer nur eine Hypothese, wenn er auf naturwissenschaftlichem Boden stehen bleiben wollte. Aber das Matemial war imponierend.

Was sich so aus der naturwissenschaftlichen Forschung ergab, drang tief in die Seelen ein, manchmal erschütternd durch das Großartige der Einblicke, die man gewinnen konnte. Dazu kam manches andere. Es muß beim heutigen omientierenden Vortrage auf manches einzelne hingewiesen werden. So muß hingewiesen wemden auf die gewaltige Entdeckung, wie sie zum Beispiel Helmholtz auf dem Ge­biete der Lichterscheinungen und der Wirkungen des Lichtes auf das menschliche Organ des Auges gemacht hatte, wie sie ebenfalls Helmholtz gemacht hatte in bezug auf Klang- und Tonerscheinungen und die Wirkung von Klang und Ton auf das menschliche Ohr, auf das menschliche Gehörorgan. Dadumch wam man bekanntgewomden mit dem früher ja geheimnisvoll gebliebenen Sehvorgange. Man lernte auch erkennen, was zum Beispiel im Ohre vorging, was für ein komplizierter Wunderbau, man möchte sagen, ein klavier­artiger Apparat im Ohre sich befindet. An Stelle von man­chem, was früher bloß Ausgedachtes schien, trat jetzt die

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genauere Erkenntnis des Baues der Organe des Menschen. Man konnte sich sagen: Was draußen nur Bewegung, Reg­samkeit ist, das wird wie umgewandelt - eine solche Um­wandlung ergab sich ja, wie wir eben gesehen haben, ganz wesentlich aus der mechanischen Wärmetheorie - durch das, was nun an Wunderbarem in den Organen aufgeklärt wurde in bezug auf das, was in den Seelen an Wahrnehmungen lebt. Und das innere Seelenleben baut sich ja zuletzt aus dem auf, was unsere Organe aus den Wimksamkeiten der Materie und des Raumes heraus gestalten.

Vielfach kann man eigentlich den ganzen geistigen Vor­gang, der sich damals in den Seelen abspielte, so bezeichnen, daß man sagen kann: Betäubt wurden die Seelen durch alles, was da im großen und im einzelnen gefunden worden ist. Man mußte sich sagen: Von alledem wußte eine frühere Zeit nichts. Es kamen einem manche Traditionen, welche über das menschliche Seelenleben vorhanden waren, jetzt hinfällig vor, wo man erst anfing, die Wirkung der Materie und ihrem Bewegungen auf den menschlichen Organismus zu studieren, im wahren Sinne des Wortes naturwissen­schaftlich zu studieren.

Für den Geisteswissenschaftler war das Ganze, sagen wir, weniger wichtig wegen der Einzelheiten, als deshalb, weil man sich gestehen mußte: Um in die weiten Perspek­tiven, welche da in eine Welt des rein Tatsächlichen hinein eröffnet werden, hineinzukommen, dazu gehört etwas, was man bei den alten Betrachtungen des Seelenlebens oder des Geisteslebens zunächst nicht vorhanden glaubt. In vielen Seelen, welche das alles im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts mitlebten, stieg etwa die folgende Empfin­dung auf. Da konnten sich die Seelen sagen: Gewiß, alte Zeiten haben manches zu denken gewagt über die großen Fragen, zum Beispiel über den Wechsel von Schlaf und

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Wachen, übem die Frage nach der Unsterblichkeit dem Men­schenseele, über die Fragen von Tod und Leben, übem den Umspmung des Daseins und so weiter. Abem wenn man ver­gleicht die ganze methodische Amt des Denkens, die ganze Art, wie geistig gefomscht worden ist in jenen alten Zeiten, aus denen solche Traditionen von Seelenforschungen heraufragen, sie vergleicht mit der stmengen, gewissenhaften Art modernen naturwissenschaftlichen Fomschens, dann steht das, was uns von jenen alten Zeiten überkommen ist, eben einfach zurück hinter dem strengen und gewissenhaften Me­thode heutiger naturwissenschaftlicher Forschung. Wenn auch dem Geistesforscher von den Resultaten der Natur­forschung nicht betroffen war, wenn er sich vielleicht auch gar nicht hinreißen ließ von den Resultaten, das eine wirkte gewaltig auch auf den Geistesforscher: die Stmenge des naturwissenschaftlichen Denkens, die Gewissenhaftig­keit, der ungeheure Wahmheitssinn natumwissenschaftlichen Denkens.

Gegenüber einer solchen Tatsache mußte sich in dem­jenigen, der es überhaupt mit Wissenschaft zu tun haben wollte, gleichgültig ob mit Naturwissenschaft oder Geistes­wissenschaft, der Trieb hemausbilden, der etwa dahin charak­terisiert werden kann: Wissenschaft im ernstesten Sinne des Wortes, die tonangebend sein kann für das Geistesleben der Gegenwart, kann ihm Heil überhaupt nur in jenem strengen Denken, in jenem wahmhaft gewissenhaften For­schen suchen, wie man es an der Naturwissenschaft lernen kann. Ein solchem Trieb verwandelt sich allmählich, und mußte sich auch in dem geisteswissenschaftlichen Forscher verwandeln, in eine Art von wissenschaftlichem Gewissen. Man konnte sich sagen: Gewiß, wie zu allen Zeiten, so hat auch in der neueren Zeit die Seele den Drang und den Trieb, ihre eigene Natur und Wesenheit kennenzulernen,

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kennenzulernen vor allen Dingen die Vorgänge, welche über Geburt und Tod hinausreichen. Aber Eindruck machen auf die Kultur unserer Zeit kann für denjenigen, der klar und unbefangen schaut, nur das, was nach dem Muster naturwissenschaftlicher Denkweise vor die Zeit hintritt. Man sah gewiß manches über allerlei seelische Fragen - man möchte heute schon sagen - auf dem geistigen Markte erscheinen. Man sah vieles, was wahrhaftig recht fern stand und steht von gewissenhafter, an der Naturwissenschaft herangebildetemDenkmethode; aber man konnte sich sagen:

Solche Dinge mögen durch die Leichtfertigkeit, durch die Bequemlichkeit des zeitgenössischen Denkens manchmal da oder dort eine Weile Eindruck machen, von irgendeiner Dauer kann ein solcher Eindruck nicht sein, denn selbst die Bequemsten werden sich zuletzt fragen: Was kann das an der Naturwissenschaft herangebildete gewissenhafte Den­ken zu demjenigen sagen, was über die geistige Welt an­geblich erforscht ist?

So stellte sich denn auch für die Seelenforschem das Be­dürfnis ein, ganz nach dem Muster der Naturwissenschaft zu forschen. Man möchte sagen eine Art Idealbild, das nur nicht zu Ende gekommen ist, ist die Psychologie, die Seelen-lehre des auch hier schon erwähnten Franz Brentano, die auf viele Bände berechnet gewesen ist. Von allen diesen Bänden ist aber nur ein einziger erschienen, der erste, im Frühjahr 1874. Und obwohl versprochen war, daß der nächste Band schon im Herbste desselben Jahres erscheinen sollte, ist er doch bis heute nicht erschienen.

Brentano ging nicht nach dem Muster demjenigen Seelen-forscher vor, von denen das letztemal gesagt worden ist, daß sie ganz ausschließen die großen Fragen zum Beispiel nach dem Wesen des Wechsels von Schlaf und Wachen, die Frage nach der Unsterblichkeit dem Menschenseele und

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dergleichen, sondern er wollte alle diese Fragen ganz nach dem Muster dem strengen naturwissenschaftlichen Methodik behandeln. Er scheiterte. Und warum scheiterte er? Franz Bmentano konnte sich nie entschließen, denjenigen Weg zu gehen, der sich gerade dadurch als der für die Gegenwart notwendige gezeigt hat, daß ein solchem Geist wie Brentano gescheitert ist, nachdem er ihn nicht hat gehen wollen. Die­ser Weg ist in den verflossenen Vorträgen und besonders das letztemal charaktemisiert worden. Von diesem Wege wurde gezeigt, wie er allein geeignet ist, uns in die höheren Gebiete, in die geistigen Gebiete des Daseins hineinzufüh-ren, in das, was auch über Geburt und Tod hinausreicht. Franz Bmentano konnte sich nicht entschließen, diesen Weg zu gehen. Daß man ihn gehen muß, wenn man an ein Ende, an ein Ziel kommen will, das hat er förmlich dadurch nega­tiv bewiesen, daß seine Seelenlehre beim ersten Bande ge­blieben ist, der noch nichts zu tun hat mit all den eben genannten gmoßen Fragen, daß er noch nicht herankommen konnte an die großen Fragen, wie er es wollte.

Ich versuchte, Ihnen ein Bild zu geben von dem geistigen Leben der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, in das hineinversetzt war, wer damals seinen Weg in die geistigen Gebiete hinein suchte. Wenn man alles, was jetzt genannt worden ist, auf sich wirken ließ, so konnte man nicht so ohne weiteres mit den damals auftauchenden, zu­nächst sporadischen Erzeugnissen der aufkeimenden Geistes­wissenschaft gehen. Ich will da nur zunächst aufmerksam machen, wie nicht nur mitten in die naturwissenschaftliche Forschung selber, sondern auch in die naturwissenschaftliche Erziehung der Zeit ein Werk hineinfiel etwa wie der «Eso­terische Buddhismus» von A. P. Sinnett.

Ich will jetzt nicht die Titelfrage besprechen, daß hier Buddhismus nichts zu tun hat mit dem Buddha und dem

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Buddhismus, wie er als religiöses Bekenntnis gemeint ist, sondern bemerken, daß mit diesem Buche, welches in deut­schen Gegenden in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts bekannt wurde, zunächst gegeben war eine Übersicht der Welterscheinungen, des großen Ganges der kosmischen Ereignisse und auch der Fragen, welche sich an das Wesen des Menschen anknüpfen, wie auch an die Be­ziehungen über ein Leben, das über Geburt und Tod hin­ausgeht. Was in diesem Buche mitgeteilt war, konnte zu­nächst frappierend wirken. Denn wer den Blick auf geistige Dinge hinwendete, konnte als solcher mit manchem, was da in dem Sinnettschen «Esoterischen Buddhismus» stand, in gewisser Beziehung sich einverstanden erklären. Manches widersprach durchaus nicht dem, was man denken konnte und denken durfte, auch wenn man streng auf naturwissen­schaftlichem Boden stand. Aber eines widersprach der da­maligen naturwissenschaftlichen Erziehung, eines machte, daß man dieses Buch zwar als eine interessante Zeiterschei­nung nehmen konnte, sich aber unmöglich so ohne weiteres mit ihm einverstanden erklären konnte: daß dieses Buch in der ganzen Art der Darstellung, in der Zusammenfassung der Dinge und in der Art, wie diese Dinge zum Beispiel aus ihren Quellen hervorgeholt wurden, in nichts gerecht­fertigt dastand vor der strengen naturwissenschaftlichen Erziehung und Wahrhaftigkeit, und daß ein naturwissen­schaftlich Erzogener, wenn er noch so sehr mit den einzelnen Ergebnissen und Mitteilungen dieses Buches einverstanden war, sich doch von der ganzen Art der Darstellung abge­stoßen fühlen mußte.

Ebenso ging es mit manchem anderen Werke, das auf diesem Gebiete erschien. Es ging sogar so mit dem Buche der mit einem gewissen Recht berühmten H. P. Blavatsky' das dann am Ende der achtziger, am Anfang der neunziger

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Jahre erschien: «Die Geheimlehre». Wer es mit diesen Din­gen zu tun hatte, konnte sich sagen: Ein tiefgmündiges Wis­sen und Emkennen über geistige Dinge findet sich in diesem Buche, aber die ganze Art dem Darstellung isr so chaotisch, so untermischt mit natumwissenschaftlichem Dilettantismus, der sich namentlich in der Bekämpfung natumwissenschaft­lichem Theorien und Hypothesen damtut, daß der natum­wissenschaftlich Erzogene mit diesem Buche durchaus nicht mitgehen kann.

So stellte sich gleichsam zweierlei heraus: Für einen, der Hemz und Sinn hatte füm den Bestand einer geistigen Welt, gab es auf dem einen Seite die naturwissenschaftliche Denk­amt, die ganze naturwissenschaftliche Vorstellungsweise. An dem konnte em seine wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit heranemziehen, an der konnte em sich freimachen von allem Dilettantismus, wenn er sich ernstlich darauf einließ. An dem konnte er aber auch lernen, wie man streng forscht über das Tatsächliche, und wie man durch solches Forschen über das Tatsächliche zu gesicherten Ergebnissen gelangt, die real ins Leben eingreifen, die begründend sind nicht nur für eine Theorie, sondern für die Tatsachen des Lebens. Auf der anderen Seite aber konnte sich ein solcher sagen: Da, wo man aber aus der Naturwissenschaft selber auch etwas für eine geistige Interpretation der Lebenserscheinungen zu gewinnen sucht, da, wo die Naturwissenschaft gerade durch sich selber dies versucht, läßt sich wenig aus ihr heraus­pressen für das Geistige, um so weniger, je strenger sie auf dem Gebiete des Tatsächlichen vorgeht. - Daher war wohl für einen solchen, der so zur Sache stand, Veranlassung vorhanden, ein wenig zurückzublicken auf die Entwick­lungsgeschichte der Menschheit. Da konnte er erfahren, daß, selbst wenn man von geisteswissenschaftlicher Forschung absieht, in den verschiedenen geistigen Urkunden der Völ­-

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ker und der Epochen etwas aufgesammelt ist, etwas rein äußerlich dokumentarisch daliegt, das einen grandiosen gei­stigen Wissenskern in sich schließt, was, wenn man es ge­nauem ansieht, nicht leicht zu nehmen ist, sondern je mehr man sich in dieses Aufgesammelte vertieft, desto mehr bietet es des Einleuchtenden über das geistige Leben, selbst wenn man nicht herankann an die Amt und Weise, wie es dar­gestellt ist, oder auch an die Amt und Weise, wie es gefun­den sein muß nach dieser Amt der Darstellung.

Nur für den, welcher oberflächlich zu Werke geht, kann etwa das, was da alte ägyptische oder chaldäische Weisheit enthält, nur eine Summe von menschlicher Träumemei sein. Wer tiefer darauf eingeht, wird nicht Träumereien finden, sondern wird tatsächlich ersehen, wie Einleuchtendes über die Natur des Geistes und seine Wirksamkeit in diesen Dingen in mancherlei für die heutige Zeit grotesk ausschauenden Formen enthalten ist. Und ebenso, wie bei der ägyptischen oder der chaldäischen Weisheit, stellt sich dies insbesondere für die alte indische Weisheit heraus, soweit sie überliefert ist. Freilich wird man so etwas wie die in­dische Weisheit mit dem grandiosen bedeutsamen Eindrucke, den sie auf jeden machen muß, nicht etwa ansehen dürfen mit dem Auge eines modernen Philosophen, wie zum Bei­spiel Deußen, sondern man wird sich unbefangen hineinversetzen müssen in das von innen aus Einleuchtende in bezug auf gewisse geistige Zusammenhänge. Aber eines kann auffallen: aus der Amt und Weise, wie das Ganze dargestellt ist, zeigt sich, daß ein geistiges Wissen jener Art, wie es uns da entgegentritt, nicht auf dieselbe Weise und nicht durch eine solche Methode gewonnen ist wie unsere heutigen Forschungsmethoden sind, durch welche die Naturwissenschaft von Triumph zu Triumph schreitet. Wenn man nur genug Unbefangenheit hat, um auf der

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einen Seite die Naturwissenschaft sicher anzuerkennen und um auf der anderen Seite sich auf das einzulassen, wie aus den alten Zeiten eine geistige Errungenschaft und ein gei­stiges Wirken herübertönen, dann wird man schon das Überwältigende an lichtvollen Einsichten in das geistige Leben auf sich wirken lassen können und wird auch zu­gleich ersehen, wie so ganz anders die Methoden gewesen sein müssen, mit denen jene geisteswissenschaftlichen Er­kenntnisse in uralten Zeiten gewonnen worden sind.

Nun zeigt uns gerade wieder die Geistesforschung selbst, wie ganz anders das gewonnen ist, was wir im rechten Sinne zum Beispiel uralt-indische Weisheit nennen können, die bis tief in das Wesen der Dinge eindringende Erkennt­nisse uns anzeigt. Da finden wir, daß jene Weisheit nicht durch die äußere Beobachtung gewonnen ist, nicht durch jenes Denken, das wir heute als naturwissenschaftliches bezeichnen, sondern auf eine ähnliche Art von seelischer Selbsterkenntnis, wie wir sie auch hier für die modernen Zeiten charakterisieren konnten. Yoga-Methoden, Selbst­erziehungs-Methoden der Seele wurden angewendet. Die führten die Seele dahin, nicht nurmehr bloß so zu schauen und wahrzunehmen und zu erkennen, wie man im gewöhn­lichen alltäglichen Leben wahrnimmt und erkennt, sondern in sich aufgehen zu fühlen höhere Emkenntniskräfte, welche hineinschauen können in die geistigen Welten, die sich um uns herum eröffnen, wenn wir nur für sie in uns die Or­gane erschließen. Aber für das Dasein innerhalb des physi­schen Lebens ist alles, was uns als Seelenbetätigungen ent­gegentritt, doch in einer gewissen Weise an das Instrument des physischen Leibes gebunden. Und nun zeigt uns eine geistige Forschung, wie das alte indische Forschen in anderer Weise selbst an das Instrument des physischen Leibes ge­bunden war als unser heutiges Forschen, wie es in der Naturwissenschaft

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gang und gäbe ist. Die Naturwissenschaft forscht heute durch die Sinne und durch den Verstand, der an das Instrument des Gehirnes gebunden ist. Wozu brachte die Yoga-Methode den Menschen? Wozu sie ihn brachte, kann hier nur kurz angedeutet werden, weil wir uns nur über die Beziehungen von Naturwissenschaft und Geistes­wissenschaft orientieren wollen.

Yoga-Methode brachte den Menschen dazu, zunächst bis zu einem gewissen Grade das Denkinstrument des Ge­hirnes auszuschalten, sogar alles das auszuschalten, was das übrige höhere Nervensystem vermittelt. Zum Instrumente jenes streng innerlichen Schauens in den Yoga-Methoden wurde gerade derjenige Teil des menschlichen Nerven­systems gemacht, der uns heute in der Naturwissenschaft wie ein untergeordneter Teil erscheint, der aber im engsten Sinne an die Verrichtungen des menschlichen Organismus selber gebunden ist, das, was wir mit dem Sonnengeflecht und mit dem sympathischen Nervensystem bezeichnen. Wie unser heutiges naturwissenschaftliches Forschen an das höhere Nervensystem gebunden ist, so waren jene alten Erleuch­tungsmethoden an dasjenige Nervensystem gebunden, das wir heute sogar in einem gewissen Sinne als ein niedriges betrachten. Aber weil dieses untergeordnete Nervensystem an die Daseinskräfte und an die Lebenskräfte gebunden isr und innig mit dem zusammenhängt, wodurch der Mensch selber in das göttlich-geistige Dasein eingetaucht ist, weil es also mit den Quellen des Menschendaseins zusammen­hängt, so erkannte man mit Hilfe dieses Instrumentes nicht nur das Hereinleuchten des Geistigen in den menschlichen Organismus; sondern wie man mit dem Auge hineinschaut in die Lichteswelten, so schaute man mit dem Instrument des sympathischen Nervensystems in die Geisteswelten hin­ein, erblickte in ihnen konkrete Tatsachen und Wesenheiten.

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Wer zu verstehen vemmag, wie ein so in seine eigenen Tiefen, selbst dem Instrumente nach, eindmingender Mensch sich zum Universum zu stellen vemmag, der vemsteht auch, wie jene umake orientalische Weisheit zu uns hemübem ge­kommen ist. Wenn wim die alten Weistümer vemfolgen, so finden wir sie übemall entdeckt, an die Oberfläche des menschlichen Denkens kommen durch alte Fomschungs­methoden, durch alte Yoga-Methoden. Bei den vemschieden­sten Völkern finden wim die vemschiedensten Weistümem, und wir dringen, wenn wir uns nur mit ihnen abgeben, immer mehr und mehr in ihme Tiefen ein und erkennen, wie die Menschen zu ihnen gekommen sind in jenen Zeiten, in denen sie von dem heutigen physischen Astmonomie, Anatomie, Physiologie und so weiter vemhältnismäßig wenig gewußt haben. Wie es eigentlich im physischen Leibe des Menschen aussieht, hatte man in der alten indischen Weisheit nicht gewußt, so wie man es heute weiß; abem man hat sich in eine Betätigung des Organismus versetzen können durch Anwendung des tieferliegenden Nervensystems. Und so wam es auch bei anderen Völkern.

Nun kann man, indem man sozusagen den Blick schwei­fen läßt über alles, was bis ins sechste Jahrhundert der vorchristlichen Zeitrechnung hinein als solche alte Weistümer wirksam war, hemaufdringen bis eben, zum Beispiel, in die alten griechischen Zeiten hinein. Da finden wir, von allem übrigen abgesehen, einen überragenden Denker, einen Den­ker, der ebenso oft nach dem Guten wie nach dem Bösen hin mißverstanden worden ist: Aristoteles, der nur wenige Jahrhunderte vor der Begründung des Christentums tätig war. Merkwürdig erscheint er uns noch heute. Wenn wir ihn so durchnehmen, dann finden wir bei ihm zuerst auf vielen Gebieten etwas von dem, was man heute Natur­wissenschaft nennt. Denn in den ahen Weistümern ist Naturwissenschaft

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im heutigen Sinne nicht vorhanden. Zu dem, was Aristoteles zum Naturwissenschaft geliefert hat, haben sich noch im neunzehnten Jahrhundert Leute, die streng auf dem Boden und nur auf dem Boden der Naturwissen­schaft stehen wollen, im allerlobendsten Sinne ausgespmo­chen. So finden wir also bei Aristoteles die Ausgangspunkte dessen, was auch heute naturwissenschaftliches Forschen ge­nannt werden kann. Daneben finden wir bei ihm eine aus­gebildete Lehre von der menschlichen Seele.

Nicht auf die Einzelheiten seiner Seelenlehre soll ein­gegangen werden, sondern es soll nur darauf aufmerksam gemacht werden, wie sich die Lehre von der menschlichen Seele bei Aristoteles stellt zu dem, was aus äkemen Zeiten über die menschliche Seele und ihren Zusammenhang mit den großen geistigen Welten herüberleuchtet. Man versteht nur, was Aristoteles über die Seele geschrieben hat, wenn man sich klar ist, daß das alles bei ihm gegeben ist als Über­lieferung alten, uralten, auf die eben gekennzeichnete Art gewonnenen Denkens. Aristoteles ist nicht mehr bekannt mit den Forschungsmethoden der alten Zeiten; die liegen ihm ferner. Was er aber sagen konnte über die Gliederung, über die Einteilung der menschlichen Seele, über den Unter­schied von dem, was von der menschlichen Seele nur an den physischen Leib gebunden ist und so auch an den Tod, von dem, was nach dem Durchschreiten des Todes an einem gei­stigen Leben in der Ewigkeit teilnimmt, was Aristoteles über dieses alles zu sagen vermag, das ist wie ein Überkommenes aus alten Zeiten, das er dem Inhalte nach kennt, das er so bekommen hat, daß er sagen konnte: es leuchtet meinem Verstande ein. Aber die einzelnen Glieder kennt er nur mehr, was er zum Beispiel da die vegetative Seele, die Geist-seele und so weiter nennt. Wie die einzelnen Glieder mit der geistigen Welt zusammenhängen, das weiß er nicht mehr.

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Er kann die einzelnen Teile aufzählen, dem Verstande nach beschreiben und klassifizieren, kann sie auch für den Ver­stand einleuchtend machen, aber er kann nicht mehr zeigen, wie diese menschlichen Seelenteile mit der geistigen Welt zusammenhängen.

Aristoteles' Art ging dann auf die späteren Zeiten über. Die Naturwissenschaft wurde immer ausgebildeter. Es gab ja natürlich den mittelalterlichen Tiefstand und die neue Morgenröte der Naturwissenschaft im Beginne der neuen Zeit, aber wenn man davon absieht, kann man sagen, die Naturwissenschaft wurde immer ausgebildeter und ausge­bildeter.

Worauf beruht nun des Menschen Verhältnis zur Natur­wissenschaft und zu den Gegenständen der Naturwissen­schaft? Denken wir uns, wenn dem Mensch mit seinen Sinnen allein wäre, wenn er nicht seine Sinne öffnen, gleichsam an­gliedern könnte an die Reiche der Natur, die um uns herum ausgegossen sind, was wäre dann das einzelne menschliche Leben ohne die Eingliederung in die Natur? Betrachten wir die Sache ganz elementar. Wir könnten unsere Augen, wenn wir sie nicht mit der Natur in Verbindung setzen könnten, vielleicht drücken und würden dadurch etwas haben können, was wie ein Aufglänzen der innerlichen Lichterscheinung wäre. Aber vergleichen Sie das armselige innere Leben in der ganzen physischen Welt, welches der Mensch nur durch sich selber haben könnte, wenn er sich nicht mit den Reichen der Natur in Verbindung setzen könnte. Vergleichen Sie es mit dem reichen Leben, das sich eröffnet, wenn der Mensch seine Augen und die übrigen Sinnesorgane den Reichen der Natur und ihren Eindrücken öffnet. Wir sind Menschen, indem wir nicht nur in uns leben, sondern die Organe den Reichen der Natur eröffnen, die um uns ausgegossen sind, und indem wir mit diesen Reichen in Wechselwirkung stehen.

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Wüßten wir nur das, was das Auge, was die übrigen Sinnes­omgane für sich erzeugen können, wie arm an Inhalt wären wir als Menschen hier in der physischen Welt! Damit ist zu vergleichen, was das Seelenleben allmählich wurde in den Zeiten, in welchen die Naturwissenschaft gerade hem­aufkam und von Triumph zu Triumph führte.

In bezug auf das Seelenleben wurde sozusagen das, was Aristoteles gegeben hatte, fortgesetzt. Man beschäftigte sich nur mit der Betrachtung der Seelenemscheinungen selber. Das aber ist so, wie wenn man die Sinne nur in sich selber tätig sein ließe - und bis herauf in unsere Zeit macht es die offizielle Seelenwissenschaft so. Bis in unseme Zeit ist nichts anderes Inhalt der offiziellen Seelenwissenschaft als das, was sich vergleichen läßt mit der bloßen Innentätigkeit unserer Sinnesorgane oder unseres Gehirnes, wenn die Ge­danken des Gehirnes nicht in die Weltenweiten hinaus gerichtet sind. Aber wir haben schon in den verflossenen Vorträgen gesehen, wie durch die Methoden der Geistes­wissenschaft, und das war auch bei der alten Geisteswissen­schaft der Fall, die Seele nach oben hin an geistige Reiche angegliedert wird, die ebenso konkret und innerlich ge­staltet sind, wie in der physischen Welt die Reiche um uns herum, an die die Sinnesorgane angegliedert sind.

Diese geistigen Reiche, diese ganz konkreten geistigen Tatsachen und Wesenheiten waren für eine gewisse Zeit, welche gerade das äußere naturwissenschaftliche Forschen heranreifen lassen sollte, nicht zugänglich, und so verarmte die Erkenntnis des Seelenlebens immer mehr, weil der gei­stige Ausblick nach den konkreten Bestätigungen dem gei­stigen Weh fehlte. Die Seele erforschte man allenfalls noch in ihrem Innenleben, wie es noch in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts Franz Brentano getan hat, wie Sie sich aus seiner «Psychologie» überzeugen können.

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Aber seine Erforschung ist so, wie wenn man das Auge nur in bezug auf das erforschen würde, was es durch sich selbst kann, und nicht in bezug auf das, was es vermag, wenn es hinausgerichtet ist auf die Tatsachen dem Natur.

Nun darf man sagen: Gerade durch das immer genauere Hinblicken auch auf die physischen Vorgänge des Menschen wurde der Blick abgelenkt von den geistigen Welten, mit denen die Seele zusammenhängt. - Die Seele hängt ja auf der einen Seite mit diesen geistigen Welten zusammen, welche sie aufnehmen, wenn sie durch die Pforte des Todes ge­schritten ist, oder wenn sie durch den Schlaf in eine andere Welt eintritt. Aber die Seele hängt mit der physischen Welt durch ihre Organe zusammen, durch das gesamte Nerven­system und durch den gesamten Blutumlauf. Dadurch, daß die Naturwissenschaft in ihren Methoden immer bedeut­samer geworden ist, wurde der Blick des Menschen auf jenen Zusammenhang der Seele hingelenkt, der sich ergibt zwi­schen dem Seele und den physischen Zusammenhängen. Die Ergebnisse der Naturwissenschaft waren in diesem Beziehung so grandios, daß es die Menschen ganz erfüllte, zum Bei­spiel das, wie sich die Seele auslebt in ihren Zusammen­hängen mit dem Blutkreislauf und so weiter. Jeder neue Triumph der Naturwissenschaft war in einer gewissen Weise dem Hinlenken des Blickes der Seele auf den Zusammen­hang mit der geistigen Welt abträglich.

Noch etwas anderes gilt sogar. Wer eine Uhr kennen­lernen will, wird sie in ihrem ganzen Organismus schlecht kennenlernen, wenn er sagt: Da sehe ich, wie die Zeiger der Uhr vorrücken, da wird vielleicht ein kleinem Dämon dar­innen sitzen, welcher die Zeiger vorwärts bewegt. - Wenn ein Mensch, der so etwas sagt, sich noch so erhaben fühlte über den, welcher bloß den Mechanismus der Uhr studiert, so würde man ihn auslachen, denn die Uhr lernt nur kennen,

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wer ihren Mechanismus wirklich studiert. Und ein anderes wieder ist es, zu dem Mechanismus der Uhr das Geistesleben des Uhrmachers oder desjenigen kennenzu­lernen, der die Uhr erfunden hat. Beide Wege kann man gehen: den mechanischen Gang des Uhmwerkes untersuchen und den menschlichen Gedankengang kennenlernen, dem zur Erfindung der Uhr geführt hat. Unsinnig aber wäre es, wenn jemand auf irgendwelche Dämonen schließen wollte, die das ganze Uhrwerk in Bewegung bringen.

Das ging nun dem Menschheit allmählich für die Mensch­heitsfomschung verloren, was bei der Uhr entsprechen würde dem Verfolgen des geistvollen Mechanismus bis in die Ge­danken des Erfinders hinein. Denn der Menschenseele würde es entsprechen, die Gedanken bis zu den Wesenheiten der geistigen Welt zu verfolgen. Dafür ging sie in der Natur­forschung im Triumph von Tatsache zu Tatsache, also zu dem, was dem «Uhrwerk» entspricht. Und man kann eine interessante Bemerkung machen: es gehen nämlich gleich­zeitig die Erkenntnisse, die noch von alten Zeiten her überliefert sind, der Menschheit gewöhnlich in denjenigen Epo­chen verloren, in denen eine betreffende Erkenntnis genau naturwissenschaftlich untersucht werden kann. Merkwürdig:

am Ende des sechzehnten, am Anfange des siebzehnten Jahr­hunderts sehen wir, wie noch dem Philosoph Cartesius eine gewisse Vorstellung davon hat, daß ein Geistähnliches beim Menschen vom Herzen nach dem Kopfe, nach dem Haupt des Menschen wirkt. Cartesius spricht noch von gewissen Lebensgeistern, die nicht physischem Natur sind, sondern deren Kräfte zwischen Herz und Kopf spielen. Dann sehen wir, wie eine solche Erkenntnis immer mehr und mehr im Geistesleben der Menschheit verschwindet.

Wer sich fragt, warum das so ist, kann folgende Antwort bekommen. Da sehen wir, geschichtlich gleichzeitig mit diesem

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Verschwinden der Erkenntnis geistiger Vomgänge, welche sich auf das Herz beziehen, die Erkenntnis des physischen Organismus des Herzens und des Blutumlaufes heraufkom­men. Am Anfange des siebzehnten Jahrhunderts sehen wir zuerst, wie der englische Arzt Harvey seine Entdeckung des Blutumlaufes veröffentlicht, und wie Mamcello Malpighi in Bologna zuerst als Anatom an dem Blutkreislauf des Frosches zeigt, wie kunstvoll dem ganze Blutumlauf ist. So wurde der Blick hingelenkt auf den Sinnesvorgang. Das Wissen um die geistigen Tatsachen wurde sozusagen hin­untergedrängt durch die genaue Erkenntnis des Sinnesvor­ganges.Während es für die Naturwissenschaft einen Triumph bedeutet, daß der 1624 geborene Francesco Redi den Satz aufstellt, der mit vielen Behauptungen der früheren Zeit in Widerspruch stand, «alles Lebendige stammt aus Leben­digem», während dieser Satz ein Triumph ist, können wir sagen: Indem die Menschheit dahin kam, das Organische als solches bis auf den Keim zurückzuführen, bis auf das physisch Unbestimmte des organischen Keimes, kam ihr abhanden, wie das Geistige selber, unabhängig von dem organischen Keime, in die Entwickelung eingreift. Es ging der Menschheit das Verständnis für den geistigen Keim ver­loren. So war es Stück für Stück. Je mehr die Naturwissen­schaft erobernd hemaufzog, desto mehr ging der Blick für die geistige Welt verloren.

Solche Dinge sind nicht irgendwelche Zufälligkeiten, sind auch nicht etwas, was man tadeln oder kritisieren darf, son­dern es sind notwendige Entwickelungsvorgänge der ganzen Menschheitsgestaltung. So muß es sein. Oftmals, während das eine hemaufgeht und sich nach der Höhe entwickelt, geht das andere hinunter. Was wir heute gerade an der Naturwissenschaft bewundern, ja, für notwendig erkennen, das stellt sich uns, wenn wir wirkliche Kenner der naturwissenschaftlichen

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Entwickelung sind, so dar, daß wir sagen: Die Geisteswissenschaft hat nicht die geringsteVeranlassung, die Naturwissenschaft, wenn sich diese in ihren Grenzen häh, irgendwie zu bekämpfen, hat auch nicht Veranlassung, über die Einseitigkeit der Naturwissenschaft zuklagen. Denn nur dadurch, daß man nicht allerlei Spekulationen in die naturwissenschaftliche Forschung eingemischt hat, sondern den Blick ruhig auf die physisch-sinnlichen Vorgänge hingewendet hat, sind die großen Errungenschaften der Natur­wissenschaft bis heute zustande gekommen. Ja, man kann gerade in der Morgenröte des neueren Geisteslebens ver­folgen, wie nur durch den Widerstand gegen den Aristote­lismus, auch wieder gegen das inhaltlich Berechtigte des Aristotelismus, solche Geister wie Galilei oder Giordano Bruno zu ihren Erfolgen gekommen sind, indem sie ab­lehnten, irgend etwas anderes in ihre Forschungen einzu­mischen, als was sich vor ihren Sinnen ausbreitete und lehr­reich genug war.

Heute muß der geisteswissenschaftliche Forscher dem naturwissenschaftlichen Forscher so gegenüberstehen, daß er sagt: Je mehr die naturwissenschaftliche Forschung selber reingehalten wird von allem Spekulieren und allem Philo­sophieren, je mehr man den Blick rein hinwendet auf die Tatsachen und nicht allerlei geistige Essenzen erfindet, son­dern nur nimmt, was man rein tatsächlich erforschen kann, desto besser ist es für die Naturwissenschaft. Gerade der geisteswissenschaftliche Forscher möchte eintreten für die Reinerhaltung der naturwissenschaftlichen Tatsachen von allem naturwissenschaftlich oder geisteswissenschaftlich er-spekulierten Gerede. Deshalb kann man heute auf der einen Seite gerade geisteswissenschaftlicher Forscher sein und auf der anderen Seite eintreten für die Echtheit und Begründet­heit der naturwissenschaftlichen Forschung. Und es ist nur

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ein Vorurteil, wenn man glaubt, daß sich der Geistesfor­scher gegen die Naturwissenschaft zu wenden habe.

Etwas anderes ist es, wenn es sich um zahlreiche, schon an die Geisteswissenschaft herandringende Theorien han­delt, die man aus naturwissenschaftlichen Theorien ableiten möchte. Da betritt der natumwissenschaftliche Forscher selber die Bahn der Geisteswissenschaft, auf der er sich in den meisten Fällen nur sehr wenig auskennt. Aber eines bleibt denn doch, auch für die Geisteswissenschaft und Geistes-forschung, von dem naturwissenschaftlichen Erkenntnis: das ist die schon vorhin charakterisierte gewissenhafte Methode, der gewissenhafte Wahrheitssinn, von dem wir öfter in den vemfiossenen Vorträgen spmachen und ihn auch charakteri­sierten, das Stehenbleiben bei den Tatsachen.

Wie ergeben sich diese Tatsachen? Wir haben es gesehen:

Dadurch, daß sich gewisse Kräfte in der menschlichen Seele erschließen, die von dieser Seele aus ebenso den Zusammen­hang mit den höheren Weiten ergeben, wie die Sinne den Zusammenhang mit der physischen Welt ergeben. Wie die Sinne die Tatsachen der physischen Welt ergmünden und diese stehenlassen sollen, sie nicht durch Spekulationen ver­derben sollen, so handelt es sich darum, nicht über die Er­gebnisse der hellsichtigen Beobachtung zu philosophieren und zu spekulieren, sondern sich auch hier auf den strengen Standpunkt der Tatsachen zu stellen. Dann steht man zwar ganz strenge auf dem Standpunkte der Geisteswissenschaft, aber ganz ähnlich auf ihrem Gebiete, wie man in bezug auf die Naturwissenschaft auf deren Boden sicher steht. Das ist die Art von Geisteswissenschaft, wie sie hier vertreten ist.

Das ist es, um was es sich auch allein bei einer Geistesforschung handeln kann, die sich verantwortlich fühlt ge­genüber den geistigen Bedürfnissen unserer Zeit. Und das stellt sich auch bei strenger naturwissenschaftlicher Forschung

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gegenüber den Tatsachen, welche der Geisteswissen­schaft vorliegen, sofort ein, wenn die Naturwissenschaft, sich selbst verstehend, an ihre Grenze gelangt.

Da ergeben sich wieder, mein aus den Tatsachen heraus, ganz merkwürdige Resultate. Ich möchte da nur an das erinnern, was sich ergibt, wenn wir die Anschauungen des großen Natumforschers Du Bois-Reymond nehmen, wie er sie in seinen Reden ausgesprochen hat. Die bedeutendste Rede war vielleicht die über die «Grenzen des Naturerkennens», die er auf der fünfundvierzigsten Versamm­lung Deutscher Natumforscher und Ärzte in Leipzig am 14. August 1872 gehalten hat. Darin findet sich eine Stelle - und ich weiß noch, welchen tiefen Eindruck beim ersten Auftreten diesem Rede diese Stelle damals auf mich als ganz jungen Menschen gemacht hat -, eine Stelle, die etwa sagt: Wenn wir den Menschen vor uns haben in seinem tagwachen Leben, so kann die Naturwissenschaft nichts darüber aus­sagen, wie sich aus der Regsamkeit seinem kleinsten Gehirnteile Empfindung, Vorstellung, Wunsch, Leidenschaft oder Affekt ergibt. «Welche denkbare Verbindung besteht zwi­schen bestimmten Bewegungen bestimmter Atome in mei­nem Gehirn einerseits, andererseits den für mich ursprüng­lichen, nicht weitem definierbaren, nicht wegzuleugnenden Tatsachen: , und der ebenso unmittelbar daraus fließenden Gewißheit: - Es ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, daß es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stick­stoff-, Sauerstoff- usw. Atomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich be­wegten, wie sie liegen und sich bewegen werden.»

Das Seelenleben im wachen Zustande des Menschen auf naturwissenschaftliche Weise zu begreifen, hielt Du Bois­-Reymond

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für unmöglich. Daher sagte er: Wenn wir den schlafenden Menschen vor uns haben, in welchem das Leben der Empfindungen, der Vorstellungen, Wünsche, Affekte, Leidenschaften ausgelöscht ist, dann können wir den schla­fenden Menschen naturwissenschaftlich erklären; dannhaben wir etwas vor uns, was wir nennen können eine Regsam­keit, eine innere organische Tätigkeit. Sogleich aber, wenn mit dem Aufwachen in diesen Organismus Leben einschlägt, Empfindung, Wunsch, Vorstellung und so weiter, wird das anders. Dann läßt sich naturwissenschaftlich dieses Leben, dieser Seeleninhalt nicht aus dem erklären, was der Naturwissenschafter erkennen kann. Der schlafende Mensch, meint Du Bois-Reymond, sei naturwissenschaftlich begreifbar, der wachende nicht.

Das auf der einen Seite. Lesen Sie auf der anderen Seite die neueren Abhandlungen über das Wesen des Schlafes: Sie werden überall eingestanden finden, daß die Natur­wissenschaft sozusagen über die Gründe des Schlafes nichts zu sagen weiß, daß sie nichts über den schlafenden Men­schen zu sagen weiß, der nach Du Bois-Reymond doch er­gründbar sein sollte. Wir sehen so auf der einen Seite Hin­weise auf den glänzenden Gang der Naturwissenschaft, die aber dann ihre Grenze in dem eingesteht, daß der wachende Mensch mit seinem Seelenleben naturwissenschaftlich nicht durchschaubar sei. Auf der anderen Seite aber haben wir, wie in unseren Tagen, das Geständnis, daß der Schlaf des Menschen bis heute nicht erklärbar ist. Warum nicht? Des­halb nicht, weil dem Schlaf in diejenigen Gebiete gehört, wo der Geist in das gewöhnliche Leben hereinspielt, weil wir den Schlaf nicht erklären können, wenn wir nicht das Wachen erklären können.

Ich habe in einem der ersten Vorträge dieses Winterhalbjahres darauf hingewiesen, wie man allenfalls natur- wissenschaftlich

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einen Mechanismus ersinnen kann, der selbsttätig, automatisch nach einer gewissen Zeit den Drang hervorruft, das Bewußtsein und die Sinnestätigkeit auszu­schalten, um die Ermüdung fortzuschaffen. Aber wie gesagt, wenn man sich darauf beschränken will, daß der Schlaf durch eine Art von selbständigen Vorgängen des Organis­mus herbeigeführt wird, die wie automatische vor sich gehen, dann hat man keine Erklärung bei jenem Rentier, der nicht gearbeitet hat und doch seinen Nachmittagsschlaf hält, und wir haben auch keine Erklärung für den Schlaf bei dem kleinen Kinde, das am meisten schläft. Dagegen habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß dem Schlaf nur erklärbar ist, wenn wir voraussetzen, daß wir bei dem schlafenden Menschen nur den physischen Leib und den Ätherleib im Bette liegend haben, und daß sich mit dem Einschlafen ein eigentlich Geistiges, nämlich astralischer Leib und Ich, aus der Wesenheit des Menschen herausbe­wegt. Was geschieht dadurch, daß während des Schlafes das eigentlich Seelenhafte des Menschen gewissermaßen außer­halb des physischen Leibes und des Äthemleibes ist? Wir werden über diese Dinge noch genauer sprechen. Heute soll nur das Folgende angedeutet werden.

Indem das eigentlich Seelische aus dem physischen Leibe und seinem Beleber herausgeht, wird etwas hervorgerufen, was entgegengesetzt ist der wachenden Tätigkeit der Seele. In der wachenden Tätigkeit ist die Seele rege. Kein Glied bewegt sich, ohne daß es die Seele weiß. Am wenigsten werden Vorstellungen hervorgerufen, ohne daß sich die Seele des Instrumentes des Gehirnes bedient. Die Seele muß regsam sein im Wachzustande. Das Umgekehrte ist im Schlafe der Fall. Da können wir sagen: Die Seele genießt ihre eigene Leiblichkeit im Schlafleben. Wenn wir nach gei­stiger Forschung vorgehen, haben wir dem Unterschiede

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nach, Seelentätigkeit und Seelengenuß im Wachsein und im Schlafzustande, und wir begreifen die Wechselbeziehung zwischen Seelenarbeit und -regsamkeit und Seelengenuß, der sich in die seelische Regsamkeit ergießen muß, wenn diese in entsprechender Weise fortbestehen will. Jetzt widerlegt uns nicht mehr der Rentier, dem seinen Nachmit­tagsschlaf hält, obgleich er gar nicht müde ist, sondern wir wissen, daß die Seele, wenn sie ihren Leib genießt, über­treiben kann, und daß man schlafen kann, wenn man gar nicht müde ist. Wir verstehen es, wenn wir wissen, wie in gewissen Konstitutionen in übertriebenem Maße der Genuß des Leiblichen erlebt werden kann.

All das wimd man verstehen, wenn man den Schlaf vom geisteswissenschaftlichen Standpunkte aus sich zu erklären weiß. Das heißt, es gibt ein Gebiet, wo die Naturwissen­schaft unbeschränkt zu herrschen glaubt, und wo die Geistes­wissenschaft ihr nur insofern hineinzureden hat, als eben der Geist alles, auch die Naturvorgänge durchdringt. Dann aber beginnt ein Gebiet, wo gar nicht mehr das vorliegt, was die Naturwissenschaft erforschen kann, wo zwar Tat­sachen vorliegen, aber solche Tatsachen, die nur dann ge­sehen werden können, wenn das Sehen nicht ein sinnliches Sehen, sondern ein übersinnliches Schauen ist. Wenn die Geisteswissenschaft mit demselben Gewissenhaftigkeit vor­geht und sich gewöhnt, auf ihrem Gebiete so streng zu den­ken wie die Naturwissenschaft auf dem ihrigen, so kann sie gar nicht in Kollision kommen mit der Naturwissen­schaft. Damit aber steht die Geisteswissenschaft auf einem Boden, der in vieler Beziehung dem widerspricht, was sich im Laufe des Geisteslebens der Menschheit allmählich her­ausgebildet hat.

So sehen wir, wie diejenigen, welche als Vorläufer echter Geistesforschung angesehen werden können, Goethe zum

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Beispiel, gegen das zu kämpfen hatten, was sich gegen eine geistesforscherische Betätigung ergab. Wir sehen es am klar­sten, wenn wir hinschauen, wie sich Goethe einmal gewehrt hat gegen Kant. Kant ist es ja, der zunächst festzustellen suchte, wie das Wissen, welches sich in der neueren Zeit herausgebildet hat, an das Instrument des Gehirnes gebun­den ist, sich auf die äußere Erfahrung beschränken muß und nicht hineindringen kann in die Untergründe der Welt, mit denen unser geistig-seelisches Leben zusammenhängt. Daher die strenge Grenze bei Kant zwischen «Wissenschaft» und dem, was er den «Glauben» nennt; und höhere Gebiete sind für Kant nur zugänglich für den Glauben. Daher setzt er an die Stelle des Wissens über eine Welt der Ewigkeit oder des Göttlich-Geistigen einen Glauben, der auf dem «kategorischen Imperativ» bestehen soll. So dekretiert er das, was Wissen sein soll in der Geisteswissenschaft, als einen bloßen Glauben. Aber Goethe sagt in seinem schönen Auf-satze über «Anschauende Urteilskraft» mit Bezug auf Kant:

Kann man schon im geahnten Sinne sich hineinfühlen in eine geistige Region, in welcher das Göttlich-Geistige wur­zelt, aus der das Moralische entspringt, wamum sollte der menschliche Geist, wenn er sich in diese geistige Region er­hebt, nicht auch das Abenteuer der Vernunft wirklich be­stehen? - Denn Kant nannte es ein «gewagtes Abenteuer der Vernunft», wenn der Mensch in Gebiete eindringen will, in denen es - nach Kant - ein Wissen nicht geben kann.

Es handelt sich für das abendländische Denken um die Frage: Wie kommt man aus der Naturwissenschaft hinüber in die Geisteswissenschaft? - Daß man die Naturwissenschaft nicht zu bekämpfen braucht, sondern daß man sie voll an­erkennt, ja, ein treuer Anerkenner ihrer Erfolge sein kann, trotzdem man, ganz nach dem Muster naturwissenschaft­licher Forschung, das menschliche Wissen auf jene Gebiete

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ausdehnt, mit denen die Seele in ihmen geistigen Untergmün­den in denjenigen Impulsen zusammenhängt, die ihr das Leben geben, auch wenn sie den physischen Körper ver­lassen hat und sich wieder anschickt zu einer Neugestaltung einer späteren Körperlichkeit.

Einer wahren Geistesforschung Aufgabe wird es sein, immer mehr und mehr von einem unberechtigten Bespötteln oder Widemlegenwollen der berechtigten Ansprüche der Na­turwissenschaft in unserer Zeit abzukommen. Das wird frei­lich davon abhängen, daß die Geistesforschung auch nur als berechtigt anzuerkennen ist, wenn sie bekannt ist mit dem Stande naturwissenschaftlicher Forschung der Gegenwart, und wenn sie daher nicht in dilettantischer Weise sich gegen das vemgeht, was aus der naturwissenschaftlichen Er­ziehung dem Gegenwamt heraus in berechtigter Art gefordert werden kann. Wie der Naturforscher aber nicht dabei stehenbleiben kann, daß er nur die innere Natur des Auges, des Ohres, des Wärmesinnes und so weiter untersucht, son­dern wie dem Mensch das, was die Sinne in sich zu erleben vermögen, hinausmichten muß auf die reiche konkrete Um­welt des Physischen, so muß das Seelische erkannt werden, indem die Seele durch Selbsterziehung - durch eine neue Art von Yoga-Schulung, wie sie das letztemal beschrieben worden ist, aber durch eine neue Art, die sich wesentlich von aller alten Art unterscheidet - sich zusammenlebt mit dem, womit sie im Geistigen zusammenhängt, und das dort erst beginnt, wo die naturwissenschaftliche Forschung ihre Grenze hat.

Da haben wir genau das Verhältnis, die Beziehung zwi­schen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, haben aber auch die Möglichkeit eines wirklichen Bestandes und Friedens und gegenseitigen Verständnisses von Natur­wissenschaft und geisteswissenschaftlicher Forschung. Wenn

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das, was schon in den verflossenen Vorträgen in dieser Be­ziehung gesagt worden ist, mit dem zusammengehalten wird, was mir heute wieder skizzenhaft über das Verhält­nis von naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Forschung zu sagen gestattet war, so wird man auch Ver­ständnis gewinnen können für das Berechtigte der geisteswissenschaftlichen Forschung, und auch Verständnis für die Möglichkeit der Geistesforschung, sich ebenbürtig in unserer heutigen Zeit neben die Naturwissenschaft hinzustellen. Und man wird hoffen können, daß die berechtigten Einwürfe, die berechtigten Bedenken, die heute noch auf seiten der Naturforscher bestehen, allmählich schwinden, wenn die Naturforschem sehen werden, wie nicht bloß allerlei kon­fuses Zeug, wie auch nicht willkürliche Behauptungen und Aberglaube auf dem Felde der Geistesforschung figurieren, sondern wie die Geistesforschung wohlbekannt ist mit dem, was die naturwissenschaftliche Erziehung der Gegenwart fordert.

Geschieht ein solches, dann wird die Geistesforschung vor dem naturwissenschaftlichen Gewissen dem Gegenwart immer mehr gerechtfertigt erscheinen, und man wird dann auch aus dem, was sich innerhalb der Tatsachen des Geisteslebens ergeben wird, allmählich verstehen können, daß Geistesforschung wirklich möglich und wirklich berechtigt ist und daß die Einwände gegen Geistesforschung eigentlich in ein Gebiet gehören, dem gegenüber man etwas Ähnliches sagen kann, wie Goethe einmal in bezug auf ein anderes Gebiet sagte, nämlich in bezug auf das Sicherheben über allen Un­verstand und alle Unlogik.

Indem ich die Beziehung des Geistesfomschers zu den­jenigen, welche als Feinde der geisteswissenschaftlichen For­schung auftreten, zusammenfassen will, möchte ich am Schlusse mit ein paar Worten vergleichsweise an etwas

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erinnern, was einmal Goethe in bezug auf etwas ganz an­deres gesagt hat. Goethe gedachte einer alten griechischen Lehre und Ausführung über die Bewegung, die aber vielfach noch in die neuere Philosophie hineinspielte, eine Lehre, die da sagt: wenn sich irgendein Gegenstand bewegt, so kann man ihn doch in jedem Augenblicke betrachten, und in jedem Augenblicke, selbst in dem kürzesten Zeitpunkte, ist er in Ruhe. Er ist in Ruhe, wenn auch nur einen Augen­blick. So könnte es gar keine «Bewegung» geben, denn in jedem Zeitpunkte ist ein sich bewegender Körper in Ruhe, hat also keine Bewegung. So ist der zenonische Schluß dem Bewegung, und so spukte herauf das Griechentum bis in die neuere Zeit.

Goethe kam dieser Einwand gegen die Bewegung recht sonderbar vor, und er sagte einmal die schönen Worte:

Es mag sich Feindliches eräugnen,
Du bleibe ruhig, bleibe stumm;
Und wenn sie dir die Bewegung leugnen,
Geh ihnen vor der Nas herum.

Dieses Spruches muß ich gedenken, wenn in der neueren Zeit manches auftaucht, das da sagt: Geist, was ihr so «Geist» nennt, ist das Ergebnis mein materieller Regsamkeiten, stofflicher Vorgänge und Bewegungen; es geht der Geist aus dem Stoffe hervor. Wie die Bewegung - im Sinne des eben Gesagten - nur aus der Ruhe hervorgehe und nichts Wirkliches sei, so sei auch der Geist nichts Wirkliches neben dem Stoff.

Wenn man in dem Sinne, wie wir hier in diesen Betrach­tungen in die geistige Welt einzudmingen versuchen, von dem Geistigen Erkenntnis zu gewinnen versucht und sich so recht in das Wesen dessen einlebt, was das Geistige ist, so darf man wohl das, was die geisteswissenschaftliche Forschung

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über den Geist in seinem Verhältnisse zu den Geg­nern und Feinden der Geisteswissenschaft zutage fördert, mit einer kleinenVerändemungder eben angeführten Goethe Worte vielleicht in der Weise bezeichnen - und damit möchte 1ch heute zusammenfassen, was ich über das Verhältnis von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft zu sagen habe -, daß man die rechte Gesinnung des wahren Geistesforschers im Verhältnis zu seinen Feinden folgendermaßen charakte­risiert:

Es mag sich Feindliches ereignen,
Du aber bleibe ruhig, bleibe heiter!
Und wenn sie auch den Geist verleugnen,
So grüble du nicht weiter,
Und gib ihnen zuletzt noch recht:
Es steht mit ihrem Geiste eben schlecht!

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JAKOB BÖHME Berlin, 9.Januar 1913

In dem Zeitpunkte der modernen Geistesentwickelung, in dem wir die Morgenröte der neuen Weitansdiauung herein­bredien sehen, in jenem Zeitpunkte, da wir die großen Taten des Kepler, des Galilei zu verzeidinen haben, da Giordano Bruno gewissermaßen das große Problem der modernen Weltansdiauung entwirft, in diesem Zeitpunkte begegnet uns der einsame Denker, dem die heutige Betrachtung ge­widmet sein soll, der einfache Görlitzer Schuster Jakob Böhme, der gerungen hat mit den höchsten Problemen des Daseins in einer Weise, welche unser Denken und Empfin­den bis zum heutigen Tage in tiefster Weise beschäftigen kann, und wohl auch noch lange das Denken und Empfin­den der Menschen beschäftigen wird.

Eine eigenartige Gestalt, dieser Jakob Böhme, eine Ge­stalt, die in Einsamkeit strebt und ringt, während sich so­zusagen sonst im Geistesleben die einzelnen Strömungen zu einem großen umfassenden Tableau zusammenschließen. In einer gewissen Weise darf man sagen, daß das einsame Rin­gen Jakob Böhmes von einem gewissen Gesichtspunkte aus fast so interessant erscheint wie das Zusammenströmen der verschiedenen Gesichtspunkte, die uns sonst in jenem Zeit­alter begegnen. Und dann sehen wir, wie ganz merkwürdig das, was Jakob Böhme in der eigenen, einsamen Seele in seinem Jahrhunderte noch fand, die denkbar weiteste Ver­breitung gefunden hat, denkbar weiteste Verbreitung kön­nen wir sagen in Anbetracht dessen, daß es sich um eine tief

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bedeutsame geistige Sache handelt. Wir sehen gerade aus den Manifestationen seiner Gegner, wie weit sein Einfluß ge­reicht hat, nachdem nur wenige Jahrzehnte seit seinem Tode verflossen waren. Immer wieder und wieder ist Jakob Böhme der Gegenstand anerkennender, bewundernder, oder auch ablehnender, verspottender Betrachtung gewesen, und wenn wir auf das hinblicken, was sich an Anhängerschaft oder an Gegnerschaft gebildet hatte, so haben wir aus beidem den Eindruck, daß die Anhänger und die Bekämpfer wissen: sie haben es mit einer ganz merkwürdigen Erschei­nung zu tun.

Merkwürdig ist diese Erscheinung besonders denjenigen, welche eine jede Persönlichkeit, die im Geistesleben der Menschheit auftritt, sozusagen aus den unmittelbaren Be­dingungen der Zeit und der Umgebung begreifen wollen. Wir sehen ja, wie zum Beispiel versucht wird, Goethe da­durch zu begreifen, daß man alle möglichen, auch die ge­ringsten Einzelheiten seines Lebens zusammenträgt und aus der Zusammenstellung dieser Einzelheiten glaubt, für die Erklärung seines entsprechenden Geisteslebens dieses oder jenes gewinnen zu können. Auf diese Weise läßt sich fürJakob Böhme nicht eigentlich viel gewinnen, denn äußere Einflüsse lassen sich mit der äußeren Wissenschaft schwierig konstatieren. Noch weniger läßt sich begreifen, wie er aus dem, was das Geistesleben seiner Zeit war, herausgewachsen ist. Daher haben viele sich zu der Meinung bekannt, daß man es in Jakob Böhme zu tun habe mit einer Art geistigen Meteors. Alles, was da auftritt, was diese Persönlichkeit zu geben hatte, erscheint wie plötzlich herausentsprungen, sich offenbarend aus den Tiefen seiner eigenartigen Seele. Andere haben dann zu erklären versucht, wie doch manche Wendung bei Jakob Böhme, manche Art der Darstellung seiner Ideen in den Worten und in den Wendungen, Ähnlichkeit

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mit den Formeln der Alchimisten oder anderer phi­losophischer oder sonstiger Richtungen zeigt, die in seiner Zeit noch lebten.

Wer aber tiefer auf die ganze Geistesart Jakob Böhmes eingeht, der findet, daß eine solche Prozedur kaum mehr Wert hat, als wenn man bei einem bedeutenden Geiste, der sich doch immer in einer Sprache ausdrücken muß, die Sprache untersuchen wollte; denn wenn sich Jakob Böhme alchimistischer Formeln oder dergleichen bedient, so ist das nur sprachliche Einkleidung. Was aber auf den, der ihn zu verstehen sucht, einen so urgewaltigen Eindruck macht, das stellt sich in einer Originalität dar, wie man es nur bei den allergrößten Geistern findet. Dagegen gibt es einige Anhaltspunkte, welche dem modernen Denken, der moder­nen Weltanschauung nicht recht sympathisch sind, die aber immerhin demjenigen, der sich auf so etwas einzulassen ver­mag, beleuchten, wie Jakob Böhme sich auf seinen hohen geistigen Standpunkt hat hinaufschwingen können. Wir brauchen, um, soweit es hier in Betracht kommt, an sein Leben anzuknüpfen, nur wenige Daten aus seinem Leben anzuführen.

Jakob Böhme war der Sohn ganz armer Leute und stammte aus Alt-Seidenberg in der Nähe von Görlitz. 1575 ist er geboren. Er mußte in der Jugend mit anderen Dorfknaben das Vieh hüten. Er wuchs also, wie daraus hervor­geht, in vollständiger Armut auf, und da man bei einem solchen Aufwachsen keine besonderen Bildungsmittel hat, so werden wir es begreiflich finden, daß Jakob Böhme noch als zwölf-, dreizehnjähriger Junge kaum lesen und nur not­dürftig schreiben konnte. Aber ein anderes Erlebnis tritt uns bereits während seiner Knabenzeit entgegen, das ein treuer Biograph von ihm aus seinem eigenen Munde ge­hört hat. Zunächst soll dieses Ereignis erzählt werden. Wie

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gesagt, es ist keine von denjenigen Sachen, welche dem modernen Bewußtsein so recht einleuchten wollen.

Als Jakob Böhme einst mit anderen Hirtenknaben das Vieh hütete, entfernte er sich von der Gesellschaft der Kna­ben, bestieg einen mäßig hohen Berg in der Nähe seines Heimatortes, die Landskrone, und will da am hellen Mittag gesehen haben, daß sich etwas wie ein Eingangstor in den Berg fand. Er ging hinein und fand dort ein Gefäß, eine Art Bütte, angefüllt mit lauterem Golde. Das machte einen solchen Eindruck des Schauderns auf seine Seele, daß er da­vonrannte und nur die Erinnerung an dieses eigenartige Er­lebnis behielt. - Man kann allerdings von einem im wachen Zustande geträumten Traume sprechen. Denen, die eine solche Erklärung befriedigen kann, mag man zwar immer­hin recht geben. Aber es ist nicht das Wesentliche, ob man ein solches Ereignis einen «Traum» nennt oder ihm einen anderen Namen gibt, sondern was es in der Seele des Be­treffenden, der es «träumt», auslöst, was es in der Seele für eine Wirkung ausübt. Aus der Art und Weise, wie Jakob Böhme später dieses Ereignis seinem Freunde erzählte, sehen wir, daß es sich tief in seine Seele eingegraben hatte, daß es in seiner Seele bedeutende Kräfte losgelöst hatte, so daß es seelisch für ihn von höchster Bedeutung war.

Lassen wir daher den Rationalisten das Recht, ein solches Erlebnis, welches unter allen Umständen ein bedeutungsvoller Vorgang in Jakob Böhmes Seele war, so zu erklären, wie sie ja auch das Ereignis der Erscheinung des Christus gegenüber dem Paulus vor Damaskus erklären wollen. Nur hat eine solche Erklärung, die zu diesen Dingen Zuflucht nimmt, auch zuzugeben, daß eine solche bedeutsame Arbeit wie diejenige des Paulus, die so innig mit dem Christentum zusammenhängt, von einem «Traume » ausgegangen sei. Etwas wie eine tiefste Aufrüttelung von Seelenkräften, die

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sonst nicht in der Seele tätig sind, das fühlte schon der Knabe Jakob Böhme, als er dieses Erlebnis hatte. Auf diese innere Loslösung von tieferliegenden Kräften der Seele kommt es an. Auf das Zeugnis einer solchen Sache kommt es an, das da beweist, daß man es mit einem Menschen zu tun hat, der tiefer in die Schachte seines Seelenlebens hinuntersteigen kann als tausend und abertausend andere.

Eines anderen Ereignisses von ganz ähnlicher Art ist noch zu gedenken, von dem wir wieder sagen müssen, es ist Jakob Böhme so im Gedächtnis geblieben, daß der Glanz und die Bedeutung dieses Ereignisses über sein gan­zes Leben hinleuchteten, insofern dieses Leben ein Innen­leben war.

Jakob Böhme wurde im vierzehnten Jahre zu einem Schuster in die Lehre gegeben und mußte im Geschäft seines Lehrmeisters oft sozusagen Wache stehen; verkaufen durfte er nichts. Da kam einmal - wieder ist diese Erzählung aus dem Munde seines getreuen Biographen Abraham von Frankenberg herrührend - eine dem Jakob Böhme sofort sonderbar erscheinende Persönlichkeit in den Laden und wollte Schuhe kaufen. Weil aber dem Knaben verboten war, Schuhe zu verkaufen, so sagte er dies dem Fremden. Dieser bot ihm einen hohen Preis, und es kam dann auch dazu, daß die Schuhe verkauft wurden. Dann aber trug sich das Folgende zu, was Jakob Böhme zeitlebens im Gedächt­nis blieb. Als der Fremde sich entfernt hatte und kurze Zeit verflossen war, hörte Jakob Böhme seinen Vornamen «Jakob, Jakob!» rufen, und als er hinausging, da kam ihm der Fremde noch sonderbarer vor als zuerst. Er hatte etwas Sonnenhaftes, Glänzendes in den Augen und sagte zu ihm Worte, die ganz sonderlich klangen: Jakob, du bist jetzt noch klein, aber du wirst einst ein ganz anderer Mensch werden, über den die Welt in Erstaunen ausbrechen wird.

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Doch bleibe demütig gegenüber deinem Gotte und lies fleißig die Bibel. Du wirst viel Verfolgung auszuhalten haben. Bleibe aber stark, denn dein Gott hat dich lieb und wird dir gnädig sein.

Ein solches Ereignis sah Jakob Böhme für viel wesent­licher an als irgendwelche anderen, äußeren biographischen Erlebnisse. Und weiter erzählt sein Biograph, wie ihm Jakob Böhme selbst gesagt hat: Im Jahre 1593 war es, da fühlte sich Jakob Böhme während sieben Tagen wie ent­rückt aus seinem physischen Leibe, fühlte sich wie in einer ganz anderen Welt, fühlte sich der Seele nach wie wieder­geboren.

Da haben wir es also, wenn man so sagen will, mit einem dauernd abnormen Seelenzustande zu tun. Aber Jakob Böhme erlebte auch diese seine «Wiedergeburt» doch mehr oder weniger wie etwas, was seiner Auffassung nach mit einer Menschenseele sich eben verbinden könne. Er wurde dadurch nicht etwa zum Schwärmer oder zum falschen Idealisten, auch nicht zu einem hochmütigen Menschen, son­dern trieb sein Schuhmacherhandwerk weiter in aller De­mut, man möchte sagen, in aller Nüchternheit. Selbst das Erlebnis vom Jahre 1593, die Entrückung in eine andere Welt, blieb ihm eine Erscheinung, von welcher er sich sagte:

Du hast hineingeschaut in ein Freudenreich, in ein Reich geistiger Wirklichkeit, aber es ist das eine vergangene Sache. - Und er lebte in den Alltag hinein weiter seinem Geschäfte nach in seiner Nüchternheit.

In den Jahren 1600 und 1610 wiederholte sich dieses Erlebnis der Wiedergeburt. Da fing er dann an, weil er sich dazu berufen glaubte, das aufzuzeichnen, was er in seinen entrückten Zuständen erlebt hatte. So entstand 1612 sein erstes Werk «Die Morgenröte im Aufgange», später «Aurora » betitelt. Er sagt von ihr, daß er sie nicht mit

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seinem gewöhnlichen Ich niedergeschrieben habe, sondern daß sie ihm Wort für Wort eingegeben war, daß er gegen­über seinem gewöhnlichen Ich in einem Wesen lebte, welches ein umfassendes, überall in die Welt hineinreichendes und sich in dieselbe versenkendes gewesen sei.

Die Offenbarungen bekamen ihm allerdings nicht beson­ders gut. Als einige Leute merkten, was er zu sagen hatte, was er niedergeschrieben hatte, da wurde das Manuskript der «Aurora » abgeschrieben und in wenigen Exemplaren verbreitet. Die Folge war, daß der Diakonus von Görlitz, Gregorius Richter, wo sich Jakob Böhme inzwischen als Schuster niedergelassen hatte, auf der Kanzel gegen Jakob Böhme loszog und nicht nur sein Werk verdammte, sondern es erlangte, daß er vor den Rat der Stadt Görlitz berufen wurde. Ich will jetzt nur die Worte wiederholen, die wir darüber von seinem Biographen kennen. Der erzählt: Da fand der Rat, daß dem Jakob Böhme verboten werden musse, weiter zu schreiben; denn schreiben dürften nur die, die Akademiker wären, aber Jakob Böhme sei nicht ein Akademikus, sondern ein Idiot, und müsse sich daher des Schreibens enthalten!

So war denn Jakob Böhme zum Idioten gestempelt wor­den, und da er im ganzen ein gutmütiger Mensch war, der sich doch nicht ganz denken konnte, wegen des Einfältigen in seiner Natur, daß man ihn so ganz grundlos zu den Ver­dammten halten würde, so beschloß er in der Tat, in der nächsten Zeit nichts weiter zu schreiben. Aber dann kam die Zeit, wo er nicht mehr anders konnte. Und in den Jah­ren von 1620 bis 1624, bis zu seinem Tode, schrieb er rasch hintereinander eine große Anzahl seiner Werke, so zum Beispiel «Das Buch vom beschaulichen Leben», «De signa­tura rerum oder von der Geburt und Bezeichnung aller Wesen», oder die «Erklärung über das erste Buch Mose».

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Aber die Zahl seiner Werke ist eine recht große, und darin mag es manchem Leser eigenartig ergehen. Manche haben gesagt, Jakob Böhme wiederhole sich immer wieder. Es ist wahr, man kann nicht widersprechen, gewisse Dinge tau­chen immer wieder bei ihm auf. Wenn man aber daraus den Schluß zieht, daß man den ganzen Jakob Böhme kenne, wenn man einige seiner Werke kennt, weil er sich immer wiederholt - man mag solchen Leuten, die das sagen, nicht so ohne weiteres unrecht geben -, so muß doch gesagt wer­den: wer dabei stehen bleibt, ein Werk Jakob Böhmes ge­lesen zu haben und keinen Appetit bekommt, auch die anderen Werke zu lesen, der wird nicht viel von Jakob Böhme verstehen. Wer sich aber bemühen wird, seine an­deren Werke dann durchzugehen, der wird trotz aller Wie­derholungen doch nicht ruhen, bis er auch die letzten ge­lesen hat.

Wenn wir von dieser Charakteristik seines Wesens mehr in seine Gedankengänge, in das geistige Wesen Jakob Böhmes einzudringen versuchen, so muß gesagt werden, daß dem modernen Menschen, welcher nur im Bildungs-leben unserer Zeit lebt, allerdings vieles nicht nur im In­halte der Werke Jakob Böhmes unverständlich sein muß, sondern auch in der ganzen Art und Weise, wie er darstellt. Zunächst erscheint die Darstellung ganz chaotisch. Man liest sich langsam ein, gewiß. Aber dann bleibt noch immer für viele Leute etwas, was eine schwer zu knackende Nuß ist:

daß wir bei ihm finden, wie er, ganz unverständlich für das moderne Gemüt, ganz sonderbareWorterklärungen hat. So finden wir bei ihm, daß er zur Weiterklärung immer wieder Worte gebraucht wie «Salz», «Quecksilber» und «Sulphur». Wenn er nun Auseinandersetzungen machen will, was «sul» bedeutet, was «phur» bedeutet, und dann allerlei Tiefsinniges findet, dann müssen diese modernen

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Gemüter sich sagen: Damit kann man nichts anfangen; denn was soll es heißen, Erklärungen abgeben über ein Weltprinzip, wenn man die Silben eines Wortes einzeln erklärt, wie «sul» und «phur»? - Das liegt der modernen Seele ganz fern.

Wenn man allerdings weiter auf Jakob Böhme eingeht, so findet man: er kleidet, was er sagen will, in allerlei alchimistische Formeln. Aber erst wenn man zu dem durch­dringt, was sich als Jakob Böhmescher Geist auslebt in dem, was er so vorgefunden hat, dann erst findet man, daß darin etwas ganz anderes lebt, als was wir heute als wissenschaftliches Denken, überhaupt als Weltanschauungs- oder sonstiges Denken kennen.

Am ähnlichsten ist das, was in Jakob Böhmes Seele lebt, noch dem, was hier in diesen Vorträgen als die erste Stufe zu einem höheren geistigen Leben charakterisiert worden ist als die Stufe des imaginativen Erkennens. Haben wir doch hervorgehoben, daß der, welcher von dem gewöhn­lichen Leben in der Sinnesweit aufsteigt, durch eine besondere Entwickelung seiner Seele dahin kommt, eine neue Welt von Bildern, von Imaginationen wahrzunehmen. Und es ist her­vorgehoben worden - ich bitte, sich gerade an die Charak­teristik dieser Auseinandersetzung zu erinnern -: wenn es der Mensch dahin gebracht hat, daß er sich nicht nur Imaginationen bildet, sondern daß Bilder, imaginative Vorstel­lungen aus den unbekannten Tiefen des Seelenlebens her­aufschießen, und er eine neue Welt erlebt, dann hat der, welcher zu neuen Erkenntnissen aufsteigen will, den starken Entschluß zu fassen, dieses erste Aufleuchten einer imagi­nativen Welt in der Seele ganz zu unterdrücken und zu warten, bis es ein zweites Mal aus einer viel untergründi­geren Welt herauftaucht.

Am ehesten ist also die ganze Seelenverfassung, die ganze

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innere Stimmung, zu welcher Jakob Böhme kommt, mit dem zu vergleichen, was einem Menschen in seinem Seelen­leben begegnet, der zu einem übersinnlichen Erkennen auf­steigt. Zwar zeigt sich nirgends, daß schon so etwas, was die moderne Geisteswissenschaft als ihre Methoden verkün­det, sich bei Jakob Böhme findet. Aber der würde dennoch unrecht haben, welcher glauben wollte, das alles trete wie von selbst bei Jakob Böhme auf. Er selbst sagt einmal, daß er unablässig gerungen habe nach des Geistes, nach Gottes Beistand, und daß sich nach diesem unablässigen Ringen ergeben habe eine lichtvolle, imaginative Welt. So können wir nicht sagen, daß er einfach ein naiver imaginativ Er­kennender ist, sondern wir müssen sagen, daß er naiv zu den Mitteln greift, welche den Menschen zu der Höhe des imaginativen Erkennens hinaufführen. In seiner Seele ist natürlich eine solche imaginative Kraft anzunehmen. Er kommt also auf ganz denselben Wegen, nur rascher, selbst­verständlicher, zur imaginativen Erkenntnis, als man durch jene Methoden dazu kommen kann, wie sie in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» ge­schildert sind.

So steht Jakob Böhme als ein imaginativ Erkennender vor uns. Aber mit Urgewalt, wie selbstverständlich, ringt sich dieses imaginative Erkennen, wie getragen von einem starken innerlichen Willen, an die Oberfläche. So sehen wir bei ihm diesen starken innerlichen Willen, der sich nicht in äußeren Taten ausleben kann - sein bescheidener Beruf hindert ihn daran -, wie eine Flut seine Seele umgebend, so daß die Seele in diese Flut eintaucht. Und aus diesem Willen sehen wir mächtige Bilder herausgeboren werden, durch die er sich die Weltenrätsel zu lösen versucht. Nicht allein so sehr auf die einzelnen Resultate, als auf diese Stimmung und Verfassung seiner Seele kommt es bei Jakob

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Böhme an. Er fühlt, daß er in seinem Streben zu etwas ge­trieben wird, was nicht das gewöhnliche erkennende mensch­liche Ich ist, sondern was mit den Kräften zusammenhängt, welche den Menschen vom Unterbewußten seiner Seele, von den Tiefen seiner Seele aus mit dem ganzen Kosmos verbinden, mit dem also, was draußen in der Natur webt und lebt.

Der Mensch, der wirklich einen ernsthaften Trieb zur Erkenntnis hat, fühlt ja, wie in dem Erkennen nicht nur etwas Rationelles ist, sondern etwas, was er sich erringt durch Leiden und Schmerzen und durch Uberwindung von Leiden und Schmerzen. Und er merkt, wenn er mit den heutigen gewöhnlichen Mineln in Natur und Dasein ein­zudringen versucht, wie er sich eigentlich durch alle solche Mittel von Natur und Dasein entfernt. Wenn wir aber Kräfte in unserer Seele bloßlegen, die sonst im Unterbewuß­ten ruhen, dann fühlen wir, daß diese in ganz anderem, innigerem Sinne mit Natur und Dasein zusammenhängen. Um das zu erklären, möchte ich folgendes heranziehen.

Es ist bekannt und wird oft erzählt, wie gewisse Tiere in Gegenden, wo ein Erdbeben oder ein sonstiges Elemen­tarereignis herannaht, von der Stätte des Erdbebens oder dergleichen fliehen, oder daß sie wenigstens unruhig wer­den, so daß sie wie prophetische Vorherverkündiger dessen sind, was geschehen wird. Man kann sagen: Das instinktive Leben des Tieres hängt inniger mit dem zusammen, was sich draußen in der Natur vollzieht, als die ganze Seelenverfassung des Menschen. Aber in den Tiefen der Menschenseele lebt etwas, das nicht etwa dasselbe ist, wie der Instinkt der Tiere, sondern das tiefer ist als dieser tierische Instinkt, das auch wieder innig mit den Naturkräften zusammen­hängt. Indem Jakob Böhme nun in die Tiefen seiner Seele hinuntersteigt, fühlt er sich inniger verwoben mit den Naturkräften.

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Besonders aber ist eines hervorspringend. Es wurde hervorgehoben: erst wenn das, was als Imaginationen und imaginative Welt auftritt, unterdrückt wird, ausge­löscht wird, und dann wie von selbst wieder aufleuchtet, erst dann hat diese zweite imaginative Welt einen Wert. Nun ist es höchst eigenartig, wenn wir damit den Weg bei Jakob Böhme vergleichen: Im Jahre 1600 erlebt er eine Wieder­geburt, fühlt sich entrückt in eine geistige Welt, in ein Freu­denreich. Dann lebt er nüchtern fort. Zehn Jahre hindurch ist wie untergetaucht, was er erlebt hat. Dann taucht es ein drittes Mal auf im Jahre 1610. Ist dann nicht wie ein Naturereignis in Jakob Böhmes Seele der Weg eingetreten, den wir als den richtigen darstellten? Das ist es, was uns Jakob Böhme so nahe heranrückt an das, was wir selbst als den naturgemäßen Weg in die übersinnlichen Welten ins Auge gefaßt haben. Wenn wir dies berücksichtigen, wird sein Erlebnis uns nicht mehr so fremd erscheinen, als es auf den ersten Blick hin erscheinen kann.

Für die objektive Erkenntnis des Zweiflers wird es aller­dings keinen Wert haben, wenn man tiefsinnige Betrach­tungen anstellt über die Zusammensetzung aus den Silben «sul» und «phur« oder über anderes noch. Aber ich bitte Sie, sich an das zu erinnern, was früher einmal über die menschliche Sprache ausgeführt worden ist, wie dargelegt worden ist, wie im Laufe der Menschheitsentwickelung die Sprache eigentlich dem abstrakten, vorstellungsmäßigen Denken vorangeht, und wie Jean Paul durchaus recht hat, wenn er betont, daß das Kind an der Sprache denken lernt, und nicht das Sprechen sich an dem Denken ausbildet. Die Sprache ist also etwas Elementareres, Ursprünglicheres als das Denken. Wenn wir sehen, wie die ganze Natur in un­seren Gedanken wiederersteht, dann fühlen wir, wie der Gedanke durch eine Weltenkluft von den Naturtatsachen

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getrennt ist. Wenn aber der Laut als ein mehr den Natur­lauten ähnlicher - und aus solchen ist doch die Sprache ur­sprünglich zusammengesetzt -, wenn sich der Sprachlaut der menschlichen Seele entringt, dann wirkt in die Tiefen der Seele etwas hinein von der ganzen Gesetzmäßigkeit der Welt, und dann ringt sich in ganz anderer Weise eine Art Echo gegenüber der Natur los, als wenn sich aus den Gedanken etwas als Echo loslöst.

Eine heutige Seele hat gar nicht mehr das Gefühl für die Verwandtschaft von Sprache und Naturlaut. Man ringt sich als heutige Seele nur langsam durch, zu fühlen, wie in aller Sprache etwas ist, was sich wie ein Echo der Eindrücke der Außenwelt unmittelbar ausnimmt. Bei einer solchen Per­sönlichkeit wie Jakob Böhme, die mit elementarer Gewalt tiefere Seelenkräfte aus ihrer Seele herausholt, ist es nur naturgemäß, daß sie auch in dieser Beziehung gleichsam sich auch im Fühlen zu jener Empfindung über die Sprache zurückversetzt, welche der Menschheit einmal eigen war, die das Kind noch mehr oder weniger unbewußt entwickelt.

Wenn wir das eben Ausgeführte nun ausdehnen auf die sonderbaren Auseinandersetzungen über das Zusammen­stellen von Silben zu Worten, dann können wir verstehen, wie es nur ein Fühlen an den Lauten ist, was die Natur in der Menschenseele macht, wie die Natur sich durch den Laut selber eine Sprache schaffen will. Eben weil Jakob Böhme mit der Seele der Natur näher steht, lebt er auch noch mehr in der Sprache als in den Gedanken, und seine ganze Philo­sophie ist mehr ein Mitfühlen, ein Mitempfinden dessen, was in der Natur draußen lebt und webt, als irgendein ab­straktes Erfassen der Dinge. Man möchte sagen, wenn man einen Gedanken Jakob Böhmes so recht auf sich wirken läßt, hat man das Gefühl, als ob der Gedanke so verwandt wäre dem, was Jakob Böhme beobachtet, wie man nur dem verwandt

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ist, was man als irgendeinen Geschmack empfindet, wo man auch eine Berührung mit der Natur empfindet.

So fühlt Jakob Böhme die Berührung mit der Natur. Er fühlt im Innern, was draußen in der Natur webt und wirkt und lebt. Er lebt das Leben der Natur mit, und er gibt im Grunde genommen in seinen Darstellungen das, was er mit­lebt, so daß man in seinen Worten nachvibrieren fühlt, was er schaut. Daher sind ihm die Worte auch etwas, was er besonders als das fühlt, was das «Wie» in der Natur selber ist. Man braucht also nicht darüber nachzugrübeln, ob solche Auseinandersetzungen wie die angedeutete über das «sul» und «phur» bei Jakob Böhme etwas Besonderes bedeuten, sondern man versuche, bei dieser Seele das nachzuleben, wie sie das Welterleben zum Seelenerleben macht, und das, was die Seele erleben kann, als ihre Offenbarungen gibt.

Man versteht Jakob Böhme nicht, wenn man der Mei­nung ist, daß er Blitz und Donner, Wolken oder Wolken-verwandlungen oder das Wachsen des Grases nur so wahr­nimmt, wie ein moderner Mensch. Man versteht ihn nur, wenn man weiß, daß mit dem zuckenden Blitze, mit dem rollenden Donner, mit den sich verwandelnden Wolken für sein Seelenerleben etwas sich verwandelt, so daß sich in seiner Seele etwas abspielt, was wie die Lösung des entspre­chenden Rätsels dasteht. So wird für Jakob Böhme das, was sich in der Welt abspielt, zu einem Rätsel des eigenen Erlebens.

Jetzt begreifen wir, wenn wir ihn so ins Auge fassen, wie er mit einer Aufgabe ringen konnte, die uns auch sonst in seiner Zeit entgegentritt und die andere Geister lange beschäftigt hat, sogar den größten Geist der neueren Zeit. Dasselbe sechzehnte Jahrhundert, in welches die Geburt Jakob Böhmes fällt, hat ja das Faust-Rätsel geboren, das neben den strebenden und ringenden Menschen hinstellt des

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Menschen Widersacher, der die strebende Natur des Men­schen herunterzieht in das Niedrige, Sinnliche, in das, was die Zeit Jakob Böhmes «das Teuflische» genannt hat. Dich­terisch hat dann Goethe noch immer mit dem Problem ge­rungen, welches das «Böse» in den Weltenzusammenhang hineinstellt. Muß nicht der Mensch immer wieder und wie­der fragen: Wie kommt es, daß in das harmonische All, in die weise Weltenführung sich das Irreguläre, das Nichtzweckmäßige feindlich hineinstellt? Und die Frage nach dem Ursprunge des Bösen liegt in dem Faust-Rätsel. Sie liegt eigentlich schon in dem Buche Hiob, aber sie trat ganz besonders gewaltig im sechzehnten Jahrhunderte hervor.

Wie konnte diese Frage vor das Gemüt Jakob Böhmes treten? Wir brauchen nur ein paar Worte aus der «Morgen­röte im Aufgange» heranzuziehen und werden gleich sehen, wie das, was sonst ein Weltenproblem ist, für Jakob Böhme zunächst ein inneres Seelenproblem wird. Da sagt er un­gefähr die folgenden Worte: Wenn sich irgendwo in der Welt ein verständiger und tiefsinniger Mensch zeige, so mische sich in seine Seele eben sogleich der Teufel hinein und suche seine Natur in das Gemeine, Alltägliche, Sinn­liche herunterzuziehen, suche den Menschen in Hochmut und Überhebung zu verstricken. - Da sehen wir sogleich bei Jakob Böhme das Problem als ein Seelenproblem erfaßt, sehen, wie er in der Seele selbst die Gewalt des Bösen sucht, die mitten in die guten Seelenkräfte sich hineinmischt. Und es entsteht für ihn die Frage: Was hat die Seele mit den nach dem Bösen strebenden Seelenkräften zu tun? - So wird zuletzt das Problem des Bösen für Jakob Böhme zu einer inneren Seelenfrage. Aber weil sich «Seele» und «Welt» für ihn entsprechen, erweitert sich die Seele sogleich zu einer Weit, und jetzt ist es das Eigenartige für ihn, daß sich die Frage nach dem Bösen zu einer ganz anderen Frage aus- bildet,

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zu der Frage nach dem menschlichen, ja, nach dem geistigen Bewußtsein überhaupt, nach der ganzen Eigenart des Bewußtseinslebens.

Es ist heute schwer, mit den für uns gangbaren Vorstel­lungen in das Seelenleben Jakob Böhmes hineinzuleuchten und in das, was ihm die Weltenfragen und ihre Lösungen wurden, und man wird nicht recht verständlich, wenn man die Worte Jakob Böhmes gebraucht, weil sie in unserer Zeit keine gangbare Münze mehr sind. So will ich, durchaus im Geiste Jakob Böhmes, aber mit etwas anderen Worten ver­suchen, dem nahe zu kommen, was er über die Frage des Bösen sagen will, die bei ihm eine Frage nach der ganzen Natur des geistigen Bewußtseins überhaupt wird.

Versuchen wir einmal zu denken, wie unser Bewußtsein wirkt, was unser ganzes Bewußtsein wäre, wenn wir nicht in der Lage wären, das, was wir einmal in der Seele, im Bewußtsein erlebt haben, in der Erinnerung als Gedanken festzuhalten. Versuchen wir zu denken, wie unser Bewußt­sein etwas ganz anderes sein müßte, wenn wir nicht im­stande wären, was wir gestern, vorgestern, vor Jahren er­lebt haben, aus der Erinnerung wieder heraufzuholen. Dar­auf beruht der ganze Inhalt des Bewußtseins, daß wir uns daran erinnern können; und unser Bewußtsein geht nicht über den Zeitpunkt hinaus, bis zu dem wir uns zurück-erinnern können. Da fingen wir an, uns als ein Ich zu fassen, den zusammenhängenden Faden unseres Bewußt­seins zu haben, uns in unserem Seelenleben auszukennen.

Worauf beruht also die ganze Natur des Bewußtseins? Darauf, daß wir wissen: Jetzt erleben wir etwas im Be­wußtsein. Da sind wir, wenn wir etwas erleben, mit diesem Erlebnis unmittelbar verbunden: wir sind in dem Augen­blicke, wo wir etwas erleben, nichts anderes als unser Er­lebnis selber. Wer eine rote Farbe vorstellt, ist in dem

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Momente, wo er diese rote Farbe vorstellt, mit dem Erleben derselben zusammen. Wer ein Ideal vorstellt, ist in diesem Momente eins mit dem Ideal. Er unterscheidet sich erst nachher von seinem Erlebnis, während er vorher eins mit ihm war. So ist unser ganzes Bewußtsein etwas, was wir erst erlebt und dann wie ein Objektives in unserem inneren Seelenleben aufgespeichert haben. Solche Aufspeicherung in das Objektive hinein macht unser Bewußtsein möglich. Wir könnten kein Bewußtsein entwickeln, wenn immer gleich alles vergessen, hinweggeschafft wäre, was wir erlebt haben.

Indem wir unser Erlebnis uns entgegenstellen, als «Ge­genwurf», wie Jakob Böhme sagt, wie ein Entgegengestelltes uns gegenüberstellen, nur dadurch entzündet sich unser eigentliches Bewußtsein. Das haben wir sozusagen mit der einfachsten Tatsache unseres Bewußtseins zu beobachten. Jakob Böhme dehnt dieses Erlebnis, das ein jedes Bewußt­sein haben kann, in seinem hellseherischen Anschauen auf alle Welt aus. Er sagt: Wenn ein göttliches Wesen in der Welt einmal nur die Fähigkeit gehabt hätte, in sich zu leben, sich aber nicht seinem Erlebnisse - als Gegenwurf - gegenüberzustellen, so würde es niemals auch in einem gött­lichen Wesen zu einem Bewußtsein gekommen sein. Für das göttliche Wesen aber ist der Gegenwurf die Welt. Wie wir unsere Vorstellungen uns entgegensetzen, wie wir uns an dem Objekt bewußt werden, so ist für das göttliche Be­wußtsein die Welt der Gegenwurf. Und alles, was uns um­gibt, hat das göttliche Bewußtsein aus sich herausgesetzt, um seiner selbst daran gewahr zu werden, wie wir unser Bewußtsein erst entwickeln, indem wir uns unsere eigenen Erlebnisse als Gegenwurf hinstellen.

Für Jakob Böhme war die Fassung dieses Gedankens nicht ein Theorie, sondern das war für ihn etwas, was ihm Befriedigung brachte für eine Frage, die für ihn ein Schicksal

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bedeutet, für die große Faust-Frage. Er konnte sich jetzt sagen: Wenn ich mich zurückversetze in das göttliche Bewußtsein gleichsam vor der Welt, so konnte dieses gött­liche Bewußtsein nur dadurch zu sich selbst kommen, wirk­liches Bewußtsein werden, indem es sich die Welt entgegen-setzte, damit es seiner an seinem Gegenwurfe gewahr wer­den konnte. So ist alles, was da lebt und webt und ist, aus dem Göttlich-Seelenhaften entsprungen, aus einem Willen dieses Göttlich-Seelischen, der als Wille die Begierde entwickelte, seiner selbst gewahr zu werden. Und in dem Augenblicke - das wurde Jakob Böhme jetzt klar -, wo sich das einheitliche Bewußtsein den Gegenwurf setzte und seiner selbst gewahr werden wollte, sich also verdoppelte, gleich­sam das Spiegelbild seiner selbst schuf, da schuf es dieses Spiegelbild in Mannigfaltigem, in der Mannigfaltigkeit ein­zelner Glieder, wie sich die einzelne menschliche Seele nicht bloß in einzelnen Gliedern auslebt, sondern in Gliedern, die eine gewisse Selbständigkeit haben, Hand und Fuß und Kopf und dergleichen. Man kommt Jakob Böhme nicht nahe, wenn man ihn als einen Pantheisten bezeichnet. Man muß schon den Gedankengang in einer ähnlichen Weise durchmachen, muß verstehen, wie er alles, was uns ent­gegentritt, als einen Gegenwurf der Gottheit auffaßt.

Auch wie der Mensch selber ist, gehört zu dem Gegenwurf der Gottheit, den die Gottheit aus sich heraussetzte, um ihrer selbst daran gewahr zu werden.Von diesem seinem Gesichtspunkte aus sagt Jakob Böhme: Die Menschen rich­ten den Blick empor, sehen die Sterne, die Wolkenmassen, die Berge und die Pflanzen, und wollen oftmals noch eine besondere Region der Gottheit außerdem annehmen. Aber ich sage dir, du unverständiger Mensch, daß du selber dem Gegenwurfe des Gottes angehörst; denn wie könntest du in dir irgend etwas verspüren und gewahr werden von göttlicher

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Wesenheit, wenn du nicht dieser göttlichen Wesenheit entfiossen wärest? Du stammst aus dieser göttlichen Wesen­heit, sie hat dich sich gegenübergestellt, wie aus ihr geboren, und du wirst in ihr begraben. Und wie könntest du wieder auferweckt werden, wenn eine dir fremde Gottheit gegen­überstände? Wie könntest du dich ein Kind Gottes nennen, wenn du nicht eins mit der Substanz und Wesenheit des Gottes wärest!

Daß Jakob Böhme nicht einen gewöhnlichen Pantheis­mus meint, drückt er dadurch aus, daß er sagt: Die äußere Welt ist nicht Gott, wird auch ewig nicht Gott genannt, sondern ein Wesen, darin sich Gott offenbart. - Wenn man sagt: Gott ist alles, Gott ist Himmel und Erde und auch die äußere Welt, so ist das wahr; denn von ihm und in ihm urständet alles. Was mache ich aber mit einer solchen Rede, die keine Religion ist? - Einen Pantheisten kann man ihn nicht nennen. Wie für ihn die Frage nach dem Wesen der Welt nicht etwas Gesuchtes ist, so auch nicht das, was er sich als Antwort darauf gibt, sondern es ist ein Er­lebnis für ihn. Er hat die Bedingungen des eigenen Bewußt­seins gefühlt und dehnt das aus auf das göttliche Bewußt­sein, weil er sich klar ist, daß sein Bewußtseinsvermögen ein Echo ist der Tatsachen der Welt. In der Beantwortung der Frage nach der Seele und dem Göttlichen der Seele findet er auch die Frage nach dem Ursprunge des Bösen beantwortet. Das ist etwas für Jakob Böhme außerordent­lich Charakteristisches, was immer wieder die Bewunderung von tiefsinnigen Denkern erregt hat. So war zum Beispiel Schelling ganz bedeutsam berührt, als er gewahr wurde, in welcher Art sich Jakob Böhme der Frage nach der Bedeu­tung des Bösen in der Welt näherte, und auch andere Den­ker des neunzehnten Jahrhunderts bewunderten den Tiefsinn, mit dem Jakob Böhme diese Frage anpackte.

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Man kann von vielen Leuten sagen, die der Frage nach dem Ursprunge des Bösen nachgegangen sind: sie haben den Urgrund des Bösen gesucht. Das ist nun charakteristisch für Jakob Böhme, daß er weiter geht als bis zu jenem Punkte, bis zu dem man nach der Meinung vieler Leute einzig und allein gehen kann. Denn wohin soll man noch gehen, wenn man bei diesem Urgrunde nicht stehenbleiben will? Jakob Böhme geht über den Urgrund hinaus, da er die Frage nach der Bedeutung des Bösen lösen will. Er geht zu dem, was er bedeutsam nicht den Urgrund, sondern den Ungrund nennt, und hier stehen wir tat sachlich vor einem Erlebnis der menschlichen Seele in Jakob Böhme, das man im höchsten Maße bewundern kann, wenn man ein Organ dafür hat. Gewiß, die gewöhnliche Seele, die in der moder­nen Weltanschauung wurzelt, wird dieses Organ vielleicht nicht haben; aber man kann dieses Organ haben, das Be­wunderung empfindet, wo bei Jakob Böhme der Übergang gemacht wird vom Urgrunde zum Ungrunde. Im Grunde genommen ist es doch etwas wie das «Ei des Kolumbus», etwas höchst Einfaches. Denn in dem Augenblicke, wo Jakob Böhme das Weltenrätsel sich so gelöst hatte, wie wir es eben charakterisiert haben, als er sich klar war, es ist ein Ver­hältnis zwischen Gott und Welt wie zwischen der Seele und den Leibesgliedern, da konnte er sich auch sagen - er hat nicht diese Worte gebraucht, aber wir wollen in seinem Geiste, weniger in seinen Worten charakterisieren, denn wir kommen dadurch seinem Verständnisse näher -: Als die Welt als Gegenwurf der Gottheit zustande gekommen ist, da ist in dem Gegenwurfe die «Schiedlichkeit» aufgetreten, die Unterschiede der Glieder, wie wir sagen würden. Die Schiedlichkeit der einzelnen Leibesglieder gegenüber der einzelnen Seele ist aufgetreten. Ist nicht jedes einzelne Lei­besglied in bezug auf Verrichtungen der Seele gut? Können

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wir nicht sagen: Die rechte Hand ist gut, die linke Hand ist gut, alles ist gut, insofern es den Verrichtungen der Seele dient? Aber kann die rechte Hand nicht wegen ihrer rela­tiven Selbständigkeit, ja, gerade wegen ihrer Güte, die linke Hand verletzen? Da haben wir gegen das, was Harmonie ist, hingestellt die Selbständigkeit des Leiblichen, dasjenige, was «keinen Grund» zu haben braucht, haben das hinein­gestellt in den Urgrund, was sich einfach dadurch ergibt, daß wir vom «Urgrunde» zum «Ungrunde» gehen.

Wie wir nicht im Lichte den Grund der Finsternis zu suchen brauchen, so brauchen wir nicht in dem Guten den Grund des Bösen zu suchen. Aber indem sich die Welt für Jakob Böhme als der Gegenwurf der Gottheit erweist, er­gibt sich in dieser Welt der Schiedlichkeit die Möglichkeit, daß die einzelnen Glieder gegeneinander wirken, indem sie, weil sie zum Zwecke der Welt, nach der Zielstrebigkeit der Welt ihre Selbständigkeit haben müssen, diese Selbständig­keit auch entfalten müssen. So wurzelt für Jakob Böhme das Böse nicht in dem, was man erklärt, sondern in dem, was sich ergibt als Ungrund, ohne daß man es zu erklären braucht. Dadurch aber tritt letzteres wie von selbst als ein Gegenwurf des Guten auf; und jetzt wird das Böse, das Unzweckmäßige, das Schädliche in der Welt gegenüber dem Guten für Jakob Böhme selber ein Gegenwurf' wie wir unser selbst an dem Objekt gewahr werden.

Wir gehen fort im Raume, wir denken nicht an uns, aber wir fangen an, sogleich an uns zu denken, wenn wir uns zum Beispiel den Kopf an einem Fenster stoßen: da werden wir durch den Gegenwurf, durch das Objekt, unser selbst gewahr. Wie er das Bewußtsein gegen den Gegenwurf stellt, wie er sich erfährt an dem Gegenwurf, so wird für Jakob Böhme das Gute, das Zweckmäßige, das Vorteilhafte und Nützliche seiner selbst gewahr, indem es sich gegenüber

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dem Schädlichen und Unzweckmäßigen zu erhalten hat, wird seiner selbst gewahr, indem das «Böse» der Gegenwurf - des Guten wurde, wie die Objekte, die durch das An­stoßen nach der Außenwelt hin erlebt werden.

So sieht Jakob Böhme in dem Guten die Kraft, die sich ihren Gegenwurf einverleibt, wie sich der Mensch in der Erinnerung immer mehr das einverleibt, was er selber erst aus dem Bewußtsein herausgesetzt hat. So finden wir ein fortwährendes Aufsaugen des Bösen und dadurch ein Be­reichern der Gutheit mit der Bösheit. Und wie Finsternis sich zum Licht verhält, indem das Licht in die Finsternis hineinscheint und dadurch erst sichtbar wird, so wird das Gute erst wirksam, indem es in das Böse hineinwirkt und sich zu dem Bösen verhält wie Licht zu Finsternis. Wie sich Licht an Finsternis zu den verschiedenen Farben abstuft und nicht als Licht erscheinen könnte, wenn ihm nicht Finster­nis entgegenstünde, so kann das Gute nur seine Welten-funktion verrichten, indem es sich selber an seinem Gegen­wurfe, an dem Schlechten erlebt.

So sieht Jakob Böhme in die Welt hinein, sieht das Gute so wirksam, daß es das Böse sich gegenübergestellt findet, aber das Böse in sein Gebiet hineinstellt, gleichsam aufsaugt. So erscheint für Jakob Böhme ein vorirdisches Er­eignis so, daß er sich sagt: Die Gottheit hat sich einstmals andere geistige Wesenheiten gegenübergestellt. Diese waren, wie unsere jetzige Natur auf einer späteren Stufe, ein Ge­genwurf der Gottheit. So waren diese Wesenheiten schon ein Gegenwurf der Gottheit, wodurch sich die Gottheit zum Be­wußtsein brachte. Aber sie verhielten sich zu der Gottheit wie die Glieder, die sich gegen den eigenen Leib wenden. Dadurch entstand für Jakob Böhme die Wesenheit Luzifer. Was ist für ihn Luzifer? Es ist die Wesenheit, welche, nach­dem der Gegenwurf geschaffen war, die Schiedlichkeit, die

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Mannigfaltigkeit dazu benutzte, um als selbständiger Ge­genwurf sich gegen ihren Schöpfer aufzulehnen. So findet Jakob Böhme in den miteinander differierenden, kämpfen­den Kräften der Welt dasjenige, was da sein muß, was aber doch zur Gesamtevolution beiträgt, indem es im Laufe der Entwickelung aufgesogen wird. Wie er sich auch nur vor­stellt, daß alle Taten des Götter-Widersachers - damit sich die Taten der Gottheit selber nur um so stärker an dem Gegenwurfe ausleben - von der Gottheit aufgesogen wer­den, und daß das Sichausleben der Gottheit nur um so glor­reicher wird durch die Kräfte, welche der Widersacher ent­wickelt.

Bis tief in die Welt hinein verfolgt Jakob Böhme den Gedanken, der das Erleben des Bewußtseins ausbreitet zu dem Wekerlebnis von dem Ursprunge und Urstand des Bösen. In eine einfache Formel bringt er, man kann nicht sagen, was er als die Lösung der Weltenrätsel theoretisch gegeben hat, sondern was er erlebt hat, in die Formel: Kein Ja ohne ein Nein, denn das Ja muß sich an seinem Gegen­wurfe, an dem Nein, erst erleben. «Kein Ja ohne ein Nein» ist die einfache Formel, in die Jakob Böhme das ganze Problem des Bösen hineinbrachte.

Nicht eine theoretische Formel ist es, sondern es liegt in dieser Philosophie etwas wie ursprünglichstes, elementarstes Erleben. Denn zu wissen, daß kein Ja ohne ein Nein ist, daß das Böse aufgesogen wird von dem Guten und zur Weltentwickelung beiträgt, das mag noch nichts sein. Aber etwas anderes ist es noch, eine ringende Seele zu sein, eine Seele, welche Schmerz und Leid, Versuchungen und Ver­führungen erlebt, und sich zu sagen: Das alles muß doch da sein, und trotzdem es da ist, kann ich mir aus meinem nicht theoretisierenden' sondern lebendigen philosophischen Wort die Sicherheit und den Trost und die Hoffnung bereiten,

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daß das Beste in mir die Möglichkeit finden wird, um das, was nur der Gegenwurf, das Nein ist, durch das Ursprüngliche, durch den «Wurf», durch das Ja zu über­winden. Und wenn ich mich noch so sehr in das Böse ver­stricke, und wenn der Lichtstrahl noch so klein ist, der sich darüber verbreitet: ich kann und darf hoffen auf Befreiung, daß nicht das Böse, sondern das Gute in mir den Sieg da­vontragen werde.

Wenn eine solche Philosophie übergeht in Erlösungsgewißheit, dann ist das etwas, was in dieser Art zwar mit der Persönlichkeit verknüpft ist, aber mit diesem Persön­lichkeitscharakter zugleich allgemeine menschliche Bedeu­tung hat. Wenn man dies auf seine Seele wirken läßt, dann geht man gern von dieser ringenden Seele, die bis in die kalten Abstraktionen des «Ja» und «Nein» hinaufgeht, um den wärmsten Seeleninhalt und die wärmsten Seelenerleb­nisse daraus zu gewinnen, dann geht man gern von dieser, in ihrer Weltanschauung Zuversicht sich erringenden Seele über zu dem einsamen Manne in Görlitz, der keine Gelegen­heit hatte, eine Schule zu gründen, denn diejenige Zeit, welche die Menschen sonst auf geistige Dinge verwenden, mußte er dazu verwenden, Schuhe zu machen. Abringen mußte er sich die Zeit zu seinen zahlreichen Werken. Man geht gern zu dem Menschen, dessen Büchern man ansieht, wie er mit der Sprache gerungen hat, weil seine äußere Bil­dung eine so geringe war, dessen Lehren aber trotzdem nach seinem Tode sich ausbreiteten und Ausdehnung gewannen, der auf seinem Schusterstuhle saß und nur wenig Freunde hatte, denen er sich mitteilte. Er hatte zwar Freunde, an welche er Briefe schrieb, aber ihre Zahl war nur gering. So schaut man ihn in seiner Einsamkeit und bekommt die Empfindung, als ob ein notwendiger Zusammenhang darin bestünde: wie man sich Giordano Bruno nur denken kann

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die Welt durchwandernd, von Land zu Land ziehend, um wie mit Posaunenton etwas von der Welt zu verkünden, wie man bei ihm, der auf die Mannigfaltigkeit der Erschei­nungen eingeht, fühlt, daß dieses Wandern zu dieser Welt­anschauung gehörte, so fühlt man in dem anderen Falle, daß dieser einsame Schuster etwas erlebte, was nur so erlebt werden konnte, daß es sich gleichsam wie in einem einsamen Zwiegespräch mit den Geistern des Daseins abspielte, sich abspielte in diesem einsamen Sehertum, das wir eingangs charakterisiert haben.

Wenn wir so fühlen, dann wächst in uns die Empfindung gegenüber dem, was der Mensch zur gemütvollen Lösung der Weltenrätsel braucht: daß das Größte, was der Mensch in der Welt erleben kann, unabhängig ist von Ort und Zeit, nur gebunden ist an die Kraft der Vertiefung der mensch­lichen Seele, und daß die Seele die größten Weltenwande­rungen, die Wanderungen in die Geistgebiete, überall und immer anstellen kann. Dann klingt uns aus Jakob Böhmes Seele das entgegen und berührt unser Verständnis, was als ein so bedeutsames Wort seine Weltanschauung charakteri­siert, wenn er sagt:

Wem Zeit wie Ewigkeit,
und Ewigkeit wie Zeit,
der ist befreit
von allem Streit.

Das charakterisiert nicht seine Weltanschauung in theore­tischer Beziehung, sondern es charakterisiert, was seineWelt­anschauung wirklich dadurch geworden ist, daß er ein so ganz besonderer Mensch war. Haben wir doch hervorheben können, daß er durch seine ganze Wesenheit intimer mit der Natur im Zusammenhange stand als der normale Mensch, daß er das Weben und Treiben der Natur in seinen eigenen

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Seelenerlebnissen erlebte. Das macht, daß wir eine gewisse Notwendigkeit in einer Bezeichnung empfinden, welche die Freunde Jakob Böhmes diesem gegeben haben. Eine glück­liche Bezeichnung haben sie ihm gegeben. Denn bedenken wir einmal: Als drüben im Morgenlande, im Orient, bereits eine weit ausgebreitete, wunderbar ins einzelne gehende Wissenschaft vorhanden ist, deren Weisheit wir bewundern, wenn wir sie kennenlernen, da finden wir auf mitteleuro­päischem Boden noch die allereinfachste Geisteskultur, fin­den, wie in allen Seelen Mitteleuropas noch etwas lebt wie ein inniger Zusammenhang der Kräfte in den Seelenunter­gründen mit den Kräften der Natur und Naturwesen, und wie die Leute die Zweige auf den Boden warfen und aus den «Runen», die sich da bildeten, allerlei Rätsel sahen und zu lösen suchten. «Runenrätsellöser» waren diese Menschen. Und von alledem, was aus den Seelen der Menschen in Ger­maniens Wäldern spricht von dem, was in der Natur lebt, was durch die Bäume rauscht oder geheimnisvoll in den Menschenseelen selber lebt, von alledem fühlen wir etwas wie in Jakob Böhmes Seele wirksam.

Da wird uns wohl etwas in Jakob Böhme begreiflich, was uns heute am schwersten begreiflich wäre. Es ist nicht erzwungen, wenn man neben den Runenrätsellöser, der aus den auf den Boden geworfenen Zweigen allerlei Rätsel löst und die Offenbarungen der Gottheit selber erkennen will, wenn man daneben hinstellt, wie Jakob Böhme aus seiner Verwandtschaft mit dem Sprachgefühl zum Beispiel die Silben «sul» und «phur» runenartig hinstellt und daraus Weltenrätsel lösen will. Da erscheint er uns wie ein letzter Sproß aus Germaniens Wäldern, und wir begreifen, warum seine Freunde ihm den Namen «Philosophus teutonicus» gegeben haben. Das schließt aber seine Bedeutung für die kommenden Zeiten ein.

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Wir blicken auf ihn hin, wie er mit dem Aufregendsten gerungen hat, das in die menschliche Seele hereinspielen kann, wie er in diesem Ringen zum Frieden gekommen ist, und wie die letzten Worte von ihm: «Nun fahr ich hin ins Paradies», die Besiegelung der Seelenkonsequenz, der Seelen-praxis waren. Das ist es, was ihn zum Frieden der Seele geführt hat. Ein Hauch des Glaubens lebt in allen seinen Büchern, und von diesem Gesichtspunkte aus wird Jakob Böhme für uns und für alle Zeiten Bedeutung haben kön­nen. Für das, was er der Seele, wenn sie sich in ihn einlebt, für die praktische Lebenskonsequenz einer Philosophie wirklich sein kann, wird dieser «Philosophus teutonicus» immer tonangebend sein.

Seine Gegner nehmen sich manchmal recht sonderbar aus, angefangen vom Jahre 1684, als die erste stärkere Gegen-schrift gegen Jakob Böhme von Kallo erschienen ist, bis in unsere Zeit, wo wir im vorigen Jahrhundert auch eine Schrift gegen Jakob Böhme von einem Leipziger Gelehrten, Dr. Harles, haben. Recht sonderbar erscheint es, wie Harles zeigen will, daß Jakob Böhme doch weiter nichts als alte alchimistische Dinge aufwärmte, und dann sagt: nachdem er sich oft tagelang gequält hat, so Jakob Böhme hinzu­stellen, da war er oft froh, wenn er abends, nachdem er sich des Tages über so mit Jakob Böhme befassen mußte, an Matthias Claudius herantreten konnte, um in seinen Wor­ten Erholung und Erbauung zu finden; und er wünscht auch seinen Lesern, daß sie sich nicht von den gleißenden und glimmernden Formeln JakobBöhmes berücken lassen möch­ten, sondern daß auch sie ihre Zuflucht zu dem einfachen und naiven Matthias Claudius nehmen möchten, der solches der Seele gibt, daß die Seele ihr Heil nicht zu suchen braucht im Aufschwunge zu den höchsten Höhen des geistigen Le­bens. Mag nun sein, daß jener Dr. Harles, der Widersacher

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von Jakob Böhme, zu Matthias Claudius seine Zuflucht nehmen mußte, um von den gleißenden, hochfliegenden Formeln Jakob Böhmes abzukommen, und daß er bei Clau­dius Ruhe finden konnte gegenüber dem Sichbeschäftigen mit Jakob Böhme Einen sonderbaren Eindruck macht es nur bei einem, der es weiß, daß Matthias Claudius selber, nachdem er das geleistet hatte, was Dr. Harles bei ihm fin­det, seinerseits seine Zuflucht suchte bei jemandem, der Jakob Böhme nicht nur kannte, sondern ihn sogar übersetzt hat - bei Saint Martin, der wieder ein getreuer Schüler von Jakob Böhme war! So ist es sehr gut, wenn man nicht nur weiß, woran Dr. Harles, der Gegner Jakob Böhmes, Erbau­ung sucht, sondern wenn man auch weiß, woran wieder Matthias Claudius seine Erbauung suchte!

Aber die Weltanschauung Jakob Böhmes ist eine solche, die geeignet ist, über die Widersprüche hinauszuführen, wenn man nur nicht bei ihr stehenbleibt. Die ganze Natur der hier gehaltenen Vorträge hat ja gezeigt, daß wir inner­halb der hier vertretenen Weltanschauung nicht bei irgend­einer Erscheinung stehenbleiben sollen, sondern daß erfaßt werden soll, was von der geistigen Welt unmittelbar aus unserer eigenen Zeit heraus erfaßt werden kann. Gewiß bleibt Jakob Böhme eine bedeutende Persönlichkeit, ein Stern erster Größe am Geisteshimmel der Menschheit, stehen­bleiben wird niemand bei ihm. Daher sind auch die Dar­stellungen, die heute über Geisteswissenschaft gegeben wer­den, durchaus nicht vom Standpunkte Jakob Böhmes aus gehalten, sondern von dem unserer Zeit, und es soll auch das nächstemal gezeigt werden, was ein ganz moderner Geist zu sagen hat. Aber Jakob Böhme wird noch inter­essanter, wenn wir uns in seine in Einfältigkeit und Ein­samkeit aufrechtstehende, mit der Seele in die höchste Region des Hellsehens entfliehende Geistesait versetzen,

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und wenn wir finden, wie diese Geistesart Frieden über Jakob Böhmes Seele ausbreiten konnte, der von allen nachempfunden werden kann, die sich verständnisvoll oder wenigstens Verständnis suchend Jakob Böhme nahen. Des­halb werden auch nicht Verstandes-Charakteristiken an Jakob Böhme heranführen, sondern nur solche, welche nach­zufühlen versuchen, was ein Mensch wie Jakob Böhme fühlte, was sich ausgoß wie zum Beispiel schon in die angeführten vier bedeutungsvollen Zeilen. Dann nur werden die Worte, mit denen ich Jakob Böhme zu charakterisieren versuchte, ihre Bedeutung gewinnen können, wenn die Anwesenden fühlen, daß sie nicht gesagt waren, um in einer Theorie oder theoretischen Charakteristik Jakob Böhmes zu gipfeln, sondern darin, daß im unmittelbaren Gegenüberstehen der Persönlichkeit Jakob Böhmes von dieser etwas ausströmt -und um so wärmer und intensiver ausströmt, je mehr wir sie kennenlernen -, was das Gesagte zusammenschließen kann in einem seinen Frieden, seine Ruhe bezeichnenden Worte:

Wem Zeit wie Ewigkeit,
und Ewigkeit wie Zeit,
der ist befreit
von allem Streit.

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DIE WELTANSCHAUUNG EINES KULTURFORSCHERS DER GEGENWART, HERMAN GRIMM, UND DIE GEISTESFORSCHUNG Berlin, 16.Januar 1913

Es könnte leicht scheinen, als ob das, was hier als Geistes­wissenschaft vertreten wird, innerhalb des gegenwärtigen Kulturlebens ganz isoliert dastehe und keine Beziehung zu demjenigen hätte, was sonst im Geistesleben der Gegenwart herrscht und in einer gewissen Beziehung tonangebend ist. Das kann aber nur dem so erscheinen, welcher in einer ge­wissen engherzigen Weise diese Geisteswissenschaft oder Geistesforschung auffaßt und in ihr nichts anderes sieht als eine Summe von gewissen Lehren und Theorien. Wer aber in ihr eine geistige Strömung sieht, die in sich alles aufnehmen will, wozu das Geistesleben aus den nun einmal heute zu eröffnenden Quellen führt, der wird gewahr wer­den, daß von dieser geistigen Strömung aus sich die Linien zu mancherlei Richtungen des modernen Geisteslebens hin ziehen lassen, und daß diese Geisteswissenschaft genannte Art der Lebensbetrachtung anwendbar ist auf andere, ihr mehr oder weniger nahestehende geistige Richtungen. Von einer solchen geistigen Richtung soll heute die Rede sein, von einer geistigen Richtung, die uns durch eine markant hervortretende Persönlichkeit des modernen Geisteslebens repräsentiert werden kann, durch den modernen Kultur­und Kunstforscher Herman Grimm.

Herman Grimm, der 1828 geboren und 1901 gestorben ist, erscheint in der Tat wie ein ganz besonders ausgeprägter

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Typus des modernen Geisteslebens auf der einen Seite, und doch wiederum so individuell eigenartig, so als eine be­sondere Gestalt dastehend, daß sich an diese Persönlichkeit gerade die heutige Betrachtung ganz besonders gut anknüp­fen läßt. Herman Grimm erscheint demjenigen, der sich mit ihm beschäftigt hat, wie eine Art Vermittlungsglied zwischen jenem Geistesleben der neueren Zeit, das mit dem Namen Goethe zusammenhängt, und unserem eigenen modernen Geistesleben.

Auf eine ganz besondere Art hängt Herman Grimm mit alledem zusammen, was an den Namen Goethe ange-knüpft werden kann, durch seine Vermählung mit der Toch­ter derjenigen Persönlichkeit, welche dem Goetheschen Kreise so nahestand, der Schwester des romantischen Dichters Brentano' Bettina Brentano. Mit ihr war also Herman Grimm verwandt, sie war seine Schwiegermutter, jene Bettina Brentano, welche den merkwürdigen Briefwechsel Goethes mit einem Kinde herausgegeben hat, jene Bettina Brentano' von welcher jenes einzigartige Denkmal Goethes herrührt, wo wir Goethe dasitzen sehen, wie ein Olympier thronend, ein Musikinstrument in der Hand, in die Saiten eingreifend ein Kind, in welchem sich Bettina Brentano selber darstellte. Wie ein Kind kam sich diese aus dem Frankfurter Kreise La Roche stammende Persönlichkeit vor in ihren Beziehungen zu Goethe, und aufgehen konnte sie in Goethes Geist wie nur wenige. Und wenn auch so man­cher in den Briefen, die Bettina Brentano mitteilt, etwas Ungenaues findet, Dichtung und Wahrheit bunt durchein­andergemischt, so muß man doch sagen: alles, was wir in diesem merkwürdigen Buche «Goethes Briefwechsel mit einem Kinde» haben, ist innig herausgewachsen aus Goethes Geistesart, gibt uns in einer ganz wunderbaren Weise ein Echo dieser Goetheschen Geistesart. Vermählt war Bettina

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Brentano wiederum mit dem Dichter Achim von Arnim, der bei der Herausgabe der wunderschönen Volksdichtungs-sammlung «Des Knaben Wunderhorn» beteiligt war. Durch die Verwandtschaft mit diesem Kreise - wie gesagt, Herman Grimms Frau, Gisela Grimm, war eine Tochter von Bettina Brentano oder Bettina von Arnim-, durch diese Verwandtschaft war Herman Grimm von Jugend auf so­zusagen inmitten von Persönlichkeiten aufgewachsen, die Goethe durchaus nahestanden, die zu ihm in all das, was er in seiner Erziehung aufnahm, etwas herübertrugen wie einen persönlichen und unmittelbar elementaren geistigen Hauch Goethes. So fühlte sich auch Herman Grimm von Jugend auf dazugehörig zu all denen, die Goethe noch per­sönlich nahestanden, trotzdem er ja bei Goethes Tod ein Kind war. Und nicht wie einer, der Goethe und den Goethea­nismus «studiert» hat, stand Herman Grimm da, sondern wie einer, der das Goethe-Wesen, der Goethes ganze leben­dige Zauberkraft und Goethes ganzes lebendiges Mensch­heitswesen unmittelbar, elementar, persönlich in sich auf­genommen hatte.

So durchlebte denn Herman Grimm mit innigem Anteil die Entwickelung des deutschen Lebens in den mittleren Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts. Er durchlebte es so, daß er sich gewissermaßen sein eigenes Reich inner­halb dieses deutschen Lebens begründete. Man kann ihn einen Geist nennen, der in individuellster Art überall auf das­jenige losging, was gerade für ihn anregend war, was frucht­bar war für die Entwickelung seiner eigenen Geisteskräfte. Dadurch gliederte sich für Herman Grimm aus dem ganzen Umfange des Kulturlebens das heraus, was ihm angemessen war: ein geistiges Reich, in welchem er sich heimisch fühlte. Innerhalb dieses geistigen Reiches, in welchem sich Herman Grimm heimisch fühlte, erkannte er sich gewissermaßen als

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den geistigen Statthalter Goethes an. Ihm erschien Goethes Geist wie ein fortlebendes Wesen. Und wo er die Ströme desjenigen aufsuchte und auf sich wirken ließ, was ihm im Geistesleben konform war, da war es immer mehr oder weniger das Goethesche Wesen, das er nicht nur gewahr zu werden suchte, sondern das ihm Maßstab wurde bei allem, was ihm im Geistesleben entgegentrat.

Es waren Jahrzehnte eines Ringens des deutschen Kultur-lebens, die Herman Grimm durchlebte. Jahrzehnte waren es, in denen nach Goethes Tode das Goethe-Wesen ziemlich zurückging, in denen man sich um so viele andere, man möchte sagen mehr den unmittelbaren Tag berührende Dinge zu kümmern hatte, als um die Strömungen, die von Goethe ausgingen. In jener Zeit, in der es von vielen an­deren Dingen innerhalb Deutschlands recht laut, von Goethe aber etwas still geworden war, betrachtete sich wohl Her-man Grimm durch den unmittelbaren Zusammenhang mit dem Goethe-Wesen als einen Menschen, der auch still in sich, aber lebendig, das Goethesche Wesen zu pflegen und es hinüberzutragen hatte in eine Zeit, von welcher er eigent­lich sicher hoffte, daß sie kommen werde, eine Zeit, in wel­cher der Stern Goethes wieder lebendiger am europäischen Geisteshimmel aufleuchten sollte.

So, wie Herman Grimm sich gewissermaßen als den gei­stigen Statthalter Goethes, seines geistigen Reiches, betrach­tete, so war Herman Grimm auf eine naturgemäße Weise in seinem ganzen Handhaben des geistigen Lebens, in der ganzen Art und Weise, wie er sich zu geistigen Dingen stellte, etwas eigen. Es war ihm etwas eigen wie einem geistigen Fürsten, und man fand es natürlich, ihn so ge­wissermaßen als einen geistigen Fürsten anzuschauen. Bis in die äußere Gestalt, in die Physiognomie, bis in die Geste und in sein ganzes Auftreten hinein hatte er etwas von

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einem geistigen Fürsten. Und man darf sagen: Wenn man auch sozusagen nicht gewohnt war, in dieser Beziehung zu einer Persönlichkeit wie zu einer «fürstlichen» aufzusehen, so zwang einem Herman Grimms ganze Art etwas auf, ihm den eben gekennzeichneten Rang zuzuerkennen. So gedenke ich noch mit einem lieben Gedanken an ein Zu­sammensein mit Herman Grimm in Weimar, wohin er so oft und so gern kam. Er hatte mich damals als einzigen Gast zu einem Mittagsmahl eingeladen. Wir sprachen über verschiedenes, was ihn berührte. Wir sprachen auch - und es war für mich befriedigend, daß er dieses Gespräch mit mir führen wollte - über seine umfassenden geistigen Lebenspläne. Und als eine gewisse Zeit nach dem Mittag­essen vergangen war, da sagte er, in seiner Eigenart humo­ristisch zwar, aber doch wiederum natürlich, so daß man es von ihm hinnahm wie eben etwas Natürliches: «Nun, mein lieber Doktor, jetzt will ich Sie in Gnaden entlassen!» Es war tatsächlich etwas, was mir damals ganz den Eindruck der Selbstverständlichkeit machte, weil Herman Grimms Auftreten eben so war, daß man ihm eine gewisse geistige Fürstlichkeit zugestand.

So etwas trägt das ganze Lebenswerk Herman Grimms an sich. Man kann keine seiner größeren oder kleineren Schriften auf sich wirken lassen, ohne daß man, während diese auf der einen Seite so wunderbar harmonischen und auf der anderen Seite wieder so prägnant gebauten Sätze in die Seele einfließen, daneben die Empfindung hat: das alles wirkt so auf die Seele, die sich ihm hingibt, wie wenn immer die Persönlichkeit des Autors dahinterstünde, einen anschaute und mit ungeheuer seelenvollem, persönlichem Anteil einem das in die Seele schickte, was sie einem zu sagen hat. Das macht das ganz wunderbare, seelisch Tönende in Herman Grimms Schriften aus, daß sie allüberall in

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dieser schönsten Art der Ausfluß seiner ganzen seelenvollen Persönlichkeit sind und unmittelbar auch so wirken. Sein ganzer Stil erhält allerdings dadurch den Charakter eines gewissen berechtigten vornehmen Pathos. Aber dieses vor­nehme Pathos wird eben überall durch das persönliche Ele­ment, das man daraus hervorbrechen fühlt, gemildert. Man nimmt diesen Stil trotz seiner Vornehmheit als etwas Selbst­verständliches hin, und man fühlt ihm überall an, daß er seine Herkunft von der innigen Aufnahme Goethescher Geisteselemente hat, fühlt aber auch, daß diese Herkunft nicht das einzige ist. Man fühlt, daß das Goethesche Element durch­gegangen ist durch das romantische Wesen der deutschen Geistesentwickelung. Ein gewisses Losgelöstsein von allem, was man im breitesten Sinne das Alltägliche, Volkstümliche nennen kann, ein Zurückgezogensein in eine einzelne Per­sönlichkeit, ein ganz individuelles Wesen, eine ganz indivi­duelle Art verspüren wir in dem Stile Herman Grimms.

Vielleicht würde diese Richtung im Geiste Herman Grimms zu einer gewissen Einseitigkeit haben führen kön­nen, wenn nicht eine andere Strömung bei ihm mitgewirkt hätte, die ihn wieder so innig verbunden hat mit allem Volkstümlichen, die ihn hat Wurzel schlagen lassen tief hinein in den Geist alles Volkstümlichen. Denn Herman Grimm selber war ja der Sohn Wilhelm Grimms und der Neffe Jakob Grimms. Das sind die beiden Männer, welche die deutsche Sprachforschung in der neuzeitlichen Art be­gründet haben, die Männer, die jene mittlerweile so tief in das deutsche Geistesleben hineingedrungenen deutschen Märchen gesammelt haben, jene Männer, die hingehorcht haben auf das, was die einfachen Menschen aus dem Volke erzählten an Sagen und Märchen; Sagen und Märchen, die durch lange Jahrhunderte hindurch im einfachsten Volksgemüt gelebt hatten, die fast vergessen waren, nur durch

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einzelne wenige hinaufgetragen in die neuere Zeit, die aber heute wieder leben, weil sie zu dieser Wiederbelebung ge­bracht worden sind durch die Brüder Grimm.

Wenn so Herman Grimm, trotz seiner Vornehmheit im Stile in allem, was von ihm kommt, wieder etwas zeigt von Verwachsensein mit allem Volkstümlichen, so müssen wir noch etwas hervorheben, was eine vielleicht sonst zur Ein­seitigkeit gewordene Geistesrichtung harmonisch mit einer anderen Strömung verbindet, so daß uns alles in ihm wie eine Art innerer harmonischer Totalität erscheint. Haben wir doch, wenn wir Herman Grimm auf uns wirken lassen, in seinem ganzen Stile etwas wie eine gewisse Weichheit, wie eine Anschmiegbarkeit an alle die Geisteserscheinungen, in die er sich im Verlaufe seines Lebens vertieft hat. Ein Iso­liertsein als Mensch ist notwendig, wenn man sich so in die geistigen Erscheinungen und geistigen Tatsachen von man­cherlei Jahrhunderten vertiefen will. Diese Weichheit be­kommt aber wieder in Herman Grimm ihr Skelett, ihre Härte durch ein anderes, das in seine Erziehung eingeflossen ist: gehörten ja doch sein Vater und sein Oheim zu jenen «Göttinger Sieben», welche im Jahre 1837 gegen die Auf­hebung der Verfassung ihres Landes ihren Protest einge­reicht haben und deshalb von der Universität Göttingen entfernt worden sind. So erlebte Herman Grimm schon als Knabe eine Tat seltener Art und erlebte diese Tat mit man­cherlei Folgen. Denn gar mancherlei Folgen gab es für Vater und Oheim auch im alltäglichen Leben dadurch, daß sie nicht nur Stellung, sondern auch Brot damals verloren hatten. Und Herman Grimm hat es oft hervorgehoben, wie er mit den Impulsen des geschichtlichen Werdens schon da­mals als neunjähriger Knabe in Beziehung getreten ist, nicht durch das «Buch», sondern durch eine bedeutsame historische Tat.

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So steht Herman Grimm als Persönlichkeit vor uns. Wie eine Art von Träger des Goethe-Wesens kam er sich wohl vor in der Zeit, als es von diesem Goethe-Wesen in Deutsch­land stille geworden war und man sich anderen Dingen zu­gewendet hatte. Aber er erlebte es, daß dieses Goethe-Wesen wieder auflebte, und daß er selber mancherlei beitragen konnte zur Wiederbelebung dieses Goethe-Wesens. Er er­lebte es, daß er im Beginne der siebziger Jahre des neun­zehnten Jahrhunderts seine berühmten «Goethe-Vorlesun­gen» an der Berliner Universität halten konnte, jene Goethe-Vorlesungen, die auch in seinem bedeutsamen Goethe-Buch vorliegen. Und was ist dieses Goethe-Buch für ein Buch! Wer es als junger Mensch in die Hand bekommt und sich in der rechten Weise zu ihm zu stellen vermag, der darf ohne Zweifel im späteren Leben davon als von etwas Be­deutsamem sprechen. Und so, wie es eben ausgesprochen worden ist in diesem Buch, so steht Herman Grimm vor uns als einer, der sich zu Goethe zu stellen vermag, wie einer, der eingedrungen ist in die verschiedenen Veräste­lungen des Goetheschen Seelenlebens. So entwickelt er Werk für Werk dasjenige, was durch Goethes eigene Seele gezogen ist, während Goethe an diesen Werken geschaffen hat.

Da können wir nun Herman Grimm belauschen, wie er eine solche Persönlichkeit, wie es ihm Goethe war, be­trachtete. Da ist nichts von kleinlicher Biographensucht, da ist nichts von Aufstöbern von allerlei mehr oder weniger gleichgültigen Lebenszügen. Da ist aber doch wieder eine Vertiefung in alles das in Goethes Leben, was für Goethes Seelenentwickelung von Bedeutung und Wichtigkeit war. Da ist das Bestreben, zu verfolgen: wie wirkt das, was bei Goethe Erlebnis war, was in seiner Seele wirkte und lebte, wie gestaltet sich das um, so daß es Formen annimmt, daß es Bild wird, daß es ein Geschöpf der Goetheschen Phantasie

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wird, und Goethe selber dann, alles vergessend, was die Sache bloß im Leben war, ganz aufgeht in jenem Neuen, das in der Phantasie-Schöpfung aus dem Erlebnis geworden ist, in der Phantasie-Schöpfung, die selber nun Erlebnis ist?

So hebt sich bei jeder Betrachtung eines Goethe-Werkes durch Herman Grimms Darstellung Goethe in seinen Er­lebnissen um eine Stufe höher, hebt sich unmittelbar hinein in eine Sphäre des reinen geistigen Anschauens. Wie Goethe von seinem Leben hinaufstieg in geistiges Erfahren und gei­stiges Dasein, das zeigt Herman Grimm an jedem einzelnen der Goethe-Werke. Und wir machen mit ihm diesen Gang, den er durchmacht, immer deshalb so gern mit, weil nir­gends bei Herman Grimm etwas eintritt, was so leicht bei einer solchen Darstellung kommen kann: daß gleichsam eine einzelne Seelenkraft, der Verstand oder die Phantasie, mit dem Betrachter durchgeht, und man sich dann nicht mehr im Zusammenhange fühk mit dem unmittelbaren Leben. Nein, Herman Grimm geht nie weiter, aber immer so weit, als er als unmittelbar persönliche Individualität selber gehen kann, und dabei das ganze Werk verfolgen kann. Zum Schlusse fühlt man sich überall, wenn Herman Grimm einen bis zu dem Punkte geführt hat, wo aus dem Goeth-schen Erlebnis das Werk geworden ist, in rein geistiges Leben entrückt. Goethe wird einem ein Wesen, dessen In­halt rein geistig ist, eine Summe von rein geistigen Impulsen. Dieser Hauch des Geistigen breitet sich über alle Darstel­lung in dem Goethe-Buche Herman Grimms aus.

Was Herman Grimm so auf Goethe anwandte, das wur­zelte nun tief in der ganzen Geistesart Herman Grimms. Wohl längst, als er in jene Betrachtungen eintrat, die sich ihm zu seinen «Goethe-Vorlesungen» rundeten, stand schon vor ihm eine große, kolossale Idee, die Idee, das abend­ländische Geistesleben im ganzen so zu betrachten, wie er es

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individuell in bezug auf Goethe betrachtet hat. Die Idee stand vor ihm, drei Jahrtausende des abendländischen Gei­steslebens so zu verfolgen, daß sich überall zeigt, wie die alltäglichen, in der physischen Welt bestehenden Ereignisse und Tatsachen ihren eigentlichen Wert dadurch erhalten, daß sie durch Menschensinn und Menschengeist in dasjenige umgewandelt werden, was die menschliche Seele erlebt, wenn sie bis ins Reich dessen hinaufsteigt, was nun Herman Grimm «die schöpferische Phantasie» nannte. So wurde denn Herman Grimm ein Geschichtsbetrachter ganz eigener Art. Für ihn war Geschichte gewissermaßen etwas ganz anderes als für alle anderen modernen Geschichtsbetrachter.

Geschichte wird ja gewöhnlich so studiert, daß man die Dokumente, die Materialien sammelt und dann aus diesen Materialien heraus ein Bild der Menschheitsentwickelung zu geben versucht. Für Herman Grimm waren Materialien, waren äußere Tatsachen zwar ungeheuer wichtig, aber durchaus nicht die Hauptsache. Er hat sich oftmals den Ge­danken durch die Seele gehen lassen: Könnte es denn nicht sein, daß für irgendeine Zeitepoche gerade die allerwich­tigsten Dokumente, welche die entscheidenden sind, wenn man die Impulse der Zeit studieren will, spurlos verschwun­den sind, verlorengegangen sind, so daß man gerade, wenn man die Dokumente am genauesten, am treuesten ins Auge faßt, am allermeisten an der Wahrheit vorbeigeht? - Des­halb war er davon überzeugt, daß derjenige, welcher sich am treuesten an äußere Dokumente hält, im geringsten Sinne ein treues Bild der Menschheitsentwickelung geben kann. Nur ein gefälschtes Bild der Menschheitsentwicke­lung, so meinte Herman Grimm, könnte herauskommen, wenn man sich an äußere Dokumente hält.

Aber etwas anderes ist im Geistesleben der Menschheit aufgetreten: dasjenige, was äußerlich geschehen ist, was als

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äußere Tatsachen sich abgespielt hat, das ist in den geeig­neten Individualitäten zu einer geistigen Wiedergeburt gekommen, das hat sich ausgelebt in denjenigen Persönlich­keiten, die es künstlerisch umgestaltet haben, die es geistig verwertet haben. So blickte etwa Herman Grimm hin zum Beispiel auf die griechische Zeit. Er sagte sich: Gar. man­cherlei Dokumente sind über diese griechische Zeit vor­handen. Aus diesen Dokumenten ist nur im uneigentlichen Sinne etwas zu gewinnen für das Verständnis des Wesens des Griechentums. Aber was die Griechen erlebt haben, das hat seine Wiedergeburt gefunden in den Werken der grie­chischen Kunst, das hat seine Wiederbelebung erfahren in einzelnen griechischen Persönlichkeiten. Vertieft man sich in sie, läßt man das Griechentum durch das Medium der Persönlichkeit auf sich wirken, dann hat man ein treueres Bild dieses Griechentums als wenn man nur die Tatsachen äußerlich zusammenstellt. -Und so verschwanden für Herman Grimm gleichsam diese Tatsachen selber. Man möchte sagen, sie schmolzen ab von seinem Weltbilde, und was in seinem Weltbilde zurückblieb, das war ein fortlaufender Strom dessen, was er die Schöpfungen der Volksphantasie nannte.

Wollte er zum Beispiel Julius Caesar. betrachten, so ließ er nicht nur die historischen Dokumente auf sich wirken, sondern er meinte in dem, was Shakespeare aus Caesar ge­macht hat, etwas ebenso Bedeutsames für Caesar zu haben, als in den historischen Dokumenten vorhanden ist. Durch Menschen blickte er auf die Zeiten hin. Nicht nur, daß ihm der Verlauf der Menschheitsentwickelung etwas wurde, was eine Persönlichkeit immer der anderen reichte, sondern es wurde ihm eben der ganze Verlauf der Menschheitsentwicke­lung selbst ein geistiger Vorgang, den er allerdings in dem­jenigen erschöpft zu haben glaubte, was er die schöpferische

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Phantasie nannte. Von diesem Gesichtspunkte aus wollte er vor seiner Seele immer mehr und mehr ein Bild der in den abendländischen Kulturen schöpferischen Volksphan­tasie gewinnen, wollte den Hergang der abendländischen Menschheitsentwickelung so in seine Seele hereinbekommen, daß er sich sagen konnte: Wie die einzelnen Strömungen der abendländischen Kulturen ineinander übergehen, wie sie einander ablösen von den ältesten Zeiten her, bis zu denen er zurückgehen wollte, bis hinauf zu seiner eigenen, der Goethe-Zeit hin, so sind sie ein fortwaltender Strom des Webens der Volksphantasie in den abendländischen Völkern.

Von diesem Drange aus ging dann früh sein Blick zu jener grandiosen Erscheinung des abendländischen Geistes­lebens hin, die ihn eine Zeitlang beschäftigte, und über die er in den neunziger Jahren ein so beispiellos schönes Buch geschrieben hat wie seinen «Homer», seine Beschreibung der Ilias. Dieses Buch, das man immer wieder gern zur Hand nimmt, wenn man sich vom modernen geistigen Stand­punkte aus in den Beginn des Griechentums vertiefen will, es zeigt uns wieder Herman Grimm, wenn wir seinen all­gemeinen Geistesstandpunkt voraussetzen, von einer ganz besonderen Seite her. Sein Blick schweift hin auf die Götter und Götterwelten, die in der Ilias des Homer dargestellt werden, sein Blick schweift hin auf die kämpfenden grie­chischen und trojanischen Helden, und die Frage entsteht vor seiner Seele: Wie ist es denn eigentlich mit diesem Her-einspielen einer Götterwelt in die gewöhnliche menschliche Welt der kämpfenden Griechen und Trojaner? Das wird für ihn eine Frage. Ihm fällt auf, welch gewaltiger Unter­schied in der homerischen Darstellung vorhanden ist zwi­schen der auf der Erde herumwandelnden Menschheit und denjenigen Wesenheiten, die als unsterbliche Götter geschildert

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werden. Und Herman Grimm versucht nun dar­zustellen, wie gewissermaßen die Götter im Sinne Homers eine «ältere» Schichte von auf der Erde herumwandelnden Wesen darstellen. Wenn auch Herman Grimm in seiner mehr realistischen Art in diesen Wesen «Menschen» sieht, so schaut er doch zurück in eine Kultur, die zur Zeit Homers längst ihre Bedeutung verloren hatte, in eine Kultur, die von einer anderen abgelöst worden ist, welcher dann die trojanischen und griechischen Helden angehören. Eine ältere und eine jüngere Menschheitsschichte läßt Herman Grimm für die Ilias Homers zusammenspielen, und was übrigge­blieben ist an lebendigen Wirkungen von einer vorher lebenden Schichte von Wesenheiten, das spielt für Herman Grimm bei Homer in das hinein, was sich abspielt zwischen Griechenland und Troja.

In dieser Weise sieht Herman Grimm überhaupt in dem Fortgang der Menschheitsentwickelung ein fortwährendes Abgelöstwerden älterer, wir können sagen Kulturkreise oder Zyklen von neueren, und ein Hereinspielen von alten in neuere. Jeder neue Kulturzyklus hat eine gewisse Auf­gabe, die Aufgabe, etwas Neues in die allgemeine Mensch­heitsentwickelung hereinzubringen. Das Alte bleibt dann eine Weile noch vorhanden, spielt in das Neue hinein.

Man möchte sagen, soweit ein Mensch im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts in dasjenige hineinschauen konnte, was heute auch wieder von dem Gesichtspunkte der modernen Geisteswissenschaft aus vertreten werden muß, so weit hat Herman Grimm da hineingeschaut. Er ist nicht hinter die griechische Zeit zurückgegangen. Daher konnte er nicht geben, was die neuere Geistesforschung schildert im Zurückkommen zu über den Menschen erhabenen, rein geistigen Wesen der Vormenschheit. Aber er streifte überall an diese Ergebnisse der neueren Geistesforschung, streifte so

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nahe heran, als ein Mensch, der noch nicht selber innerhalb der Geistesforschung gestanden hat, heranstreifen kann.

In der Geistesforschung versuchen wir darzustellen, wie wir, wenn wir in der Menschheitsentwickelung zurückgehen, nicht zu der Tierreihe kommen im Sinn der Darwinistischen Theorie, die heute materialistisch ausgedeutet wird, sondern wie wir zu geistigen, rein geistigen Vorfahren der Menschen zurückkommen, und wie wir hinter jenem Menschheits­zyklus, da die Menschenseelen im physischen Leibe verkör­pert leben, einen anderen Menschheitszyklus haben, in wel­chem die Menschen noch nicht im physischen Leibe verkör­pert sind. Herman Grimm läßt gleichsam die Frage in der Schwebe: Was war es eigentlich mit den «Göttern», bevor die Menschen die Erde betreten haben? - Aber er erkennt die gesetzmäßige Aufeinanderfolge solcher Menschheits-zyklen an. Das gibt einen bedeutsamen Berührungspunkt mit den Darstellungen der Geistesforschung. Daß er aber überhaupt solchen regelmäßigen, in Perioden sich abspie­lenden Fortschritt anerkennt, das bringt ihn uns sozusagen ganz besonders nahe.

Über drei Jahrtausende sucht er seine geistigen Betrach­tungen auszudehnen. Das erste Jahrtausend ist ihm das Griechen-Jahrtausend. Man möchte sagen, es klingt etwas wie ein Unterton bei Herman Grimm durch, wenn man von ihm vernimmt, wie er diese Griechen so charakterisiert, als ob er sagte: Ja, wenn man zu den Griechen hinaufblickt, da kommen sie einem, besonders in der ältesten Zeit, noch gar nicht so gestaltet vor wie heutige Menschen. Selbst ein Mensch wie Alkibiades kommt einem noch wie eine Art Märchenprinz vor. In etwas, was übermenschlich ist, schaut man da hinein. Dennoch ragt aus dieser geistigen Welt der Griechen - die Herman Grimm, wie gesagt, unähnlich der späteren menschlichen Welt darstellt - auch in seinem Sinne

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alles, was an Impulsen in der Griechenwelt aufgegangen ist, in die spätere Welt hinein, so daß es bis zu unseren heu­tigen Tagen das wichtigste Element innerhalb unseres Gei­steslebens bildet. Und am Ende des ersten Jahrtausends, das Herman Grimm betrachtet, stellt sich vor seine Seele der wichtigste Impuls hin, den er in der Menschheitsent­wickelung anerkennt: der Christus-Impuls.

Herman Grimm ist gerade dort, wo er über die Gestalt des Christus spricht, in einem gewissen Sinne zurückhaltend, wie er überhaupt in mancherlei Dingen zurückhaltend ist. Aber die öfteren Bemerkungen, die er über den Christus macht, zeigen uns, daß er ebensowenig mit denjenigen ge­hen würde, die sozusagen den Christus wie bis zu einem bloßen Gedankenimpuls verflüchtigen möchten, noch möchte er auch mit denjenigen gehen, die in der Persönlichkeit des Christus Jesus nur etwas allgemein Menschliches sehen wol­len. Er hebt hervor, wie zweierlei Impulse von der Gestalt des Christus ausgehen, ein Impuls von kolossaler Stärke, der dann, auch für Herman Grimm, durch die ganze fol­gende Menschheitsentwickelung fortwirkt, und der andere Impuls von einer ungeheuren Sanftmut. Herman Grimm findet, daß das ganze zweite Jahrtausend der abendlän­dischen Kulturentwickelung sich so gestaltet, daß das Grie­chentum wie aufgesogen wird von dem Christus-Impuls und mit dieser Mischung von Christentum und Griechen­tum nun einzieht in die römische Welt, sie überwältigt und etwas ganz Besonderes hervorbringt. Das ist sein zweites Jahrtausend, das erste christliche Jahrtausend. Nicht die römischen Impulse sind ihm die Hauptsache, die christ­lichen sind es. Alles Politische, alles äußerlich Tatsächliche verschwindet in diesem Jahrtausend für den Blick Herman Grimms, und überall verfolgt er, wie der Christus-Impuls sich hineindrängt, und wie vielgestaltig dieser Christus-

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Impuls ist. Dabei ist seine Christus-Auffassung nicht eng, nicht klein, sondern weit. Als das Buch über das «Leben Jesu» von Ernest Renan erschien, da knüpfte Herman Grimm in seiner damals herausgegebenen Zeitschrift über «Künstler rund Kunstwerke» eine merkwürdige Betrachtung an. Er versuchte zu zeigen, wie die bildlichen Darstellungen der Christus-Gestalt durch die Jahrhunderte hindurch sich gewandelt haben sowohl in der bildenden Kunst wie in der Literatur. Er versuchte also, die Variabilität, die Verwan­delbarkeit des Christus-Impulses zu zeigen, und er zeigte, wie die Menschen immer diesen Christus-Impuls aufgefaßt haben je nach der Art, wie ihre eigene Geistesart war. Und dann sieht er in Ernest Renan einen, der im neunzehnten Jahrhundert den Christus in einer gewissen engen Art wie­der aufzufassen bemüht ist.

Ein Jahrtausend etwa - meint Herman Grimm - habe das Christentum gebraucht, um seine Impulse hineinzu-senden in die Rinnsale und Strömungen des abendländischen Geisteslebens. Dann kam sein drittes Jahrtausend, das zweite christliche, in dem wir selbst noch drinnenstehen, jenes Jahrtausend, in dessen Morgenröte dann Geister wie Dante, Giotto gewirkt haben und Künstler wie Michel-angelo, Leonardo da Vinci, Raffael und so weiter, das dann hingeführt hat zu den Geisteswerken Shakespeares und Goethes. Ganz gesetzmäßig trennten sich für Herman Grimm diese Zyklen in der Menschheitsentwickelung stets ab. Geistige Gesetze schaute er waltend in der Menschheits-entwickelung, deren dahinfließenden Strom er ansprach in der schöpferischen Phantasie-Wesenheit. Immer wieder suchte Herman Grimm diese Gliederung des Stromes der Menschheitsentwickelung in seinen Vorlesungen vor seine Studenten hinzustellen, um zeigen zu können, wie sich das einzelne geistige Schaffen hineinstellt in diesen Gesamtstrom.

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So war ihm Michelangelo, so waren ihm Raffael, Savo­narola, Shakespeare und andere, so war ihm Goethe gleich­sam ein geistiger Inhalt, der erklärbar wird, wenn man ihn auf dem Hintergrunde jenes fortfließenden Gesamt-stromes der schöpferischen Phantasie sieht, die für Herman Grimm ganz besonders anschaulich wurde an ihrer Quelle bei dem bis ins neunte oder wohl zehnte Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung zurückliegenden Homer. Und des­halb ist Herman Grimm einem so unendlich zur Seele spre­chend, weil er oft, wenn er einen ganz elementar und un­mittelbar hinführt zu einem Interesse am künstlerischen Werke - zum Beispiel zu Raffaels «Vermählung der Maria mit dem Josef», zu irgendeinem der Madonnenbilder oder anderen Werken, zu irgendeiner der Schöpfungen Leonardo da Vincis, oder wenn er zu irgend etwas hinführt, was er bei Goethe betrachtet -, weil er einen dann so hinführt, daß man das Gefühl hat, man steht im unmittelbar Individuell­sten dieses Kunstwerkes drinnen. Wenn man nun mit ihm betrachtet, wie die einzelne Farbe oder Geste in das Kunst­werk hineingestellt ist, und so isoliert vor dem Kunstwerke zu stehen glaubt, da taucht dann plötzlich etwas auf wie ein Tableau über den ganzen Menschheitsfortschritt, über ein Stück jenes fortfließenden Stromes der schöpferischen Phan­tasie, der ihm hinübergeht über drei Jahrtausende und in sich alles Einzelne einschließt.

So wird man durch Herman Grimm in das intime Ein­zelne der betreffenden Kunstwerke hineingeführt, und dann hinaufgeführt auf den Gipfel, von welchem aus der Ge­samtstrom betrachtet werden kann. Das war aber nicht etwas, was Herman Grimm in theoretischer Weise betrach­tete. Es erschien einem so natürlich, daß Herman Grimm in dieser Weise die Gesamtheit des fortfließenden geistigen Stromes der Menschheitsentwickelung anschaute - wie er es

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mir, wie erwähnt, damals beim Mittagsmahl auseinander­gesetzt hat -, weil er wirklich mit seiner ganzen Seele ganz naturgemäß selber in diesem geistigen Strome drinnen lebte, und er konnte gar nicht eine einzelne Erscheinung anders anschauen, als wie herausgeschnitten aus diesem gewaltigen Strome der Menschheitsentwickelung.

Die ganze abendländische Geistesentwickelung als Ent­wicklung der Volksphantasie -, so stand sie vor seiner Seele, aber nicht als eine allgemeine abstrakte Idee, sondern erfüllt von konkretestem Inhalt. Er wußte sich mit seiner Seele mit diesem durch Jahrtausende hinleuchtenden Inhalt so verbunden, daß alles, was er schrieb, einem eigentlich erscheint wie die einzelnen kleinen Abschnitte und Aus-schnitte eines Riesenwerkes. Selbst wenn man bei Herman Grimm nur eine Rezension eines Buches liest, so hat man den Eindruck, als ob das eigentlich herausgeschnitten wäre aus einem kolossalen Werke, das die ganze Menschheits-entwickelung als Phantasieschöpfung darstellt. Man fühlt sich förmlich vor ein solches Kolossalwerk hingestellt, wie wenn man dieses Werk aufgeschlagen hätte und ein paar Seiten darin lesen würde, wenn man einen Aufsatz oder Essay oder sonst etwas über irgendein Buch bei Herman Grimm liest. Und man begreift nun, wie Herman Grimm selber sagen konnte, als er die Vorrede zu seiner Fragmen­ten-Sammlung an seinem Lebensabend schrieb, daß ihm vorgeschwebt habe eine Darstellung des fortlaufenden Stro­mes der Volksphantasie, und daß ihm darin die Darstel­lung der ganzen abendländischen Kultur erschienen sei. Man begreift, daß das Einzelne, was er verfolgt hat, so erschien, wie wenn er einzelne Stücke aus einem fertigen Werke herausgenommen hätte. Dabei legte er auf das, was er gedruckt hatte, nie mehr Wert als auf das, was er nie­dergeschrieben hatte, und auf das, was er niedergeschrieben

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hatte, nie mehr Wert als auf alles, was in seinen Gedanken lebte.

Wenn man so etwas andeutet, dann möchte man, ohne die Sache in eine abstrakte Formel zu bringen, etwas ge­sagt haben über jene Empfindung, die man darüber hat, wenn man Herman Grimm liebgehabt hat und noch hat, und sein Geisteswerk und seine Art schätzt: daß Herman Grimm niemals hat dazu kommen können, wirklich auszu­führen, was so schön, so kolossal, so großartig vor seinem Geiste stand, daß selbst sein Homer-Werk, sein Raffael-Werk, sein Michelangelo-Werk, sein Goethe-Werk, wie Fragmente aus diesem, nichtgeschriebenen, umfassenden Werke uns erschienen. Mit einem gewissen wehmütigen Gefühl kann man jene Zeilen der schon genannten Einlei­tung zu den «Fragmenten» lesen, wo er sagt, daß er das, was er seinen Studenten Jahr für Jahr zu sagen hatte über die Entwickelung des europäischen Geisteslebens, jedes Jahr wieder neu umarbeitete, und daß es ja vielleicht angängig sei, die letzte Gestalt, welche diese Vorlesungen erhalten haben, zu einem Buche umzuarbeiten, welches dann in einem gewissen Sinne den Fortgang der europäischen Kulturentwickelung darstellen würde - daß es aber leider zu dieser Umarbeitung wohl nicht mehr kommen werde. Man liest heute diese Zeilen um so wehmütiger, als es ja auch wirk­lich nicht zu dieser Umarbeitung gekommen ist, und wir Herman Grimm haben hinsterben sehen, wissend, was da in seiner Seele lebte, und sehen mußten, wie das, was da in seiner Seele für die Gegenwarts-Kultur lebte, mit ihm ins Grab sinken mußte.

Es ist damit charakterisiert, aus welch geistig-umfassen­dem Gesichtskreise heraus alles einzelne bei Herman Grimm geschrieben ist. Wenn Geistesforschung gerade das sein will, was gewonnen werden kann durch die Erweiterung des

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geistigen Gesichtskreises, dann muß man sagen, daß der, welcher sich in Herman Grimms Geist und Darstellungs­weise vertieft, die allerschönste Anleitung aus dem mo­dernen Geistesleben heraus hat, um allmählich hineinzukommen in die ganze Art und Weise der Anschauung, die der Geistesforschung eigen ist. Aber auch wenn von der Weite des Gesichtskreises abgesehen wird und hineingesehen wird in Herman Grimms Seele selber, wie er sich den Erscheinungen zu nähern suchte, wie seine Empfindungen und Gedanken ihn zu allem hinführten, was er in seinen umfassenden Werken über Homer, Raffael, Michelangelo, Goethe geschrieben hat, und wenn man das, was er in seinen anderen Schriften dargestellt hat, ins Auge faßt, dann fin­det man, daß Herman Grimm sich bedeutsam unterscheidet von anderen Geistern, und daß er etwas hat, was zu jener Vertiefung der Seele gehört, von der hier gespro­chen worden ist, als der Weg geschildert wurde, den die Seele zu nehmen hat, um in die geistigen Welten selber einzutreten.

Wir haben es hervorheben können, daß die Intensität der Seelenkräfte für den Geistesweg stärker werden muß, daß, wenn tiefere Seelenkräfte hervorgeholt werden sollen, welche sonst schlummern, die Seele mehr innere Kraft, mehr inneren Mut und Kühnheit anwenden muß, als sie sonst im gewöhnlichen Leben zeigt, daß sie ihre Begriffe schärfer fassen muß, sich mehr mit ihrer eigenen Wesenheit iden­tifizieren muß, mit den Kräften des Denkens, Fühlens und Wollens. Dazu sind bei Herman Grimm überall Ansätze vorhanden, Ansätze, die allerdings bei ihm einen anderen Weg genommen haben, Ansätze, durch welche er in die Lage gekommen ist, in so intimer und persönlicher Art Kunstwerke zu schildern, wie er diejenigen Raffaels oder Michelangelos geschildert hat, was aber auf dem Wege ist,

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um noch tiefer in die geistige Welt hineinzuleuchten. Denn nicht das, was man heute «objektiv» nennt, liegt der Ge­schichtsforschung Herman Grimms zugrunde, sondern ein Verbundensein mit den Erscheinungen des Geisteslebens, die er darstellt, liegt seinen Darstellungen zugrunde. So daß seine eigene Seele, ihrer selbst vollständig vergessend, und doch wiederum in seltener Art ihrer selbst bewußt, un­tertaucht in die entsprechenden geistigen Erscheinungen.

Insbesondere tritt dies schön hervor, wenn er die eigene Seele erst hinführt zu der einzelnen geistigen Erscheinung, zum Beispiel zu Raffael, und dann diese einzelne geistige Erscheinung wieder heraufhebt zu dem Gesamtstrom des menschlichen Geisteslebens. Da werden seine Empfindungen zu kühnen, mächtigen Ideen, und was manch anderer nicht in solchen Empfindungs-Nuancen und nicht in solchen Ideen-Nuancen zu sagen wagte, das wagt Herman Grimm und wird so zu einem Geist-Darsteller, der in bezug auf Kühn­heit seiner Darstellung uns so gegenübertritt, daß wir manch­mal wahrhaftig erinnert werden an die Darsteller, welche die Evangelien geschrieben haben. Nur daß jene mit mehr Mystik geschrieben haben, Herman Grimm mit mehr mo­derner Geistesbetrachtung. Und wie jene hinaufwachsen zu dem Horizont der gesamten Menschheit, so wächst Her-man Grimm mit seinem «Raphael» hinauf bis zu dem Horizont der gesamten Menschheit.

Wunderbar ist es, wenn er in seiner kühnen Art, wie die Seele aus sich selbst herausreißend und neben Raffaels Seele einherschreitend als in einem Strome der Gesamtent­wickelung, in Worte ausbricht, die uns wahrhaftig mehr besagen können als irgend etwas einer bloßen Darstellung der Weltgeschichte: «Raphael ist ein Bürger der Weltge­schichte. Wie einer von den vier Flüssen ist er, die dem Glauben der alten Welt nach aus dem Paradiese kamen.»

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Wenn man einen solchen Satz auf sich wirken läßt, dann weiß man in der Tat etwas ganz anderes über die Beziehung Herman Grimms zu Raffael, als man sonst weiß über die Beziehung manchen anderen Darstellers zu irgendeiner Er­scheinung.

So ffießen für Herman Grimm zusammen die Persön­lichkeiten mit dem Gesamtstrom des Geisteslebens. Man könnte auch sagen, er bringt die höchste Geistessphäre her­unter zu dem persönlichsten Element. Und wie tritt uns eine Summe von geistigen Erscheinungen entgegen, wenn Herman Grimm die folgenden Worte aus seiner tiefsten Seele heraus spricht, indem er ausdrückt, wie er sich zu den entsprechenden geistigen Tatsachen stellt:

«Würde Michelangelo durch ein Wunder von den Toten fortgerufen, um unter uns wieder zu leben, und begegnete ich ihm, so würde ich ehrfurchtsvoll zur Seite treten, damit er vorüberginge; käme mir Raphael aber in den Weg, so würde ich hinter ihm hergehen, ob ich nicht Gelegenheit fände, ein paar Worte aus seinen Lippen zu vernehmen. Bei Lionardo und Michelangelo kann man sich darauf beschrän­ken, zu erzählen, was sie ihren Tagen einst gewesen sind; bei Raphael muß von dem ausgegangen werden, was er uns heute ist. Über jene anderen hat sich ein leiser Schleier gelegt, über Raphael nicht. Er gehört zu denen, deren Wachs­tum noch lange nicht zu Ende ist. Es sind immer wieder zukünftig lebende Geschlechter von Menschen denkbar, denen Raphael neue Rätsel aufgeben wird.»

Das ist eine Charakterstimmung, nicht objektiv in dem Sinne, wie man es heute so oft fordert, aber die entspre­chenden Erscheinungen so schildernd, daß wir uns unmittel­bar in ihre Nähe entrückt fühlen, wenn wir einen Hauch verspüren können von dem, was in Herman Grimms Seele gelebt hat, als er solche Sätze hinschreiben konnte. Dann

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versteht man es auch, wie dieser Geist mit einer weltgeschichtlichen Erscheinung, mit Raffael selber, ringen konnte. Merkwürdig - so erzählt er selbst - ist es ihm mit Raffael gegangen, ganz anders, als es ihm zum Beispiel ergangen ist, als er Michelangelo beschreibend darstellen wollte. Die Darstellung des Lebens Michelangelos von Herman Grimm ist ein wunderbares Buch, trotzdem sie in vielem vielleicht heute als überholt gelten kann. Wie tritt da auf dem Hin­tergrunde des damaligen ganzen mittelalterlichen Lebens die Gestalt Michelangelos bedeutsam heraus, wie hebt sie sich wieder ab von den anderen Gestalten, die plastisch heraustreten! Wie hebt sie sich ab von der ganz einzig­artigen Schilderung von Florenz selber, oder wie hebt sie sich ab von jenem Tableau, das Herman Grimm hinstellt, indem er zwei geistige Gebilde vor unserem Geiste aufstei­gen läßt, Athen und Florenz, und damit das Ineinander-weben der von ihm charakterisierten drei Jahrtausende wie einen gewaltigen Hintergrund erscheinen läßt, auf dem sich abheben Gestalten wie Dante, Giotto und die anderen Maler der damaligen Zeit, sodann Gestalten wie Savonarola und endlich Michelangelo selbst.

Das alles erscheint auch so, wie wenn Herman Grimm anders allerdings sich zu Raffael und seiner Umgebung verhalten hätte als zu Goethe, daß er aber darum uns das alles nicht weniger intim gegeben hat. Bei Herman Grimms Goethe-Darstellung fühlen wir überall, wie er als ein gei­stiger Enkel Goethes herangewachsen ist. Auch bei seiner Darstellung Michelangelos fühlen wir, wie er persönlich in alles hineinwächst, wie er persönlich, man möchte sagen, in jeden Palast von Florenz hineingeht, wie er in den Stra­ßen von Florenz wandelt, wie er andere Beziehungen per­sönlich kennenlernt und dazu gelangt, sich vor Michelangelo hinstellend, sein Wirken dann darzustellen. Das alles aber,

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was er so gemalt hat, wir fühlen: es ist wie aus einem Guß heraus.

Anders ist das, was er über Raffael gegeben hat. Da füh­len wir ein Ringen mit dem Stoff, mit dem Geistesbild; da fühlen wir, wie Herman Grimm sich selber nie genugtun kann. Er erzählt selbst, wie er immer wieder und wieder den Stoff aufgenommen hatte, wie ihm nichts genügte, was er schon veröffentlicht hatte. Ja, zu seinen letzten Werken sollte es zählen, was er noch zuletzt einmal versucht hat als eine Darstellung der Persönlichkeit Raffaels zu geben, was aber doch Fragment geblieben ist und dann in der Essay-Sammlung erschienen ist: «Raphael als Weltmacht», woraus auch die eben vorgelesenen Sätze stammen.

Warum rang Herman Grimm gerade bei Raffael so mit seinem Stoff? Weil er nur etwas darstellen konnte, sich selber zur Befriedigung, wenn er ganz eins werden konnte mit dem Stoff. In Raffael aber sah er einen Geist, den er so charakterisierte, wie es der eben vorgelesene Satz gibt:

«Raphael ist ein Bürger der Weltgeschichte. Wie einer von den vier Flüssen ist er, die dem Glauben der alten Weit nach aus dem Paradiese kamen.» Und so wuchs ihm Raffael selber ins Riesengroße mit jedem Satze, den er auf ihn wendete. So konnte er sich selber nie genugtun, weil er selbst diese «Weltenkraft» nicht in ein Buch hineinfangen konnte. Zeigt sich an den Darstellungen Homers, Michelangelos oder Goethes das Umfassende und doch Anmutige seines Geistes, so tritt bei Raffael die tiefe Aufrichtigkeit, die tiefe Ehrlichkeit dieser geistigen Persönlichkeit hervor.

Wer sein Buch über Homer in die Hand nimmt, wird es vielleicht zu wenig gelehrt finden. Aber Herman Grimm sagt gleich auf der ersten Seite, daß dieses Buch nicht ein Beitrag zur Homer-Forschung sein wolle. Ja, Herman Grimm konnte sich in diesen und ähnlichen Angelegenheiten

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durchaus wie ein Geistesfürst verhalten, wie ich es vorhin erzählte. So erscheint es einem auch natürlich, daß er, als er daranging, seine Ideen über Goethe zur Darstellung zu sammeln, ganz kühnlich von dem Gesichtspunkte ausging, daß alles andere, was an ihn über Goethe herantreten könnte, unzulänglich sei. Es mag das manchem als Dreistigkeit vor­kommen, was doch wieder bei seinem literarischen und künstlerischen Gestus als selbstverständlich erschien.

So verhielt er sich zu allem Geistesleben. Daher mag manchem, der vom Gelehrtenstandpunkte ausgeht, Her­man Grimms Homer-Buch unerträglich sein. Was alles über Homer vorgebracht worden ist, ob Homer gelebt hat oder nicht, ob die Ilias aus so und so vielen Einzelheiten zusam­mengetragen ist usw., das alles ging ihn nichts an. Er nahm sie, wie sie war. Dadurch stellte sich ihm allerdings dar, wie wunderbar sie innerlich komponiert ist, wie immer das Spätere sich auf das Vorhergehende bezieht, so daß alles, was diese innere Komposition zeigt, uns innerlich zusam­menhängend erscheint. Aber abgesehen davon, scheint mir das Größte das zu sein, was einem gerade als Geistesforscher so ungeheuer wohl tut: die Vertiefung in das Seelenleben der homerischen Helden. Überall sehen wir die seelenvolle Art Herman Grimms auch auf das Seelenleben der Helden Homers ausgegossen. Überall sehen wir erfaßt, aber mit welthistorischem Hintergrunde, die Achill-Seele, die Aga­memnon-Seele, die Odysseus-Seele und so weiter. Ein Buch, das als Seelenschilderung überwältigend wirkt trotz der Intimität der stilistischen Darstellung! Überall werden wir nicht nur auf die Höhen der Geschichtsbetrachtung hinaufgeführt, sondern wir werden auch tief, tief in die Seelen der einzelnen homerischen Gestalten hineingeführt. Ja, so könnte nun mancher Gelehrte sagen, da hat Herman Grimm die Ilias hergenommen mit Außerachtlassung der ganzen

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Homer-Forschung und aller eigentlichen Vor-Forschung, und hat dann Vers für Vers hingenommen! Das tut er ja auch, recht «laienhaft», und man könnte dann das Ganze in die trockene Formel kleiden: Da hat ein Mensch ein Buch geschrieben ohne alle Vorstudien.

Hat Herman Grimm dieses Buch geschrieben ohne alle Vorstudien? Wer sich auf das Geistesleben Herman Grimms einläßt, wird die Vorstudien finden, nur sehen sie anders aus, als die Vorstudien der gewöhnlichen Gelehrten. Die Vorstudien Herman Grimms lagen in Seelenstudien, in Ver­tiefung in die Menschenseele und ihre Geheimnisse. Und überzeugt kann man sich halten, daß so wunderbar kein anderer in die Seelen der homerischen Helden hätte hineinleuchten können als der, der solche Vorstudien gemacht hatte. Scheinbar sucht Herman Grimm das auf, was in der Phantasie Homers gewaltet hat. Aber was er sagt, zeigt uns überall den feinsten Seelenkenner, von dem wir gar Sonderbares vermuten können, wenn wir ihn nur sehen, wie er so von Achill über Agamemnon bis zu Odysseus die homerischen Heldenseelen betrachtet. Wie kam er dazu, manches Wort, das den Geistesforscher so ungemein ver­geistigt anmutet, in seinem Homer-Buche oder auch in seinen anderen Werken zu schreiben? Er kam dazu, weil ganz besondere Vorstudien vorlagen. Und diese Vorstudien wird der Geistesforscher suchen in den Werken aus der ersten Periode Herman Grimms.

Da haben wir vor allem jene wunderbare Novellensammlung, die vielleicht heute weniger gelesen wird als manches moderne Produkt dieser Art, die aber gerade die­jenigen lesen sollten, die sich für geistiges Leben interes­sieren, eine Novellensammlung, die genannt werden kann:

überall ein intensiver Versuch, Menschenseelen kennenzu­lernen, Menschengeheimnisse zu ergründen, das Wirken

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der Menschenseele zu ergründen über die physische Welt hinaus. Da steht vor uns gleich die erste dieser Novellen, die schon in der ersten Periode seines schriftstellerischen Schaffens erschien: «Die Sängerin». Es wird darin gezeigt, wie ein Mann eine tiefe, leidenschaftliche Neigung zu einer Frau faßt, zu einer Frau von umfassendem geistigen Wesen. Gezeigt wird uns, wie aber diese beiden Persönlichkeiten niemals zusammenkommen können, wie die Frau den glü­hend liebenden Mann aus dem Umkreis ihrer Gesellschaft entfernt, wie nun in der Seele dieses Mannes alles an Im­pulsen weiter lebt, die ihn auf der einen Seite zu der Frau hinziehen, die auf der anderen Seite, von der Seele aus, an dem ganzen leiblichen Wesen dieses Mannes zehren. Wie er dann seelisch hinsiecht, das sehen wir, möchte man sagen, in geistesforscherischer Art dargestellt. Und noch einmal sehen wir ihn dann, als er in der Besitzung eines Freundes aufgenommen ist, in die Netze der Frau verstrickt. Der Freund merkt, daß es die höchste Zeit ist, daß jene Persön­lichkeit herbeigeholt wird, an welcher der Freund mit aller Seele hängt. Sie kommt auch - aber zu spät. Während sie vor dem Hause ist, erschießt sich der Betreffende.

Und jetzt kommt etwas, was Herman Grimm so oft in künstlerischen Darstellungen gestreift hat, was er aber da, wo es immer gern von der Geistesforschung aufgenommen wird, stets ins Unbestimmte hat fallen lassen. Jetzt wird kurz und prägnant geschildert, wie in der Imagination der Sängerin der Verstorbene lebt. Unvergeßlich wird die Szene sein, wo sie, die ihre ganze Schuld an dem Tode dieses Man­nes fühlt, Nacht für Nacht diesen Menschen, aus dem Totenreiche heraus wirkend, herankommen sieht, wie dieses Her­ankommen des Verstorbenen nun in der Frau zu ihrem Seeleninhalte wird. Nicht wie ein bloßes Phantasiegebilde wird das geschildert, sondern wie von einem Manne, der da

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weiß, daß es Geheimnisse gibt, die über den Tod eines Men­schen hinausreichen. Wunderbar ist die Schilderung, wo der Freund sich selber hinstellt vor die Frau, und wo sie sagt, der Tote komme zu ihr - bis zu dem letzten Briefe der Frau an den Freund, worin sie ausdrückt, daß sie sich nun selber vor dem Tode fühlt, daß der Verstorbene, mit dem sie so verbunden war, sie aus seinem Totenreiche hingezogen hat in sein Reich. - Vielleicht hat kein moderner Darsteller mit solcher Innigkeit die Töne gefunden, um an die geistige Welt zu rühren.

Wir stellen es in der Geistesforschung dar, wie, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes durchgeht, dasjenige, was sonst auch im Schlafesleben immer mit dem Menschen vereint bleibt, der sogenannte ätherische Leib, mit den höheren Seelengliedern des Menschen sich aus dem phy­sischen Leibe heraushebt und in die geistige Welt übergeht. Wir entwerfen auf dem Gebiete der Geistesforschung ein Bild davon, wie der Leichnam zurückbleibt, wie der Mensch dann mit seinem Ätherleibe Stück für Stück, Glied für Glied sich herauslöst aus dem physischen Leibe, und wie der ätherische Leib dann noch eine Zeitlang der Einhüller der höheren Seelenglieder des Menschen ist. Das ist eine Vorstellung, wie sie denen, die der Geistesforschung nahe treten, immer geläufiger werden kann. Im folgenden wer­den wir nun betrachten können, in wie wunderbarer Weise die Künstlerseele Herman Grimms an diese Tatsachen der geistigen Welt rührt, und wiederum wird uns diese Betrach­tung zu der Frage führen, warum aus tieferen Gründen heraus Herman Grimm seine Kulturdarstellungen nicht in einem umfassenden Werk vollendet hat.

Herman Grimm hat außer seinen Novellen noch ein an­deres künstlerisches Werk geschrieben, den Roman «Un­überwindliche Mächte», an dem uns, wie überhaupt an

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seinem ganzen Lebenswerke, der vornehme Stil entgegen­tritt, der sich überall hinauflenkt zu einer Welt- und Le­bensbetrachtung. Auch alles andere ist großartig. Besonders das, was man nennen möchte: das Zusammenstoßen zweier Menschheitszeitalter im kleinen. Die eine Welt ist die, die nur auf Titel, Rang und Würden hält und sich ganz dar­innen fühlt. Aus ihr heraus stammt ein Graf aus altem Geschlecht, der verarmt ist, der aber noch ganz im Nach­klange und Nachfühlen seines gräflichen Standes lebt. Wun­derbar wird nun in diesem Roman kontrastiert, wie der Welt der alten Vorurteile und Rangordnungen entgegen­tritt die «neue Welt». Es spielen die Anschauungen Ame­rikas herein. Amerikaner sind es, die dem Manne entgegen­treten, der ganz in seinen Standesvorurteilen und Standesempfindungen lebt, und den Herman Grimm Arthur nennt. Es tritt diesem Grafen entgegen Emmy, die Tochter der Frau Forster, die aus amerikanischem Wesen herausgewach­sen ist, und wir sehen diesen Grafen in leidenschaftlicher Liebe zu Emmy entflammt.

Es ist unmöglich, den reichen Inhalt dieses Romanes auch nur anzudeuten. Tritt uns doch der ganze Gegensatz von Europa und Amerika entgegen, der ganze Gegensatz des alten preußischen Wesens und des durch die Kriege neu­geschaffenen preußischen Wesens - ein ungeheuer bedeut­sames Kulturgemälde, in das die Personen hineingeprägt sind, und aus dem sie wieder hervorwachsen. Nur das kann angedeutet werden, daß durch die Impulse, welche aus diesen verschiedenen Strömungen zusammenwachsen, der Graf Arthur, gerade als er davorsteht, sich mit Emmy zu ver­mählen, eines tragischen Todes dahinstirbt. Ein Mensch, der zwar zu seiner Verwandtschaft gehört, der sich aber in seinen Wahnideen für den berechtigten Erben des gräf­lichen Geschlechtes hält und den wirklichen Erben, den

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Grafen Arthur, als einen Bastard ansieht, dieser Mensch tritt dem Grafen Arthur entgegen, von Neid und Eifer­sucht aufgestachelt, und es fügen sich die Verhältnisse so, daß am Vorabend seiner Hochzeit Graf Arthur von diesem Menschen niedergeschossen wird.

Man kann vielleicht niemals Gelegenheit finden, das Wort «Unüberwindliche Mächte» - das vielleicht mancher, der bloß rationalistisch diesen Roman betrachten will, nur als das Unüberbrückbare der Standesvorurteile hält - für be­rechtigter zu halten als gerade dann, wenn man sieht, wie Herman Grimm, ohne es zu wollen, die Karma-Idee, die Idee der ursächlichen Verknüpfung der Schicksale, die im Menschenleben zum Ausdruck kommen, Knoten über Kno­ten schürzen läßt und zu einer Entwickelung bringt, und wie er in der Tat in diesem Wirken Kräfte darstellt, die nur wirken können, wenn sie aus früheren Verkörperungen, aus früheren Erdenleben herüberwirken. Nicht indem er theo­retisch von «Kräften» oder von «Karma» spricht, schildert er das, sondern indem er einfach die Tatsachen sprechen läßt und diesen Mächten einen Ausdruck gibt, so daß sie uns überall wie die Ideen der Geistesforschung anmuten. Wir sehen ein karmisches Schicksal sich vollziehen, sehen unüberwindliche karmische Mächte sich zum Ausdruck brin­gen, und sehen noch etwas anderes.

Emmy bleibt zurück. Der letzte Blick, der in die verlöschen-den Augen Arthurs gefallen ist, als er mit durchschossenem Herzen dalag, war, als sie sich über den Sterbenden beugte, und die Augen in einem bestimmten Ausdruck erschienen. Unvergeßlich bleibt ein Wort von Herman Grimm selbst, indem er hier davon spricht, wie der Geist aus den Augen wich in dem Momente, wo die Augen jene Eigentümlich­keit annehmen, durch die sie nur mehr als physische Werk­zeuge erscheinen. Aber nun tritt uns wieder entgegen jenes

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Herandringen Herman Grimms bis an die Welten, die jen­seits des Todes liegen, jenes man möchte sagen keusche Her­andringen bis an die Welten, aus denen herein die real ge­bliebenen Seelen wirken, wenn sie durch die Pforte des Todes gegangen sind.

Es zeigt uns Herman Grimm in einem kurzen Schlußkapitel Emmy, wie sie nach und nach dahinsiecht, wie sie stirbt. Es ist so recht charakteristisch für das Verbundensein der Seele Herman Grimms mit seelisch-geistigen Problemen, wie er diesen herannahenden Tod Emmys schildert. Nach Montreux wird sie gebracht. In einzigartiger Weise wird Montreux selbst geschildert, wird die ganze Umgebung ge­schildert, in welcher Emmy stirbt. Aber nicht wie ein anderer Darsteller, der dem geistigen Leben fernersteht, schildert er den Tod Emmys, sondern er schildert ihn wie einer, der herangeht bis dahin, wo die Geheimnisse des Todes und die Geheimnisse des Landes jenseits des Todes zu den Seelen sprechen, und ich würde etwas Unvollstän­diges geben, wenn ich nicht zum Schlusse die Worte hinzu-fügte, die Herman Grimm selbst über den Tod Emmys gibt:

«Dies Emmys Traum aber.
Zwischen Mitternacht und Morgen glaubte sie zu er­wachen.

Ihr erster Blick auf das Fenster, durch das matte Hellig­keit einströmte, war frei und klar und sie wußte, wo sie war. Auch ihre Mutter, die neben ihr schlief, hörte sie atmen. Noch einen Moment weiter aber, und mit einem Druck, den sie nie zuvor empfunden, befiel sie überwäl­tigende Angst. Es waren nicht mehr jene einzelnen Gedan­ken, die sie in den letzten Tagen quälten, sondern als hielte eine Riesenhand alle Gebirge der Erde an einem dünnen Faden über ihr und jeden Moment könnten sich die Finger

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öffnen, die ihn hielten und die Masse herabstürzen, um ewige Zeiten auf ihr liegenzubleiben. Sie irrte mit den Blicken umher in sich und außer sich, nach einem Schimmer von Licht suchend, nichts aber bot sich dar, der Schein des Fensters erloschen, der Atem ihrer Mutter nicht mehr hör­bar, und erstickende Einsamkeit sie umgebend, als würde sie niemals wieder Lebendiges erreichen. Sie wollte rufen, aber sie konnte nicht, sie wollte sich rühren, aber kein Glied mehr gehorchte ihr. Ganz still war es, ganz finster, keine Gedanken selbst mehr möglich zu fassen in dieser furchtbar eintönigen Angst: die Erinnerung sogar ihr fortgenommen - da ein Gedanke endlich zurückkehrend: Arthur!

Und wunderbar jetzt: es war, als hätte sich dieser eine Gedanke in einen Lichtpunkt verwandelt, der den Augen sichtbar wurde. Und in dem Maße, wie der Gedanke an-wuchs zu grenzenloser Sehnsucht, wuchs dieses Licht, kam und dehnte sich aus, und plötzlich als spränge es auseinan­der und entfaltete sich und nähme Gestalt an - Arthur stand vor ihr! Sie sah ihn, sie erkannte ihn endlich. Er war es sicherlich selbst. Er lächelte und war. dicht neben ihr. Sie sah nicht, ob er nackt sei, nicht ob er bekleidet sei: er aber war es, sie kannte ihn zu wohl, er selbst, kein Phantom nur, das seine Gestalt angenommen.»

So sehr rückt Herman Grimm den, der längst durch die Pforte des Todes gegangen ist, an die heran, die zur Seherin wird, rückt sie im Momente ihres Hinsterbens so an den Toten heran, daß sie seine Seele so anspricht: «Sie sah nicht, ob er nackt sei, nicht ob er bekleidet sei: er aber war es, sie kannte ihn zu wohl, er selbst, kein Phantom nur, das seine Gestalt angenommen. »

«Er streckte ihr die Hand entgegen und sagte: Niemals hatte seine Sprache so süß und lockend geklungen wie heute. Mit aller Kraft, deren sie fähig war, suchte sie

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ihre Arme zu erheben ihm entgegen; aber sie vermochte es nicht. Er kam noch näher und streckte die Hand näher auf sie zu: sagte er noch einmal.

Emmy war, als müsse die Gewalt, mit der sie ein Wort wenigstens über die Lippen zu bringen versuchte, Berge zu verrücken imstande sein, nicht aber dies eine Wort zu sagen vermochte sie.

Arthur sah sie an und sie ihn. Nur die Möglichkeit jetzt, einen Finger zu bewegen, und sie hätte ihn berührt. Und nun das Furchtbarste: er schien zurückzuweichen wieder! sagte er zum dritten Male. Und sie im Gefühle, daß er zum letzten Male gesprochen, daß die furchtbare Finsternis wieder hereinbrechen werde auf seinen himm­lischen Anblick, von einer Angst jetzt erfüllt, die sie zerriß, wie der Frost Bäume spaltet, machte den letzten Versuch, die Arme zu ihm zu erheben. Unmöglich aber, die Schwere und Kälte zu überwinden, die sie gefesselt hielten - da aber, wie eine Knospe platzt, aus der eine Blüte wächst vor unseren Augen, herauswachsend aus ihren Armen leuchtend andere Arme, glänzende andere Schultern aus ihren Schul­tern, und diese Arme sich hebend Arthurs Armen entgegen, und er mit seinen Händen ihre Hände fassend, und lang­sam zurückschwebend sie nach sich ziehend, und die ganze herrliche Gestalt mit ihnen, die sich erhob aus der Emmys.»

Man kann nicht wunderbarer den Hervorgang des ätherischen Leibes aus dem physischen Leibe schildern, wenn man mit keuscher Künstlerseele eine solche Schilderung vor­nimmt. Das war ein Geist, das war eine Seele, die in Herman Grimm lebte, von der wir sagen dürfen, daß sie nahe herangekommen ist an das, was wir so sehnsüchtig in der Geistesforschung suchen. Das war eine Seele, das war ein Geist, von dem wir sagen dürfen, daß er uns beweisend da-

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für ist, wie die moderne Seele bei ihrem Herannahen an das zwanzigste Jahrhundert die Wege zum geistigen Leben gesucht hat.

So wenden wir uns gern zu Herman Grimm hin, den wir belauschen, wie er auf dem Wege ist, den wir nur weiter wandeln wollen. Und so schauen wir, wie er die Schöpfungen Raffaels, wie er die Schöpfungen Michelangelos, wie er die Erlebnisse Goethes, wie er die Griechenseele Homers hinauf-hebt bis zu dem Strom, der als «schöpferische Phantasie» für seinen Geist durch die Jahrtausende fließt. Wir wissen dann, wie nahe Herman Grimm mit seinem ganzen Fühlen und Empfinden dem lebendigen Weben und Wirken des Geistig-Seelischen war, das hinter allem physisch Tatsäch­lichen ist. Denn nicht mit Abstraktheiten haben wir es zu tun, wenn Herman Grimm von seiner «schöpferischen Phantasie» spricht. Soweit wir es bei ihm vielleicht noch im Anfluge mit Abstraktheiten zu tun haben, soweit kann uns auch die Notwendigkeit erscheinen, daß wir die dünne Wand durchbrechen müssen, durch die Herman Grimm noch von dem lebendigen Geist getrennt ist, der nicht nur als schöpferische Phantasie wirkt, sondern der im unmittelbaren geistigen Wirken hinter aller Sinneswelt lebt. Es kommt einem vor wie eine Keuschheit, die noch nicht mehr in ihrer Seele zu sagen wagt, als sie sagt, wenn wir Herman Grimm von der durch die Jahrtausende fortwirkenden Phantasie der Menschheit sprechen sehen, da er doch als Künstler so nahe an die lebendig gebliebene Seele gerührt hat, die durch die Pforte des Todes geschritten ist. So wird es uns nicht schwer werden, dort, wo Herman Grimm von der schöp­ferischen Phantasie spricht, die lebendigen Geistwesen zu sehen, die wir als Geistesforscher hinter der Sinneswelt suchen.

Vielleicht wird es dann nicht ungerechtfertigt erscheinen,

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wenn sogar behauptet wird, daß einem solchen Geiste, der so ehrlich und aufrichtig nach der Wahrheit gerungen hat, diese schöpferische Phantasie, wenn er sich wieder und im­mer wieder ihr nähern wollte, ihm doch zu sehr ein Ab­straktum war; daß es seine Seele drängte, das lebendige Geistige zu erfassen, und daß deshalb das beabsichtigte große Werk nicht werden konnte, weil es, wenn es geschrie­ben worden wäre, ein Werk hätte werden müssen, welches die geistige Welt nicht bloß als schöpferische Phantasie, son­dern als eine Welt schöpferischer Wesenheiten und Indivi­dualitäten hätte darstellen müssen.

Nicht willkürlich hingestellt durch diesen oder jenen ist die Geistesforschung in der neueren Zeit, sondern gefordert von den suchenden Seelen der neueren Zeit, jenen suchen­den Seelen, denen Herman Grimm so deutlich und charak­teristisch angehörte, wie wir gesehen haben. Daher können wir gerade bei dieser merkwürdigen Persönlichkeit gewahr werden, wie wir mit der Geistesforschung nicht fremd und isoliert im modernen Geistesleben stehen. Wir haben gerade zu einer solchen Gestalt wie Herman Grimm wie zu einer verwandten hinsehen dürfen. Steht er auch noch nicht völlig auf unserem Standpunkte, so stehen wir ihm doch - oder können ihm wenigstens stehen - unendlich nahe. Und bes­ser ist es auch, bei der Betrachtung einer solchen Gestalt, weniger jede Einzelheit ins Auge zu fassen, als ihre Ganz­heit, sie anschauend mit all jener Harmonie des Seelischen, mit der sie auf uns wirken kann, mit all jener Milde und doch wieder kühnen Schärfe und Stärke des Seelenlebens auch, mit welcher sie auf uns wirken kann. Mögen wir nun diese oder jene Lebensfrage mehr oder weniger abweichend von Herman Grimm behandeln - ich weiß, daß es nicht ganz aus seinem Stile herausfällt, wenn ich zusammen­fassend sage, was ich eigentlich habe ausdrücken wollen.

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Man könnte zu dem Gedanken, nennen wir es meinetwegen zu dem Wahn-Gedanken, kommen, der als ein schöner Wahn dann in der Seele leben kann: Wenn höhere Geister, erdentrückte Geister durch Lesen, durch Lektüre sich mit dem bekannt machen wollten, was auf der Erde vorgeht, so würden sie am liebsten solche Schriften lesen wie die, in welchen Herman Grimm die irdischen Schicksale von Men­schen zur Darstellung gebracht hat.

Dieses Gefühl kann einem fast aus jeder Zeile von Herman Grimms Schriften entgegenklingen, und dieses Gefühl hebt einem die ganze Persönlichkeit, man möchte sagen zu einer erdentrückten Sphäre empor. Man fühlt sich dann doch wieder dieser Persönlichkeit so nahe, daß einem, wenn man charakterisieren will, was heute über Herman Grimm gesagt worden ist, ein schönes Wort in den Sinn kommen kann, das er selber einem Freunde ins Grab nachgerufen hat, seinem Freunde Treitschke, den er so sehr schätzte:

«Wie daseinsfroh stand dieser Mensch im Leben drin. Wie kampfmutig. Wie bot die Sprache sich ihm zu Dienst an. Wie neu war immer sein neuestes Buch. Wie wenig konnten selbst die ihm böse sein, die im Gedränge des gei­stigen Verkehrs seine Ellenbogen zu kosten bekamen. Auch diese werden mitrufen: »

Diese Worte sind zugleich die letzten, die Herman Grimni geschrieben hat und drucken ließ, wie wir von dem Heraus­geber seiner Werke, Reinhold Steig, wissen. Und ich möchte die Betrachtung des heutigen Abends auch wohl zum Schlusse in die Worte zusammenfassen: Wie daseinsfroh stand die­ser Mensch, Herman Grimm, im Leben drinnen, wie mild - und doch auch wie individuell! Und wie harmonisch be­rührt sein ganzes Lebenswerk! Wie bot sich ihm die Sprache zu Dienst an! Wie neu war immer sein neuestes Buch! Wie wenig können selbst jene ihm fernestehen, wenn sie nur

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sich selbst ordentlich verstehen, die in manchen Ideen und in mancher Art von ihm abweichen! Und wie nahe müssen sich aber diejenigen ihm fühlen, die von irgendeinem Ge­biete der Geistesforschung ausgehend, die Wege zum Geiste suchen! Wie nahe müssen sich diese ihm fühlen, und wie sehr möchten sie, wenn seine Gestalt, geistig so milde leuch­tend, vor ihnen auftritt, in die Worte ausbrechen: Ja, er war auch unser!

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RAFFAELS MISSION IM LICHTE DER WISSENSCHAFT VOM GEISTE Berlin, 30. Januar 1913

Raffael gehört zu denjenigen Gestalten der menschlichen Geistesgeschichte, welche wie ein Stern auftauchen, die einfach da sind, so daß man das Gefühl hat, sie kommen aus unbestimmten Untergründen der geistigen Entwicklung der Menschheit plötzlich herauf und verschwinden dann wie­der, nachdem sie durch gewaltige Schöpfungen ihre Wesen­heit in diese Geistesgeschichte der Menschheit eingegraben haben. Bei genauerem Zusehen stellt sich allerdings dem forschenden Blicke heraus: eine solche menschliche Wesen­heit, von der man erst angenommen hat, daß sie wie ein Stern aufglänzt und wieder verschwindet, fügt sich in das ganze menschliche Geistesleben wie ein Glied in einen gro­ßen Organismus ein. Dieses Gefühl hat man insbesondere bei Raffael.

Herman Grimm, der bedeutsame Kunstbetrachter, von dem ich das letztemal hier sprechen durfte, hat versucht, Raffaels Wirkung, Raffaels Ruhm durch die Zeiten zu ver­folgen, die auf Raffaels eigenes Zeitalter gefolgt sind, bis in unsere Tage herein. Er konnte zeigen, daß dasjenige, was Raffael geschaffen hat, nach seinem Tode fortwirkte wie ein Lebendiges, daß ein einheitlicher Strom geistigen Wer­dens vom Leben Raffaels bis über seinen Tod hin fortgeht und sich eben bis in unsere Tage hereinzieht. Hat Herman Grimm so gezeigt, wie die nachfolgende Menschheitsent­wickelung hinüberlebt über Raffaels Schaffen, so möchte

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man auf der andern Seite, der geistigen Geschichtsbetrach­tung gegenüber, sagen: auch die vorhergehenden Zeiten können einem aus dem oder jenem den Eindruck geben, als ob sie doch in einer gewissen Beziehung schon so hinwiesen auf den erst später in die Weltentwickelung hineintretenden Raffael, wie eben ein Glied sich einreiht in einen ganzen Organismus.

Man möchte sich an einen Ausspruch erinnern, den Goethe einmal getan hat, und ihn sozusagen von der Raumeswelt auf die Zeitenwelt anwenden. Goethe tat einmal den be­deutsamen Ausspruch: «Wie kann sich der Mensch gegen das Unendliche stellen, als wenn er alle geistigen Kräfte, die nach vielen Seiten hingezogen werden, in seinem Inner­sten, Tiefsten versammelt, wenn er sich fragt: darfst du dich in der Mitte dieser ewig lebendigen Ordnung auch nur denken, sobald sich nicht gleichfalls in dir ein beharrlich Bewegtes um einen reinen Mittelpunkt kreisend hervortut?»

Mit Anwendung dieses Ausspruches auf die Zeitentwicke­lung möchte man sagen, daß in einer gewissen Beziehung die Götter Homers, die von Homer fast ein Jahrtausend vor der Begründung des Christentums so grandios geschil­dert worden sind, in unseren nach der Vorzeit blickenden Augen etwas verlieren würden, wenn wir nicht schauen könnten, wie sie wiedererstanden sind in der Seele Raffaels und da erst in einer gewissen Beziehung durch den mäch­tigen bildhaften Ausdruck, den sie in Raffaels Schöpfungen gefunden haben, eine besondere Vollendung erfahren ha­ben. So gliedert sich uns das, was Homer lange Zeit vor der Entstehung des Christentums geschaffen hat, mit demjenigen, was im sechzehnten Jahrhundert aus der Seele Raffaels ent­sprungen ist, zusammen zu einem organischen Ganzen.

Und wiederum: lenken wir den Blick hin auf die bibli­schen Gestalten, von denen uns das Neue Testament spricht

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und betrachten dann die Bildwerke Raffaels, so haben wir das Gefühl, die Empfindung, als würde uns sogleich etwas fehlen, wenn zu der Schilderung der Bibel nicht hinzu­gekommen wäre die gestaltenschaffende Kraft in Raffaels Madonnen und ähnlichen Bildern, die aus der biblischen Tradition und Legende entsprungen sind. Daher möchte man sagen: Raffael lebt nicht nur fort in den auf ihn fol­genden Jahrhunderten, sondern was ihm vorangegangen ist, das gliedert sich mit seinem eigenen Schaffen zu einem organischen Ganzen zusammen und weist, gleichsam um seine Vollendung durch ihn zu erhalten, auf ihn schon hin, wenn das auch erst in der späteren geschichtlichen Betrach­tung zum Ausdruck kommt.

So erscheint ein Wort, das Lessing an bedeutsamer Stelle gebraucht hat, das Wort «die Erziehung des Menschen­geschlechts», gerade dann in einem besonderen Lichte, wenn wir sehen, wie in solcher Art ein einheitliches geistiges Wesen hinflutet durch die Entwickelung der Menschheit, und wie dieses einheitliche Wesen besonders aufstrahlt in solchen hervorragenden Gestalten, wie Raffael eine ist. Und das, was wir oftmals vom geisteswissenschaftlichen Standpunkte aus in Beziehung auf die Geistesentwickelung der Mensch­heit betonen konnten, die wiederholten Erdenleben des Menschenwesens, sie lassen sich in einer ganz besonderen Weise empfinden, wenn man das eben Gesagte ins geistige Auge faßt. Da gewahrt man erst, wie es einen Sinn hat, daß dieses Menschenwesen in wiederholten Erdenleben durch die Epochen der Menschheit hindurch immer wieder und wieder erscheint und selber von einem Zeitalter zum andern dasjenige trägt, was der Geistesentwickelung der Menschheit eingepflanzt werden soll. Sinn und Bedeutung suchtdieGeisteswissenschaft in der Entwickelung derMensch­heit. Nicht will sie bloß wie in einer gerade fortlaufenden

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Entwicklungslinie darstellen, was aufeinanderfolgend ge­schehen ist, sondern den einzelnen Zeitaltern will sie einen Gesamtsinn zuerteilen, so daß die Menschenseele, wenn sie immer wieder und wieder in den aufeinanderfolgenden Erdenleben erscheint, diese Erde so betritt, daß sie immer wieder und wieder Neues erleben kann. So daß wir wirk­lich sprechen können von einer Erziehung, welche die Men­schenseele durch ihre verschiedenen Erdenleben durchmacht, eine Erziehung durch alles das, was von dem gemeinsamen Geiste der Menschheit geschaffen und ausgebildet wird.

Was hier vom geisteswissenschaftlichen Standpunkte aus über das Verhältnis Raffaels zu der gesamten Menschheits­entwicklung der letzten Jahrhunderte vorgebracht werden soll, das soll nicht eine philosophische Geschichtskonstruk­tion sein, sondern etwas, das sich auf naturgemäße Weise durch mancherlei Betrachten von Raffaels Schaffen ergeben hat. Und nicht weil es sozusagen eine Art von Trieb sein könnte, das Geistesleben der Menschheit philosophisch zu konstruieren, soll das gesagt werden, was die Betrachtung des heutigen Abends ausmacht, sondern weil alles, was sich mir selbst ergeben hat nach mancherlei Anschauen und Be­trachten der verschiedenen Schöpfungen Raffaels, sich ganz naturgemäß zu dem zusammenkristallisiert hat, was ich darstellen möchte. Allerdings wird es unmöglich sein, auf einzelne Schöpfungen Raffaels einzugehen. Das kann man nur, wenn man in der Lage ist, durch irgendwelche Mittel zugleich die Bildwerke Raffaels den Zuhörern vorzuführen. Aber das Gesamtschaffen Raffaels drängt sich ja auch zu einem Gesamteindruck in der Empfindung zusammen. Man trägt, wenn man Raffael studiert hat, sozusagen etwas von einem Gesamteindruck in der Seele. Und dann mag man wohl fragen: Wie nimmt sich dieser Gesamteindruck gegen­über der Entwickelung der Menschheit aus?

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Da fällt der Blick auf ein bedeutsames Zeitalter, mit dem Raffael innig zusammenhängt, wenn man ihn auf sich wir­ken läßt, jenes Zeitalter, das ja die Menschheit dadurch besonders charakterisiert, daß sie es zusammenfallen läßt mit der Entwicklung des griechischen Volkes. Und in derTat:

wenn wir die Menschheitsentwickelung der letzten Jahr­tausende betrachten, so stellt sich wie eine Art von mittlerer Epoche in diese Menschheitsentwickelung der letzten Jahr­tausende das hinein, was die Griechen nicht nur geschaffen, sondern was sie durch ihre ganze Wesenheit erlebt haben. Was der griechischen Kultur, die in einer gewissen Bezie­hung zusammenfällt mit der Begründung des Christentums, vorangegangen ist, das stellt sich uns mit einem ganz an­deren Charakter dar als das, was dieser griechischen Kul­tur nachgefolgt ist. Wenn wir die Menschen in der Zeit be­trachten, die der griechischen Kultur vorangegangen ist, so finden wir, daß damals Seele und Geist der Menschen viel inniger zusammenhingen mit allem Leiblichen, mit dem äußerlich Körperlichen, als das in der späteren Zeit der Fall ist. Was wir heute Verinnerlichung der Menschenseele, Sichzurückziehen der Menschenseele nennen, wenn sich diese dem Geist zuwenden, zum Besinnen über das kommen will, was als Geistiges der Welt zugrunde liegt, das gab es für die der griechischen Zeit vorangegangenen Zeiten nicht in solchem Maße wie heute. Damals war es so, daß, wenn sich der Mensch seiner leiblichen Organe bediente, ihm gleich­zeitig die geistigen Geheimnisse des Daseins in seine Seele hereinleuchteten. Eine solch abgeschlossene Betrachtung der Sinnenwelt, wie sie in der heute gebräuchlichen Wissen­schaft vorhanden ist, war in älteren Zeiten nicht vorhan­den. Der Mensch schaute mit seinen Sinnen die Dinge an und empfand, indem er den Sinneseindruck vor sich hatte, zugleich dasjenige, was geistig-seelisch in den Dingen lebte

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und webte. Mit den Dingen und ihrer Betrachtung durch die Sinne ergab sich zugleich dem Menschen das Geistige. Ein besonderes Zurückziehen von den sinnlichen Eindrüc­ken, ein besonderes Sichhingeben der Innerlichkeit der Seele, um zum Geistigen der Welt vorzuschreiten, war in der älteren Zeit nicht notwendig.

Wenn wir in der Menschheitsentwickelung sehr weit zu­rückgehen, so finden wir, daß selbst das, was wir im besten Sinne des Wortes «hellsichtige Betrachtung der Dinge» nen­nen, ein allgemeines Gut der Menschheit der Urzeiten war, und daß dieses hellsichtige Betrachten nicht durch abgeson­derte Zustände erreicht wurde, sondern da war und etwas so Naturgemäßes war, wie die sinnliche Betrachtung. Dann kam das Griechentum mit seiner ihm eigentümlichen Weh, von der man sagen kann, daß zwar damit die Verinner­lichung des Geisteslebens beginnt, daß aber das, was der Geist innerlich erlebt, überall noch im Zusammenhange ge­sehen wird mit dem Außeren, das in der Sinneswelt vor­geht. Im Griechentum halten sich das Sinnliche und das Seelisch-Geistige die Waage. Nicht mehr so unmittelbar wie in der vorgriechischen Zeit war mit der Sinnesbetrachtung zugleich das Geistige gegeben. Es stieg gleichsam in der griechischen Seele das Geistige auf als ein innerlich Abge­sondertes zwar, aber als etwas, was man empfand, wenn man die Sinne nach außen lenkte. Nicht in den Dingen, sondern an den Dingen wurde der Mensch das Geistige gewahr. So war in der vorgriechischen Zeit die Seele des Menschen gleichsam ausgegossen in die Leiblichkeit. Von der Leiblichkeit befreit hatte sie sich im Griechentume in einer gewissen Weise, aber das Seelisch-Geistige hielt dem Leiblichen im ganzen Griechentum noch die Waage. Daher kam es, daß das, was die Griechen schufen, ebenso durch­geistigt erscheint wie das, was ihnen, durch die Sinne ermöglicht,

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vor die Augen trat. - Dann kommen die nach-griechischen Zeiten, jene Zeiten, in denen sich der Menschen-geist verinnerlicht, in denen es ihm nicht mehr gegeben war, daß er mit dem Sinneseindruck zugleich das empfangen konnte, was in den Dingen lebt und webt als Geistiges. Das sind die Zeiten, in denen sich die Menschenseele in sich zu­rückziehen mußte und abgesondert in einem besonderen Innenleben ihre Kräfte, ihre Uberwindungen erleben mußte, wenn sie zum Geistigen vordringen wollte. Geistige Be­trachtung der Dinge und sinnliche Anschauung der Dinge wurden sozusagen zwei Welten, welche die menschliche Seele zu durchleben hatte.

Wie erscheint uns das eben Gesagte anschaulich, wenn wir einen Geist wie zum Beispiel Augustinus betrachten, der ja in der nachchristlichen Zeit von der Begründung des Christentums kaum so weit getrennt ist als wir etwa von der Reformation. Wie charakteristisch erscheint uns der an­gedeutete Fortschritt der Menschheit, wenn wir das, was Augustinus erlebt und in seinen Schriften dargestellt hat, mit dem vergleichen, was aus der griechischen Welt über­liefert ist! Was Augustinus in seinen «Confessiones» dar­legt, was er uns zeigt als die Kämpfe der verinnerlichten Seele, was er uns zeigt als einen Schauplatz, der sich rein abgezogen von der Außenwelt in der inneren Seele dar­stellt, wie unmöglich erscheint uns das bei den Geistern Griechenlands, bei denen wir überall sehen, wie sich das, was in der Seele vorhanden ist, anknüpft an das, was sich in der Außenwelt abspielt.

Man darf sagen, wie durch einen mächtigen Einschnitt getrennt erweist sich die Entwickelungsgeschichte der Menschheit. Und in diese Entwickelungsgeschichte stellt sich hinein auf der einen Seite das Griechentum, das uns zeigt, wie das Menschentum die Waage hält in bezug auf

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das Geistig-Seelische und auf das äußerlich Leibliche. Auf der anderen Seite stellt sich in diesen Einschnitt hinein die Begründung des Christentums, die zunächst darauf ausging, alles, was die menschliche Seele erleben konnte, gleichsam innerlich, in inneren Kämpfen und Überwindungen zu erleben, den Blick hinzuwenden nicht auf die Sinneswelt, um die Rätsel des Daseins zu fühlen, sondern auf das, was der Geist erahnend erschauen konnte, wenn er sich rein den geistig-seelischen Kräften hingab. Wie unendlich verschieden und wie durch eine tiefe Kluft getrennt sind die schönen Griechen, die majestätischen und so vollendet schönen griechischen Götter Zeus oder Apollon von dem am Kreuze sterbenden, von innerer Tiefe und innerer Größe, aber nicht von äußerer Schönheit getragenen Christus am Kreuz. Das ist schon das äußere Symbol für jenen tiefen Einschnitt, den das Christentum und das Griechentum in die Entwickelung der Menschheit machen. Diesen Einschnitt sehen wir bei den Geistern, die auf die griechische Zeit fol­gen, wie eine immer stärker werdende Verinnerlichung der Seele sich auswirken.

Diese Verinnerlichung, die so stattgefunden hat, cha­rakterisiert nun den weiteren Fortgang der menschheit­lichen Entwickelung. Will man geisteswissenschaftlich diese Menschheitsentwickelung begreifen, so muß man sich schon klarmachen, daß wir in einem Zeitalter leben, das, je mehr wir es seinen unmittelbaren Vergangenheiten und den Ausblicken nach betrachten, die wir in eine eventuelle Zukunft tun können, immer mehr nach dem eben Gesagten sich uns darstellt als eine fortschreitende Verinnerlichung. So daß wir hinschauen auf eine Zukunft, in welcher in der Tat eine noch tiefere Kluft, als sie jetzt schon aus den Betrachtungen der Vergangenheit vorgestellt werden kann, sich auftürmen wird zwischen allem, was draußen in der Welt vorgeht,

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was sich abspielt in dem mehr oder weniger mechanischen, maschinellen Leben der äußeren Welt, und dem, was die menschliche Seele zu erreichen versucht, wenn sie die Höhen eines Geistigen erfassen will, die sie ersteigen will, die sich nur auftun, wenn wir im Inneren die Schritte hinauf zu tun versuchen, die zum Geistigen führeni Immer mehr und mehr schreiten wir einem Zeitalter der Verinnerlichung entgegen. Ein bedeutender Einschnitt aber in bezug auf dieses Vorschreiten der Menschheit zur Verinnerlichung in der nachgriechischen Zeit ist das, was uns hinterblieben ist in den Schöpfungen Raffaels.

Als ein ganz besonderer Geist stellt sich Raffael hin wie an eine Wasserscheide der Menschheitsentwickelung. Was vor ihm liegt, ist wieder, man möchte sagen in einer ganz be­sonderen Weise der Beginn menschlicher Verinnerlichung. Und was nach ihm liegt, das stellt ein neues Kapitel dar in dieser menschlichen Verinnerlichung. Wenn auch manches, was ich in der heutigen Betrachtung zu sagen habe, wie eine Art symbolischer Betrachtung klingen mag, so soll es doch nicht bloß in symbolischer Ausdrucksweise genommen wer­den, sondern so, daß versucht wird, zu fassen das, was wegen Raffaels so überragender Größe doch nur in mensch­liche triviale Begriffe zu kleiden ist, indem es in möglichst weite Begriffe und Ideen gedrängt wird.

Wenn wir in Raffaels Seele einen Blick zu tun versuchen, so fällt uns vor allem auf, wie diese Seele im Jahre 1483 wie eine Frühlingsgeburt für die Seele erscheint, dann eine innere Entwickelung durchmacht, glanzvoll in glanzvollen Schöpfungen sich entwickelt und als Raffael siebenund­dreißigjährig, also noch jung stirbt. Man möchte, um sich in diese Seele Raffaels so recht zu vertiefen, so daß man ihrem Schritte folgen kann, eine Weile den Blick ganz von dem ablenken, was in der Weltgeschichte sonst vorgegangen

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ist, und rein den Blick hinlenken auf das Innerliche der Raffael-Seele.

Herman Grimm hat zuerst auf gewisse Regelmäßigkeiten der inneren Entwicklung der Raffael-Seele hingewiesen, und man möchte sagen: es braucht sich schon einmal die Geisteswissenschaft nicht zu schämen, wenn sie heute gegen­über der ungläubigen Menschheit auf gewisse zyklische Ge­setze, Gesetze eines regelmäßigen Geistesweges in jeder Ent­wicklung, auch in der menschlichen Einzelentwicklung, hin­weist, da ein so bedeutsamer Kopf wie Herman Grimm selber schon, ohne diese Geisteswissenschaft anzuerkennen, zu einer solchen regelmäßigen inneren zyklischen Entwick­lung für die Raffael-Seele hingeleitet worden ist. Herman Grimm macht nämlich darauf aufmerksam, daß das Werk, das uns heute ja in Mailand so ergötzt, die «Vermählung der Maria», wie eine völlige Neuerscheinung in der ganzen Kunstentwickelung dastehe und mit nichts Vorhergehendem sich unmittelbar zusammenstellen lasse, so daß man sagen könne, Raffaels Seele habe wie aus unbestimmten Unter­gründen einer menschlichen Seele heraus etwas geboren, das aus diesen Untergründen sich in die Gesamtentwickelung des Geistes hineinstellt wie ein völlig Neues.

Bekommen wir so eine Empfindung von dem, was in dieser Seele Raffaels von der Geburt an veranlagt war, so können wir auch fühlen mit Herman Grimm, wenn wir nun die Raffael-Seele weiter verfolgen, wenn wir die Ent­wicklung Raffaels fortschreiten sehen, wie er in regel­mäßigem Entwicklungslauf gewisse Etappen betritt, Etap­pen von vier zu vier Jahren. Merkwürdig schreitet Raffaels Seele vorwärts in Zyklen von vier zu vier Jahren. Und wenn wir ein solches Jahrviert betrachten, so sehen wir Raffael jeweils auf einer für seine Seele höheren Stufe. Vier Jahre etwa nach der «Vermählung der Maria» malte er die

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«Grablegung», weitere vier Jahre später die Bilder der «Camera della Segnatura», und so in Etappen von vier zu vier Jahren bis zu jenem Werke, das unvollendet neben seinem Sterbebett stand, der Weil in dieser Seele alles so harmonisch fortschreitet, des­halb möchte man sie ganz für sich betrachten. Dann be­kommt man aber einen Eindruck davon, daß in dem Zeit­alter Raffaels auch in bezug auf die Kunst der Malerei eine solche Innerlichkeit sich entwickeln mußte, und wie das­jenige, was zur Gestaltung drängte in Gestalten, wie sie nur Raffael schaffen konnte, herausgeboren ist aus den Tie­fen der seelischen Erlebnisse, obwohl es in Bildern der Sinn­lichkeit auftritt. Und hebt es sich denn nicht ebenso wie die Geschichte selbst heraus?

Lassen wir, nachdem wir so eine Weile das Innerliche der Seele Raffaels betrachtet haben, die Zeit auf uns wirken, in die er hineingestellt war, und das, was um ihn herum war. Da finden wir allerdings, daß Raffael, solange er noch mehr oder weniger Kind war und in Urbino heranwuchs, sich in einer Umgebung befand, die auf bedeutsame An­lagen, die sich geltend machten, weckend wirkte. War doch in Urbino ein Palastbau zustande gekommen, der damals ganz Italien in Aufregung versetzte. Das war etwas, was für die ersten Anlagen Raffaels etwas gab wie ein harmo­nisch mit diesen Anlagen Zusammenfließendes. Dann aber sehen wir ihn verpflanzt nach Perugia, dann nach Florenz, dann nach Rom. In einem engen Kreise hat sich im Grunde genommen das Leben Raffaels abgespielt. Wie nahe zusam­men liegen heute für uns die Orte, wenn wir sein ganzes Leben betrachten! Raffaels ganze Welt war in diesem Kreise eingeschlossen, soweit die Sinneswelt in Betracht kam. Nur irn Geiste erhob er sich in andere Sphären.

Aber nun sehen wir, wie in Perugia, wo Raffael jene

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jugendliche Entwicklung in der Seele durchrnacht, blutige Kämpfe an der Tagesordnung waren. Von einem leiden­schaftlich aufgeregten Volke war die Stadt bevölkert. Adelsfamilien, die miteinander in Zank und Hader lebten, bekriegten sich. Die einen vertrieben die anderen aus der Stadt. Nach kurzer Vertreibung versuchten dann die an­deren, sich wieder der Stadt zu bemächtigen, und nicht wenige Male waren die Straßen Perugias mit Blut bedeckt, mit Leichen übersät. Ein Geschichtsschreiber schildert uns eine merkwürdige Szene, wie überhaupt die Darstellungen, welche die Geschichtsschreiber aus jener Zeit geben, ganz eigentümlich sind. Da sehen wir durch einen Geschichts­schreiber lebendig auftauchen einen Adligen der Stadt, der, um seine Verwandten zu rächen, die Stadt als Krieger be­tritt. Der Geschichtsschreiber schildert ihn uns, wie er zu Pferde gleich dem verkörperten Kriegsgeist selber durch die Straßen reitet und alles, was sich ihm in den Weg stellt, niedermacht, so aber, daß der Geschichtsschreiber offenbar den Eindruck gehabt hat: eine gerechte Rache ist es, die dieser Adlige da nimmt. Und es taucht auf vor dem Geiste des Geschichtsschreibers das Bild jenes Kriegers, der den Feind unter seine Füße zwingt. In einem Bilde Raffaels, dem «St. Georg», fühlen wir förmlich aus der Darstellung auftauchen dieses Bild, das der Chronist entwirft, und wir haben unmittelbar den Eindruck: es konnte nicht anders sein, als daß Raffael diese Szene habe auf sich wirken las­sen, und daß dann, was äußerlich so furchtbar uns erschei­nen muß, aus Raffaels Seele verinnerlicht aufersteht und zum Ausgangspunkt für seine Darstellung eines der größ­ten und bedeutsamsten Bilder der Menschheitsentwickelung geworden ist.

So sah Raffael kämpfende Menschheit um sich. So hatte er Verwirrung über Verwirrung, Krieg über Krieg um sich

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in der Stadt, in der er seine Lehrzeit durchmachte bei sei­nem ersten Lehrmeister Pietro Perugino, und wir haben den Eindruck, als ob es damals in der Stadt zwei Welten gegeben hat: die eine, in der sich Grausames und Furcht­bares abspielte, und eine andere Welt, die verinnerlicht in Raffaels Seele lebte und die im Grunde genommen nicht viel zu tun hatte mit dem, was ringsherum sinnlich vorging.

Dann wieder sehen wir Raffael im Jahre 1504 nach Florenz verpflanzt. Wie war Florenz, als Raffael die Stadt betrat? Zunächst so, daß die Einwohner das Gebaren und den Eindruck von ermüdeten Leuten machten, die durch Aufregungen des Inneren und Außeren durchgegangen wa­ren und mit einem gewissen Überdruß und einer gewissen Müdigkeit lebten. Was war doch alles über Florenz ergan­gen! Kämpfe ebenso wie in Perugia, blutige Verfolgungen verschiedener Geschlechter, allerdings auch Kämpfe mit der Außenwelt; dann aber das einschneidende, alle Seelen der Stadt aufregende Erleben Savonarolas, der, kurze Zeit be­vor Raffael die Stadt betrat, den Märtyrertod gestorben war. Da steht sie vor uns, diese eigentümliche Gestalt Savonarolas, mit dem feurigen Wort gegen die damaligen Mißstände wetternd, ja, gegen die Grausamkeiten der Kir­che, gegen die Verweltlichung, gegen das Heidentum der Kirche. Da klingen in uns nach, wenn wir uns der Betrach­tung hingeben, die stürmischen Worte Savonarolas, durch die er ganz Florenz hinriß, so daß die Leute nicht nur an seinen Lippen hingen, sondern ihn so verehrten, wie wenn ein höherer Geist in diesem asketischen Leibe vor ihnen ge­standen hätte.

Umgestaltet hatte das Wort Savonarolas die Stadt Florenz, als ob unmittelbar eine Art von religiösem Re­formator die religiösen Ideen und die ganze Stadt auch staatlich durchzogen hätte. Wie wenn eine Art Gottesstaat

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gegründet worden wäre, so stand Florenz unter dem Ein­fluß Savonarolas. Und dann sehen wir, wie Savonarola denjenigen Mächten verfällt, gegen die er moralisch und religiös aufgetreten war. Vor unserer Seele taucht das er­greifende Bild auf, wie Savonarola mit seinen Gefährten zum Märtyrerfeuer geführt wird, und wie er von jenem Galgen, von dem er auf den Scheiterhaufen herunterfallen sollte, die Augen hinunterwendete - es war im Mai 1498 - zu dem Volke, das einst an seinen Lippen hing, das ihn nun auch verlassen hatte und wie abtrünnig hinschaute auf den, der es so lange begeistert hatte. Wenige waren es, darunter auch Künstler, in denen noch die Worte Savonarolas nach-klangen. Es gibt einen Maler jener Zeit, der, nachdem Savonarola den Märtyrertod erlitten hatte, selber das Mönchskleid anzog, um in seinem Orden in seinem Geiste weiterzuwirken.

Man kann sich jene müde Atmosphäre vorstellen, die uber Florenz lag. In diese Atmosphäre hinein sehen wir im Jahre 1504 Raffael versetzt, der den Frühlingshauch des Geistes durch die Mittel seines Schaffens mitbrachte, der gleichsam ein geistiges Feuer, allerdings in ganz anderer Art, als es Savonarola geben konnte, in diese Stadt hereinbrachte. Wenn wir so, recht unähnlich der Stimmung dieser Stadt, die Seele Raffaels sehen, die uns so recht in ihrer Isolierung erscheint, wenn wir sie, vereint mit Künstlern und Malern, an einsamer Werkstätte in Florenz oder sonst­wo schaffen sehen, so taucht ja sogleich vor uns ein anderes Bild auf, das uns, man möchte sagen, noch historisch an­schaulich zeigt, wie Raffaels Seele etwas innerlich Abgeson­dertes war auch von dem Äußerlichen, mit dem sie un­mittelbar in Berührung stand. Da tauchen auf die Gestalten der römischen Päpste, Alexander VI., Julius II., Leo Xi, das ganze päpstliche System, gegen das Savonarola seine

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Zornesworte gerichtet hatte, gegen das sich die Reforma­toren gewandt haben. Da taucht es aber so auf, daß wir in diesem päpstlichen System zugleich den Protektor Raffaels schauen, daß wir Raffaels Seele im Dienste des Papsttumes sehen, so sehen, daß seine Seele innerlich wahrhaftig wenig mit demjenigen gemeinsam hatte, was uns zum Beispiel an seinem Protektor, dem Papst Julius II., entgegentritt, der ja sagte, er komme den Menschen so vor wie jemand, der einen Teufel im Leibe habe und seinen Feinden am liebsten immer die Zähne zeigen möchte.

Große Gestalten sind sie, diese Päpste, aber das waren sie gewiß nicht, was etwa Savonarola oder seine Gesin­nungsgenossen «Christen» genannt hätten. In ein neues, aber jetzt nicht im alten Sinne gehaltenes Heidentum war das Papsttum übergegangen. Von christlicher Frömmigkeit war in diesen Kreisen nicht viel zu spüren, wohl aber von Glanz, Herrschsucht, Machtgelüsten, bei den Päpsten so­wohl wie bei ihrer Umgebung. Gleichsam den Diener die­ser heidnisch gewordenen Christenheit sehen wir in Raffael. Aber wie? Wir sehen ihn so, daß etwas geschaffen wird aus seiner Seele heraus, durch welches die christlichen Ideen viel­fach in einer neuen Gestalt erscheinen. Wir sehen das In­nigste, das Lieblichste der christlichen Legendenwelt auf den Madonnen-Bildern und in anderen Werken Raffaels erstehen. Welcher Kontrast zwischen dem seelisch Inner­lichen in Raffaels Schaffen und dem, was um ihn herum vorging, als er in Rom dann der äußere Diener der Päpste geworden ist! Aber wie war das alles möglich? Sehen wir schon an der ersten Lehrstätte in Perugia, sehen wir dann in Florenz, wie unähnlich das Äußere seinem Innerlichen ist, so sehen wir dies in Rom ganz besonders, wo er inmit­ten einer - für Savonarola etwa, der ihm allerdings auch nicht gleicht - unerhörten Kardinäle- und Priesterwirtschaft

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seine weltbeherrschenden Bilder schuf. Und dennoch: man muß Raffael und seine Umgebung doch so betrachten, wenn man sich ein richtiges Bild für das schaffen will, was in seiner Seele lebte.

Lassen wir einmal die Bilder Raffaels auf uns wirken! Das kann allerdings heute abend nicht im einzelnen ge­schehen, aber wenigstens eines der bekannteren Bilder darf herausgehoben werden, damit wir uns besonders über das ganz eigentümliche Seelenhafte der Raffael-Seele verstän­digen können. Es ist die uns ja so nahe «Sixtinische Ma­donna», die sich in Dresden befindet, und die wohl fast jeder aus den überaus zahlreichen Nachbildungen kennt, die in der ganzen Welt verbreitet sind. Wie sie uns da ent­gegentritt als eines der herrlichsten, edelsten Kunstwerke der Menschheitsentwickelung, wie uns da die Mutter mit dem Kind erscheint, heranschwebend auf Wolkenhöhen, welche die Erdkugel überdecken, aus dem Unbestimmten, möchte man sagen, der geistig-übersinnlichen Welt heranschwebend, von Wolken umkleidet und umringt, die sich wie von selbst zu menschenähnlichen Gestalten formen, von denen eine, wie verdichtet, dem Kinde der Madonna ähn­lich ist, wie sie da erscheint ruft sie in uns ganz besondere Empfindungen hervor, von denen wir wohl sagen können, daß wir, wenn sie unsere Seele durchziehen, alle die legen­denhaften Vorstellungen vergessen könnten, aus denen das Bild der Madonna herausgewachsen ist, und von allen christlichen Traditionen vergessen könnten, was sie uns über die Madonna sagen.

Nicht um in trockener Weise zu charakterisieren, möchte ich das vorbringen, sondern um möglichst weitherzig zu charakterisieren, was wir gegenüber der Madonna emp­finden können. Wer im geisteswissenschaftlichen Sinne die Menschheitsentwickelung betrachtet, kommt ja über alle

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materialistische Anschauung hinaus. Im Sinne der naturwissenschaftlichen Anschauung haben sich zuerst die nie­deren Lebewesen entwickelt und dann ist die Entwickelung bis zum Menschen herauf geschritten. Geisteswissenschaft­lich müssen wir im Menschen aber ein Wesenhaftes sehen, das hinauslebt über alles, was unter ihm in den Naturreichen steht. Tritt uns der Mensch entgegen, so erscheint uns, geisteswissenschaftlich betrachtet, in ihm etwas, was viel älter ist als alle die Wesen, die ihm in den verschie­denen Naturreichen mehr oder weniger nahestehen.

Der Mensch ist für die Geisteswissenschaft vorhanden, bevor die Wesen des tierischen, des pflanzlichen und selbst des mineralischen Reiches vorhanden waren. In weiter Per­spektive sehen wir zurück in die Zeiten-Entwickelung, in welcher das, was jetzt unser Innerstes ist, schon da war, was sich später. erst den Reichen eingegliedert hat, die jetzt unter dem Menschen stehen. So sehen wir aus einer über­irdischen Welt des Menschen Wesenheit heranschweben, sehen, daß wir in Wahrheit diese menschliche Wesenheit erst begreifen können, wenn wir von alledem, was die Erde aus sich selber erschaffen und hervorbringen kann, uns zu etwas Außerirdischem erheben, zu etwas auch Vorirdischem. Wissen können wir durch die Geisteswissenschaft: wenn wir alle Kräfte, alles Wesenhafte, was mit der Erde selber zu­sammenhängt, auf uns wirken lassen, so ist doch aus all diesem kein Bild des ganzen wesenhaften Menschen zu ge­winnen, sondern wir müssen von allem Irdischen den Blick erheben in überirdische Regionen und aus ihnen dieses Men­schen Wesenheit heranschweben sehen. Wir müssen, wenn wir im Gleichnis sprechen wollen, einmal fühlen, wie zu dem Irdischen etwas heranschwebt, wenn wir zum Beispiel des Morgens, insbesondere in einer solchen Gegend wie die ist, in welcher Raffael gelebt hat, unsere Blicke zu einem

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Sonnenaufgang hinwenden, zu dem goldglänzenden Son­nenaufgang, und da ein Gefühl erhalten können, wie selbst im natürlichen Dasein zu dem, was irdisch ist, etwas hin­zukommen muß an Kräften, die in das Irdische herein­wirken, an Kräften, die wir immer mit dem Sonnensein verbinden müssen. Dann steigt vor unserer Seele aus dem goldigen Glanze das Sinnbild dessen auf, was heranschwebt, um sich mit dem Irdischen zu umkleiden.

Man kann insbesondere in Perugia das Gefühl haben, daß das Auge denselben Sonnenaufgang sehen darf, den einst Raffael erlebt hat, und daß man in den Naturerschei­nungen der aufgehenden Sonne ein Gefühl von dem be­kommen kann, was im Menschen überirdisch ist. Aus den von dem Sonnengolde durchglänzten Wolken kann einem aufgehen - oder man kann wenigstens empfinden, als ob es einem so erscheint - das Bild der Madonna mit dem Kinde als ein Sinnbild des ewig Überirdischen im Menschen, das an die Erde eben aus dem Außerirdischen herankommt und unter sich noch, durch Wolken getrennt, alles das hat, was nur aus dem Irdischen hervorgehen kann. Zu höchsten gei­stigen Höhen kann sich unser Empfinden erhoben fühlen, wenn man sich, nicht theoretisch, nicht im Abstrakten, aber mit ganzer Seele, dem hingeben und sich damit durchdringen kann, was in Raffaels Madonna auf uns wirkt. Es ist eine naturgemäße Empfindung, die wir so vor dem weltberühm­ten Dresdner Bilde haben können. Und daß es auf manche Menschen so gewirkt hat, dafür möchte ich einen Beleg anführen, indem ich die Worte mitteile, welche der Freund Goethes, Karl August, damals noch Herzog von Weimar, über die Sixtinische Madonna nach einem Besuche in Dres­den geschrieben hat:

«Bei dem Raffael, der die Sammlung dort schmückt, ist mir nicht anders gewesen, als wenn man den ganzen Tag

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durch die Höhe des Gotthard gestiegen ist, durchs Urseler Loch kam und nun auf einmal das blühende und grünende Tal sah. Mir war's, so oft ich ihn sah und wieder weg sah, immer nur wie eine Erscheinung vor der Seele; selbst die schönsten Correggios waren mir nur Menschenbilder; ihre Erinnerung, wie die schönen Formen, sinnlich palpabel. Raffael blieb mir aber immer bloß wie ein Hauch, wie eine von den Erscheinungen, die uns die Götter in weiblicher Gestalt senden, um uns glücklich oder unglücklich zu ma­chen; wie die Bilder, die sich uns im Schlaf wachend oder träumend wieder darstellen und deren uns einmal getrof­fener Blick uns ewig Tag und Nacht anschaut und das In­nerste bewegt.»

Und merkwürdig: wenn man die Literatur verfolgt bei denjenigen, welche aus ihrer Empfindung heraus ein Tiefes gerade beim Anblick der Sixtinischen Madonna, aber auch bei anderen Raffael-Bildern aussprechen können, dann tre­ten einem immer wieder, wenn die Menschen charakte­risieren wollen, was sie empfinden, Vergleiche mit dem Licht, mit der Sonne, mit dem Erhellenden und mit dem Frühlingsmäßigen entgegen.

Da können wir einen Blick tun in die Raffael-Seele, wie sie aus den geschilderten Zuständen ihrer Umgebung heraus ihr Gespräch hält mit den ewigen Geheimnissen des Men­schenwerdens. Da fühlen wir, wie ein Einzigartiges, nicht aus der Umgebung Herauswachsendes, sondern auf eine ungeheure menschliche Vergangenheit Hinweisendes diese Seele Raffaels ist. Man braucht dann nicht zu spekulieren. Eine solche Seele, die in den Umkreis der Welt hinausschaut und aus sich heraus das Geheimnis des Daseins nicht in Ideen ausdrückt, sondern empfindet und in einem sol­chen Bilde formt, eine solche Seele stellt sich dann wie etwas ganz Selbstverständliches durch eine solche innere Vollkommenheit

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als eine reifste Seele dar, die wahrhaftig in ihren Anlagen etwas trägt an Kräften der Menschheit, eine Seele, die hindurchgegangen sein muß durch andere Epochen der Menschheitsentwickelung und besonders durch manche die­ser Epochen, welche Großes, Gewaltiges in diese Seele hineingegossen haben, so daß es wieder zutage treten kann in dem, was wir das Leben Raffaels nennen. Aber wie tritt es heraus?

Wir sehen das, was in den christlichen Legenden, in den christlichen Traditionen lebt, in den Bildern Raffaels auf­tauchen mitten in einer Zeit, in welcher das Christentum wie heidnisch geworden war und ganz äußerer Gestalt und äußerer Pracht hingegeben lebte, so etwa, wie das griechische Heidentum in seinen Göttern dargestellt war und vor allem verehrt wurde von den schönheitstrunkenen Griechen. Wir sehen Raffael diese Gestalten christlicher Überlieferungen ausprägen in einem Zeitalter, in welchem das, was lange Jahrhunderte unter Schutt und Trümmern auf römischem Boden vergraben war, wieder ausgegraben wurde. Wir sehen, daß Raffael selber mit unter den Ausgrabenden war. Merkwürdig erscheint uns dieses Rom, in das Raffael in dieser Zeit hineinversetzt war.

Was ging dieser Zeit voraus? Wir sehen zuerst die Jahr­hunderte, da Rom auftaucht, sehen es auftauchen ganz auf­gebaut auf dem Egoismus einzelner Menschen, die vor allen Dingen im Auge haben, auf Grundlage dessen, was der Mensch als Bürger eines Staates bedeuten sollte, eine mensch­liche Gemeinschaft zu begründen, eine Gemeinschaft in der äußeren physischen Welt. Dann, als Rom zu einer gewissen Höhe gelangt war, als die Kaiserzeit heraufgekommen war, sehen wir, wie es aufsaugt das Griechentum, indem in das römische Geistesleben das Griechentum hineinströmt, und wir erleben, wie Rom zwar politisch Griechenland überwältigt,

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wie aber Griechenland geistig Rom überwältigt. Es lebt das Griechentum dann im Römertum fort. Wir sehen, wie griechische Kunst, so weit sie von Rom aufgesogen wurde, im römischen Wesen fortlebt, sehen Rom ganz und gar von griechischem Wesen durchgossen.

Aber warum bleibt dieses griechische Wesen in den fol­genden Jahrhunderten nicht eine charakteristische Eigen­schaft der Entwicklung Italiens? Warum kam doch etwas ganz anderes heraus? Weil bald, nachdem dieses Griechen­tum sich in die römische Welt hineinergossen hatte, das an­dere kam, das eine stärkere Signatur dem aufdrückte, was sich auf dem Boden Italiens als Geistesleben entwickelte:

das Christentum, die Verinnerlichung des Christentums, dasjenige, was nun nicht zur Menschheit so sprechen sollte wie das äußere Sinnliche der griechischen Städte, der grie­chischen Bildwerke oder der griechischen Philosophie, son­dern das zur inneren Menschenseele das sprechen sollte, was gestaltenlos in diese Seele einziehen, was diese Menschenseele nur in inneren Kämpfen ergreifen sollte. Deshalb sehen wir solche Gestalten auftauchen wie Augustinus, ganz innerliche Gestalten.

Dann aber sehen wir, weil alles in der Entwicklung zyklisch abläuft, Kreisläufe durchläuft, nach der Verinner­lichung bei diesen Menschen, welche diese Verinnerlichung durchgemacht haben und in ihrer Seele lange gewisser­maßen ohne Zusammenhang mit schöner Äußerlichkeit gelebt haben, jene Sehnsucht nach Schönheit auftreten. Sie schauen wieder im Äußeren das Innerliche. Da ist es ein Bedeutsames, wenn wir in Assisi das verinnerlichte Leben des Franz von Assisi durch Giotto vor unseren Augen auf­treten sehen, wenn wir in den Bildern Giottos die inneren Erlebnisse sprechen sehen, die sozusagen das Christentum in der menschlichen Seele auswirken kann. Und wenn wir

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auch noch - der Ausdruck sei gestattet - etwas ungelenk und unvollkommen in Giottos Bildern das Innere der Men­schenseele sprechen fühlen, so sehen wir dann doch einen geraden Aufstieg bis zu jenem Punkte, wo das Innerlichste, das Hehrste und Edelste in äußerer Gestalt uns bei Raffael und seinen Zeitgenossen entgegentritt. Da werden wir wie­der auf eine Eigentümlichkeit dieser Raffael-Seele hingelenkt.

Versuchen wir, uns in die Art hineinzufühlen, wie Raffael selber empfinden mußte, so müssen wir uns sagen: Ja, wenn wir solche Bildwerke auftreten sehen wie zum Beispiel die «Madonna della Sedia», so fällt uns auf, wie die Madonna mit dem Kinde, und davor das Kind Johannes, so vor uns stehen, daß wir, wenn wir sie betrachten, alle übrige Welt vergessen könnten, vor allem auch vergessen könnten, daß dieses Kind, welches von der Madonna gehalten wird, ein­mal mit jenen Erlebnissen verknüpft sein kann, welche wir als die Erlebnisse auf Golgatha kennen. Vor dem Bilde Raffaels vergessen wir alles, was dann als das «Christus-Jesus-Leben» folgte. Wir gehen ganz auf in dem Augen­blick, der hier festgehalten ist. Wir schauen einfach eine Mutter mit einem Kinde, von dem Herman Grimm gesagt hat, daß es das vornehmste Geheimnis ist, welches uns in der äußeren Welt entgegentreten kann. Wir schauen diesen Augenblick in einer Ruhe, wie wenn vorher und nachher sich nichts an ihn anschließen könnte. Wir gehen ganz auf in dem Verhältnis der Madonna zu ihrem Kinde, reißen es für uns selbst aus allem heraus, womit es sonst verknüpft ist. Und so in sich vollendet, immer das Ewige in einem Augenblicke sich uns zeigend, erscheinen im Grunde genom­men Raffaels Schöpfungen.

Ja, wie muß eine Seele fühlen, die so schafft? Sie kann nicht fühlen etwa wie die Seele Savonarolas, die, von innerer

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Feuersglut erfaßt, die ganze Tragödie Christi in sich fühlt, wenn sie ihre Zornesworte spricht, oder auch, wenn sie zu den Hörern christlicher Andacht ihre religiös erhe­benden, frommen Worte spricht. Wir können uns nicht vor­stellen, daß Raffaels Seele Schwung habe in Savonarolas oder ähnlicher Geistesart, können uns nicht vorstellen, daß jenes sogenannte christliche Feuer in Raffaels Seele gewaltet hätte. Dennoch aber dürfen wir uns nicht vorstellen, wenn wir einigermaßen dasWesen einer Menschenseele auf uns wir­ken lassen können, daß in solcher Innerlichkeit, in solcher inneren Vollendung das, was die christlichen Vorstellungen sind, bildhaft durch Raffael vor uns hintreten könnten, wenn diese Seele dem christlichen Feuer so ganz fremd gewesen wäre, wie sie uns diesem christlichen Feuer fremd entgegen­tritt, wenn sie ganz objektiv an solchen Bildern schafft.

Man kann nicht objektiv und gerundet die Gestalten schaffen, wenn man etwa von dem Feuer Savonarolas durch­drungen ist, wenn man von der ganzen tragischen Stim­mung des Christus in seiner Seele getragen ist und sich da­von beflügelt fühlt. Es muß ganz andere Ruhe und ein ganz anderes Empfinden in der christlichen Empfindung in die Seele ausgeflossen sein. Dennoch könnte nicht aus der Seele herauskommen, was in Raffaels Bildern zum Ausdruck ge­kommen ist, wenn nicht das, was der tiefste Nerv christ­licher Innerlichkeit ist, in dieser Seele gelebt hätte. Ist es dann nicht fast natürlich, wenn wir uns sagen: Ja, da haben wir eben eine Seele vor uns, welche jenes Feuer, das wir in Savonarola auf uns wirkend vernehmen, schon mit in das physische Dasein brachte, das sie als der Maler Raffael be­trat. Wenn wir sie sehen, aus früheren Erdenleben durch die Geburt dieses Feuer ins Dasein bringend, dann begreifen wir, wie es so abgeklärt, so innerlich vollendet sein konnte, daß uns dieses Feuer nicht als das sozusagen Verzehrende

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und den Enthusiasmus Störende entgegentritt, sondern als das Abgeklärte des bildhaft Schaffenden erscheinen kann. Da möchte man sagen: man fühlt schon in den Anlagen Raffaels etwas durch, was einem vorkommt, wie wenn es in diesen Anlagen so lebte, als ob er in einem früheren Leben mit demselben Feuer hätte sprechen können, wie dann später Savonarola sprach. Und man brauchte sich nicht zu verwundern, wenn man in Raffaels Seele eine wieder­erstandene Seele hätte aus einer Zeit, in welcher das Chri­stentum nicht bildhaft, nicht in der Kunst stehend empfun­den wurde, sondern als unmittelbar an seiner Begründung stehend, als es den großen Impuls, durch den es dann im Laufe der Jahrhunderte gewirkt hat, an seinem Ausgangs­punkt hatte.

Vielleicht ist es nicht zu gewagt, zum Verständnis einer solchen Seele, wie es die Raffaels ist, sich so etwas herbeizutragen, wie es eben ausgesprochen worden ist. Denn wer gelernt hat, in immer wieder erneuerter Vertiefung in die Werke Raffaels diese Seele in ihren Tiefen zu verehren, in ihren Tiefen so anzuschauen, wie sie unergründlich tief wirkt, der vermag nicht anders, als durch solche weitgehende Empfindung sich begreiflich, sich verständlich zu machen, was da zu uns spricht, wo Raffael seine Seele in seine Wun­derwerke hineingegossen hat.

So erscheint uns die Mission Raffaels eigentlich erst im rechten Lichte, wenn wir nach einem Ausdruck Goethes in einem «abgelebten Leben» das christliche Feuer suchen, das uns dann in einem späteren Leben als die Abgeklärtheit in seinem Raffael-Dasein erscheint. Dann verstehen wir auch, wie diese Seele so isoliert sich in die Welt hineinstellen mußte, und wir begreifen auch, wie jene Seele, die wir eben zu charakterisieren versuchten, die vielleicht, nur in gestei­gertem Maße, etwas «Savonarolahaftes» in einem früheren

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Dasein hatte, als ein Neues empfinden konnte, was nun wieder zur Zeit Raffaels in der geistigen Entwicklung Ita­liens aufgetreten war.

Hatte in die Zeit, als das Kaisertum heranrückte und dann da war, in die römische Entwicklung das Griechen­tum hereingespielt, wie es geschildert worden ist, und war dann eine Verinnerlichung eingetreten, so sehen wir jetzt im Zeitalter Raffaels, der Renaissance, auf der einen Seite dieses alte Griechentum, das unter Schutt und Trümmern begraben war, wieder herauskommen, sehen Rom sich mit dem überbliebenen Griechentume bevölkern, sehen auf­tauchen, was einst als griechischer Geist die Stadt geziert und verschönt hatte, sehen die Augen der römischen Bevöl­kerung sich wieder hinlenken auf die Formen, die einst der griechische Geist geschaffen hatte. Auf der anderen Seite sehen wir in diesem Zeitalter aber auch, wie der Geist Platos, der Geist des Aristoteles, der Geist der griechischen Tragiker in das römische Leben eindringt. Noch einmal sehen wir die Eroberung der römischen Welt durch das Griechentum. Vielleicht gerade für einen solchen Geist, der einstmals in einseitiger Weise der moralisch-religiösen An­schauung des Christentums hingegeben war und in einem vorhergehenden Leben seine Seele ganz diesen moralisch-religiösen Eindrücken hingegeben hat, mußte das Griechen­tum, wie ihn selbst befruchtend, erneuernd wirken, so wie es, aus Schutt und Trümmern hervorgezogen, auf der ita­lienischen Halbinsel auftrat.

Sieht man also den moralisch-religiösen Impuls des Chri­stentums wie in den Anlagen Raffaels liegend, so sieht man das, was in diesen Anlagen noch nicht da war, vor seinen schauenden Augen auftreten in dem wiedererstandenen Griechentum. Wie in keiner anderen Seele wirkten die aus Schutt und Trümmern wiedererstandenen Statuen und die

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griechischen Geistesprodukte, die aus den wiederaufgefun­denen Manuskripten herausgeholt wurden, auf die Seele Raffaels. Was sich aus seinen Anlagen heraus, aus dem christlichen Empfinden heraus verband mit einem übergeistigen Hingegebensein an das Kosmische, das wirkte zu­sammen mit dem, was als griechischer Geist aus seinem Zeitalter heraus wiedererstand. Das waren die zwei Dinge, die sich in seiner Seele verbanden und die bewirkten, daß uns in den Werken Raffaels das entgegentritt, was an In­nerlichkeit die nachgriechische Zeit geschaffen hat, was an Innerlichkeit das Christentum hineinergossen hat in die Menschheitsentwickelung und was sich zum Ausdruck brachte in, man möchte sagen, vollständig äußerer Offen­barung in einer malerischen Gestaltenwelt, aus welcher überall der reinste griechische Geist spricht.

So sehen wir die merkwürdige Erscheinung, daß uns durch Raffael das Griechentum im Christentum wieder­ersteht. So sehen wir in Raffael ein Christentum auftreten in einer Zeit, die eigentlich in einer gewissen Weise um ihn herum das Antichristliche darstellt. Wir sehen, daß sich in ihm ein Christentum darstellt, das weit hinausging über alle Enge des vorhergehenden Christentumes und sich erhob zu einer weiten Betrachtung gegenüber der damaligen Welt. Und doch sehen wir ein Christentum, das nicht in unend­liche Sphären des bloß Spirituellen ahnend hinausweist, sondern sich zusammenschließt so, wie einst die Griechen in der künstlerischen Form ihre Götter-Ideen zusammen­geschlossen haben mit dem, was gestaltenlos die Welt durch-lebt und durchwebt, und es hineingedrängt haben in die Gestalten, aus denen heraus es zugleich unsere Sinne ergötzt.

Das ist es, was vor unsere Seele tritt, wenn wir uns ein Gesamtbild zu formen versuchen, wenn in unsere Seele einströmt die eine oder die andere der Schöpfungen Raffaels,

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wenn wir auf uns wirken lassen, was alles in höchster Voll­endung - und doch in wunderbarstem Jugendüberfluß, denn Raffael starb mit 37 Jahren - auf uns wirken kann. Nicht einer grauen Theorie und auch wahrlich nicht einer philo­sophischen Gesdiichtskonstruktion zuliebe, sondern der un­mittelbaren Empfindung entsprungen, welche die Werke Raffaels geben, muß gesagt werden: An einem so überragenden Geiste wie Raffael erscheint so recht das Gesetzmäßige im Fortlaufe des menschlichen Geisteslebens.

Wer sich als eine gerade Linie, wo sich immer Wirkung an Ursache anschließt, diesen Fortgang des Geisteslebens vorstellt, der ist wahrhaftig nicht mit den Tatsachen im Einklang. Man hat so leicht einen Ausspruch bei der Hand, der gewiß zu den goldenen Aussprüchen der Menschheit gehört: daß das Leben und die Natur keine Sprünge mache. Gewiß, aber in vieler Beziehung machen das Leben und die Natur fortwährend Sprünge. Das können wir sehen an der Entwickelung der Pflanze vom grünen Blatt zur Blüte, von der Blüte zur Frucht. Da sehen wir, wie zwar alles sich «entwickelt», wie aber tatsächlich Sprünge das Selbstver­ständliche sind.

So ist es auch im Geistesleben der Menschheit, und das ist noch mit mancherlei Geheimnissen verknüpft. Eines dieser Geheimnisse ist, daß immer eine spätere Epoche zurückgreifen muß auf eine frühere Epoche. So möchte man sagen: wie das Männliche und das Weibliche zusammenwirken müssen, so müssen die verschiedenen Zeitengeister, sich gegenseitig hefruchtend, zusammenwirken, damit die Fortentwickelung geschieht. So mußte das Römertum schon um die Kaiserzeit herum vom Griechentum befruchtet werden, damit ein neuer Zeitgeist entstünde. Und so mußte wieder dieser Zeitgeist, der da entstand, befruchtet werden von dem christlichen Impuls, damit jene Verinnerlichung möglich

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werde, die wir dann in Augustinus und in anderen erblicken. So mußte später neuerdings diese innerlich so fortgeschrittene Menschenseele Raffael befruchtet werden von dem Griechentume, das doppelt begraben war und doch wieder hervorkam, das doppelt entzogen war: den Blicken in den Bildwerken, die unten im Boden Italiens vom Erdreich bedeckt ruhten, und den Seelen in den begra­benen Literaturwerken, die den griechischen Geist auspräg­ten. Wenig, außerordentlich wenig berührt waren diese Jahrhunderte des ersten christlichen Jahrtausends in Italien von dem, was in der griechischen Philosophie, in der grie­chischen Dichtung lebte.

Doppelt begraben war das Griechentum und wartete gleichsam wie in einem jenseitigen Reich auf einen Zeit­punkt, wo es neuerdings die inzwischen durch eine neue Religion hindurchgeschrittene Menschenseele befruchten konnte. Begraben, sich den äußeren Augen der Menschen entziehend, und begraben wieder auch für die Seelen, die nicht ahnten, daß es sich fortentwickeln würde, daß man es hatte, während es nur fortfloß wie ein Fluß, der manch­mal eine Strecke weit unter einem Berge fortfließt, sich den Blicken entzieht und nachher wieder an die Oberfläche kommt. Begraben, äußerlich für die Sinne, innerlich für die Tiefen der Seelen, war dieses Griechentum. Jetzt kam es wieder hervor. Für die sinnliche Anschauung grub man es heraus aus dem Boden Italiens in den künstlerischen Wer­ken; für die geistige Anschauung grub man es aus, indem man es nicht nur aus den alten Manuskripten hervorholte, sondern indem man wieder anfing, im griechischen Sinne zu empfinden, wie der Geist in allem Sinnlichen lebt, wie alles Sinnliche die Offenbarung des Geistigen ist. Man fing wieder an zu empfinden, was einst Plato und Aristoteles gedacht hatten.

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Der aber, auf den das am meisten befruchtend wirken konnte, weil seine Seele in ihren Anlagen die christlichen Impulse am meisten verarbeitet hatte, das war Raffael. Bei ihm wirkte sich dieses doppelt vorher begrabene und dop­pelt wiedererstehende Griechentum jetzt so aus, daß er im­stande war, die ganze Entwicklung der Menschheit in Ge­stalten zu prägen. Wie wunderbar vermochte er es in den Bildern der «Camera della Segnatura», wo wir das alte Geistesringen auf den Bildern wiedererstehen sehen, das Ringen jener Geister, die sich herausgebildet haben in der Zeit der Verinnerlichung, die nicht da waren in der Zeit des Griechentums. Daß sie so angeschaut werden konnten zur Zeit Raffaels, dazu war die ganze Periode der Verin­nerlichung notwendig. Jetzt sehen wir diese Verinnerlichung an die Wände der päpstlichen Zimmer gemalt.

Was sich die Griechen nur in Gestalten geformt gedacht hatten, das sehen wir jetzt verinnerlicht. Die inneren Stre­bungen und Kampfstimmungen, welche die Menschheit selbst durchgemacht hat, sehen wir mit griechischem Gestaltengeist, mit griechischer Kunststimmung und Schönheit an die Wände des päpstlichen Palastes gezaubert. Wie sich die Griechen vorstellten, daß die Götter. auf die Welt wirkten, das gossen sie aus über ihre Statuen. Wie die Menschen es erlebt hatten, daß sie fortschreiten zu den Gründen der Dinge, das tritt uns in dem Bilde entgegen, das so oft die «Schule von Athen» genannt wird. Wie die Menschenseele gelernt hat die griechischen Götter anzuschauen, das tritt uns in einer eigentümlichen Neugestaltung der Götter Ho­mers in dem «Parnaß» vor die Seele. Das sind nicht die Götter der Ilias und Odyssee, sondern das sind die Götter, wie sie eine Seele anschaute, die bereits durch die Epoche der Verinnerlichung durchgegangen war!

An der anderen Wand sehen wir das Bild, das jedem,

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gleichgültig, welchem religiösen Bekenntnisse er angehören mag, unvergeßlich bleiben muß - so wenig man jetzt noch eine Vorstellung davon bekommen kann -, das Bild, auf dem ein Innerstes dargestellt wird, die «Disputa». Wäh­rend die anderen Bilder darstellen, wozu man sich durch ein gewisses philosophisches Streben hindurchringt, aber in griechischer Formenschönheit, tritt uns in dem gegenüber­liegenden Bilde das Tiefste entgegen, was die Menschen-seele erleben kann. Und wie wir nicht an ein enges christ­liches Bewußtsein zu denken brauchen, das zeigt sich uns hier, wenn wir das Brahma-, Vishnu-, Shiva-Motiv in einer ganz anderen Art ausgedrückt finden. Wir sehen als die Dreieinigkeit uns entgegentreten, was die menschliche Seele innerlich erleben kann, jede Seele, welchem Bekennt­nisse sie auch angehört. Es tritt uns entgegen, aber nicht bloß symbolisch dargestellt, in der Symbolik der Dreieinig­keit in dem oberen Teile des Bildes. Es tritt uns weiter ent­gegen in jedem Antlitz der Kirchenväter und der Philo­sophen, in jeder Handbewegung, in der ganzen Verteilung der Gestalten, in der wunderbaren Farbengebung. Es tritt uns entgegen in der Totalität des Bildes, welches uns ein Innerliches der Menschenseele gibt in der schönen, vom grie­chischen Geiste durchzogenen Form. So sehen wir die In­nerlichkeit, welche die Menschenseele im Verlaufe von an­derthalb Jahrtausenden erlebt hat, als äußere Offenbarung wieder auferstehen. Wir sehen das Christentum nicht als das Heidentum der römischen Päpste und Kardinäle, sondern als das schöne, herrliche Gestalten schaffende grie­chische Heidentum - und doch Christentum - in den Bil­dern Raffaels wiedererstehen.

So steht diese Raffael-Seele an der Wende, gleichsam an der Wasserscheide der Zeiten, hinweisend auf ihre Vorzeit, heraufholend, was sich bis zum Christentum in der Schönheit

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der äußeren Offenbarungen entwickelt hat, und zu­gleich hingewendet zu dem, was sich in der Menschheitsent-wickelung herausgebildet hat als das, was man die «Erzie­hung des Menschengeschlechts» nennt und was die wiedererstehende Seele zeigt, als die Verinnerlichung dieser Men­schenseele. Daher stehen wir vor diesen Bildern Raffaels, vor diesen Wunderwerken einer einzigartigen Kunst so, daß sie uns wie ein Zusammenfluß zweier Zeitalter er­scheinen, die klar und deutlich voneinander geschieden sind: das vorhergehende nachgriechische Zeitalter, das Zeitalter des Außenerlebens und das des Innenerlebens.

Aber wir stehen vor diesen Bildern so, daß sie uns zu­gleich eine Perspektive in die Zukunft hinein eröffnen. Denn wer von denen, die das erfühlen, was im Zusammenfluß von äußerer Schönheit und innerem weisheitsvollen Drange der Menschenseele werden konnte, sollte nicht die Hoffnung und die Gewähr dafür empfinden, trotz aller Äußerlich­keit, die sich auch im Fortgange der Menschheit immer wei­ter und weiter entwickeln muß, daß diese Verinnerlichung im Laufe der Entwickelung fortschreiten muß, daß die Menschenseele immer innerlichere Perioden in den folgen­den Leben finden muß?

Man kann verstehen, was einem in der Literatur ent­gegentritt, freilich nur entgegentritt, wenn man nicht als Kunstgelehrter oder als bloßer Leser an die Werke eines Geistes wie Herman Grimm herangeht, der mit ganzer Seele das Wirken der menschlichen Phantasie darzustellen versuchte, man kann es verstehen, wenn man gerade an einer gewissen Stelle von Herman Grimms Raffael-Werk Worte findet, die einem dann zu etwas ganz Besonderem werden, wenn man mit innigem Anteil einen solchen Geist wie Herman Grimm betrachtet und sieht, wie dieser selber wieder mit so innigem Anteile vor Raffaels Schöpfungen

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stand. Aber man muß es empfinden an jener Stelle des Raffael-Werkes, was Herman Grimm durch die Seele ge­zogen ist, als er ein Wort gebrauchte, das er nur keusch an­deutet, schon auf den allerersten Seiten seines Buches, an der Stelle, bei der sein Blick auf das Herauswachsen Raffaels aus alten Zeitaltern fällt. Man sieht eigentlich aus dem Äußeren der Darstellung des Raffael-Werkes bei Herman Grimm nicht recht ein, woher dieser Gedanke stammt. Mitten unter weiten historischen Betrachtungen, in die Raffael hineingefügt wird, geht Herman Grimm der Ge­danke auf und wird hingeschrieben, keusch hingeschrieben:

«Es stehen mir Entwicklungen der Menschheit vor den Augen, die mitzumachen mir versagt sein wird, die mir aber als so glänzend schön erscheinen, daß es um ihret­willen wohl der Mühe wert wäre, das menschliche Leben noch einmal zu beginnen.»

Merkwürdig, diese Sehnsucht nach «Wiederverkörpe­rung» in der Einleitung zu seinem Raffael-Buche bei Her­man Grimm, tief bezeichnend für ein seelisches Fühlen bei einem Menschen, der sich ganz hineinzufühlen versuchte in die Seele Raffaels und in den Zusammenhang Raffaels mit den anderen Zeitaltern. Fühlt man da nicht etwas, was man etwa so ausdrücken kann: Solche Werke wie die von Raffael sind nicht nur ein Ergebnis. Sie führen nicht nur zu einer Betrachtung, die uns sagen läßt, wie dankbar wir sein müs­sen gegenüber dem, was uns die Vergangenheiten bis zu unserem Zeitalter gegeben haben, sondern solche Werke können noch eine ganz andere Empfindung in uns erstehen lassen, die Empfindung der Hoffnung, weil sie uns befestigen in dem Glauben an die fortschreitende Menschheit, und weil wir uns sagen müssen, daß diese Werke nicht so sein könn­ten, wenn die Menschheit nicht eine Wesenhaftigkeit wäre, der das Fortschreiten Natur ist. So wird uns Sicherheit, so

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wird uns Hoffnung, wenn wir Raffael im richtigen Sinne auf uns wirken lassen, und dann dürfen wir sagen: Raffael hat durch das, was er künstlerisch geschaffen hat, zur Menschheit gesprochen!

Wenn wir die Fresken in der «Camera della Segnatura» betrachten, dann fühlen wir wohl die Vergänglichkeit des äußeren Werkes, und daß wir aus den oft übermalten Wer­ken keine Vorstellung mehr von dem bekommen können, was Raffael einst dort auf die Wand gezaubert hat. Wir fühlen, daß einst eine Menschheit auf der Erde leben wird, die nicht in der Lage sein wird, die Originalwerke auf sich wirken zu lassen. Aber wir wissen, daß die Menschheit im­mer weiterschreiten wird.

Im Grunde genommen haben die Werke Raffaels erst ihren Siegeszug genommen, als mit Hingabe und Liebe von diesen Werken unzählige Bilder und Stiche und Nachbil­dungen hergestellt worden sind. Sie wirken fort, diese Werke Raffaels, bis in die Nachbildungen hinein. Man kann es verstehen, wenn wiederum Herman Grimm erzählt, er habe sich einmal eine große Phototypie der «Sixtinischen Madonna» in sein Zimmer gehängt, und es sei ihm, wenn er dieses Zimmer betrat, dann immer so gewesen, als ob er nicht recht hineingehen dürfe, als ob es wie ein Heiligtum der Madonna, dem Bilde gehöre. Wohl mancher wird es schon erlebt haben, wie die Seele eigentlich ein anderes Wesen wird als sie sonst im gewöhnlichen Leben ist, wenn sie einem Raffaelschen Bilde wirklich hingegeben sein kann, auch einer bloßen Nachbildung. Gewiß, die Originale wer­den einstmals nicht mehr sein. Aber sind denn die Originale auf anderen Gebieten vorhanden?

Wahr ist es, was Herman Grimm in seinem Homer-Buche gesteht: Wir können auch die Originale des Homer nicht mehr richtig genießen, weil wir im gewöhnlichen Leben,

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ohne höhere geistige Kräfte, nicht mehr in der Lage sind, in alle Fügungen und Wendungen der griechischen Sprache, in ihre Schönheit und Gewalt uns hineinzuvertiefen, wenn wir jetzt Homer in seiner «Ilias» und «Odyssee» auf uns wirken lassen. Die Originale haben wir auch da nicht mehr; dennoch sprechen die Dichtungen Homers zu uns. Aber was Raffael äußerlich gegeben hat, das wird auch dann noch als ein lebendiges Zeugnis dafür leben, daß es einmal in der Entwickelung der Menschheit eine Zeit gegeben hat, in der man sich im weitesten Umkreise nicht in Gedrucktes und Geschriebenes vertiefen konnte - denn das war damals bei weitem nicht gang und gäbe -, in der aber in den Schöp­fungen Raffaels die Geheimnisse des Daseins zu den Augen der Menschen gesprochen haben. Das Zeitalter Raffaels war ein solches, welches weniger las, dafür aber mehr sah. Zeugnis von diesem Zeitalter, das anders geartet war, das aber fort-wirken wird in alle kommenden Zeiten, weil die Mensch­heit ein ganzer Organismus ist, Zeugnis dafür wird das sein, was Raffael immerdar der Menschheit zu sagen haben wird. So wird Raffaels Schöpfung fortleben im Gange der Mensch­heitsentwickelung, fortleben auch innerlich in den aufeinan­derfolgenden Leben, die der Geist Raffaels zu durchleben und in denen er der Menschheit immer Größeres und immer Verinnerlichteres zu geben hat.

So weist die Geisteswissenschaft sozusagen auf ein dop­peltes Fortleben hin: auf jenes Fortleben, das in den bereits gehaltenen Vorträgen geschildert ist und noch weiter be­sprochen werden wird, und auf ein anderes Geistesleben, das wir ja immer anstreben, das zu unserm Erzieher wird, wenn wir in immer neuen Epochen dieses Erdendasein durchlaufen. Und richtig ist es, was Herman Grimm mit Worten gesagt hat, in die er zusammenfaßte, was sich in seinem Gefühl, in seiner Empfindung ergeben hat aus seiner

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Gesamtbeschreibung Raffaels: Wenn auch einmal Raffaels Werk längst verblichen, vernichtet sein wird, dann wird Raffael der Menschheit doch leben; denn in ihm ist der Menschheit etwas geworden, was dem Geiste dieser Mensch­heit in jeglicher Beziehung eingepflanzt ist, was immerdar keimen und Früchte tragen wird.

Das wird die Menschenseele empfinden, welche sich ge­nügend in Raffael vertiefen kann. Im Grunde genommen haben wir Raffael erst ganz verstanden, wenn wir eine Empfindung, von der sich Herman Grimm durchdrungen fühlte - wir haben das letztemal dargestellt, wie nahe er der Geisteswissenschaft stand -, als er Raffael immer wie­der betrachtete, wenn wir diese Empfindung auch geisteswissenschaftlich erhöhen und vertiefen können. Wir ver­stehen uns selber in unserem Verhältnis zu Raffael, wir verstehen, wie solche Betrachtungen, wie sie heute an der Anschauung Raffaels darzustellen versucht worden sind, als Keime aufgehen können, wenn wir zum Schluß zusammen­fassen, was eigentlich heute hat gesagt sein wollen, in Sätze Herman Grimms: «Von Raffael werden die Menschen im­mer wissen wollen. Von dem jungen schönen Maler, der alle anderen übertraf. Der früh sterben mußte. Dessen Tod ganz Rom betrauerte. Wenn die Werke Raffaels einmal verloren sind, sein Name wird eingenistet bleiben in das Gedächtnis der Menschen.»

So Herman Grimm, als er begann, in seiner Art Raffael zu beschreiben. Wir verstehen es. Und wieder verstehen wir ihn, wenn er am Schlusse seines Raffael-Werkes seine Betrach­tung in die Worte ausklingen läßt: «Von der Lebensarbeit eines solchen Menschen wird jeder wissen wollen. Raffael ist zu einem der Elemente geworden, auf dem die höhere Bil­dung des menschlichen Geistes beruht. Wir möchten ihm näher treten, weil wir seiner zu unserem Wohlsein bedürfen.»

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MÄRCHENDICHTUNGEN IM LICHTE DER GEISTESFORSCHUNG Berlin, 6. Februar 1913

Es gibt mancherlei, was es gewagt erscheinen läßt, gerade über Märchendichtung im Lichte der Geistesforschung zu sprechen. Das eine ist die Schwierigkeit des Gegenstandes, denn in der Tat müssen die Quellen in der menschlichen Seele, aus denen die Märchenstimmung, die echte wahre Märchens timmung fließt, so tief in dieser menschlichen Seele gesucht werden, daß jene Methoden der Geistesforschung, die von mir ja immer wieder geschildert worden sind, kom­plizierte und lange Wege durchzumachen haben, bis gerade diese Quellen gefunden werden können. Viel tiefer als man eben meint, liegen in der menschlichen Seele die Quellen, aus denen echte, wahre Märchendichtungen fließen, wie sie als etwas Zauberhaftes aus allen Jahrhunderten der Mensch­heitsentwickelung zu uns sprechen.

Das zweite ist, daß man gerade dem Zauberhaften der Märchendichtungen gegenüber in einem erhöhten Maße das Gefühl hat, daß durch Betrachtungen, durch ideelles Durch­dringen des Wesens des Märchens für die Seele das Elemen­tare, der ursprüngliche Eindruck vernichtet werde, ja, das ganze Wesen der Märchenwirkung selbst. Hat man schon, und das mit vollem Recht, Erklärungen, Kommentierungen von Dichtungen gegenüber das Urteil, daß sie den un­mittelbaren ästhetischen Eindruck, den unmittelbaren Le­benseindruck zerstören, den die Dichtung machen soll, wenn man sie einfach elementar auf sich wirken läßt,

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so sollte man noch viel mehr Erklärungen nicht gelten las­sen gegenüber dem unendlich Feinen und unendlich Zauber­haften jener Dichtung, die als Märchen aus scheinbar so tiefen und scheinbar so unergründlichen Quellen des Volksgemütes oder des einzelnen Menschengemütes hervorquillt. Es ist wirklich so, als ob man die Blüte einer Pflanze zer­stören würde, wenn man mit der Urteilskraft in das ein­greifen wollte, was so ursprünglich aus der Menschenseele hervorquillt wie diese Märchendichtung.

Dennoch scheint es, daß es auf der einen Seite den Me­thoden der Geistesforschung möglich ist, wenigstens einiger­maßen in jene Regionen des Seelenlebens hineinzuleuchten, aus denen Märchendichtung und Märchenstimmung hervorquillt. Auf der anderen Seite scheint eine Erfahrung auch gegen das zweite Bedenken zu sprechen. Gerade weil man die Quellen der Märchendichtung und Märchenstimmung so tief in der Seele suchen muß, kommt man, ganz erfah­rungsgemäß, zu der Überzeugung, daß das, was man dann wie eine geisteswissenschaftliche Erklärung zu geben hat, doch nur etwas bleibt, was so leise die charakterisierte Quelle berührt, daß sie durch eine solche Forschung nicht nur nicht ruiniert wird, sondern im Gegenteil: das Bedeu­tungsvolle, Wesenstiefe in der menschlichen Seele, aus dem die Märchenstimmung quillt, liegt so, daß man das Gefühl hat, die Dinge, die da liegen, sind jederzeit für diese Men­schenseele doch wiederum so neu, so individuell, so ur­sprünglich, daß man sie selbst am liebsten in einer Art von Märchen zum Ausdruck bringen möchte, weil man fühlt, wie unmöglich alles andere ist, um aus diesen tiefen Quel­len heraus zu sprechen.

Es könnte durchaus sein, daß es eine ganz natürliche Stimmung ist, daß gerade jemand, der etwa so wie Goethe neben seiner künstlerischen Betätigung tief hineinzudringen

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versuchte in die Quellen und Gründe des Daseins, dann, wenn er ein tiefstes Erleben der Menschenseele zu geben hat, doch nicht zu theoretischen Auseinandersetzungen greift, doch nicht durch Forschung die Märchenquelle zerstört, son­dern daß er gerade dann, wenn er in diese Quelle einen Einblick gewonnen hat, für die höchsten Aussprüche und Auslebungen der menschlichen Seele naturgemäß wieder zum Märchen greift. So hat es Goethe ja getan in seinem «Märchen» von der grünen Schlange und der schönen Lilie, als er in seiner Art jene tiefen Erlebnisse der Menschenseele zum Ausdruck bringen wollte, die Schiller mehr philo­sophisch abstrakt in seinen Briefen «Über die ästhetische Er­ziehung des Menschen» zum Ausdruck gebracht hat. Gerade die Natur des Märchenhaften bringt es mit sich, daß Mär­chenerklärung und Märchen-Verstehen wohl niemals die produktive Stimmung gegenüber dem Märchen zerstören können, denn wer vom Standpunkte der Geistesforschung zu den besagten Quellen vorzudringen versucht, der findet etwas ganz Eigentümliches. Sollte ich alles sagen, was ich gern über das Wesen des Märchens sagen möchte, dann müßte ich viele Vorträge halten. Daher wird es heute nur möglich sein, einige Andeutungen und Forschungsergebnisse zu bringen.

Wer vom Standpunkte der Geistesforschung aus zu den besagten Quellen vorzudringen versucht, findet nämlich, daß diese Quellen zur Märchendichtung eigentlich viel tie­fer in der Menschenseele liegen als die Quellen der schaffen­den und Geistiges genießenden Menschenseele, welche sich auslebt auch in den hinreißendsten sonstigen Kunstwerken, zum Beispiel in den erschütterndsten Tragödien. Die Tra­gödie bringt zur Darstellung, was die Menschenseele erleben kann an den Mächten, von denen der Dichter sagt, daß sie herrühren von dem großen, gigantischen Schicksal, das den

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Menschen erhebt, indem es den Menschen zermalmt. Tra­gödienerschütterungen rühren her von diesem Schicksal und seiner Schilderung, aber so, daß wir sagen können: Es liegen verhältnismäßig die Verwicklungen, die Fäden, welche durch die Tragödie gesponnen und wieder entsponnen wer­den sollen, in gewissen individuellen Erlebnissen der Men­schenseele an der Außenwelt, die gewiß in vieler Beziehung schwer zu ahnen sind, weil man nur schwer in das Indi­viduelle der Menschenseele eindringt, die aber doch geahnt, ergründet werden können, wenn man Sinn für das hat, was in der Menschenseele durch deren Verhältnis zu dem Leben geschieht. Man hat das Gefühl, so oder so ist eine Seele in dieses oder jenes Schicksal des Lebens verstrickt, wenn sie Tragisches erlebt, wie es uns etwa dargestellt wird.

Tiefer als diese Verstrickungen des Tragischen liegen die Quellen der Märchenstimmung und der Märchendichtung. Wir fühlen, daß das Tragische und auch manches andere Künstlerische sich ergibt, wenn wir den Menschen zum Beispiel in einem bestimmten Lebensalter, in einer bestimm­ten Lebensperiode den oder jenen Schicksalsschlägen ausge­setzt sehen. Wir müssen voraussetzen, wenn eine Tragödie auf uns wirkt, daß der Mensch zu den entsprechenden Verwicklungen hingeführt ist durch ein individuelles Erleben, und wir haben dann das Gefühl: dieser eine Mensch, der uns da in der Tragödie vorgeführt wird mit seinen beson­deren Erlebnissen, der ist es, den wir verstehen müssen. Ein gewisser umgrenzter Kreis des Menschlichen tritt uns in der Tragödie und in anderen Kunstwerken entgegen.

Wenn wir verständnisvoll an Märchendichtung und Märchenstimmung herantreten, so haben wir ein anderes Gefühl, nicht dieses eben geschilderte, weil eben die Wir­kung des Märchens auf die menschliche Seele eine ursprüng­liche und elementare ist, so daß sie zu den unbewußten Wirkungen

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gehört. Aber wenn wir versuchen, ein Gefühl von dem zu bekommen, was da vorliegt, so ist dieses Gefühl dahingehend, daß wir uns sagen können, was sich in den verschiedenen Märchen zum Ausdruck bringt, ist nicht das­jenige, in was der Mensch durch eine bestimmte Lebenssituation hineingebracht werden kann, ist nicht ein engbe­grenzter Kreis menschlichen Erlebens, sondern etwas so Tiefes in den Erlebnissen der Menschenseele, daß es allge­mein menschlich ist. Wir können nicht sagen, daß irgend­eine Menschenseele in einem bestimmten Lebensalter, die sich in eine bestimmte Situation hineinlebt, so etwas finden kann, sondern was im Märchen zum Ausdruck kommt, wurzelt so tief in der Seele, daß der Mensch das erlebt, gleichgültig, ob er Kind im ersten Kindheitsalter ist, ob er Mensch in mittleren Jahren ist, oder ob er Greis geworden ist.

Durch unser ganzes Leben zieht sich in den tiefsten Seelenerlehnissen dasjenige, was im Märchen zum Ausdruck kommt. Nur ist das Märchen von dem, was Erlebnis ist und als Erlebnis zugrunde liegt, ein freier, oftmals sogar spie­lerischer, bildhafter Ausdruck. Der ästhetische, künstlerische Genuß des Märchens ist von dem, dem das Märchen in den inneren Seelenerlebnissen entspricht, für die Seele vielleicht so weit entfernt - der Vergleich kann gewagt werden -, wie etwa das Geschmackserlebnis auf der Zunge, wenn wir eine Speise genießen, entfernt ist von den verborgenen, kompli­zierten Vorgängen, welche diese Speise im Gesamtorganis­mus durchmacht, um ihrerseits zum Aufbau des Organis­mus beizutragen. Was da die Speise durchmacht, entzieht sich zunächst der menschlichen Beobachtung und Erkenntnis, und alles, was der Mensch hat, ist der Genuß im Geschmack. Beide haben zunächst scheinbar recht wenig miteinander gemein, und niemand ist imstande, aus dem, wie er eine Speise schmeckt, irgend etwas zu ergründen über die Aufgabe

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dieser Speise in dem ganzen Lebensprozesse des mensch­lichen Organismus. So ist das, was der Mensch im ästhe­tischen Genusse des Märchens erlebt, wohl weit, weit ent­fernt von dem, was in der menschlichen Seele, tief unten im Unbewußten, geschiebt, wenn das, was das Märchen von sich ausströmt und ausgießt, mit der menschlichen Seele sich verbindet, weil diese Seele ein untilgbares Bedürfnis hat, durch ihre geistigen Adern den Stoff des Märchens rinnen zu lassen, wie der Organismus ein Bedürfnis hat, die Nahrungsstoffe, die Nahrungssubstanzen durch sich zirku­lieren zu lassen.

Wenn man diejenigen Methoden anwendet, welche hier als die Methoden der Geistesforschung, als die Methoden des Eindringens in die spirituellen Welten geschildert wor­den sind, dann bekommt man auf einer bestimmten Stufe der geistigen Erkenntnis ein Wissen davon, wie fortwäh­rend, der menschlichen Seele ganz unbewußt, geistige Pro­zesse sich in den Tiefen dieser Menschenseele abspielen. Im gewöhnlichen normalen Leben ist es mit diesen geistigen Prozessen, welche sich in den Tiefen der Seele abspielen, so, daß sie manchmal nur herauftauchen in leisen, auch für das Bewußtsein zu erhaschenden Traumerlebnissen. Wenn etwa der Mensch unter besonders günstigen Umständen aus dem Schlafe erwacht, kann er das Gefühl haben: Du tauchst auf aus einer geistigen Welt, in der gedacht worden ist, in der gesonnen worden ist, in der sich etwas abspielte in den tief unergründlichen Untergründen des Daseins, was zwar den Erlebnissen des Tages ähnlich ist und was innig zusammen­hängt mit deinem ganzen Wesen, was aber diesem bewuß­ten Tagesleben tief verborgen ist.

Wenn der Geistesforscher einige Fortschritte gemacht hat, ja, wenn er schon einige Erfahrungen machen kann in der Welt, in welcher geistige Wesenheiten und geistige Tatsachen

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sind, so geht es ihm doch oftmals ebenso. Er mag noch so weit vordringen, er kommt doch gleichsam immer wieder nur an das Ufer einer Welt, in welcher ihm geistige Vorgänge aus dem tief Unbewußten entgegenkommen, von denen er sich sagt: Sie hängen zusammen mit deinem Wesen, du kannst sie einfangen fast wie eine Fata Morgana, die vor deinem geistigen Blicke auftritt, aber sie ergeben sich dir doch nicht vollständig.

Das ist das eigentümlichste Erlebnis, das man haben kann, dieses Hineinschauen in das Unergründliche der gei­stigen Zusammenhänge, in denen die Menschenseele drin­nensteht. Beim aufmerksamen Verfolgen gewisser intimer Seelenvorgänge ergibt sich zum Beispiel, daß diejenigen Seelenkonflikte, die der Mensch auch in den Tiefen der Seele erlebt und die er in Kunstwerken, in den Tragödien darstellt, verhältnismäßig leicht zu überschauen sind gegen­über gewissen allgemein menschlichen Seelenkonflikten, von denen das tägliche Leben eigentlich nichts ahnt, und die doch jeder Mensch in jedem Lebensalter durchmacht.

Ein solcher Seelenkonflikt, den man durch die Geistes­forschung entdeckt, spielt sich zum Beispiel, ohne daß das alltägliche Bewußtsein etwas davon weiß, jeden Tag beim Aufwachen ab, wenn die Seele aus der Welt heraustritt, in welcher sie unbewußt während des Schlafes ist, wenn sie wieder untertaucht in ihren physischen Leib. Wie gesagt, das alltägliche Bewußtsein ahnt nichts davon, und doch spielt sich da als Erlebnis der Seele alltäglich auf dem Grunde dieser Seele ein Kampf ab, den man auch in der Geistesforschung nur leise erhaschen kann, ein Kampf, der alles das in sich schließt, was man nennen kann den Kampf der in sich geschlossenen, sich in sich erlebenden, einsamen und ihre Geisteswege suchenden Seele mit den gigantischen Kräften des Naturdaseins, denen wir ja im äußeren Leben

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gegenüberstehen, wenn wir gewissermaßen menschlich-hilf­los dastehen und erleben, wie Donner und Blitz, wie die Elemente sich über den hilflosen Menschen entladen.

Aber das alles, und selbst, wenn es so gigantisch auftritt, wie manche nur seltenen elementarischen Naturerlebnisse in ihrem Verhältnis zum Menschen, ist eine Kleinigkeit gegenüber dem Kampfe, der im Unbewußten bleibt, der sich abspielt beim Aufwachen, wenn die Seele, die in sich ihr seelisches Dasein erlebt, sich nun verbinden muß mit den Kräften und Substanzen des rein natürlichen Leibes, in welchen sie untertaucht, um sich ihrer Sinne wieder zu be­dienen, die von Naturkräften beherrscht werden, und um sich der Gliedmaßen zu bedienen, in denen Naturkräfte spielen. Es ist wie eine Sehnsucht der Menschenseele, in das rein Natürliche unterzutauchen, eine Sehnsucht, die sich ja bei jedem Aufwachen erfüllt, und zu gleicher Zeit ist es wie ein Zurückbeben, ein Sichhilflosfühlen gegenüber dem, was wieder als ewiger Gegensatz zur Menschenseele existiert, gegenüber dem rein Natürlichen, das in der äußeren Leib­lichkeit waltet, in die hinein man erwacht. So sonderbar es klingt, daß ein solcher Kampf sich täglich abspielt auf dem Grunde der Menschenseele, so ist es doch ein Erlebnis, das an der Menschenseele eben unbewußt vorbeizieht. Wissen kann die Menschenseele nicht, was sich da vollzieht, aber sie erlebt diesen Kampf jeden neuen Morgen, und es steht jede Seele, trotzdem sie nichts davon weiß, durch alles, was sie ist, durch ihre ganzen Eigenschaften, durch ihr ganzes Wesen, durch die individuelle Nuance ihres Seins doch unter dem Eindrucke dieses Kampfes.

Ein anderes, was sich in den Tiefen der Menschenseele abspielt und durch die Geistesforschung wie erhascht wer­den kann, ist das, was der Moment des Einschlafens dar­stellt. Wenn die Menschenseele sich aus den Sinnen und aus

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den Gliedmaßen herausgezogen hat, wenn sie gewisser­maßen den äußeren Leib in der physisch-sinnlichen Welt zurückgelassen hat, dann tritt an sie heran das, was man nennen kann ein Fühlen ihrer Innerlichkeit. Dann erst erlebt sie unbewußt die inneren Kämpfe, die sich dadurch abspielen, daß diese menschliche Seele im Leben an die äußere Materie gebunden ist und Dinge tun muß, die da­von herkommen, daß sie mit der äußeren Materie verstrickt ist. Sie fühlt die Anhängsel mit der Sinneswelt, mit denen sie belastet ist, und sie fühlt diese Anhängsel als die Hin­dernisse, welche sie moralisch zurückhalten. Eine moralische Stimmung, von der alle äußeren moralischen Stimmungen keinen Begriff geben können, spielt sich unbewußt und nach dem Einschlafen in den Schlaf hinein in der Menschenseele ab, wenn sie mit sich allein ist. Und mancherlei andere Stimmungen gehen in der Seele gerade dann vor, wenn diese Seele leibfrei ist, wenn sie ein rein geistiges Dasein führt vom Einschlafen bis zum Aufwachen.

Aber man darf sich nicht vorstellen, daß diese in der Tiefe der Seele sich abspielenden Ereignisse im wachen Zu­stande nicht da wären. Geistesforschung zeigt zum Beispiel eines als ein sehr interessantes Ergebnis. Sie zeigt, daß der Mensch nicht etwa nur dann träumt, wenn er zu träumen glaubt, sondern daß er den ganzen Tag hindurch träumt. In Wahrheit ist die Seele immer voll von Träumen, nur merkt sie der Mensch noch nicht, weil das Tagesbewußtsein gegenüber dem Traumbewußtsein das Stärkere ist. Wie ein schwächeres Licht durch die Wirkung eines stärkeren Lichtes ausgelöscht wird, so wird durch das Tagesbewußtsein das ausgelöscht, was sich gerade während des Tageslebens als ein ganz kontinuierliches Traumerlebnis immer abspielt, was immer auf dem Grunde der Seele vorhanden ist. Der Mensch träumt immer, nur ist er sich dessen nicht immer

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bewußt, und aus der Fülle von Traumerlebnissen, von un­bewußt bleibenden Träumen, die ein Unendliches gegen­über den Erlebnissen des Tagesbewußtseins darstellen, he­ben sich heraus - wie sich aus einem weiten See ein einzelner Wassertropfen herausheben würde, der in der übrigen Was­sermenge enthalten ist - die dem Menschen zum Bewußt­sein kommenden Träume. Aber dieses unbewußt bleibende Träumen ist ein geistiges Erleben der Seele. Da gehen also Dinge, Erlebnisse auf dem Grunde der Seele vor. Geistige, tief in unbewußten Regionen gelegene Erlebnisse der Seele gehen so vor sich, wie sich im Leibe chemische Vorgänge abspielen, die im Unbewußten liegen.

Wenn wir nun mit den eben entwickelten Tatsachen eine andere zusammenbringen, die sich uns hier aus diesen Vor­trägen schon ergeben hat, so wird noch ein anderes Licht geworfen auf die verborgenen Seiten des Seelenlebens, von denen eben die Rede war. Wir haben es öfter hervorgehoben, und besonders wurde es wieder gelegentlich des letzten Vortrages betont, daß sich im Laufe der Entwickelung der Menschheit auf der Erde das ganze menschliche Seelenleben geändert hat. Wenn wir weit, weit in den Verlauf der Menschheitsentwickelung zurückblicken, dann finden wir die Seele des Urmenschen mit ganz anderen Erlebnissen als die heutige Menschenseele. Wir haben schon davon gespro­chen und werden in künftigen Vorträgen noch weiter davon sprechen, daß der. Urmensch in frühen Zeiten der Entwicke­lung ein gewisses ursprüngliches Hellsehen hatte. Dasjenige Anschauen der Welt, welches heute im wachen Zustande der Seele das normale ist, wo wir die Sinneseindrücke hin­nehmen durch die äußere Anregung, und wo wir durch Verstand, Vernunft, Gefühl und Wille im heutigen Bewußt­sein diese Sinneseindrücke verbinden, dieses Bewußtsein ist nur dasjenige der Gegenwart. Es hat sich herausentwickelt

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aus älteren Bewußtseinsformen der Menschheit, die, wenn wir das Wort im guten Sinne anwenden, mehr hellseherische Zustände waren, in denen die Menschen in der Lage waren, in gewissen Zwischenzuständen zwischen Wachen und Schla­fen in ganz normaler Weise von geistigen Welten etwas zu erleben, so daß der Mensch, wenn er damals auch noch nicht seiner selbst sich bewußt werden konnte, doch für sein nor­males Bewußtsein weniger fremd war jenen Erlebnissen, die sich in den Tiefen der Seele so abspielen, wie sie heute erwähnt worden sind.

Der Mensch sah in der Urzeit mehr seinen Zusammen­hang mit der geistigen Welt außer ihm. Er sah, wie die Dinge, die sich in seiner Seele abspielen, diese tief in der Seele liegenden Ereignisse, zusammenhängen mit gewissen geistigen Tatsachen, die im Universum leben. Er sah diese geistigen Tatsachen durch seine Seele gehen, fühlte sich noch viel mehr verwandt mit den geistig-seelischen Wesenheiten und Tatsachen des Universums. Das war eine Eigenschaft des ursprünglich hellseherischen Zustandes der Menschheit. Und wie man heute nur in ganz besonderen Stimmungen das folgende Gefühl haben kann, so hatte man es in älteren Zeiten oft und oft, hatte es vielleicht nicht nur als künst­lerischer Mensch, sondern als ganz primitiver Mensch.

Es kann sich ergeben, daß in den Tiefen der Seele ganz unbestimmt, so unbestimmt wie möglich, ein Erlebnis ruht, das nicht in das Bewußtsein heraufkommt, ein Erlebnis wie die eben geschilderten, das sich in den Tiefen der Seele abspielt. Es kommt gar nichts von diesem Erlebnis in das bewußte Tagesleben herein. Aber es ist etwas da in der Seele, wie im Organismus der Hunger da ist, richtig wie im Organismus Hunger vorhanden ist. Und wie man für den Hunger etwas braucht, so braucht man etwas für diese un­bestimmte Stimmung, die aus dem tief in der Seele gelegenen

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Erlebnis stammt. Dann fühlt man sich gedrungen, zu einem entweder vorliegenden Märchen, zu einer Sage zu greifen, oder vielleicht, wenn man eine künstlerische Natur ist, selber so etwas auszugestalten, was man so empfindet, daß alle Worte, die man theoretisch brauchen kann, einem diesen Erlebnissen gegenüber wie ein Stammeln vorkom­men, und so entstehen eben Märchenbilder. Dieses bewußte Erfüllen der Seele mit den Märchenbildern ist dann das, was Nahrung der Seele ist gegenüber dem Hunger, der eben charakterisiert worden ist.

Weil in älteren Zeiten der Menschheitsentwickelung jede Menschenseele noch einem hellseherischen Wahrnehmen der geistigen Innenerlebnisse der Seele näher stand, deshalb konnte unter Umständen das einfache Volksgemüt, indem es viel deutlicher, als es heute der Fall sein kann, den eben charakterisierten Hunger empfand, die Nahrung in solchen Bildern suchen, die dann durch die schaffende Menschenseele entstanden sind und die wir heute in den Märchenüberlieferungen der verschiedenen Völker haben. Verwandt fühlte sich die Menschenseele mit dem, was geistiges Dasein ist. Sie fühlte mehr oder weniger bewußt die inneren Kämpfe, die sie zu durchleben hatte, ohne sie zu verstehen, und prägte sie aus in Bildern, die daher nur eine entfernte Ähn­lichkeit mit dem haben, was sich in den Untergründen der Seele abspielte. Und doch - man kann fühlen, wie ein Zu­sammenhang besteht zwischen dem, was sich im Märchen ausdrückt, und diesen unergründlich tiefen Erlebnissen der Menschenseele.

Ein kindliches Gemüt - die Erfahrung, das Erlebnis kann das durchaus zeigen - kommt oftmals dazu, in seinem In­nern sich etwas zu erschaffen wie einen einfachen Genossen, einen Genossen, der eigentlich nur für dieses kindliche Ge­müt da ist, der es aber doch begleitet, der mittut bei den

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verschiedensten Lebensereignissen. Wer sollte zum Beispiel nicht Kinder kennen, welche gewisse unsichtbare Freunde mit sich durchs Leben führen, Freunde, von denen Sie sich vorstellen müssen, daß sie da sind, wenn etwas geschieht, was die Kinder freut, welche teilnehmen müssen als un­sichtbare Geistesgenossen, Seelengenossen, wenn das Kind dieses oder jenes erlebt? Man kann im Bereiche des mensch­lichen Erfahrens recht oft zu dem Erlebnis kommen, wie schlimm es auf das kindliche Gemüt wirkt, wenn dann der «verständige» Mensch kommt und hört, wie das Kind einen solchen Seelengenossen hat, und ihm nun diesen Seelengenossen ausreden möchte, es vielleicht sogar für das Kind heilsam hält, diesen Genossen ihm auszureden. Das Kind trauert um seinen Seelengenossen. Und wenn es empfäng­lich ist für geistig-seelische Stimmungen, so bedeutet diese Trauer noch viel mehr, kann ein Kränkeln, ein Siechwerden des Kindes bedeuten. Das ist ein durchaus reales Erlebnis, das mit tief innern Ereignissen der Menschenseele zusam­menhängt.

Ohne daß wir das «Aroma» des Märchens zerstäuben, können wir dieses einfache Erlebnis fühlen im Märchen vom Kinde und der Unke, das die Brüder Grimm mit­geteilt haben. Sie erzählen uns von dem Kinde, welches im­mer eine Unke mitessen läßt. Die Unke genießt aber nur die Milch. Das Kind spricht mit dem Tiere wie mit einem Menschen. Da will es eines Tages, daß die Unke auch von seinem Brot mitessen soll. Da hört das die Mutter, sie kommt herzu und schlägt das Tier tot. Das Kind siecht dahin, es kränkelt und stirbt.

Wir fühlen in dem Märchen Seelenstimmungen nachschwingen, die absolut, tatsächlich in den Tiefen der Seele sich abspielen und wirklich so sich abspielen, daß die Men­schenseele mit den Stimmungen nicht nur in gewissen Lebensperioden

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bekannt ist, sondern einfach dadurch, daß der Mensch Mensch ist, gleichgültig, ob Kind oder Erwachsener. Daher kann jede Menschenseele nachschwingen fühlen, wie das, was sie erlebt und nicht versteht, was sie gar nicht ein­mal ins Bewußtsein heraufbringt, zusammenhängt mit dem, was dann in den Märchen für die Seele ebenso wirkt, wie die Speise auf den Geschmack der Zunge. Und dann wird das Märchen etwas Ähnliches für die Seele, wie der Nah­rungsstoff, wenn er für den Organismus verwendet wird. Reizvoll ist es, in den tiefen Seelenerlebnissen das zu suchen, was dann in den verschiedenen Märchen nachklingt. Es wäre natürlich eine ganz erhebliche Aufgabe, die einzelnen Märchen, die so zahlreich gesammelt sind, wirklich gerade daraufhin zu prüfen. Das würde sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Aber was vielleicht an einzelnen Märchen veran­schaulicht werden kann, das kann auf alle Märchen ange­wendet werden, die man als echte Märchen finden kann.

Nehmen wir ein anderes Märchen, das auch die Gebrüder Grimm gesammelt haben, das Märchen vom Rumpelstilz­chen. Der Müller, der von seiner Tochter dem Könige ge­genüber behauptet, daß sie Stroh zu Gold spinnen kann, wird vom König aufgefordert, die Tochter ins Schloß kom­men zu lassen, damit man dort ihre Kunst gewahr werden kann. Die Tochter kommt ins Schloß. Sie wird in eine Kammer eingesperrt und es wird ihr, damit sie ihre Kunst zeigen kann, ein Bündel Stroh gegeben. Als sie in der Kam­mer ist, ist sie ganz hilflos. Und wie sie nun so hilflos ist, da erscheint vor ihr ein kleines Männchen. Das sagte zu ihr: Was gibst du mir, wenn ich dir das Stroh zu Gold verspinne? Die Müllerstochter gibt ihm ihr Halsband, und das kleine Männchen verspinnt ihr darauf das Stroh zu Gold. Der König ist darüber sehr verwundert, aber er will noch mehr haben, und sie soll noch einmal Stroh zu Gold verspinnen.

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Wieder wird die Müllerstochter in eine Kammer einge­sperrt, und wie sie vor dem vielen Stroh sitzt, da erscheint wiederum das kleine Männchen und sagt: Was gibst du mir, wenn ich dir das Stroh zu Gold verspinne? Sie gibt ihm ein Ringlein, und es wird wiederum von dem Männlein das Stroh zu Gold versponnen. Der König aber will noch mehr haben. Und als sie nun zum drittenmal in der Kammer sitzt und das Männlein wieder erscheint, da hat sie nichts mehr, was sie ihm geben kann. Da sagt das Männlein, daß sie, wenn sie einmal Königin sein werde, ihm das erste Kind geben solle, das sie gebiert. Sie verspricht es. Und als das Kind da ist und das kleine Männchen dann kommt und sie an ihr Versprechen erinnert, da möchte die Müllerstochter Aufschub haben. Darauf sagt das Männchen zu ihr: «Wenn du meinen Namen mir nennst, dann kannst du dich von deinem Versprechen befreien.» Die Müllerstochter schickt nun überall herum. Sie will alle Namen wissen und auch jenen Namen, den das Männchen hat. Schließlich gelingt es ihr wirklich, nachdem vorher einige vergebliche Versuche gemacht worden sind, den Namen des Männchens - Rum­pelstilzchen -, zu nennen.

Wirklich keinem anderen Kunstwerke als dem Märchen gegenüber hat man so sehr das Gefühl, daß man an dem unmittelbaren Bilde die innerste Freude haben und dennoch wissen kann von dem tiefinneren Seelenerlebnis, aus dem ein solches Märchen herausgeboren worden ist. Wenn auch der Vergleich trivial ist, so könnte er vielleicht doch treffend sein: Geradeso, wie ein Mensch ganz gut die Chemie der Nahrungsmittel kennen, und doch Geschmack haben kann an einem guten Bissen, so ist es auch möglich, daß man etwas wissen kann über die tiefen inneren Seelenerleb­nisse, die nur erlebt, nicht «gewußt» werden, und die sich auf die angedeutete Weise in den Märchenbildern ausleben.

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Ja, diese einsame Menschenseele - denn im Schlafe, aber auch während des übrigen Lebens ist sie ja doch für sich einsam, wenn sie auch mit dem Körper verbunden ist-, sie fühlt, aber unbewußt, sie erlebt und versteht es nicht, den ganzen Gegensatz, in welchem sie zu ihren eigenen unend­lichen Aufgaben ist, zu ihrem eigenen Hineingestelltsein in die Welt des Göttlichen.

Wie wenig die Menschenseele vermag, das fühlt sie schon, wenn sie ihr Können vergleicht mit dem, was die Natur draußen kann, die alle Dinge ineinander verwandelt, die wirklich die große Zauberin ist, welche die Menschenseele so gern sein möchte. Im Bewußtsein mag es hingehen, leich­ten Herzens hinwegzukommen über diesen Abstand des menschlichen Innern gegenüber der Allweisheit und All­macht des Geistes der Natur. Aber in den tiefen Seelen­erlebnissen geht die Sache nicht so einfach ab. Da müßte die menschliche Seele zugrunde gehen, wenn sie in sich nicht doch eine noch tiefere Wesenheit in der zunächst wahrnehm­baren Wesenheit fühlen würde, eine Wesenheit, auf die sie bauen darf, von der sie sich sagen darf: Wie unvollkommen du jetzt auch noch dastehen mußt - diese Wesenheit ist klü­ger in dir, sie waltet in dir, sie kann dich emportragen zu höchstem Können, sie kann dir Flügel verleihen, indem du vor dir eine unendliche Perspektive ausgebreitet siehst in eine unendliche Zukunft hinein. Du wirst können, was du jetzt noch nicht kannst, denn es gibt etwas in dir, was unendlich mehr ist, als dein «Wissendes». Das ist dir ein treuer Helfer. Du mußt nur ein Verhältnis dazu gewinnen, du mußt nur wirklich einen Begriff verbinden können mit dieser in dir selber wohnenden klügeren, weiseren, geschick­teren Wesenheit, als du selbst bist.

Und nun versuche man wieder, diesen Umgang der Men­schenseele mit sich selbst, diesen unbewußten Umgang mit

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dem geschickteren Teile in der Seele sich zu vergegenwär­tigen, und man versuche, nachschwingen zu fühlen in die­sem Märchen vom Rumpelstilzchen, was da die Seele erlebt in der Müllerstochter, die nicht das Stroh zu Gold verspin­nen kann, die aber in dem Männchen einen geschickten, treuen Helfer findet. Man hat da tief in den Untergründen der Seele liegend, in Bildern, deren Aroma nicht vernichtet wird, wenn man den Ursprung kennt, tiefinneres Seelenleben gegeben.

Oder nehmen wir ein anderes, und seien Sie mir nicht böse, wenn ich dieses andere mit gewissen Dingen ver­knüpfe, die vielleicht einen scheinbar persönlichen Anstrich haben, die aber durchaus nicht persönlich gemeint sind. Aber es wird sich das, um was es sich dabei handelt, erklären, wenn ich diese kleine persönliche Nuance dabei zur Gel­tung bringe.

In meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» finden Sie eine Schilderung der Weltenevolution. Über diese selbst will ich jetzt nicht sprechen, das kann bei anderer Gelegen­heit geschehen. In dieser Weltenevolution wird davon ge­sprochen, daß unsere Erde selber als Planet im Weltenall gewisse Stadien durchgemacht hat, welche wir mit den auf­einanderfolgenden Leben des einzelnen Menschen verglei­chen können. Wie der einzelne Mensch durch aufeinander­folgende Leben geht, so hat unsere Erde verschiedeneplane­tarische Lebensstufen, Verkörperungen durchgemacht. Aus gewissen Gründen heraus sprechen wir in der Geisteswissen­schaft davon, daß die Erde, bevor sie ihr «Erden»-Dasein begonnen hat, eine Art von «Monden»-Dasein durchge­macht hat, und vor diesem eine Art von «Sonnen»-Dasein; so daß wir davon sprechen können, daß ein Sonnen-Dasein als planetarisches Vorgänger-Dasein unseres Erden-Daseins in urferner Vergangenheit vorhanden war, eine uralte

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Sonne, die noch mit der Erde verbunden war. Dann trat im Laufe der Entwickelung eine Spaltung zwischen Sonne und Erde ein. Aus dem, was ursprünglich Sonne war, spaltete sich auch der Mond ab und die heutige Sonne, die nicht jene ursprüngliche Sonne ist, sondern gleichsam nur ein Stück davon, so daß wir von der ursprünglichen Sonne und sozu­sagen von ihrer Nachfolgerin, der heutigen Sonne, sprechen können. Und auch von dem heutigen Monde können wir sprechen wie von einem Erzeugnis der alten Sonne. Wenn nun die geisteswissenschaftliche Forschung im rückläufigen Anschauen die Erdenentwickelung bis zu dem Zeitpunkte verfolgt, wo sich die zweite Sonne, die jetzige Sonne, als selbständiger Weltenkörper entwickelte, so muß man sagen, daß damals unter den Wesen, die schon äußerlich sinnlich hätten wahrnehmbar sein können, in der Tierreihe nur die Wesen waren, die hinauf bis zur Anlage der Fische sich entwickelt hatten.

Diese Dinge kann man alle genauer in der «Geheimwis­senschaft» nachlesen - und auch einsehen. Gefunden werden können sie allerdings bloß aus den geisteswissenschaftlichen Forschungsmethoden heraus. Damals, als sie gefunden und von mir niedergeschrieben worden sind, das heißt, gefun­den wurden sie nicht, als sie gerade in der «Geheimwissenschaft» von mir niedergeschrieben wurden, aber als sie so­zusagen für mich gefunden wurden und dann niederge­schrieben worden sind, da war mir - und das ist das Per­sönliche, was ich einfügen möchte - jenes Märchen ganz unbekannt, und ich kann es sehr genau konstatieren, daß es mir ganz unbekannt war, da ich es erst später in der «Völ­kerpsychologie» von Wundt fand, dessen Quellen ich dann erst weiterverfolgt habe.

Ich will nun, bevor ich das Märchen kurz skizziere, nur das eine noch vorausschicken: Alles, was so der Geistesforscher

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in der geistigen Welt erforschen kann - und diese Dinge, die eben angeführt worden sind, müssen ja in der geistigen Welt erforscht werden, denn sie sind ja sonst auch nicht mehr da -, alles was so erforscht wird, stellt doch die Welt dar, mit der die Menschenseele verbunden ist. Wir sind in den tiefsten Untergründen unserer Seele mit dieser Welt verbunden. Sie ist immer da, ja, wir treten sogar un­bewußt in diese geistige Welt ein, wenn wir im normalen Leben in Schlaf versinken. Unsere Seele ist damit verbun­den, und sie hat in sich nicht nur jene Erlebnisse, die sie während des Schlafes bekommt, sondern auch diejenigen, welche mit der ganzen Entwickelung zusammenhängen, die eben angedeutet worden ist. Wenn es nicht paradox wäre, möchte man sagen: im unbewußten Zustande weiß die Seele davon, erlebt die Seele sich selber in dem fortgehenden Strome, der da ausging von der ursprünglichen Sonne und dann von der Tochter-Sonne, die wir jetzt am Himmel er-glänzen sehen, und von dem Monde, der auch die Nach­kommenschaft der ursprünglichen Sonne ist. Und auch das erlebt die Menschenseele, daß sie, geistig-seelisch, ein Dasein durchgemacht hat, in welchem sie noch nicht mit der irdischen Materie verknüpft war, in dem sie aber auf die irdischen Vorgänge hinunterschauen konnte, zum Beispiel auf die Zeit, während welcher die höchsten tierischen Organismen die Fisch-Anlagen waren, wo die jetzige Sonne, der jetzige Mond entstanden und sich von der Erde abspalteten. Im Unbewußten ist die Seele mit diesen Vorgängen verknüpft.

Jetzt verfolgen wir ganz kurz und skizzenhaft ein bei primitiven Völkern sich findendes Märchen. Jene Völker erzählen: Es war einmal ein Mann. Der war aber eigentlich als Mensch von der Wesenheit des Baumharzes und konnte seine Arbeit immer nur während der Nacht verrichten, denn er würde, wenn er bei Tag seine Arbeit verrichtet hätte, von

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der Sonne zerschmolzen worden sein. Eines Tages passierte es ihm aber, daß er doch bei Tage ausging, um Fische zu fangen. Und siehe da, der Mann, der das Baumharz eigent­lich darstellt, schmolz dahin. Seine Söhne beschlossen, ihn zu rächen. Und sie schossen Pfeile. So schossen sie Pfeile, daß diese Pfeile gewisse Figuren bildeten, sich übereinander auftürmten, und daß eine Leiter entstand bis in den Him­mel hinauf. Auf dieser Leiter kletterten sie hinauf, der eine während des Tages, der andere während der Nacht. Und es wurde der eine die Sonne, und der andere wurde der Mond.

Es ist nicht meine Gewohnheit, in abstrakter Weise solche Dinge zu deuten und verstandesmäßige Begriffe hineinzu­bringen. Aber etwas anderes ist es, das Forschungsergebnis zu fühlen, daß die Menschenseele in ihren Tiefen verbunden ist mit dem, was in der Welt geschieht und nur geistig zu erfassen ist, daß diese Menschenseele mit alledem verbun­den ist und einen Hunger hat, das, was ihre tiefsten unbe­wußten Erlebnisse sind, in Bildern zu genießen. Wenn man das fühlt, dann fühlt man nachvibrieren, was die Menschenseele erlebte als die ursprüngliche Sonne und als das Ent­stehen von Sonne und Mond zur Fischzeit der Erde, wenn man das eben skizzierte Märchen anführt. Und es war mir in gewisser Beziehung - das ist wieder die persönliche Nuance - ein ganz gewichtiges Erlebnis, als ich, lange nach­dem diese erwähnten Dinge in meiner «Geheimwissenschaft» standen, dieses Märchen entdeckte. Wenn es mir nun auch durchaus nicht einfällt, in abstrakter Weise dieses Ganze zu deuten, so verschwistert sich mir doch ein ganz bestimmtes Gefühl, das ich habe, wenn ich die Weltenevolution be­trachte, mit einem anderen, wenn ich mich dann den wun­derbaren Bildern dieses Märchens hingebe.

Oder nehmen wir ein anderes, ein merkwürdiges melanesisches

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Märchen. Erinnern wir uns, bevor wir von die­sem Märchen sprechen, daran, daß die Menschenseele, wie es die Geistesforschung ergibt, eben durchaus zusammen­hängt auch mit den gegenwärtigen Ereignissen und Tat­sachen des Universums. Wenn das auch zu bildhaft gespro­chen ist, so ist es doch geisteswissenschaftlich in einer ge­wissen Beziehung richtig, wenn wir sagen: Wenn die Men­schenseele im Schlafe den physischen Leib verläßt, so führt sie ein Dasein unmittelbar zusammenhängend mit dem gan­zen Kosmos, fühlt sich verwandt mit dem ganzen Kosmos. Es gibt eine Möglichkeit, um sich leicht an die Verwandt­schaft der Menschenseele, zum Beispiel des menschlichen Ichs mit dem Kosmos zu erinnern, oder wenigstens mit etwas Bedeutungsvollem im Kosmos. Wir richten den Blick hin auf die Pflanzenwelt und sagen uns: Diese Pflanze wächst, aber sie kann nur wachsen unter dem Einfluß von Sonnen­licht und Sonnenwärme. Da haben wir vor uns in der Erde wurzelnd die Pflanze. Wir sagen in der Geisteswissenschaft:

Diese Pflanze besteht aus ihrem physischen Leibe und aus dem Lebensleibe, der sie durchzieht. Aber das genügt nicht, damit die Pflanze wächst und sich entfaltet. Dazu sind die Kräfte notwendig, die von der Sonne auf die Pflanze wirken.

Wenn wir nun den Menschenleib betrachten, während der Mensch schläft, dann hat dieser schlafende Menschenleib gewissermaßen den Wert einer Pflanze. Er ist als schlafen­der Leib etwas Ähnliches wie die Pflanze, denn er hat die Kraft zu wachsen, welche die Pflanze in sich hat. Aber der Mensch ist emanzipiert von jener kosmischen Ordnung, in welche die Pflanze eingesponnen ist. Die Pflanze muß ab­warten, damit das Sonnenlicht auf sie wirken kann, Auf­gang und Untergang der Sonne. Sie ist an die äußere kos­mische Ordnung gebunden. Der Mensch ist nicht an diese

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Ordnung gebunden.Warum nicht? Weil in derTat wahr ist, was die Geistesforschung zeigt: daß der Mensch von seinem Ich aus - das im Schlafe außerhalb seines physischen Leibes ist, der dann wie eine Pflanze uns erscheint - dasjenige für den physischen Leib entfaltet, was die Sonne für die Pflan­zen entfaltet. Wie die Sonne ihr Licht ausgießt über die Pflanzen, so das menschliche Ich, wenn der Mensch schläft, über den pflanzenähnlichen physischen Leib. Wie die Sonne über den Pflanzen, so ruht das menschliche Ich, geistig, über dem pflanzenhaften schlafenden physischen Leib. Verwandt mit dem Sonnen-Dasein ist das Ich des Menschen. Ja, das Ich des Menschen ist selber eine Art Sonne für den schlafenden Menschenleib, bewirkt sein Gedeihen während des Schlafes, bewirkt, daß diejenigen Kräfte ausgebessert werden kön­nen, die während des Wachens abgenützt worden sind. Wenn wir das empfinden, dann merken wir, wie das menschliche Ich verwandt ist mit der Sonne. Wie die Sonne, das zeigt uns dann die Geisteswissenschaft immer mehr und mehr, über das Himmelsgewölbe hinzieht - ich spreche natürlich von der scheinbaren Bewegung der Sonne -, und wie in einer gewissen Beziehung die Wirksamkeit ihrer Strahlen sich ändert, je nachdem die Sonne vor diesem oder jenem Sternbild des Tierkreises steht, so durchläuft auch das menschliche Ich verschiedene Phasen seiner Er­lebnisse, so daß es von der einen Phase so, von der anderen Phase anders auf den physischen Leib wirkt. Man fühlt in der Geisteswissenschaft die Sonne anders auf die Erde wir­ken, je nachdem sie zum Beispiel das Sternbild des Widders, das Sternbild des Stiers und so weiter bedeckt. Man spricht daher nicht von der Sonne im allgemeinen, sondern von der Wirkung der Sonne von den zwölf Sternbildern aus, meint aber immer den Durchgang der Sonne durch die zwölf Tierkreisbilder - und weist dann hin auf die Ver­-wandtschaft

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des sich verändernden Ichs mit der sich wan­delnden Sonnenwirkung.

Nehmen wir nun alles, was hier nur skizziert werden konnte, was aber in der «Geheimwissenschaft» weiter aus­geführt ist, als etwas, was als geistig-seelische Erkenntnis gewonnen werden kann; betrachten wir es als das, was sich also auf dem Grunde der Menschenseele abspielt und unbewußt bleibt, aber sich so abspielt, daß es ein innerliches Sich-Miterleben mit den geistigen Kräften des Kosmos be­deutet, die sich in den Fixsternen und Planeten ausleben, und vergleichen wir alles dieses, was uns die Geisteswissen­schaft als die Geheimnisse des Universums kündet, mit einem melanesischen Märchen, daß ich wieder nur kurz skizzieren will:

Auf der Landstraße liegt ein Stein. Dieser Stein ist die Mutter von Quatl. Und Quatl hat noch elf andere Brüder. Nachdem die elf anderen Brüder und Quatl geschaffen sind, beginnt Quatl die gegenwärtige Welt zu schaffen. In dieser Welt, die er damals geschaffen hat, kennt man noch nicht den Unterschied von Tag und Nacht. Nun erfährt Quatl, daß irgendwo eine Insel ist, auf der ein Unterschied ist zwischen Tag und Nacht. Er reist nach dieser Insel und bringt einige Wesen von dieser Insel in sein Land zurück. Und durch den Einfluß dieser Wesen auf die Wesen in seinem Lande kommen seine Wesen in den Wechselzustand von Schlaf und Wachen, und Aufgang und Untergang der Sonne spielt sich für sie seelisch ab.

Es ist merkwürdig, was wieder in diesem Märchen nachvibriert. Wenn man das ganze Märchen vor sich hat, so vibriert gleichsam in jedem Satze etwas nach von dem, was mit den Weltgeheimnissen zusammenhängt, wie etwas vi­briert von dem, was die Seele im Sinne der Geisteswissen­schaft in ihren Tiefen erlebt. Ist es dann nicht so, daß man

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sagen muß: Die Quellen der Märchenstimmung, der Mär­chendichtung liegen in den Tiefen der Menschenseele! Diese Märchen sind als Bilder dargestellt, weil äußere Vorgänge zu Hilfe genommen werden müssen, um das zu geben, was wie eine geistige Nahrung für den Hunger sein soll, der aus den charakterisierten Erlebnissen quillt. Wir müssen auch sagen: Ja, wir sind weit entfernt von den Erlebnissen, aber wir können die Erlebnisse in den Märchenbildern nachschwingen fühlen.

Wenn wir uns das vor Augen halten, brauchen wir uns nicht mehr darüber zu verwundern, daß uns die schönsten, die charakteristischsten Märchen gerade aus jenen älteren Zeiten bekannt und von diesen her überliefert sind, als die Menschen noch ein gewisses hellseherisches Bewußtsein hatten und daher leichter zu dem kommen konnten, was die Quellen dieser Märchenstimmung und Märchendichtun­gen sind, und wir wundern uns weiter nicht, daß in den Gegenden der Erde, wo die Menschen in ihren Seelen noch den geistigen Quellen näherstehen als etwa die Seelen des Abendlandes, zum Beispiel in Indien, im Morgenlande über­haupt, die Märchen einen noch viel ausgeprägteren Charak­ter haben können.

Dann wundern wir uns aber auch nicht, daß wir in den deutschen Märchen, die Jakob und Wilhelm Grimm in der Gestaltung sammelten, wie sie sie hören konnten von Ver­wandten oder anderen, oft einfachen Menschen, Darstellun­gen wiederfinden, die an jene Zeiten des europäischen Lebens erinnern, in denen auch die großen Heldensagen entstanden sind, und daß die Märchen Züge enthalten, die wir auch bei den großen Götter- und Heldensagen finden. Wir wundern uns auch weiter nicht, wenn wir hören, daß sich nachträglich herausgestellt hat, daß die bedeutsamsten Märchen noch älter sind als die Heldensagen, weil die Heldensagen

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doch nur den Menschen in einem gewissen Lebens­alter und in einer bestimmten Situation zeigen, während das, was im Märchen lebt, allgemein menschlich ist, mit der Menschenseele vom ersten bis zum letzten Atemzuge geht, den wir tun, durch alle Lebensalter. Und wir wundern uns nicht, wenn das Märchen auch zum Beispiel dasjenige ins Bild drängt, was als ein tiefes Erlebnis der Seele genannt worden ist, jenes Sich-unangemessen-Fühlen der Seele im Aufwachen den Naturkräften gegenüber, denen man hilflos gegenübersteht, und denen man nur dann gewachsen ist, wenn man in der Seele zugleich den Trost hat: in dir gibt es etwas, was über dich hinausgeht und dich in einer ge­wissen Beziehung wieder zum Sieger über die Naturkräfte macht.

Wenn man diese Stimmung fühlt, dann fühlt man auch, warum im Märchen so oft Riesen auftreten, mit denen der Mensch zu tun hat. Warum treten diese Riesen auf? Ja, diese Riesen entstehen ganz selbstverständlich als Bild aus der Stimmung heraus, welche die Seele hat, wenn sie sich wieder am Morgen in ihren physischen Leib hineinbegeben will und sich nun den für die Menschenseele «riesenhaften» Naturkräften gegenüber sieht, die den Leib einnehmen. Was die Seele da als Kampf fühlt, was sie da empfinden kann, das ist ganz richtig - aber nicht verstandesgemäß begriff­lich -, wie es der Menschenseele entspricht, in den mannig­faltigen Kämpfen des Menschen mit Riesen dargestellt. Die Seele fühlt, wenn das alles vor sie hintritt, wie sie in diesem ganzen Kampfe und der ganzen Stellung den Riesen gegen­über nur eines hat, ihre Schlauheit. Denn das gehört dazu, so zu fühlen: Du könntest jetzt in deinen Leib hinein, aber was bist du gegenüber den ganzen riesigen Kräften des Uni­versums! Etwas hast du jedoch, was da, in diesen Riesen, nicht drinnen ist: das ist die Schlauheit, der Verstand! Das

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steht unbewußt doch vor der Seele, wenn sie sich auch sagen muß, daß sie nichts gegen die riesenhaften Kräfte des Uni­versums vermag, und wir sehen förmlich, wie sich die Seele dahinein versetzt, wenn sie im Bilde die eben charakteri­sierte Stimmung ausdrückt:

Da ist ein Mensch, der zieht die Landstraße entlang und kommt an ein Wirtshaus. In dem Wirtshause läßt er sich eine Milchsuppe geben. Die Fliegen fliegen in die Suppe hinein. Er ißt die Milchsuppe aus und läßt die Fliegen übrig. Dann schlägt er auf den Teller und zählt die Fliegen, die er getötet hat, und renommiert: Hundert auf einmal! Der Wirt hängt ihm eine Tafel um: Der hat Hundert auf einmal erschlagen. Nun geht dieser Mensch weiter die Landstraße entlang, kommt in eine andere Gegend, und dort schaut ein König zum Fenster seines Schlosses hinaus. Er sieht diesen Menschen mit der Tafel umgehängt und sagt sich: Den kann ich gut brauchen. Er nimmt ihn in seine Dienste und überträgt ihm eine ganz bestimmte Aufgabe. Er sagt ihm: Sieh einmal, da kommen immer ganze Rotten von Bären in mein Land herein. Wenn du Hundert auf einmal erschlagen hast, dann kannst du mir sicher auch die Bären erschlagen. Der Betreffende sagt: Ich will es schon tun! Aber er will noch, solange die Bären noch nicht da sind, einen guten Lohn und ordentliches Essen haben, denn er bedenkt sich und meint: Wenn ich es nicht kann, so habe ich doch bis dahin gut gelebt. - Als nun die Zeit kommt, wo die Bären heranrücken, sammelt er alle möglichen Nah­rungsmittel und sonstige gute Dinge, welche die Bären gerne essen. Nun zieht er den Bären entgegen und legt die Sachen aus. Die Bären kommen heran und fressen so lange, bis sie ganz vollgefressen sind, daß sie wie gelähmt daliegen, und nun erschlägt er einen nach dem anderen. Der König kommt dann und sieht, was er geleistet hat. Der Mensch aber

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sagt: Ja, ich habe die Bären einfach über den Stock sprin­gen lassen und habe ihnen dann dabei die Köpfe abgeschla­gen! Der König ist davon sehr erbaut und überträgt ihm eine andere Aufgabe. Er sagt ihm: Sieh, jetzt werden auch die Riesen bald wieder in mein Land kommen, und du mußt mir auch gegen sie helfen. Der Mensch versprach es. Und als die Zeit herankam, nahm er wieder eine Menge guter Nahrungsmittel mit, aber auch eine Lerche und ein Stück Käse. Er traf dann auch wirklich die Riesen und ließ sich zunächst mit ihnen auf ein Gespräch über seine Stärke ein. Der eine Riese sagte: Wir wollen es dir schon zeigen, daß wir stärker sind. Und er nahm einen Stein und zerrieb den Stein in seiner Hand. Dann sagte er zu dem Menschen: So stark sind wir! Was willst du gegen uns? Der andere Riese nahm einen Pfeil, schoß ihn ab und schoß so hoch, daß der Pfeil erst nach langer Zeit wieder her­unterkam, und sagte: So stark sind wir! Was willst du gegen uns? Da sagte der Mann, der die Hundert auf einmal erschlagen hatte: Das alles kann ich noch viel besser! Er nahm ein kleines Stückchen Käse und einen Stein und ver­suchte, den Stein mit dem Käse zu umschmieren und sagte zu den Riesen: Ich kann aus dem Stein Wasser heraus­pressen! Und zerdrückte den Käse, so daß Wasser heraus­spritzte. Die Riesen waren erstaunt über die Kraft, daß er Wasser aus dem Stein herauspressen konnte. Dann nahm der Mensch die Lerche und ließ sie fliegen und sagte dann zu dem Riesen: Dein Pfeil ist zurückgekommen, mein Pfeil aber, den ich abgeschossen habe, geht so hoch, daß er über­haupt nicht wieder zurückkommt! Denn die Lerche kam nicht zurück. Da waren die Riesen so erstaunt, daß sie sich einig waren, daß sie ihn nur mit List überwinden könnten; denn daß sie ihn mit der Riesenstärke überwinden könnten, daran dachten sie schon nicht mehr. Dagegen gelang es ihnen

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nicht, den Menschen zu überlisten, sondern er überlistete sie. Als sie alle miteinander schliefen, stülpte er sich eine aufgeblasene Schweinsblase über den Kopf, in derem Innern etwas Blut war. Die Riesen sagten sich: Wachend werden wir ihn doch nicht überwinden können, daher wollen wir ihn schlafend überwinden. Als er nun schlief, schlugen sie auf ihn los und schlugen die Schweinsblase ein, und als sie das Blut herausspritzen sahen, dachten sie, sie hätten ihn schon überwunden. Und sie schliefen bald ein. Und in der Ruhe, die dann über sie kam, schliefen sie so stark, daß er sie im Schlaf überwinden konnte.

Trotzdem hier das Märchen, wie manche Träume, unklar und wenig befriedigend ausklingt, so haben wir darin doch das vor uns, was den Kampf der Menschenseele gegen die Naturkräfte darstellt, erst gegen die «Bären», dann aber geht es über in den Kampf gegen die «Riesen». Aber noch etwas anderes sehen wir in diesem Märchen. Wir haben den Menschen, der die Hundert auf einmal erschlagen hat, so vor uns, daß wir nachvibrieren fühlen, was im tiefsten Unbewußten der Seele lebt: daß er durch seine Schlauheit immer getröstet werden kann über die stärkeren Kräfte, die er als riesenmäßige empfinden muß. Es ist nicht gut, wenn man das, was künstlerisch in Bildern verarbeitet ist, ganz abstrakt und in einzelnen Zügen deutet. Darauf kommt es gar nicht an. Denn nichts wird zerstört an der Märchen­gestaltung, wenn man fühlt, daß das Märchen so das Nach­klingen ist von tiefen in der Seele sich abspielenden Vor­gängen. Diese Vorgänge sind wiederum so, daß wir viel, viel wissen können, so viel man durch Geistesforschung nur von ihnen wissen kann, und dennoch: wenn man in sie wieder und wieder verstrickt wird, wenn man sie so erlebt, dann sind sie doch ursprünglich und elementar. Und kein Wissen, wenn es sonst vorhanden ist, zerstört

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das Vermögen, dasjenige, was man so in den Tiefen der Seele erlebt, in Märchenstimmung hineinzubringen.

Daher ist es ganz gewiß für die Forschung reizvoll, zu wissen, wie man im Märchen das vor sich hat, was die Seele braucht wegen ihrer tiefsten Erlebnisse in der an­gedeuteten Weise. Zu gleicher Zeit wird keine Märchenstim­mung zerstört, denn gerade der, welcher vielleicht in An­lehnung an das Wesen des Märchens zu einem tieferen Hin­einschauen in die Quellen des unterbewußten Lebens kommt, findet in diesen Quellen etwas, das für das Bewußtsein ver­armt, wenn es nur abstrakt dargestellt wird, und er findet eigentlich, daß die Darstellung im Märchen wirklich die umfassendere ist für das Tiefste der seelischen Erlebnisse.

Man begreift dann, daß Goethe das, was er reich erleben konnte, und was Schiller in abstrakt-philosophischen Be­griffen ausdrückte, in den vielsagenden und vieldeutigen Bildern des «Märchens» von der grünen Schlange und der schönen Lilie ausdrückte. Also in Bildern wollte Goethe, trotzdem er viel gedacht hat, das aussprechen, was er über das Tiefste in den Untergründen und in dem Unterbewußt­sein des menschlichen Seelenlebens empfand. Und weil das Märchen so mit dem Innersten der Seele zusammenhängt, mit dem, was so tief mit dem Innersten der Menschenseele zusammenhängend ist, deshalb ist das Märchen gerade die­jenige Form der Darstellung, die für das kindliche Gemüt am angemessensten ist. Denn man darf vom Märchen sagen, es habe es dahin gebracht, das Allertiefste im geistigen Leben in der allereinfachsten Weise zum Ausdruck zu brin­gen. Man empfindet eigentlich nach und nach, daß es in allem bewußten künstlerischen Leben keine so große Kunst gibt als die Kunst, die den Weg vollendet von den unver­standenen Tiefen des Seelenlebens zu den reizvollen, oft­mals spielerischen Bildern des Märchens.

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Wenn man das Schwerstverständliche in den selbst­verständlichsten Formen auszudrücken vermag, dann ist das größte Kunst, natürlichste Kunst, wesenhaft mit dem Menschen zusammenhängende Kunst. Und weil im Kinde die menschliche Wesenheit in einer noch ursprünglicheren Art mit dem Gesamtdasein, mit dem Gesamtleben zusam­menhängt, deshalb braucht auch das Kind als Nahrung für seine Seele das Märchen. Freier noch kann sich im Kinde das bewegen, was geistige Kraft darstellt. Das kann noch nicht, wenn die kindliche Seele nicht veröden soll, in die abstrakten theoretischen Begriffe eingesponnen werden. Das muß noch zusammenhängen mit dem, was in den Tiefen des Daseins wurzelt.

Daher tun wir dem Kinde für die Seele keine größere Wohltat, als wenn wir auf seine Seele wirken lassen, was so Menschen-Wurzeln mit Daseins-Wurzeln zusammenbringt. Weil das Kind noch an der eigenen Gestaltung schöpferisch tätig sein muß, weil es noch die gestaltenden Kräfte selbst für sein Wachstum, für die Entfaltung aller seiner Anlagen hervorbringen muß, deshalb empfindet es so wunderbare Nahrung für seine Seele in den Bildern des Märchens, in denen es wurzelhaft mit dem Dasein zusammenhängt. Und weil der Mensch, selbst wenn er sich dem Rationalistisch­-Verstandesmäßigen hingibt, doch nie von des Daseins Wur­zeln losgerissen werden kann, und weil er, wenn er gerade am meisten dem Leben hingegeben sein muß, am intimsten mit des Daseins Wurzeln zusammenhängt, deshalb kehrt er, wenn er nur gesunden, geradsinnigen Gemütes ist, in jedem Lebensalter freudig zum Märchen zurück. Denn es gibt kein Lebensalter, es gibt keine menschliche Lage, die uns demjenigen entfremden könnte, was aus dem Märchen strömt, weil wir aufhören müßten mit dem Tiefsten, was mit der Menschennatur zusammenhängt, wenn wir keinen

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Sinn mehr für das hätten, was sich von diesem Sinn der Menschennatur, der so unverständlich ist für den Verstand, ausdrückt in den selbstverständlichen Märchen und in der selbstverständlichen, einfachen, primitiven Märchenstim­mung.

Daher kann man es begreifen, daß Menschen, die sich lange Zeit damit befaßt haben, der Menschheit die etwas durch die Kultur übertünchten Märchen wiederzugeben, Menschen wie zum Beispiel die Brüder Grimm, wenn sie sich auch nicht geisteswissenschaftlich zu der Sache stellen, doch aber aus der ganzen Art, wie sie mit den Märchen lebten, die sie aus der Volkskultur heraufholten, die Emp­findung hatten, daß sie der Menschheit etwas gaben, was innig zu dieser Menschennatur gehört. Dann begreift man es auch, daß, nachdem eine Verstandeskultur durch Jahr­hunderte so manches getan hat, um die Menschenseele und auch die Kindesseele dem Märchen zu entfremden, solche Märchensammlungen wie die der Brüder Grimm wieder bei allen Menschen Eingang gefunden haben, die für so etwas empfänglich sind, und daß sie wieder Gemeingut gerade der Kinderseele geworden sind, aber wohl auch Ge­meingut aller Seelen, und dies namentlich immer mehr und mehr werden, je mehr die Geisteswissenschaft nicht nur Theorie sein wird, sondern Stimmung der Seele, jene Stim­mung, welche die Seele immer mehr und mehr zusammen­führen, gefühlsmäßig zusammenführen wird mit ihren gei­stigen Wurzeln des Daseins.

So wird gerade durch die Verbreitung der Geisteswissen­schaft das bewahrheitet, was echte Märchensammler, echte Märchenerfühler und Märchendarsteller wollten, und was ein Mann, der selber ein tiefer Freund der Märchendar­stellung war, oftmals in Vorträgen sagte, die ich hören durfte, wiederholend ein schönes dichterisches Wort, in das

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wir zusammenfassen können, was sich auch aus der geistes­wissenschaftlichen Betrachtung des Märchens ergibt, wenn wir sie im heutigen Sinne anstellen. Wir können es zu­sammenfassen in die Worte, die eben in seinen Vorträgen jener Mann sprach, der Märchen zu lieben verstand, der Märchen zu sammeln verstand, der Märchen zu würdigen verstand und deshalb immer gern an das Wort anknüpfte:

Märchen und Sagen sind wie ein guter Engel, der von Ge­burt an, von Heimat wegen dem Menschen mitgegeben wird auf seiner Lebenswanderung, damit er ihm ein ver­traulicher Genosse durch diese ganze Lebenswanderung hin­durch sei und ihm dadurch, daß er ihm diese Genossenschaft bietet, erst das Leben zu einem wahrhaft innerlich beseelten Märchen macht!

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LIONARDOS GEISTIGE GRÖSSE AM WENDEPUNKT ZUR NEUEREN ZEIT Berlin, l3. Februar 1913

Lionardos Name wird fortwährend an unzählige Menschenseelen herangebracht durch die weite Verbreitung des vielleicht allerbekanntesten Bildes, des berühmten «Abend­mahles». Wer kennt es nicht, dieses Abendmahl des Lionardo da Vinci, und wer hat nicht, wenn er es kennt, die gewal­tige Idee bewundert, welche gerade in diesem Bilde zum Ausdruck kommt! Da sehen wir bildhaft verkörpert einen bedeutungsvollen Augenblick, einen Augenblick, der ja von unzähligen Seelen als einer der bedeutendsten des Erd-geschehens empfunden wird: die Christus - Gestalt in der Mitte, zu beiden Seiten angeordnet die zwölf Gefährten des Christus Jesus. Wir sehen diese zwölf Gefährten in tief ausdrucksvollen Bewegungen und Haltungen. Wir sehen diese Gesten, diese Haltungen bei jeder einzelnen dieser zwölf Gestaken so individualisiert, daß wir wohl den Ein­druck bekommen können: jede Art von menschlichem Seelencharakter kommt in diesen zwölf Gestalten zum Ausdruck, jede Art, wie sich irgendeine Seele nach Tem­perament und Charakter verhahen kann zu dem, was das Bild zum Ausdruck bringt.

Am eindrucksvollsten hat wohl Goethe in seiner Abhand­lung über «Leonardo da Vincis Abendmahl» den Moment hingestellt, jenen Augenblick, wo der Christus Jesus eben die Worte ausgesprochen hat: Einer ist unter euch, der mich verrät!

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Was in jeder der zwölf Seelen, die so innig mit dem Sprechenden verbunden sind und so andächtig zu ihm aufschauen, vorgeht, nachdem diese Worte ausgesprochen sind, wir sehen das alles in den zahlreichen Nachbildungen dieses Werkes, die durch die Welt gehen, aus jeder dieser Seelen heraus ausdrucksvoll an uns herandringen.

Es gibt Darstellungen des «Abendmahl»-Ereignisses, die aus einer früheren Zeit herrühren. Wir können Darstellungen des «Abendmahles» verfolgen zum Beispiel, wenn wir nicht weiter zurückgehen, von Giotto bis Lionardo da Vinci und werden finden, daß Lionardo in die Darstellung des «Abendmahles» das hereingebracht hat, was man nennen kann das dramatische Element; denn es ist ein wunderbar dramatischer Augenblick, der uns in seiner Darstellung entgegentritt. Ruhig, gleichsam nur um das Beisammensein auszudrücken, so erscheinen uns die früheren Darstellungen; einen Ausdruck bedeutsamsten Seelenseins mit voller dramatischer Kraft vor uns hinzaubernd, so erscheint uns das «Abendmahl» bildhaft zuerst bei Lionardo. Aber hat man aus den weltberühmten Nachbildungen diesen Eindruck von der Idee dieses Bildes in seiner Seele, in seinem Herzen aufgenommen und kommt nun nach Mailand in jene alte Dominikanerkirche Santa Maria delle Grazie und sieht dort auf der Wand alle die - man kann es ja nicht anders nennen - ineinander verschwimmenden undeutlichen feuchten Farbenkleckse, das letzte, was von dem Original vorhanden ist, das in seinen Nachbildungen weltberühmt geworden ist, dann forscht man vielleicht zurück und bekommt durch die Forschung den Eindruck, daß man eigentlich ziemlich lange schon an jener Wand der alten Dominikanerkirche nicht mehr viel von dem hat sehen können, wovon einstmals die Menschen, die es gesehen haben, nachdem es von Lionardo gemalt worden ist, in so enthusiastischen, in so

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überschäumend hinreißenden Worten gesprochen haben. Was einstmals von dieser Wand herunter wie ein künstlerisches Wunder nicht nur durch die Idee, die jetzt eben stammelnd zum Ausdruck gebracht worden ist, zu den Seelen gesprochen haben muß, sondern was durch die ausdrucksvollen Farbenwunder des Lionardo so gesprochen haben muß, daß in diesen Farben zum Ausdruck kam das Intimste der Seelen, ja, der Herzschlag der zwölf Gestalten, das muß lange, lange schon nicht mehr auf dieser Wand zu sehen gewesen sein. Was hat dieses Bild alles im Laufe der Zeiten erdulden müssen!

Lionardo fühlte sich gedrängt, in der Technik von der Art, wie man vor ihm an solchen Wänden gemalt hat, abzugehen. Er fand die Art von Farben, die man vorher verwendet hatte, nicht ausdrucksvoll genug. Er wollte eben die feinsten Seelenregungen dort an die Wand hinzaubern und daher versuchte er, was man früher für Wandgemälde nicht getan hatte, ölartige Farben zu verwenden. Da kam dann eine ganze Summe von Hindernissen zutage. Die Lage der Wand, die Lage des ganzen Ortes war so, daß verhältnismäßig bald diese Farben von der Feuchtigkeit angegriffen werden mußten; aus der Wand selbst kam die Feuchtigkeit heraus. Der ganze Raum, der ein Refektorium der Dominikaner darstellte, wurde einmal durch eine Überschwemmung völlig unter Wasser gesetzt. Viele andere Dinge kamen hinzu, Einquartierung von Soldaten in Kriegszeiten und anderes. Durch alle diese Dinge ist das Bild mitgenommen worden.

Es gab eine Zeit, in welcher die Mönche des Klosters sich auch nicht gerade mit besonderer Pietät gegenüber diesem Bilde benommen haben. So fanden sie, daß die Tür zu niedrig war, die unterhalb des Bildes in diesen Speisesaal des Klosters führte, und haben sie eines Tages höher machen

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lassen. Dadurch wurde ein Teil des Bildes verwüstet. Dann wurde einmal ein Wappenschild gerade über dem Kopfe des Christus angebracht; kurz, man ist in der barbarischsten Weise gegenüber dem Bilde vorgegangen. Und dann fanden sich - man muß sie so nennen - malerische Scharlatane, die es übermalten, so daß kaum noch viel von der Farbengebung zu sehen ist, die es einst hatte. Dennoch geht, wenn man vor dem Bilde steht, ein unbeschreiblicher Zauber davon aus. Alle Barbarei, alle Übermalung, alle Aufweichung konnte im Grunde genommen nicht ganz den Zauber vernichten, der von dem Bilde ausgeht. Es ist ja heute nur noch ein Schatten, der sich so über die Wand hinzieht, aber es geht ein Zauber von diesem Bilde aus. Es ist zum größten Teil nur noch halb das Malerische, es ist die Idee, die auf die Seele wirkt, aber sie wirkt gewaltig.

Wer sich nun ein wenig mit anderen Arbeiten Lionardos bekannt gemacht hat, wer gesucht hat, durch die Nachbildungen seiner Werke oder auch durch das, was in den verschiedenen Galerien Europas verbreitet ist an Werken, die dem Lionardo zugeschrieben werden und die noch mehr oder weniger so erhalten sind, wie er sie selber gemalt hat, wer also gesucht hat, sich mit Lionardos Schaffen bekannt zu machen und sich auch in das zu vertiefen, was er im Laufe der Zeit geschrieben hat, wer sich bekannt gemacht hat mit seinem Leben, wie es verflossen ist vom Jahre 1452 bis 1519, der steht noch mit ganz besonderen Gefühlen vor diesem Bilde im Speisesaal der Dominikaner in Mailand, im Kloster Santa Maria delle Grazie. Denn im Grunde genommen, so viel uns noch von der Zauberschöpfung erhalten ist, die Lionardo einst an diese Wand hingemalt hat, so viel, fühlt man, ist eigentlich für das allgemeine Menschheitsbewußtsein auch nur noch vorhanden von der gewaltigen Größe, von der Gewalt und dem Inhalt dieser

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umfassenden Persönlichkeit dieses Lionardo selbst. Was man heute von Lionardo auf seine Seele wirken lassen kann, das verhält sich wohl kaum anders zu dem, was sich einstmals als diese umfassende Persönlichkeit in die Weltentwickelung hineingestellt hat, als diese ineinander verlaufenden Farbenkleckse sich zu dem verhalten, was Lionardo einst an die Wand gezaubert hat. Und wie man mit Wehmut vor diesem Bilde in Mailand steht, so steht man mit Wehmut vor der ganzen Gestalt des Lionardo.

Goethe macht noch darauf aufmerksam, wie man, wenn man die Lebensbeschreibungen früherer Biographen auf sich wirken läßt, den Eindruck bekommt, daß in Lionardo der Menschheit eine Persönlichkeit erschienen ist, mit frischer Lebenskraft überall wirkend, freudig das Leben betrachtend und freudig auf das Leben wirkend, alles ergreifend in Liebe, mit einem ungeheueren Erkenntnisdrange alles erfassen wollend, frisch an Seele und frisch an Leib. Dann wendet man vielleicht auch den Blick hin auf jenes Bild, das als ein Selbstbildnis gilt und in Turin erhalten ist, und sieht dann dieses Selbstbildnis des alten Lionardo, dieses Gesicht mit den ausdrucksvollen, aber durch den Schmerz ausdrucksvoll gewordenen Furchen, mit dem verbitterten Munde und mit den Zügen, die so vieles von dem verraten, was Lionardo fühlen mußte als seinen Gegensatz gegen die Welt und gegen alles, was er erleben mußte. So steht tatsächlich diese Persönlichkeit merkwürdig an der Wende der neueren Zeit vor uns.

Wenn wir uns noch einmal zu dem Bilde in Santa Maria delle Grazie zurückwenden und mit diesem Schatten an der Wand des Refektoriums zusammen zu schauen versuchen die ältesten Stiche, die ältesten Nachbildungen, die von diesem Bilde erhalten sind, und wenn wir ein wenig sozusagen mit den «Augen des Geistes», um dieses Goethesche

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Wort zu gebrauchen, versuchen, in uns dieses Bild wiedererstehen zu lassen, dann kann vielleicht ein Gefühl, eine Empfindung in uns auftauchen: der, der dieses Bild einst gemalt hat, ging er, als er den letzten Pinselstrich getan, befriedigt von diesem Bilde fort? Sagte er sich: du hast hier geleistet, was in deiner Seele lebte?

Es scheint mir, daß man auf ganz naturgemäße Weise zu diesem Gefühle, zu dieser Frage kommen kann. Warum? Wenn man das ganze Leben Lionardos betrachtet, so muß man sagen: es flößt einem dieses Leben die eben charakterisierte Empfindung ein. Wenn man beginnt, Lionardo auf sich wirken zu lassen, wie er als ein natürliches Kind geboren wird, als der Sohn eines mittelmäßigen Kopfes, des Ser Pietro in Vinci, und einer Bäuerin, welche einem dann ganz aus dem Blick entschwindet, während der Vater standesgemäß heiratet und den Sohn in Pflege gibt; wenn man das Kind dann einsam aufwachsen sieht, nur Umgang pflegend mit der Natur und der eigenen Seele, so sagt man sich: eine ungeheuere Summe von Lebenskraft mußte in diesem Menschen sein, daß er frisch blieb! Und er blieb es zunächst. Dann kam er, da er früh Zeichentalent zeigte, in die Schule des Verrocchio. Der Vater hatte ihn dorthin gegeben, weil er glaubte, daß sich sein Zeichentalent ausnutzen ließe. Der junge Lionardo wird nun dazu verwendet, um an den Bildern des Meisters mitzumalen. Es wird als eine Anekdote aus dieser Zeit erzählt, daß Lionardo einmal eine Figur zu malen hatte, und daß der Meister, als er sie sah, sich entschloß, überhaupt nicht mehr zu malen, weil er sich von seinem Schüler überflügelt sah, eine Anekdote, die mehr ist als eine solche, wenn man den ganzen Lionardo betrachtet.

Wir finden ihn dann in Florenz heranwachsend, sein malerisches Talent sich immer mehr und mehr erhöhend.

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Aber wir finden noch etwas anderes. Wenn man das malerische Talent verfolgt, so bekommt man den Eindruck: er ging Jahr auf Jahr mit den größten künstlerischen Plänen um, mit fortwährend neuen Plänen. Er hatte auch Aufträge von Leuten, die seine große Begabung erkannten und etwas von ihm haben wollten. Lionardo ließ zunächst die Idee zu dem auftreten, was er schaffen wollte, und fing dann mit dem Studium an. Aber wie war dieses Studium?

Dieses Studium ging in einer ungeheuer charakteristischen Weise ein auf alle Einzelheiten, die in Betracht kamen. Hatte er zum Beispiel ein Bild zu malen, bei dem drei bis vier Gestalten vorkamen, so ging er so zu Werke, daß er nicht nur an einem einzelnen Modell studierte, sondern er ging herum in der Stadt und betrachtete Hunderte und Hunderte von Menschen. Er konnte oft einen ganzen Tag einer Person nachgehen, wenn ihn ein Zug an ihr interessierte. Er konnte zuweilen alle möglichen Menschen der allerverschiedensten Stände zu sich einladen und konnte ihnen alle möglichen Dinge erzählen, die sie belustigten oder die sie erschreckten, denn daran wollte er die Gesichtszüge für die mannigfaltigsten Seelenerlebnisse studieren. Als einmal ein Aufrührer eingefangen worden war und gehenkt wurde, da begab sich Lionardo zur Richtstätte, und es ist die Zeichnung erhalten, wie er den Gehenkten im Gesichtsausdruck und mit der ganzen Geste festzuhalten suchte; unten in der Ecke des Blattes ist noch besonders ein Kopf gezeichnet, um den genauen Eindruck festzuhalten.

Wir besitzen von Lionardo erhalten gebliebene Karikaturen, unglaubliche Gestalten, und können daran sehen, was er eigentlich damit wollte. Er hatte zum Beispiel ein Antlitz gezeichnet und probierte nun, was sich ergibt, wenn man das Kinn größer und größer macht. Um zu sehen, welche Bedeutung die einzelnen Teile der menschlichen

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Gestalt haben, vergrößerte er ein einzelnes Glied, um darauf zu kommen, wie sich in seiner natürlichen Größe dieses Glied dem ganzen menschlichen Organismus einfügt. Fratzenhafte Gestalten in den verschiedensten Verzerrungen, das alles finden wir bei Lionardo. Zeichnungen sind von ihm erhalten, in denen er immer wieder und wieder das einzelne skizziert hat, Zeichnungen, die er dann verwenden wollte für entsprechende Werke. Wenn auch manches von seinen Schülern herstammt, so ist doch auch viel von ihm selbst vorhanden.

Wenn man das alles auf sich wirken läßt, so bekommt man den Eindruck, daß es ihm oft in folgender Weise geht. Er hat irgendeinen Bildauftrag; er soll dieses oder jenes darstellen. Da studiert er in der eben geschilderten Weise die Einzelheiten. Dann beginnt ihn irgend etwas Besonderes zu interessieren, und nun studiert er nicht mehr zum Zwecke des Bildes, sondern um die Einzelheiten eines Tieres oder des Menschen kennenzulernen. Hat er eine Schlacht zu malen, so geht er, um die Einzelheiten zu studieren, in die Reitschule, oder er geht irgendwohin, wo die Pferde sich selbst überlassen sind, und dadurch kommt er dann ab von der eigentlichen Idee, zu der er das Studium hat verwenden wollen. So häufen sich Studien auf Studien, und es ist ihm zuletzt gar nicht mehr darum zu tun, zu dem Bilde wieder zurückzukommen.

So sehen wir denn von bedeutungsvolleren Bildern in seiner ersten Florentiner Zeit, obwohl alle diese Bilder heute übermalt sind und die ursprüngliche Gestalt nicht mehr ganz zu erkennen ist, den «Heiligen Hieronymus» und die «Anbetung der Könige» entstehen, zu denen ja auch Studien vorhanden sind, wie sie eben charakterisiert worden sind, und man hat im übrigen das Gefühl, dieser Mensch lebte in der Fülle der Weltengeheimnisse. Er

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suchte die Weltengeheimnisse zu durchdringen, suchte in origineller Art gleichsam nachzuzeichnen diese Naturgeheimnisse, und kam doch eigentlich nie zu einem solchen Schaffen, von dem er sich hätte sagen können, es sei in irgendeiner Weise zu Ende gebracht. Man muß sich in eine solche Seele hineinversetzen, die zu reich ist, um in irgendeiner Weise abschließen zu können, was sie in Angriff nahm, in eine solche Seele, auf welche die Welten-geheimnisse so wirken, daß sie, wenn sie irgendwo anfängt, von Geheimnis zu Geheimnis schreiten muß und nirgends fertig wird. Man muß diese Lionardo-Seele verstehen, die zu groß in sich war, um ihre eigene Größe je offenbaren zu können.

Dann verfolgen wir Lionardo weiter, wie ihm von dem Herzoge Lodovico il Moro in Mailand, der ihn dort an seinem Hofe aufgenommen hat, zwei Aufgaben übertragen werden, wovon die eine das «Abendmahl» ist, und die andere die war, ein Reiterstandbild für den Vater des Herzogs zu schaffen. Wir sehen nun, wie Lionardo fünfzehn bis sechzehn Jahre an diesen beiden Werken arbeitete. Allerdings ging vieles andere nebenher. Denn wenn wir Lionardo charakterisieren wollen, wie wir es eben getan haben, so müssen wir, um ihn völlig zu verstehen, hinzufügen, daß ihn der Herzog nicht nur als Maler berufen hatte. Lionardo war auch ein ausgezeichneter Musiker, vielleicht einer der ausgezeichnetsten Musiker seiner Zeit, und an seiner musikalischen Begabung hatte der Herzog besonderen Gefallen gefunden. Aber der Herzog behielt ihn auch deshalb, weil Lionardo einer der bedeutendsten Kriegsingenieure, einer der bedeutendsten Wasserbauingenieure und einer der bedeutendsten Mechaniker seiner Zeit war, und weil er dem Herzog versprechen konnte, ihm Kriegsmaschinen zu liefern, die etwas ganz Neues waren, ferner Maschinen, die

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die Wasserkraft verwerten sollten, ferner fliegende Brücken, die leicht aufgebaut und schnell wieder weggenommen werden könnten. Und gleichzeitig arbeitete er daran, eine Flugmaschine zu konstruieren. Um diese herzustellen, beschäftigte er sich damit, zu beobachten, wie der Vogelflug zustande kommt. Was an Studien Lionardos erhalten ist über den Vogelflug, gehört wohl zu dem Originellsten, was darüber erforscht worden ist. Dabei muß man immer gewärtig sein, wenn man heute Schriften von Lionardo in die Hand bekommt, daß es zum Teil Kopien sind, die vieles ungenau enthalten und so auch in ihrer Gestalt dem entsprechen, was man heute noch von dem «Abendmahl» sieht. Aber überall leuchtet durch, was für einen umfassenden Geist man in Lionardo vor sich hat.

Nun aber sehen wir, wie Lionardo den Hof in Mailand nicht nur bei allen möglichen Gelegenheiten unterstützt, wie er dieses oder jenes Malerische oder Theatralische zustande bringt, sondern wir sehen ihn auch alle möglichen Kriegs- und andere Pläne ausarbeiten und auch beim Dombau den Ausführungen mit Rat und Tat beistehen. Dazu wissen wir auch, wie er unzählige Schüler ausgebildet hat, die dann an den verschiedensten Werken in Mailand arbeiteten, so daß man heute kaum mehr ahnt, wieviel Arbeit Lionardos in den ganzen Bestand der Stadt Mailand und ihrer Umgebung eingeflossen ist.

Neben alledem her laufen nun unendliche Studien Lionardos zu dem Reiterstandbilde des Vaters des Herzogs, Francesco Sforza. Es gab für ihn kein Glied des Pferdes, das er nicht hundertfach, in hundertfältigen Stellungen studierte, und im Laufe von vielen Jahren brachte er das Modell des Pferdes zustande. Es ging dann zugrunde, als die Franzosen im Jahre 1499 in Mailand einfielen, und die Soldaten wie auf eine Zielscheibe nach diesem Modell

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schossen und es eben zerschossen. Es ist nichts davon erhalten, nichts erhalten von der Riesenarbeit einer Persönlichkeit, welche, man darf so sagen, Weltengeheimnis nach Weltengeheimnis zu erforschen suchte, um ein Werk zu­standezubringen, in dessen totem Materiale Leben sich so offenbarte, wie sich Leben gemäß seinen Geheimnissen in der Natur selber offenbart.

Von dem «Abendmahl» können wir wissen, wie Lionardo daran gearbeitet hat. Oftmals ging er hin, setzte sich auf das Gerüst und brütete stundenlang vor der Wand. Dann nahm er den Pinsel, machte einige Pinselstriche und ging wieder fort. Zuweilen ging er hin, starrte auf das Bild, ging wieder fort. Wenn er an der Christus-Gestalt malen will, zittert seine Hand. Und wenn man alles zusammen-nimmt, was man davon wissen kann, dann muß man sagen:

äußerlich und innerlich wurde Lionardo nicht froh, als er dieses heute weltberühmte Bild malte. Zunächst gab es damals in Mailand Leute, denen das langsame Fortschreiten des Bildes nicht recht gefiel. Da war zum Beispiel der Prior des Klosters, der nicht einsehen konnte, weshalb ein Maler ein solches Bild nicht schnell sollte heruntermalen können, und er beschwerte sich deshalb beim Herzog. Dem Herzog dauerte die Sache eigentlich auch schon zu lange, und er stellte den Künstler zur Rede. Da antwortete Lionardo, daß auf dem Bilde dargestellt werden sollten der Christus Jesus und der Judas, also die zwei allergrößten Gegensätze; die könne man nicht in einem Jahre malen, und es gäbe keine Modelle für diese beiden in der Welt, weder für den Judas noch für den Christus Jesus. Er wisse auch noch nicht - das sagte er, nachdem er jahrelang an dem Bilde gemalt hatte -, ob er es überhaupt fertigbringen werde. Und dann fügte er hinzu: wenn sich schließlich gar kein Modell fände für den Judas, so könne er ja noch immer den

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Prior dafür nehmen! So war also das Bild außerordentlich schwer zu Ende zu führen. Aber Lionardo wurde auch innerlich nicht froh. Denn gerade an diesem Bilde zeigte es sich, was in seiner Seele lebte gegenüber dem, was er auf die Wand hinbringen konnte.

Und hier bin ich genötigt, eine geisteswissenschaftliche Hypothese vorzubringen, zu welcher derjenige kommen kann, der sich in alles vertieft, was man nach und nach über das Bild wissen kann. Diese Hypothese ergab sich mir, als ich Antwort zu gewinnen versuchte auf die vorhin aufgestellte Frage. Wenn man nämlich so das Leben des Lionardo verfolgt, dann sagt man sich: in diesem Manne lebte so ungeheuer vieles, was er nicht äußerlich der Menschheit offenbaren konnte, wofür die äußeren Mittel viel zu ohnmächtig waren, um es darzustellen; sollte er ein Größtes, wie er es im Abendmahl zweifellos wollte, wirklich so ohne weiteres zu seiner Befriedigung in diesem Werke haben hinmalen können? Diese Frage ergibt sich ganz selbstverständlich. Wenn man sieht, wie er immer wieder und wieder Geheimnis nach Geheimnis durch seine Studien zu erforschen gesucht hat, um irgend etwas zustandezubringen und es schließlich doch nicht zustandebrachte, dann kommt man zu einer solchen Frage. Dann ergibt sich fast von selbst die Antwort: wenn Lionardo auf der einen Seite das Reiterstandbild, das er zu einem Wunderwerke der plastischen Kunst hat machen wollen, nur bis zum Modell gebracht hat, das verlorengegangen ist, und er den Guß des Reiterstandbildes selbst überhaupt niemals in Angriff nahm, wenn er also nach sechzehnjähriger Arbeit unverrichteter Dinge von diesem Reiterstandbilde vollständig Abschied genommen hat, wie ging er dann wohl von diesem «Abendmahl» weg? Man hat das Gefühl, er ging unbefriedigt von diesem Abendmahl weg! Wenn man auch heute von diesem Bilde

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nur noch eine Ruine, nur noch ineinanderfließende feuchte Farbenflecke vor sich hat, und wenn man auch schon seit langem nichts mehr sah von dem, was Lionardo einst dort auf die Wand gemalt hat, so darf man vielleicht doch behaupten, was er auf die Wand gemalt hat, konnte nicht im entferntesten das darstellen, was davon in seiner Seele gelebt hat.

Um einen solchen Eindruck zu bekommen, muß man allerdings das Verschiedenste zusammenhalten, was man an Eindrücken gegenüber dem Bilde bekommen kann. Aber es gibt auch einige äußere Gründe. Unter all den Schriften, die von Lionardo erhalten sind, gibt es auch einen wunderbaren «Traktat über die Malerei». Die Malerei wird ihrem Wesen nach als Kunst dargestellt, wie sie zu arbeiten hat entsprechend der Perspektive und aus der Farbengebung heraus; es wird dargestellt, wie sie der Auffassung nach zu arbeiten hat. Dieses Buch von Lionardo über die Malerei ist, trotzdem wir es auch nur wie einen Torso vor uns haben, ein wunderbares Werk, wie ein gleiches wohl nie in der Welt verfaßt worden ist. Die Prinzipien der malerischen Kunst sind darin so dargestellt, wie sie nur der höchste Genius darstellen konnte. Wunderbar ist zum Beispiel zu lesen, wie Lionardo zeigt, in welcher Weise man bei einer Schlacht die Pferde darzustellen hat, überhaupt den bestialischen Eindruck und doch das Grandiose, das durch die Schilderung einer Schlacht zur Anschauung kommen soll. Kurz, dieses Werk zeigt uns alle Größe Lionardos und, wir dürfen sagen, auch alle Ohnmacht Lionardos. Davon wird noch zu sprechen sein. Aber vor allen Dingen verrät es, wie er überall darauf bedacht war, für seine malerische Darstellung die Art zu studieren, wie sich die Wirklichkeit dem menschlichen Auge darbietet. Das Hell-Dunkel, die Farbengebung, das alles ist in diesem Werke Lionardos über die

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Malerei genial dargestellt, wie es in der Malerei zu verwerten ist. Und wenn wir in Lionardos Seele die Gewissenssehnsucht zu bestätigen hätten, niemals, auch nicht in der geringsten Kleinigkeit gegen das zu verstoßen, was er - wie wir an anderer Stelle noch sehen werden - so hoch schätzt wie die Wahrheit, wenn wir zeigen wollten, wie das in seiner Seele gelebt hat, dann könnten wir sagen, es tritt das in dem Traktat von der Malerei überall hervor, niemals gegen die Wahrheit des Eindruckes zu verstoßen, aber so niemals zu verstoßen, daß dieser Eindruck überall gerechtfertigt ist gegenüber den inneren Geheimnissen der Natur.

Wenn wir sein «Abendmahl» auf uns wirken lassen, so gibt es zwei Dinge, gegenüber denen man sich sagt, man kommt mit ihnen nicht zurecht im Hinblick auf die Forderungen Lionardos gegenüber der Malerei. Das eine ist die Judasfigur. An den Nachbildungen und auch gewissermaßen noch an dem schattenhaften Bild der Malerei in Mailand hat man den Eindruck: der Judas ist ja ganz mit Schatten bedeckt, ist ganz dunkel. Nun studiere man, wie das Licht von den verschiedenen Seiten einfällt, und wie überall bei den elf anderen Jüngern die Beleuchtungsverhältnisse in der wunderbarsten Weise der Wahrheit gemäß dargestellt sind. Nichts erklärt uns recht das Dunkel auf dem Gesichte des Judas! Wir bekommen nach den äußeren Lichtverhältnissen keine befriedigende Antwort auf das Warum dieser Dunkelheit. Und wenn man an die Christus-Jesus-Gestalt herankommt, so kann sich für das äußere Anschauen, wenn man nicht geisteswissenschaftlich vorgeht, eigentlich nur etwas wie eine Ahnung ergeben. Denn ebensowenig wie die Schwärze, das Dunkel bei der Judasfigur berechtigt ist, ebensowenig scheint das Sonnenhafte der Christus-Gestalt, das Heraustreten aus den anderen Figuren im angedeuteten

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Sinne berechtigt zu sein. Alle anderen Antlitze verstehen wir aus den Beleuchtungen, nicht das des Judas und nicht das Christus-Jesus-Antlitz.

Geht man aber geisteswissenschaftlich vor, dann baut sich wie von selbst in unserer Seele der Gedanke auf: der Maler hat wohl dahin gestrebt, wahrmachen zu können, daß in diesen beiden Gegensätzen «Jesus» und «Judas» Licht und Finsternis nicht von außen, sondern innerlich motiviert uns entgegentreten. Er hat vielleicht wahrmachen wollen, daß dieses Christusantlitz so vor uns steht, daß wir es durch die äußeren Lichtverhältnisse wohl unmotiviert finden in äußerer Art, daß wir aber dennoch glauben können: diese Seele, die hinter diesem Antlitze ist, verleiht durch sich diesem Antlitze eine Leuchtkraft, und dieses Antlitz darf leuchten im Widerspruche mit den Lichtverhältnissen. Und ebenso kann man dem Judas gegenüber den Eindruck bekommen:

diese Gestalt darf gewissermaßen auf sich selber einen Schatten hinzaubern, der durch nichts gerechtfertigt ist, was von ringsherum an Schatten geworfen wird.

Es ist, wie gesagt, eine geisteswissenschaftliche Hypothese, aber eine solche, die sich mir in vielen Jahren herausgearbeitet hat, eine Hypothese, von der man glauben kann, daß sie sich um so mehr bestätigen wird, je weiter man sich in das ganze Problem hineinleben wird. Man kann es nach dieser Hypothese verstehen, wie Lionardo, der überall in seinen Werken und Studien die Naturwahrheit anstrebte, mit zitterndem Pinsel arbeitete, um ein Problem darzustellen, das jeweils nur an dieser einzelnen Gestalt gerechtfertigt sein konnte. Und dann kann man verstehen, daß Lionardo wohl bitter enttäuscht sein mochte, ganz unzweifelhaft, weil es durch die Mittel der damaligen Darstellungskunst unmöglich war, mit voller Wahrhaftigkeit und Wahrscheinlichkeit dieses Problem zum Ausdruck zu bringen, weil er noch nicht

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konnte, was er wollte und schließlich an der Möglichkeit der Ausführung verzweifelte und so ein Bild hinterlassen mußte, welches ihn doch nicht befriedigte.

Dann beantwortet man sich so ganz im Einklange mit der ganzen Gestalt und mit der ganzen geistigen Größe des Lionardo die aufgeworfene Empfindungsfrage: Ja, mit dem bitteren Gefühl, daß er sich an seinem bedeutendsten Werke eine Aufgabe gesetzt hatte, deren Ausführung ihn nach den den Menschen zugänglichen Mitteln nicht befriedigen konnte, ging wohl Lionardo von diesem Bilde hinweg; und wenn auch kein Auge in späteren Jahrhunderten das sehen wird, was Lionardo in Mailand an die Wand gezaubert hatte, so war es doch auch seinerzeit ganz gewiß nicht das, was in seiner Seele gelebt hat. Ja, wenn man ihn so gegenüber seiner bedeutendsten Schöpfung ansieht, dann ist man erst recht versucht, sich zu fragen: Welches Geheimnis verbirgt sich eigentlich hinter dieser Gestalt?

Als hier vor vierzehn Tagen die Persönlichkeit Raffaels betrachtet worden ist, da wurde zu zeigen versucht, wie man eine solche Persönlichkeit ganz anders verstehen kann, wenn man sich auf geisteswissenschaftliche Untergründe stützt, wenn man sich darüber klar ist, daß die Menschenseele etwas ist, was in vielen Erdenleben immer wiederkehrt, so daß eine Seele, die in ein gewisses Zeitalter hineingeboren ist, eben nicht dieses eine Leben nur lebt, sondern in der ganzen Anlage und in der ganzen Art der Entwicklung sich die Anlagen aus früheren Erdenleben mitbringt und nun mit dem, was sie als Anlage aus früheren Erdenleben in das jetzige hereinträgt, sich demjenigen gegenübergestellt findet, was die geistige Umgebung hergibt. Wenn man so die Seele betrachtet, erkennend, daß sie mit einem inneren geistigen Gut ins Dasein tritt, das aus wiederholten Erdenleben stammt, und wenn man dazunimmt,

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daß die ganze Entwicklung sinnvoll und weisheitsvoll erscheint, wenn man voraussetzt, daß nicht zufällig etwas in gewissen Epochen auftritt, sondern regelmäßig und gesetzmäßig, wie die Blüte der Pflanze nach den grünen Blättern erscheint, wenn man also weisheitsvolle Gestaltung im geschichtlichen Werden der Menschheit annimmt und dann die Menschenseele immer wieder und wieder zurückkehren sieht aus geistigen Regionen, dann erst werden die einzelnen Gestalten erklärbar. Aber was an dem einzelnen Menschenleben zu studieren ist, das enthüllt sich ganz besonders, wenn man solche aus der Mittelmäßigkeit herausfallende Menschenseelen ins Auge faßt. Wenn man Lionardo so betrachtet, wie wir die einzelnen Momente seines Lebens nur skizzenmäßig zusammenzufassen versuchten, dann kann man immer wieder und wieder hingeführt werden zu dem Hintergrunde, von dem diese Seele sich abhebt. Und dieser Hintergrund ist die Zeit, in welche diese Seele hineingestellt ist vom Jahre 1452 bis zum Jahre 1519.

Was ist das für eine Zeit? Das ist die Zeit vor dem Aufblühen der neueren naturwissenschaftlichen Weltbetrachtung. Es ist die Zeit, bevor die Weltanschauung des Kopernikus gekommen ist, bevor Giordano Bruno> Kepler> Galilei gewirkt haben. Wie betrachten wir geisteswissenschaftlich diese Zeit?

Wir haben wiederholt darauf aufmerksam gemacht, daß je weiter wir im Laufe der Menschheitsentwickelung zurückkommen, desto anders das ganze menschliche Anschauen und das menschliche Zusammenleben mit der Umgebung wird. In uralten Zeiten der Menschheitsentwickelung finden wir in jeder Seele eine Art von Hellsehen, wodurch die Seelen in gewissen Zwischenzuständen zwischen Schlafen und Wachen in die geistige Welt hineinschauten. Dieses ursprüngliche Hellsehen verliert sich im Laufe der Zeit, aber

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bis in die Zeiten des fünfzehnten Jahrhunderts hinein blieb dennoch aus den älteren Zeiten ein Rest dieses Hellsehens. Nicht das Hellsehen selber, das war schon lange abhanden gekommen; was aber geblieben war, das war ein Gefühl von dem Verbundensein der Menschenseele mit dem geistigen Hintergrunde der Welt. Was einst die Seelen geschaut hatten, das fühlten sie weiter, und obzwar dieses Fühlen schon schwach geworden war, so empfanden die Seelen dennoch, daß sie in ihrem Mittelpunkte zusammenhingen mit dem Geistigen, das die Welt durchlebt und durchwebt, so wie dasjenige was die physischen Vorgänge im Menschen-leibe sind, physisch zusammenhängt mit dem physischen Geschehen der Welt.

Es gehört nun zu den Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung, daß das alte Zusammengehen der Menschenseele mit der geistigen Welt für eine Weile abhanden kommen mußte. Niemals hätte die neuere Naturwissenschaft erblühen können, wenn das alte Hellsehen geblieben wäre. Es mußte diese ganze alte Art des Anschauens verlorengehen, damit sich die Seelen hinwendeten zu dem, was sich den Sinnen darbietet und was durch den Verstand, der an das Gehirn gebunden ist, wissenschaftlich ergründet werden kann. Nur dadurch war jene naturwissenschaftliche Weltanschauung möglich, die sich seit den Zeiten des Lionardo bis heute herausgebildet hat, daß das alte geistige Anschauen der Menschheit abhanden gekommen war, und daß sich der Mensch «objektiv», wie man sagt, «gegenständlich» zu der äußeren sinnlichen Anschauung hinneigte und zu dem, was der Verstand in der Sinnesanschauung erfassen kann.

Heute stehen wir wieder an einem neuen Wendepunkte, an dem Wendepunkte zu jener Zeit, in welcher es dem Menschen durch die moderne Geisteswissenschaft wieder möglich ist, zu einem geistigen Anschauen der Dinge zu

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kommen. Denn die naturwissenschaftliche Entwicklung hat eine doppelte Bedeutung. Einmal sollte sie der Menschheit ein gewisses naturwissenschaftliches Gut überliefern. Dieses hat sich im Laufe der Jahrhunderte seit dem Auftreten von Kopernikus, Kepler und so weiter, seit die Naturwissenschaft von Triumph zu Triumph geschritten ist, in wunderbarer Weise in das praktische und theoretische Leben eingelebt. Das ist das eine, was durch die Naturwissenschaft in den letzten Jahrhunderten seit der Zeit Lionardos erobert worden ist. Das andere ist das, was nicht auf einmal kommen konnte, sondern was erst in unserer Zeit möglich geworden ist. Denn nicht nur, daß man der Naturwissenschaft das verdankt, was man durch die kopernikanische Weltanschauung, durch die Beobachtungen und Untersuchungen Keplers und Galileis, was man durch die moderne Spektralanalyse und so weiter erfahren hat, sondern man verdankt ihr auch eine gewisse Erziehung der Menschenseele.

Zunächst richtete die Menschenseele den Blick hinaus auf die Sinneswelt; dadurch bildete sich die Naturwissenschaft aus. Aber durch die Naturwissenschaft bildeten sich neue Ideen, neue Begriffe aus. Und wo die Naturwissenschaft Allergrößtes geleistet hat, da ist sie nicht durch die sinnliche Anschauung groß geworden, sondern durch etwas ganz anderes. Es ist bereits darauf hingewiesen worden. Gerade auf einem bestimmten Gebiete hat man sich in der Zeit vor Kopernikus auf das sinnliche Anschauen verlassen. Was hat es ergeben? Man hatte geglaubt, daß die Erde im Weltenraume stille stehe, und daß sich die Sonne und die übrigen Planeten um sie herumbewegten. Dann kam Kopernikus, der den Mut hatte, sich nicht auf das sinnliche Anschauen zu verlassen. Er hat den Mut gehabt, zu sagen, daß, wenn man sich auf die Sinnesanschauung verläßt, man keine einzige

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empirische Entdeckung macht, daß man aber zu empirischen Entdeckungen kommt, wenn man in einer strengen Weise alles zusammen denkt, was man vorher beobachtet hat. In seinen Fußtapfen sind dann die Menschen weitergeschritten, und es ist durchaus ein Verkennen der Sachlage, wenn man glauben wollte, die Naturwissenschaft sei dadurch zu ihrer heutigen Höhe gelangt, daß die Menschheit sich nur auf die Sinne verlassen hat.

Aber was durch die Naturwissenschaft in die Menschheit gekommen ist, das hat sich auch den Seelen eingeprägt; die Ideen der Naturwissenschaft leben in unseren Seelen, haben unsere Seelen erzogen. Die Naturwissenschaften sind neben dem, was sie als Inhalt gegeben haben, auch ein Erziehungsmittel für die Seelen gewesen, und heute sind, indem die naturwissenschaftlichen Ideen wirklich in der Seele nicht nur gedacht, sondern gelebt werden, die Seelen dazu reif geworden, ganz von selbst in die Geisteswissenschaft hinein-getrieben zu werden. Dazu mußte aber die Menschheit erst reif werden. Dazu mußten die Jahrhunderte seit der Zeit Lionardos verfließen.

Jetzt betrachten wir Lionardo. Er kommt in seine Zeit hinein mit einer Seele, die in einem früheren Dasein zu jenen Eingeweihten gehört hat, die in der alten Art sich zu den Geheimnissen des Weltanschauens erhoben hatten. Das konnte er in der Zeit, als er im fünfzehnten Jahrhundert geboren wurde, nicht ausleben. Denn man kann in früheren Verkörperungen nach der Art, wie es diese früheren Erdenleben möglich machten, sich in großer, gewaltiger Weise in die Weltengeheimnisse eingelebt haben; wie man sie in einem neuen Dasein ins Bewußtsein hereinbringt, das hängt von der äußeren Leiblichkeit ab. Ein Leib des fünfzehnten Jahrhunderts konnte nicht das an inneren Gedanken, an inneren Empfindungen und an innerer Gestaltungskraft

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zum Ausdruck bringen, was Lionardo in früheren Daseinsstufen in sich aufgenommen hatte. Was er von früher hatte, das wirkte nur als Kraft, aber er war unmittelbar in dem Zeitalter vor dem Aufblühen der Naturwissenschaften in einen Leib hineingebannt, fühlte sich überall beengt. Es kam die Zeit heran, ihre Morgenröte war schon da, in der man bloß hinausschauen wollte mit den Sinnen in die Welt des sinnlichen Daseins und nur mit dem Verstande denken wollte, der an das Instrument des Gehirnes gebunden ist. Lionardo drängte es überall nach dem Geiste, denn das hatte er sich aus früheren Leben mitgebracht. Und in grandioser Weise drängte es ihn nach dem Geiste.

Sehen wir ihn jetzt zunächst als Künstler an. Ganz anders ist die Kunst geworden in der Zeit, da Lionardo gelebt hat, als etwa in der Griechenzeit. Versuchen wir einmal, uns in das Schaffen zum Beispiel einer plastischen Gestalt bei einem griechischen Künstler zu versetzen. Was für eine Empfindung bekommen wir, selbst noch dann, wenn wir zum Beispiel die Mark-Aurel-Statue in Rom ansehen? Niemals wurden die, welche so etwas geschaffen haben, in der Weise wie etwa Michelangelo oder Lionardo in den Einzelheiten Studien gemacht haben, derartiges in den einzelnen Formen nach einem äußeren Modell nachgebildet haben. Das wunderbare Pferd der Mark-Aurel-Statue ist ganz gewiß nicht so studiert worden, wie Lionardo sein Pferd zu der Reiterstatue des Francesco Sforza hat studieren können. Und dennoch, wie lebendig stehen die alten Statuen vor uns! Woher kommt das? Das kommt daher, weil sich die Menschenseelen in den griechischen Zeiten unmittelbar als Schöpfer ihres Leibes fühlten, weil sie sich mit den Seelenkräften aller Welt eins fühlten. In jenen Zeiten der griechischen Kunst fühlte man zum Beispiel an einem Arme alle die Kräfte, welche den Arm formten. Man

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fühlte sich hinein in das selbständige Innensein der eigenen Gestalt. Man schaute die Gestalten nicht von außen an, sondern schuf von innen wissend, indem man sich der gestaltbildenden Kraft noch bewußt war. Das kann man selbst noch im Äußeren nachweisen. Man sehe sich die griechischen Frauengestalten an: sie sind alle unmittelbar empfunden. Daher sind sie alle in dem Lebensalter dargestellt, in welchem ein aufwärts gehendes Wachstum vorhanden ist. Da fühlen wir überall, daß der Künstler der Natur nachgeschaffen hat, weil er innerhalb des Geistes der Natur stand, sich in seiner Seele mit dem Geiste der Natur verbunden fühlte.

Dieses Sich-verbunden-Fühlen mit dem Geist, der durch die Dinge webt und lebt, sollte in dem Zeitalter Lionardos verlorengehen, und es mußte verlorengehen, weil sonst die ganze neue Zeit nicht hätte kommen können. Das ist nicht eine Kritik der Zeit, sondern eine Darstellung des Sinnes der Tatsachen.

Sehen wir nun, wie Lionardo zu Werke geht, wenn er die Bewegungen der Hand, der einzelnen Teile eines Tieres oder die menschliche Physiognomie studiert! So geht er vor, daß er in der Seele ein inneres Wissen, ein inneres Erleben hat, das aber nicht zum Bewußtsein kommt. Es ist etwas, was da lebendig an diesen Gestalten schafft, aber Lionardo kann es nicht von innen fassen. Er fühlt sich wie abgetrennt davon, von diesem Von-innen-Erfassen. Und nun ist ihm nichts genug. Nun steht er da - denn die neuere naturwissenschaftliche Weltanschauung ist noch nicht vorhanden -in Erwartung dieser naturwissenschaftlichen Weltanschauung; aber er kann sie noch nicht selber haben. Nehmen wir seine Schriften: Auf jeder Seite springen Dinge hervor, welche die Menschen im Laufe der nächsten drei Jahrhunderte erst wieder finden und manchmal selbst bis heute noch

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nicht gefunden haben. Lionardo hatte die wunderbarsten Ideen, die zu seiner Zeit oft gar keine Wirkung gehabt haben. Wir finden sie in seinen Werken, auch in seinem künstlerischen Schaffen.

So empfinden wir bei ihm die Ohnmacht, mit der eine Seele auftreten mußte in einem Zeitalter, das zu Ende ging für die alte Art der Weltauffassung, und dem die neue Weltauffassung noch nicht heraufgekommen war. Diese neue Weltauffassung brachte es allerdings mit sich, daß sie das gesamte menschliche Anschauen in ein Anschauen der Einzelheiten zersplitterte. Wir sehen heraufkommen eine Spezialisierung der einzelnen Wirkenszweige. Bei Lionardo erscheint noch alles vereinigt. Er ist zugleich umfassender Maler, umfassender Musiker, umfassender Philosoph, umfassender Techniker. Er hat dies in sich vereinigt, weil seine Seele aus der alten Zeit mit großen Fähigkeiten herüberkommt und nun in der neuen Zeit überall «tippen» kann an die Dinge, aber nicht hinein kann. Und so erscheint dann, menschlich gesehen, Lionardo wie eine tragische Gestalt, erscheint aber, von einem höheren Gesichtspunkte aus gesehen, ungeheuer bedeutungsvoll am Wendepunkte zu einer neueren Zeit.

Das kann man selbst sehen, wenn man durchgeht, was Lionardo weiter geschaffen hat. Er hat da die bedeutendsten Dinge nur bis zu einem gewissen Punkte gebracht; dann haben seine Schüler daran gearbeitet. Und selbst an solchen Dingen wie dem «Johannes» oder der «Mona Lisa» im Louvre in Paris sehen wir, wie sie durch die technische Behandlungsart so hergestellt waren, daß sie bald ihren Glanz verlieren mußten. Dann sehen wir aber überall auch, wie eigentlich Lionardo sich selber nirgends genugtun konnte. Es ist nicht möglich, ohne die Bilder zur Hand zu haben, über die Einzelheiten von Lionardos Malereien zu

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sprechen. Vertieft man sich in sie, so zeigt sich überall, wie Lionardo als Künstler an Grenzen kam, über die er nicht hinauskonnte, und wie überall das, was in seiner Seele lebte, überhaupt nicht einmal bis zu dem Punkt kommen konnte, wo es vom seelischen Erleben ins Bewußtsein heraufleuchtet, wie es aus jenem Stadium des seelischen Erlebens in einem Momente so aufleuchtet, daß man aufjauchzt, und wieder in Schmerz versinken möchte, weil es nicht zum deutlichen Bewußtsein kam. Nicht einmal das trat für Lionardo ein.

Wir folgen eigentlich Lionardo mit recht bitteren Gefühlen, wenn wir sehen, wie er zuletzt von Franz I. von Frankreich für die drei letzten Lebensjahre geholt wird und in dem Wohnsitz, den ihm Franz I. angewiesen hat, in geistiger Betrachtung, in die Geheimnisse des Daseins vertieft, diese Jahre verbringt. Denn er tritt uns da entgegen als der einsame Mann, der eigentlich mit der Welt, die ihn umgibt, nichts Rechtes mehr gemeinsam haben kann, und der einen ungeheuern Kontrast empfinden mußte zwischen dem, was er als die Urgründe des Daseins empfand, die durch die Kunst Gestalt annehmen können, und dem, was er doch nur fragmentarisch der Welt hat geben können.

Wenn man die Dinge so nimmt, dann sieht man auf Lionardo hin und sagt sich: Eine Seele ist da, in der geht vieles vor. Vieles, unendlich vieles geht in ihr vor. Erschütternd ist der Eindruck, den sie auf den Betrachter macht, wenn man sich vorstellt, was dem Menschheitsprozesse von dieser Seele übergeben wird.Was sich dem Menschheitsprozesse von dieser Seele auch äußerlich offenbart, sogar schon beim Tode Lionardos, wie ist das geringfügig gegenüber dem, was in dieser Seele lebte! Wie stehen wir da vor der Ökonomie des Daseins, wenn wir der Anschauung huldigen sollten, daß sich das Menschendasein in demjenigen

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erschöpft, was nur äußerlich zum Dasein kommt? Wie sinn- und zwecklos erscheint das Leben einer solchen Seele wie der Lionardos, wenn wir sehen, was in ihr vor sich gegangen ist, und was sie wegen dieses Vorsichgehens leiden und dulden konnte, und wenn wir es vergleichen mit dem, was sie dann der Welt hat geben können? Welcher Kontrast ergäbe sich, wenn wir sagen wollten, diese Seele dürfe nur nach dem betrachtet werden, wie sie sich im äußeren Leben offenbart hat! Nein, so können wir sie nicht betrachten! Wir müssen uns auf einen anderen Standpunkt stellen und müssen sagen: Was sie auch immer der Welt gegeben hat, was sie erlebt hat, was sie im Innern durchgemacht hat, das gehört einer anderen Welt an, die gegenüber unserer Welt eine übersinnliche ist. Und solche Menschen sind vor allem ein Beweis dafür, daß der Mensch mit seiner Seele im übersinnlichen Dasein steht, und daß solche Seelen mit dem übersinnlichen Dasein etwas auszumachen haben und daß nur ein «Abfallprodukt» das ist, was sie der äußeren Welt übergeben von dem, was sie im ganzen durchzumachen haben.

Erst dann kommen wir zu einem richtigen Eindruck, wenn wir zu dem Strom, der sich im äußeren Menschen-geschehen abspielt, einen anderen, übersinnlichen Strom hinzufügen und sagen: Es geschieht etwas parallel mit dem sinnlichen Strome, und in dem Übersinnlichen sind solche Seelen eingebettet. Darin müssen sie leben, damit sie die Verbindungsglieder sind zwischen dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen. Sinnvoll erscheint das Dasein solcher Seelen erst, wenn wir ein übersinnliches Dasein annehmen können, in welches sie eingebettet sind. So schauen wir wenig von Lionardo, wenn wir auf sein äußeres Schaffen hinblicken; so bekommen wir eine Anschauung davon, daß diese Seele noch etwas abzumachen hat im übersinnlichen Dasein, und

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sagen uns dann: wir verstehen! - Damit diese Seele in ihrem Gesamtleben, das durch viele Erdenleben verläuft, immer der Menschheit dieses oder jenes offenbaren kann, mußte sie in jenem «Lionardo-Dasein» das durchmachen, daß nur das wenigste, was in dieser Seele war, zum äußeren Ausdruck hat kommen können. So sind solche Seelen wie die Lionardo-Seele selber rechte Welträtsel und Lebensrätsel, verkörperte Weltenrätsel.

Was ich heute ausführen wollte, sollte nicht in scharf abgezirkelten Begriffen hingestellt werden, sondern es sollte einen Hinweis darauf geben, wie man sich solchen Seelen nähern kann. Denn Geisteswissenschaft soll wahrhaftig nicht Theorien geben! Geisteswissenschaft soll durch alles, was sie vermag, das ganze Gefühls- und Empfindungsleben des Menschen ergreifen und soll selber Lebenselixier werden, soll so Lebenselixier werden, daß wir durch sie ein neues Verhältnis zu Welt und Leben gewinnen. Geister wie Lionardo sind ganz besonders geeignet, dazu anzuleiten, daß dieses neue Verhältnis zu Welt und Leben, das wir durch die Geisteswissenschaft gewinnen können, zur Welt komme. Wenn wir hinschauen auf Geister wie Lionardo, so können wir sagen: Rätselvoll treten sie ins Dasein, weil sie ein Größeres auszuleben haben, als ihnen ihr Zeitalter geben kann. Weil sie Früheres herüberbringen, treten Seelen wie Lionardo nicht nur in unscheinbarem Stande ins Dasein, sondern sogar so, wie Lionardo ins Leben tritt. Von einem mittelmäßigen Vater, und geboren von einer Mutter, die bald überhaupt ganz aus dem Gesichtskreis verschwindet, nachdem sie das natürliche Kind geboren hat, ward Lionardo erzogen unter mittelmäßigen Leuten. So sehen wir ihn ganz auf sich selbst gestellt und das zum Ausdruck bringend, was er aus früheren Leben herübergetragen hat. Gerade wenn wir auf die ungünstigen Verhältnisse seiner

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Geburt hinsehen, erkennen wir, daß sie nicht verhinderten, den größten Seeleninhalt zur Offenbarung kommen zu lassen.

So sehen wir Lionardos Seele so gesund, so umfassend, daß wir es nachfühlen können, wenn Goethe aus seiner großen Seele heraus sagt: «Regelmäßig, schön gebildet stand er als ein Mustermensch der Menschheit gegenüber, und wie des Auges Fassungskraft und Klarheit dem Verstande eigentlich angehört, so war Klarheit und Verständigkeit unserm Künstler vollkommen zu eigen.» Wenn wir diese Worte auf Lionardo anwenden wollen - und sie sind anwendbar -, dann können wir sie anwenden auf den jugendlichen Lionardo, der uns körperlich und geistig frisch, vollkommen, schaffensfreudig, weitenfreudig, weltensehnsüchtig zugleich entgegentritt - ein vollkommener Mensch, ein Mustermensch, zum Eroberer geboren, ein Mensch, der auch zum Humor geboren ist, denn das hat er bei den verschiedensten Gelegenheiten seines Lebens gezeigt. Und dann wenden wir den Blick zu jener Zeichnung hin, die als ein Selbstbildnis gilt und gelten darf, zu dem alten Manne, in dessen Gesicht vieles Erleben, vieles schwere, schmerzliche Erleben tiefe Furchen eingegraben hat, dessen Züge um den Mund herum uns die ganze Disharmonie andeuten, in der wir endlich den einsamen Mann sehen, fern von seinem Vaterlande, im Asyl bei dem König von Frankreich, noch ringend mit dem Weltendasein, aber einsam, verlassen, unverstanden, wenn auch geliebt von Freunden, die es nicht unterlassen haben, ihn zu begleiten.

So tritt uns die Größe dieses Geistes, die durch viel Leiden hindurchgeht, an Lionardo ganz besonders entgegen, wie sie sich hineinbegibt in diesen Leib, ihn erst vollkommen gestaltend und ihn dann, verbittert, verlassend. Wir schauen hinein in dieses Antlitz und fühlen den Genius der Menschheit

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selber uns aus diesem Menschenantlitz entgegenschauend. Ja, wir beginnen die Zeit zu begreifen, die Zeit der Abend - röte, in der Lionardo gelebt hat, und die Zeit, in der Kopernikus, Kepler, Giordano Bruno, Galilei gelebt haben, mit denen eine neue Morgenröte anbricht, und wir schauen alle die Beschränktheiten und Beengungen, die Lionardos große Seele erleben mußte. Wir verstehen das Zeitalter und verstehen den großen Künstler, der hinter allen menschlichen Mitteln steht, und der schließlich auch nur mit menschlichen Mitteln arbeiten kann. Wir müssen unser ganzes menschliches Verständnis hinzubringen und blicken in Lionardos Antlitz hinein, nachdem wir uns geisteswissenschaftlich dazu vertieft haben - und die ganze Natur des Zeitalters blickt uns aus diesem Antlitz entgegen. Ja, aus diesen verbitterten Gesichtszügen blickt uns entgegen der sich zunächst nach abwärts neigende Menschengeist. Wir müssen ihn so kennenlernen, damit wir wieder die ganze Größe der Kraft kennenlernen, die vorhanden sein mußte, damit ein Kopernikus, ein Kepler, ein Galilei, ein Giordano Bruno haben erstehen können.

Wahrhaftig, dann erst bekommen wir die richtige Ehrfurcht vor dem Gang und der Entwickelung des Menschengeistes, wenn wir jene Tragik, die wir gegenüber Giordano Brunos Scheiterhaufen empfinden, auch noch vertiefen lernen durch den Anblick der an dem vorhergehenden, niedergehenden Zeitalter ohnmächtig sich fühlenden Seele Lionardos. Lionardos Größe wird uns erst klar, wenn wir eine Ahnung von dem bekommen, was er nicht vermochte. Und das hängt mit etwas zusammen, in das wir zum Schluß die heutigen Betrachtungen zusammenfassen wollen. Das hängt damit zusammen, daß die menschliche Seele doch befriedigt, ja, beseligt sein kann beim Anblick der Unvollkommenheit, wenn auch am beseligtsten nicht beim Anblick der kleinen,

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sondern der großen Unvollkommenheit, beim Anblick jenes Schaffens, das wegen seiner Größe an der Ausführung erstirbt. Denn in den ersterbenden Kräften ahnen, ja schauen wir zuletzt die sich für die Zukunft vorbereitenden Kräfte, und in der Abendröte geht uns auf die Ahnung und die Hoffnung der Morgenröte.

Immerdar muß unsere Seele gegenüber der Menschheitsentwickelung so empfinden, daß wir uns sagen, alles Werden, es verläuft so, daß wir sehen: Da, wo das Geschaffene zur Ruine wird, da wissen wir, daß stets aus den Ruinen neues Leben blühen werde.

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IRRTÜMER DER GEISTESFORSCHUNG Berlin, 16. März 1913

Wenn es schon auf allen Gebieten des menschlichen Strebens und Forschens von einer großen Bedeutung ist, nicht nur die Wege der Wahrheit, sondern auch die Ouellen des Irr­tums zu kennen, so ist dies in ganz besonderem Maße der Fall auf dem Gebiete, von dem diese Vorträge hier handeln, auf dem Gebiete der Geistesforschung, der Geisteswissen­schaft. Auf diesem Gebiete hat man es ja nicht bloß mit Irrtumsquellen zu tun, die man sich gewissermaßen aus dem Wege schafft durch Urteil und Überlegung, sondern man hat es zu tun mit Irrtumsquellen, welche sich auf Schritt und Tritt bei der geistigen Wahrheitsforschung finden. Man hat es zu tun mit Irrtümern, die auf dem Wege zur Wahr­heit nicht bloß zu widerlegen sind, sondern welche zu über­winden, zu besiegen sind. Und nur dadurch, daß man sie kennt, daß man die entsprechenden Erlebnisse in ihrem Charakter als Irrtum ins geistige Auge fassen kann, ist man imstande, sich vor ihnen zu behüten und zu bewahren. Es ist nicht möglich, auf diesem Gebiete von einzelnen Wahr­heiten oder Irrtümern zu sprechen, sondern es ist notwen­dig, sich darüber klar zu werden, durch welche Verrich­tungen der Seele, durch welche Verirrungen der Seele der Mensch auf dem Wege der Geistesforschung in die Unwahr­heit hineinverfallen kann.

Nun ist es leicht begreiflich, daß derjenige, welcher im Sinne des in den bisherigen Vorträgen Ausgeführten sich hindurchringen will zu den übersinnlichen Welten, zunächst

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sozusagen ein gesundes Wahrnehmungsorgan braucht, ge­radeso, wie wir auf dem Gebiete der äußeren sinnlichen Beobachtung gesunde Sinne brauchen. Und das zweite ist, daß man außer dem Wahrnehmungsorgan eine entsprechende Ausbildung, eine vollständige Ausbildung und Klarheit des Bewußtseins habe, welches die entsprechenden Beobachtun­gen zu überschauen, zu beurteilen in der Lage ist. Auch in der gewöhnlichen sinnlichen Beobachtung des Lebens ist dies ja notwendig, daß wir nicht nur gesunde Sinne haben, sondern daß auch unser Bewußtsein gesund ist, das heißt, sich nicht umnebeln läßt, nicht benommen und nicht be­täubt, nicht in einer gewissen Weise gelähmt ist. Beide Eigenschaften des Seelenlebens auf einer höheren Stufe kommen noch mehr zur Bedeutung auf dem Gebiete der geistigen Forschung.

Um uns zu verständigen, wollen wir einen Vergleich aus der gewöhnlichen sinnlichen Beobachtung nehmen. An­genommen, es habe jemand zum Beispiel ein unnormal ent­wickeltes Auge. Dann wird er nicht in der Lage sein, mit diesem unnormal entwickelten Auge in unbefangener, rich­tiger Art die Dinge zu beobachten, welche gesehen werden sollen. Unter Hunderten und aber Hunderten von Bei­spielen, die angeführt werden können, soll nur das eine angeführt werden. Ein sehr bedeutender Naturforscher der Gegenwart, der ganz und gar nicht geneigt ist, sich irgend­welchen Täuschungen willkürlich hinzugeben, hatte einen gewissen Einschluß im Auge, und er hat in seinem Lebens-abriß angegeben, wie dieser Einschluß im Auge ihn ver­leitete, namentlich in Zeiten der Dämmerung die Dinge ungenau zu sehen, und durch das ungenaue Sehen zu einem falschen Urteil zu kommen. Er schildert zum Beispiel, er gehe oft durch die Dunkelheit, und durch den Einschluß im Auge sehe er irgendwelche Gestalt, die er für wirklich halte,

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die aber durch nichts anderes hervorgerufen wird als durch sein unnormales Auge. Er erzählt dann, wie er einmal in einer ihm fremden Stadt um die Ecke ging, und weil er die Stadt für unsicher hielt, verführte ihn sein Auge, jemanden zu sehen, der um die Ecke herum ihm entgegenkam und ihn anfallen wollte, und er zog sogar seine Waffe, um sich zu verteidigen. Er war also nicht einmal imstande, trotz der vollständigen Kenntnis seines Organes, die Situation richtig zu beurteilen, um das, was das Auge hervorrief, als ein Nichts zu erkennen. Und so können Fehler in allen unseren Sinnesorganen vorkommen. Das sei nur zum Ver­gleich angeführt.

Nun ist in den bisherigen Vorträgen ausgeführt worden, wie der Mensch durch gewisse intime Ausbildungen, Heranentwicklungen seiner Seele, sich zum wirklichen Geistesforscher ausbilden kann, wie er die wirklichen Geistes-Organe, durch die er in die übersinnliche Welt hineinschauen kann, in sich zur Entfaltung bringt. Auch diese geistigen Organe müssen in der richtigen Weise ausgebildet sein, wenn es möglich sein soll, ganz nach Analogie der sinn­lichen Wahrnehmung, nicht Karikaturen und Unwahr­haftigkeiten zu schauen, sondern das Wahre, Wirkliche der höheren, geistigen Wehen zu sehen. Nun hängt die Aus­bildung der höheren Geistorgane, die, wie wir gesehen haben, durch die richtig angewendeten Meditationen, Kon­zentrationen, Kontemplationen herbeigeführt werden kann, von dem Ausgangspunkte schon des gewöhnlichen Lebens ab. Ein jeder Mensch, der sich zur Anschauung der geistigen Welten heraufentwickeln will, muß ja - das ist ganz natür­lich und sachgemäß - seinen Ausgangspunkt von der ge­wöhnlichen Seelenentwickelung nehmen, von dem, was für das alltägliche Leben und auch für die gewöhnliche Wissen­schaft das Richtige, das Normale ist. Nur von diesem Ausgangspunkte

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aus, durch Hereinnehmen in die Seele derjeni­gen Vorstellungsarten, die wir als die Meditationen und als die anderen Übungen angeführt haben, kann die Seele zur Beobachtung der geistigen Weiten heraufrücken.

Da handelt es sich nun darum, daß im Ausgangspunkte, das heißt vor dem Beginn der geistigen Schulung, bei dem werdenden Geistesforscher eine gesunde Urteilskraft vor­handen sein muß, ein auf die wirklichen Verhältnisse gehen­des Urteilsvermögen. Jeder Ausgangspunkt, der nicht von einer gesunden, sich an die Dinge hingebenden Urteilskraft herkommt, ist vom Übel, denn er führt solche ungesunde geistige Beobachtungsorgane herbei, die sich vergleichen lassen mit nicht normal ausgebildeten Sinnesorganen. Und hier sind wir wieder auf dem Punkt, der an der einen oder anderen Stelle der bisherigen Vorträge schon erwähnt wor­den ist, und der zeigt, wie wichtig und bedeutungsvoll das ist, was man als das Seelenleben des Geistesforschers be­zeichnen kann, bevor er seine Ausbildung als Geistesfor­scher, seine geistesforscherische Schulung antritt. Ungesunde Urteilskraft, mangelhafte Fähigkeit, die Dinge in ihrer Wirklichkeit zu beobachten, führt dazu, daß der Mensch die Tatsachen und Wesenheiten der geistigen Welt verzerrt oder - wie wir heute noch sehen werden - in der mannig­faltigsten Weise unrichtig sieht. Das ist sozusagen der erste wichtige Satz für alle Entwicklung zur Geistesforschung. Gerade geisteswissenschaftliche Schulung macht notwendig, daß der Ausgangspunkt von einer gesunden Urteilskraft genommen werden muß, von einem solchen Interesse an den Dingen, das immer losgehen will auf die wahrhaftigen Zusammenhänge des Daseins, schon bevor der Weg zu den übersinnlichen Weiten beschritten wird. Alles, was sich in der Seele gern Täuschungen hingibt, was gern willkürlich urteilen will, was in der Seele eine gewisse ungesunde Logik

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darstellt, das alles führt auch zur Ausbildung ungesunder Geistorgane.

Der andere Ausgangspunkt, der von einer wesentlichen Bedeutung ist, ist die moralische Stimmung der Seele. Die moralische Tüchtigkeit, die moralische Kraft, sie ist ebenso wichtig wie die gesunde Logik, wie die gesunde Intellek­tualität. Denn führt die ungesunde Logik, führt die un­gesunde Intellektualität zu mangelhaft ausgebildeten Geist-Organen, so führt die schwachmütige oder unmoralische Stimmung, welche der in die geistigen Welten Aufsteigende vor dem Beginn der geistigen Schulung hat, zu einer ge­wissen Benebelung, Betäubung könnten wir es nennen, so daß er, wenn er den höheren Welten gegenübersteht, etwas hat, was man wie eine Art von Lähmung, sogar von Ohnmacht bezeichnen muß. Nur muß bemerkt werden, daß auf der Stufe der Seelenentwickelung, die hier gemeint ist, das, was Ohnmacht, was Betäubung genannt wurde, durch­aus nicht verglichen werden kann mit der Ohnmacht, mit der Lähmung des gewöhnlichen, alltäglichen Bewußtseins. Da bedeutet sie eine gewisse Bewußtlosigkeit gegenüber den Gebieten des Lebens. Auf dem geistigen Gebiete bedeutet Be­täubung, Umnebelung, das Durchsetztsein des Bewußtseins mit alledem, was noch aus der gewöhnlichen Sinneswelt oder aus dem gewöhnlichen Erleben des Tages stammen kann. Nicht in einem solchen Grade kann der im Irrtum befangene Geistesforscher umnebelt oder ohnmächtig sein wie das ge­wöhnliche Bewußtsein. Aber er kann den geistigen Welten gegenüber dadurch ohnmächtig sein, daß sich sein geistiges Bewußtseinsfeld erfüllt mit dem, was nur Berechtigung hat durch seine Eigenschaft, durch die Art seines Auftretens im gewöhnlichen sinnlichen und Verstandesbewußtsein. Da­durch, daß der Geistesforscher solches in die geistigen Wel­ten hinaufnimmt, trübt er sich sein höheres Bewußtsein.

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Man kann die Sache auch in der folgenden Weise dar­stellen. Bewußtseinstrübung, Beeinträchtigung der gewöhn­lichen Seelenart im alltäglichen Leben ist wie ein Hereinspielen des Schlafes oder des Träumens in das klare All­tagsbewußtsein. Betäubung, Benebelung des höheren, über­sinnlichen Bewußtseins ist aber wie ein Hereinspielen des gewöhnlichen Alltagsbewußtseins, desjenigen Bewußt­seins, das wir mit uns in der gewöhnlichen Welt herumtragen, in jenes Bewußtsein hinauf, in welchem es nicht mehr sein sollte, in das Bewußtsein, das rein und klar die Tatsachen der höheren, der übersinnlichen Welten beur­teilen und überschauen sollte. Jede Art unmoralischer oder schwachmoralischer Stimmung, jede Art von moralischer Unwahrhaftigkeit führt zu einer solchen Benebelung des übersinnlichen Bewußtseins. Daher gehört wiederum zu dem Wesentlichen und Bedeutungsvollsten im Ausgangspunkte der geisteswissenschaftlichen Schulung eine entsprechende moralische Verfassung, und wenn Sie meine Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» durch­nehmen, so werden Sie darin besondere Seelenmaßnahmen angegeben sehen, durch welche diese geeignete moralische Verfassung hergestellt werden kann.

Von besonderem Schaden ist nach dieser Richtung hin alles, was den Menschen im gewöhnlichen Leben befällt an Eitelkeit, an Ehrgeiz, an gewöhnlichem Selbstsinn, an einer gewissen Sympathie für diese oder jene Erlebnisse. Gelassenheit, Unbefangenheit, ein liebevolles Eingehen auf Dinge und Welten, ein aufmerksames Interesse auf alles, was sich im Leben darbieten kann, und ähnliche Dinge, namentlich aber ein gewisser moralischer Mut, ein gewisses Eintreten für das als wahr Erkannte, das sind richtige Aus­gangspunkte für eine geisteswissenschaftliche Schulung.

Es ist aus den bisherigen Vorträgen klar, daß alle geistige

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Schulung darauf beruht, daß gewisse geistige Kräfte, die in der Seele vorhanden sind, aber im gewöhnlichen Leben in derselben schlummern, aus dieser herausgeholt werden müssen. Denn die geistigen Organe und das übersinnliche Bewußtsein können sich nur dadurch entwickeln, daß die im gewöhnlichen Leben gar nicht oder nur schwach aus­gebildeten, in den Tiefen der Seele ruhenden Kräfte her­auskommen, wirklich ins Bewußtsein eindringen. Und auch das Folgende ging schon aus den bisherigen Betrach­tungen hervor. Zweierlei tritt auf, wenn der Mensch durch gehörige Meditation, durch Konzentrieren seines ganzen Seelenlebens auf einzelne, durch seine Willkür in das Be­wußtsein hereingerufene Vorstellungen diese in der Tiefe der Seele ruhenden Kräfte herauszuholen sucht. Erstens wird eine Eigenschaft, die sonst in der Seele immer vor­handen ist, die aber im gewöhnlichen Leben durch verhält­nismäßig leichte Maßnahmen besiegt werden kann, mit den anderen in den Tiefen der Seele sonst schlummernden Eigen­schaften mitverstärkt, mitgekräftigt. Denn anders geht die geistige Entwickelung nicht vor sich, als daß man in einer gewissen Beziehung das ganze Seelenleben innerlich reg­samer, energischer macht. Diejenige Eigenschaft, welche so mit dem, was man gerade zu verstärken sucht, mitverstärkt wird, ist das, was man den Selbstsinn, die Selbstliebe des Menschen nennen kann. Ja, man darf sagen, diesen Selbstsinn, diese Selbstliebe des Menschen lernt man eigentlich erst recht kennen, wenn man eine geisteswissenschaftliche Schulung durchmacht. Man weiß dann erst, wie tief diese Selbstliebe in des Menschen Seele vorhanden ist, dort schlummert. Wer durch die in den verflossenen Vorträgen geschilderten Übungen seine Seelenkräfte verstärkt, merkt zu einer bestimmten Zeit seiner Entwickelung, wie in sein Seelenleben eine andere Welt eintritt. Er muß aber zugleich,

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das gehört zu seiner geistigen Entwickelung, die Bemer­kung machen können, muß die Erkenntnis dafür haben können, daß die erste Gestalt der neuen, der übersinnlichen Welt, welche da auftritt, nichts anderes ist als ein Schatten­bild, eine Projektion seines eigenen inneren Seelenlebens. Was er in seinem Seelenleben herangebildet hat, diese Kräfte treten ihm zuerst wie in einem Spiegelbilde entgegen. Das ist es auch, weshalb der äußere materialistische Denker sehr leicht das, was beim Geistesforscher im Seelenleben auftritt, mit dem verwechseln kann, was beim krankhaften Seelen­leben an Illusionen, Halluzinationen, Visionen und der­gleichen auftreten kann. Daß ein von dieser Seite kommen­der Einwurf nur auf einer Unkenntnis der Tatsachen be­ruht, ist oft ausgeführt worden. Allein auf diesen Unter­schied muß immer wieder hingewiesen werden, daß das krankhafte Seelenleben, das aus sich heraus seine eigene Wesenheit wie in einem Spiegelbilde vor sich hat, dieses Spiegelbild für eine wirkliche Welt hält und diese Anschau­ung nicht durch innere Willkür wegzuschaffen in der Lage ist. Dagegen muß gerade in der richtigen Geistesschulung das enthalten sein, daß der Geistesforscher die ersten Er­scheinungen, die da auftreten, als Widerspiegelungen seines eigenen Wesens erkennt, und daß er sie nicht nur als solche erkennt, sondern daß er auch imstande ist, sie aus seinem Bewußtseinsfeld hinwegzuschaffen, auszulöschen.

Wie der Geistesforscher auf der einen Seite durch seine Übungen dazu kommt, seine Seelenkräfte zu verstärken, so daß sie ihm eine neue Welt vorzaubern, so muß er auf der anderen Seite wieder imstande sein, diese ganze Welt in ihrer ersten Gestalt auszulöschen, muß sie nicht nur als ein Spiegelbild seines eigenen Wesens erkennen, sondern auch wieder auslöschen können. Wenn er dazu nicht im­stande ist, dann ist er in einer Lage, die sich vergleichen

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läßt mit einer solchen, welche, wenn sie entsprechend in der Sinnesbeobachtung auftreten würde, ganz unerträglich, ganz unmöglich für eine wirkliche Entwickelung der Menschenseele wäre. Nehmen wir an, in der gewöhnlichen Sinnesbeobachtung würde der Mensch, wenn er seine Augen auf einen Gegenstand richtet, von diesem so angezogen werden, daß er nicht wieder den Blick frei wegwenden könnte. Der Mensch würde also nicht mehr imstande sein, den Blick frei herumschweifen zu lassen, sondern würde von dem Gegen-stande festgehalten werden. Das ware eine unerträgliche Lage gegenüber der äußeren Welt. Genau dasselbe würde es bei einer geistigen Entwickelung in bezug auf die über­sinnliche Welt bedeuten, wenn der Mensch nicht in der Lage wäre, sozusagen das geistige Beobachtungsorgan herumzuwenden und wieder. auszulöschen, was sich seinem geistigen Beobachtungsorgan als Bild darbietet. Denn nur, wenn er die Probe machen kann: Du kannst dein Bild auslöschen -, und es dann doch, nachdem er sich zuerst in diesem Aus­löschen überwunden hat, in der entsprechenden Weise wiederkommt, so daß er seine Wirklichkeit in der entspre­chenden Weise kennenlernen kann, dann nur steht er der Wirklichkeit und nicht seiner eigenen Einbildung gegen­über. So muß der Geistesforscher nicht nur seine geistigen Erscheinungen herstellen können, an sie herandringen kön­nen, sondern er muß sie auch wieder auslöschen können. Was bedeutet das aber?

Es bedeutet nichts Geringeres als die Notwendigkeit einer ungeheuer starken Kraft, die notwendig ist zur Besiegung des Selbstsinnes, der Eigenliebe. Denn warum sieht das un­normale Seelenleben, das zu Halluzinationen, Visionen, Wahnvorstellungen kommt, diese Gebilde als Wirklich­keiten und nicht als Ausflüsse seines eigenen Wesens an? Eben deshalb, weil der Mensch sich mit dem, was er selber

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hervorbringt, womit er zusammenhängt, so verbunden fühlt, daß er sich selber wie vernichtet glaubt, wenn er das, was er selber hervorbringt, nicht als eine Wirklichkeit an­sehen könnte. Und wenn der Mensch aus der gewöhnlichen Welt heraustritt und sein Seelenleben nicht normal ist, dann verstärkt sich die Selbstliebe so, daß sie wie eine Naturkraft wirkt.

Innerhalb des gewöhnlichen Seelenlebens können wir sehr genau unterscheiden, was sozusagen Phantasie-Einbildung oder was Wirklichkeit ist. Denn innerhalb des gewöhn­lichen Seelenlebens haben wir eine gewisse Kraft über unsere Vorstellungen. Jeder kennt diese Kraft, welche die Seele über die Vorstellungen hat, wodurch sie in der Lage ist, gewisse Vorstellungen wegzuschaffen, wenn ihre Irrtüm­lichkeit erkannt ist. In einer anderen Weise stehen wir der Außenwelt gegenüber, wenn wir den Naturkräften gegen­überstehen. Wenn der Blitz zuckt, wenn der Donner rollt, da müssen wir die Erscheinungen ablaufen lassen, da kön­nen wir nicht dem Blitz verbieten, zu zucken oder dem Donner verbieten, zu rollen. Aber mit derselben inneren Kraft tritt bei uns der Selbstsinn auf, wenn wir aus dem gewöhnlichen Seelenleben herausgehen. Und ebensowenig, wie man dem Blitz verbieten kann, zu leuchten, so wenig kann man der zu einer Naturkraft erwachsenen Selbstliebe verbieten, wenn sie nur eine Widerspiegelung des Eigen­wesens ist, das, was sich der Seele so als Bild des eigenen Wesens darstellt, als eine wirkliche äußere Welt aufzu­fassen.

Daraus ist also ersichtlich, daß des Geistesforschers Selbsterziehung vor allen Dingen darauf gerichtet sein muß, Stück für Stück Selbstliebe, Eigensinn, Selbstsinn zu besiegen. Und nur, wenn dies auf jeder Stufe der Geistesentwickelung durch eine scharfe Selbstbeobachtung versucht wird, kommt

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man zuletzt dazu, wenn eine geistige Welt, wie sie geschil­dert worden ist, vor uns auftritt, diese auch auslöschen zu können, das heißt, in der Lage zu sein, dasjenige, was man zuerst mit allen möglichen Anstrengungen herbeigeführt hat, wiederum wie in die Vergessenheit herunterfallen zu lassen. Es muß - was man genauer in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höherenWelten?» dargestellt finden kann -zur geistigen Schulung hier etwas entwickelt werden, was im gewöhnlichen Leben gar nicht eigentlich in des Menschen Willkür gestellt ist.

Wenn der Mensch im gewöhnlichen Leben etwas zu tun unternimmt, so will er es; wenn er irgend etwas unterläßt, so will er es nicht. Man muß sagen, der Mensch ist im ge­wöhnlichen Leben in der Lage, seine Willensimpulse anzu­wenden. Damit aber die in der geschilderten Weise auf­tretende geistige Welt ausgelöscht werden kann, muß der Wille nicht nur die eben geschilderte Fähigkeit haben, son­dern er muß, nachdem die geistige Welt auftritt, sich lang­sam, Stück für Stück, abschwächen können bis zur völligen Willenslosigkeit, bis eben die Auslöschung erfolgt ist. Eine solche Ausbildung des Willens wird eben nur erlangt, wenn die in dem genannten Buche geschilderten Übungen syste­matisch von der Seele durchgeführt werden.

Das ist auf der einen Seite das, was in unserer Seele ver­stärkt wird, wenn wir die in ihr schlummernden Kräfte energischer machen wollen: die Selbstliebe, der Selbstsinn, und diese Verstärkung führt uns immerzu dahin, daß wir unter Umständen dasjenige, was wir eigentlich selber sind, was nur in uns selber liegt, für eine äußere Wirklichkeit halten. Ein anderes, das auftritt, wenn die Seele die ent­sprechenden Übungen zur geistigen Schulung durchmacht, ist, daß der Mensch auf einer bestimmten Stufe dieser Ent­wickelung im Grunde genommen mit seinem Bewußtsein

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alles verlassen muß, was ihm im bisherigen Leben, im äußeren Alltagsleben und in der gewöhnlichen Wissenschaft Wahr­heitshalt und Wahrheitssicherheit gibt, was ihm die Mög­lichkeit gibt, etwas als Wirklichkeit anzuerkennen. Das wird auch schon aus den bereits gehaltenen Vorträgen hervor­gegangen sein, daß alle Stützen, die wir für unser Urteilen im gewöhnlichen Leben haben, daß alle Anhaltspunkte, die uns die Sinneswelt gibt und die uns lehren, wie wir von der Wahrheit zu denken haben, verlassen werden müssen. Denn wir wollen ja eben durch die Geistesschulung in eine höhere Welt eintreten. Wenn der Geistesforscher nunmehr auf einer entsprechenden Stufe seiner Entwickelung sieht:

Du kannst nicht mehr in der Welt, in die du da eintreten willst, irgendwie einen Halt haben an der äußeren Sinneswahrnehmung, du kannst auch nicht an dem, was du dir als dein Verstandesurteil heranerzogen hast, das dich sonst durch das Leben richtig führt, einen Halt haben -, dann kommt der Moment, der bedeutungsvoll und ernst im Leben des Geistesforschers ist, wo er sich so fühlt, wie wenn ihm der Boden unter den Füßen entzogen ist, wie wenn der Halt fort ist, den er im gewöhnlichen Leben gehabt hat, wie wenn alle Sicherheit dahin wäre, und wie wenn er einem Abgrunde entgegen ginge und mit jedem weiteren Schrotte in einen Abgrund hineinfallen müßte. Dies muß in einer gewissen Beziehung ein Erlebnis der Geistesschulung werden. Daß es ein Erlebnis wird, welches nicht mit allen möglichen Ge­fahren verknüpft ist, dafür sorgt eine wirkliche Geistes-schulung, die auf der Höhe der Gegenwart steht.

Das ist ebenfalls weiter auszuführen versucht worden in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» Wenn man die dort angegebenen Übungen durchmacht, kommt man Schritt für Schritt zu einem Punkte, wo man das fühlt, was jetzt geschildert worden ist, wo

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man sich fühlt wie über einem Abgrunde. Aber man ist bereits in seiner Seele so ruhig geworden, daß man die Situation mit einer nun erlangten besonderen Urteilsfähig­keit überschaut, so daß nicht das auftritt, was sonst in die menschliche Seele gefahrvoll hereinbrechen müßte an Furcht, an Schrecken und Grausen, doch nicht als die gewöhnliche Furcht und so weiter des Alltages. Man lernt sie kennen, die Gründe zu Furcht, Schrecken und Grausen, aber man hat sich bereits, wenn man so weit ist, zu einer Verfassung erhoben, daß man es aushalten kann ohne Furcht.

Da haben wir wieder einen Punkt, wo es notwendig ist, daß die Seele die Wahrheit erkennen muß und nicht in den Irrtum hineinfallen darf, weil der Halt, den man im ge­wöhnlichen Leben hat, dahinschwindet, und die Seele wie über einen Abgrund gestellt sich fühlt. Das muß eintreten, damit aus dem Leeren heraus das volle Geistige der Welt an die Seele herantreten kann. Was man im gewöhnlichen Leben Ängstlichkeit, Furchtsamkeit nennt, das wird durch eine solche Schulung ebenso verstärkt, vergrößert, wie Selbstsinn und Eigenliebe verstärkt und vergrößert werden. Sie erwachsen sozusagen wie zu einer Art Naturkraft. Und hier muß etwas gesagt werden, was vielleicht paradox klin­gen könnte. Wir können im gewöhnlichen Leben, wenn wir uns nicht zu einem gewissen Mut durchgerungen haben, wenn wir sozusagen Hasenfüße sind, vor diesem oder jenem Ereignis erschrecken. Wenn wir das aber nicht sind, halten wir es aus. Auf dem geschilderten Gebiete des Seelenlebens treten Furcht und Schrecken und Grausen an uns heran, aber wir müssen sozusagen in der Lage sein, uns vor der Furcht nicht zu fürchten, uns vor dem Schrecken nicht zu erschrecken, uns vor der Ängstlichkeit nicht zu ängstigen. Das ist das Paradoxe, aber es entspricht durchaus einem wirklichen Seelenerlebnis, das auf diesem Gebiete auftritt.

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Alles, was der Mensch so beim Eintritt in die geistige Welt erlebt, wird gewöhnlich als ein Erlebnis bezeichnet, was man nennt das Erlebnis mit dem Hüter der Schwelle. Einiges Konkrete über dieses Erlebnis habe ich in meinem Mysteriendrama «Der Hüter der Schwelle» auszuführen versucht. Hier soll nur erwähnt werden, daß der Mensch auf einer bestimmten Stufe der geistigen Entwickelung sein eigenes Inneres kennenlernt, wie es sich selbst lieben kann mit der Kraft eines Naturereignisses, wie es in Furcht und Angst versetzt werden kann gegenüber dem Eintreten in die geistige Welt. Dieses Erlebnis des eigenen Selbstes, des verstärkten eigenen Selbstes desjenigen Innern, das uns sonst gar nicht vor die Seele tritt, das ist das erschütternde Ereignis, das man die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle nennt. Und dadurch, daß man diese Begegnung hat, erlangt man erst die Fähigkeit, Wahrheit in der gei­stigen Welt von Irrtum zu unterscheiden.

Es wird leicht begreiflich sein, warum man dieses Erleb­nis die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle nennt. Es ist ja klar, daß die geistige Welt, in welche da der Mensch eintritt, immer um uns herum ist, und daß der Mensch ihr im gewöhnlichen Leben nur deshalb nicht gegenübersteht, weil er nicht die entsprechenden Wahrnehmungsorgane für sie hat. Die geistige Welt umgibt uns immer, und sie ist auch immer hinter dem, was die Sinne wahrnehmen. Aber bevor der Mensch in sie eintreten kann, muß er sein Ich verstärken. Mit der Verstärkung des Ichs treten aber die genannten Eigenschaften auf. Daher muß er vor allen Din­gen sich kennenlernen, damit er, wenn er einer geistigen Außenwelt so gegenübertreten kann, wie er sich einer ob­jektiven Wesenheit gegenüberstelit, sich abgrenzen kann von dem, was die Wahrheit ist. Lernt er sich nicht so ab­grenzen, dann vermischt er immerzu das, was nur in ihm

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ist, was nur seine eigenen subjektiven Erlebnisse sind, mit dem geistigen Weltbilde, und er kann nie zu einem wirk­lichen Erfassen der geistigen Wirklichkeit kommen.

Inwiefern die Furcht eine gewisse Rolle beim Eintritt in die geistigen Welten spielt, das können wir besonders an den Menschen sehen, welche diese geistige Welt ableug­nen. Unter diesen Menschen gibt es ja viele, die auch andere Gründe zur Ableugnung dieser geistigen Weit haben. Aber ein großer Teil derjenigen Menschen, die theoretische Ma­terialisten oder materialistisch gefärbte Monisten sind, leugnet aus einem bestimmten Grunde, der für den Seelenkenner ganz ersichtlich ist, diese geistige Welt ab. Dazu mussen wir jetzt hervorheben, daß das Seelenleben des Menschen gewissermaßen ein doppeltes ist. In der Seele ist nicht nur das vorhanden, wovon der Mensch gewöhnlich weiß, sondern in den tiefen Untergründen des Seelenlebens gehen Dinge vor, die ihre Schatten, oder ihre Lichter, heraufwerfen in das gewöhnliche Bewußtsein. Aber das ge­wöhnliche Bewußtsein reicht nicht bis zu ihnen hinunter. Wir können in den verborgenen Seelentiefen Haß und Liebe, Freude und Furcht und Aufgeregtheit haben, ohne daß wir diese Affekte im bewußten Seelenleben tragen. Daher ist es durchaus richtig, daß für eine besondere Er­scheinung des Hasses von einer Person zur anderen, der im Bewußtsein spielt, schuld sein kann eine in den Tiefen der Seele eigentlich wurzelnde Liebe. Es kann eine Sympathie, eine tiefe Sympathie in den tiefen Untergründen der Seele bei einer Person für eine andere vorhanden sein. Aber weil diese Person zugleich Gründe hat, über die sie vielleicht auch nichts weiß, deshalb betäubt sie sich über diese Liebe, über diese Sympathie, und täuscht sich Haß und Antipathie vor.

Das ist etwas, was in den Untergründen unserer Seele

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waltet, so daß es in den Tiefen der Seele ganz anders aus­schauen kann als in dem, was wir das Oberbewußtsein nennen. So können Furchtzustände, Angstzustände in den Tiefen der Seele sein, ohne daß der Mensch in seinem ge­wöhnlichen Oberbewußtsein etwas davon weiß. Es kann der Mensch jene Furcht, jene Angst vor der geistigen Welt - weil er den Abgrund, der geschildert worden ist, über­schreiten muß, bevor er in sie eintritt - in den Tiefen seiner Seele haben, aber in seinem Oberbewußtsein nichts davon merken. Ja, im Grunde genommen haben alle Menschen, die noch nicht in die geistige Welt eingetreten sind, aber sich ein Verständnis dafür angeeignet haben, in einem ge­wissen Grade diesen Schrecken, diese Furcht vor der geisti­gen Welt. Was man auch über diese Furcht und Angst denken mag, die auf dem Grunde der Seele sind - sie treten nur bei dem einen stärker, bei dem anderen schwä­cher auf. Und weil die Seele dadurch Schaden nehmen könnte, deshalb ist der Mensch durch die weise Einrichtung seines Wesens davor geschützt, daß er so ohne weiteres in die geistige Welt hineinschauen kann, so daß er das Erleb­nis mit dem Hüter der Schwelle erst haben kann, wenn er dazu reif ist. Sonst ist er davor geschützt. Daher spricht man von dem Erlebnis mit dem Hüter der Schwelle.

Nun können wir bei den materialistisch oder monistisch gesinnten Menschen merken, daß sie zwar nichts von die­sem Erlebnis wissen, daß aber doch in den Tiefen ihrer Seelen diese Furcht vor der geistigen Welt vorhanden ist. Es lebt in ihnen eine gewisse Antipathie vor dem Abgrund, den man zu überschreiten hat. Über diese Furcht, über diese in der Seele sitzende Angst vor der geistigen Welt helfen sich die Materialisten oder Monisten hinweg, indem sie ihre Theorien ersinnen und die geistige Welt ableugnen, und die Ableugnung ist nichts anderes als die Betäubung vor

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ihrer Furcht. Das ist der wirkliche Erklärungsgrund für den Materialismus. So unsympathisch es klingen mag, für den Seelenkenner ist es ersichtlich, daß in einer Versamm­lung von materialistischen Monisten, von Seelen- oder Gei­stesleugnern, auf dem Grunde ihrer Seelen nur die Furcht vor der geistigen Welt ruht. Man könnte spotten und sagen, die besondere Angstmeierei sei der Grund des Materialis­mus. Aber wenn man auch spottet, wahr ist es doch. In den materialistischen Schriften, in den materialistischen Welt­anschauungen erkennt der Geistesforscher zwischen den Zeilen überall hervorschauend die Furcht und die Angst vor der geistigen Welt.

Was aber für das gewöhnliche Leben als Materialismus auftritt, als die Seelenverfassung, die vorhanden ist, wenn der Mensch Materialist oder materialistisch gefärbter Monist ist, das kann auch vorhanden sein, wenn der Mensch durch bestimmte Maßnahmen zu einem gewissen geistigen Schauen kommt. Denn man kann gewisse Übungen in seiner Seele durchmachen. Man kann auch durch das Ausgehen von einem mehr oder weniger krankhaften Seelenleben zu einem mehr oder weniger geistigen Erfassen kommen, braucht aber darum noch nicht zu einem wirklichen Verständnis des Wesens der geistigen Welt zu kommen. Man kann in einer gewissen Weise das, was eben charakterisiert worden ist, was den materialistisch gesinnten Menschen in der gewöhn­lichen Welt ausmacht, auch hinauftragen in die geistige Welt, etwas, das wie die Furcht ist, wovon man nichts weiß. Man kann etwas hinauftragen, wenn man auch den Zusam­menhang nicht durchschaut, was im gewöhnlichen Leben ungeheuer verbreitet ist: die Bequemlichkeit des Denkens, die Bequemlichkeit des Fühlens.

Die Furcht ist verwandt mit der Bequemlichkeit, mit dem Hängen an Gewohnheiten. Denn warum fürchtet sich

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der Mensch vor einer Veränderung seiner Lage? Weil er bequem ist! Diese Bequemlichkeit ist mit der Furcht ver­wandt. Wenn wir vorhin auf der einen Seite schilderten, was manchmal der Grund für den Haß ist, so kann man von der Furcht auch sagen, die Lässigkeit, die Bequemlich­keit ist damit verwandt. Aber man kann die Bequemlich­keit hinauftragen in die geistige Welt. Niemand darf nun einwenden, daß die Menschen, auf die gleich hingewiesen werden soll, nichts von der Furcht oder der Bequemlichkeit verraten, denn das ist wieder das Charakteristische, daß die gewöhnliche Seelenstimmung nichts davon weiß, daß diese Dinge im Unterbewußten wurzeln. Wenn der Mensch die Furcht mit in die geistigen Welten hinaufträgt, nach­dem er sich also schon dazu entwickelt hat, die geistigen Welten anzuerkennen, dann entsteht da eine Verirrung auf einem geistigen Gebiete, die außerordentlich wichtig ist zu beachten: der Hang zum Phänomenalismus.

Die Menschen, welche diesem Hange unterliegen, werden statt Geistesforscher, wenn man sich kraß ausdrücken will, Gespensterschauer; sie werden besessen von einem Hang zum Phänomenalismus. Das heißt, sie wollen die geistigen Welten so schauen, wie auch die Sinneswelten sich schauen lassen. Sie wollen nicht geistige Tatsachen, nicht geistige Wesenheiten wahrnehmen, sondern etwas Ähnliches wie ein Wesen, welches das Sinnesauge schauen kann, kurz, sie wollen statt Geister Gespenster schauen. Die Verirrungen des Spiritismus - wobei nicht etwa gesagt werden soll, daß aller Spiritismus unberechtigt ist - beruhen durchaus auf diesem Hang zum Phänomenalismus. Wenn der gewöhn­liche Materialist des Alltags überall nur Materie sehen will und nicht den Geist hinter der Materie, so will der, welcher dieselbe Seelenverfassung, die im Grunde genommen auch im Materialismus vorhanden ist, den geistigen Welten entgegenbringt,

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nur überall wie bis zum Gespensterhaften ver­dichtete Geister schauen.

Das ist das eine gefährliche Irrtums-Extrem, wozu es kommen kann. Man muß sagen, dieser Hang, das gewöhn­liche Bewußtseinsfeld hinaufzutragen in das übersinnliche Bewußtseinsfeld, ist im weitesten Umfange auch bei denen vorhanden, die voller Anerkennung für eine geistige Welt sind, die sogar möchten, daß Beweise geliefert werden für eine geistige Welt. Aber der Irrtum liegt schon in dem, daß sie nur solche Beweise zulassen wollen, die im Gebiete des Phänomenalismus verlaufen, daß alles wie bis zum Gespen­stigen verdichtet sein soll. Hier tritt das ein, was im Be­ginne unserer heutigen Betrachtung die Betäubung, die Ohnmacht gegenüber der geistigen Welt genannt worden ist. Während Ohnmacht im gewöhnlichen Leben ein Her-einspielen eines Schlaf- oder Traumzustandes ist, bedeutet gegenüber der geistigen Welt das nur Geltenlassenwollen dessen, was so aussieht, wie die Dinge der gewöhnlichen Welt, daß man ohnmächtig ist gegenüber den geistigen Wel­ten. Denn man verlangt, daß Beweise geliefert werden sol­len, welche ganz nach Art und Eigenschaft der gewöhn­lichen Welt zu nehmen seien. Wie man den Schlaf in die gewöhnliche Welt hineinnimmt, wenn man ohnmächtig wird, so wird man gegenüber den Wesenheiten und Vor­gängen der geistigen Welt ohnmächtig, wenn man das, was nur ein Extrakt des Sinnlichen ist, in die übersinnliche Welt hereinnimmt.

Wer ein wirklicher Geistesforscher ist, der kennt auch diese Gebiete der geistigen Welt, die sich bis zum Gespen­sterhaften verdichten, aber er weiß, daß alles das, was bis zu einer solchen Verdichtung kommt, lediglich das Abster­bende, das Vertrocknende in der geistigen Welt ist. Wenn also zum Beispiel mit Zuhilfenahme eines Mediums etwas

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zutage gefördert wird als Gedanken eines verstorbenen Menschen, dann haben wir es nur mit dem zu tun, was von dem Verstorbenen sozusagen zurückgeblieben ist. Dann haben wir nicht das vor uns, was durch die Pforte des Todes geht, die geistige Welt durchschreitet und in einem neuen Erdenleben wieder auftritt; dann haben wir es nicht mit dem zu tun, was in der Individualität des verstorbenen Menschen vorhanden ist, sondern mit dem, was in der Schale ist, was abgeworfen wird, wie die verholzenden Teile eines Baumes oder wie die Schale eines Schalentieres, oder wie die Haut einer Schlange abgeworfen wird.

So werden fortwährend von den Wesen der geistigen Welt solche Hülsen, solche unbrauchbaren Dinge abgewor­fen, und die können dann durch Medialität, aber eben als Unrealität, sichtbar, wahrnehmbar gemacht werden. Der Geistesforscher weiß allerdings, daß er es nicht mit Un­realitäten zu tun hat. Aber er gibt sich nicht dem Irrtume hin, daß er es bei den angedeuteten Erscheinungen mit etwas Fruchtbarem, mit etwas Sprießendem und Sprossen­dem zu tun hat, sondern mit etwas Absterbendem, Ver­trocknendem. Und es muß gleich hervorgehoben werden:

Während man es im Gebiete der Sinneswelt mit etwas zu tun hat, was man fallenlassen muß, wenn man einen Irrtum vor sich hat, was man ausschalten muß, sobald man es als Irrtum erkannt hat, hat man es nicht in derselben Weise mit dem Irrtum in der geistigen Welt zu tun. Sondern dort entspricht der Irrtum eben dem Absterbenden, dem Ver­trocknenden, und der Irrtum besteht darin, daß man das Absterbende, das Vertrocknende in der geistigen Welt für ein Fruchtbares oder Bedeutungsvolles hält. Also schon im Leben der gewöhnlichen Menschen ist der Irrtum das, was man wegwirft. In der geistigen Welt entsteht der Irrtum dadurch, daß man das Tote, das Absterbende für ein Sprießendes,

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Fruchtbares hält, indem man das, was von den Verstorbenen abgeworfen wird, als für die Unsterblichkeit bestimmt hält.

Wie tief auch die besten Geister unserer Zeit in diese Art von Phänomenalismus verrannt sind und nur solche charak­terisierten Beweise gelten lassen wollen, das können wir besonders wieder bei einem Geiste sehen, der ja manches Feine über die Welt geschrieben hat, und der jetzt ein Buch über diese verschiedenen Erscheinungen der Geistesforschung geschrieben hat. Ich meine Maurice Maeterlinck und sein Buch «Vom Tode». Wir lesen da, wie er immer geneigt ist, eine geistige Welt gelten zu lassen, aber als Beweise nur das hinzunehmen geneigt ist, was im Phänomenalismus auftritt. Und dann merkt er nicht, wie er versucht, dasjenige, was man niemals im Phänomenalismus auftreten lassen kann, im Phänomenalismus auftreten zu lassen. Dann kritisiert er die Phänomene, sehr scharfsinnig, sehr schön. Aber er bemerkt, daß das alles im Grunde genommen nichts Beson­deres bedeute, und daß die Menschenseele nach dem Tode nicht eine besonders tiefe Lebendigkeit zeige, daß sie sich wie ungeschickt und im Finstern tappend benimmt. Weil er aber nur diese entsprechende Art der Beweise anerkennen will, deshalb kommt er überhaupt nicht zu einer Anerken­nung der Geistesforschung, sondern er bleibt stecken. Und wir sehen, wie sich die Irrtumsmöglichkeit auftut bei je­mandem, der gern die geistige Welt anerkennen möchte, der sie aber deshalb nicht anerkennen kann, weil er nicht Geistesforschung sondern Gespensterforschung verlangt und sich nicht an das wenden will, was die Wirklichkeit geben kann. Gerade sein neuestes Buch ist von diesem Ge­sichtspunkte aus außerordentlich interessant.

So haben wir in dem Hang zum Phänomenalismus das eine Extrem der Irrtumsmöglichkeit der Geistesforschung.

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Das andere Extrem der Irrtumsmöglichkeit ist die Ekstase, und im Grunde genommen liegt zwischen dem Phänome­nalismus und der Ekstase, indem man beide kennt, die Wahrheit, oder wenigstens ist sie zu erreichen, indem man beide kennt. Aber der Weg zum Irrtum liegt sowohl nach der Seite des Phänomenalismus wie nach der Seite der Ek­stase. Wir haben gesehen, welche Seelenverfassung in das bloße Anerkennenwollen des Phänomenalismus hineinführt. Es ist Furcht, Schrecken, die sich der Mensch nur nicht ge­steht, die er gerade herunterdrängen will. Weil er scheut, alles Sinnliche zu verlassen und den Sprung über den Ab­grund zu tun, deshalb nimmt er das Sinnliche, fordert das Gespenstige und kommt dadurch nur zu dem Absterben­den, zu dem Sich-Ertötenden. Das ist die eine Irrtumsquelle.

Die andere Kraft der Seele, die sich durch die oft hier geschilderten Übungen verstärkt, ist die Selbstliebe, der Selbstsinn. Die Selbstliebe hat zu ihrem anderen Pol das «Außersichkommen». Das - verzeihen Sie den Ausdruck, er ist zwar radikal gewählt, aber bezeichnet doch das, um was es sich handelt - das «In-sich-seinen-Gefallen-Finden» ist nur die eine Seite. Die andere besteht in dem «Sich-an-die-Welt-Verlieren», in dem Sichhingeben und Aufgehen und Sichwohlfühlen in dem andern, und die entsprechende Verstärkung dieses selbstsüchtigen Außersichkommens ist die Ekstase in ihrem Extrem. Das ist die Herbeiführung eines Zustandes, wobei der Mensch in einer gewissen Be­ziehung sich sagen kann, er sei von sich losgekommen. Aber er ist nur so von sich losgekommen, daß er in dem Außer­sichsein eigentlich so recht das Wohlsein seines Selbstes fühlt.

Nun, wenn der Seelenkenner die mystische Entwickelung der Welt durchgeht, so findet er, daß ein großer Teil der Mystik auf der eben charakterisierten Erscheinung beruht.

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So Großes, so Gewaltiges im Seelenerleben, so Tiefes und Bedeutsames die Mystik auf der einen Seite zutage fördern kann - die Irrtumsmöglichkeiten der Ekstase wurzeln im Grunde genommen in der falschen Ausbildung des mysti­schen Sinnes des Menschen. Wenn der Mensch danach strebt, immer mehr und mehr in sich hineinzugehen, wenn er so­zusagen durch das, was er oftmals die Vertiefung seines Seelenlebens nennt, danach strebt, wie er sagt, «in sich den Gott zu finden», so ist dieser Gott, den der Mensch in sei­nem Inneren findet, oft nichts anderes als sein eigenes, zum Gott gemachtes Ich. Bei vielen Mystikern finden wir, wenn sie von dem «Gott im Innern» sprechen, nichts anderes als das zum Gott hinaufgestempelte Ich. Und mystische In-Gott-Versenkung ist manchmal nichts anderes als Versen­kung in das eigene liebe Ich, namentlich in Partien des eigenen Ichs, in die man nicht mit dem vollen Bewußtsein hineindringt, so daß man sich an dasselbe hingibt, sich an dasselbe verliert, außer sich kommt, und doch nur in sich bleibt. Vieles, was als Mystik uns entgegentritt, zeigt, wie Gottesliebe oft nur verkappte Selbstliebe bei den falschen Mystikern ist.

Der wirkliche Geistesforscher, der sich auf der einen Seite hüten muß vor dem Hereintragen der äußeren Sinneswelt in die höheren Welten, er muß sich auf der anderen Seite auch vor dem anderen Extrem hüten, vor der falschen My­stik, dem Außersichkommen. Er darf nie verwechseln die Liebe zum geistigen Wesen der Welt mit Selbstliebe. In dem Augenblick, wo er dies verwechselt, tritt dann - wie der wirkliche Geistesforscher, der sich richtig entwickelt, kon­statieren kann - das Folgende ein. Wie der nach dem Phä­nomenalismus Drängende nur gleichsam die Abfälle, das Sich-Ertötende der geistigen Welt schaut, so sieht der, wel­cher sich nur dem anderen Extrem hingibt, nicht geistige

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Tatsachen und Wesenheiten, sondern nur ihre einzelnen Teile. Er macht in der geistigen Welt das, was etwa nicht der macht, welcher die Blumen einer Wiese betrachtet, son­dern was derjenige macht, der das, was auf dem Felde wächst, abtrennt, zerteilt, zerkocht und ißt. Der Vergleich ist ja sonderbar, aber durchaus zutreffend. Durch die Ek­stase werden die geistigen Tatsachen nicht in ihrer Ganzheit, nicht in ihrer Totalität erfaßt, sondern nur in dem, was der eigenen Seele wohltut und frommt, was sie geistig verzehren kann. Im Grunde genommen ist es ein Verzehren geistiger Substantialität, was sich durch die Ekstase im Menschen ausbildet. Und ebensowenig, wie man die Dinge dieser Sinneswelt in ihrem innern Wesen dadurch erkennt, daß man sie ißt, ebensowenig erkennt man die Kräfte und We­senheiten der geistigen Welt dadurch, daß man sich in Ek­stase begibt, um nur das eigene Selbst zu durchglühen mit dem, was einem wohltut. Man kommt da nur zu einer be­stimmten Erkenntnis des eigenen Selbst im Verhältnis zur geistigen Welt. Man lebt nur in einem gesteigerten Selbstsinn, in einer gesteigerten Selbstliebe, und weil man aus der geistigen Welt nur das hereinnimmt, was man geistig ver­zehren kann, was man geistig essen kann, macht man sich dessen verlustig, was man nicht so behandeln kann, was außer dem durch die Ekstase zu Genießenden steht. Das ist aber der größte Teil der geistigen Welt. Dadurch verarmt der in der Ekstase stehende Mystiker immer mehr und mehr, und wir finden bei dem durch die Ekstase in die geistige Welt aufsteigenden Mystiker so recht, wie er in sich immer wiederholenden Gefühlen und Empfindungen schwelgt. Manche Darstellung nimmt sich so aus, daß man herausfühlt nicht eine objektive Darstellung der Verhält­nisse der geistigen Welt, sondern das Schwelgen desjenigen, der die Darstellung gegeben hat, in dem, was er darin dar-

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stellt. Viele Mystiker sind eigentlidi nichts anderes als geistige Feinschmecker, und die übrige geistige Welt, die ihnen nicht schmeckt, ist nicht für sie da.

Wir sehen wieder, wie sich die Begriffe umwandeln, wenn wir aus der gewöhnlichen Welt in die höheren Welten auf­steigen. In der gewöhnlichen Welt werden wir, wenn wir uns nur mit unsern eigenen Begriffen beschäftigen, immer ärmer und ärmer. Unsere Logik wird immer ärmer und ärmer. Wir finden uns zuletzt nicht mehr zurecht, und jeder, der die Tatsachen kennt, kann uns korrigieren. In der ge­wöhnlichen Welt korrigieren wir diese Verarmung eben dadurch, daß wir unsere Begriffe erweitern. Auf dem gei­stigen Felde führt das Entsprechende der Ekstase zu etwas anderem. Denn dadurch, daß wir Realitäten in uns hereinnehmen und nicht etwas Unwirkliches, aber nur einzelne Teile hereinnehmen, nachdem wir uns das Passende heraus-gesucht haben, bekommen wir eine Anschauung von der geistigen Welt, die nur uns selber angepaßt ist. Wir tragen uns in die geistige Welt hinein, wie wir auf der anderen Seite, im Phänomenalismus, die Sinneswelt in die geistige Welt hereintragen. Es wird sich immer bei demjenigen, der zur Ekstase und dadurch zu einem falschen Weltbilde kommt, nachweisen lassen, daß er von einer ungesunden Urteilskraft ausgeht, von einer nicht umfassenden Tatsachenlogik.

So sehen wir, wie der Geistesforscher die beiden Extreme vermeiden muß, die ihm alle möglichen Quellen des Irr­tums in den Weg bringen, Phänomenalismus auf der einen Seite, die Ekstase auf der anderen Seite. Und zur Vermei­dung der Irrtumsquellen wird nichts besser sein, als wenn der Geistesforscher namentlich eine Seelenstimmung aus­bildet, die, durch welche er in der Lage ist, wenn er sich in die geistige Welt versetzen will, in dieser geistigen Welt

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auch sein zu können, ruhig in derselben beobachten zu kön­nen; dann aber, weil man ja nicht immer in der geistigen Welt sein kann, so lange man im physischen Leibe ist, son­dern auch mit der physischen Welt leben muß, in der phy­sischen Weit möglichst nach dem zu streben, daß man mit gesundem Sinn, ohne Schwelgerei und Unwahrhaftigkeit, die Tatsachen des Lebens auffaßt.

In einem noch viel höheren Maße als gewöhnlich ist für den Geistesforscher notwendig ein gesunder Tatsachensinn, ein echtes Gefühl für Wahrhaftigkeit. Alle Schwärmerei, alle Ungenauigkeit, die so leicht über das hinweghuscht, was wirklich ist, ist beim Geistesforscher vom Übel. Sieht man es schon im gewöhnlichen Leben, so wird es auf dem Gebiete der Geistesschulung sofort klar, daß der, welcher sich nur ein wenig gehenläßt in bezug auf Ungenauigkeit, merken lassen wird, daß von der Ungenauigkeit bis zur Lüge, zur Unwahrhaftigkeit, nur ein ganz kleiner Schritt ist. Daher muß beim Geistesforscher das Bestreben vor­liegen, sich verpflichtet zu fühlen, der schon im gewöhn­lichen Leben vorhandenen unbedingten Wahrheit in nichts nachzugeben und nichts zu vermischen, denn jedes Ver­mischen führt in der geistigen Welt von Irrtum zu Irrtum.

Es sollte in denjenigen Kreisen, die irgend etwas mit Geistesforschung zu tun haben wollen, vor allem die berech­tigte Meinung sich verbreiten, daß ein äußeres Kennzeichen des wahren Geistesforschers seine Wahrhaftigkeit sein muß, und daß der Geistesforscher in dem Augenblick, wo er zeigt, daß er keine Verpflichtung fühlt, das zu prüfen, was er sagt, sondern Dinge hinspricht, die er über die physische Welt nicht wissen kann, auch brüchig wird als Geistesfor­scher und nicht mehr ein volles Vertrauen genießen kann. Das hängt mit den Bedingungen der Geistesforschung selber zusammen.

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Immer und immer muß aber, wenn so wie heute wieder über die Gebiete der geistigen Forschung und der geistigen Wissenschaft gesprochen wird, darauf aufmerksam gemacht werden, daß jenes Urteil unberechtigt ist, welches etwa lautet: Es kann aber dann doch nur der Geistesforscher in die geistige Welt hineinschauen, und derjenige kann sie nicht erkennen und verstehen und begreifen, der noch nicht ein Geistesforscher geworden ist. - Nun ersehen Sie zwar aus den Schilderungen des Buches «Wie erlangt man Erkennt­nisse der höheren Welten?» und auch aus den Darstellun­gen in meiner «Geheimwissenschaft», daß in unserem heu­tigen Zeitalter bis zu einem gewissen Grade jeder Mensch, wenn er sich nur die entsprechende Mühe gibt, ein Geistesforscher werden kann, in welcher Lebenslage er auch steht. Aber trotzdem ist es auch möglich, daß man, ohne Geistes-forscher zu sein, die Schilderungen über die geistigen Welten verstehen kann.

Nicht, um die Mitteilungen aus den geistigen Welten zu verstehen, sondern um sie aufzufinden, um zu erforschen, was in den geistigen Welten vorhanden ist, ist es notwendig, daß man Geistesforscher sein muß. Wie man ein Maler sein muß, um ein Bild zu malen, aber kein Maler sein braucht, um das Bild zu verstehen, so genügt für das Ver­stehen der Mitteilungen aus den geistigen Welten der ge­sunde Menschenverstand. Zum Forschen in der geistigen Welt gehört, daß der Mensch mit den höheren Beobach­tungsorganen ausg&üstet ist. Wenn aber das, was so er­forscht ist, in die Begriffe der gewöhnlichen Welt gebracht wird, wie es hier oft versucht worden ist, dann kann der gesunde Menschenverstand, wenn er nur vorurteilslos genug ist und sich nicht irgendwelche Steine in den Weg werfen läßt, das begreifen, was durch die Geistesforschung zutage gefördert wird. Man möchte sagen, mit der Geistesforschung

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ist es so wie mit dem, was unter der Erde wächst, und was nur gefunden wird, wenn man bergmännisch in die Erde hineinbohrt. Was man da findet, das kann nur so, wie es innerhalb der Erde vorhanden ist, entstehen, wenn es in den Schichten der Erde gedeiht, die von den oberen bedeckt sind. Auf der Oberfläche der Erde, die täglich von der Sonne beschienen ist, könnte das nicht entstehen und ge­deihen, was unten in den Tiefen ist. Aber wenn wir dann eine Öffnung machen und das Sonnenlicht hineinlassen, dann kann die Sonne beleuchten, was unten ist, dann kann im Sonnenlichte alles erscheinen. So ist es mit dem, was durch die geisteswissenschaftliche Forschung gewonnen wird:

es kann nur zutage gefördert werden, wenn sich die Seele zum Wahrnehmungsorgan für die geistige Welt umgebildet hat. Ist es aber in die Begriffe und Vorstellungen des ge­wöhnlichen Lebens gebracht, dann kann der Menschenver­stand, wenn er nur gesund genug dazu ist, gleichsam wie geistiges Sonnenlicht alles beleuchten und verstehen. So ist die ganze geistige Wissenschaft für den gesunden Menschen­verstand zu begreifen. Wie die ganze Malerei nicht bloß für den da ist, der selbst Maler ist, so sind die Mitteilungen über die geistigen Welten nicht nur für den geisteswissen­schaftlichen Forscher selbst da, trotzdem Bilder nur ent­stehen können durch die Maler, und die geistigen Welten nur erforscht werden können durch die Geistesforscher.

Wer da glaubt, daß mit den Mitteln des gewöhnlichen Verstandes nicht begriffen werden könne, was aus den Mit­teilungen des Geistesforschers kommt, der sieht die Natur und Wesenheit des menschlichen Denkvermögens gar nicht richtig an. Im Denkvermögen des Menschen sind Fähig­keiten, die durchaus im Zusammenhange stehen mit der Natur der höheren Welten. Und nur weil der Mensch ge­wohnt ist, mit seinen Begriffen nur an die gewöhnlichen

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Sinnesdinge heranzutreten, deshalb glaubt er, daß ihm die gewöhnliche Urteilsfähigkeit entschwindet, wenn ihm die übersinnlichen Tatsachen vorgehalten werden. Wer aber seine Denkmöglichkeiten entwickelt, der kann sie so aus­bilden, daß sie erfassen können, was durch die Geistesforschung zutage gefördert wird. Man darf sich nur nicht von vorneherein eine gewisse Vorstellung machen, wie man etwas begreifen kann. Das ergibt sich aus der Betrachtung selbst. Wenn man sich eine bestimmte Vorstellung macht, wie man begreifen soll, dann gibt man sich wieder gegen­über der Geistesforschung einem bedenklichen Irrtume hin.

Das ist der zweite Gesichtspunkt, der besonders kraß wieder in dem neuen Buche von Maurice Maeterlinck her­vortritt. Denn es ist besonders kraß, daß ein Geist, dessen Blick auf die geistige Welt hingerichtet sein will, der feine Bemerkungen über verschiedene Dinge gemacht hat und auch selbst versucht hat, die Geheimnisse der geistigen Welt dramatisch darzustellen, daß dieser Geist in dem Augen­blicke, wo er an die wirkliche Geisteswissenschaft herantreten soll, sich so recht unzulänglich erweist. Denn er verlangt eine bestimmte Art des Begreifens: nicht die Art, welche sich aus den Dingen selbst ergibt, sondern die, welche er sich erträumt, von der er glaubt, daß sie als be­weisend auftreten muß. So entsteht das höchst Sonderbare, daß Maeterlinck nur einen gewissen Glauben überhaupt findet in dem, was Theosophie oder Geisteswissenschaft zu sagen hat - und zwar mit einer gewissen äußeren Berech­tigung zu sagen hat, nicht mit einer nur inneren Berech­tigung, die verwandt wäre mit einem gewissen Urglauben der Menschheit -, wenn sie heute über die wiederholten Erdenleben spricht. Er nennt es einen Glauben, weil er nicht einsehen kann, daß es sich hierbei nicht um einen Glauben, sondern um ein Wissen handelt. So findet er, daß das Sichfortentwickelnde

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im Menschen, das von Leben zu Leben geht, sich nicht beweisen lasse, weil er eine bestimmte Vor­stellung vom Beweisen hat.

Es gleicht Maeterlinck auf diesem Gebiete gewissen an­deren Leuten. Bis vor kurzer Zeit hat es eine Art Glauben, einen gewissen geometrisch-mathematischen Glauben ge­geben, der sich zusammenfaßte in den Worten «die Qua­dratur des Zirkels«, das heißt, man suchte durch ein ge­wisses mathematisch-rechnerisches und konstruktives Den­ken dasjenige Quadrat, welches an Flächeninhalt oder Um­fang dem Kreise gleichkäme. Diese Aufgabe war sozusagen ein Ideal, nach dem man immer gestrebt hat, die Verwand­lung des Kreises in ein Quadrat. Nun, kein Mensch wird daran zweifeln, daß es ein Quadrat geben kann, das genau so groß ist wie ein Kreis. In der Realität kann das selbst­verständlich durchaus vorhanden sein. Aber unmöglich ist es, mit mathematischen Konstruktionen oder mit rechneri­schen Dingen zu zeigen, wie etwa der Durchmesser eines Kreises sein müßte, der einem bestimmten Quadrat gleich käme. Das heißt, das mathematische Denken reicht nicht aus, um das, was ja wirklich ist, was physisch ist, zu be­weisen. Es hat unzählige Menschen gegeben, welche an der Quadratur des Zirkels arbeiteten, bis neuere Mathematiker den Beweis geliefert haben, daß es überhaupt nicht mög­lich ist, dieses Problem auf diesem Wege zu lösen. Heute gilt jemand, der noch das Problem der Quadratur des Zir­kels zu lösen versuchte, als einer, der die Mathematik auf diesem Gebiete nicht kennt.

Genauso, wie solche Leute sich zur Quadratur des Zirkels verhalten haben, so verhält sich Maeterlinck zu dem, was er zu beweisen sucht. Man kann die geistige Welt verstehen, kann erfassen, daß das, was durch die Geistesforschung zu­tage kommt, real ist. Aber man kann nicht, wenn man aus

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Vorurteilen heraus eine bestimmte Art des Beweises ver­langt, diese geistige Welt beweisen, ebensowenig wie man in mathematischer Weise die Quadratur des Zirkels bewei­sen kann. Es müßte daher Maeterlinck auf seine Ausfüh­rungen hin erwidert werden, daß er auf geistigem Gebiete die Quadratur des Zirkels sucht. Oder es müßte ihm gezeigt werden, wie die Begriffe, durch welche er eine geistige Welt beweisen möchte, verschwinden, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes tritt. Wie sollte man mit solchen Be­griffen, die aus der Sinneswelt entnommen sind, die geistige Welt beweisen können! Aber Maeterlinck steht auf solchem Boden, und es ist außerordentlich interessant, daß er, wenn er sich seinem gesunden Gefühl überläßt, gar nicht einmal umhin kann, die wiederholten Erdenleben anzuerkennen. Es ist außerordentlich interessant, wie er sich über das aus­spricht, was ein Wissen ist, was er einen Glauben nennt, und ich möchte darüber seine Worte selbst in der Über­setzung hier vorlesen:

«...Denn nie gab es einen Glauben, der schöner, gerech­ter, reiner, moralischer, fruchtbarer, tröstlicher und in einem gewissen Sinne wahrscheinlicher ist, als der ihre. Er allein gibt mit seiner Lehre von der allmählichen Sühne und Läu­terung allen körperlichen und geistigen Ungleichheiten, allem sozialen Unrecht, allen empörenden Ungerechtig­keiten des Schicksals einen Sinn. Aber die Güte eines Glau­bens ist kein Beweis für seine Wahrheit. Obwohl sechshun­dert Millionen Menschen dieser Religion huldigen, obwohl sie den in Dunkel gehüllten Ursprüngen am nächsten steht, obwohl sie die einzige nicht gehässige und von allen am wenigsten abgeschmackt ist, hätte sie das tun müssen, was die andren nicht taten: uns unverwerfliche Zeugnisse zu bringen. Denn was sie uns bisher gab, ist nur der erste Schatten vom Anfang eines Beweises.»

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Das heißt mit anderen Worten: Maeterlinck sucht auf diesem Gebiete die Quadratur des Zirkels. Wir sehen ge­rade an diesem Beispiele so recht klar und deutlich, wie jemand, der nur dies denken kann, daß das Heil der Gei­stesforschung in dem einen Extrem, in dem Phänomenalis­mus liegt - das zeigen alle seine Ausführungen -, gar nicht die Bedeutung und das wirkliche Wesen dieser geisteswissen­schaftlichen Forschung ins Auge fassen kann. Aus einer solchen Erscheinung wie gerade Maeterlinck ist viel zu ler­nen. Es ist das zu lernen, daß die Wahrheiten, die sich der Weltentwickelung des Menschen einzufügen haben, da, wo sie zunächst auftreten, wirklich in der Lage sind, die Schopenhauer mit den hier schon einmal bezeichneten Wor­ten charakterisiert hat: In allenJahrhunderten hat die arme Wahrheit darüber erröten müssen, daß sie paradox war - Maeterlinck kommt sie sogar «unglaubhaft» vor -, und es ist doch nicht ihre Schuld. Sie kann nicht die Gestalt des thronenden allgemeinen Irrtums annehmen. Da sieht sie seufzend auf zu ihrem Schutzgott, der Zeit, welcher ihr Sieg und Ruhm zuwinkt, aber dessen Flügelschläge so groß und langsam sind, daß das Individuum darüber hinstirbt.

So geht es mit dem Gange der Geistesentwickelung der Menschheit. Und interessant und lehrreich muß es uns sein, daß selbst die Besten in der Gegenwart, ja, gerade solche Menschen, die mit vielen Fasern ihres Seelenlebens mit einer geistigen Welt zusammenhängen wollen, den Nerv der eigentlichen Geisteswissenschaft nicht zu erfassen in der Lage sind. Sondern gerade, wo es sich um die Kennzeich­nung des Weges zu den beiden Irrtumsmöglichkeiten han­delt, da straucheln sie, weil sie nicht wagen den Sprung über den Abgrund, weil sie benutzen wollen die Anlehnung an die gewöhnliche Welt im Phänomenalismus. Oder wenn

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nicht das, so suchen sie, wenn sie es auch nicht bemerken, eine Erhöhung des Selbstsinnes in der Ekstase.

Nicht um den Charakter einzelner Irrtumsmöglichkeiten nur kennenzulernen, kann es sich handeln, sondern um das, was die Menschheit zu vermeiden hat, wenn man die Quellen des geisteswissenschaftlichen Irrtums kennenlernen und verstopfen lernen soll. Aus der Art und Weise, wie die heutige Betrachtung angestellt worden ist, kann sich aber das eine vielleicht ergeben: Die Geistesforschung muß die Quellen der Irrtümer kennen. Denn die Versuchung ist in der Seele immer vorhanden, entweder nach dem Phäno­menalismus abzuirren, also geistig ohnmächtig der geistigen Welt gegenüberzustehen, oder nach der Seite der Ekstase abzuirren, das heißt mit unzulänglichen Geistesorganen in die geistige Welt hineingehen zu wollen und nur einzelne Stücke und keine zusammenhängenden Tatsachen aufzu­nehmen. Zwischen beiden Extremen geht der Weg hindurch. Man muß die Irrtutusmöglichkeiten kennen. Aber man muß, weil sie bei jedem Schritt in das geistige Leben auf­treten können, sie nicht nur kennen, sondern man muß sie überwinden. Denn die Ergebnisse der Geistesforschung sind nicht nur Forschungsresultate, sondern sie sind auch Siege, Überwindungen der Irrtümer, Überwindungen von An­schauungen, die vorher gewonnen sind, Überwindungen des Selbstsinnes und anderes.

Wer tiefer in das eindringt, was heute nur skizzenhaft zu schildern versucht worden ist, der wird bemerken, daß wir, wenn auch allüberall, wo wir zur Erforschung des gei­stigen Lebens hintreten können, die Irrtumsmöglichkeiten so furchtbar lauern können, daß wir trotzdem den Irrtum immer wieder überwinden müssen. Er wird bemerken, daß die Geistesforschung nicht nur einer unüberwindlichen Sehn­sucht entspricht nach dem, was der Mensch zur Sicherheit

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seines Lebens braucht, sondern daß auch ihr Ziel für den, der ihre Bewegung verständnisvoll betrachtet, durchaus dem gesunden Menschensinne als ein erreichbares erscheinen muß. Empfindungsgemäß zusammenfassend, was der heu­tige Vortrag nahebringen sollte, möchte ich sagen: Trotz allen Widerständen, trotz allen Dingen, die sich der Geistesforschung feindlich in den Weg stellen können, kann doch derjenige, welcher mit gesundem Sinn in die Ergebnisse geisteswissenschaftlicher Forschung eindringt, fühlen und empfinden, daß diese Ergebnisse der Geistesforschung dringen

durch schwere Seelenhindernisse,
durch wirre Geistesfinsternisse,
zur ernsten Klarheit,
zur lichten Wahrheit!

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DIE MORAL IM LICHTE DER GEISTESFORSCHUNG Berlin, 3. April 1913

Als Plato, der große griechische Philosoph, das Göttliche ge­wissermaßen definieren oder charakterisieren wollte, da be­zeichnete er es als das «Gute». Und Schopenhauer, welcher in vieler Beziehung Plato nachstrebte, sagte einmal in seinen Schriften, daß er seine philosophische Anschauung viel mehr eine «Ethik» nennen könnte, als Spinoza das tun durfte, aus dem Grunde, weil er, Schopenhauer, ja seine ganze Weltanschauung auf die Urkraft des Willens begründet habe, und also etwas, das mit den innersten moralischen Impulsen der menschlichen Seele zugleich zusammenhängt, zu der Grundkraft des Weltalls gemacht habe; während Spinoza - so meint Schopenhauer - sein System so aufge­baut habe, daß in den höchsten Weltenprinzipien noch nicht das Moralische, das Ethische als solches enthalten sei.

Schopenhauer wollte wie Plato damit andeuten - und dasselbe haben ja viele philosophische Weltanschauungen getan, daß alles, was wir in der Menschheitsentwickelung das Moralische nennen, so innig und so tief in dieser Menschheitsentwickelung begründet sei, daß man gar nicht denken könne, das Reich des Moralischen umfasse letzten Endes nicht auch alles bloß natürliche Geschehen, das Reich des Moralischen läge nicht allem zugrunde, was der Mensch in der natürlichen oder geistigen Wek ergründen kann als das Grundprinzip und die Grundwesenheiten der Dinge. So wäre ja im Sinne solcher Philosophen das Moralische

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im Menschen ein Hereinnehmen und Hereinleuchten des die ganze Welt durchleuchtenden Göttlich-Moralischen. Und damit wäre schon gegeben, daß selbstverständlich jede Er­hebung im Sinne einer Weltanschauung zu den Urgründen des Daseins den Menschen auch immer näher und näher den Quellen der moralischen Weitimpulse bringen müßte.

Wenn man nun auch mit solchen philosophischen Welt­anschauungen keineswegs vollständig einverstanden zu sein braucht, so wird man doch wieder sagen können, daß solche Weltanschauungen gerade zu einer solchen Meinung, zu einer solchen Anschauung, wie sie bei Plato und Schopenhauer gezeichnet worden ist, dadurch kommen, daß sie die ganze Würde und Bedeutung des Moralischen in der Menschheits­entwickelung empfinden und daher die moralischen Impulse in den Urgründen des Weltendaseins nicht missen möchten. Man wird, wenn man auch theoretisch nicht vollständig mit solchen Weltanschauungen einverstanden ist, dennoch das an ihnen lernen und begründet finden können, daß eine jegliche Weltanschauung, welche in das menschliche Leben und in das menschliche Handeln eingreifen soll, gewisser­maßen gerechtfertigt erscheinen muß vor dem Richterstuhle der Moral, so erscheinen muß, daß die Moral zu ihr ein unbedingtes Ja sagen kann. Daher ist die Auseinander­setzung einer jeden Weltanschauung mit den moralischen Impulsen des Daseins eine Notwendigkeit. Aus solchen Untergründen heraus ist das Thema der heutigen Betrach­tung gewählt worden, welches das Verhältnis dessen, was hier als Geisteswissenschaft gemeint ist, zu den moralischen Prinzipien und Impulsen der Menschenseele behandeln soll.

Nun wird, wenn an moralische Dinge herangetreten wird, für eine einigermaßen sinnige Betrachtungsweise der Dinge eine gewisse, man möchte sagen heilige Scheu vor dem Ge­biete, das man da betritt, von vornherein notwendig gegeben

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sein. Betritt man doch dasjenige Gebiet, welches zu Urteilen hinblickt, die im intensivsten Sinne über Wert und Unwert der Menschenseele entscheiden wollen, und ahnt man doch sofort, wenn man dieses Gebiet betritt, daß man damit in unergründliche Tiefen des menschlichen Seelenseins hineingreift, in solch unergründliche Tiefen, daß man gerade auf diesem Gebiete nicht leichten Herzens mit irgendeinem abschließenden Urteile bei der Hand sein möchte. Auch in dieser Beziehung hat Schopenhauer einen bedeutungsvollen, oft zitierten Ausspruch getan: «Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer.» Was meint Schopenhauer mit diesem Ausspruch?

Daß Moral predigen leicht ist, merkt man ja gleich, so­bald man in das menschliche Leben nur ein wenig hineinschaut. Denn es wird wohl kaum etwas anderes so viel in diesem menschlichen Leben gepredigt, als Moral. Es wird über nichts so viel geurteilt als über den moralischen Wert oder Unwert der Seele. Und wenn man dieses menschliche Leben gründlich betrachtet, so muß man wieder sagen: Wie wenig sind doch die eigentlichen Moralpredigten geeignet, wirklich in die Seelen hineinzugreifen, so daß sie diese Seelen so erfassen würden, daß die Moralgrundsätze, die der eine oder andere meint, selbst wenn sie klar eingesehen werden, auch wirkliche moralische Impulse in den Seelen sein können! - Ja, wie leicht kann sich mancher selber Moral predigen, dem es ganz und gar schwer wird, wirklich mora­lischen Impulsen zu folgen. Schopenhauer meint, alles, was man an Grundsätzen, an moralischen Formeln oder an moralischen Vorschriften predigen kann, sei eigentlich nicht bedeutungsvoll. Bedeutungsvoll ist in seinem Sinne nur, wenn man in der menschlichen Seele eine Seelenkraft, einen seelischen Impuls aufweisen kann, der eben als eine Wirk­lichkeit in der Seele ist und aus dem heraus moralisches

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Handeln entspringt. Dann würde man sagen können, man habe auf etwas in der menschlichen Seele hingewiesen, was, wenn man es nur sich selber überläßt, zu einem moralischen Handeln hindrängt; dann habe man den Grund des mora­lischen Handelns in der Seele gefunden. Dann habe man Moral begründet, weil man den wirklichen Impuls in der Seele klargelegt habe. Dann habe man nicht bloß Moral gepredigt.

Nun merkt man gerade bei einer solchen Forderung, die so berechtigt wie möglich ist, wie schwierig es ist, in jene Tiefen der Menschenseele hineinzudringen, wo die mora­lischen Impulse wirklich schlummern, wo jene Impulse sit­zen, aus denen Moralisches oder Unmoralisches entspringt. Schwer wird es, mit unserem Urteil in diese Tiefen hinein zudringen. Setzen wir einen bestimmten Fall, einen Fall, der uns lehren kann, wie schwierig es einer gewissenhaften Seele ist, ein Urteil über den moralischen Wert oder Unwert einer menschlichen Handlung aufzubringen. Nehmen wir an, irgendeine bedeutende Persönlichkeit setze sich aufs Pferd und reite aus. Auf dem Wege finde diese bedeutende Persönlichkeit eine arme Frau, welche am Wege kauert. Diese Persönlichkeit, die auf dem Pferde dahingaloppiert, sieht da die Frau, greift in die Tasche, nimmt den vollen Geldbeutel heraus, wirft ihn dieser Frau zu.

Nun haben wir eine Handlung vor uns. Es handelt sich jetzt darum: Wie wollen wir im Lichte der Moral eine solche Handlung beurteilen? Herman Grimm, von dem ich auch schon gesprochen habe, sagt über diese Handlung, die wirklich einmal bei einer weltberühmten Persönlichkeit vor­gekommen ist, das Folgende. Nehmen wir an, die Frau wäre abergläubisch, und der Fall läge so, daß die Frau eben vorgehabt hätte, für ihre Kinder, die in der bittersten Not sind, in der nächsten Zeit einen Diebstahl zu begehen. Sie

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sei dadurch, daß ihr der Geldbeutel von diesem Manne zugeflogen ist, behütet worden, den Diebstahl zu begehen und zu dem Elend ihrer Familie noch größeres Elend her­aufzubeschwören. Sie ist aber abergläubisch, sagt Herman Grimm. Warum sollte die Frau nun nicht sagen: Durch diesen Mann ist mir ein Engel der höheren Welten erschie­nen, und dadurch bin ich vor dem Abgrund gerettet worden.

Da haben wir durch dieses Dinge, die durchaus in der Seele dieser Frau vorkommen können, eine Art moralischer Behandlung. Nehmen wir aber an, sagt Herman Grimm weiter, diese Persönlichkeit, welche den vollen Geldbeutel jener Frau zugeworfen hat, komme nachher in eine Gesell­schaft verschiedener Menschen. Der erste der Menschen, der von dieser Persönlichkeit selber erzählen hört, daß sie dies getan habe, meint: Nun ja, ich habe ja immer gehört, daß diese Persönlichkeit außerordentlich geizig sei; jetzt sehe ich, wie unbedeutend solche Urteile überall sind! - Und es könnte sich nun eine solche Persönlichkeit des weiteren für diesen Mann ins Zeug legen - meint Herman Grimm - und könnte gleichsam überall zu einer Rektifizierung des Gerüch­tes über den Geiz jener hochstehenden Persönlichkeit durch Verbreitung der «Großherzigkeit» dieser Persönlichkeit beitragen. Nehmen wir aber an - meint Herman Grimm -, eine zweite Persönlichkeit hörte dieselbe Sache erzählen und fühlte sich dadurch ganz eigentümlich berührt; denn diese Persönlichkeit, nehmen wir an, habe vor kurzer Zeit sich erst eine viel geringere Summe von jenem Manne aus­leihen wollen als in der Geldbörse war, und der Mann habe ihr die Summe nicht geliehen. Wird diese Persönlichkeit nicht ganz anders urteilen? Oder eine dritte Persönlichkeit-meint Herman Grimm - könnte dabei sein, welche in dem Augenblick, wo sie dies hört, selber veranlaßt wird, zu sagen: Ja, ich bin in Verlegenheit; kann ich nicht selber

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etwas bekommen? - Eine solche Persönlichkeit könnte nun wieder zu einem Urteile kommen, das ganz verschieden wäre sowohl von dem der Frau, wie von dem der anderen Persönlichkeiten. Eine vierte Persönlichkeit könnte viel­leicht wissen, wenn dieses Vorkommnis erzählt wird, daß der betreffende Mann gerade in jenem Zeitpunkte unge­heuer viel Schulden hatte, und diese Persönlichkeit wird nun die Handlung wiederum in einem ganz anderen mora­lischen Lichte sehen. Sie wird vielleicht sagen, es sei ein großes Unrecht, die Geldbörse so ohne weiteres hinzuwer­fen, wenn man verpflichtet ist, seine Schulden zu bezahlen, auf welche die Gläubiger überall warten. Eine weitere Per­sönlichkeit könnte wissen - meint Herman Grimm -, daß die Geldbörse gar nicht jenem Mann selbst, sondern seiner Frau gehört habe, und daß der Mann leichtsinnig die Geld­börse seiner Frau hingeworfen hat, und die Frau könnte also klagen über den Leichtsinn dieses Mannes. Und noch verschiedene andere Standpunkte wären möglich.

So sehen wir, wie Menschen, die von verschiedenen Stand-punkten ausgehen, eine solche Handlung ganz verschieden beurteilen könnten und gar nicht das zu treffen brauchten, was in der Seele als der wahre Impuls lebte. Herman Grimm ergeht sich über diesen Fall besonders aus dem Grunde, weil er nachweisen will, wie sehr moralische Urteile mit einer gewissen Reserve aufzunehmen sind, wenn sie uns über eine solch bedeutende Persönlichkeit zum Beispiel in Memoiren entgegentreten. Alle solche Urteile könnten uns ja in Memoiren entgegentreten, denn es hat sich die ganze Sache, die ich hier vorbrachte, wirklich in einer ähnlichen Lage abgespielt, nämlich mit dem großen Dichter Lord Byron. Und bei Besprechung eines seiner Memoirenschreiber, der mit Byron bekannt war, kommt Herman Grimm auf den Fall zu sprechen. Hier soll er aus dem Grunde angeführtwerden,

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weil dadurch so recht anschaulich wird, was sich alles vorlagert an Lebensurteilen, die wir auf ganz verschiedene Weisen gewonnen haben, wenn wir darangehen, irgendeine moralische Tat eines Menschen zu beurteilen. So muß man tatsächlich sagen, ist es schon im allgemeinen im Sinne Schopenhauers schwierig, Moral zu begründen, so wird es geradezu zu etwas Unmöglichem, im einzelnen Falle sich mit einem abschließenden moralischen Urteile so dem Seelen-leben eines Menschen zu nähern, daß dieses abschließende moralische Urteil wirklich den Tatbestand treffen würde.

Man sollte nun aber aus diesen Voraussetzungen heraus nicht etwa selber das Urteil gewinnen, als ob man der Moral gegenüber. gleichgültig zu sein habe. Im Gegenteil! Wer das Leben in seiner Ganzheit erfaßt, wird trotzdem die Moral als das Heiligste im Menschenleben ansehen und dabei zu dem Urteile kommen, daß das Heiligste im Men­schenleben zugleich auch mit einer heiligen Scheu angefaßt werden muß. Denn es ist in vieler Beziehung eine Ver­messenheit, sich einem anderen Menschen mit einem mora­lischen Urteile gegenüberzustellen, in Anbetracht des Um­standes, wie vieles die eine Seele von der anderen trennt.

Stellen wir, nachdem diese Voraussetzungen gemacht worden sind, nun dasjenige hin, was über den Charakter der Geisteswissenschaft in diesen verschiedenen Vorträgen hier vorgebracht ist. Geisteswissenschaft führt uns auf der einen Seite tiefer in die geistigen Grundlagen der Dinge hinein. Aber wir haben zugleich gesehen, wodurch sie dazu imstande ist: Es ist dadurch möglich, daß wir tieferliegende Kräfte unseres Seelenlebens bloßlegen, so daß wir die gei­stigen Untergründe der Welt nur dadurch erfassen, daß wir die in den Tiefen der Menschenseele schlummernden Kräfte heraufholen. Wir nähern uns also gerade mit den Methoden der Geistesforschung den tieferen Untergründen des menschlichen

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Seelenlebens, jenen Untergründen, aus denen in oft­mals so geheimnisvoller Weise die moralischen Impulse her­vorquellen. Und die Frage muß sein: Was geschieht, wenn in den Seelenuntergründen jene Forschungen, welche diese Seelenuntergründe heraufholen wollen, zusammentreffen mit den moralischen Impulsen? Ist es ja doch im gewöhn­lichen alltäglichen Leben der physischen Welt so, daß zu der allereinfachsten Menschenseele, zu der ungelehrtesten Menschenseele die moralischen Impulse mit einer großen Sicherheit aus den Tiefen herauf sprechen können. Und gar manchen hochgelehrten Menschen, gar manchen, der sich viel­leicht zu den Philosophen zählt oder ein Wissenschaftler ist, kann auf moralischem Gebiete eine einfache Persönlichkeit beschämen, welche in bezug auf Erkenntnis nicht viel ihr eigen nennt, und die dennoch aus den Tiefen ihrer Seele heraus in den schwierigsten Fällen aufopferndste Taten echter Menschenliebe zu vollführen vermag. Gewöhnliches Wissen, äußere physische Erkenntnis, braucht gewiß nicht in die Tiefen hinunterzuführen, aus denen die moralischen Impulse hervorquellen, die Impulse, aus denen Moral be­gründet werden soll.

Nun zeigt sich aber sofort, wenn Geisteswissenschaft zu den geistigen Urquellen des Daseins emporsteigen will, daß dann des Menschen Seele in gewisser Weise, wenn sie zum Geistesforscher werden will, dreierlei entwickeln muß. Die­ses Dreierlei ist ja im Verlaufe dieser Wintervorträge als die drei Stufen der übersinnlichen Erkenntnis angeführt wor­den. Da ist zunächst das angeführt worden, was wir die imaginative Erkenntnis nennen, das heißt diejenige Er­kenntnis, welche vor der menschlichen Seele auftritt, wenn sich diese ganz freigemacht hat von aller Sinnesbeobachtung und aller Verstandestätigkeit, die an das Instrument des Gehirnes gebunden ist. Ist die Seele dazu gelangt, daß sie

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aus ihren Tiefen eine Welt von Bildern heraufdringen fühlt, dann werden diese Bilder bei weiterer Ausbildung des Gei­stesforschers zu Bildern der wirklichen geistigen Realitäten werden, die hinter der äußeren Sinneswelt vorhanden sind. Imaginative Erkenntnis ist das erste. - Man findet diese Stufen der übersinnlichen Erkenntnis auch in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» aus­einandergesetzt.

Das zweite, zu dem die Menschenseele kommen muß - man kann solche Dinge nur mehr oder weniger bildmäßig ausdrücken und es ist über alles dieses auch bereits gespro­chen worden, doch soll es zur Vermeidung von Mißver­ständnissen heute kurz angeführt werden -, besteht darin, daß dasjenige, was erst bildhaft aufgetreten ist, was aber nicht mit den Bildern eines einzelnen Sinnes zu vergleichen ist, gleichsam wie aus sich heraus durch eine «Weltensprache» als inspirierte Erkenntnis auftritt. Das heißt, daß zu dem Geistesforscher, wenn sein Inspirationsvermögen erwacht ist, die geistigen Wesenheiten und Tatsachen sprechen, die jenseits der Sinneswelt liegen.

Die dritte Stufe, wodurch der Geistesforscher wirklich in das Wesen der geistigen Tatsachen und Wesenheiten ein­dringt, nennt man die Intuition. Nicht diejenige Intuition ist gemeint, welche in derTrivialsprache manchmal mit die­sem Worte bezeichnet wird, sondern etwas, das ein wirk­liches Hinübertreten des eigenen Seelenlebens in fremdes Wesen ist, wodurch der Mensch fähig wird, indem er sein Wesen mit fremdem Wesen verbindet, in das Innere außer ihm befindlicher geistiger Wesen einzudringen. Demjenigen, was Sinneserkenntnis und Verstandeserkenntnis ist, treten also auf anderen Erkenntnisstufen Imagination, Inspiration und Intuition gegenüber.

Durch diese drei Erkenntnisstufen dringt die Menschenseele

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in die geistige Welt ein. Die Kräfte zur Imagination, das heißt zum Schauen von Bildern aus der übersinnlichen Welt, ebenso wie die Kräfte der Inspiration, das heißt zum Vernehmen desjenigen, was die geistigen Tatsachen und gei­stigen Wesen des Übersinnlichen uns zu offenbaren haben, und die Kräfte der Intuition, sie schlummern in jeder Men­schenseele. Sie werden durch die Methoden, die hier auch geschildert worden sind, hervorgeholt. Die Menschenseele muß also als Geistesforscher in ihre Tiefen dringen, um zu den Urgründen des Daseins zu kommen.

Nun wurde schon darauf aufmerksam gemacht, insbe­sondere auch, als die «Irrtümer der Geistesforschung» be­sprochen worden sind, wie wichtig der Ausgangspunkt ist, von dem die Seele zu jenen Stufen ihres Daseins hingelangt, auf denen sie in die geistige Welt hineinschauen kann. Da ist besonders hervorgehoben worden, daß eine Art von Ohnmacht in bezug auf die Erkenntnis der geistigen Welt bei jener Seele eintritt, die nicht von moralischer Tüchtig­keit, von moralischer Stimmung ihren Ausgangspunkt nimmt. Eine solche Seele wird für die höheren Welten eine gewisse Betäubung zeigen und nur dasjenige aus diesen höheren Welten offenbaren können, was eben wie durch eine Art Betäubung gesehen, was also verfälscht ist. So ist schon hingewiesen worden auf den Zusammenhang von moralischer Seelenstimmung im Ausgangspunkte mit dem, was die Seele erlangen kann, wenn sie durch Imagination, Inspiration und Intuition wirklich in die geistigen Welten eintritt. Aber wir können noch genauer die Bedeutung der moralischen Seelenverfassung für die höheren Erkenntnis-stufen charakterisieren.

Die Imagination tritt ja beim Geistesforscher so auf, daß gleichsam wie auf dem Horizonte seines Bewußtseins zu­nächst aus seinem Seelenleben, dann aus dem Wesen des

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allgemeinen Geisteslebens Bilder auftauchen. Diese Bilder, welche so auftauchen, und deren Bedeutung wir bereits ge­schildert haben, müssen verschieden sein, je nachdem der Mensch von dieser oder jener Seelenverfassung ausgeht, die er schon hier in der physischen Welt hat. Eine solche Seele, welche hier in der physischen Weh den Sinn für den rechten, wahren Zusammenhang von Tatsachen entwickelt, sie wird, wenn sie durch die geschilderten Methoden zur Imagination emporsteigt, die innere Verfassung für den wahrhaften Zusammenhang der Dinge mit sich in die höheren Wehen hinauftragen. Daher können wir sagen, eine Seele, die wahrhaft innerhalb der Tatsachen in der physisch sinnlichen Welt zu leben versteht, trägt ihre Wahrhaftigkeit mit hin­auf in die geistigen Welten. Eine Seele aber, welche durch Ungenauigkeit - und von der Ungenauigkeit, das ist schon angedeutet worden, bis zum Irrtum, ja sogar bis zur Lügen­haftigkeit, ist nur ein kleiner Schritt -, welche durch Unwahrhaftigkeit hier in bezug auf die Sinnestatsachen der physischen Welt gekennzeichnet ist, eine solche Seele bringt sich die innere Verfassung der Unwahrhaftigkeit mit hin­auf in die Welt, wo die Imaginationen, die Bilder der gei­stigen Weit auftauchen sollen. Und die Folge davon ist, daß aus ihrer Unwahrhaftigkeit, die ja nicht mit der Welt über­einstimmt, sondern die nur dem eigenen Innern entspringt, sich eine solche Welt von Bildern aufbaut, die selber nur ein Ausfluß der betreffenden Persönlichkeit ist.

Unwahrhaftigkeit wird daher, wo die Seele zu den Ima­ginationen aufsteigt, bewirken, daß eine solche Seele aus den geistigen Welten nichts anderes offenbaren kann als das, was nur der Spiegel ihrer eigenen Unwahrhaftigkeit ist. Daher hat es bei aller Schulung in die geistige Welt hinauf Gehung, daß die Seele vor ihrem Eintritt in die imaginative Welt als Vorbereitung für die imaginative Erkenntnis

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sich schon hier in der physischen Welt zu festigen hat durch das, was man nennen kann, Tatsachensinn, Sinn für die Tatsachen. Und es ist zu betonen, scharf zu betonen, daß alles, was von dem Tatsachensinn abführt, keine rechte Vorbereitung für die Betrachtung der geistigen Welt liefern kann. Es wird für den, der ein Geistesforscher werden will, eine gute Vorbereitung sein, wenn er sich möglichst zurück­hält mit aller bloß persönlichen und subjektiven Kritik, mit allem nur Beurteilen der Dinge «von seinem Stand­punkte aus», allem Geltendmachen: «das finde ich richtig», «das finde ich falsch». - Eine gute Vorbereitung für die gei­stige Erkenntnis ist es vielmehr, wenn man versucht, so gut es geht und so viel es geht, hier in der physischen Welt alles Beurteilen nur vom persönlichen Standpunkte aus, alles Geltendmachen seines persönlichen subjektiven Standpunk­tes zurücktreten zu lassen; wenn man sich bemüht, den Tat­sachen des Lebens gegenüber möglichst nur diese sprechen zu lassen. Daher werden wir denjenigen, der auf dem rechten Pfad ist zur geistigen Welt hin, bemüht finden, in allem, was er erzählt oder schildert, nicht das vorzu­bringen, was er über die Dinge urteilt, sondern die Dinge für sich sprechen zu lassen, indem er bestrebt sein wird, mehr nur die Tatsachen zusammenzustellen.

Wenn wir daher einem Menschen gegenübertreten, der bei jeder Gelegenheit sagt: Da und dort hat sich dieses oder jenes ereignet, das finde ich abgeschmackt; da oder dort hat sich etwas ereignet, das finde ich nicht gut; da oder dort hat sich etwas ereignet, das finde ich häßlich, das finde ich schön - und wie die Abstufungen alle lauten mögen, so ist ein solcher Mensch auf keinem guten Wege zum Hin­aufdringen in die geistigen Welten. Er ist vielmehr auf einem guten Wege, wenn er sich bemüht, ein solches Urteilen zu unterdrücken und schlicht und einfach die Tatsachen erzählt,

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wenn er hinschaut auf die Tatsachen und diese für sich sprechen läßt und sich zum Grundsatz macht: Wenn ich jemandem mein Urteil aufdränge, so ist es eben mein Urteil - dann ist er nicht nur angewiesen, mir zu glauben, daß es Wahrheit ist, was ich sage, sondern auch, daß ich ein Urteil habe. Wenn ich mich aber anschicke, dem Men­schen zu erzählen, was ich da und dort getroffen habe, so kann er sich selber sein Urteil bilden. Je mehr man sich zu der letzteren Art zwingt, die Welt anzuschauen und die Dinge zu erzählen, desto mehr stattet man sich mit dem Tatsachensinn aus und bereitet sich für die imaginative Er­kenntnis vor. Wer sich für das imaginative Erkennen vorbereiten will, sollte sich, vor allem der Denkweise nach, abgewöhnen, bei jedem Erlebnis zugleich zu sagen: Ich finde die Dinge so oder so. - Er sollte es für unwesentlich halten, was er über die Dinge finden kann und sollte sich bemühen, nur das Werkzeug zu sein, durch welches die Dinge oder Tatsachen sprechen.

Wenn man dies ins Auge faßt, wird man sich klar sein, daß eine ganz wesentliche Tugend, die Wahrhaftigkeit, schon von vornherein zu den richtigen Vorbereitungsmitteln ge­hört für eine methodische Schulung zur Erkenntnis der höheren Welten. Man wird gar nicht in die Verlegenheit kommen können, daran zu zweifeln, daß eine richtige Schu­lung für die Erkenntnis höherer Welten moralfördernd ist oder wenigstens sein muß. Ja, man wird die Sache noch von einer anderen Seite her darstellen. Man kann den Fall setzen, jemand bereite sich nicht durch die eben geschilderte Wahrhaftigkeit für die höheren Welten vor. Dann werden ihm, wenn er nur die entsprechenden Seelentrainierungen, die entsprechenden Übungen durchmacht, in der Tat die schlummernden Kräfte seiner Seele erweckt werden können, und er wird zuletzt vor eine imaginative Welt gebracht

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werden können. Aber was ist diese dann? Diese Welt ist dann nichts anderes als das Spiegelbild seines eigenen We­sens. Und weil man in dem Augenblick, wo man von der Sinneswelt absieht, wo man auch von dem Verstande, der an das Gehirn gebunden ist, absieht, diese imaginative Welt als etwas Wirkliches vor sich hat, gleichgültig, ob sie etwas Reales ausdrückt oder ob sie nur das Spiegelbild des eigenen Wesens dessen ist, der sie hat, so wird, wer nicht richtig durch Wahrhaftigkeit vorbereitet ist, eben auch eine «imaginative Welt» vor sich haben, weil sie ihm vorgaukelt, eine richtige zu sein und doch nur das Spiegelbild der eigenen Seele, seines eigenen Innern ist. Diese Welt ist dann eine fortwährende Verführerin zur Unwahrhaftigkeit. Deshalb kann man sa­gen, daß jemand, der nicht durch Übung der Wahrhaftigkeit in die geistige Welt eindringt, sich in eine Lage versetzt, wo fortwährend in seiner Umgebung, wenn er in der übersinn­lichen Welt wahrnimmt, die Verlockungen zu Unwahr­haftigkeit und Lüge vorhanden sind. Daraus muß sich von selbst das Urteil ergeben, daß ein jeder Aufstieg in die übersinnliche Welt verbunden sein muß mit der Pflege der Tugend der Wahrhaftigkeit, mit der Pflege vor allen Din­gen des Tatsachensinnes. Denn nur wenn wir Tatsachensinn haben, Sinn für den außer uns befindlichen Zusam­menhang der Tatsachen in der physischen Welt, können wir uns zur Wahrhaftigkeit erziehen.

In einer ähnlichen Weise stellt sich dieselbe Sache für die Inspiration ,dar, nur wird sie auf diesem Gebiete noch an­schaulicher, noch bedeutungsvoller. Durch die Inspiration beginnen die Dinge, die in unserer Umgebung geistig vor­handen sind, gleichsam zu uns zu sprechen; sie enthüllen, sie offenbaren uns ihr Wesen. Wir hören sie nicht durch Stimmen und Töne, die den äußeren ähnlich sind, sondern wir hören sie geistig.

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Nun ist eine andere Vorbereitung notwendig, damit der Mensch nicht wieder bloß das vernimmt, was ihm sein eigenes Wesen enthülh, sondern damit er eine objektive, wirkliche Welt kennenlernt. Dazu ist notwendig die Er­höhung einer ganz besonderen Tugend der Seele. Solche Dinge lassen sich ja nur durch Erfahrung feststellen. Wer zur Inspiration gelangen will, muß in einer höheren Weise, als es für die gewöhnliche Welt notwendig ist, in sich die Tugend des moralischen Mutes, der Standhaftigkeit, des Starkmutes zur Ausbildung bringen. Denn nur wer mora­lischen Mut hat, wer nicht vor irgend etwas zurückschreckt, was seine eigene Persönlichkeit unter Umständen gefährden kann, wird demjenigen standhalten können, was aus den geistigen Wirklichkeiten heraus durch Inspiration zu ihm spricht. Und jeder, der zu wenig Starkmut und morali­schen Mut entwickelt hat, bevor er in die geistigen Welten eintritt, wird sehr bald bemerken - oder vielmehr wird er es nicht so leicht bemerken, aber die andern, die etwas von der Sache verstehen, werden es bemerken -, daß zwar ge­wisse Dinge aus der geistigen Welt zu ihm sprechen, aber daß alles dieses, was so zu ihm spricht, nur ein Echo seiner eigenen Wesenheit ist. Weil seine Seele nicht stark genug ist, weil sie nicht in sich selber vollen Halt hat, deshalb kann sie nicht das in sich bewahren, was sie ist, sondern strahlt es aus, und es kommt das zu ihr zurück, was sie selber ist. Eine Seele, die nicht durch moralischen Mut für die Inspiration vorbereitet wird, wird sich sehr bald als eine solche darstellen, die etwas wie «geistige Stimmen» hört, aber diese geistigen Stimmen werden nichts anderes sein als das, was sie selber in sich trägt, was nur ein Echo des eigenen Wesens ist. Wenn dann eine solche Seele daraufkommt, daß es so ist, dann wird sie erst recht durch das, was da aus der geistigen Welt zu ihr dringt, niedergeschlagen werden.

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So sehen wir, daß wiederum eine wesentliche Eigenschaft der Seele, eine Eigenschaft, welcher der moralische Charak­ter nicht abgesprochen werden kann, verstärkt und befestigt werden muß, wenn diese Seele in die übersinnliche Welt hinaufdringen will: der moralische Mut, der Starkmut. Der ist notwendig als Vorbereitung für die wirkliche Inspira­tion. Daraus kann nun leicht abgeleitet werden, daß es vor allen Dingen nötig ist, seinen moralischen Mut schon in der physischen Weit zu stärken, bevor man zum Geistes-forscher werden will, damit die Seele wirklich die Offen­barungen desjenigen, was durch Imaginationen gegeben wird, auch durch Inspirationen wahrnehmen kann.

Gar mancher, der die Sache nicht gründlich genug ver­standen hat, glauhte sich auf den moralischen Mut dieser oder jener Seele verlassen zu können, gab dann der Seele die Mittel, um in die übersinnliche Welt aufzusteigen, konnte dann die Seele nach einiger Zeit treffen - und sie verriet nichts anderes, als daß sie nur ihr eigenes Wesen, das sie als «Töne», als «Worte» deutete, widerspiegelte.

So hängt geistige Schulung innig zusammen mit der Er­höhung der moralischen Kraft, und deshalb wird jede richtig mitgeteilte geistige Schulung vor allen Dingen auf Stärkung und Erfestigung der moralischen Kraft hinwirken. Daher können Sie überall, wo Sie die Darstellung der Methoden finden, durch welche man in die höheren Welten hinaufdringt, zum Beispiel in meiner Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», zugleich die Hinweise finden auf die Notwendigkeit der Stärkung der moralischen Kraft. Denn die moralische Kraft darf nicht bloß so bleiben, wie sie im gewöhnlichen Leben der physischen Welt ist, sondern sie muß erhöht und befestigt werden.

Ganz besonders tritt uns aber entgegen, was in dieser Beziehung notwendig ist, wenn wir zur Intuition gehen,

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durch welche sich die Seele, die ein Geistesforscher geworden ist, geradezu hineinzuversetzen vermag in das Innere eines anderen geistigen Wesens oder einer anderen geistigen Tat­sache. Da werden wir finden, daß es geradezu zur Unmög­lichkeit wird, sich nach der geistigen Schulung wirklich in andere Wesenheiten hineinzuversetzen, wenn man nicht schon hier in der physischen Welt dafür gesorgt hat, daß dasjenige erhöht werde, was man nennen kann offenes In­teresse für alles, was uns umgibt, freies, offenes Interesse. Alle engherzige Verschlossenheit der Seele, alles Verkrie­chen der Seele in sich selber, alles, was nicht die Aufmerk­samkeit der Seele hinlenken will zu Mitleiden und Mit-freuden von Mitgeschöpfen und von allem, was uns in der Sinneswelt schon umgibt, das alles hält die Seele ab, wenn sie in die geistige Welt hinaufgestiegen ist, zur wahren Intuition, zu wahren Erkenntnissen höherer Wesenheiten zu kommen. Und hier stehen wir auf dem Gebiete, auf welchem sich unsere Betrachtungen mit dem berühren, was Schopenhauer seine «Begründung der Moral» nennt.

Schopenhauer war ja keineswegs Geisteswissenschaftler in dem Sinne, wie Geisteswissenschaft hier gemeint ist. Da­her legt sich auch für ihn die Seele, die in ihre Tiefen heruntersteigt, nicht so auseinander, daß sie eine Dreiheit von Kräften entwickelt, die den drei Stufen der Erkennt­nis - Imagination, Inspiration, Intuition - entspricht, son­dern es verschmilzt für ihn alles. Die «Seele» ist ein Nebu­loses aller in ihren Tiefen lebenden Kräfte. So kann auch Schopenhauer nicht die moralischen Tugenden auseinander-legen, deren Ausbildung die Vorbereitung sein muß für eine geistige Schulung: Tatsachensinn als Grundlage der Tugend der Wahrhaftigkeit für die Imagination, Starkmut als Grundlage für das, was zur Inspiration führt, und das dritte - was Schopenhauer gründlich erörtert -, das in den

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Tiefen der Seele schlummert, und das man im allgemeinen nennen kann Interesse für Umwelt und Umwesen. Aber Schopenhauer macht auf etwas anderes aufmerksam, und hier ist er in einem gewissen Sinne tief genial. Er macht auf das aufmerksam, was in der Tat zu den wenigen Seeleneigen­schaften und Seelenimpulsen gehört, die schon in der physi­schen Welt zeigen, wie eine gleichsam unterirdische Verbin­dung zwischen Seele und Seele unmittelbar besteht. Schopen­hauer macht aufmerksam auf das Mitleid, man könnte besser sagen auf das Mitgefühl. Man braucht ja nur das Wort Mit­leid, Mitgefühl erwähnen, von dem Schopenhauer sagt, daß es in jeder Seele vorhanden sein muß, die moralisch genannt werden kann, so wird man erstens fühlen, daß mit diesem Mitgefühl etwas berührt wird, was in der Tat mit dem in­nersten moralischen Impuls zusammenhängt, mit dem, was wirklich Moral begründen kann. Auf der anderen Seite wird man fühlen, daß man mit dem Worte Mitgefühl etwas berührt hat, was eine in der physischen Welt schon vor­handene Intuition ist, ein Sich-hinüber-Versetzen der eigenen Seele in die andere Seele. Ein Beweis, daß eine unterphysische Verbindung zwischen Seele und Seele besteht, ein Beweis, daß der Geist mit seinen Kräften zwischen Seele und Seele vorhanden ist, ein Beweis dafür ist für jeden, der die Welt sinnig betrachten kann, das, was mit dem Worte Mitleid bezeichnet werden kann.

Mit Recht nennt daher Schopenhauer - und nannten es viele andere, die in diese Dinge hineinblickten - Mitleid, Mitgefühl das eigentliche Mysterium der Menschenseele, das schon hier in der physischen Welt beobachtet werden kann. Denn es hat etwas unendlich Tiefes, wenn eine Seele, die in einem Leibe eingeschlossen ist, etwas fühlt, worüber sich die andere Seele freut, oder wodurch die andere Seele leidet, so daß in dem Herüber- und Hinübergehen der

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Kräfte der einen Seele zur anderen Seele wirklich eine Art geistigen Mysteriums schon hier in der physischen Welt ge­geben ist. Daher sagt Schopenhauer: Man mag noch so viel Moral predigen: begründet ist Moral auf dieses Leben der einen Seele in der anderen Seele, begründet ist Moral doch nur auf Mitgefühl, oder auf Mitleid. - Daher kann man eigentlich ganz gut sagen, im Sinne Schopenhauers wäre so viel Moral in der Welt, als Mitgefühl vorhanden ist. Mit einem gewissen Recht machte Schopenhauer darauf aufmerksam, daß es unerträglich wäre, den Satz zu hören:

«Dieser Mensch ist tugendhaft, aber er kennt kein Mit­leid.» Schopenhauer meint: Jeder wird die Unmöglich­keit verspüren, daß ein solcher Satz ausgesprochen werden könnte, daß Tugendhaftigkeit und Mitleidlosigkeit in einer Seele verbunden sein könnten. Also meint Schopenhauer, es sei unerträglich, den Satz zu hören: «Er ist ein ungerechter und boshafter Mensch, jedoch ist er sehr mitleidig», obwohl man ja sagen kann, daß die Innengründe der menschlichen Seele manchmal so verworren sind, daß man auch das er­fahren kann, wie jemand ohne Zweifel recht schlimme, untugendhafte Taten verrichten und doch ein gewisses Ge­fühl entwickeln kann, zum Beispiel für Tauben und ähn­liche Tiere. Im großen und ganzen aber kann man doch sagen, daß Schopenhauer hier an die Tiefen der Moralbegründung rührt, wo er von Mitleid spricht.

Wenn man im Sinne der Geisteswissenschaft spricht, so muß man das Prinzip des Mitleids noch etwas erweitern, und es tritt dann vor unsere Seele hin, was man bezeichnen kann als das teilnehmende Interesse, als die teilnehmende Aufmerksamkeit für alles, was in der Umwelt um uns her­um geschieht. Denn wahres, inneres Interesse an einer Freude, die erlebt wird, hat der Mensch nicht, der nicht diese Freude miterleben kann, und wahres, tiefes Interesse

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an dem Leide eines anderen Wesens hat der Mensch nicht, der das Leid nicht in sich mitleiden kann. In vieler Bezie­hung fallen Mitleid, Mitgefühl und Interesse zusammen. Wirkliches, wahres Interesse haben, heißt Liebe haben. Denn man kann nicht Interesse haben, ohne im wahren Sinne des Wortes Liebe, ohne Mitgefühl zu haben.

Nun ist wieder die richtige Vorbereitung für eine intui­tive Erkenntnis hier in der physischen Welt diejenige, die möglichst darauf ausgeht, die Seele dadurch zu stärken, zu kräftigen, daß die Seele sich gewöhnt, Interesse zu haben für alles, was lebt, atmet und ist, für alles Aufmerksamkeit haben zu können, was die Seele umgibt. Je tiefer unser Interesse sein kann, desto besser bereiten wir uns vor als Geistesforscher für die Intuition der höheren Welten. Daher kann man sagen: Gerade für die Geisteswissenschaft er­scheint das Hereinleuchten des Mitleides in der physischen Welt wie ein Abglanz der Tatsache, daß jene tiefen Kräfte der Seele, die zur Intuition führen, überhaupt sich nur dann wahr und richtig entwickeln können, wenn die Seele sich dazu vorbereitet durch ein wirkliches Interessehaben an der Umwelt, das heißt durch Liebehaben, durch Mitgefühl-haben.

So sehen wir überall, wo von dem rechten Wege zur Gei­stesschulung hin gesprochen wird, daß dieser rechte Weg von demjenigen untrennbar ist, was zugleich die bedeu­tendste moralische Tugend des Menschen ist. Denn in der interessevollen Liebe, in dem aufmerksamen Hinschauen auf alles Leid und alle Freude, auf alles Sein überhaupt, in dem charaktervollen Standhalten der Seele und in der Wahrhaftigkeit liegen sozusagen erschöpft die bedeutungs­vollsten, ja, die prinzipiellsten moralischen Tugenden. Wer irgendeine Tugend wird begreifen wollen, zum Beispiel eine Tugend, wie die Treue es ohne Zweifel ist, der wird

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sie leicht als eine besondere Gestaltung der Standhaftigkeit kennenlernen können. Der Mensch, der standhaft ist, wird auch in der entsprechenden Weise die Treue zu halten ver­stehen. Alle Tugenden, man möchte sagen der Umfang der Tugenden, werden in einer gewissen prinzipiellen Weise auf diese drei Eigenschaften der Seele zurückzuführen sein.

Nun muß man, wenn das Verhältnis der Geisteswissen­schaft zur Moral geschildert werden soll, auch noch darauf aufmerksam machen, wie der Mensch, wenn er wirklich zur Betrachtung der geistigenWelt gelangt, sei es durch Geistesschulung, sei es, daß er nur mit unbefangenem Sinn das hinnimmt, was die Geistesforschung ihm darbietet, hintritt vor eine Welt, die ganz besondere Anforderungen an ihn stellt, Anforderungen, die ganz gewiß umfassen werden, was die Seele braucht an Zuversicht, an Hoffnungen, was sie braucht an Kraft und so weiter. Aber der Mensch kommt auch an den Punkt, wo er sich selber gegenübersteht, wo er in voller Selbsterkenntnis aus seinem Persönlichen ge­wissermaßen herausgetreten ist, wo er in eine Welt einge­treten ist, die nicht mehr nur allein seine persönlichen In­teressen, seine persönlichen Intentionen in sich trägt. Zu jenem Punkte kommt unsere Seele auf dem Wege zur Gei­stesforschung, wo sie sich, wo sie ihrer Persönlichkeit gegen­übersteht, wo sie dem Wesen gegenübersteht, das sie bisher war. Es ist schon darauf aufmerksam gemacht worden, daß dieses Gegenüberstehen dem Wesen, das man bisher war, in der Geistesforschung bezeichnet wird als die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle, jener Schwelle, welche die übersinnliche Welt von der gewöhnlichen physischen Welt trennt. Bei diesem Hüter der Schwelle merkt man erst, was man ist, was man bisher seine Persönlichkeit, seine Interessen genannt hat, was man gewollt hat, was man gefühlt hat als etwas, was mit Sympathie oder Antipathie

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verbunden war. Das alles tritt einem wie ein frem­des Wesen gegenüber, tritt aus einem heraus. Man schaut es an wie ein fremdes Wesen und lernt sagen: Das hast du alles bisher gesprochen. Jetzt hast du es vor dir, und es zeigt sich dir wie ein anderes Wesen; du bist außer dir. -Ebenso ist es mit dem Fühlen, mit dem Wollen des Men­schen in dem Augenblicke des Begegnens mit dem Hüter der Schwelle. Wenn man dies erfährt, weiß man auch, wie stark alle die magnetisch wirkenden Kräfte sind, die einen zu der Persönlichkeit hinziehen, die man war, und die man eigentlich verlassen muß.

Das ist das bedeutsame, hier früher erschütternd ge­nannte Erlebnis, daß man merkt: Ja, man muß von sich loskommen, aber dieses Wesen, das man war, dem man da gegenübersteht, das will einen nicht loslassen, das zieht einen mit hundert und aber hundert Kräften an sich. - Und ver­fällt man diesen Kräften, kann man nicht frei werden von dem, was man bisher «sich» genannt hat, so kann man nicht in die geistige Welt eintreten. Indem man sich kennen-lernt, lernt man das Band kennen zwischen der höheren Welt, zwischen den im Menschen immer schlummernden höheren Erkenntniskräften, und zwischen dem, was man in der physischenWelt ist.Theoretisch ausgesprochen, könnte dieses Von-sich-Loskommen leicht erscheinen. Wird die­ses Ereignis erlebt, nicht nur erlebt durch Geistesschulung, sondern durch das erlebt, was der Mensch durch Geistes­schulung erkennen kann, so zeigt es sich, daß diese wie magnetisch wirkenden Kräfte nicht durch das Urteil so un­bedingt zu überwinden sind, sondern daß mit dem Von­sich-Loskommen auch die Stärke der fesselnden Kräfte wächst, so daß man fühlt: Alles, was einen zurückziehen will, wird stärker, je mehr man von sich loskommt. Man merkt immer mehr und mehr, was einen zu der gewöhnlichen

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Persönlichkeit hinzieht, und man merkt auch immer mehr, wie es notwendig ist, daß man vorher Kraft gewon­nen hat, um diesen magnetischen Kräften zu widerstehen. Das heißt, man muß dem eigentlichen Eintreten in die gei­stige Welt tatsächlich vorangehen lassen ein solches Erstar­ken der Seelenkräfte im Guten, im Moralischen, ein solches Hinneigen zu dem, was der Geist von uns fordert, daß man mit einer stärkeren Kraft, als es in der physischen Welt notwendig ist, den Verlockungen der niederen Persönlichkeit widerstehen kann.

So wird man erst gewahr, wenn man vor dem charakte­risierten erschütternden Ereignisse steht, wie jedes Sichnähern dem Geiste zugleich ein Sichnähern den moralischen Forderungen ist. So hat man wieder durch die Erfahrung etwas, was Plato, den großen griechischen Philosophen, rechtfertigt, wenn er das Göttliche «das Gute» nennt.Wenn man den Naturerscheinungen gegenübersteht, so wird man über sie ein um so richtigeres Urteil gewinnen, je mehr man sich ihnen gegenüber des moralischen Urteils enthält. Wer wollte etwa einen Salzkristall oder eine Pflanze, die in ihrer Entwicklung verkümmert sind, deshalb moralisch beurtei­len? In der gewöhnlichen physischen Welt laufen die natür­liche und die moralische Weltordnung ineinander, so daß man die Tiefe der moralischen Weltordnung erst ver­spürt, wenn man gewahr wird, daß man nur mit morali­scher Stärke wirklich in die geistige Welt eingelassen wird. Daher gilt es als ein Grundsatz der geistigen Welt, und das ist wieder eine Erfahrung: Bis zum Hüter der Schwelle kann jeder kommen; an ihm vorbeikommen kann nur der, wel­cher durch seine moralische Kraft an ihm vorbeikommt. - Wer aber nur bis zu ihm kommt und dann zurückgehen muß, der hat dann eine geistige Welt vor sich, die nur das Spiegelbild seiner eigenen Innenwelt ist. So kann jemand

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glauben, daß er eine ganze geistige Welt vor sich habe, kann den anderen Menschen auch vormachen, was er als geistige Welt vor sich zu haben meint. Und die anderen Menschen können es glauben, daß es eine geistige Welt sei, die der Wahrheit entspreche. - Wenn er nicht vermocht hat, durch seine moralische Kraft und durch seine moralische Seelenverfassung an dem Hüter der Schwelle vorbeizu­kommen, dann ist seine geistige Welt nicht von Wahrheit, nicht von Objektivität durchdrungen. Daher wird es sich von selbst ergeben, daß jede wirkliche Erkenntnis der gei­stigen Welt eine solche Darstellung der geistigen Verhält­nisse geben wird, welche durch die Art der Darstellung in der Seele zugleich nicht bloß Moral predigt, sondern Moral begründet.

Das ergibt sich insbesondere noch, wenn man in Betracht zieht, was als eine notwendige Erkenntnis der Geistes­wissenschaft hier von den verschiedensten Gesichtspunkten aus öfter dargestellt worden ist: das Leben der Menschenseele durch wiederholte Erdenleben hindurch. Alles, was wir in einem Leben sind, bildet ja Ursachen für die Eigen­schaften, welche wir in einem nächsten Leben haben. Und wie wir in einem Leben sind, so sind die Eigenschaften, die wir in uns tragen, die Wirkungen vorheriger Erdenleben. Eine Seele, welche keinen Tatsachensinn entwickelt, wird durch diesen mangelnden Tatsachensinn solche Ursachen vorbereiten, welche in dem nächsten Erdenleben die An­lagen für eine Seele bilden, welche von vornherein Un-wahrhaftigkeit in der Anlage zeigt. Unwahrhaftigkeit, so­zusagen geübt durch ein solches Seelenleben, erzeugt An­lagen der Unwahrhaftigkeit für ein nächstes Erdenleben. Wahrhaftigkeit allein, geübt in einem Seelenleben, erzeugt für das nächste Erdenleben schon in der Anlage, in dem äußerlichen Talent, Wahrhaftigkeit, so daß man, wenn man

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Wahrhaftigkeit als eine notwendige Vorbereitung für die geistige Schulung zeigt, zugleich auf etwas hinweist, was über den Tod hinaus für das nächste Erdenleben die Seele moralischer gestaltet, als sie vorher war.

Wenn in der Seele statt Starkmut, statt moralischem Mut, eine gewisse innere Gleichgültigkeit entwickelt wird, eine gewisse innere Leichtigkeit, ein gewisses Zurückweichen vor dem Sichtreusein in der Seele, vor dem Durchbringen des­jenigen, was man als wahr und richtig erkannt hat, so wird, weil dies auf die Inspiration wirkt, ein solches Leben der Seele, in welcher diese Erziehung zum Starkmut außer acht gelassen wird, dadurch gleichsam solche Ursachen legen, die wie inspirierend ins nächste Leben hinüberwirken und dort die Seele zum Selbstling, zum Egoisten machen. Egoismus in einem Leben ist gleichsam inspiriert aus dem vorher­gehenden Leben dadurch, daß in diesem letzteren nicht in der Seele moralischer Mut gewaltet hat. Und Gleichgültig­keit gegenüber aller Außenwelt, Interesselosigkeit, Unauf-merksamkeit, selbstsüchtiges verschlossenes Wesen üben, wirkt so, daß es, gleichsam wie eine Intuition, dieses gegen­wärtige Wesen hinüberschickt in die nächste Verkörperung, in das nächste Erdenleben, und dieses so intuitiert, daß dieses nächste Leben auch die Früchte davon trägt, das heißt, daß es dann in seinen Anlagen schon eine Entfrem­dung mit der Umwelt, ein Nichtzusammenhängen mit der Umwelt erzeugt.

Was heißt es denn aber, in der menschlichen Seele «der Umwelt entfremdet sein?» Oh, es heißt sehr viel. Wer der Umweh entfremdet ist, wer nicht angepaßt ist der Umwelt, auf den wirkt sie so, daß sie ihn fortwährend krank macht, und das wirkt dann nicht nur auf die Seele, sondern das wirkt auch bis in den Leib hinein. Krankhafte, ungesunde Anlagen werden wie eine Intuition aus einem vorhergehenden

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Erdenleben in ein folgendes Leben dadurch hineinge­schickt, daß diese Seele interesselos, unaufmerksam durch das Leben wandelt. Was in einer Verkörperung mehr see­lisch ist - mangelndes Interesse, mangelndes Mitgefühl mit der Welt um uns herum -, das geht in die nächste Inkar­nation tiefer hinein, bis in das leibliche Wesen hinein und erscheint als Ungesundheit.

So sehen wir, wenn wir im geisteswissenschaftlichen Sinne die moralischen Grundlagen der Menschenseele betrachten, daß wir tatsächlich an das rühren, was in dieser Menschen-seele tätig ist, was in ihr als Impulse vorhanden ist, indem die Seele sich von dem einen Leben in das andere hinüber-lebt und das neue Leben nach dem aufbaut, was sie sich als Ursachen aus dem vorherigen mitgebracht hat. So wird Moral zur gestaltenden Kraft von dem einen Leben in das andere hinüber, und wir predigen dann nicht nur Moral, sondern wir zeigen, was Moral tut, wie sie als Kraft in der Menschenseele wirkt, und dann fallen in der Tat alle diejenigen Einwände hinweg, die manchmal mit einem scheinbaren Recht gegen die Geisteswissenschaft gemacht werden. Es wird oftmals gesagt, wenn die Geisteswissen­schaft von wiederholten Erdenleben in dem Sinne spreche, daß sich durch das Karma in einem folgenden Leben aus­gleichen würde, was ein Mensch an Freud oder Leid er­fahren hat, so begründe dies einen gewissen Egoismus. Aber wenn man sich nicht um Worte streitet, sondern auf das­jenige sieht, worauf es ankommt, wenn man nicht bloß von Moral-Predigen, sondern von Moral-Begründen sprechen will, dann muß gesagt werden: Um immer moralischer und moralischer zu werden, muß die Seele immer vollkommener und vollkommener werden, das heißt, es müssen für ihr Vollkommenerwerden die inneren Impulse aufgezeigt wer­den. Es muß also aufgezeigt werden, wie moralische Impulse

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mit der Vollkommenheit oder Unvollkommenheit der Seele zusammenhängen. Wenn es sich also darum han­delt, das Verhältnis von Geisteswissenschaft zur Moral dar­zustellen, dann können wir sagen: Diese Geisteswissen­schaft ist vor den berechtigten Anforderungen der Moral ganz gewiß gerechtfertigt, denn in ihre bedeutsamsten For­derungen muß sie die moralischen Forderungen zugleich aufnehmen. Ja, sie rechtfertigt in einer gewissen Weise jene Impulse, die bei einem solchen Denker wie zum Beispiel Plato gewaltet haben, der das Göttlich-Geistige als das «Gute» bezeichnet hat, indem sie zeigt, wie das Geistige nur das Gute verträgt, das heißt mit dem Guten innig ver­wandt sein muß.

So darf die Geisteswissenschaft als etwas gelten, was nicht in einer äußerlichen Weise, sondern in einer innerlichen Weise die Prinzipien, welche Moral begründen, schon in sich enthält. Und neben vielem anderen, wovon wir im nächsten Vortrage noch zu sprechen haben, was die Geistes­wissenschaft dem Menschen geben soll für den inneren Halt seiner Seele, für die Gesundheit seiner Seele, für alles, was er braucht an Kraft zur Arbeit, an Sicherheit, um sich im äußeren Leben aufrechtzuhalten und durchzudringen zu dem, was seine Aufgabe ist, zu alledem kann uns die Gei­steswissenschaft noch etwas hinzugeben, was eine wichtige Beigabe zur Auffassung des menschlichen Lebens ist, was die Menschenseele befriedigen soll. Haben wir doch im Be­ginne dieses Vortrages darauf aufmerksam gemacht, wie Moral und moralische Beurteilung in jene Tiefen der Men­schenseele hinweisen, wo die Seele mit heiliger Scheu stille steht vor der anderen Seele, weil sie sich der Schwierigkeit bewußt ist, an das heranzudringen, wo die moralischen Im­pulse in der Seele liegen. Haben wir also gesehen, daß der, welcher von den moralischen Prinzipien im Leben spricht,

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an jene unbekannten Tiefen der Menschenseele rührt, vor denen wir mit höchster Achtung stehen müssen, so stehen, daß wir uns sagen müssen, ein jeder unberechtigte Eingriff in diese Menschenseele ist selber ein Unmoralisches -; stellt uns Moral vor jeden unserer Mitmenschen so hin, daß wir unmittelbar ahnen: Wir stehen da mit der moralischen Be­urteilung vor den Tiefen seiner Seele - so zeigt uns die Geisteswissenschaft, daß diese Tiefen der Menschenseele, wenn sie gestärkt werden, wenn sie gekräftigt und erfestigt werden, in der Tat in die objektive geistige Welt hinauf­führen, nur allein dann die Seele zum Mitbürger der geisti­gen Welten machen.

Dasjenige also, vor dem wir im moralischen Urteile mit heiliger Scheu stehen, das erweist sich uns zugleich als das, was allein eigentlich den «Passierschein» hat, um die Schwelle zu übertreten, hinter welcher der Geist mit seinen Geheimnissen waltet. Das aber macht uns aufmerksam auf das Wesen der Menschenseele, auf die Verwandtschaft der Menschenseele, wo diese sich in ihren Tiefen ergreift, mit dem guten Geist. Und das ist etwas, was uns das Leben in jenem tiefen Sinne verständlich macht, daß wir uns denn doch sagen müssen - auch da, wo wir nicht mit dem morali­schen Verhalten einer Menschenseele, die uns entgegentritt, einverstanden sein können, ja selbst wo wir ihr Verhalten hart verurteilen müssen - daß wir uns sagen dürfen, indem wir auf das Durchgehen der Menschenseele durch wieder­holte Leben hinschauen: Ja, selbst in den Tiefen der Men­schenseele, die wir sogar, berechtigterweise, moralisch ver­urteilen müssen, lebt etwas, was sie verwandt macht mit der geistigen Welt, wenn sie nur in ihre Tiefen dringen will, und sich bewußt werden will der Quellen der Moral in ihren Tiefen!

So versöhnt uns die geisteswissenschaftliche Auffassung

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der Moral mit dem, was wir den wahren Wert der Men­schenseele nennen können. Sie legt uns die Worte in den Mund, die uns gegenüber vielem, was wir brauchen - an Kraft der Freude und des Überflusses, an Kraft des Geistes und der Seele, an Trost für viele Leiden des Lebens -, an­nehmen lassen, daß es in jeder Lage der Menschenseele, auch wenn sich diese Seele in diesem oder jenem nicht bewußt ist, vieles gibt, wo die Seele von sich sagen darf: Wenn es noch so sehr verborgen ist, etwas ist in mir, was sich zum Guten bekennt! Und das trägt am meisten bei, wenn die Seele Kraft braucht, um sich aufrechtzuerhalten, trägt am meisten bei zur Kraft des Lebens und zur Kraft der Arbeit, wenn die Menschenseele, trotz vieler Verirrung auf mora­lischem Gebiete, sich dennoch sagen darf - und sie darf es sich sagen, wenn sie sich durch Geisteswissenschaft selbst erkennt -, was Theone in dem Drama «Helena» des grie­chischen Dichters Euripides sagt:

Ich will das Gute von Natur, und liebe es,
weil ich mich selber achten muß!

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DAS ERBE DES NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERTS Berlin, 10.April 1913

Der Vortragszyklus dieses Winters suchte von verschie­denen Seiten her die Geistesströmung zu charakterisieren, welche der Versuch sein soll, die Menschenseele durch Ver­tiefung in ihre eigene Wesenheit zu jenen Erkenntnissen zu führen, welche sie ersehnen muß in bezug auf die allerwich­tigsten Daseins- und Lebensrätsel. Es wurde versucht, zu zeigen, wie sich in ganz naturgemäßer Weise durch die Be­trachtung gegenwärtiger oder sich für die Zukunft anbah­nender Geistesströmungen die hier gemeinte Geisteswissen­schaft als das richtige Instrument zeigen wird, um gerade im Sinne unserer Gegenwart und der nächsten Zukunft die Menschenseele so in das Gebiet der Geisteserkenntnis hineinzuführen, wie es gemäß den durch die Entwickelung des menschlichen Geistes gegebenen Gesetzen für diese Gegen­wart und nächste Zukunft angemessen ist. Dabei wurde gleichsam als ein Unterton dieser Winterbetrachtungen im­mer versucht, anklingen zu lassen, was an Errungenschaften und Ergebnissen das Geistesleben und Geistesstreben im neunzehnten Jahrhundert der Menschheit gebracht hat. Denn man kann ja wahrhaftig sagen, bei der Art, wie ge­rade das Geistesstreben und Geistesleben des neunzehnten Jahrhunderts die Menschheit ergriffen hat, wie es diese Menschheit zu dem großen Triumph des materiellen Da­seins gebracht hat, würde es ein aussichtsloses Unternehmen scheinen müssen, wenn diese Geisteswissenchaft, wie sie hier gemeint ist, mit Auflehnung oder Abweisung gegenüber

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den berechtigten Anforderungen der Naturwissenschaft oder überhaupt der geistigen Ergebnisse des neunzehnten Jahr­hunderts auftreten müßte.

So wird es denn vielleicht als ein angemessener Abschluß erscheinen können, diesen Vortragszyklus damit zu beendi­gen, daß ein Blick auf das geworfen werde, was wir nennen können das geistige Erbe des neunzehnten Jahrhunderts, um vielleicht durch die Betrachtung dieses geistigen Erbes des neunzehnten Jahrhunderts darauf hinweisen zu können, wie naturgemäß die hier gemeinte Geisteswissenschaft für den gegenwärtigen Entwicklungszyklus der Menschheit ist.

Was versucht diese Geisteswissenschaft der Seele zu sein? Sie versucht, der Seele eine Erkenntnis ihres im Geistigen liegenden Ursprunges zu sein, sie versucht eine Erkenntnis jener Welten zu sein, jener übersinnlichen Welten, welchen die Seele als geistiges Wesen angehört, abgesehen davon, daß diese Seele innerhalb der physisch-sinnlichen Welt durch die Werkzeuge und Instrumente ihres Körpers lebt. Sie ver­sucht also, diese Seele als einen Bürger der übersinnlichen Welten zu erweisen. Sie versucht zu zeigen, daß die Seele, wenn sie jene Methoden auf sich anwendet, von denen hier im Laufe dieses Winters oft gesprochen worden ist, zu einer solchen Entwickelung kommen kann, durch welche in der Seele Erkenntniskräfte wachgerufen werden, die im son­stigen Leben des Menschen kaum wie ein Unterton dieses Lebens mitschwingen, die aber, wenn sie entfaltet und ent­wickelt werden, diese Seele wirklich in die Welten hinein­stellen, denen sie mit ihrem höheren Sein eigentlich ange­hört. Dadurch, daß die Seele diese Kräfte in sich entdeckt, gelangt sie dazu, sich als eine Wesenheit zu erkennen, gegen­über welcher Geburt und Tod oder, sagen wir, Empfängnis und Tod in demselben Sinne Grenzen darstellen, wie das blaue Himmeisfirmament für die im naturwissenschaftlichen

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Geiste erkennende Seele seit der Morgenröte der neueren Naturwissenschaft Grenzen darstellt, etwa seit dem Wirken von Giordano Bruno und derjenigen, die ihm gleichgesinnt waren. Dadurch daß sich die Seele der in ihr schlummernden Kräfte bewußt wird, geht in ihr für das Zeitlich-Gei­stige etwas Ahnliches vor, wie es in ihr vorgegangen ist für die äußere Erkenntnis des Räumlich-Materiellen in der Zeit der Morgenröte der neueren Naturwissenschaft, als zum Beispiel Giordano Bruno darauf hingewiesen hat, daß dieses blaue Himmelsgewölbe, welches Jahrhunderte und aber Jahrhunderte für eine Wirklichkeit gehalten haben, nichts weiter ist als eine Grenze, die sich die menschliche Erkennt­nis durch eine Art Unvermögen selbst setzt und über die sie hinauskommen kann, wenn sie sich selbst versteht.

Wie Giordano Bruno gezeigt hat, daß sich hinter diesem blauen Himmelsgewölbe das unendliche Meer des Raumes auftut mit den unendlichen darin eingebetteten Welten, so hat die Geisteswissenschaft zu zeigen, daß jene Grenze, die durch Geburt und Tod oder durch Empfängnis und Tod gesetzt ist, nur dadurch besteht, daß zunächst das mensch­liche Seelenvermögen sich in der Zeit ebenso begrenzt, wie es sich einst durch das blaue Himmelsgewölbe im Raume begrenzt hat, daß aber dann, wenn sich über Geburt und Tod hinaus die Unendlichkeit auf die Auffassung der gei­stigen Tatsachen ausdehnen läßt, in welche die Seele hineinverwoben ist, die Seele sich erkennt als durchgehend durch wiederholte Erdenleben. So daß das Leben der Seele auf der einen Seite in dem Dasein zwischen Geburt und Tod verfließt, auf der anderen Seite in der Zeit vom Tode bis zu einer neuen Geburt.

Wenn wir mit unserem Blick in die zeitlich-geistigen Wei­ten hinausgehen, wie die Naturwissenschaft hinausgegangen ist in räumliche Weiten, dann erkennt sich die Menschenseele,

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indem sie aus dem Leben, das sie zwischen dem Tode und der letzten Geburt durchgemacht hat, in das Leben zwischen Geburt und Tod hereintritt, sowohl als mitschaffend an der feineren Organisation des eigenen Leibes, wie sie sich auch erkennt als schaffend an dem Zimmern des eigenen Schicksals. Im weiteren ist gesagt worden - das ist vielleicht gerade in diesem Winter weniger berührt wor­den, in früheren Jahren aber schon, doch es kann in der geisteswissenschaftlichen Literatur nachgelesen werden -, daß die Seele, wenn sie sich so selber in ihren tieferen Kräf­ten erfaßt, sich auch zurückverfolgt bis in jene Zeiten, in denen mit dem Leben in körperlichen Daseinsformen der Anfang gemacht worden ist; daß sie sich zurückverfolgen kann bis in jene Zeiten, in denen sie schon da war, bevor unser Erdplanet seine materielle Form angenommen hat, bevor die Erde als materielle Form selber hervorgegangen ist aus einer rein geistigen Urwesenheit, in welcher die Men­schenseele in ihrer ersten Anlage schon vorhanden war, selbst vor der Entstehung der uns umgebenden Naturreiche, des Tier-, Pflanzen- und Mineralreiches. Und wiederum eröffnet sich der Ausblick auf eine Zukunft, in welche die Menschenseele einzugehen hat, wenn sich die Erdenverkör­perungen erfüllt haben werden, in welcher sie dann über­gehen wird in eine rein geistige Welt, welche die Erde ab­lösen wird; so daß man hinblicken kann auf eine Zukunft, in welche die Menschenseele rein geistig eintreten wird, so eintreten wird, daß sie die Früchte der irdischen Lebens­formen hinzutragen hat zu dem, was sie als ein geistiges Reich wie in einem Urzustande wieder erreichen wird. Aber nicht in derselben Form wird sie es erreichen, wie sie davon ausgegangen ist, sondern mit dem Ergebnis alles dessen, was in den Erdenverkörperungen erworben werden kann.

Wenn sich die Seele so selbst ergreift, daß sie sich mit

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den in ihr schlummernden Kräften verdichtet, dann erkennt sie sich auch im Zusammenhange mit Welten, die Ur­sprungswelten selbst gegenüber unserm Erdplaneten sind; sie erkennt sich als ein Bürger des gesamten Weltalls. Von den aufeinanderfolgenden Erdenleben der einzelnen Seele kann die Geisteswissenschaft den Aufschwung nehmen zu den aufeinanderfolgenden Leben der Planeten, ja, auch der Sonnen im Weltenall. Die Methode ist also diejenige, welche in der Seibsterziehung der Seele zu ihren tiefsten Kräften besteht. Das Ergebnis ist die Erkenntnis von Ursprung und Richtung des seelischen Lebens, die Erkenntnis davon, daß das erste der Geist ist, dem die Seele angehört, daß der Geist es ist, welcher die Materie aus sich hervorgehen läßt und in ihre Formen bringt, und die wichtigste Form, die uns im Erdendasein zunächst interessiert, ist die Form des menschlichen Leibes. Diese Erkenntnis wird sich also in der nächsten Zukunft in das Bewußtsein der Menschheit einzu­leben haben, daß der Geist das erste und oberste ist, daß der Geist die Materie aus sich entläßt, wie das Wasser das Eis aus sich hervorgehen läßt, daß der Geist es ist, der sich im Menschenleibe seine äußere Form gibt, daß der Geist zusammenhängt mit den geistigen Wirksamkeiten, Tat­sachen und Wesenheiten der Welt, und daß die Menschenseele ein Bürger dieser Welt der geistigen Tatsachen und Wesenheiten ist, die alles äußere materielle Dasein aus sich entlassen, es in die entsprechenden Formen gießen, die dann das sichtbare, das mit den Sinnen wahrnehmbare Weltall um uns herum ausmachen. So möchte ich in kurzen Worten das charakterisieren, was Methode und was Ergebnis des­jenigen sein kann, was hier Geisteswissenschaft genannt wird.

Diese Geisteswissenschaft steht in unserer gegenwärtigen Zeit erst am Anfange. Oft ist es betont worden, daß es

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durchaus begreiflich erscheinen muß, wenn sich heute noch Feinde und Gegner dieser Geisteswissenschaft von allen Sei­ten erheben. Gerade für den muß dies begreiflich erscheinen, der selber auf dem Boden dieser Geisteswissenschaft steht und sozusagen ihre ganze Eigenart gegenüber dem son­stigen Kulturleben der Gegenwart kennt. Verwunderlich ist es nicht, daß diese Geisteswissenschaft Feinde und Geg­ner findet, daß man sie als Phantasterei, als Träumerei, vielleicht zuweilen als etwas noch Schlimmeres ansieht. Ver­wunderlich würde es vielmehr sein können, wenn sich bei der Eigenart dieser Geisteswissenschaft schon in der Gegen­wart mehr Stimmen der Anerkennung und des Zuspruches ergeben würden als es der Fall ist. Denn es scheint gar sehr, als ob nicht nur die Ergebnisse dieser Geisteswissenschaft, sondern auch die ganze Art des Denkens und des Vorstellens, wie sie hier gepflogen werden mußten, allen Denkgewohn­heiten und allen Vorstellungsarten widersprächen, die sich gerade durch das Erbe des neunzehnten Jahrhunderts für die Menschheit ergeben haben. Es scheint aber nur so. Und man darf sagen, am meisten erscheint das denjenigen, welche glauben, auf dem festen Boden dieses Erbes des neunzehnten Jahrhunderts so stehen zu müssen, daß sie nur eine mate­rialistische Art oder eine materialistisch gefärbte Art der Weltbetrachtung mit diesem Erbe des neunzehnten Jahr­hunderts vereinbar halten.

Durchaus nicht im Widerspruche mit dem Erbe des neun­zehnten Jahrhunderts erscheint dem Geisteswissenschaftler selber das, was er als diese Geisteswissenschaft eben aner­kennen muß. Denn man darf auch vom Standpunkte dieser Geisteswissenschaft aus sagen, hellglänzend wird in einer gewissen Weise für alle kommenden Entwickelungsepochen der Menschheit dasjenige dastehen, was dieses neunzehnte Jahrhundert auf den verschiedensten Gebieten der Evolution

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so hoffnungsvoll und auch schon so ergebnisreich der Menschheit verliehen hat. Es ist natürlich unmöglich, den Umkreis der ganzen Welt in bezug auf diese Frage des Erbes des neunzehnten Jahrhunderts zu erschöpfen. Aber selbst, wenn man zum Beispiel nur bei dem stehen bliebe, was die Struktur des Geisteslebens Mitteleuropas oder des Abendlandes zeigt, dann würde man sagen müssen: Viel, viel Licht geht von einem wirklichen Erfassen der Bedeu­tung desjenigen aus, was sich da darbietet. Aber es ist auch außerordentlich viel, möchte man oftmals sagen, schwindel­erregende Abwechslung und Mannigfaltigkeit in der geisti­gen Entwickelung des neunzehnten Jahrhunderts gewesen, so daß der Betrachter von diesem oder jenem manchmal fasziniert sein könnte, daß er leicht veranlaßt sein könnte, einseitig zu werden und dieses oder jenes zu überschätzen. Vielleicht wird er von einer solchen Überschätzung nur da­durch geheilt, daß sich die Erfolge des neunzehnten Jahr­hunderts und die veränderten Bilder des Kulturablaufes so ergeben, daß Bild auf Bild abläuft und eine große Mannig­faltigkeit sich darbietet. Wir können natürlich nur einiges herausnehmen und wollen da den Blick auf folgendes lenken.

Wie hoffnungsvoll für das, was der Menschenseele im Innern aufgehen kann, was sie werden kann, wenn sie sich ihrer Kräfte bewußt wird und bedient, steht gerade an der Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts der große Philosoph des Abendlandes Johann Gottlieb Fiohte, der gerade damals seine berühmte Schrift «Die Bestimmung des Menschen» schrieb. Wenn man verfolgt, wie er sich während der Arbeit an dieser Schrift zu seinen vertraute­sten Freunden und zu ihm nahestehenden Persönlichkeiten darüber ausgesprochen hat, so ist es dies, daß er in die tief­sten Geheimnisse des menschlichen Erkenntnisempfindens und religiösen Empfindens einen Blick habe tun dürfen.

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Wenn man dann diese Schrift durchnimmt, so kann man fasziniert sein von einer Art von Selbstzeugnis, welches in dieser Schrift die menschliche Seele sucht um ihrer Sicherheit willen, um ihrer Hoffnung willen. Wie darin Fichte in einem ersten Kapitel davon ausgeht, daß das durch die äußere Betrachtung der Natur und der physischen Weh gewonnene Wissen im Grunde genommen nur einen äuße­ren Schein, kaum dasjenige darbietet, was man im ernsten Sinne einen Traum nennen könnte, wie er dann in den nächsten Kapiteln zeigen will, wie die Seele sich selbst er­greift, in ihrem Willen sich selbst ergreift, wie sie sicher wird ihres eigenen Daseins, so bekommt man noch mehr als durch die einzelnen Ausführungen dieser Schrift durch den ganzen Zusammenhang, in den sie sich hineinstellt, einen Eindruck, der sich etwa so charakterisieren läßt. Diese menschliche Seele hat versucht, sich die Frage vorzulegen:

Kann ich selber vor mir bestehen, wenn ich auch kein Ver­trauen habe zu all dem Wissen, das sich mir durch meine Sinne, ja auch durch die Betrachtung des äußeren Verstan­des darbietet? - Im Stile seiner Zeit hat Fichte in grandioser Weise diese Frage bejahend beantwortet. Das Eindrucksvolle dieser Schrift ist gerade das, was sie der Seele werden kann durch die Art der Sprache, durch den innerlich sicheren Ton, der so sicher ist, trotz des Verzichtes auf äußeres Scheinwissen.

Nun steht allerdings diese Schrift mitten drinnen in einem Streben gerade des abendländischen Geisteslebens nach den Quellen menschlicher Zuversicht und menschlichen Erken­nens. Es folgte auf die Zeit, in der Fichte zu einer solchen kraftvollen Art die Menschenseele zu erfassen sich aufschwang, sozusagen die Glanzperiode des philosophischen Strebens. Was noch Fichte selber. versucht hat, was Schel­ling, was Hegel, was Schopenhauer versucht haben, was

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auf philosophischem Gebiete im ersten Drittel des neun­zehnten Jahrhunderts versucht worden ist, um mit der Kraft des menschlichen Denkens in die Geheimnisse der Welt hineinzudringen, das alles wirkte - man mag sich heute zu den Ergebnissen dieses Geistesaufschwunges stellen wie man will - durch die ganze Art, wie man in diesem Streben ge­fühlt hat, wie man gewollt hat, grandios auf jede fühlende und empfindende Menschenseele.

Wenn man auf sich wirken läßt, was Schelling, man möchte sagen, aus einer durch den Intellekt sicher gewor­denen, dann aber mehr phantasievollen Auffassung der Welt zu gewinnen sucht an einem Weltbild, das ihn wirk­lich über alle Materie in die geistige Weltentwickelung zu tragen vermag, wenn man dann übergeht zu dem Gedan­kenstreben Hegeis, welches dem Menschen die Kraft zu­traut, allein durch die Gedankenkraft in das Innere der Dinge hineinzudringen, so daß Hegel der Menschenseele klarmachen wollte, daß sie in der Gedankenkraft die Quel­len hat, worin alle Kräfte der Welt hineinfließen und worin man alles hat, um sich sozusagen im Ewigen zu er­fassen - dann sieht man hin auf ein kraftvolles Ringen der Menschheit. Man braucht sich nur an die Hoffnung und an die Zuversicht zu halten, die an dieses kraftvolle Ringen geknüpft waren.

Und wieder, wenn man den Blick zurückwendet, dann fällt einem vielleicht etwas auf, was den tieferen Betrach­ter dieser ganzen Zeitepoche, von der jetzt flüchtig die Rede ist, einigermaßen über ihren Ursprung aufklären kann. So fällt für das Jahr 1784 der betrachtende Blick auf eine kleine charakteristische Abhandlung von Kant, die den Titel trägt: «Was ist Aufklärung?» Der fast pedantische Stil läßt nicht immer erahnen, wie tief die zuweilen recht verstandesmäßigen Gedanken dieser Abhandlung in dem

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ganzen Ringen der Menschenseele in der neueren Zeit wur­zeln. «Was ist Aufklärung?» Diese Frage stellte sich Kant, derselbe Kant, der durch das oftmals chaotische aber doch kraftvolle Streben des menschlichen Geistes, wie es zum Beispiel bei Rousseau zutage getreten ist, so ergriffen wurde, daß er, als er Rousseau in seinen Schriften kennenlernte -was mehr ist als eine Anekdote -, keine Ruhe hatte, son­dern seine ganze Tagesordnung durchkreuzte und zu ganz unregelmäßiger Zeit - Kant, nach dessen Spaziergang man sich sonst die Uhr stellen konnte - in Königsberg spazieren ging! Aber man weiß, wie Kants Seele durch die Freiheits-bewegung des achtzehnten Jahrhunderts aufgerüttelt war. Dies tritt uns denn, wenn wir diese kleine Schrift in die Hand nehmen, in den Sätzen, die wir da lesen, man möchte sagen recht monumental entgegen. Aufklärung, meint Kant, ist das Heraustreten der Menschenseele aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit. - Erkühne dich, dich deiner Vernunft zu bedienen! - Dieser Satz steht in Kants Schrift vom Jahre 1784. Man würdigt eigentlich diesen Satz: Erkühne dich, dich deiner Vernunft zu bedienen!, wie auch den anderen erst recht, wenn man sich klar ist, daß sich in ihnen wirklich etwas ausdrückt wie ein in gewisser Be­ziehung erst Zusichkommen der Menschenseele. Versuchen wir einmal an einem einfachen Gedanken diese zwei Kan­tischen Sätze aus seinem Aufsatze vom Jahre 1784 in ihrem rechten Lichte zu sehen.

Cartesius, der ja als Philosoph nicht lange dem Kanti­schen Wirken vorangegangen ist - wenn man das «nicht lange» im Sinne der Weltentwickelung betrachtet -, ging auf einen markanten, bedeutungsvollen Satz zurück. Er verwies die Menschenseele auf ihr eigenes Denken und tat damit noch einmal dasselbe, was in den ersten christlichen Jahrhunderten schon Augustinus getan hat. Es klang wie

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ein Grundton des Seelenlebens von Cartesius der Satz aus:

«Ich denke, also bin ich», und er sagte damit etwas, was schon Augustinus ähnlich gesagt hat: Man kann an der ganzen Welt zweifeln, aber indem man zweifelt, denkt man, und indem man denkt, ist man, und indem man sich so im Denken erfaßt, hat man in sich selber das Sein erfaßt. Es kann ein Mensch mit gesundem Sinn, meint Carte­sius, unmöglich sich als denkende Seele erkennen und an seinem Sein zweifeln. Ich denke, also bin ich - das war, trotzdem schon Augustinus in dem Fassen eines solchen Satzes vorangegangen ist, dennoch für das Jahrhundert des Cartesius und für das, was dann im achtzehnten Jahrhun­dert nachwirkte, etwas außerordentlich Bedeutsames. Aber wenn man nun Cartesius verfolgt, wie er weiter darauf ausgeht, eine Weltanschauung zu zimmern, von diesem Satze als Grundlage eben weiterblickend, dann sieht man, daß er überall aufnimmt, was von den Jahrhunderten her­ein an Traditionen, an Überlieferungen da ist. Man sieht, wie er mit seinem Denken, mit dem, was aus der Menschenseele selber aufquellen will, Halt macht vor den aus den Jahrhunderten zusammengebrachten Überlieferungen, Halt macht vor den geistigen Wahrheiten, vor den Fragen nach dem Schicksal der Menschenseele nach dem Tode und so weiter. Vor den eigentlichen geistigen Wahrheiten macht Cartesius Halt.

Wenn man das bedenkt, dann geht einem auf, was es heißt, daß mitten aus dem Zeitalter der Aufklärung her­aus im achtzehnten Jahrhundert die Kantischen Sätze er­klungen haben: Aufklärung ist das Heraustreten der Men­schenseele aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit, - und: Erkühne dich, dich deiner Vernunft zu bedienen! - Das heißt, man hat sich jetzt an die Absicht herangewagt - und gerade der charakterisierte Kantische Satz ist dafür ein Beweis

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-, der menschlichen Seele die Kraft zuzutrauen, zu den Quellen ihres Daseins, zu den Quellen ihrer Kräfte durch ihre eigene Macht, durch ihre eigene Größe zu kommen.

Von da ging dann alles aus, was in den kühnen Sätzen der angeführten Fichteschen Schrift liegt, von da ging aus jene kühne Gedankenarbeit, die so grandios dasteht in der Philosophie des Abendlandes vom ersten Drittel des neun­zehnten Jahrhunderts. Wenn man dann diesen Aufschwung des menschlichen Geistes betrachtet, den wir heute nicht in bezug auf Wahrheit oder Unwahrheit seines Inhaltes be­trachten wollen, sondern in bezug auf das, was die Men­schenseele an innerer Zuversicht und Hoffnungssicherheit daraus zu gewinnen hoffte, und wenn man den Blick weiter in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hereinwendet, da wird man dann vielleicht recht wehmütig berührt durch ein Wort eines solchen Mannes wie des Philosophiegeschicht-schreibers, auch des selbständigen Philosophen, namentlich aber des Biographen Hegels, Karl Rosenkranz. So schreibt er in seiner Vorrede zu dem «Leben Hegeis» (1844): «Nicht ohne Wehmut trenne ich mich von dieser Arbeit, müßte man doch nicht irgend einmal das Werden auch zum Dasein kommen lassen! Denn scheint es nicht, als seien wir Heu­tigen nur die Totengräber und Denkmalsetzer für die Philo­sophen, welche die zweite Hälfte des vorigen (achtzehnten) Jahrhunderts gebar, um in der ersten des jetzigen zu ster­ben?» Man fühlt aus einem solchen Ausspruche vielleicht mehr als aus sonstigen Schilderungen, wie um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts der ganze Glanz des philosophi­schen Strebens von der Wende des achtzehnten zum neun­zehnten Jahrhundert und aus dem ersten Drittel des neun­zehnten Jahrhunderts schnell erloschen war.

Aber ein anderer Glanz erhebt sich sofort. Indem in den dreißiger, vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts

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der Glanz des philosophischen Geisteslebens schnell hin­schwand, stieg auf eine neue Zuversicht, man möchte sagen eine neue Hoffnungsseligkeit. Vorbereitet war das schon durch die großen naturwissenschaftlichen Überblicke eines Physiologen wie Johannes Müller und durch alles, was Leute wie Alexander Humboldt und andere getan haben. Aber dann kamen solche bedeutsamen Errungenschaften wie die Entdeckung der Zelle und ihrer Wirkung im leben­digen Organismus durch Schleiden und Schwann. Damit war eine neue Epoche des Glanzes naturwissenschaftlicher Erkenntnis eingeleitet. Und jetzt sehen wir an das, was da getan worden ist, alles sich anschließen, was tatsächlich in der Evolution des neunzehnten Jahrhunderts unsterblich glänzen wird. Wir sehen, wie sich anschließen die großen Errungenschaften der Physik: noch in den vierziger Jahren die Entdeckung des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft und von der Umwandlung der Wärme durch Julius Robert Mayer und durch Helmholtz. Wer die Physik der Gegen­wart kennt, der weiß, daß erst durch diese Entdeckung die Physik in der neueren Auffassung möglich geworden ist. Wir sehen, wie die Physik von Triumph zu Triumph ge­führt wird, wie durch die Entdeckung der Spektralanalyse durch Kirchhoff und Bunsen der Blick hinausgelenkt wird von den materiellen Erdverhältnissen in die Anschauung der materiellen Himmelsverhältnisse, indem erkannt wird, wie sich die gleichen Stoffe in den ganzen Himmelsverhält­nissen offenbaren. Wir sehen, wie die Physik dazu gelangt, ihre theoretischen Grundlagen zu verbinden mit der prak­tischen Verwertung ihrer Grundsätze, wie es ihr gelingt, in die Technik einzudringen, und wie sie die Kultur des Erdplaneten verändert. Wir sehen Naturgebiete wie die der Elektrizität und des Magnetismus, indem sie nilt der Technik verbunden werden, als etwas Großes dastehen. Zukunftsverheißungen

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im höchsten Maße sehen wir sich an­schließen an die Betrachtung des Lebendigen, des Organi­schen, die Darwin und in ihren weiteren Ausgestaltungen Haeckel gaben.

Das alles sehen wir sich einverleiben dem Geistesleben der Menschheit. Wir sehen, wie sich an Lyell's Forschungen aus dem Anfange des neunzehnten Jahrhunderts die heutige Geologie anschließt, die von dem Ablaufe des Erdgeschehens im materiellen Sinne ein Bild zu geben versucht. Wir sehen, wie auch da immerhin grandiose Versuche gemacht werden, durch rein materielle Gesetze das Menschenwerden in das Erdgeschehen einzugliedern, das Biologische mit dem Geo­logischen zu verbinden. Das alles, was sich dann an die Stelle hingestellt hat, welche im ersten Drittel des neun­zehnten Jahrhunderts die Zuversicht zu der Kraft des Ge­dankens eingenommen hat, das alles hat aber tief einge­griffen nicht bloß in die theoretischen Weltanschauungen. Denn wenn bloß das der Fall gewesen wäre, so könnte man sagen: das alles ging zunächst wie auf einer Art oberem Horizont der Geistesentwickelung vor; aber darunter ist der Horizont der übrigen Bevölkerung, die sich damit nicht befaßt. - Nein, es gibt nichts in der Menschheitsentwicke­lung, wohinein nicht seine Triebe getrieben hat, was jetzt mit flüchtigen Strichen gezeichnet worden ist. Wir sehen es sich überall hineinerstrecken in die geheimnisvollen Bildun­gen dieses Geistesganges der Menschheit.

Die Menschenseele selber ist in ihrem innersten Wesen und Sein durchaus nicht unberührt geblieben von dem, was sich da vollzogen hat. Es könnte zusammengestellt werden, was sich da vollzogen hat, gleichsam charakterisierend das Erbe, das uns das neunzehnte Jahrhundert hinterlassen hat, etwa in einer Seele, die noch hatte hinhorchen dürfen auf das, was aus Fichtes Munde gekommen ist, was zum Beispiel

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enthalten ist in seiner Schrift «Die Bestimmung des Menschen». Eine solche Seele würde gewisse Empfindungen und Gefühle gehabt haben über ihr eigenes Wesen, über die Art, wie sie sich selber erleben kann. Diese innere Struktur in bezug auf das Sich-selber-Erleben im Beginne des neun­zehnten Jahrhunderts würde sich wesentlich anders dar­stellen, wenn wir eine Seele betrachten, die, ich will nicht sagen sich zu einem materialistischen Bekenntnisse hält, son­dern die sich mit offenen Sinnen und mit Interesse alledem hingibt, was als berechtigt aus dem Erbe des neunzehnten Jahrhunderts fließt. Diese Menschenseele ist bis in ihrem innersten Wesen nicht unberührt geblieben von dem, was sich um sie herum entfaltet an Ausdehnung der Großstadt-zentren, ist nicht unberührt geblieben von den Kulturerrungenschaften, die wie eine Verkörperung des neuen Geisteslebens dastehen, jenes Geisteslebens, das an der An­schauung der neuen Gesetze der mechanischen Weltordnung gewonnen worden ist. Von diesen Anschauungen, die sich sozusagen geneigt erweisen, das Weltall in seinen Gesetzen ähnlich anzusehen wie die Gesetze, die auch die Maschinen, die Lokomotive beherrschen, war eine Seele noch frei, die sich mit ganzem Herzen einer Schrift hat hingeben können wie Fichtes «Bestimmung des Menschen». Man hat mit Recht hervorgehoben, daß diese Menschenseele ihre Um­gestaltung erfahren mußte unter dem Eindrucke alles dessen, was sich ganz notwendig ergeben hat als ein materielles Kulturergebnis des sich im charakterisierten Sinne umgestal­tenden Denkens, Fühlens und Empfindens des neunzehnten Jahrhunderts.

Man versuche einmal, an einzelnen Symptomen sich klar-zumachen, was alles eingetreten ist als Folge dessen, was das naturwissenschaftliche Denken des neunzehnten Jahr­hunderts geliefert hat. Man denke daran, wie der Maler

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in früheren Zeiten vor der Leinwand gestanden hat, wie er seine Farben gemischt hat, wie er gewußt hat, daß sie halten werden; denn er wußte, was er da hineingemischt hat. Das neunzehnte Jahrhundert mit seinen großen Er­rungenschaften und den Fortschritten seiner Technik weist den Maler an, sich seine Farben zu kaufen. Er weiß nicht mehr, was sich seinen Sinnen darbietet, er weiß nicht, wie lange der Glanz, den er damit auf der Leinwand hervor­ruft, wie lange der Eindruck halten wird. Ja, es ist ja nur unter dem Einfluß der aus den naturwissenschaftlichen Er­rungenschaften hervorgegangenen Technik möglich, was wir heute als öffentliche Publizistik haben, als unser modernes Zeitungswesen und alles, was dann doch auf die Menschen-seele Eindruck macht, was vor allem das ganze Tempo der Menschenseele geändert hat, damit die Gedankenformen, den ganzen Einfluß auf die Gefühle und damit auch die Struktur der Gefühle. Es braucht nicht nur daran erinnert werden, mit welcher Schnelligkeit heute durch die Errungen­schaften der modernen Technik die Dinge an den Menschen herantreten, sondern es muß auch darauf hingewiesen wer­den, wie schnell das, was der menschliche Geist erringt, durch die Publizistik an die menschlichen Geister heran-dringt, und welche Fülle an den menschlichen Geist herandringt.

Nun vergleiche man, was heute ein Mensch durch diese Publizistik von dem erfährt, was in der Welt vorgeht, auch von dem, was der menschliche Geist erforscht, mit der Art, wie er die ganzen Vorgänge im Beginne des neunzehnten Jahrhunderts erfahren konnte. Nehmen wir einen Geist wie Goethe! Wir können ihn ja gerade betrachten, weil wir aus der sorgfältigen Art, wie sich sein Briefwechsel er­halten hat, beinahe wissen, was er von Stunde zu Stunde getrieben hat, wissen können, was er mit diesem oder jenem

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Gelehrten gesprochen und getrieben hat. Dadurch fließen langsa m in seiner einsamen weimanschen Stube die Er rungenschaften des menschlichen Geisteslebens zusammen Aber es war doch der Zentralpunkt Goethe notwendig, da mit sich das hat vollziehen können, was heute jeder durch die Publizistik haben kann. Aber das verändert die ganze Menschenseele, die ganze Stellung der Menschenseele zur Umwelt.

Gehen wir an etwas anderes heran. Wir schreiben heute Bücher oder lesen Bücher. Wer heute ein Buch schreibt der weiß, daß es nach etwa sechzig Jahren nicht mehr gelesen werden kann, wenn es auf demjenigen Papier gedruck ist, das den großen Errungenschaften der Technik zu verdanken ist, denn es wird dann pulverisiert sein. So weiß man wenn man sich keiner Illusion hingibt, wie sehr das was man früher getrieben hat, von dem absticht, was heute vorhan­den ist.

In einem Vortrage dieses Zyklus habe ich einen Geist zu charakterisieren gesucht, der, wenn er auch mit dem ganzen Geist der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu­sammenhängt, doch ein Geist der zweiten Hälfte diesesJahr­hunderts ist: Herman Grimm. Wir haben gesehen daß er sich darstellt wie ein Bewahrer des Erbes der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in die zweite Hälfte hin ein. Aber wer mit innerem Verständnis Herman Grimms Kunstaufsätze liest, wird unter anderem zweierlei bemerken Bei ihm klingt überall durch, gerade durch die wertvollsten Aufsätze, eine gewisse Schule, die er durchgemacht hat, eine Schule, die man aus jedem Aufsatze herausklingen hören kann. Das ist die Schule, die er nur durchmachen konnte, weil er in verhältnismäßig frühen Zeiten, durch das, was man so Zufall nennt, in die Hand eines großen Geistes kam, in die Hand Emersons, eines großen Predigers und Schrift-

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stellers, der nicht im Sinne älterer Zeiten, sondern im modernsten Sinne ein Prediger und Weltanschauungsschrift­steller war. Man versuche, sich von Emerson eine Vor­stellung zu machen, versuche, sich in ihn zu vertiefen, und man wird finden: ein Geist des neunzehnten Jahrhunderts steht in ihm vor uns. Man versuche, den Pulsschlag der Ge­danken zu empfinden, die selbst dann mit der Färbung und der Nuance des neunzehnten Jahrhunderts auftreten, wenn sie sich auf Plato, den Philosophen, oder auf Swedenborg, den Mystiker, beziehen. Auch wenn sie noch so vorurteilsfrei sind, sind es Gedanken des neunzehnten Jahrhunderts, die man nur denken kann in einem Jahrhundert, das be­stimmt war, den Telegraphen zum Mitteilungsapparat der Welt zu machen. Gerade an Emerson hat man einen Geist, der, ganz wurzelnd in der Kultur des Abendlandes, diese Kultur des Abendlandes zu dem erhebt, was sie im eminen­ten Sinne geworden ist, gerade an ihm hat man einen Geist, der einem die Beschleunigung des Denkens darstellt. Man versuche, eine Seite bei Emerson zu vergleichen mit einer Seite bei Goethe, wo man Goethe auch aufschlagen mag. Man versuche dann - was man allerdings bei Goethe als natürlich wird finden müssen -, das Bild des gemächlich noch mit dem Schritte des achtzehnten und dem Beginne des neunzehnten Jahrhunderts hingehenden Goethe zu ver­gleichen mit dem rasch eilenden Wesen des Menschen des neunzehnten Jahrhunderts, das nachwirkt in dem Gedan­kenschlage von Herman Grimm. Das ist das eine.

Dann aber haben wir gesehen, wie Herman Grimm in seinem wunderbaren Zeitroman «Unüberwindliche Mächte» sogar auf den Bestand des menschlichen Ätherleibes oder Lebensleibes hingewiesen hat, wie er hinwies auf vieles, was erst in der Geisteswissenschaft seine Vollendung er­fahren hat. Man kann aber auch sehen, wie Herman Grimm

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in einer durchaus persönlich interessanten, hervorragenden Weise auf alles Künstlerische eingeht, wie er entferntere Zeiträume künstlerisch nebeneinander hinzustellen vermag, wie er eine interessante, feinsinnige Kunstbetrachtung zu geben vermag. Unmöglich ist es für den, der auf solche Dinge hinzuschauen vermag, zu denken, daß die Gedanken, welche die schönsten Aufsätze Herman Grimms bilden, in einem anderen Zeitalter hätten verfaßt werden können als in dem, wo es Herman Grimm möglich war , nicht an -ders als im Eilzuge von Berlin nach Florenz oder Südtirol zu fahren. Denn dieses ist die Voraussetzung, daß sich man­ches aus seinem Schaffen hat bilden können. Man stelle sich vor, daß jemand wie Herman Grimm in früheren Jahr­hunderten hätte sagen können: Die wichtigsten Partien meines Homer-Buches habe ich immer in Gries bei Bozen in den Wochen des Frühlings geschrieben, weil ich da die Wirkung des Frühlings empfinde! - Daß sich so etwas in das Menschenleben eingliedert, ist nur in der ganzen Atmo­sphäre des neunzehnten Jahrhunderts möglich. Da fühlen wir zusammenströmen, was wie eine wunderbare Kunstbetrachtung bei Herman Grimm hervorquillt, was sich er­weist als hineingehend in die Seele des ganzen Kulturein­schlages des neunzehnten Jahrhunderts, mit dem, was ausgeht von der Technik, und in diese wieder hineinstromend, von den Triumphen des neunzehnten Jahrhunderts.

Es ist unmöglich, etwas von den tiefsten Dingen des neun­zehnten Jahrhunderts zu verstehen, wenn man sie nicht zusammenzufassen vermag mit dem, was das wichtigste Erbe des neunzehnten Jahrhunderts ist: mit den naturwissenschaftlichen Gedanken, mit denen das neunzehnte Jahrhundert die Welt zu erfassen suchte. Wir können heute gar nicht anders als zugeben, daß in unserer Seele etwas lebt als eines ihrer wichtigsten Instrumente, was gar nicht

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da sein würde ohne die Struktur des naturwissenschaft­lichen Denkens, wie wir es als Erbe des neunzehnten Jahr­hunderts haben. Das ist die eine Seite, die Seite, die sich uns in dem darstellt, was diese Menschenseele aus sich gemacht hat, nachdem sie das mit sich vorgenommen hat, was Kant so monumental charakterisiert hat, indem er sagte: Aufklärung ist das Heraustreten der Menschenseele aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit, und: Erkühne dich, dich deiner Vernunft zu bedienen! - Durch den philosophi­schen Aufschwung hindurch, hinüber in das Zeitalter der Naturwissenschaft ging diese Tendenz der Aufklärung, das heißt, das Sichbedienen der Forschungsmittel der mensch­lichen Seele, so, wie diese menschliche Seele nun einmal ist. Wie ist das aber im ganzen gekommen?

Geisteswissenschaftlich betrachtet, müssen wir einen grö­ßeren Zusammenhang vor uns hinstellen, wenn wir nun verstehen wollen, was da eigentlich zum Ausdruck gekom­men ist, wenn wir die Konfiguration, die Struktur unserer Seele verstehen wollen, in die wir da auf der einen Seite hereinspielen sehen den Willen zur Aufklärung, auf der anderen Seite alles, was die naturwissenschaftliche Kultur gegeben hat. Da müssen wir mindestens drei aufeinander­folgende Kulturepochen der menschlichen Entwickelung nebeneinanderstellen. Auf diese Kulturzyklen wurde in An­knüpfung an diese Vorträge bereits hingewiesen im Sinne derjenigen Betrachtung, welche sich einer Erkenntnis des menschlichen Geisteslebens ergibt, die da zu ergründen ver­sucht, wie die menschliche Seele durch die Zeitalter hin­durch in aufeinanderfolgenden Erdenleben wiederkehrt und aus früheren Zeitaltern in spätere nicht nur ihre eigene Schuld hinüberträgt, um sie im Sinne eines großen Schick­salsgesetzes zu sühnen, sondern auch das hinüberträgt, was sie an Kuhurerrungenschaften innerlich erlebt hat. Im Sinne

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dieser geistigen Erkenntnis unterscheiden wir zunächst drei Zeitalter. Andere Zeitalter gehen diesen dreien voran. Es ist aber heute nicht die Zeit vorhanden, um auf sie einzu­gehen.

Das Zeitalter, das für uns zunächst Wichtigkeit hat, sei genannt das ägyptisch-chaldäische Zeitalter, das etwa seinen Abschluß gefunden hat im achten Jahrhundert der vorchristlichen Zeitrechnung. Wenn man es charakterisieren will, so kann man etwa sagen: Die Menschenseele hat innerhalb dieses Zeitalters so gelebt, daß sie noch etwas ahnte von ihrem Zusammenhange mit dem ganzen Univer­sum, mit dem ganzen Kosmos. Sie fühlte sich noch in ihrem Schicksale auf der Erde abhängig von dem Gang der Sterne und von den Ereignissen des großen Weltalls. Betrachtungen über die Abhängigkeit des menschlichen Lebens von den &ternenwelten, von dem großen Weltall, füllen dieses Zeit­alter früherer Jahrtausende aus, eben bis etwa zum achten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. In einer wunder­baren Weise fühlte sich die Seele berührt, wenn sie sich in die alt-ägyptische oder alt-chaldäische Weisheit vertiefte, wenn sie sah, wie alles darauf hinging, den Zusammenhang der Seele mit dem Kosmos über das enge Menschendasein hinaus zu fühlen. Etwas, was wichtig war, um diesen Zusammen­hang der Seele mit dem Kosmos zu erfühlen, war in dieser Kulturepoche die Erscheinung zum Beispiel des Sirius. Und wichtig in bezug auf das, was der Mensch für die Kultur der Seele tat, was er für die Seele verwertete oder selbst vollbrachte, war die Beobachtung der Himmelsgesetze. Der Mensch fühlte sich aus dem ganzen Weltall heraus geboren, fühlte ebenso seinen Zusammenhang mit dem Außerirdi­schen wie mit dem Irdischen; er fühlte sich gleichsam aus geistigen Welten herunterversetzt in die Erdenwelt. Dieses Empfinden war ein letzter Nachklang des uralten Hellsehens,

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von dem die Menschenseele ausgegangen ist, und das hier öfter erwähnt worden ist. Dieses uralte Heilsehen war in Urzeiten vorhanden, und der Mensch hat es im Laufe der Entwickelung verloren, damit er die Welt in der jetzigen Art betrachten kann. Damals, in der ägyptisch-chaldäischen Zeit, war noch ein Nachklang an das alte Helisehen vor­handen. Der Mensch konnte noch den geistigen Zusammen­hang seelisch-geistiger Gesetze in allem natürlichen Dasein erfassen und wollte ihn erfassen. Die Menschenseele war da in einer gewissen Beziehung nicht allein mit sich. Sie war, indem sie sich auf der Erde fühlte, verbunden und ver­wachsen mit den Kräften, die aus dem Weltall in die Erde hereinspielten.

Dann kam die griechisch-lateinische Zeit, die wir etwa mit dem, was sie in ihrer Wesenheit ausmacht und in ihren Nachwirkungen dann rechnen können von dem achten vorchristlichen Jahrhundert bis in das dreizehnte, vierzehnte, fünfzehnte nachchristliche Jahrhundert hinein, denn solange dauern noch die Nachwirkungen dieser Kulturepoche. Wenn man dieses Zeitalter, namentlich in seinem ersten Aufgange, betrachtet, dann findet man als das Eigentümliche, daß die Menschenseele sich in einem höheren Sinne freigemacht hat von dem Universum, freigemacht hat in ihrem Wissen, in ihrem Glauben, in der Anerkennung der in ihr wirkenden Kräfte. Da kann man insbesondere sehen, wenn man den Griechen betrachtet: der gesunde Mensch, wie er sich in der Seele entfaltete, fühlte sich aber auch, so wie er auf der Erde dastand, im Zusammenhange mit seinem natürlich-leiblichen Wesen. Das ist es, was die Griechenseele fühlte und empfand in dem zweiten der jetzt für uns in Betracht kommenden Zeiträume. Es ist heute eigentlich schwer zu charakterisieren, was damit gemeint ist. Wir versuchten, es unserem Verständnisse nahezubringen bei Gelegenheit der

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Betrachtungen über Raffael und Lionardo da Vinci. Der Grieche lebte ganz anders in bezug auf das Geistig-Seelische. Besonders war das zum Beispiel beim griechischen Künstler der Fall. Man wird heute gar nicht einmal recht zugeben wollen, was das Besondere im Fühlen und Empfinden der griechischen Seele war. Daß der Bildhauer, der die mensch­liche Gestalt im echten Sinne hinstellte, das vor sich haben konnte, was wir heute das Modell nennen, daß er die menschliche Gestalt dem Modell nachformte, ist für den Griechen unmöglich zu denken. So war es nicht. Das Ver­hältnis des heutigen Künstlers zu seinem Modell wäre in Griechenland undenkbar gewesen. Denn der Grieche hat gewußt: In meinem ganzen Leibe lebt mein Geistig-Seelisches. Er empfand, wie die Kräfte dieses Geistig-Seelischen hineinfiossen in die Formung des Armes, in die Bildung der Muskeln, in die Bildung der ganzen Menschengestalt. - Und er wußte dann, so wie sie in die Menschengestalt hineinflossen, so mußte er sie in seinen Skulpturwerken zum Aus­druck bringen. Gemäß der inneren Erkenntnis der Leibesnatur wußte er nachzuschaffen, was er selber im äußeren Materiellen empfinden konnte. So konnte er sich etwa sagen: Ich bin schwach, aber ich könnte, wenn ich meinen Willen entwickelte, diesen Willen in die Bildung der Mus­keln, in die Bildung des Armes hineinwirken lassen und dadurch stärker werden. - Was er so erlebte, das goß er in seine Gestalten hinein. Die Anschauung der äußeren For­men war für ihn nicht das Wesentliche, sondern das Fühlen des Hineingestelitseins des Menschen in die Erdenkultur in dem eigenen Leiblich-Seelischen und Nachbildung dessen, was in dem Außeren erlebt wurde.

So aber war auch das Erleben der ganzen Persönlichkeit im Griechentum. Sich einen Perikles oder einen anderen Staatsmann etwa so zu denken wie die modernen Staatsmänner,

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ist ganz unmöglich. Wir sehen heute einen moder­nen Staatsmann aus allgemeinen Prinzipien heraus das ver­treten, was er denkt und will. Wenn Perikles im alten Athen vor die Leute hintritt und etwas ausführt, so ist es nicht deshalb, weil er sich sagt: Weil ich es einsehe, muß es aus­geführt werden. - Das ist nicht der Fall. Sondern wenn Perikles vor die Leute hintritt und geltendmacht was er will, dann ist es sein persönlicher Wille. Und wenn es ein­gehalten wird, so geschieht es, weil der Grieche die Erkennt­nis hat, welche weiß, daß Perikles das Richtige wollen kann, weil der als Persönlichkeit es empfindet. Da ist der Grieche eine in sich geschlossene Natur, er lebt sich selber, sich ge­schlossen denkend. Er kann es, weil er nicht mehr, wie der Angehörige der ägyptisch-chaldäischen Zeit, den Zusam­menhang fühlt mit den Göttern und so weiter. Das ist nur noch als Nachklang vorhanden. Was er aber unmittelbar erlebt, das ist, daß er mit dem Geistig-Seelischen verbunden fühlt sein Körperlich-Leibliches. So daß er auf diese Weise zwar mit seiner Seele schon mehr allein steht als der Mensch der ägyptisch-chaldäischen Zeit, daß er aber noch mit der ganzen übrigen Natur verbunden ist, weil ihm sein Körper, sein Leib, dieses Verbundensein gegeben hat. Man muß das fühlen: Die Seele in der griechisch-lateinischen Zeit, schon mehr frei von dem allgemeinen Universum als in dem vor­hergehenden Zeitraume, muß sie aber noch verbunden füh­len mit alledem, was in den Naturreichen ringsherum ist. Denn die Seele fühlte sich verbunden mit dem, was ein Extrakt aus diesen Naturreichen ist, dem Körperlich-Leib­lichen. Dieses Fühlen ist das, was man als das Charakteri­stische dieses griechisch-lateinischen Zeitraumes ansehen muß, in den dann hineinfiel das Mysterium von Golgatha.

Nun sehen wir heraufkommen - und wir sind mit unse­rem Denken und Fühlen mittendrinnen stehend - den driten

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Zeitraum, den wir zu betrachten haben. Wie unter­scheidet er sich von dem griechisch-lateinischen Zeitraume? Wieder viel mehr allein ist die Menschenseele, denn der Grieche fühlte sich mit dem , was er im Leibe war , mit der Natur verbunden. Stellen wir vor den Griechen die Mög­lichkeit hin, er hatte sich durch ein neuzeitliches Mikroskop die kleinsten Lebewesen anschauen sollen, er hätte die Zellentheorje denken sollen. Unmöglich für die griechische Seele! Denn sie würde gegenüber diesen mikroskopischen Betrachtungen, wenn sie über die erste Neugier hinausge kommen wäre, empfunden haben: Das ist ja ganz unnatür­lich und unnaturgemäß, da Instrumente zu ersinnen, durch die man die Dinge anders sieht, als sie sich dem natürlichen Auge des Leibes darstellen! - So verbunden fühlte sich der Grieche mit seiner Natur, daß es ihm unnatürlich vorge­kommen wäre, die Dinge anders zu sehen als sie sich dem Auge darbieten. Und durch das Teleskop die Weltendinge sichtbar zu machen , wäre ihm ebenso unnatürlich vorge kommen. Es gleicht hier die alte griechische Denkweise in vieler Beziehung dem Empfinden einer Persönlichkeit, die von dieser Denkweise belebt war, und die den schönen Aus­spruch getan hat: Was sind alle Instrumente der Physik gegenüber dem menschlichen Auge, das doch der wunder­barste Apparat ist! - Das heißt, das griechische Weltbild war das naturgemäßeste, das man gewinnt, wenn man möglichst wenig die Sinne mit Instrumenten bewaffnet und so die Dinge anders macht, als man sie erblickt, wenn der Mensch unmittelbar die Natur wahrnimmt, wie er eben in die Umwelt hineingestellt ist.

Ganz anders unsere Zeit! In unserer Zeit war es ganz natürlich, und immer mehr und mehr kam es so durch die Geistesentwickelung seit dem eben charakterisierten Zeitraume, daß man das, was man als objektives naturwissenschaftliches

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Weltenbild erstrebte, ganz von dem abtrennte, was in der menschlichen Seele lebt. So nur konnte die An­schauung entstehen, die Wahrheit über die menschliche Or­ganisation erfahre man erst, wenn man das bewaffnete Auge auf die Dinge richtet, wenn man mit dem Mikroskop die Lebewesen untersucht und das Fernrohr auf die Himmelsverhältnisse anwendet, wenn man ein Instrument an­wendet, welches der Ungenauigkeit des Auges zu Hilfe kommt. Wenn man aber diesen ganzen Geist ins Auge faßt, der sich darin ausspricht, so muß man sagen, nunmehr zieht der Mensch das, was in seinem Innern lebt, was mit seinem Ich zusammenhängt, ganz ab von seinem Weltbilde. Noch mehr einsam und allein ist das menschliche Ich, das mensch­liche Selbst, als in der griechischen Zeit. Versuchen wir, das griechische Weltbild mit unserem Weltbilde zusammenzu­stellen, wie es uns die Naturwissenschaft gegeben hat, so müssen wir sagen: Auch in der Praxis hat man angestrebt, dieses Weltbild unabhängig zu machen von dem, was in der tiefstinneren Menschenseele vor sich geht, was im Ich des Menschen lebt und webt und ist. - So waren in der alten ägyptisch-chaldäischen Zeit für das Empfinden des Men­schen Seele und Welt eins. In der griechischen Zeit waren Menschenseele und Menschenleib eins, aber durch den Men­schenleib war der Mensch noch verbunden mit seinem Welt-bilde. Nun hat sich das Geistig-Seelische immer mehr und mehr gelöst, ganz gelöst von dem, was es für den berech­tigten Inhalt des Weltenbildes hält. Einsam, in sich ge­schlossen ist die Menschenseele.

Nun betrachten wir die merkwürdige Polarität, die uns zutage tritt, indem wir von dem ägyptisch-chaldäischen Zeitraume durch den griechisch-lateinischen zu dem unsri­gen herauf ziehen. Was der Mensch gegenüber der. früheren griechischen Epoche in unserer Epoche vor allen Dingen erstrebt,

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das ist, ein von seinem Seelischen unabhängiges natur­wissenschaftliches Weltbild zu gewinnen. Was sich daneben als notwendig ergab, das ist, die Menschenseele loszulösen von dem, womit sie in früheren Zeiten verbunden war, die Seele auf sich selber zu stellen, sie ganz in ihr Bewußtsein zurückzudrängen. In der ägyptisch-chaldäischen Zeit rich­tete die Menschenseele den geistig-seelischen Blick auch noch hinaus in die Weltenweiten und ließ sich inspirieren von den Weltenweiten, ließ in sich hineinfließen, was es in den Weltenweiten gab. Selbst in der griechischen Zeit nahm der Mensch noch das, was sich seinem Weltenbilde ergab und prägte es in die Kunst ein. In der neueren Zeit steht das Weltbild für sich da, abgetrennt von dem seelischen Er­leben des Menschen. Und dennoch müssen wir sagen: In der neueren Zeit, als die Menschenseele sich aus dem objektiven Weltbilde herausgeworfen hat, wo sie sich nicht mehr see­lisch in dem findet, was draußen mechanisch-objektiv ver­fließt, als sie den Zusammenhang mit dem äußeren Welten-dasein unterbrochen hat, da will sie in sich doch die Kraft für die Erkenntnis, als Weltbild, für ihr ganzes Sein ge­winnen. Dem Griechen noch wäre es unglaublich gewesen, wenn jemand ihm gesagt hätte: Erkühne dich, dich deiner Vernunft zu bedienen! oder: Aufklärung ist das Heraus­treten der Menschenseele aus ihrer selbstverschuldeten Un­mündigkeit. - Man hat sokratische Worte in Griechenland sprechen können, diese Worte nicht, denn der Grieche würde sie nicht verstanden haben. Er würde gefühlt haben: Was will ich denn durch meine Vernunft? Höchstens ein Bild der Welt gewinnen. Aber dieses Bild der Welt lebt fortwährend in mir, indem die Welt einströmt in meine Kräfte und mein Geistig-Seelisches. Es wäre unnatürlich gegenüber dem, was in mich einströmt, mich meiner Vernunft zu bedienen. -Und der Angehörige der ägyptisch-chaldäischen Zeit würde

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noch merkwürdiger und noch unnatürlicher die Aufforde­rung empfunden haben, sich seiner Vernunft zu bedienen. Auf den Satz: Erkühne dich, dich deiner Vernunft zu be­dienen! würde er geantwortet haben: Da entgingen mir die besten Intuitionen und Inspirationen, die mir aus dem Weltall zufließen. Warum sollte ich mich nur meiner Ver­nunft bedienen, die mich in meinem Erleben verarmen würde, wenn ich mich ihrer bediente, gegenüber dem, was aus dem Weltall in mich einströmt?

So sehen wir, wie die Menschenseelen, die aus früheren Epochen herüberkommen, jedesmal ein anderes Zeitalter antreffen. So werden sie - mit dem Ausdrucke Lessings - erzogen: in der ägyptisch-chaldäischen Zeit, in der die Seele sich mit der Welt eins fühlt; dann im griechisch-lateinischen Zeitalter, in dem sich die Seele mit der eigenen Leiblichkeit eins fühlt, und jetzt machen die Seelen die Zeit durch, in welcher sie sich selber in sich finden müssen, weil sie sich aus ihrem objektiven Weltbilde herausgenommen haben.

Damit finden wir. es schon im Einklange, wenn dieses Zeitalter einen Fichte hervorbringen muß mit seinem Buche «Die Bestimmung des Menschen», und wenn er die Frage aufwirft: Wie, wenn dieses Weltbild vielleicht nur Schein, Täuschung, nur ein Traum wäre? Wie kann dann das Ich, das sich jetzt verarmt fühlt - das ist eine Empfindung, die aus der Zeit heraus kommt - zu innerer Zuversicht kom­men? Wie kann es sich selber finden?

So sehen wir die Ich-Lehre Fichtes als ein notwendiges Ergebnis der ganzen Evolution. Wir sehen, wie gerade im neunzehnten Jahrhundert wegen des naturwissenschaft­lichen Weltbildes - wie in Fichtes Zeitalter, als noch die Kraft des Gedankens voll blühte - das Ich sich durch sich selber Klarheit verschaffen will. Und die auf Fichte folgen­den Versuche von Schelling und Hegel können wir nur so

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charakterisieren, daß wir in ihnen das Bestreben sehen, von dem vom Weltbilde emanzipierten Ich durch den Gedanken den Zusammenhang mit der Welt zu gewinnen. Aber wir sehen, wie das naturwissenschaftliche Weltbild in dem drit­ten dieser charakterisierten Zeiträume nach und nach so­zusagen auch aus dem Ich hinwegnimmt, indem es dasselbe verarmen läßt, alle Nachklänge mit den alten Weltbildern. Solche Dinge werden in unserer Zeit gewöhnlich nicht ge­nügend beobachtet.

Sehen wir zu einem derjenigen Menschen zurück, die im eminenten Sinne zu unserem naturwissenschaftlichen Weltbilde beigetragen haben, zu Kepler, der so unendliches ge­leistet hat, was jetzt noch in unserer naturwissenschaftlichen Anschauung fortwirkt, so finden wir in seiner «Welten­harmonie» eine merkwürdige Idee. Er erhebt von der Wel­tenharmonie den Blick zu der ganzen Erde. Aber diese Erde ist für Kepler ein Riesenorganismus, der lebt, etwa wal­fischartig. Wenigstens findet er, wenn er unter den lebenden Wesen einen Organismus sucht, der eine Ahnlichkeit hat mit dem Erdenorganismus, den Walfisch, und er sagt: Die­ses Riesentier, auf dem wir herumgehen, das atmet, atmet nicht so wie der Mensch, sondern in den Zeiten, die durch den Sonnengang bestimmt werden, und das Steigen und Fallen des Ozeans ist das Zeichen für das Ein- und Aus­atmen des Erdenorganismus. - Kepler findet die mensch­liche Anschauung für zu begrenzt, als daß sie einsehen könnte, wie dieser Prozeß vor sich geht.

Man sollte bei Kepler nicht vergessen, wenn man für eine einseitige Weltbetrachtung die Verbindung mit Gior­dano Bruno hervorhebt, daß auch Giordano Bruno immer wieder und wieder darauf hingewiesen hat, daß die Erde ein Riesenorganismus ist, der in Ebbe und Flut des Ozeans sein Ein- und Ausatmen hat. Und gar nicht weit brauchen

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wir zurückzugehen, um in der neueren Zeit denselben Ge­danken anzutreffen. Es gibt einen schönenAusspruch Goethes gegenüber Eckermann, wo er etwa sagt: Ich stelle mir die Erde vor als ein Riesentier, das in dem auf- und absteigenden Luftgange und in Ebbe und Flut des Meeres seinen Ein- und Ausatmungsprozeß hat. - Das heißt, jene An­schauungsweise, welche sich die Erde so vorstellt, wie es die heutige Geologie tut, kam erst ganz allmählich herauf, und eine andere verlor sich, die wir noch nachklingen füh­len bei Goethe, die uns noch ganz lebendig entgegentritt bei Kepler und Giordano Bruno. Was so Kepler, Giordano Bruno, was so Goethe dachte und fühlte, das haben die Menschen ganz lebendig empfunden in jenen alten Zeiten, in denen sich die Seele eins fühlte mit der Welt. Daß aber dieses Sicheinsfühlen mit der Welt im Laufe der Zeiten ver­glomm, war der naturgemäße Gang der Entwickelung.

Wenn wir das, was so dargestellt ist, im Sinne der Gei­steswissenschaft charakterisieren wollen, so kommen wir zu der folgenden Darstellung. Die weitere Begründung dafür findet man in der «Geheimwissenschaft im Umriß».

Wenn wir die Menschenseele betrachten, nicht in der chaotischen Weise, wie es oft die moderne Wissenschaft tut, sondern mit dem Blick der Geisteswissenschaft, so gliedert sie sich in drei Glieder. Da ist zunächst das unterste Glied der menschlichen Seelennatur, welches, wie man sagen möchte, noch in vieler Beziehung nur die ganze chaotische Tiefe der Menschenseele ausprägt, wohin die oberen Teile der Menschennatur nicht voll hineinreichen: die Empfin-dungsseele. Da quellen die Triebe, Affekte, Leidenschaften und was alles an unbestimmten Gefühlen in der Seele waltet. Dann haben wir ein höheres Glied der Menschenseele: die Verstandes- oder Gemütsseele. Das ist die Seele, die schon mehr bewußt in sich lebt, die sich in sich erfaßt,

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die sich nicht nur erlebt in den Wogen, die sie aus den Tie­fen heraufschlagend fühlt in Trieb, Begier und Leidenschaft, sondern die vor allen Dingen Mitleid und Mitfreude fühlt, und das in sich ausbildet, was wir Verstandesbegriffe und so weiter nennen. Und dann haben wir jenes Seelenglied, das wir die Bewußtseinsseele nennen können, wodurch die menschliche Seele so recht ihr Selbst in sich erlebt.

Im Verlaufe der Menschheitsentwickelung haben diese verschiedenen Teile aufeinanderfolgend ihre Ausbildung er­fahren. Gehen wir in die ägyptisch-chaldäische Zeit zurück, so war diese vorzugsweise die Erziehung für die Empfindungsseele, welche die Menschen damals durchgemacht haben. Denn zur Empfindungsseele konnten die Zusammenhänge aus dem großen Kosmos sprechen, die sich, ohne daß es der Mensch mit dem Bewußtsein begleitete, in die Menschen­seelen hereinlebten. Unbewußt errungen ist daher die ägyp­tisch-chaldäische Weisheit. Gehen wir zur griechisch-lateinischen Zeit, so haben wir in jener die besondere Entwicke­lung der Verstandes- oder Gemütsseele, wo durch Verstand und Gemüt - wir können daran sehen, daß dieses Seelen-glied zwei Teile hat - die Innerlichkeit sich ausdrückt, die schon mehr mit Bewußtsein durchdrungen ist. Und in un­serer Zeit haben wir nun - und das ergibt sich unmittelbar aus dem Geschilderten - jene Kultur der Menschenseele, wodurch diese Menschenseele in sich selber voll zum Be­wußtsein kommen soll, das heißt die Bewußtseinsseele aus­bilden soll. Das ist dasjenige, was im neunzehnten Jahrhun­dert zur höchsten Höhe, zum höchsten Gipfel gekommen ist: das objektive Weltbild, welches die Seele mit sich allein läßt, damit sie mit ihrer Bewußtseinsseele ihr Selbst, ihr Ich erfassen kann. Gerade für die Erfassung der innersten We­senheit des Menschen in ihrer inneren Durchleuchtung war es notwendig, daß nicht in der halb unbewußten Weise

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des ägyptischen Weltbildes oder in der Art, wie wir es für das griechisch-lateinische Weltbild geschildert haben, die Seele sich zur Welt stellte, sondern daß sie sich von dem Weltbilde losriß, um das, was am stärksten in ihr werden mußte, das Ich, die Bewußtseinsseele, in sich zu entwickeln. So ist in den aufeinanderfolgenden Erdenleben für den Menschen nach und nach die günstige Gelegenheit dagewe­sen, um in den aufeinanderfolgenden Erdenkulturen die Empfindungsseele, die Verstandes- oder Gemütsseele und die Bewußtseinsseele zu entwickeln.

Aber nun schauen wir es an, dieses Erbe des neunzehnten Jahrhunderts, diese Bewußtseinsseele: sie hat gerungen - wir können das im Grunde genommen insbesondere im neunzehnten Jahrhundert verfolgen -, gerungen in der Phi­losophie eines Fichte, in den nachfolgenden philosophischen Darstellungen, hat gerungen selbst noch bei den mehr ma­terialistischen Philosophien, zum Beispiel eines Feuerbach, der da den Satz ausgesprochen hat: Die Gottes-Vorstellung ist nur die in den Raum hinausprojizierte Selbstdarstellung des Menschen.

Der Mensch setzte den Gottes-Gedanken aus sich selber heraus, weil er Halt brauchte in der einsam gewordenen Bewußtseinsseele. Und wenn man die radikalsten Philo­sophen, Feuerbach und andere bis zu Nietzsche hin, verfolgt, so sieht man überall die Menschenseele zu Macht und inne­rer Sicherheit kommen, nachdem sie sich logerissen hat von dem objektiv gewordenen Weltbild. Ganz regelmäßig sehen wir durch diesen Gang sich die Menschenseele entwickeln, sehen das sich entwickeln, was im neunzehnten Jahrhundert zu seinem Gipfel gekommen ist: die Emanzipation der Be­wußtseinsseele und das In-sich-Erfassen der Bewußtseins-seele durch die eigene Kraft.

Immer bereitet sich nun das, was in einem nächsten Zeitalter

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das Tonangebende werden soll, schon in einer frühe­ren Zeit vor. Man kann ganz genau nachweisen, wie die Ausbildung der Verstandes- oder Gemütsseele doch schon hineinspielt in gewisse Kulturerscheinungen der ägyptisch­-chaldäischen Zeit; und man kann in der griechisch-lateinischen Zeit sehen, besonders wo sie nachchristlich ist, zum Beispiel bei Augustinus, wie die Menschheit ringt, um die Bewußtseinsseele schon vorzubereiten. Daher müssen wir sagen: unsere Menschenseele begreift sich nur recht, wenn sie mitten im Zeitalter der Bewußtseinsseele das vorbereitet, was nach der Bewußtseinsseele zu entfalten ist. Was muß da ausgebildet werden?

Die innere Entwickelung der Menschenseele drängt hin nach dem, was ausgebildet werden muß, aber auch das so­genannte objektive Weltbild selbst. Betrachten wir noch zum Schluß mehrere Symptome. Wozu hat es denn das neunzehnte Jahrhundert mit seiner glanzvollen Kultur ge­bracht? Da sehen wir einen der glanzvollsten Naturforscher des neunzehnten Jahrhunderts, Du Bois-Reymond, mit seinem objektiven Weltbilde. Retten will er - man lese nur seine Rede «Über die Grenzen des Naturerkennens» - für die Menschenseele, was er für ihre innere Sicherheit braucht, und er sucht sich zurechtzufinden mit dem Gedanken der «Weltenseele», weil ihm diese einsam gewordene und vom objektiven Weltbild losgerissene Bewußtseinsseele uner­klärlich ist. Aber das objektiveWeltbild steht ihm im Wege. Wo die Menschenseele mit ihrem Erleben auftritt, zeigt sie sich wirksam im Gehirn, in den Nervensträngen und den übrigen Werkzeugen. Nun steht Du Bois-Reymond an der Grenzscheide der Naturerkenntnis da. Was fordert er, wenn er eine Weltseele anerkennen soll? Er fordert, daß man ihm auch im Weltenall ein derartiges Instrument aufzeige, wie es im Menschen vorhanden ist, wenn die Menschenseele

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denkt, fühlt und will. Er sagt etwa: Man zeige mir, in die Neuroglia gebettet und mit warmem arteriel­lem Blute unter richtigem Druck gespeist, dem gesteigerten Vermögen einer solchen Weltenseele entsprechend, ein Kon­volut von Ganglienkugeln und Nervenfäden. - Das findet er nicht. Derselbe Du Bois-Reymond fordert das, der in derselben Rede im übrigen ausgesprochen hat: Wenn man den schlafenden Menschen betrachtet, vom Einschlafen bis zum Aufwachen, so mag er naturwissenschaftlich erklärbar sein; wenn man aber den Menschen vom Aufwachen bis zum Einschlafen betrachtet, was alles an Trieben, Begier­den und Leidenschaften, an Vorstellungen, Gefühlen und Willensimpulsen in ihm auf- und abflutet, so wird er sich nimmermehr durch die naturwissenschaftliche Denkweise erklären lassen.

Recht hat er! Aber verfolgen wir, wozu hier das Erbe des neunzehnten Jahrhunderts geführt hat. Du Bois-Rey­mond sagt: Wenn ich den schlafenden Menschenleib natur­wissenschaftlich betrachte, so kann ich nichts finden, was mir das Spiel derjenigen Kräfte erklärlich macht, die in den Vorstellungen, Gefühlen, Willensimpulsen und so wei­ter wirksam sind. - Denn es ist eben unlogisch, eine Er­klärung für die innere Natur der Seelenerscheinungen in den leiblichen Vorgängen suchen zu wollen, wie es unsinnig wäre, wenn man aus der inneren Natur der Luft eine Er­klärung für das Organ der Lunge suchen wollte.

Das wird das Erbe des neunzehnten Jahrhunderts sein, daß die Naturwissenschaft zeigen wird: sie kann, gerade wenn sie ganz streng auf ihrem Boden steht, aus den Vor­gängen, die ihr zur Verfügung stehen, nicht das Spiel des Geistig-Seelischen im Menschen erklären. Sondern es ist durchaus zu sagen: Wenn dieser Menschenleib aus dem Schlafe aufwacht, so ist das Geistig-Seelische etwas, was

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er einatmet, wie die Lungen den Sauerstoff oder die Luft einatmen; und wenn er einschläft, so ist das Geistig-Seelische etwas, was er gleichsam ausatmet. Im Schlafzustande ist das Geistig-Seelische als ein Selbständiges mit sich allein außer dem Menschenleib.

Das Erbe des neunzehnten Jahrhunderts wird sein, daß die Naturwissenschaft sich völlig vereinigen wird mit der Geisteswissenschaft, die da sagt: Der Mensch hat ein Ich und einen astralischen Leib, mit denen verläßt er im Schlafe seinen physischen Leib und seinen Ätherleib, ist während des Schlafes mit Ich und astralischem Leib in einer rein geistigen Welt und überläßt physischen Leib und Ätherleib den ihnen eigenen Gesetzen. - So wird die Naturwissenschaft selber ihr Gebiet abtrennen, und durch das, was sie zu geben hat, wird sie zeigen, wie die Geisteswissenschaft als Ergän­zung zu ihr hinzukommen muß. Und wenn die Natur­wissenschaft selber richtig erkennen wird, was zum Beispiel zu ihren größten Errungenschaften gehört: die natürliche Entwicklung der Organismen von den unvollkommensten Zuständen bis zu den vollkommeneren herauf, so wird sie einsehen, daß gerade in dieser Entwicklung des Natürlichen im Sinne der Darwinschen Theorie etwas liegt, in welchem die Evolution der Menschenseele nicht drinnen ist, sondern das erst von dem Geistig-Seelischen ergriffen werden muß, wenn das bloß Irdische zum Menschlichen herauforganisiert werden soll. Gerade die richtig verstandene Naturwissenschaft wird ein schönes Erbe des neunzehnten Jahrhunderts sein, indem sie zeigen wird, wie die Geisteswissenschaft not­wendig wird für die Ergänzung der Naturwissenschaft. Dann wird sich als notwendige Folge die volle Harmonie beider ergeben. Und die menschliche Seele wird sich er­fassen, indem sie die in ihr schlummernden Kräfte wachruft und sich erkennt. Wie?

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In der ägyptisch-chaldäischen Zeit stand man noch in Verbindung mit dem Kosmos. Dieser zeigte dem Menschen seinen geistigen Hintergrund. In der griechisch-lateinischen Zeit war der Mensch noch durch den Leib mittelbar mit dem Kosmos im Zusammenhange. Er fühlte noch den Kos­mos, weil er die Einheit fühlte zwischen dem Geistig-Seeli­schen und dem Leiblichen. Nun ist das objektive Weltbild nur eine Summe von äußeren Vorgängen geworden. Durch die Geisteswissenschaft aber wird sich die Seele, indem sie sich in ihren eigenen geistig-tiefen Kräften findet, in einer neuen Art in Verbindung erkennen mit dem Universum. Die Seele wird sagen können: Schaue ich hinunter, so fühle ich mich verbunden mit allem Lebendigen, mit allen Natur-reichen, die um mich sind. Aber nun, nachdem ich durch­gegangen bin durch die Kultur der Empfindungsseele der ägyptisch-chaldäischen Zeit, durch die Kultur der Verstan­des- oder Gemütsseele der griechisch-lateinischen Zeit, und nachdem ich jetzt aufgenommen habe die Kultur der Be­wußtseinsseele, in welcher der Blick des Ichs auf die mate­rielle Kultur gerichtet war, fühle ich mich angegliedert an eine Reihe geistiger Reiche: nach unten an das Tier-, Pflan­zen- und Mineralreich, wenn ich materiell hinausschaue, nach oben an geistige Reiche, an die Reiche der geistigen Hierarchien, zu denen die Seele ebenso nach oben gehört, wie sie sonst nach unten gewohnt ist, zu den Naturreichen hinzusehen. Eine Zukunftsperspektive steht ihr vor Augen, die sich voll anschließt an die Vergangenheitsperspektiven. Hinausgearbeitet hat sich der Mensch aus den geistigen Zu­sammenhängen der Vergangenheit; hineinarbeiten wird er sich in der Zukunft in die geistigen Reiche. Die Seele wird sich angelehnt fühlen an den Zusammenhang mit den Naturreichen durch ihre geistig-seelischen Kräfte, und sie wird sich in Zusammenhang fühlen mit den geistigen Reichen

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nach oben durch das Geistselbst. Denn wie unsere Zeit charakterisiert ist als die Zeit der Entwickelung der Be­wußtseinsseele, so bereitet sich in unserer Zeit vor für die Zukunft der menschlichen Geistkultur die Entwickelung des Geistselbstes, das nach und nach heranreifen wird.

Ganz organisch notwendig sehen wir, wenn wir die Ent­wickelung geisteswissenschaftlich betrachten, wie dieses Erbe des neunzehnten Jahrhunderts am charakteristischsten eine Aufgabe zum Ausdruck bringt, die da vorhanden war: die Aufgabe, die Seele auf sich selbst zurückzuweisen, hinauszuwerfen aus dem Natürlichen, um sie zu zwingen, ihre eige­nen seelisch-geistigen Kräfte zu entwickeln. Und das wird das beste Erbe des neunzehnten Jahrhunderts sein, wenn die Seele sich schauen wird losgerissen von allem, aber dafür sich um so mehr angefeuert fühlt, ihre eigenen Kräfte zu entfalten. Hat die Zeit der Aufklärung sich der eigenen Vernunft bedienen wollen, so muß die kommende Zeit die noch tieferen Kräfte aus dem Schlummer in den seelischen Untergründen heraufholen, wodurch dann das Hinausblicken in eine geistige Welt kommen wird, wie das die Seele in der Zukunft muß.

So wird einst die Zukunft dem neunzehnten Jahrhundert dankbar sein, daß es die Seele in die Möglichkeit versetzt hat, um aus sich selbst heraus die höheren Kräfte der ob­jektiven Wissenschaft zu entwickeln. Das ist auch ein Erbe des neunzehnten Jahrhunderts. Wenn man die innere Ent­wickelung der Menschenseele betrachtet, so muß sie von der Entfaltung der Empfindungsseele durch diejenige der Ver­standes- oder Gemütsseele und die der Bewußtseinsseele in die Entwickelung des Geistselbstes hineingehen. Aber der Mensch findet das Geistselbst nur, wenn er durch die natur­wissenschaftliche Betrachtung, die das Erbe des neunzehnten Jahrhunderts ist, erst losgerissen wird von aller Außenwelt.

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Wenn man so das Erbe des neunzehnten Jahrhunderts betrachtet und dann auf die Einzelheiten weiter eingeht, dann wird man schon sehen: das Beste gerade an den posi­tiven Resultaten des wissenschaftlichen Erbes des neunzehn­ten Jahrhunderts ist das Erstarken der Seele, weil sie sich dann selbst findet in dem, was ihr diese Wissenschaft nicht geben kann. Die Seele wird einst dastehen und mit Du Bois­-Reymond fühlen: Ja, mit den Gesetzen der Physiologie ist der schlafende Menschenleib zu erklären, nicht aber das, was von diesem als Geistig-Seelisches eingeatmet wird. Die Seele wird fühlen, daß sie das, was im Schlafe bewußtlos ist, durch die geisteswissenschaftlichen Methoden zur Be­wußtheit erheben muß, um den Ausblick in die geistigen Welten zu haben. - Und dann wird ein späterer Du Bois­-Reymond bei der Betrachtung des Menschenleibes nicht mehr so ratlos davorstehen, wenn er ihn naturwissenschaft­lich erklären will, denn er wird sich sagen: Da ist ja die Menschenseele gar nicht drinnen, in der Neuroglia und in den Ganglienkugeln; also warum sollte ich dann Neu­roglia und Ganglienkugeln in der Riesen-Weltseele nach­weisen?

Bei einem ganz hervorragenden Geist des neunzehnten Jahrhunderts, der nur verwenden wollte, was ihm das neun­zehnte Jahrhundert für eine Erkenntnis der Quellen des Daseins geben konnte, bei Otto Liebmann, der in Jena lange Philosophie vorgetragen hat, finden wir den Gedanken aus­gesprochen: Warum sollte man denn durchaus nicht anneh­men können, daß unsere Planeten, Monde und Fixsterne die Atome oder auch die Moleküle eines Riesengehirns seien, das im Weltenall sich in makrokosmischer Weise ausbreitet? - Nur meint er, daß es immer der menschlichen Intelligenz versagt sein wird, zu diesem Riesengehirn vorzudringen, und daß es ihr deshalb auch versagt sein wird, zur Erkenntnis

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einer geistigen Weltenseele überhaupt vorzudringen. Die Geisteswissenschaft aber zeigt, daß Otto Liebmann durch­aus recht hatte. Denn jener Intelligenz, von der er spricht, ist es unmöglich, zu irgendwelcher Befriedigung mensch­licher Sehnsuchten auf diesem Gebiete zu kommen. Weil diese Intelligenz zuerst dadurch groß geworden ist, daß sie sich von dem objektiven Weltbilde emanzipiert hat, deshalb ist es nicht zu verwundern, sondern selbstverständlich, daß eine Philosophie, die auf dieses objektive Weltbild aufgebaut ist, von einer Weltenseele nichts finden kann. Wenn der Naturforscher im Sinne Du Bois-Reymonds in den Gang­lienkugeln und der Neuroglia des schlafenden Menschen­leibes nicht die Menschenseele finden kann, warum sollte man dann in den Riesenganglienkugeln eines Riesengehirns etwas über die Natur der Weltenseele finden können? Kein Wunder, daß der Physiologe daran verzweifeln muß!

Aber diese Grundlagen sind das beste Erbe des neun­zehnten Jahrhunderts. Sie zeigen, daß die Menschenseele nun auf sich selbst zurückgewiesen ist und nicht durch Be­trachtung, sondern durch Ausbildung ihrer inneren Kräfte den Zusammenhang mit den geistigen Welten suchen und finden muß. Der Menschengeist wird finden, wenn er jenes Weltenbild betrachtet, das er als darwinistische Evolutions­lehre kennt, daß es in seiner Größe erst darauf beruht, daß er sich selbst herausgenommen hat. Der Mensch wäre nicht zu seiner Entwickelung gekommen, zu der er jetzt gekom­men ist, wenn er nicht sich selbst aus dem Weltbild heraus­genommen hätte. Wenn er aber dies versteht, dann wird er begreifen, daß er in dieser Evolutionslehre nicht das finden kann, was er erst selbst herausnehmen mußte. Ver­steht man die darwinistische Evolutionslehre richtig, wird man finden, wie es nicht im Widerspruche zu ihr ist, dem Geistesforscher zu glauben, daß er, rückblickend hinter die

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Sinneserscheinungen, einen Geist schaut, in welchem die Menschenseele als Geist wurzelt.

So sollte dieser Schlußvortrag zeigen, daß in Wahrheit nicht der geringste Widerspruch besteht zwischen dem, was hier als Geisteswissenschaft gemeint ist, und den wahren, echten Errungenschaften der Naturwissenschaft, und daß, wenn man sich richtig in das vertieft, was das naturwissen­schaftliche Weltbild nach dem geisteswissenschaftlich rich­tig begriffenen Gang der Menschheitsentwickelung werden mußte, man gerade weiß, wie das gar nicht anders sein kann, und wie das naturwissenschaftliche Weltbild, weil es so geworden ist, das schönste Erziehungsmittel der Men­schenseele zu dem ist, was sie werden soll: zu einem aus der Bewußtseinsseele heraus nach dem Geistselbst streben­den Wesen.

Damit ist aber auch die Geisteswissenschaft als dasjenige aufgewiesen, was in die Kultur unserer Zeit heute gehört. Was sich vorbereitet hat in der ägyptisch-chaldäischen Zeit mit der Kultur der Empfindungsseele, was weiter ausge­bildet worden ist in der griechisch-lateinischen Zeit bei der Kultur der Verstandes- oder Gemütsseele, das hat seine weitere Entfaltung in unserer Zeit gefunden in der Kultur der Bewußtseinsseele. Aber alles Spätere bereitet sich früher schon vor. So wahr selbst schon bei Sokrates und Aristoteles eine Kultur der Bewußtseinsseele vorhanden war, die noch lange in unserer Zeit dauern wird, so wahr muß schon hier, innerhalb unseres Zeitalters, die Quelle sein für eine wahre Lehre für das Geistselbst. So erfaßt sich die Menschenseele im Zusammenhange mit jenen Welten, in denen sie, Geist im Geiste, wurzelt.

Ein Erziehungsmittel neben alledem, was sie sonst ist, ist die Naturwissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts, und das beste Erziehungsmittel gerade für die Geisteswissenschaft.

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Vielleicht geht aus den Wintervorträgen her­vor, daß aus den geisteswissenschaftlichen Anschauungen, die hier über das Erbe des neunzehnten Jahrhunderts ver­treten werden, das sichere Fundament sich finden wird für die Geisteswissenschaft, die nicht ein Konglomerat und Chaos von etwas Willkürlichem werden soll, sondern etwas, das auf einem ebenso sicheren Fundament steht wie die be­wundernswürdige Naturwissenschaft selbst. Wenn man glaubt, es müsse notwendigerweise ein Bruch bestehen zwi­schen dem, was die Naturwissenschaft ist und geleistet hat, und dem, was die Geisteswissenschaft ist, so könnte man an dieser Geisteswissenschaft irre werden. Wenn man aber sieht, wie die Naturwissenschaft ganz so werden mußte, wie sie geworden ist, damit die Menschenseele in der neuen Art den Weg zum Geiste findet, wie sie ihn finden muß, so wird man sie als das erkennen, was sich in die Entwickelung notwendig hineinstellen muß als das, was die Keime enthält für denjenigen Zeitraum, der sich an den unsrigen ebenso anschließen wird, wie sich der unsrige an die vorhergehenden anschließt. Dann wird das ausgesöhnt sein, was sich scheinbar an Widersprüchen zwischen dem naturwissenschaftlichen und dem geisteswissenschaftlichen Weltbilde ergibt.

Selbstverständlich glaube ich nicht im entferntesten, daß ich in der kurzen Zeit des Vortrages - der so lange gedauert hat - auch nur ein Kleinstes habe erschöpfen können von dem, was aus der Geisteswissenschaft heraus zeigt die fort­wirkende Bedeutung des naturwissenschaftlichen Weges des neunzehnten Jahrhunderts mit allen seinen Formen. Aber vielleicht kann durch die Erweiterung des Ausgeführten in den Seelen der verehrten Zuhörer, durch Weiterverfolgung dessen, was heute angeregt werden sollte, besonders durch Vergleichen der geisteswissenschaftlichen Resultate mit den

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richtig verstandenen Resultaten der Naturwissenschaft, ein­gesehen werden, wie durch eine geistgemäße Betrachtung der Evolution der Menschheit die Notwendigkeit des Her­eintretens der Geisteswissenschaft in den Fortgang der Menschheitsentwickelung gegeben ist. Von diesem Bewußt­sein einer inneren Entwicklungsnotwendigkeit wurden diese Vorträge gestaltet und wurde stets der Grundton genom­men. Dieser Vortrag besonders sollte das Gefühl hervor­rufen, wie es berechtigt erscheinen mag, daß die bloße Zu­versicht, die Geister wie Fichte und ähnliche aus der Be­wußtseinsseele gewinnen wollten, zwar nicht aus der auf sich selber gestellten, in ihren Gedanken eingeschlossen lebenden Bewußtseinsseele heraus gewonnen werden kann, sondern dann, wenn die Seele einsieht und erkennt, daß sie noch etwas ganz anderes in sich findet als ihre bloße In­telligenz und Vernunft: wenn sie die Kräfte in sich findet, die sie zur Imagination, Inspiration und Intuition, das heißt zum Leben in der geistigen Welt selbst führen, und wenn sie einsieht, daß aus einer wirklich inneren Gewißheit her­aus darüber auch im ersten Drittel des zwanzigsten Jahr­hunderts - bei dem richtig verstandenen Erbe des neun­zehnten Jahrhunderts - wieder gesprochen werden darf.

Wenn Hegel, kühn bauend auf das, was er in der bloßen Bewußtseinsseele glaubte ergriffen zu haben, einmal bei seinen Vorträgen über die Geschichte der Philosophie be­deutende Worte sprach, so dürfen wir, übertragend seine Worte, sie vielleicht hier am Schlusse gebrauchen, um zu charakterisieren - nicht begrifflich zusammenfassend, son­dern wie eine Empfindung ausdrückend, die wie ein Lebenselixier sich aus den geisteswissenschaftlichen Betrachtungen ergibt. Mit einiger Veränderung wollen wir in Worten Hegels das zum Ausdruck bringen, was die Seele für die Sicherheit des Lebens empfinden kann an notwendigen

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Quellen und Unterlagen für das Dasein und für alle Le­bensarbeit, was sie empfinden kann in bezug auf die großen Rätselfragen des Daseins, über Schicksal und Unsterblich­keit. Das alles ist so, daß der Seele mit dem richtigen Weltenlichte begegnet wird, wenn sie - aber jetzt nicht aus einem Unbestimmten und Abstrakten der Bewußtseinsseele, sondern aus einer Erkenntnis heraus, daß in der Seele Er­kenntniskräfte schlummern, die sie zum Bürger geistiger Welten machen -, wenn sie sich ganz mit einer Empfindung durchdringt, so daß diese Empfindung der unmittelbare, die Seele sicher und hoffnungsreich machende Ausdruck der gedachten Geisteswissenschaft wird:

Der menschliche Geist darf und soll an seine Größe und an seine Macht glauben; denn er ist Geist vom Geiste. Und mit diesem Glauben kann sich ihm nichts im Weltenall, im Universum, so hart und spröde erweisen, daß es sich ihm nicht, insofern er seiner bedarf, im Laufe der Zeit offen­baren müßte. Was anfangs verborgen ist im Universum, es muß der suchenden Seele in ihrer sich steigernden Er­kenntnis immer mehr und mehr offenbar werden und sich ihr ergeben, damit sie es entwickeln kann zur inneren Kraft, zur inneren Sicherheit, zum inneren Werte des Daseins und des Lebens!

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HINWEISE

Die hier erstmals in einem Bande zusammengefaßten vierzehn Vor­träge wurden im Winterhalbjahr 1912/13 im Architektenhaus in Berlin gehalten. Sie sind in den Jahren 1941 und 1942 als einzelne Broschüren in der Reihe «Ergebnisse der Geistesforschung» herausgekommen.

Zu Seite

9 Wie in den verflossenen Wintern: Rudolf Steiner hielt seit dem Jahre 1903 in Berlin im Winterhalbjahr regelmäßig öffentliche Vortragsreihen, auf die er in seinem Buch «Mein Lebensgang» wie folgt hinweist:

«So war es nicht etwa die in der Theosophischen Gesellschaft ver­einigte Mitgliedschaft, auf die Marie von Sivers (Marie Steiner) und ich zählten, sondern diejenigen Menschen überhaupt, die sich mit Herz und Sinn einfanden, wenn ernst zu nehmende Geist-Erkenntnis gepflegt wurde. Das Wirken innerhalb der damals be­stehenden Zweige der Theosophischen Gesellschaft, das notwendig als Ausgangspunkt war, bildete daher nur einen Teil unsererTätig­keit. Die Hauptsache war die Einrichtung von öffentlichen Vor­trägen, in denen ich zu einem Publikum sprach, das außerhalb der Theosophischen Gesellschaft stand und das zu meinen Vorträgen nur wegen deren Inhalt kam.»

21 Justus von Liebig, 1803-1873, deutscher Chemiker.

Friedrich Wöhler, 1800-1882, stellte 1828 künstlich den Harnstoff her.

25 Selbststeuerung' vgl. z.B. Max Verworn: «Die Mechanik des Gei­steslebens», Leipzig 1910, Seite 85.

26 Emil Du Bois-Reymond, 1815-1896, «Über dieGrenzen des Naturerkennens», Leipzig 1872. «Die sieben Welträtsel», Leipzig 1882.

Moritz Benedikt, «Die Seelenkunde des Menschen als reine Erfah­rungswissenschaft», Leipzig 1895.

31 Jean Reynaud, «Philosophie religieuse, Terre et ciel», Paris 1854.

Louis Figuier, «Le lendemain de la mort, ou la vie future selon la science», Paris 1871.

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38 Jacob Frohschammer, «Die Philosophie des Thomas von Aquino. Thomistische Psychologie» (Anthropologie) Kritische Würdigung.

Ursprung der menschlichen Seelen, Leipzig 1889, Seite 418 f.

42 Eduard von Hartmann, seine anonyme Schrift erschien 1872 in Berlin.

43 Geoffroy deSaint Hilaire, Etienne, 1772-1844.

48 Johann Gottlieb Fichte, 1762-1814, «Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist, denn ein philosophisches System ist nicht ein toter Hausrat, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat». Erste Ein­leitung in die «Wissenschaftslehre», 1797.

73 ein Feuilleton: Fritz Mauthner: «Die Theosophen», im «Berliner Tageblatt» Nr.562 vom 3.Nov.1912.

75 «Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer>, Motto zur (nicht gekrönten) Preisschrift über die Grundlage der Moral, 30.Januar 1840, von Arthur Schopenhauer; sämtliche Werke in zwölf Bänden, mit Einleitung von Rudolf Steiner, Cotta, Stuttgart 1894, 7. Band, Seite 133.

77 in der ersten Szene meines Mysteriendramas: siehe Rudolf Steiner: «Vier Mysteriendramen», 2. Auflage in einem Bande, Dornach 1956.

79 Diesen rufl Fichte zu: «Die Anweisung zum seligen Leben», 1806, zweite Vorlesung.

84 dem ersten Vortrag dieses Winters: in diesem Bande der erste (31.Okt.1912).

90 von Goethe ein merkwürdiges Wort: «Denn wozu dient alle der Aufwand von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen und Milchstraßen, von Kometen und Nebelfiecken, von gewor­denen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewußt seines Daseins erfreut?», in «Winckel­mann», im Kapitel «Antikes».

Wilhelm Wundt, 1832-1920.

91 Charles Robert Darwin, 1809-1882, «Die Entstehung der Arten», 1859 («On the Origin of Species by Means of Natural Selection»).

92 Lord Acton: «Über das Studium der Geschichte». Eröffnungs-sitzung in Cambridge am 11.Juni 1895, Berlin 1897, Seite 15: «Ich hoffe jedoch, daß selbst diese kurze und unerbauliche Strecke der Geschichte Ihnen in der Erkenntnis behilflich sein wird, daß das

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Werk des Auferstandenen an der erlösten Menschheit nicht nach­läßt, sondern zunimmt, daß die Weisheit der göttlichen Regierung sich nicht in der Vollkommenheit, vielmehr in der Verbesserung der Welt zu erkennen gibt, und daß vollendete Freiheit das ethische Endergebnis ist, auf das alle Bedingungen fortschreitender Kultur im Vereine hinzielen.» (übers. J. Imetmann).

94 Naturforscher Wittstein: Richard Wettstein, 1863-1931, öster­reichischer Botaniker.

Moriz Carriere, 1817-1895.

97 Mivart: Saint George Mivart, 1827-1900, englischer Zoologe, «Man and apes», London 1873.

Alfred Russel Wallace, 1823-1913, Mitarbeiter und Freund Dar­wins.

103 Walter Rathenau, 1867-1922, «Zur Kritik der Zeit», Seite 148 bis 150.

107 Dr. Charles Elliot, Vortrag im Jahre 1909.

111 Francesco Redi, 1626-1698, Gesammelte Werke in 7 Bänden,

1664-1690.

132 Schopenhauer: vgl. Hinweis zu Seite 75.

147 Goethe: Der Spruch steht im «Entwurf einer Farbenlehre», Didak­

tischer Teil, Einleitung.

148 in Feuerbachs Sinne: Ludwig Feuerbach, 1804-1872.

151 Franz Brentano, 1838-1917.

152 Thomas Henry Huxley, 1825-1895.

166 Goethe: «Jedem Alter des Menschen antwortet eine gewisse Philo­sophie. . . . Der Greis jedoch wird sich immer zum Mystizismus bekennen: er sieht, daß so vieles vom Zufall abzuhängen scheint; das Unvernünftige gelingt, das Vernünftige schlägt fehl, Glück und Unglück stellen sich unerwartet ins Gleiche; so ist es, so war es, und das hohe Alter beruhigt sich in dem, der da ist, der da war und der da sein wird.» (Maximen und Reflexionen.)

171 in den Vorträgen über Wachen und Schlafen: vgl. die beiden ersten Vorträge dieser Reihe.

182 das soll später beantwortet werden: in den Architektenhausvor­trägen vom Winter 1913/14, die im Band «Geisteswissenschaft als Lebeosgut», Dornach 1959, zusammengefaßt sind, besonders die Vorträge IV, V, VII und X.

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188 als damals Bücher erschienen wie z.B. «Die Wärme, betrachtet als eine Art von Bewegung» von John Tyndall, 1820-1893, irischer Physiker.

190 die großen Entdeckungen Schleidens und Schwanns: Matthias Jakob Schleiden, 1805-1881, Botaniker, «Die Pflanze und ihr Leben», 1848.

Theodor Schwann, 1810-1882, Anatom und Physiologe, «Mikro­skopische Untersuchungen über die Übereinstimmung in der Struk­tur und dem Wachstum von Tier und Pflanze», 1839.

Carl Gegenbaur, 1826-1903, «Grundriß der vergleichenden Ana­tomie», 2. Aufl. 1870.

192 Hermann Helmholtz, 1821-1894, deutscher Physiker und Natur-forscher, Erfinder des Augenspiegels. Vorlesungen über theore­tische Physik in fünf Bänden.

196 der «Esoterische Buddhismus>: Alfred Percy Sinnett, «Esoteric Buddhism» (1883). Deutsch: «Die esoterische Lehre oder Geheim­buddhismus», Leipzig 1884.

197 H.P. Blavatsky, 1831-1891, «The Secret Doctrine», 1887-1897, deutsch: «Die Geheimlehre», Leipzig, o. J.

199 Paul Deussen, 1845-1919, Anhänger Schopenhauers, Herausgeber von Schopenhauers Werken. Übersetzer indischer Texte.

207 der Philosoph Cartesius: René Descartes, 1596-1650, siehe u. a. Rudolf Steiner, «Die Rätsel der Philosophie».

208 der englische Arzt Harvey: William Harvey, 1578-1657, ver­öffentlichte 1628 seine Schrift «De motu cordis et sanguinis», worin er sesne Entdeckung des großen Blutkreislaufes darstellt.

Marcello Malpighi, 1628-1694.

212 in einem der ersten Vorträge dieses Winterhalbjahrs: siehe den Vortrag vom 31.Okt.1912 (Vortrag I dieses Bandes).

215 Goethe sagt in seinem schönen Aufsatz über «Anschauende Urteils­krafl>: in «Zur Morphologie», Ersten Bandes zweites Heft, 1820. Vgl. «Goethes Naturwissenschaftliche Schriften», herausgegeben von Rudolf Steiner, Erster Band, Dritte Auflage, 1949, Troxler­Verlag, Bern.

218 eine alte griechische Lehre: Zenon von Elea, um 500 v. Chr. Der zenonssche Schluß: Achilles kann die Schildkröte nicht einholen, denn wenn er an ihren Standort A gelangt ist, ist sie bereits in B angelangt usw.

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218 Es mag sich Feindliches eräugen. Die Worte sind 1822/23 geschrieben worden.

220 der einfache Görhitzer Schuster: Jakob Böhme, 1575-1624.

225 das Erlebnis vom Jahre 1593: «daß er, seinem eigenen Bekenntnisse nach, sieben Tagen lang mit göttlichem Licht umfangen, in höchster Himmelsschau und Freudenfülle gestanden». (Johannes Claassen .

«Jakob Böhmes Leben und seine theosophischen Werke, allen Christgläubigen dargeboten», 3 Bände, Stuttgart 1885.)

231 was früher einmal über die menschliche Sprache ausgeführt worden ist: siehe Rudolf Steiners Vortrag vom 20. Januar 1910 «Die Geisteswissenschaft und die Sprache».

245 dieser «Philosophus teutonicus»: so nannte ihn der weitgereiste Arzt und Sprachenkenner Dr. Walther.

247 Louis Claude de Saint-Martin, 1743-1803, lernte noch in seinem

50. Lebensjahr Deutsch, um die Schriften Böhmes ins Französische übertragen zu können.

254 der Sohn Wilhelm Grimms und der Neffe Jakob Grimms: Wilhelm Grimm, 1786-1859, und sein Bruder Jakob Grimm, 1785-1863, gaben von 1810 an die «Kinder- und Hausmärchen» heraus.

256 Goethe-Buch... Goethe, Vorlesungen an der . Berlin, 1874

und 1875 gehalten, 2 Bände, 1876, in 7. Auflage 1903 bei Cotta.

264 Ernest Renan, 1823-1892, trat aus dem katholischen Priester-seminar aus und verfaßte nach einer Palästinareise 1863 sein be­rühmtes «Leben Jesu».

269 in Worte, die mehr besagen können: aus «Fragmente», zweiter Teil, S.153. Auch in «Raphael als Weltmacht», Neudruck des «Lebens Raphaels», 3. Auflage, S.465 (Phaidon). Auch das zweite Zitat stammt aus diesem Werk.

274 jene wunderbare Novellensammlung: Herman Grimm, «Novel­len», 1862, 3. Auflage, Berlin 1897.

276 noch ein anderes künstlerisches Wirk: «Unüberwindliche Mächte», Roman, 1867; 3. Auflage in 2 Bänden, Berlin 1902.

284 seinem Freunde Treitschke: Heinrich von Treitschke, 1834-1896, Historiker. Das Zitat steht in «Fragmente», zweiter Teil, S.269.

286 bis in unsere Tage herein: Herman Grimrn, «Das Leben Raphaels» Die erste Auflage von 1872 wurde 1886 und 1896 völlig um­gearbeitet. Die in diesem Vortrag gebrachten Zitate sind nach der bei Cotta 1903 erschienenen 4. Auflage wiedergegeben.

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287 den bedeutsamen Ausspruch: «Wilhelm Meisters Wanderjahre», Erster Band, Zehntes Kapitel.

288 Lessing: «Die Erziehung des Menschengeschlechts», Berlin 1780.

289 die Bildwerke Raffaels vorzu führen: vgl. Rudolf Steiner, «Kunst­geschichte als Abbild innerer geistiger Impulse», Dreizehn kunst-geschichtliche Vorträge, vor allem Band II, Dornach 1954, und Band VIII, Dornach 1958.

291 «hellsichtige Betrachtung der Dinge»: in Lessing, «Erziehung des Menschengeschlechts».

292 «Gonfessiones»: Augustinus, 354-430, verfaßte die «Bekenntnisse» um 400.

297 «der die Stadt als Krieger betritt»: Astorre Baglione. Vgl. Fran­cesco Matarazzo: «Cronache della Cittá di Perugia».

298 Savonarola, 1452-1498, Prior des Klosters S. Marco in Florenz, auf Betreiben von Papst Alexander VI. als Ketzer verbrannt.

299 ein Maler, der selber das Mönchskleid anzog: Fra Bartolomeo, der

1500 Dominikaner wurde.

303 die Worte von Herzog Karl August: an seinen Freund Knebel am

14. Oktober 1783. Siehe Herman Grimm, «Fragmente», Berlin und Stuttgart 1900/02, II. Teil, S. 167 f.

307 mit einem Kinde, von dem Herman Grimm gesagt hat: (wörtlich) «eine Mutter mit ihrem Kinde ist immer das Vornehmste, das die Welt bietet. Die ärmste Mutter könnte dasitzen wie die Madonna della Sedia», 4. Aufl. S. 162.

312 daß die Natur keine Sprünge mache: «Natura non facit saltus», zuerst bei Fournier, «Variétés historiques et littéraires», 1613, dann bei Leibniz und Linné, «Philosophia botanica», 1751.

314 «Schule von Athen» und «Disputa»: vgl. Rudolf Steiner, Vortrag vom S. Oktober 1917, in Band X der «Kunstgeschichte als Abbild innerer geistiger Impulse», Dornach 1939.

317 «Es stehen mir Entwicklungen vor Augen»: in «Das Leben Ra­phaels», Seite 4.

318 in seinem Homer-Buch: «Homers Ilias», 2. Auflage, Stuttgart und Berlin 1907, S. 473.

320 die beiden letzten Zitate aus «Das Leben Raphaels», Seiten i und 334.

495

338 in der «Vdlkerpsychologie»: Wilhelm Wunds, «Völkerpsychologie». Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte, I-III, Leipzig 1904-1908.

344 Jakob und Wilhelm Grimm, siehe Hinweis zu Seite 254.

353 Lionardo, die alttoskanische Schreibweise; so auch bei Vasari, «Vita di Lionardo da Vinci» in «Le Vite», 1568.

Goethes Abhandlung: «Über Leonard da Vineis Abendmahl», Be­richt über Joseph Bossis Buch (1810), in: «Kunst und Alter­tum III», 1817.

373 was für eine Empfindung bekommen wir selbst noch dann: d.h. zur Zeit der römischen Kaiser aus dem Nachklang der griechischen Kunst.

380 die Zeit der Abendröte, in der Lionardo gelebt hat: 1452-1519; Kopernikus 1473-1543, Kepler 1571-1630, Galilei 1564-1642, Giordano Bruno 1548-1600.

384 in den bisherigen Vorträgen: vgl. vor allem Vortrag IV in diesem Bande.

402 Ich meine Maurice Maeterlinck: 1862-1949, «Vom Tode», deutsch von Friedr. von Oppeln-Bronikowski, Jena, 1913.

413 . . die Schopenhauer mit den Worten charakterisiert hat: in der Vorrede zur ersten Auflage von «Die Welt als Wille und Vorstel­lung», August 1818,

. . . «das Schicksal, welches . . . allezeit der Wahrheit zuteil ward, der nur ein kurzes Siegesfest beschieden ist, zwischen den beiden langen Zeiträumen wo sie als paradox verdammt und als trivial geringgeschätzt wird.» Arthur Schopenhauers sämtliche Werke, mit Einleitung von Dr. Rudolf Steiner, Stuttgart und Berlin 1894, 2. Band, S. 13, letzter Neudruck 1923.

416 Und Schopenhauer . i i sagte einmal in seinen Schriflen: in «Skizze einer Geschichte der Lehre vom Idealen und Realen». Parerga und Paralipomena I, 1850.

418 «Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer»: siehe Hin­weis zu Seite 75.

421 . i . kommt Herman Grimm auf den Fall zu sprechen: siehe Her-man Grimm, Essays, «Lord Byron und Leigh Hunt».

433 Mit Recht nennt daher Schopenhauer: in der oben (Seite 75) er­wähnten Preisschrift über die Grundlage der Moral: Mitleid, Mitgefühl,

496

«das große Mysterium der Ethik, ihr Urphänomen». Auch die beiden andern Zitate stammen aus der Preisschrift. Vgl. Sämt­liche Werke, herausgegeben von Rudolf Steiner, Band VII, Seiten 234 und 260.

451 Johann Gottlieb Fichte, 1762-1814, «Die Bestimmung des Men­schen», Berlin 1800. Vgl. dazu: Rudolf Steiner, «Die Rätsel der Philosophie», Stuttgart 1955, S. 183. Das Fichte-Zitat über Welt­bild, Traum und Denken steht in der «Bestimmung des Menschen» am Ende des zweiten Buches (Gesamtausgabe, besorgt von 1. H. Fichte, S. 245).

454 Kants Schrifl vom Jahre 1784: «Was ist Aufklärung?» (Kleinere Schriften zur Logik und Metaphysik, herausgegeben von J. H. v. Kirchmann, Berlin 1870, S. 111-119). Wörtlich: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Un­mündigkeit» - i . «Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! »

Cartesius, siehe Hinweis zu Seite 207.

Descartes formulierte den Satz zunächst im «Discours de la méthode» 1637, franz.: Je pense, donc je suis; dann lat. (Prin­zipia I, 7). Augustinus z.B. in den «Soliloquien» II, i und in «De trinitate» X, 10, 14.

456 Karl Rosenkranz: «Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben», be­schrieben durch Karl Rosenkranz, Berlin 1844, Vorwort Seite XII.

461 . . . in die Hand Emersons: Ralph Waldo Emerson, 1803-1882, amerikanischer Philosoph und Dichter. Die von ihm 1847/48 in England gehaltenen Vorlesungen über «Repräsentanten der Mensch­heit» erschienen 1857 deutsch in der Übersetzung von Herman Grimm.

462 Zeitroman «Unüberwindliche Mächte»: siehe Hinweis zu Seite 276.

469 . . . die den schönen Ausspruch getan hat: «Mikroskope und Fern­röhre verwirren eigentlich den reinenMenschensinn» (Goethe, «Maxi­men und Reflexionen»).

474 . . . einen schönen Ausspruch Goethes gegenüber Eckermann: Ge­spräch am 11. April 1827.

477 Du Bois-Reymond, vgl. Hinweis zu Seite 26. Neuroglia ist das Stützgewebe des Zentralnervensystems.

482 Otto Liebmann, 1840-1912, in: «Gedanken und Tatsachen, Philo­sophische Abhandlungen, Aphorismen und Studien». 2 Bände,

497

Straßburg 1882-1904. Im 2. Heft Straßburg 1899 auf S. 284:

«jenes transmakroskopischen Riesengehirns»... Vgl. Rudolf Stei­ner, »Die Rätsel der Philosophie» (s. o.).

486 wenn Hegel bei seinen Vorträgen über die Geschichte der Philosophie:

Schluß der Vorrede, gesprochen von Hegel in Heidelberg am 28. Oktober 1816, zu Beginn seiner Vorlesungen über die Ge­schichte der Philosophie:

«Zunächst aber darf ich nichts in Anspruch nehmen, ak daß Sie vor allem nur Vertrauen zu der Wissenschaft und Vertrauen zu sich selbst mitbringen. Der Mut der Wahrheit, der Glaube an die Macht des Geistes ist die erste Bedingung der Philosophie. Der Mensch, da er Geist ist, darf und soll sich selbst des Höchsten wür­dig achten; von der Große und Macht seines Geistes kann er nicht groß genug denken; und mit diesem Glauben wird nichts so spröde und hart sein, das sich ihm nicht eroffnete. Das zuerst verborgene und verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft, die dem Mute des Erkennens Widerstand leisten könnte; es muß sich vor ihm auftun, und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genusse geben.» (17. Band der Sämtlichen Werke.) Ähnlich auch der Schluß von Hegels Anrede an seine Zuhörer bei Eröffnung seiner Vorlesungen in Berlin, am 22. Oktober 1818.

Literatur

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Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.