GA 35

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MATHEMATIK UND OKKULTISMUS

#G035-1965-SE007

Bekannt ist, daß die Überschrift des platonischen Lehrsaals jeden von der Teilnahme an der Unterweisung des Meisters ausgeschlossen haben soll, der mit der Mathematik unbe­kannt war. Wie man auch über die historische Wahrheit dieser Überlieferung denken mag, es liegt ihr ein richtiges Gefühl zugrunde von der Stellung, die Plato der Mathe­matik innerhalb des Gebietes menschlicher Erkenntnis an­gewiesen hat. Durch die «Ideenlehre» wollte er seine Schü­ler anleiten, in der Welt der rein geistigen Urwesen sich durch ihr Erkennen zu bewegen. Er ging davon aus, daß der Mensch von der wahren Welt nichts wissen könne, so­lange sein Denken durchsetzt ist von dem, was die Sinne liefern. Sinnlichkeitfreies Denken fordert er. In der Ideen­welt bewegt sich der Mensch, wenn er denkt, nachdem er aus diesem seinem Denken alles ausgesondert hat, was die sinnliche Anschauung liefern kann. Es mußte für Plato vor allem die Frage entstehen: Wie befreit sich der Mensch von aller sinnlichen Anschauung? - Als eine bedeutsame Erzie­hungsfrage des geistigen Lebens stand ihm das vor Augen.

Der Mensch kann sich ja nur schwer frei machen von der sinnlichen Anschauung. Selbstprüfung kann das lehren. Auch wenn der im Alltäglichen lebende Mensch sich zurückzieht in sich selbst und keine sinnlichen Eindrücke auf sich wirken läßt, so sind in ihm doch die Überreste des sinnlichen Anschauens vorhanden. Und der noch unentwickelte Mensch steht einfach dem Nichts, der völligen Leerheit des Bewußt­seins gegenüber, wenn er von dem Inhalte absieht, der aus der Sinnenwelt in ihn eingeflossen ist. Deshalb behaupten

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gewisse Philosophen, es gäbe kein sinnlichkeitfreies Den­ken. Selbst wenn sich der Mensch noch so sehr zurückzöge in das Feld des reinen Denkens, so hätte er es doch nur mit seinen Schattenbildern der sinnlichen Anschauung zu tun. Aber diese Behauptung gilt nur für den unentwickelten Menschen. Sobald der Mensch die Fähigkeit erwirbt, in sich selbst geistige Wahrnehmungsorgane auszubilden, so wie die Natur ihm sinnliche angebildet hat, sobald bleibt sein Denken nicht leer, wenn es den sinnlichen Gehalt von sich aussondert. - Solches sinnlichkeitfreies und doch geistig ge­haltvolles Denken forderte Plato von denen, welche seine Ideenlehre verstehen wollten. Und er hatte damit nur et­was gefordert, was zu allen Zeiten diejenigen von ihren Schülern verlangen mußten, welche diese Schüler zu wirk­lichen Eingeweihten des höheren Wissens machen wollten. Bevor der Mensch nicht in ganzem Umfange in sich das er­lebt hat, was Plato fordert, kann er keinen Begriff davon haben, was wirkliche Weisheit ist.

Nun betrachtete Plato das mathematische Anschauen als ein Erziehungsmittel zum Leben in der sinnlichkeitfreien Ideenwelt. Denn die mathematischen Gebilde schweben an der Grenze zwischen der sinnlichen und der rein geistigen Welt. Man denke den «Kreis». Dabei denkt man nicht die­sen oder jenen sinnlichen Kreis, den man vielleicht auf dem Papiere entworfen hat, sondern jeden beliebigen Kreis, den man nur je zeichnen oder den man in der Natur antreffen kann. Und so ist es mit allen mathematischen Gebilden. Sie beziehen sich auf das Sinnliche. Aber sie sind durch kein Sinnliches erschöpft. Sie schweben über unzähligen, mannig­faltigen sinnlichen Gebilden. Wenn ich mathematisch denke, denke ich über das Sinnliche, aber ich denke zugleich nicht

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im Sinnlichen. Nicht der sinnliche Kreis lehrt mich die Ge­setze des Kreises, sondern der ideelle Kreis, der nur in mei­nem Geiste lebt und von dem der sinnliche nur ein Bild ist. Dasselbe könnte mich eben jedes andere sinnliche Bild des Kreises lehren. Das ist das Wesentliche der mathematischen Anschauung, daß mich ein einzelnes sinnliches Gebilde über sich selbst hinausführt, daß es mir nur Gleichnis sein kann für eine umfassende geistige Tatsache. Und dabei bleibt doch wieder die Möglichkeit bestehen, daß ich das Geistige auf diesem Gebiete zu sinnlicher Anschauung bringe. An dem mathematischen Gebilde kann ich auf sinnliche Art übersinnliche Tatsachen kennenlernen. Das war für Plato das Wichtige. Die Idee muß rein geistig angeschaut werden, soll sie in ihrer wahren Wesenheit erkannt werden. Dazu kann man sich erziehen, wenn man im Mathematischen die Vorstufe dazu übt, wenn man sich klar macht, was man eigentlich an einem mathematischen Gebilde gewinnt. -Lerne an der Mathematik dich frei zu machen von den Sinnen, dann kannst du hoffen, zur sinnenfreien Ideen-Erfassung aufzusteigen - das wollte Plato seinem Schüler einprägen.

Und ein Ähnliches verlangten zum Beispiel die Gno­stiker. «Die Gnosis ist die Mathesis», sagten sie. Nichtmein­ten sie damit, daß durch eine mathematische Anschauung das Wesen der Welt zu ergründen sei, sondern nur, daß die in diesem Anschauen zu erzielende Übersinnlichkeit die erste Stufe sei in der geistigen Erziehung des Menschen. Wenn der Mensch dazu gelangt, so von der Sinnlichkeit frei über andere Eigenschaften der Welt zu denken, wie er durch die Mathesis über geometrische Formen und arithmetische Zahlenverhältnisse denken lernt, dann ist er auf dem Wege zur geistigen Erkenntnis. Nicht die Mathesis selbst, wohl

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aber ein nach dem Muster der Mathesis aufgebautes über­sinnliches Wissen erstrebten sie. Und sie sahen in der Ma­thesis ein Muster oder Vorbild, weil die geometrischen Ver­hältnisse der Welt die elementarsten, die einfachsten sind, die sich daher der Mensch am leichtesten aneignen kann. Er soll lernen, an den elementaren mathematischen Wahrhei­ten sinnlichkeitfrei zu werden, damit er es später auch da werden kann, wo die höheren Fragen in Betracht kommen. - Für viele wird damit gewiß eine schwindelerregende Höhe des menschlichen Anschauens angedeutet. Diejenigen, die man als wahre Okkultisten bezeichnen darf, haben aber zu allen Zeiten von ihren Schülern den Mut gefordert, sich diese schwindelerregende Höhe zu ihrem Ziele zu machen. «Lerne über das Wesen der Natur und des geistigen Da­seins so frei von jeder sinnlichen Anschauung denken, wie der Mathematiker über den Kreis und seine Gesetze denkt, dann magst du ein Geheimschüler werden.» Das sollte wie mit goldenen Lettern vor jedem stehen, der wirklich die Wahrheit sucht. «Du wirst nie einen Kreis in der Welt an­treffen, der dir im Sinnlichen nicht bestätigte, was du im sinnlichkeitfreien mathematischen Anschauen über den Kreis gelernt hast. Keine Erfahrung wird je deine über­sinnliche Erkenntnis Lügen strafen können. Du erwirbst dir also ein unvergängliches, ein ewiges Wissen, wenn du frei von Sinnlichkeit erkennen lernst.» So ist als ein Erziehungs-mittel von Plato, von den gnostischen und von allen Okkul­tisten die Mathematik gedacht.

Es sollte zu denken geben, was hervorragende Persön­lichkeiten über die Beziehung von Mathematik und Natur­wissenschaft gesagt haben. Es ist soviel wahre Wissenschaft in dem Naturerkennen, als Mathematik in ihm ist, hat zum

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Beispiel Kant und haben gleich ihm viele gesagt. Nichts anderes ist damit angedeutet, als daß durch die mathemati­sche Formulierung des Naturgeschehens über dasselbe ein Wissen gewonnen ist, das über die sinnliche Anschauung hinausreicht, das durch die sinnliche Anschauung zwar zum Ausdruck kommt, das aber im Geiste eingesehen wird. Ich habe die Wirkungsweise einer Maschine erst eingesehen, wenn ich diese Wirkungsweise in mathematischen Formeln zum Ausdruck gebracht habe. Die den Sinnen vorliegenden Prozesse durch solche Formeln auszudrücken, ist das Ideal der Mechanik, der Physik, wird immer mehr auch das Ideal der Chemie. Aber man kann so mathematisch nur ausdrük­ken, was in Raum und Zeit sich auslebt, was Ausdehnung in diesem Sinne hat. Sobald man in die höheren Welten heraufsteigt, bei denen es sich nicht nur um Ausdehnung in diesem Sinne handelt, versagt auch die Mathematik in die­ser ihrer unmittelbaren Gestalt. Aber es darf nicht versagen die Art der Anschauung, welche der Mathematik zugrunde liegt. Wir müssen die Fähigkeit gewinnen, über das Leben­dige, über das Seelische und so weiter so frei, so unabhängig von dem einzelnen beobachtbaren Gebilde zu sprechen, wie wir über den Kreis unabhängig von dem einzelnen auf dem Papiere gezeichneten Kreis sprechen.

So wahr es ist, daß in allem Naturerkennen nur so viel wahres Erkennen ist, als Mathematik in ihm lebt, so wahr ist es, daß auf allen höheren Gebieten nur dann Erkennen erworben werden kann, wenn dieses nach dem Muster des mathematischen Erkennens sich gestaltet.

Nun hat das mathematische Erkennen in der neueren Zeit bedeutsame Fortschritte gemacht. Es hat sich innerhalb desselben ein wichtiger Schritt ins Übersinnliche vollzogen.

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Mit der Analyse des Unendlichen, die wir Newton und Leibniz verdanken, ist das geschehen. Dadurch haben wir zu der Mathematik, die man die Euklidische nennt, eine andere hinzu erhalten. Die Euklidische Mathematik bringt nur das in mathematische Formeln, was auf dem Felde des Endlichen darstellbar, konstruierbar ist. Was ich über einen Kreis, über ein Dreieck, was ich über Zahlenbeziehungen im Sinne der Euklidischen Mathematik aussage, ist im End­lichen, in sinnlich überschaubarer Weise zu konstruieren. Das ist nicht mehr möglich bei dem Differential, mit dem uns Newton und Leibniz zu rechnen lehrten. Das Differen­tial hat noch alle Eigenschaften, die es ermöglichen, mit ihm Rechnungen auszuführen, aber es ist als solches der sinn­lichen Anschauung entrückt. Die sinnliche Anschauung wird im Differential erst zum Verschwinden gebracht; und dann haben wir die neue, die sinnlichkeitfreie Grundlage für unsere Rechnung. Das Sinnlich-Anschaubare wird errech­net aus dem, was nicht mehr sinnlich anschaubar ist. So ist das Differential ein Unendlich-Kleines gegenüber dem Endlich-Sinnlichen. Das Endliche ist mathematisch auf etwas von ihm ganz Verschiedenes, auf das wirkliche Unendlich-Kleine zurückgeführt. Mit der Infinitesimalrechnung stehen wir an einer wichtigen Grenze. Wir werden mathematisch aus dem Sinnlich-Anschaulichen hinausgeführt, und wir bleiben dabei so sehr im Wirklichen, daß wir das Unan­schauliche berechnen. Und haben wir gerechnet, dann er­weist sich das Anschauliche als das Ergebnis unserer Rech­nung aus dem Unanschaulichen heraus. Mit der Anwendung der Inflnitesimalrechnung auf die Naturvorgänge in Me­chanik und Physik vollziehen wir in der Tat nichts anderes, als daß wir Sinnliches aus Übersinnlichem errechnen. Wir

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erfassen das erstere aus seinem übersinnlichen Anfange oder Ursprunge heraus. Für die sinnliche Anschauung ist das Dif­ferential ein Punkt oder die Null. Für die geistige Erfas­sung aber wird der Punkt lebendig, die Null wird zur Ursache. Der Raum selbst wird damit für die geistige Auf­fassung belebt. Fassen wir ihn sinnlich, so sind seine Punkte, seine unendlich kleinen Teile tot; fassen wir diese Punkte aber als Differentialgrößen, dann kommt innerliches Leben in das tote Nebeneinander. Die Ausdehnung selbst wird zum Erzeugnis des Ausdehnungslosen. So kam durch die Infini­tesimalrechnung Leben in die Naturerkenntnis. Das Sinnliche ist bis zu dem Punkte des Übersinnlichen zurückgeführt. -

Die Tragweite dessen, was hier gesagt ist, sieht man nicht durch die gebräuchlichen philosophischen Spekulationen über die Natur der Differentialgrößen, sondern vielmehr dadurch ein, daß man durch Selbsterkenntnis sich klar macht, wie man sich verhält in seiner Geistesarbeit, wenn man vom Unendlich-Kleinen aus das Endliche durch die Infinitesimalrechnung erobert. Man steht da fortwährend vor dem Momente der Entstehung eines Sinnlichen aus einem nicht mehr Sinnlichen. Es ist daher nur erklärlich, daß dieses geistige Leben in übersinnlichen mathematischen Größenverhältnissen für die Mathematiker in neuerer Zeit ein kräftiges Erziehungsmittel geworden ist. Und dem ver­danken wir, was Geister wie Gauß, Riemann und in der Gegenwart die deutschen Denker Oskar Simony, Kurt Geissler nebst vielen anderen auf dem Gebiete geleistet haben, das über die gewöhnliche Sinnesanschauung hinaus-liegt. Mag man im Einzelnen gegen diese Versuche was immer einwenden: daß solche Denker den Raumbegriff über die Dreidimensionalität hinaus erweitert haben, daß

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sie in Verhältnissen rechnen, die allgemeiner, umfassender sind als der Sinnenraum, das ist ein Ergebnis des durch die Infinitesimalrechnung von der Versinnlichung emanzipier­ten mathematischen Denkens.

Damit sind wichtige Fingerzeige für den Okkultismus geschaffen. Dem mathematischen Denken verbleibt nämlich auch da, wo es sich über das Sinnlich-Anschaubare hinaus­wagt, noch die Strenge, noch die Sicherheit echter Gedan­kenkontrolle. Mögen auch Verirrungen auf diesem Gebiete vorkommen, so verheerend werden sie nie wirken, als wenn die ungeordneten Gedanken des nicht mathematisch Ge-schulten ins Übersinnliche eindringen. So wenig Plato oder die Gnostiker in der Mathematik etwas anderes als ein Er­ziehungsmittel gesehen haben, so wenig soll hier von der Mathematik des Unendlich-Kleinen etwas anderes behaup­tet werden. Aber ein solches Erziehungsmittel für den Okkultisten ist sie. Sie lehrt ihn, strenge gedankliche Selbst­zucht dahin mitbringen, wo nicht mehr sinnliche Anschau­lichkeit ihm auf Schritt und Tritt verkehrte Gedankenverbindungen kontrolliert. Unabhängig werden von der Sinn­lichkeit lehrt die Mathematik, aber sie lehrt dazu zu­gleich den sichern Pfad, weil ihre Wahrheiten zwar über­sinnlich gewonnen sind, aber immer durch sinnliche Mittel bestatigt werden können. Selbst wenn wir mathematisch über einen vierdimensionalen Raum etwas aussagen, so muß die Aussage eine solche sein, daß, wenn wir die vierte Dimension fortlassen und das Ergebnis für drei Dimen­sionen spezialisieren, unsere Wahrheit der Spezialfall eines allgemeinen Satzes bleibt.

Niemand kann Qkkultist werden, der nicht in sich den Übergang von Sinnlichkeit- erfülltem zu Sinnlichkeit freiem

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Denken vollziehen kann. Denn dies ist der Übergang, an dem wir die Geburt des «höheren Manas» aus «Kama­Manas» heraus erleben. Dieses Erlebnis forderte Plato von denen, die seine Schüler werden wollten. Aber der Okkul­tist, der dieses erfahren hat, muß noch ein Höheres erfah­ren. Er muß auch den Übergang finden von dem Sinnlich­keit-freien Denken in der Form zu dem formlosen Denken. Der Gedanke eines Dreieckes, eines Kreises und so weiter hat noch immer Form, wenn diese Form auch keine unmit­telbar sinnliche ist. Erst wenn wir von dem, was in end­licher Form lebt, übergehen zu dem, was noch nicht Form hat, sondern in sich die Möglichkeit der Formerzeugung, dann begreifen wir, was das Arupa-Reich im Gegensatz zu dem Rupa-Reich ist. Und auf dem untersten, elementarsten Felde haben wir in dem Differential vor uns ein Arupa-Wirkliches. Rechnen wir mit dem Differential, so stehen wir immer da, wo das Arupische das Rupische gebiert. Wir können uns also an der Infinitesimalrechnung zum Begrei­fen dessen erziehen, was arupisch ist, und welches Verhält­nis dieses zum Rupischen hat. Man muß nur mit vollem Bewußtsein einmal eine Differential-Gleichung integrieren, dann verspürt man etwas von der Quellkraft, die an der Grenze des Arupischen gegen das Rupische lebt. Man hat da allerdings zunächst nur ganz im Elementaren erfaßt, was der vorgeschrittene Qkkultist für höhere Wesenheiten anzuschauen vermag. Aber man hat ein Mittel, wenigstens einmal eine Andeutung dessen zu sehen, wovon der Mensch, der am Sinnlichen haften bleibt, nicht einmal eine Ahnung gewinnen kann. Für den bloßen Sinnenmenschen müssen ja die Worte des Okkultisten zunächst allen Inhalts entbehren.

Ein Wissen, das in Gebieten erworben wird, wo die

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Krücke der Sinnesanschauung fehlen muß, kann ja am einfachsten verständlich werden da, wo sich der Mensch am allerleichtesten von solcher Anschauung frei macht. Und das ist innerhalb der Mathematik der Fall. Sie ist deshalb die am leichtesten zu überwindende Vorschule für den Okkultisten, der in lichter, heller Klarheit, und nicht in dunkel-gefühlsmäßiger Ekstase, oder in einem träumeri­schen Ahnen sich zu den höheren Welten erheben will. Der Okkultist und Mystiker lebt im Übersinnlichen in solcher lichtvollen Klarheit wie der Elementar-Geometer innerhalb seiner Gesetze von Dreiecken und Kreisen. Denn die wahre Mystik lebt im Lichte, nicht in der Finsternis.-

Leicht kann auch mißverstanden werden, wenn der aus einer Gesinnung, wie die platonische ist, heraus sprechende Okkultist eine Forschung im Sinne des Mathematischen verlangt. Man könnte meinen, er überschätze dieses Mathe­matische. Das ist nicht der Fall. An einer solchen Überschät­zung leiden vielmehr diejenigen, welche nur so weit strenge Erkenntnis zugeben wollen, soweit die Mathematik selbst reicht. Es gibt Naturforscher in der Gegenwart, die jede Behauptung ablehnen als nicht in vollem Sinne wissen­schaftlich, die nicht in Zahlen oder Figuren auszudrücken ist. Für sie beginnt da, wo die Mathematik aufhört, der vage Glaube, und alles Recht zu objektiven Erkenntnissen soll da aufhören. Gerade diejenigen, welche sich gegen diese Überschätzung der Mathematik selbst wenden, können erst wahre Schätzer der echten kristallklaren Forschung sein, die im Geiste der Mathematik auch da verfährt, wo Mathe­matik selbst aufhört. Denn &e Mathematik in ihrer un­mittelbaren Bedeutung hat es ja nur mit dem Quantitativen zu tun. Wo das Qualitative beginnt, da endet ihr Reich.

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Es handelt sich aber darum, auch im Gebiete des Qualita­tiven in ihrem strengen Sinne zu forschen. Besonders scharf wandte sich in diesem Sinne Goethe gegen eine Überschät­zung der Mathematik. Er wollte das Qualitative nicht ge­fesselt wissen durch eine rein mathematische Behandlungs-art. Aber er wollte überall im Geiste des Mathematischen, nach dem Muster und Vorbild des Mathematischen denken. So sagt er .... selbst da, wo wir uns keiner Rechnung be­dienen, müssen wir immer so zu Werke gehen, als wenn wir dem strengsten Geometer Rechenschaft zu geben schul­dig wären. Denn eigentlich ist es die mathematische Me­thode, welche wegen ihrerBedächtlichkeit und Reinheit gleich jeden Sprung in der Assertion offenbart, und ihre Beweise sind eigentlich nur umständliche Ausführungen, daß das­jenige, was in Verbindung vorgebracht wird, schon in seinen einfachen Teilen und in seiner ganzen Folge dagewesen, in seinem ganzen Umfange übersehen und unter allen Be­dingungen richtig und unumstößlich erfunden worden.» Das Qualitative in den Pflanzengestaltungen will Goethe in der Strenge und Klarheit mathematischer Denkweise umfassen. Wie man mathematische Gleichungen aufstellt, in denen man nur besondere Werte einsetzt, um eine Mannig­faltigkeit von einzelnen Fällen unter eine allgemeine For­mel zu fassen, so sucht Goethe nach der Urpflanze, die im Qualitativen und Geistig-Wirklichen ein Umfassendes ist, von dem er 1787 an Herder schreibt: «Ferner muß ich dir vertrauen, daß ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung und Organisation ganz nahe bin, und daß es das Einfachste ist, was nur gedacht werden kann . . . Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem

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Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unend­liche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt, die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten.» Das heißt, Goethe sucht die noch ganz formlose Urpflanze und strebt danach, aus ihr die Pflanzenformen zu gewin­nen, wie der Mathematiker aus einer Gleichung die beson­deren Formen von Linien und Flächen gewinnt. - Und Goethes Denkweise strebte auf diesen Gebieten zum Ok­kultismus hin. Das weiß, wer ihn näher kennenlernt.

Es kommt darauf an, daß sich der Mensch durch die an­gedeutete Selbstzucht zum sinnlichkeitfreien Anschauen er­hebt. Nur dadurch erschließen sich ihm die Pforten der Mystik und des Okkultismus. Durch die Schulung im Geiste des Mathematischen geht einer der Wege, die zur Läute­rung von dem Leben in der Sinnlichkeit führen. Und wie der Mathematiker erst fest im Leben steht, wie er durch seine Schulung Brücken und Tunnels bauen kann, das heißt, die Wirklichkeit quantitativ meistern, so kann nur der­jenige das Qualitative verstehen und beherrschen, der es in den Ätherhöhen der sinnlichkeitfreien Anschauung er­faßt hat. Das ist der Okkultist. Wie der Mathematiker die Eisenformen nach mathematischen Gesetzen zu Maschinen formt, so der Okkultist Leben und Seele in der Welt durch die im mathematischen Geiste erfaßten Gesetze dieser Gebiete. Der Mathematiker kehrt zum Leben zurück mit den mathematischen Gesetzen; der Okkultist nicht minder mit den seinen. Und so wenig der Nichtmathematiker verste­hen kann, wie der Mathematiker an der Maschine arbeitet, so wenig kann der Nicht-Okkultist die Pläne verstehen, nach denen der Okkultist an den qualitativen Gebilden des Lebens und der Seele arbeitet.

DIE OKKULTE GRUNDLAGE IN GOETHES SCHAFFEN

#G035-1965-SE019 - Philosophie und Anthroposophie (1904 - 1918)

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DIE OKKULTE GRUNDLAGE IN GOETHES SCHAFFEN

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Die theosophische Wirksamkeit wird ihre allgemeine große Mission in der gegenwärtigen Kultur nur erfüllen können, wenn sie die besonderen Aufgaben wird erfassen können, die ihr in jedem Lande durch die geistigen Besitztümer des Volkes erwachsen. In Deutschland werden diese beson­deren Aufgaben mitbestimmt durch das Erbe, das seinem Geistesleben durch die großen Genien hinterlassen worden ist, die um die Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts gelebt haben. Wer an diese, an Lessing, Her­der, Schiller, Goethe, an Novalis, Jean Paul und viele an­dere mit theosophischer Gesinnung und Lebensauffassung herantritt, der wird zwei wichtige Erlebnisse haben. Das eine ist, daß ihm von einer geistig vertieften Anschauung ein neues Licht auf das Wirken und die Werke dieser Ge­nien fällt; das andere, daß von ihnen Lebenssaft in die Theosophie einströmt, der in ungeahnter Weise befruch­tend und kräftigend wirken muß. Man kann, ohne Über­treibung, sagen, der Deutsche wird die Theosophie verste­hen, wenn er dem Besten Verständnis entgegenbringt, was seine führenden Geister gewollt und in ihren Werken ver­körpert haben.

Es wird die Aufgabe kommender Zeiten sein, die theo­sophischen und okkulten Grundlagen des großen Auf­schwunges im deutschen Geistesleben um die gekennzeich­nete Zeit darzulegen. Dann wird es sich zeigen, wie vertraut und intim man mit den Werken dieser Zeit als Theosoph werden kann. Hier kann nur mit wenigen Andeutungen

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auf den einen Genius hingewiesen werden, der im Mittelpunkte dieser Zeitkultur stand, auf Goethe. Es gibt eine Möglichkeit, das theosophische Wirken mit Goe­thes Gedankenformen und mit seiner Gesinnung zu beleben; und diese Belebung kann zur Folge haben, daß Theosophie in Deutschland nach und nach als etwas dem Volksgeiste Verwandtes erscheinen muß, daß man erkennen wird: die Grundlage theosophischer Auffassung sei keine andere als diejenige, aus der Deutschlands großer Dichter und Denker auch die Kraft zu seinem Schaffen gewonnen hat.

Die Einsichtvollsten, die mit oder um Goethe gelebt haben, gestanden ihm uneingeschränkt zu, daß es keinen Zweig des Geisteslebens gäbe, der nicht befruchtet werden könnte durch die Art, wie er Welt und Leben anschaute. Man darf sich nur nicht irre machen lassen durch die Tat­sache, daß der Geisteskern Goethes unter der äußeren Ober­fläche seiner Werke verborgen ist. Man muß intim mit die­sem Geisteskern werden, wenn man zum vollkommenen Verständnisse vordringen will. Damit soll nicht etwa ge­sagt werden, daß man sich unempfänglich machen soll für das Formschöne und unmittelbare Künstlerische in Goethes Werken. Nicht in eine abstrakte Deutung Goethescher Kunst durch Verstandessymbole und Allegorien soll ver­fallen werden. Aber wie eine edle Gesichtsphysiognomie nichts verlieren kann an Bewunderung der Formschönheit, wenn für den Betrachter die Größe der Seele durch diese Schönheit hindurchstrahlt, so kann auch Goethes Kunst nichts verlieren, sondern nur unendlich gewinnen, wenn man die äußeren Ausdrücke seines Schaffens durchleuchtet mit der Tiefe der Weltauffassung, die in seiner Seele gelebt hat.

Goethe hat es selbst oft angedeutet, wie eine solch ver­tiefte

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Auffassung seines Schaffens vollberechtigt ist. Am 29. Januar 1827 sagte er zu seinem ergebenen Sekretär Eckermann in bezug auf seinen «Faust»: «Es ist alles sinn­lich und wird, auf dem Theater gedacht, jedem gut in die Augen fallen. Und mehr habe ich nicht gewollt. Wenn es nur so ist, daß die Menge der Zuschauer Freude an der Erscheinung hat; dem Eingeweihten wird zugleich der höhere Sinn nicht entgehen».

Es bedarf nur eines wirklich unbefangenen Einlebens in Goethes Schaffen, um zu erkennen, daß bei ihm nur eine esoterische Auffassung zu einem vollen Verständnis seines Wirkens führen kann. In ihm lebte der Drang, in allen sinnlichen Erscheinungen die verborgenen geistigen Kräfte zu finden. Eine Grundregel seines Forschens war es, daß in den äußeren Tatsachen innere Geheimnisse sich ausdrücken, und daß nur derjenige die Natur verstehen könne, der die Erscheinungen wie Buchstaben betrachte, welche den inne­ren Sinn des geistigen Wirkens lesbar machen müssen. Nicht bloß als dichterischer Einfall, sondern wie das Ergebnis seiner ganzen Weltbetrachtung stehen im Chorus mysticus am Ende seines «Faust» die Worte: «Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis». Und in der Kunst sah er nichts anderes als eine Auslegung tiefster Weltgeheimnisse. Nach seiner Ansicht sollten durch sie Dinge offenbar werden, welche schaffend in der Natur wirken, aber mit den Mitteln dieser selbst nicht zum Ausdrucke gelangen können. Denselben Geist suchte er in den Erscheinungen der Natur und in den Werken des schaffenden Künstlers; nur die Mittel der Dar­stellung waren ihm für beide verschieden. - Immer mehr arbeitet er sich eine Anschauung aus von einer sich entwik­kelnden Stufenfolge aller Welterscheinungen und Wesen,

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um den Menschen als eine Zusammenfassung anderer Reiche zu begreifen. Der Geist im Menschen ist ihm die Offenbarung seines Allgeistes, und die anderen Naturreiche mit ihren Formen zeigen sich ihm als der Weg der Entwicke­lung zum Menschen hin. Und all das bleibt bei ihm nicht Theorie, sondern wird lebendiges Element seines Schaffens, fließt ein in alles, was er wirkt. In schönster Weise hat Schiller diese Eigenart des Goetheschen Geistes gekenn­zeichnet in dem Briefe, mit dem er die vertraute Freund-schaft der beiden einleitet (23. August 1794): «Lange schon habe ich, obgleich aus ziemlicher Ferne, dem Gang Ihres Geistes zugesehen, und den Weg, den Sie sich vorgezeichnet haben, mit immer erneuerter Bewunderung bemerkt. Sie suchen das Notwendige der Natur, aber Sie suchen es auf dem schwersten Wege, vor welchem jede schwächere Kraft sich wohl hüten wird. Sie nehmen die ganze Natur zusam­men, um über das Einzelne Licht zu bekommen; in der All­heit ihrer Erscheinungsarten suchen Sie den Erklärungs-grund für das Individuum auf ...» In seiner Schrift über Winckelmann hat Goethe ausgesprochen, wie er die Stellung des Menschen im Werdegange der Naturreiche empfindet: «Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem gro­ßen, schönen, würdigen Ganzen fühlt, wenn das harmo­nische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt, dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern.»

Es war Goethes Lebensarbeit, sich über diesen Werdegang der Wesensreiche immer klarer zu werden. Als er die Stufe seiner Einsichten nach seiner Übersiedelung nach Weimar

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(etwa 1780) zusammenfaßte in dem schönen Prosahymnus «Die Natur», da hat das Ganze noch eine abstrakte pantheistische Färbung. Er muß noch Worte gebrauchen, um die verborgenen Wesenskräfte zu kennzeichnen, die bald seiner vertieften Anschauung nicht mehr genügen. Aber auch in diesen Worten ist schon die Anlage zu dem enthal­ten, was dann in ihm sich in so vollkommener Form aus­bildete. Er sagt da unter anderem: «Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen,... Ungebeten und unge­warnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen. Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie; was war, kommt nicht wieder; alles ist neu, und doch immer das Alte . . . Jedes ihrer Werke hat ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den isolierte­sten Begriff; und doch macht alles eins aus . . . Gedacht hat sie und sinnt beständig; aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur. Sie hat sich einen eigenen, allumfassenden Sinn vorbehalten, den ihr niemand abmerken kann . . . Sie hüllt den Menschen in Dumpfheit ein und spornt ihn ewig zum Lichte . . . Sie gibt Bedürfnisse, weil sie Bewegung liebt . . . Sie hat keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und Herzen, durch die sie fühlt und spricht. Ihre Krone ist die Liebe. Nur durch sie kommt man ihr nahe . . . Sie hat alles isoliert, um alles zusammenzuziehen... Vergan­genheit und Zukunft kennt sie nicht. Gegenwart ist ihr Ewigkeit.» Als Goethe dann, auf der Höhe seiner Einsicht (1828) zurückblickte auf diese Stufe, da sprach er sich so darüber aus: «Ich möchte die Stufe damaliger Einsicht einen Komparativ nennen, der seine Richtung gegen einen noch nicht erreichten Superlativ zu äußern angedrängt ist . .

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Die Erfüllung aber, die ihm fehlt, ist die Anschauung der zwei großen Triebräder der Natur: der Begriff von Polari­tät und von Steigerung> jene der Materie, insofern wir sie materiell, diese ihr dagegen, insofern wir sie geistig nennen, angehörig. Jene ist in immerwährendem Anziehen und Ab­stoßen, diese in immerstrebendem Aufsteigen. Weil aber die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann, so vermag auch die Ma­terie sich zu steigern, sowie sich's der Geist nicht nehmen läßt, anzuziehen und abzustoßen.» - Mit diesen Vorstel­lungen trat Goethe an das Tierreich, das Pflanzenreich und an die mineralische Welt heran, um von der offenbaren Mannigfaltigkeit der sinnlichen Erscheinungen die verbor­gene geistige Einheit zu begreifen. Was er «Urpflanze», «Urtier» nannte, ergab sich ihm auf diese Weise. Und hin­ter diesen Vorstellungen stand bei ihm als die tätige Geistes-kraft die Intuition. Sein ganzes Wesen strebte danach, in seine Betrachtung der Dinge das aufzunehmen, was man in der Theosophie Toleranz (Uparati) nennt. Und immer mehr und mehr suchte er sich durch die strengste innere Selbsterziehung diese Eigenschaft anzueignen. Zahlreich sind die Äußerungen, in denen er von dieser seiner Selbst-erziehung spricht. Hier sei nur die eine charakteristische aus der «Kampagne in Frankreich» (1792) angeführt. «Wie ich überhaupt ziemlich unbewußt lebte und mich vom Tag zum Tage führen ließ, wobei ich mich, besonders die letzten Jahre, nicht übel befand, so hatte ich die Eigenschaft, nie­mals weder eine nächst zu erwartende Person noch eine irgend zu betretende Stelle vorauszudenken, sondern diesen Zustand unvorbereitet auf mich einwirken zu lassen. Der Vorteil, der daraus entsteht, ist groß: man braucht von

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einer vorgefaßten Idee nicht wieder zurückzukommen, nicht ein selbstbeliebig gezeichnetes Bild wieder auszulö­schen und mit Unbehagen die Wirklichkeit an dessen Stelle aufzunehmen.» So suchte er sich immer höher, bis zu dem Gesichtspunkt der Unterscheidung des Realen von dem Unrealen zu erheben (Viveka).

Nur andeutend hat Goethe über die eigentliche Grund­lage dieses seines Wesens gesprochen. Er tut es zum Beispiel in dem Gedicht «Geheimnisse», das sein Bekenntnis zum Rosenkreuzertum enthält. Es ist in der Mitte der achtziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts entstanden und wurde von denjenigen, die Goethe intim kannten, als eine reine Offenbarung seines Wesens genommen. Im Jahre 1816 wurde er dann von einer «Gesellschaft studierender Jüng­linge in einer der ersten Städte Norddeutschlands» aufge­fordert, sich über den tieferen Sinn des Gedichtes zu äußern. Er gab eine Erklärung, die ganz wohl als eine Umschrei­bung der drei Programmpunkte der Theosophischen Gesell­schaft angesehen werden kann.

Nur wenn man solche Dinge bei Goethe in ihrer vollen Tiefe zu würdigen versteht, ist man in der Lage, den «höheren Sinn» zu erkennen, den Goethe, nach seinem eigenen Ausspruche, für die «Eingeweihten» in seinen «Faust» gelegt hat. - Im zweiten Teil dieses dramatischen Gedichtes liegt tatsächlich, was Goethe über das Verhältnis des Menschen zu den «drei Welten», der physischen, astra­lischen und spirituellen, zu sagen hatte. Von diesem Ge­sichtspunkte aus stellt sich die Dichtung dar als der Aus­druck für die Inkarnation des Menschen. - Eine Figur, die dem Verständnisse, das sich nicht auf eine okkulte Grund­lage stellen will, unübersteigliche Schwierigkeiten macht,

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ist der Homunculus. Jeder Zug, jedes Wort wird aber klar, wenn man von dieser Grundlage ausgeht. Homunculus wird mit Hilfe des Mephistopheles erzeugt. Dieser ist der Repräsentant der hemmenden und zerstörenden Kräfte des Universums, die sich im Reiche des Menschlichen als das Böse kundgeben. Goethe will den Anteil charakterisieren, welchen das Böse an der Entstehung des Homunculus hat. Und aus diesem soll ja ein Mensch werden. Deshalb soll er auf dem Boden der «Klassischen Walpurgisnacht» durch die niederen Reiche der Natur hindurchgeführt werden. Er ist, bevor er diese Wanderung unternimmt, nur ein Teil der Menschennatur. Bezeichnend ist, was er über diese seine Beziehung zur «irdischen» Menschennatur selbst sagt:

Ich schwebe so von Stell' zu Stelle

Und möchte gern im besten Sinn entstehn,

Voll Ungeduld, mein Glas entzwei zu schlagen;

Allein, was ich bisher gesehn,

Hinein da möcht' ich mich nicht wagen.

Nur, um dir's im Vertrauen zu sagen:

Zwei Philosophen bin ich auf der Spur;

Ich horchte zu, es hieß: Natur! Natur!

Von diesen will ich mich nicht trennen,

Sie müssen doch das irdische Wesen kennen,

Und ich erfahre wohl am Ende,

Wohin ich mich am allerklügsten wende.

Ganz deutlich wird das Wesen des Homunculus, wenn von ihm gesagt wird:

Es fragt um Rat, und möchte gern entstehn.

Er ist, wie ich von ihm vernommen.

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Gar wundersam nur halb zur Welt gekommen.

Ihm fehlt es nicht an geistigen Eigenschaften,

Doch gar zu sehr am greiflich Tüchtighaften.

Bis jetzt gibt ihm das Glas allein Gewicht,

Doch wär' er gern zunächst verkörperlicht.

Dazu wird noch hinzugefügt:

Er ist, mich dünkt, hermaphroditisch.

Goethe hat die Absicht, den Astralleib des Menschen vor der Inkarnation in die irdische Stofflichkeit darzustellen. Deutlich macht er das noch dadurch, daß er Homunculus mit hellseherischen Kräften ausstattet. Dieser sieht nämlich den Traum Faustens im Laboratorium, in dem mit Hilfe des Mephistopheles gearbeitet wird. - Dann wird im wei­teren Verlauf der Klassischen Walpurgisnacht die Verkör­perung des Homunculus, also des Astralmenschen, geschil­dert. Er wird an Proteus, den Geist der Verwandlungen durch die Naturreiche gewiesen:

Hinweg zu Proteus! Fragt den Wundermann,

Wie man entstehn und sich verwandeln kann.

Und dieser schildert den Weg, den der astralische Mensch durch die Naturreiche zu nehmen hat, um zur irdischen Verkörperung, zu einem physischen Leib zu kommen:

Im weiten Meere mußt du anbeginnen!

Da fängt man erst im Kleinen an

Und freut sich, Kleinste zu verschlingen,

Man wächst so nach und nach heran

Und bildet sich zu höherem Vollbringen.

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Es ist damit der Durchgang des Menschen durch das Mine­ralreich geschildert. Besonders anschaulich macht Goethe den Eintritt des Homunculus in das Pflanzenreich. Homun­culus sagt:

Hier weht gar eine weiche Luft,

Es grunelt so, und mir behagt der Duft!

Wie erklärend fügt der anwesende Philosoph Thales zu dem Vorgange die Worte hinzu:

Gib nach dem löblichen Verlangen,

Von vorn die Schöpfung anzufangen!

Zu raschem Wirken sei bereit!

Da regst du dich nach ewigen Normen

Durch tausend, abertausend Formen,

Und bis zum Menschen hast du Zeit.

Auch der Augenblick, wo das ungeschlechtliche Menschen-wesen die Zweigeschlechtlichkeit und damit die sinnliche Liebe eingepflanzt erhält, wird dargestellt:

Und rings ist alles vom Feuer umronnen;

So herrsche denn Eros, der alles begonnen!

Daß wirklich die Umkleidung des Astralleibes mit dem aus den irdischen Elementen gebauten physischen Körper ge­meint ist, wird noch besonders ausgesprochen in den Schluß-versen des zweiten Akts:

Heil den mildgewognen Lüften!

Heil geheimnisreichen Grüften!

Hochgefeiert seid allhier,

Element' ihr alle vier!

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Die Entwickelung der Wesen im Laufe der Erdbildung bringt Goethe hier in Zusammenhang mit der Inkarnation des Menschen als eines besonderen Wesens. Dieses wieder­holt als solches die Vorgänge, welche die Menschheit durch­gemacht hat, um zu ihrer gegenwärtigen Gestalt zu gelan­gen. Mit diesen Ideen stand er ganz auf dem Boden der Evolutionslehre des Okkultismus. Die niederen Wesen dachte er sich in ihrer Enstehung so, daß der Impuls, der zu Höherem hinstrebt, auf einer gewissen Stufe festgehal­ten wird. In seinem Tagebuche der Schweizer Reise von 1797 notiert er ein in dieser Beziehung interessantes Ge­spräch mit dem Tübinger Professor Kielmeyer, in dem die Worte enthalten sind: «Über die Idee, daß die höheren organischen Naturen in ihrer Entwickelung einige Stufen vorwärts machen, auf denen die anderen hinter ihnen zurückbleiben.» Von dieser Idee sind seine Pflanzen-, Tier-und Menschenstudien ganz durchdrungen; und im «Faust» sucht er in der Menschwerdung des Homunculus dieser Auffassung eine künstlerische Form zu geben. Als er be­kannt wird mit Howards Wolkenbildungslehre, spricht er seinen Gedanken über die Beziehung der geistigen Urbilder zu den sich wandelnden Formen mit den Worten aus:

Wenn Gottheit Kamarupa, hoch und hehr,

Durch Lüfte schwankend wandelt leicht und schwer,

Des Schleiers Falten sammelt, sie zerstreut,

Am Wechsel der Gestalten sich erfreut,

Jetzt starr sich hält, dann schwindet wie ein Traum,

Da staunen wir und traun dem Auge kaum.

Nun kommt aber im «Faust» auch zur Darstellung, wie die unvergängliche geistige Wesenheit zu den vergänglichen

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Hüllen des Menschen in Beziehung steht. Dieses Unver­gängliche muß Faust bei den «Müttern» aufsuchen. Und damit ergibt sich ungezwungen die Erklärung dieser wich­tigen Szene im zweiten Teile des «Faust». Als eine Dreiheit (in Übereinstimmung mit der theosophischen Lehre von Atma-Budhi-Manas) stellt sich Goethe das eigentliche We­sen des Menschen vor. Und den Gang zu den «Müttern» kann man, in theosophischer Sprache ausgedrückt, ein Ein­dringen Fausts in das devachanische Reich nennen. Dort soll er finden, was von Helena vorhanden ist. Sie soll sich ja wiederverkörpern, das heißt, sie soll aus dem Reiche der «Mütter» zurückkehren auf die Erde. Im dritten Akt sehen wir sie in der Tat wiederverkörpert. Dazu war notwendig eine Vereinigung der drei Naturen des Menschen: der astralischen, physischen und spirituellen. Am Ende des zweiten Aktes hat sich das Astralische (Homunculus) mit der physischen Hülle umgeben, und diese Vereinigung kann jetzt die höhere Natur in sich aufnehmen. In solcher Auffassung kommt innere dramatische Einheit in die Dich­tung, während bei einem nicht okkulten Eindringen die einzelnen Geschehnisse nur eine willkürliche Zusammen-fügung poetischer Aggregate blieben. Ohne auf die okkulte Grundlage der Dichtung Rücksicht zu nehmen, hat schon der Frankfurter Professor Veit Valentin auf den inneren Zu­sammenhang des Homunculus und der Helena in einem interessanten Buche aufmerksam gemacht («Die Einheit des ganzen », 1896). Doch kann der Inhalt dieser Schrift nur eine geistvolle Hypothese bleiben, wenn man nicht bis zum okkulten Untergrunde des Ganzen vordringt. Goethe denkt sich den Mephistopheles als ein Wesen, dem das de­vachanische Reich unbekannt ist. Er ist nur im Astralischen

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heimisch. Daher kann er Dienste leisten beim Entstehen des Homunculus; aber er kann Faust nicht in das Reich der «Mütter» begleiten. Ja, für ihn ist dies Reich sogar ein «Nichts». Er sagt zu Faust, indem er ihm von dieser Welt spricht:

Nichts wirst du sehn in ewig leerer Ferne,

Den Schritt nicht hören, den du tust,

Nichts Festes finden, wo du ruhst.

Doch Faust ahnt sogleich in seiner spirituellen Begabung, daß er in diesem Reiche das eigentliche Wesen des Menschen finden werde:

Nur immer zu! Wir wollen es ergründen:

In deinem Nichts hoff' ich das All zu finden.

Und in der Beschreibung, die Mephistopheles gibt von der Welt, die er nicht betreten darf, erkennt man genau, was

Goethe sagen will:

Versinke denn! Ich könnt' auch sagen: steige!

,s ist einerlei. Entfliehe dem Entstandnen

In der Gebilde losgebundne Reiche;

Ergetze dich am längst nicht mehr Vorhandnen;

Wie Wolkenzüge schlingt sich das Getreibe...

Ein glühnder Dreifuß tut dir endlich kund,

Du seist im tiefsten, allertiefsten Grund.

Bei seinem Schein wirst du die Mütter sehn;

Die einen sitzen, andre stehn und gehn,

Wie's eben kommt. Gestaltung, Umgestaltung,

Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung.

Umschwebt von Bildern aller Kreatur . . .

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Erst durch das «Urbild», das Faust aus dem devachani­schen Reich der «Mütter» holt, kann der durch das Physi­sche hindurchgegangene astralische Homunculus geistbe­gabter Mensch werden, eben die Helena, die dann im dritten Akt wirklich auftritt. Goethe hat dafür gesorgt, daß Tieferblickende seine Meinung verstehen können, denn in den Gesprächen mit Eckermann hat er den Schleier von der Sache gezogen, soweit es ihm angängig erschien. Am 16. Dezember 1829 sagte er über den Homunculus: «Denn solche geistige Wesen wie der Homunculus, die durch eine vollkommene Menschwerdung noch nicht verdüstert und beschränkt worden, zählte man zu den Dämonen.» Und weiter deutet er an demselben Tage an, wie dem Homun­culus noch das Mentale fehlte: «Das Räsonieren ist nicht seine Sache; er will handeln.»

Der ganze weitere Fortgang der dramatischen Hand­lung im «Faust» schließt sich nach dieser Auffassung zwanglos an das Vorhergehende. Faust ist mit den Ge­heimnissen der «drei Welten» bekannt geworden. Er schaut deshalb im weiteren als Mystiker die Welt an. Man könnte nun Szene für Szene in diesem Sinne deuten. Doch soll nur noch auf Einzelnes hier aufmerksam gemacht werden. Als gegen den Schluß die Sorge an Faust herantritt, wird er äußerlich blind. Allein er hat auf seinem Entwickelungs­gange die Fähigkeit des «inneren Schauens» sich erworben:

Die Nacht scheint tiefer tief hereinzudringen,

Allein im Innern leuchtet helles Licht.

Goethe hat auf die einmal an ihn gestellte Frage, wie Faust endige, ausdrücklich die Antwort gegeben: er werde am Schlusse Mystiker. Und nur in dieser Art sind die bedeutungsvollen

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Worte des Chorus mysticus zu deuten, in welche das Gedicht ausklingt. - Im «West-Östlichen Diwan» spricht er sich ja auch deutlich über die «geistige Menschwerdung» aus. Es ist für ihn die Vereinigung der Menschenseele mit dem «höheren Selbst». Die Illusion, daß der wahre Mensch in seinen äußeren Hüllen bestehe, muß absterben; dann entsteht («wird») der «höhere Mensch». Deshalb beginnt er sein Gedicht «Selige Sehnsucht» mit den Worten:

Sagt es niemand, nur den Weisen,

Weil die Menge gleich verhöhnet:

Das Lebendge will ich preisen,

Das nach Flammentod sich sehnet.

Und er schließt:

Und so lang du das nicht hast,

Dieses: Stirb und werde!

Bist du nur ein trüber Gast

Auf der dunklen Erde.

Ganz im Einklang damit ist der Chorus mysticus. Denn nichts anderes spricht dieser aus als das Folgende: Den ver­gänglichen Erscheinungen der äußeren Welt liegt das Gei­stig-Unvergängliche zum Grunde, und man gelangt zu dem letzteren, wenn man das Vergängliche nur als ein Sinnbild des verborgenen Geistigen ansieht:

Alles Vergängliche

Ist nur ein Gleichnis.

Was der auf die Sinnenwelt und ihre Formen hingeordnete Verstand nicht erreichen kann, das enthüllt sich in wirk­licher Anschauung vor dem «geistigen Schauen», und was

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dieser Verstand nicht beschreiben kann, das ist eine «Tat» in den Regionen des Geistigen:

Das Unzulängliche,

Hier wirds Ereignis;

Das Unbeschreibliche,

Hier ists getan . . .

Und im Einklange mit aller mystischen Symbolik stellt Goethe die höhere Natur des Menschen als ein «Weibliches» dar, das mit dem göttlichen Geiste sich vereinigt. Denn nur diese Befruchtung der geläuterten und zum Göttlichen hin-anziehenden Menschenseele meint Goethe in den Endzeilen zu charakterisieren:

Das Ewig-Weibliche

Zieht uns hinan.

Alle nicht im Sinne der Mystik gegebenen Deutungen ver­sagen hier.

Goethe hielt die Zeit noch nicht gekommen, in welcher man sich über gewisse Geheimnisse des Daseins anders als in der Art aussprechen kann, wie er es in einigen seiner Dichtungen tat. Und vor allem sah er seine eigene Mission in einer solchen Form des Ausdruckes. - Im Beginne seines Freundschaftsbundes mit Schiller trat an ihn die Frage her­an: Wie hat man sich den Zusammenhang der physischen mit der geistigen Natur des Menschen vorzustellen? Schiller hatte in philosophischer Art diese Frage in seinen «Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen» zu beant­worten gesucht. Ihm war es zu tun um die Veredelung, Läuterung des Menschen. Ungeläutert erschien ihm ein Mensch, welcher unter dem Naturzwange der sinnlichen

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Triebe und Begierden steht. Aber ebenso wenig hielt er denjenigen für geläutert, der die Triebe und Begierden als Feind empfindet und sich unter den Zwang der moralischen oder abstrakten Vernunftnotwendigkeit stellen muß. Erst der Mensch hat die innere Freiheit erlangt, welcher die moralische Ordnung so in sein inneres Wesen aufgenom­men hat, daß er gar nichts anderes will, als ihr folgen. Ein solcher hat die niedere Natur so veredelt, daß sie durch sich selbst ein Ausdruck wird des höheren Geistigen; und er hat das Geistige so in das Irdisch-Menschliche eingeführt, daß es unmittelbares sinnliches Dasein hat. Die Ausein­andersetzungen, die Schiller in diesen «Briefen» gibt, sind vorzügliche Erziehungsmaßregeln, denn sie wollen die Evo­lution des Menschen so fördern, daß dieser auf einen er­höhten, freien Standpunkt der Weltbetrachtung komme, indem er den höheren idealischen Menschen in sich auf­nimmt. In seiner Art weist Schiller auf das «höhere Selbst» des Menschen hin: «Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen, idealischen Menschen in sich, mit dessen unverän­derlicher Einheit in allen seinen Abwechselungen überein­zustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist.» Von weittragendster Bedeutung ist alles, was Schiller in diesem Zusammenhange ausspricht. Denn wer wirklich die gestell­ten Forderungen durchführt, vollzieht in sich selbst eine Erziehung, die ihn unmittelbar zu derjenigen inneren Ver­fassung bringt, welche zum «inneren Schauen» des Geisti­gen vorbereitet. - Goethe fand sich durch diese Ideen im tiefsten Sinne befriedigt. Er schreibt darüber an Schiller, der ihm die Handschrift mitgeteilt hatte: «Das mir über­sandte Manuskript habe ich sogleich mit großem Vergnügen

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gelesen; ich schlürfte es auf einen Zug hinunter. Wie uns ein köstlicher, unserer Natur analoger Trunk willig hinunterschleicht und auf der Zunge schon durch gute Stimmung des Nervensystems seine heilsame Wirkung zeigt, so waren mir diese Briefe angenehm und wohltätig, und wie sollte es anders sein, da ich das, was ich für recht seit langer Zeit erkannte, was ich teils lebte, teils zu leben wünschte, auf eine so zusammenhängende und edle Weise vorgetragen fand.»

Und nun versuchte Goethe seinerseits dieselbe Idee aus der Tiefe seiner Weltanschauung heraus - allerdings in Bil­dern verhüllt - in dem Rätselmärchen «Von der grünen Schlange und der schönen Lilie» darzustellen. Es ist in den Goethe-Ausgaben am Schlusse der «Unterhaltungen deut­scher Ausgewanderter» enthalten. Man hat oft die «Faust»-Dichtung «Goethes Evangelium» genannt. Dieses Märchen kann man aber seine «Apokalypse» nennen. Denn in ihm stellt er - märchenhaft - den inneren Entwickelungsgang des Menschen dar. Auch hier kann nur wieder in Kürze auf einiges hingedeutet werden. Denn man müßte ein ausführ­liches Buch schreiben, wollte man darstellen, wie «Goethes Theosophie» in diese Dichtung hineingeheimnist ist.

Die «drei Welten» sind hier repräsentiert durch zwei Gebiete, die durch einen Fluß voneinander geschieden sind. Der Fluß selbst stellt die astralische Welt dar. Diesseits des­selben ist das physische Reich, jenseits das geistige (Deva­chan). Jenseits wohnt die «schöne Lilie», die Repräsentantin der höheren Menschennatur. In ihr Reich muß der Mensch streben, wenn er seine niedere mit seiner höheren Natur vereinigen soll. In den Klüften, das heißt, in der physischen Welt, wohnt die «Schlange». Diese repräsentiert das

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«Selbst» des Menschen. Aber auch der «Tempel» der Ein­weihung ist in dieser Welt vorhanden. In ihm walten vier Könige, ein goldener, silberner, eherner und ein vierter, der in unregelmäßiger Weise aus den drei Metallen gemischt ist. Goethe, der Freimaurer war, hat mit freimaurerischer Terminologie ausgesprochen, was er aus seinen mystischen Erlebnissen heraus zu sagen hatte. Die drei Könige stellen die drei höheren Menschenkräfte dar: Weisheit (Gold), Schönheit (Silber) und Stärke (Erz). Solange der Mensch in seiner niederen Natur lebt, sind diese drei Kräfte in un­geordneter, chaotischer Weise in ihm vorhanden. Diese Periode der Menschheitsevolution wird durch den gemisch­ten König angedeutet. Wenn aber der Mensch sich so läu­tert, daß die drei Kräfte in voller Harmonie zusammen­wirken, und der Mensch sich in freier Weise ihrer bedienen kann, dann ist für ihn der Weg in das Reich des Geistigen offen. - Der noch ungeläuterte Mensch wird durch einen «Jüngling» dargestellt, der, ohne die innere Reinheit er­langt zu haben, sich mit der «schönen Lilie» vereinigen wollte. Er ist durch diese Vereinigung gelähmt worden. Goethe wollte damit auf die Gefahr hinweisen, welcher der Mensch sich aussetzt, der ohne die Abtötung der niederen Selbstheit in die Region des Übersinnlichen dringen will. Erst wenn die Liebe den ganzen Menschen durchdrungen hat, erst wenn das niedere Selbst geopfert ist, kann die Ein­weihung in die höheren Wahrheiten und Kräfte beginnen. Diese Opferung kommt dadurch zum Ausdrucke, daß die Schlange sich selbst ganz aufgibt und aus ihrem eigenen Leibe eine Brücke bildet zwischen den beiden Reichen, dem sinnlichen und dem geistigen, über den Fluß, das ist das Astralische, hinüber. Vorher muß der Mensch die höheren

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Wahrheiten in der Form aufnehmen, wie sie ihm im Bilde der verschiedenen Religionen gegeben werden. Diese Form ist charakterisiert in der Person eines «Mannes mit der Lampe». Diese Lampe hat die Eigenschaft, nur da zu leuch­ten, wo schon ein anderes Licht vorhanden ist. Das heißt, die religiösen Wahrheiten setzen das empfängliche, gläu­bige Gemüt voraus. Ihr Licht leuchtet, wo das Licht des Glaubens vorhanden ist. Diese Lampe hat aber auch noch die andere Eigenschaft, «alle Steine in Gold, alles Holz in Silber, tote Tiere in Edelsteine zu verwandeln und alle Metalle zu vernichten». Die Kraft des Glaubens, der die innere Natur der Wesen wandelt, ist damit angedeutet. So sind etwa zwanzig Figuren in dem Märchen enthalten, alle Repräsentanten für gewisse Kräfte in der Menschen­natur; und mit dem Gang der Handlung ist die Hinauf­läuterung des Menschen geschildert zu der Höhe, wo er in der Vereinigung mit seinem höheren Selbst die Einweihung in die Geheimnisse des Daseins erlangen kann. Dieser Zu­stand wird dadurch angedeutet, daß der «Tempel», der vorher verborgen in den Klüften war, zuletzt an die Ober­fläche geführt wird und sich erhebt über dem Flusse, dem astralischen Reich. Jeder Zug, jeder Satz in dem Märchen ist bedeutsam. Je mehr man sich in die Dichtung vertieft, desto verständlicher und durchsichtiger wird das Ganze. Und wer den esoterischen Kern dieses Märchens darstellt, hat zugleich den Inhalt der theosophischen Weltanschauung gegeben.

Goethe hat nicht im unklaren darüber gelassen, aus wel­chen Tiefen er geschöpft hat. In einem andern Märchen «Der neue Paris» stellt er verhüllt die Geschichte seiner eigenen Erleuchtung dar. Viele werden ungläubig bleiben,

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wenn hier gesagt wird, daß Goethe in diesem Traum sich selbst an die Grenzscheide stellt zwischen die dritte und vierte Unterrasse unserer fünften Wurzelrasse. Für ihn ist der Mythus von Paris und Helena die symbolische Darstellung dieser Grenzscheide. Und indem er sich - im Traume - in einer neuen Form das Märchen von Paris vor Augen stellt, glaubt er, einen tiefen Blick zu tun in die Entwickelung der Menschheit. - Was dem «innern Auge» ein solcher Blick in die Vergangenheit ist, darüber spricht Goethe in den «Weissagungen des Bakis», die ebenfalls ganz erfüllt von okkulten Andeutungen sind:

Auch Vergangenes zeigt euch Bakis; denn selbst das Vergangne Ruht, verblendete Welt, oft als ein Rätsel vor dir.

Wer das Vergangene kennte, der wüßte das Künftige: beides Schließt an Heute sich rein als ein Vollendetes an.

Noch vieles wäre anzuführen über die okkulten Grund­lagen in dem Märchen «Die neue Melusine», in dem «Pan­dora»-Fragment und vielen anderen Schriften. Geradezu meisterhaft hat Goethe das Bild einer Hellseherin in Ma­karie im Roman «Wilhelm Meisters Wanderjahre» gegeben. Makariens Anschauungsvermögen erhebt sich bis zu einer völligen inneren Durchdringung der Geheimnisse des Plane­tensystems. Sie «befindet sich zu unserm Sonnensystem in einem Verhältnis, welches man auszusprechen kaum wagen darf. Im Geiste, der Seele, der Einbildungskraft hegt sie, schaut sie es nicht nur, sondern sie macht gleichsam einen Teil desselben; sie sieht sich in jenen himmlischen Kreisen mit fortgezogen, aber auf eine ganz eigene Art. Sie wan­delt seit ihrer Kindheit um die Sonne, und zwar, wie nun entdeckt ist, in einer Spirale, sich immer mehr vom Mittelpunkt

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entfernend und nach den äußeren Regionen hinkrei-send. Wenn man annehmen darf, daß die Wesen, insofern sie körperlich sind, nach dem Zentrum, insofern sie geistig sind, nach der Peripherie streben, so gehört unsere Freundin zu den geistigen; sie scheint nur geboren, um sich von dem Irdischen zu entbinden, um die nächsten und fernsten Räume des Daseins zu durchdringen. Diese Eigenschaft, so herrlich sie ist, ward ihr doch seit den frühsten Jahren als eine schwere Aufgabe verliehen. Sie erinnert sich von klein auf ihr inneres Selbst als von leuchtenden Wesen durch­drungen, von einem Licht erhellt, welchem sogar das hellste Sonnenlicht nichts anhaben konnte. Oft sah sie zwei Sonnen, eine innere nämlich und eine außen am Himmel, zwei Monde, wovon der äußere in seiner Größe bei allen Phasen sich gleich blieb, der innere sich immer mehr und mehr ver­minderte.» - Schon diese Worte Goethes deuten in einer klaren Weise an, wie bewandert er in diesen Dingen ist; und wer den ganzen Abschnitt liest, wird erkennen, daß Goethe sich zwar zurückhaltend, doch aber so ausspricht, daß der Tieferblickende über die okkulte Grundlage in seinem Wesen sich aufklären kann.

Goethe betrachtete seine Mission als Dichter stets im Zusammenhange mit seinem Streben nach den verborgenen Gesetzen des Daseins. Er mußte oft vernehmen, wie Freunde diesen Zug seines Wesens nicht verstehen konnten. So schil­derte er, wie er unverstanden blieb in bezug auf seine Na­turbetrachtungen in der «Kampagne in Frankreich»: «Die ernstliche Leidenschaft, womit ich diesem Geschäft nachhing, konnte niemand begreifen, niemand sah, wie sie aus mei­nem Innersten entsprang; sie hielten dieses löbliche Bestre­ben für einen grillenhaften Irrtum; ihrer Meinung nach

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konnt' ich was Besseres tun . . . Sie glaubten sich hiezu um so mehr berechtigt, als meine Denkweise sich an die ihrige nicht anschloß, vielmehr in den meisten Punkten gerade das Gegenteil aussprach. Man kann sich keinen isoliertern Menschen denken, als ich damals war und lange Zeit blieb. Der Hylozoismus, oder wie man es nennen will, dem ich anhing, und dessen tiefen Grund ich in seiner Würde und Heiligkeit unberührt ließ, machte mich unempfänglich, ja unleidsam gegen jene Denkweise, die eine tote, auf welche Art es auch sei, auf- und angeregte Materie als Glaubens­bekenntnis aufstellte. »

Nur auf dem Untergrunde der tiefsten Wahrheitsdurch­dringung konnte sich Goethe das künstlerische Wirken den­ken. Als Künstler wollte er aussprechen, was in der Natur veranlagt, aber nicht voll ausgesprochen ist. Die Natur er­schien ihm als ein Schaffen derselben Wesenheit, die auch in der künstlerischen Menschenkraft wirkt; nur ist dort diese Kraft auf einer niedrigeren Stufe stehen geblieben. Für Goethe ist Kunst Fortsetzung der Natur, Offenbarerin dessen, was in der bloßen Natur okkult ist. «Denn indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft und sich endlich bis zur Produktion des Kunstwer­kes erhebt» (Buch über Winckelmann). - Erkennen der Welt ist für Goethe Leben in dem Geiste der Welttatsachen. Des­halb spricht er von einer «anschauenden Urteilskraft» (in­tellectus archetypus), durch welche sich der Mensch den Geheimnissen des Daseins immer mehr nähert: «Wenn wir

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ja im Sittlichen, durch den Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und an das erste Wesen annähern sollen, so dürft' es wohl im In­tellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns durch das An­schauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teil­nahme an ihren Produktionen würdig machten.» - So stellte sich für Goethe der Mensch hin als das Organ der Welt, durch das deren okkulte Kräfte offenbar werden sollen. Einer seiner Kernsprüche war dieser: «Dafür steht ja aber der Mensch so hoch, daß sich das sonst Undarstellbare in ihm darstellt . . . Ja, man kann sagen, was sind die elementaren Erscheinungen der Natur selbst gegen den Menschen, der sie alle erst bändigen und modifizieren muß, um sie sich einigermaßen assimilieren zu können?»

THEOSOPHIE IN DEUTSCHLAND VOR HUNDERT JAHREN

#G035-1965-SE043 - Philosophie und Anthroposophie (1904 - 1918)

#TI

THEOSOPHIE IN DEUTSCHLAND VOR HUNDERT JAHREN

#TX

Diejenigen, welche das geistige Leben Deutschlands vom Ende des achtzehnten und dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts darstellen, sehen gewöhnlich neben dem Höhepunkte der Kunst in Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Mozart, Beethoven und anderen nur noch eine Epoche des rein spekulativen Denkens in Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer und einigen weniger bedeutenden Philosophen. Es herrscht vielfach die Meinung, daß man in den letzteren Persönlichkeiten bloße Arbeiter auf dem Felde des Gedankens zu erkennen habe. Man gibt zu, daß sie auf spekulativem Gebiete Außerordentliches geleistet haben; aber man wird nur zu leicht geneigt sein, zu sagen: Der eigentlich okkulten Forschung, der wirklichen spiri­tuellen Erfahrung standen diese Denker ganz ferne. Und so kommt es, daß der theosophisch Strebende sich wenig Gewinn von einer Vertiefung in ihre Arbeiten ver­spricht.

Viele, welche den Versuch machen, in das Gedanken-gewebe dieser Philosophen einzudringen, lassen die Arbeit nach einiger Zeit wieder liegen, weil sie dieselbe unfrucht­bar finden. Der wissenschaftliche Forscher sagt sich: Diese Denker haben den strengen Boden der Erfahrung unter den Füßen verloren; sie haben in nebulosen Höhen Hirngespinste von Systemen ausgebaut, ohne alle Rüchsicht auf die positive Wirklichkeit. - Und wer sich für den Okkultis­mus interessiert, dem fehlen bei ihnen die wahrhaft spiri­tuellen Fundamente. Er kommt zu dem Urteil: Sie haben

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nichts gewußt von geistigen Erlebnissen, von übersinnlichen Tatsachen, und lediglich Gedankengebäude ersonnen.

Solange man dabei stehenbleibt, die bloße Außenseite der geistigen Entwickelung zu betrachten, wird man nicht leicht zu einer andern Meinung kommen. Dringt man aber bis zu den Unterströmun gen, dann stellt sich die ganze Epoche in einem andern Lichte dar. Die scheinbaren Luft-gebilde des bloßen Gedankens können erkannt werden als der Ausdruck eines tieferen okkulten Lebens. Und die Theosophie kann dann den Schlüssel liefern zum Verständ­nis dessen, was diese sechzig bis siebenzig Jahre geistigen Lebens im Enwickelungsgange der Menschheit bedeuten.

Es gibt in dieser Zeit in Deutschland zwei Reihen von Tatsachen, von denen die eine die Oberfläche darstellt, die andere aber als eine tiefere Grundlage betrachtet werden muß. Das Ganze macht den Eindruck eines dahingehenden Stromes, auf dessen Oberfläche sich in der mannigfaltigsten Weise die Wellen kräuseln. Und das, was man in den ge­wöhnlichen Literaturgeschichten darstellt, sind nur diese sich erhebenden und senkenden Wellen. Man läßt aber un­berücksichtigt, was in der Tiefe lebt und wovon die Wellen eigentlich ihre Nahrung ziehen.

Diese Tiefe enthält ein reiches, fruchtbares okkultes Le­ben. Und es ist dies kein anderes als dasjenige, welches einstmals in den Werken der großen deutschen Mystiker, Paracelsus, Jakob Böhme und Angelus Silesius, pulsierte. Wie eine verborgene Kraft war dieses Leben enthalten in den Gedankenwelten, welche Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Fichte, Schelling, Hegel vorfanden. Die Art und Weise, wie zum Beispiel Jakob Böhme seine großen Geistes-erlebnisse zum Ausdruck gebracht hatte, stand nicht mehr

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im Vordergrunde der tonangebenden literarischen Diskus­sion, aber der Geist dieser Erlebnisse wirkte lebendig fort. Man kann bemerken, wie zum Beispiel in Herder dieser Geist fortlebte. Die öffentliche Diskussion brachte Herder ebenso wie Goethe auf das Studium Spinozas. In dem Werk, das er «Gott» nannte, suchte der erstere die Gottes-auffassung des Spinozismus zu vertiefen. Was er zum Spinozismus hinzubrachte, war nun nichts anderes als der Geist der deutschen Mystik. Man könnte sagen, daß, ihm selbst unbewußt, die Jakob Böhme und Angelus Silesius die Feder führten. Aus solchen verborgenen Quellen ist es auch zu erklären, daß bei einem solch rationalistisch ver­anlagten Geist, wie es Lessing war, in seiner «Erziehung des Menschengeschlechtes» die Ideen über die Reinkarna­tion auftauchten. Der Ausdruck «unbewußt» ist allerdings nur halb zutreffend, weil solche Ideen und Intuitionen innerhalb Deutschlands zwar nicht an der Oberfläche der literarischen Diskussion, wohl aber in den mannigfaltigsten Ein interessantes Phänomen der geistigen Entwickelung stellt nach dieser Richtung Schiller dar. Man versteht den eigentlichen geistigen Nerv seines Lebens nicht, wenn man sich nicht in dasjenige seiner Jugendwerke vertieft, das in seinen Schriften sich findet als «Briefwechsel zwischen Julius

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und Raphael». Manches von dem, was darin enthalten ist, schrieb Schiller schon, als er noch auf der Karls-Schule in Stuttgart war, manches ist erst in den Jahren 1785 und 1786 entstanden. Es findet sich darin das, was Schiller die « ,Theosophie des Julius» nennt und womit er die Summe von Ideen bezeichnet, zu denen er sich damals erhoben hatte. Es ist nur nötig, die wichtigsten Gedanken aus dieser «Theosophie» anzuführen, um die Art zu charakterisieren, in der sich dieser Genius aus den ihm zugänglichen Rudi­menten deutscher Mystik ein eigenes Ideengebäude zusam­menfügte. Solch wesentliche Gedanken sind etwa die fol­genden: «Das Universum ist ein Gedanke Gottes. Nach-dem dieses idealische Geistesbild in die Wirklichkeit hin-übertrat und die geborene Welt den Riß ihres Schöpfers erfüllte - erlaube mir diese menschliche Vorstellung - so ist der Beruf aller denkenden Wesen, in diesem vorhan­denen Ganzen die erste Zeichnung wiederzufinden, die Regel in der Maschine, die Einheit in der Zusammenset­zung, das Gesetz in dem Phänomen aufzusuchen und das Gebäude rückwärts auf seinen Grundriß zu übertragen... Die große Zusammensetzung, die wir Welt nennen, bleibt mir jetzo nur merkwürdig, weil sie vorhanden ist, mir die mannigfaltigsten Äußerungen jenes Wesens symbolisch zu bezeichnen. Alles in mir und außer mir ist nur Hieroglyphe einer Kraft, die mir ähnlich ist. Die Gesetze der Natur sind die Chiffren, welche das denkende Wesen zusammenfügt, sich dem denkenden Wesen verständlich zu machen - das Alphabet, vermittelst dessen alle Geister mit dem vollkom­mensten Geist und mit sich selbst unterhandeln... Eine neue Erfahrung in diesem Reiche der Wahrheit, die Gravi­tation, der entdeckte Umlauf des Blutes, das Natursystem

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des Linnäus, heißen mir ursprünglich eben das, was eine Antike, im Herkulanum hervorgegraben - beides nur Wi­derschein eines Geistes, neue Bekannschaft mit einem mir ähnlichen Wesen... Es gibt für mich keine Einöde in der ganzen Natur mehr. Wo ich einen Körper entdecke, da ahnde ich einen Geist. - Wo ich Bewegung merke, da rate ich auf einen Gedanken... Wir haben Begriffe von der Weisheit des höchsten Wesens, von seiner Güte, von seiner Gerechtigkeit - aber keinen von seiner Allmacht. Seine All­macht zu bezeichnen, helfen wir uns mit der stückweisen Vorstellung dreier Sukzessionen: Nichts, sein Wille, und Etwas. Es ist wüste und finster - Gott ruft: Licht - und es wird Licht. Hätten wir eine Real-Idee seiner wirkenden Allmacht, so wären wir Schöpfer, wie Er...»

Solcher Art sind die Ideen von Schillers ,Theosophie, als er im Beginne seiner zwanziger Jahre stand. Und von dieser Grundlage aus erhebt er sich zur Erfassung des menschlich-geistigen Lebens selbst, das er in den Zusammenhang der kosmischen Kräfte hineinstellt: die er in den

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folgenden Sätzen darstellt: «Alle Vollkommenheiten im Universum sind vereinigt in Gott. Gott und Natur sind zwo Größen, die sich vollkommen gleich sind . . . Eine Wahrheit ist es, die, gleich einer festen Achse, gemeinschaft­lich durch alle Religionen und Systeme geht - .»

Vergleicht man diese Ausführungen des jungen Schiller mit den Lehren der deutschen Mystiker, so wird man fin­den, daß bei diesen in scharf gezeichneten Gedankenkon­turen vorhanden ist, was bei ihm wie der überschwängliche Ausfluß einer allgemeineren Gefühlswelt erscheint. Para­celsus, Jakob Böhme, Angelus Silesius haben als bestimmte Anschauung ihres intuitiven Geistes vor sich, was Schiller in unbestimmter Ahnung der Empfindung vorschwebt.

Was bei Schiller in so charakteristischer Weise ans Licht tritt, ist auch bei anderen seiner Zeitgenossen vorhanden. Die Geistesgeschichte muß es nur bei ihm darstellen, weil es in seinen epochemachenden Werken zu einer treibenden Kraft der Nation geworden ist. Man kann sagen, in Schil­lers Zeitalter ist die spirituelle Tatsachenwelt der deutschen Mystik als Anschauung, als unmittelbare Erfahrung des Geisteslebens wie unter einem Schleier verborgen; aber in der Gefühlswelt, in den Empfindungen lebte sie fort. Man hatte sich die Devotion, den Enthusiasmus erhalten für dasjenige, was man nicht mehr mit den «Sinnesorganen des Geistes» unmittelbar sah. Man hat es mit einer Epoche der Verschleierung der spirituellen Anschauung, aber mit einer solchen des Empfindens, des gefühlsmäßigen Ahnens dieser Welt zu tun.

Diesem ganzen Vorgange liegt nun eine gewisse gesetz-mäßige Notwendigkeit zugrunde. Was nämlich als spirituelle

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Anschauung in die Verborgenheit eingetreten ist, das kam als künstlerisches Leben in dieser Periode deutschen Geisteslebens zum Vorschein. - Man spricht im Okkultis­mus von aufeinanderfolgenden Zyklen von Involution und Evolution. Hier hat man es mit einem solchen Zyklus im Kleinen zu tun. Die Kunst Deutschlands in der Epoche Schillers und Goethes ist nichts weiter als die Evolution der deutschen Mystik auf dem Gebiete der äußeren sinnlichen Form. Aber in den Schöpfungen der deutschen Dichter er­kennt der tiefer Blickende die involvierten Intuitionen des großen mystischen Zeitalters Deutschlands. - Das mystische Leben von ehemals nimmt nun völlig einen ästhetischen, einen künstlerischen Charakter an.

Klar kommt das zum Ausdrucke in derjenigen Schrift, in welcher Schiller die volle Höhe seiner Weltbetrachtung erreichte, in seinen «Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen». Der Dogmatiker des Okkultismus wird vielleicht auch in diesen «Briefen» nichts finden als die geistvollen Spekulationen eines feinen künstlerischen Kop­fes. In Wirklichkeit herrscht aber in ihnen das Bestreben, die Anleitung zu einem andern Bewußtseinszustande zu geben, als es der gewöhnliche ist. Eine Etappe auf dem Wege zu dem «höheren Selbst» soll geschildert werden. Zwar ist der Bewußtseinszustand, welchen Schiller darstellt, weit entfernt von dem astralischen oder devachanischen Erfahrungsleben; er stellt aber doch etwas Höheres dar gegenüber dem Alltagsleben. Und man wird bei unbefan­gener Auffassung in dem, was nach Schiller der «ästhetische Zustand» genannt werden kann, sehr wohl eine Vorstufe zu jenen höheren Anschauungsarten erkennen können. Schiller will den Menschen hinausführen über den Standpunkt

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des «niederen Selbst». Durch zwei Eigenschaften ist ihm dieses niedere Selbst gekennzeichnet. Erstens steht es in einer notwendigen Abhängigkeit gegenüber den Einflüs­sen der Sinnenwelt. Zweitens unterliegt es den Forderungen der logischen und moralischen Notwendigkeit. Es ist somit unfrei nach zwei Richtungen hin. In seinen Trieben, In­stinkten, Empfindungen, Leidenschaften und so weiter herrscht die Sinnenwelt. In seinem Denken und in seiner Moral herrscht die Vernunftnotwendigkeit. Frei ist aber allein derjenige Mensch im Sinne Schillers, welcher seine Empfindungen, Triebe, Begierden, Wünsche und so weiter so veredelt hat, daß sich in ihnen nur das Geistige zum Ausdrucke bringt, und welcher andrerseits die Vernunft-notwendigkeit so vollkommen in sich aufgenommen hat, daß sie der Ausfluß seines eigenen Wesens ist. Man kann ein Leben, das in solcher Art geführt wird, auch als ein solches bezeichnen, in dem ein harmonisches Gleichgewicht zwischen «niederem und höherem Selbst» hergestellt ist. Der Mensch hat seine Wunsehnatur so veredelt, daß sie die Verkörperung seines «höheren Selbst» ist. Dieses hohe Ideal stellt Schiller in diesen «Briefen» auf, und er findet, daß in dem künstlerischen Schaffen und in der reinen ästheti­schen Hingabe an ein Kunstwerk eine Annäherung an dieses Ideal stattfindet. So wird für ihn das Leben in der Kunst zu einem echten Erziehungsmittel des Menschen in der Ent­wickelung seines «höheren Selbstes». - Das wahre Kunst­werk ist für ihn ein vollkommener Einklang von Geist und Sinnlichkeit, von höherem Leben und äußerer Form. Das Sinnliche ist nur ein Ausdrucksmittel; aber das Geistige wird erst zum Kunstwerk, wenn es ganz und gar seinen Ausdruck in der Sinnlichkeit gefunden hat. So lebt der

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schaffende Künstler im Geiste, aber er lebt darin auf eine ganz und gar sinnliche Art; alles Geistige wird durch ihn sinnlich wahrnehmbar. Und derjenige, welcher sich ästhe­tisch vertieft, nimmt durch seine äußeren Sinne wahr; doch was er wahrnimmt, ist völlig durchgeistigte Sinnlichkeit. Man hat es also mit einer Harmonie zwischen Geist und Sinnlichkeit zu tun; das Sinnliche erscheint zum Geist hin­aufgeadelt, das Geistige bis zur sinnlichen Anschaulichkeit zur Offenbarung gekommen. Diesen «ästhetischen Zustand» möchte Schiller auch zum Vorbild des gesellschaftlichen Zu­sammenlebens machen. Ihm erscheint ein Gesellschaftsver­hältnis unfrei, in welchem die Menschen ihre gegenseitigen Beziehungen nur auf die Begierden des niederen Selbstes, des Egoismus stützen. Nicht minder unfrei erscheint ihm aber auch ein Zustand, bei welchem eine bloße Vernunft-gesetzgebung berufen ist, die niederen Instinkte und Lei­denschaften zu zügeln. Als Ideal stellt er eine Gesellschafts­verfassung hin, innerhalb welcher der Einzelne das «höhere Selbst» der Gesamtheit so stark als sein eigenes Wesen fühlt, daß er aus innerstem Trieb «selbstlos» wirkt. Das «Einzel-Ich» soll so weit kommen, daß es ganz der Ausdruck des «Gesamt-Ich» werde. Ein gesellschaftliches Handeln, das unter solchen Antrieben steht, empfindet Schiller als ein Handeln «schöner Seelen»; und solche «schöne Seelen», welche den Geist des «höheren Selbst» in ihrer alltäglichen Natur zur Offenbarung bringen, sie sind für Schiller auch die wahrhaft «freien Seelen» . Er möchte die Menschheit durch die Schönheit und die Kunst zur «Wahrheit» führen. Einer seiner Kernsprüche ist: Nur durch das Morgenrot des Schönen dringt der Mensch in der Erkenntnis Land.

So wird aus Schillers Weltbetrachtung heraus der Kunst

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eine hohe erzieherische Mission im Evolutionsgange der Menschheit zugeteilt. Man kann sagen: Was Schiller hier darstellt, ist die ästhetisch-künstlerisch gewordene Mystik der älteren Zeit des deutschen Geisteslebens.

Es könnte nun scheinen, als ob nicht leicht eine Brücke zu schlagen sei von Schillers Ästhetizismus zu einer anderen Persönlichkeit derselben Zeit, die aber nicht minder aus einer okkulten Unterströmung heraus zu verstehen ist, zu Johann Gottlieb Fichte. Diesen wird man bei oberfläch­licher Betrachtung ganz und gar als einen bloßen spekula­tiven Kopf ansehen, als intellektuellen Gedankenmenschen. Nun ist es richtig, daß seine Domäne diejenige des Gedan­kens ist, und daß derjenige, welcher solche spirituelle Höhen aufsuchen will, die über der Gedankenwelt liegen, sie bei Fichte nicht finden kann. Wer eine Beschreibung «höherer Welten» haben will, wird sie bei ihm vergeblich suchen. Von einer astralischen oder mentalen Welt hat Fichte keine Erfahrung. Dem Inhalte seiner Philosophie nach, hat er es nur mit solchen Ideen zu tun, welche zu der phyischen Welt gehören. - Ganz anders aber stellt sich die Sache dar, wenn man auf seine Behandlungsweise der Gedankenwelt sieht. Diese Behandlungsweise ist keineswegs eine bloß spekula­tive. Sie ist vielmehr eine solche, die vollständig der okkul­ten Erfahrung entspricht. Fichte betrachtet nur die auf die physische Welt bezüglichen Gedanken; aber er betrachtet diese so, wie sie ein Okkultist betrachtet. Daher kommt es, daß er selbst durchaus das Bewußtsein hat, ein Leben in höheren Welten zu führen. Man sehe nur, wie er sich in den Vorlesungen, die er 1813 in Berlin gehalten hat, selbst darüber ausspricht: «Denke man eine Welt von Blindgebore­nen, denen darum allein die Dinge und ihre Verhältnisse

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bekannt sind, die durch den Sinn der Betastung existieren. Tretet unter diese und redet ihnen von Farben und den an­dern Verhältnissen, die nur durch das Licht für das Sehen vorhanden sind. Entweder ihr redet ihnen von nichts, und das ist das Glücklichere, wenn sie es sagen; denn auf diese Weise werdet ihr bald den Fehler bemerken und, falls ihr ihnen nicht die Augen zu öffnen vermögt, das vergebliche Reden einstellen. Oder sie wollen aus irgendeinem Grunde eurer Lehre doch einen Verstand geben: so können sie die­selbe nur verstehen von dem, was ihnen durch die Betastung bekannt ist: sie werden das Licht und die Farben und die andern Verhältnisse der Sichtbarkeit fühlen wollen, zu füh­len vermeinen, innerhalb des Gefühles irgend etwas sich erkünsteln und anlügen, was sie Farbe nennen. Dann miß­verstehen, verdrehen, mißdeuten sie.» Ein anderes Mal spricht Fichte es unmittelbar aus, daß für ihn seine Welt­betrachtung nicht bloß eine Spekulation über dasjenige ist, was die gewöhnlichen Sinne geben, sondern daß ein höhe­rer, über diese hinausreichender Sinn dazu notwendig ist:

«Der neue Sinn ist demnach der Sinn für den Geist; der, für den nur Geist ist und durchaus nichts anderes, und dem auch das Andere, das gegebene Sein, annimmt die Form des Geistes und sich darein verwandelt, dem darum das Sein in seiner eigenen Form in der Tat verschwunden ist . . . Es ist mit diesem Sinne gesehen worden, seitdem Menschen da sind, und alles Große und Treffliche, was in der Welt ist und welches allein die Menschheit bestehen macht, stammt aus den Gesichten dieses Sinnes. Daß aber dieser Sinn sich selbst gesehen haben sollte und in seinem Unterschiede und Gegensatze mit dem andern gewöhnlichen Sinne, war nicht der Fall. Die Eindrücke der beiden Sinne verschmolzen, das

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Leben zerfiel ohne Einigungsband in diese zwei Hälften.» Diese letzten Worte sind überaus charakteristisch für die Weltstellung Fichtes in dem Geistesleben. Für das bloß äußerliche (exoterische) philosophische Streben des Abend­landes ist es tatsächlich richtig, daß der Sinn, von dem Fichte spricht, sich «nicht selbst gesehen hat». In allen mystischen Strömungen des Geisteslebens, die auf okkulter Erfahrung und esoterischer Betrachtung beruhen, kommt er zwar deutlich zur Sprache; allein deren tiefere Grundlage war ja, wie oben bereits ausgeführt worden ist, zu Fichtes Zeit für die tonangebende literarische und gelehrte Diskus­sion unbekannt. Für die Ausdrucksmittel der damaligen deutschen Philosophie war in der Tat Fichte der Pfadfindei und Entdecker dieses höheren Sinnes. Davon kam es, daß ei etwas ganz anderes an den Ausgangspunkt seines Nach­denkens stellte als andere Philosophen. Er verlangte als Lehrer von seinen Zuhörern und als Schriftsteller von sei­nen Lesern, daß sie vor allem eine innere Tat der Seele voll­ziehen sollten. Nicht eine Erkenntnis von irgend etwas außer ihnen Bestehendem wollte er ihnen vermitteln, son­dern die Forderung stellte er an sie, eine innere Handlung auszuführen. Und durch diese innere Handlung sollten sie das wahre Licht des Selbstbewußtseins in sich entzünden. Er ging wie die meisten Philosophen seiner Zeit von der Kantschen Philosophie aus. Daher drückte er sich in der Form der Kantschen Terminologie, ebenso wie auch Schiller in seinen reifen Jahren, aus. Doch überflügelte er in bezug auf die Höhe des inneren, geistigen Lebens gleich Schiller die Kantsche Philosophie sehr weit. Wenn man den Ver­such macht, aus der schwierigen philosophischen Ausdrucks-weise in eine populärere Form das zu übersetzen, was Fichte

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von seinen Zuhörern und Lesern forderte, so mag sich die­ses etwa folgendermaßen gestalten. Ein jedes Ding und eine jede Tatsache, die von dem Menschen wahrgenommen wird, drängt diesem das Sein auf. Es ist ohne das Zutun des Men­schen, soweit dessen tiefstes Innere in Betracht kommt, da. Der Tisch, die Blume, der Hund, eine Lichterscheinung und so weiter sind durch etwas dem Menschen Fremdes da; und diesem kommt nur zu, die Existenz festzustellen, welche ohne ihn zustande gekommen ist. Anders ist das für Fichte bei dem «Ich» des Menschen. Dasselbe ist nur da, insofern es sich durch seine eigene Tätigkeit das Sein selbst beilegt. Daher bedeutet der Satz «Ich bin» etwas ganz anderes als jeder andere Satz. Daß man sich dieses Selbstschöpferische zum Bewußtsein bringe, forderte Fichte für den Ausgangs­punkt einer jeglichen geistigen Weltbetrachtung. Bei jeder andern Erkenntnis kann der Mensch bloß empfangend sein, beim «Ich» muß er Schöpfer sein. Und er kann sein «Ich» nur wahrnehmen, indem er sich als den Schöpfer dieses Ich anschaut. So verlangt Fichte eine ganz andere Betrachtungs­art für das «Ich» als für alle andern Dinge. Und er ist in dieser Forderung so streng wie möglich. Sagt er doch ein­mal: «Die meisten Menschen würden leichter dahin zu brin­gen sein, sich für ein Stück Lava im Monde als für ein Ich zu halten. Wer hierüber noch nicht einig mit sich selbst ist, der versteht keine gründliche Philosophie, und er bedarf keine. Die Natur, deren Maschine er ist, wird ihn schon ohne all sein Zutun in allen Geschäften leiten, die er aus­zuführen hat. Zum Philosophieren gehört Selbständigkeit, und diese kann man sich nur selbst geben. Wir sollen nicht ohne Auge sehen wollen; aber wir sollen auch nicht behaup­ten, daß das Auge sehe.»

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Es ist damit ganz scharf die Grenze bezeichnet, wo das gewöhnliche Erleben aufhört und das okkulte beginnt. Das gewöhnliche Wahrnehmen und Erleben reicht genau so weit, als objektiv dem Menschen die Wahrnehmungsorgane eingebaut sind. Das okkulte beginnt da, wo der Mensch an­fängt, sich selbst durch die in ihm liegenden schlummern-den Kräfte höhere Wahrnehmungsorgane aufzubauen. Innerhalb des gewöhnlichen Erlebens vermag sich der Mensch nur als Geschöpf zu fühlen. Beginnt er, sich als Schöpfer seiner Wesenheit zu fühlen, so betritt er das Ge­biet des sogenannten okkulten Lebens. Die Art, wie Fichte das «Ich bin» charakterisiert, ist durchaus im Sinne des Okkultismus. Wenn er auch im Felde des reinen Gedankens verbleibt, so ist doch seine Betrachtung keine bloße Speku­lation, sondern wahres inneres Erlebnis. Aber gerade aus diesem Grunde ist auch die Verwechselung seiner Weltbe­trachtung mit bloßer Spekulation so leicht. Wen die Neu­gierde in die höheren Welten hinauftreibt, der wird durch die Vertiefung in Fichtes Philosophie eben nicht auf seine Rechnung kommen. Wer aber an sich arbeiten will, um die in der Seele schlummernden Fähigkeiten zu entdecken, dem kann gerade Fichte ein guter Führer sein. Er wird gewahr werden, daß es bei ihm nicht auf den Inhalt seiner Lehre oder seiner Dogmen, sondern auf die Kraft ankommt, die in der Seele wächst, wenn man die Gedankenwege Fichtes hingebungsvoll nachwandelt. Man möchte diesen Denker mit dem Propheten vergleichen, der nicht selbst das gelobte Land betreten hat, aber die Seinigen bis zu einem Gipfel führt, von dem aus sie die Herrlichkeiten desselben schauen konnten. Fichte führt das Denken bis zu dem Gipfel, von dem aus der Eintritt in das Land des Okkultismus vollzogen

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werden kann. Und die Vorbereitung, welche man durch ihn erlangt, ist die denkbar reinste. Denn sie hebt völlig über das Gebiet der Sinnesempfindung und über den Be­reich dessen hinweg, was aus der Wunsch- und Begierden-natur des Menschen (aus seinem Astralleib) stammt. Man lernt durch Fichte leben und sich bewegen in dem ganz reinen Elemente des Denkens. Man behält nichts von der physischen Welt in der Seele, als was dieser physischen Welt aus höheren Regionen eingepflanzt ist, nämlich die Gedanken. Und diese bilden eine bessere Brücke zu den spirituellen Erlebnissen, als die Ausbildung anderer psychi­scher Fähigkeiten. Denn der Gedanke ist überall derselbe, ob er nun in der physischen, astralischen oder mentalen Welt auftritt. Nur sein Inhalt ist in jeder dieser Welten ein anderer. Und die übersinnlichen Welten bleiben dem Men­schen nur so lange verborgen, als er aus seinen Gedanken den sinnlichen Inhalt nicht ganz entfernen kann. Wird der Gedanke sinnlichkeitfrei, dann ist nur noch ein Schritt zu vollziehen, und die übersinnliche Welt kann beschritten werden.

Die Anschauung des eigenen Selbst im Sinne Fichtes ist deshalb so bedeutsam, weil in bezug auf dieses «Selbst» der Mensch überhaupt ohne allen Gedankeninhalt bleibt, wenn er sich einen solchen nicht von Innen heraus gibt. Für den ganzen übrigen Weltinhalt, für alles Wahrnehmen, Emp­finden, Wollen und so weiter, welche den Inhalt des ge­wöhnlichen Daseins ausmachen, erfüllt die Außenwelt den Menschen. Er braucht - nach Fichtes Worten - im Grunde nichts zu sein als die «Maschine der Natur», welche «ohne sein Zutun seine Geschäfte leitet». Das «Ich» aber bleibt leer, keine Außenwelt erfüllt es mit Inhalt, wenn dieser

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nicht aus dem Innern kommt. Die Erkenntnis «Ich bin» kann daher niemals etwas anderes sein, als des Menschen intimstes Innen-Erlebnis. Es spricht also in diesem Satze etwas innerhalb der Seele, das nur von innen sprechen kann. Aber so wie diese scheinbar ganz leere Bejahung des eigenen Selbst auftritt, so spielen sich alle höheren okkulten Erleb­nisse ab. Sie werden inhalt- und lebensvoller, aber sie haben dieselbe Form. Man kann durch das Ich-Erlebnis, wie es Fichte darstellt, den Typus aller okkulten Erlebnisse zu­nächst auf rein gedanklichem Gebiete kennenlernen. Es ist daher richtig gesprochen, wenn man sagt, daß mit dem «Ich bin» der Gott in dem Menschen zu sprechen beginnt. Und nur weil das in rein gedanklicher Form geschieht, wollen es so viele Menschen nicht anerkennen.

Nun mußte aber gerade bei den schärferen Geistern, die auf solchen Wegen wandelten wie Fichte, eine Grenze der Erkenntnis eintreten. Das reine Denken ist nämlich bloß eine Betätigung der Persönlichkeit, nicht der Individualität, welche in immer wiederkehrenden Reinkarnationen durch die verschiedenen Persönlichkeiten hindurchgeht. Die Ge­setze auch der höchsten Logik werden niemals anders, auch wenn in der Stufenfolge der Wiederverkörperungen die menschliche Individualität bis zur Etappe des höchsten Wei­sen hinaufsteigt. Die geistige Anschauung steigert sich, das Wahrnehmungsvermögen erweitert sich, wenn eine Indi­vidualität, die in einer Inkarnation hoch stand, wieder ver­körpert wird, die Logik des Denkens aber bleibt dieselbe auch für eine höhere Bewußtseinsstufe. Daher kann das­jenige, was über die einzelne Inkarnation hinausgeht, auch niemals durch ein noch so feines Gedanken-Erlebnis erfaßt werden, selbst wenn sich dieses zu den höchsten Stufen erhebt.

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Darin ist der Grund zu suchen, warum die Betrach­tungsart Fichtes und auch diejenige seiner Zeitgenossen, welche in seinen Bahnen wandelten, sich nicht zur Erkennt­nis der Gesetze von Reinkarnation und Karma durchringen konnten. Wenn auch verschiedene Hinweise bei den Den­kern dieser Epoche zu finden sind - sie gehen mehr aus einem allgemeinen Gefühle hervor und stehen nicht in einem notwendigen organischen Zusammenhang mit ihren Gedankengebäuden. Man darf vielmehr geradezu sagen, daß die geistesgeschichtliche Mission dieser Persönlichkeiten darin bestanden hat, die reinen Gedankenerlebnisse einmal darzustellen, insofern sich diese innerhalb einer Inkarna­tion abspielen können, mit Ausschaltung alles dessen, was vom Wesen des Menschen über diese eine Wiederverkör­perung hinausreicht.

Die Evolution des Menschengeistes geht ja in der Art vor sich, daß von der esoterischen Urweisheit in gewissen Epo­chen immer Teile in das Volksbewußtsein übergeführt wer­den. Und dem deutschen Volksbewußtsein fiel eben am Ende des achtzehnten und am Beginne des neunzehnten Jahrhunderts die Aufgabe zu, das spirituelle Leben des rei­nen Gedankens in seinem Verhältnis zu dem einzelnen per­sönlichen Dasein auszugestalten. Zieht man in Betracht, was schon im Zusammenhange mit Schillers Persönlichkeit hier ausgeführt worden ist, daß die Kunst zu dieser Zeit in den Mittelpunkt des geistigen Lebens gerückt werden sollte, so wird man die Betonung des persönlichen Gesichtspunktes um so begreiflicher finden. Die Kunst ist doch das Ausleben des Geistes in sinnlich-physischen Formen. Die Wahrneh­mung dieser Formen ist aber durch die Organisation der einzelnen Persönlichkeit bedingt, die innerhalb der einen

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Inkarnation lebt. Was über die Persönlichkeit in das Gebiet des Übersinnlichen hineinragt, wird nicht mehr unmittelbar in der Kunst zur Geltung kommen können. Zwar wirft die Kunst ihren Widerschein in das übersinnliche Gebiet; aber dieser Widerschein wird doch nur als die Frucht des künst­lerischen Schaffens und Erlebens hinübergeführt durch das bleibende Wesen der Seele von einer Reinkarnation zur andern. Das, was als Kunst und als ästhetisches Erleben unmittelbar ins Dasein tritt, ist an die Persönlichkeit ge­bunden. Deshalb trägt bei einer Persönlichkeit der gekenn­zeichneten Epoche eine im eminentesten Sinne theosophi­sche Weltbetrachtung auch einen durchaus persönlichen Cha­rakter. Es ist das der Fall bei Friedrich von Hardenberg, der als Dichter den Namen Novalis trägt. Er ist geboren 1772 und starb schon 1801. In einigen Dichtungen und in einer Reihe dichterisch-philosophischer Fragmente liegt vor, was in dieser ganz von theosophischer Gesinnung getrage­nen Seele gelebt hat. Aus einer jeden Seite seiner Schöp­fungen strömt dem Leser diese Gesinnung entgegen; dabei ist aber alles so, daß die höchste Geistigkeit mit einer un­mittelbaren sinnlichen Leidenschaft, mit ganz persönlichen Trieben und Instinkten gepaart ist. Eine wirklich pythago­reische Denkungsart lebt in dieser Jünglingsnatur, die noch dadurch eine besondere Nahrung erhielt, daß Novalis sich zum Berg-Ingenieur durch eine gründliche mathematische und naturwissenschaftliche Schulung hindurchgearbeitet hat. Die Art, wie der menschliche Geist die Gesetze der reinen Mathematik aus sich selbst heraus entwickelt, ohne Zuhilfenahme einer jeglichen sinnlichen Anschauung, wurde ihm zum Vorbild für alles übersinnliche Erkennen über­haupt. Wie das Weltgebäude harmonisch nach den mathe­matischen

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Gesetzen gebildet ist, welche die Seele in sich selbst findet, so dachte er sich dies für alle der Welt zu Grunde liegenden Ideen. Deshalb nahm für ihn des Men­schen Verhältnis zur Mathematik einen geradezu devotio­nellen, religiösen Charakter an. Aussprüche wie die fol­genden lassen die eigenartig pythagoreische Grundwesenheit seiner Anlagen erkennen: «Echte Mathematik ist das eigent­liche Element des Magiers... Das höchste Leben ist Mathe­matik . . . Der echte Mathematiker ist Enthusiast per se. Ohne Enthusiasmus keine Mathematik. Das Leben der Göt­ter ist Mathematik. Alle göttlichen Gesandten müssen Ma­thematiker sein. Reine Mathematik ist Religion. Zur Mathematik gelangt man nur durch eine Theophanie. Die Mathematiker sind die einzig Glücklichen. Der Mathemati­ker weiß alles. Er könnte es, wenn er es nicht wüßte . . . Im Morgenlande ist die echte Mathematik zu Hause. In Europa ist sie zur bloßen Technik ausgeartet. Wer ein mathemati­sches Buch nicht mit Andacht ergreift und es wie Gottes Wort liest, der versteht es nicht . . . Wunder als widernatür­liche Fakta sind amathematisch - aber es gibt kein Wunder in diesem Sinn, und was man so nennt, ist gerade durch die Mathematik begreiflich, denn der Mathematik ist nichts wunderbar.»

Bei solchen Aussprüchen schwebt Novalis nicht bloß eine Apotheose der Wissenschaft von den Zahlen und Raumgrößen vor, sondern die Anschauung, daß alle inneren See­lenerlebnisse zu dem Kosmos sich verhalten sollen, wie die reine sinnlichkeitfreie mathematische Geisteskonstruktion zu der äußeren zahlenmäßigen und räumlich geordneten Weltharmonie sich verhält. Schön kommt dies zum Aus­drucke, wenn er sagt: «Die Menschheit ist der höhere Sinn

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unseres Planeten, der Nerv, der dieses Glied mit der obern Welt verknüpft, das Auge, was er gegen Himmel hebt.» Die Identität des menschlichen Ich mit dem Grundwesen der objektiven Welt ist das Leitmotiv in allem Schaffen des Novalis. Unter seinen «Fragmenten» ist der Spruch auf­gezeichnet: «Unter Menschen muß man Gott suchen. In den menschlichen Begebenheiten, in menschlichen Gedanken und Empfindungen offenbart sich der Geist des Himmels am hellsten.» Und die Einheit des «höhern Selbst» in der Ge­samtmenschheit bringt er in der folgenden Art zum Aus­druck: «Im Ich, im Freiheitspunkte sind wir alle in der Tat völlig identisch - von da aus trennt sich erst jedes Indi­viduum. Ich ist der absolute Gesamtplatz, der Zentral-punkt.» - Bei Novalis tritt nun ganz besonders die Stellung zutage, welche das damalige Bewußtsein der Kunst und dem künstlerischen Empfinden anwies. Kunst ist ihm etwas, wodurch der Mensch über sein engumgrenztes «niederes Selbst» hinauswächst und wodurch er sich mit den schaffen­den Kräften der Welt in Beziehung setzt. In der schaffenden künstlerischen Phantasie sieht er einen Abglanz der magi­schen Wirkenskräfte. So kann er sagen: «Der Künstler steht auf dem Menschen, wie die Statue auf dem Piedestal...» -«Die Natur wird moralisch sein, wenn sie aus echter Liebe zur Kunst sich der Kunst hingibt, tut, was die Kunst will; die Kunst, wenn sie aus echter Liebe zur Natur für die Na­tur lebt und nach der Natur arbeitet. Beide müssen es zu­gleich, aus eigener Wahl, um ihrer selbst willen, und aus fremder Wahl, um des anderen willen, tun . . . Wenn un­sere Intelligenz und unsere Welt harmonisieren, so sind wir Gott gleich.» - Von solchen Gesinnungen getragen sind des Novalis lyrische Dichtungen, besonders seine «Hymnen

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an die Nacht», ferner sein unvollendet gebliebener Roman «Heinrich von Ofterdingen» und das ganz in mystischer Denk- und Empfindungsweise wurzelnde Werkchen «Die Lehrlinge zu Sais».

So zeigt sich an diesen wenigen angeführten Persönlich­keiten, wie im damaligen Zeitraum dem deutschen Dichten und Denken eine theosophisch-mystische Unterströmung zu Grunde liegt. Die Beispiele ließen sich durch zahlreiche andere vermehren. Deshalb kann hier nicht einmal versucht werden, etwas Vollständiges zu geben, sondern es sollte nur die Grundnote dieser geistigen Epoche mit ein paar Linien charakterisiert werden.

Nicht schwer einzusehen wird es nun aber auch sein, daß einzelne mystisch und theosophisch angelegte Naturen mit einem spirituell-intuitiven Geiste aus diesem ganzen Leben heraus auf ihre Art die theosophischen Grundideen selbst zum Teile fanden. So leuchtet uns Theosophie aus den Schöpfungen mancher Persönlichkeit dieser Epoche in schö­ner Weise entgegen. Viele könnten angeführt werden, bei denen dies der Fall ist. Da könnte von Lorenz Oken ge­sprochen werden, welcher eine Naturphilosophie begrün­dete, die auf der einen Seite durch ihren mystischen Geist zurück auf Paracelsus und Jakob Böhme weist, auf der andern Seite durch genialische Konzeptionen über die Evo­lution und den Zusammenhang der Lebewesen eine Vor-läuferin der berechtigten Teile des Darwinismus ist. Es könnte Steffens angeführt werden, der in den Vorgängen der Erdentwickelung Spiegelungen eines kosmischen Gei­steslebens suchte. Man könnte auf Eckartshausen (1752 bis 1803) verweisen, welcher die abnormen Erscheinungen des Natur- und Seelenlebens auf theosophisch-mystische Art zu

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erklären suchte. Auch Ennemoser (1787-1854) mit seiner «Geschichte der Magie», Gotthilf Heinrich Schubert mit seinen Arbeiten über die Traum-Erscheinungen und die verborgenen Tatsachen in der Natur und die geistvollen Ausführungen von Justinus Kerner, von Karl Gustav Carus wurzeln in derselben Geistesrichtung. Schelling ging vom reinen Fichteanismus immer mehr zur Theosophie über, um dann in seiner «Philosophie der Mythologie» und «Philosophie der Offenbarung», die erst nach seinem Tode erschienen sind, die Entwickelungsgeschichte des Menschen-geistes und den Zusammenhang der Religionen bis zu ihrem Ausgangspunkt in den Mysterien zu verfolgen. Auch Hegels Philosophie müßte einmal in das theosophische Licht ge­rückt werden, und man würde dann sehen, wie fehlerhaft es von der Geschichte der Philosphie ist, dieses tiefinnere spirituelle Seelenerlebnis für bloße Spekulation anzusehen. Das alles erforderte, wollte man es erschöpfend behandeln, ein ausführliches Werk. Hier aber soll nur noch auf eine wenig bekannte Persönlichkeit hingewiesen werden, welche in dem Brennpunkt ihres Geistes die Strahlen theosophi­scher Weltbetrachtung vereinigte und ein Ideengebäude schuf, das in vieler Beziehung völlig mit den heute wieder erneuerten Gedanken der Theosophie übereinstimmt. Es ist J.P. V. Troxler, der von 1780 bis 1866 lebte und von dessen Werken namentlich das 1812 erschienene «Blicke in das Wesen des Menschen» in Betracht kommt. Troxler wendet sich gegen die übliche Einteilung der menschlichen Natur in Seele und Leib, die er irreführend findet, weil sie die Natur nicht erschöpft. Er unterscheidet zunächst vier Glieder der menschlichen Wesenheit: Geist, höhere Seele, Leib (der ihm die niedere Seele ist) und Körper. Man braucht diese Einteilung

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nur im rechten Lichte zu sehen, um zu erkennen, wie nahe sie der heute in theosophischen Büchern üblichen ist. Der Körper in seinem Sinne fällt vollkommen zusam­men mit dem, was man jetzt physischen Leib nennt. Die niedere Seele, oder das, was er, im Gegensatze zum Körper, den Leib nennt, ist nichts anderes als der sogenannte Astral-leib. Das ist nicht etwa in seine Gedankenwelt hineingelegt, sondern er sagt selbst, daß dasjenige, was subjektiv die niedere Seele ist, man objektiv dadurch charakterisieren solle, daß man zurückgreife auf die von den alten For­schern gebrauchte Bezeichnung Astralleib. «Es gibt dem­nach» - so führt er aus - «notwendig etwas im Menschen, was die Weisen der Vorzeit als ein ~ ~~~~~~ (Soma astroeides) und ~~~~~ ~~~~ (Uranion soma), oder als ein ox~~~ ~~~~~~~~ (Schema pneumatikon) geahndet und ver­kündet, und was als Substrat der mittleren Lebenssphäre das Band des unsterblichen und des sterblichen Lebens ist.» Bei den Dichtern und Philosophen, welche Troxlers Zeitgenos­sen sind, lebt die Theosophie als Unterströmung; er selbst aber wird diese Theosophie bis zu einem hohen Grade in der ihn umgebenden geistigen Welt gewahr und gestaltet sie in origineller Art aus. So kommt er durch sich selbst auf Vieles, was sich in den uralten Weisheitslehren findet. Es ist um so reizvoller, sich in seine Gedankengänge zu ver­tiefen, da er nicht direkt auf alten Überlieferungen baut, sondern aus dem Denken und der Gesinnung seiner Zeit heraus etwas wie eine ursprüngliche Theosophie schafft.

PHILOSOPHIE UND ANTHROPOSOPHIE

#G035-1965-SE066 - Philosophie und Anthroposophie (1904 - 1918)

#TI

PHILOSOPHIE UND ANTHROPOSOPHIE

Vorbemerkung

#TX

Die folgenden Ausführungen über «Philosophie und An­throposophie» sind im Wesentlichen die Wiedergabe eines Vortrages, den ich 1908 in Stuttgart gehalten habe. Unter Anthroposophie verstehe ich eine wissenschaftliche Erfor­schung der geistigen Welt, welche die Einseitigkeiten einer bloßen Natur-Erkenntnis ebenso wie diejenigen der ge­wöhnlichen Mystik durchschaut, und die, bevor sie den Versuch macht, in die übersinnliche Welt einzudringen, in der erkennenden Seele erst die im gewöhnlichen Bewußt­sein und n der gewöhnlichen Wissenschaft noch nicht tätigen Kräfte entwickelt, welche ein solches Eindringen ermöglichen. - Eine solche Geisteswissenschaft gilt der an­erkannten Philosophie zumeist als eine dilettantische Be­trachtungsart. Durch eine kurze Darstellung des Entwick­lungsganges der Philosophie versuche ich, zu zeigen, daß dieser Vorwurf völlig unberechtigt ist, und daß er nur erhoben werden kann, weil die gegenwärtige philosophische Betrachtungsart sich in Irrwege verrannt hat, die es ihr, wenn sie sie nicht verläßt, unmöglich machen, zu erkennen, daß ihre eigenen, wahren Ausgangspunkte von ihr die Ver­folgung des Weges fordern, der zuletzt zur Anthropo­sophie führt.

Rudolf Steiner

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Ein gesund ausgebildetes Seelenleben kommt ganz natur­gemäß an zwei Klippen, deren Widerstand es überwinden muß, wenn es nicht wie ein führerloses Schiff sich auf dem Lebenspfade treiben lassen will. Ein solches Treibenlassen bringt zuletzt Unsicherheit in das eigene Innere und endet in eine irgendwie geartete Lebensnot; oder auch es benimmt dem Menschen die Möglichkeit, sich im Sinne der wahren Daseinsgesetze in die Weltordnung einzuleben und macht ihn so zu einem störenden, nicht zu einem fördernden Gliede dieser Ordnung.

Eine derjenigen Kräfte, durch die der Mensch die Mög­lichkeit der inneren Sicherheit in der Lebensentwicklung und der wesenswahren Einordnung in das Dasein gewin­nen kann, ist die Erkenntnis, die in bezug auf den Men­schen Selbsterkenntnis werden muß.

Der Trieb nach Selbsterkenntnis ist in jedem Menschen. Er kann mehr oder weniger unbewußt bleiben, aber er ist immer vorhanden. Er kann sich äußern in ganz unbestimm­ten Gefühlen, die wie Wogen aus den Seelenuntergründen heraufschlagen in das Bewußtsein, die als unbefriedigtes Leben empfunden werden. Man deutet oft solche Gefühle ganz unrichtig; man sucht für sie einen Ausgleich in äußeren Lebensumständen. Man ist in einer - auch oft ihrem Wesen nach unbewußt bleibenden - Ängstlichkeit gegenüber diesen Gefühlen. Könnte man diese Ängstlichkeit überwinden, so würde man sehen, daß eine rückhaltlose Erkenntnis des menschlichen Wesens, nicht äußerliche Mittel, zur Abhilfe führt. Aber eine solch rückhaltlose Erkenntnis erfordert, daß man an den zwei Klippen auch wirklich Widerstand empfindet, an welche die menschliche Erkenntnis geführt wird, wenn sie Erkenntnis des menschlichen Wesens werden

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will. Diese Klippen sind aus zwei Täuschungen auf­gebaut, aus zwei Felsen, durch die der Mensch im Erkennt­nisleben nicht vorwärts kommen kann, wenn er sie nicht in ihrer wahren Wesenheit erkennt. Diese beiden Klippen sind die Naturerkenntnis und die Mystik. Beide Erkennt­nisarten ergeben sich naturgemäß auf dem menschlichen Lebenswege. Mit beiden muß der Mensch seine innere Er­fahrung machen, wenn sie ihn fördern sollen. Daß er die Kraft entfaltet, bei jeder dieser beiden Erkenntnisarten wohl anzukommen, aber bei keiner von ihnen stehen zu bleiben, davon hängt es ab, ob er Menschheit-Erkenntnis gewinnen kann oder nicht. Er muß, bei beiden angelangt, Unbefangenheit genug bewahrt haben, um sich zu sagen: Keine von ihnen kann ihn dahin bringen, wohin seine Seele verlangt; aber er muß, um diese Einsicht zu gewinnen, erst beide innerlich in ihrem Erkenntniswert erlebt haben. Er darf nicht davor zurückscheuen, ihre Wesenheit wirklich zu erleben, um an dem Erlebnis zu erkennen, daß über beide hinausgegangen werden muß, um sie erst wertvoll zu machen. Man muß zu den beiden Erkenntnisarten den Zu­gang suchen; denn erst, wenn man sie recht gefunden, ergibt sich der Ausweg aus ihnen.

Wer das Naturerkennen durchschaut, der findet - bei innerer Unbefangenheit -, daß es eine Täuschung ist, wenn man glaubt, man ergreife in demselben die wahre Wirklich­keit. In gesundem Erfühlen der eigenen menschlichen Wirk­lichkeit stellt sich ein ganz bestimmtes Erlebnis ein. Dies tritt um so mehr auf, je mehr man die Naturerkenntnis auf das Begreifen der Menschenwesenheit ausdehnen will. Der Mensch als Naturwesen stellt sich für diese Erkenntnis als ein Zusammenfluß der Naturwirkungen dar. Den Aufbau

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der Menschenwesenheit nach Maßgabe dessen zu durch­schauen, was man im Felde der Naturreiche als Wirkungs­arten erfaßt hat, kann ein Erkenntnis-Ideal werden. Dieses Ideal ist für die echte Naturerkenntnis berechtigt. Mag man sich auch sagen, es liege in unermeßlicher Ferne die Zeit, in der man erkennen werde, wie der Wunderbau des mensch­lichen Organismus naturgesetzlich sich gestaltet: als Ideal der Naturerkenntnis muß ein dahingehendes Streben gel­ten. Aber unerläßlich ist auch, daß man gegenüber diesem berechtigten Ideal zu einer Einsicht vordringt, die einem gesunden Wirklichkeitsgefühl entspringt. Man muß es er­leben, wie fremd und immer fremder der innerlich erlebten Wirklichkeit dasjenige wird, was die Naturerkenntnis vor den Menschen hinstellt. Je vollkommener sie wird, desto mehr wird sie ein dem Innenleben Fremdes vor das mensch­liche Erkennntnisbedürfnis stellen. Stoffliches, materielles Geschehen muß sie ihrem berechtigten Ideale gemäß hin-stellen. Das unbefangene Erleben muß sich zuletzt an der Klippe stoßen, die Du Bois-Reymond empfunden hat, als er glaubte, in seinem berühmten Vortrage «Über die Gren­zen des Naturerkennens» sagen zu müssen: niemals werde das menschliche Erkennen das in der Welt erfassen, was als Materie im Raume spukt. Gesund ist ein inneres Erleben, das Naturerkenntnis zwar mit allen dazu geeigneten Kräf­ten anstrebt, aber in demselben zugleich empfindet: es nähere sich mit demselben nicht der wahren Wirklichkeit, sondern es entferne sich mit ihm von derselben. Man muß dieses an den Ergebnissen der Naturerkenntnis erleben. Man muß es diesem ansehen, daß sie sich keinem Begreifen, keinem Erfühlen ergeben. Und man wird dann dazu gelan­gen, sich zu sagen: es ist gar nicht in Wahrheit so, daß

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der Mensch Naturerkenntnis anstrebt, um der Wirklichkeit nahe zu kommen; er glaubt dies zunächst in seinem Be­wußtsein, doch der unbewußte Urquell dieses Strebens muß eine ganz andere Bedeutung haben. Er wird gewiß für das Menschenleben eine Bedeutung haben. Sie muß gesucht wer­den. Erkenntnis der wahren Wirklichkeit aber kann nicht Naturerkenntnis sein. Ein Wendepunkt des Seelenlebens kann diese Einsicht werden. Man erkennt durch innere Er­fahrung, daß man habe der Naturerkenntnis nachgehen müssen; daß aber diese nicht geben kann, was man sich im eifrigen Suchen nach ihr von ihr versprochen hat. Wahre, erlebte Einsicht in das Naturgeschehen bringt zuletzt dem Menschen diese Erkenntnis. Er hört dann auf, zu glauben, daß ihm jemals Erkenntnis des Menschenwesens durch einen, wenn auch noch so vollkommenen Ausbau der Na­turwissenschaft werden kann. Wer zu dieser Einsicht nicht gelangt ist, wer noch hoffen kann, das Ideal naturwissen­schaftlicher Erkenntnis könne den Menschen über sein eigenes Wesen aufklären, der ist eben noch nicht weit genug vorgedrungen in den Erlebnissen, die man mit der Naturerkenntnis haben kann.

Dies ist die eine Klippe, auf die das Streben nach Er­kenntnis des Menschheitswesens aufstößt. Mancher Denker hat den Stoß empfunden und sich nach der anderen Seite gewandt, nach derjenigen der mystischen Versenkung in das eigene Selbst. Man kann auch nach dieser Richtung eine Zeitlang vorwärts dringen in dem Glauben, im Innern die wahre Wirklichkeit unmittelbar zu erleben. Man kann etwas wie eine Vereinigung mit dem Urquell alles Seins zu erfahren glauben. Geht man aber mit diesem Erleben weit genug, zerstört man die Kräfte der Täuschung, so wird man

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gewahr, wie das innere Erleben, wenn man sich auch noch so tief in dasselbe zu versenken sucht, doch machtlos bleibt gegenüber der Wirklichkeit. Wie stark man auch, durch diesen oder jenen Umstand verführt, gemeint hat, das Sein zu ergreifen: zuletzt erweist sich das innere Erleben als eine irgendwie geartete Wirkung eines unbekannten Seins, nicht aber als etwas, das im Stande wäre, die wahre Wirklichkeit zu erfassen und festzuhalten. Der auf einem solchen Wege wandelnde Mystiker macht die Erfahrung, daß er mit seinem inneren Erleben die wahre Wirklichkeit, die er sucht, verlassen hat, und daß er nicht wieder an sie herankommen kann. - Der Natur-Erkenner gelangt zu einer Außenwelt, die sich mit dem Innern nicht ergreifen läßt; der Mystiker kommt zu einem Innenleben, das ins Leere faßt, indem es eine Außenwelt greifen will, nach der es verlangt.

Die Erfahrungen, welche der Mensch mit der Natur­erkenntnis einerseits, mit der Mystik andererseits macht, erweisen sich nicht als eine Erfüllung seines Strebens, die Wirklichkeit zu finden, sondern als Ausgangspunkt des Weges zu ihr. Denn diese Erfahrung zeigt einen Abgrund zwischen dem materiellen Geschehen und dem seelischen Erleben; sie führt dazu, diesen Abgrund zu sehen, und zu der Einsicht zu gelangen, daß er weder durch Naturerkennt­nis, noch durch bloße Mystik für das wahrhaftige Erkennen ausgefüllt werden kann. Das Gewahrwerden dieses Ab­grundes führt dazu, die Einsicht in die wahre Wirklichkeit in seiner Ausfüllung mit Erkenntniserlebnissen zu suchen, die im gewöhnlichen menschlichen Bewußtsein noch gar nicht vorhanden sind, sondern aus diesem erst entwickelt werden müssen. Wer mit der Naturerkenntnis und der My­stik

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die rechten Erfahrungen gemacht hat, der sagt sich: zu diesen beiden hinzu muß eine andere Erkenntnis gesucht werden, welche die materielle Außenwelt näher heranrückt an das menschliche Innenleben, als dies durch die Natur­erkenntnis geschieht, und die zugleich das Innenleben in die wirkliche Welt tiefer hineinversenkt, als es durch bloße Mystik geschehen kann.

Eine solche Erkenntnisart kann eine anthroposophische genannt werden und das durch sie erlangte Wissen von der Wirklichkeit Anthroposophie. Denn sie muß davon aus­gehen, daß sich der wahrhaft wirkliche Mensch (Anthropos) hinter demjenigen verbirgt, den die Naturerkenntnis offen­bart und den das Innenleben im gewöhnlichen Bewußtsein in sich findet. Im dunklen Gefühl, im unbewußten Seelen-leben kündigt sich dieser wahrhaft wirkliche Mensch an; durch die anthroposophische Forschung soll er in das Be­wußtsein erhoben werden. Anthroposophie will den Men­schen nicht von der Wirklichkeit weg- und zu einer unwirk­lichen, ersonnenen Welt hinführen, sie will vielmehr eine Erkenntnisart suchen, der sich die wirkliche Welt erst er­schließt. Sie muß, nach ihren Erfahrungen mit der Natur­erkenntnis und der von dem gewöhnlichen Bewußtsein erlebten Mystik, zu der Anschauung sich durchringen, daß aus diesem gewöhnlichen Bewußtsein heraus ein anderes zu entwickeln ist, etwa so, wie aus dem dumpfen Traum-bewußtsein das wache Tagesbewußtsein. Für die Anthro­posophie würde dadurch der Erkenntnisvorgang ein in­nerlich wirkliches Geschehen, das hinausführt aus dem gewöhnlichen Bewußtsein, während Naturerkenntnis nur ein logisches Urteilen und Schließen dieses gewöhnlichen Bewußtseins auf Grund der von außen gegebenen mate­riellen

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Wirklichkeit, und Mystik nur ein vertiefteres Innen­leben, aber doch ein solches ist, das innerhalb des gewöhn­lichen Bewußtseins stehen bleibt.

Weist man in der Gegenwart darauf hin, daß es einen solchen innerlich wirklichen Erkenntnisvorgang, eine an­throposophische Erkenntnis gibt, so stößt man auf Denk­gewohnheiten, die einerseits durch die zu wundervoller Größe herangewachsene Naturerkenntnis, andererseits durch Einleben in gewisse mystische Vorurteile erzeugt sind. Und die hier gemeinte Anthroposophie wird von der einen Seite abgewiesen, weil sie angeblich der Naturerkenntnis nicht gerecht wird, von der andern Seite, weil sie den mystischen Neigungen, die glauben, durch sich selbst in der wahren Wirklichkeit stehen zu können, als etwas Überflüssiges er­scheint. Von denjenigen Persönlichkeiten aber, die «echte» Erkenntnis frei halten möchten von allem, was über das gewöhnliche Bewußtsein hinausgeht, wird geglaubt, solche Anthroposophie verleugne den wahrhaft wissenschaftlichen Charakter, den zum Beispiel die philosophische WeIter-kenntnis sich aneignen müsse und verfalle in Dilettantismus.

In den folgenden Ausführungen soll nun gezeigt werden, wie wenig berechtigt dieser Vorwurf des Dilettantischen gegenüber anthroposophischem Streben gerade von Seite der Philosophie ist. Es soll in kurzen Zügen an dem Entwick­lungsgang der Philosophie dargetan werden, wie oft diese sich von der echten Wirklichkeit dadurch entfernt, daß sie die beiden hier angedeuteten Erkenntnisklippen nicht sieht und wie unbewußt doch dem philosophischen Streben ein Trieb zu Grunde liegt, der zwischen diesen Klippen hin­durch auf eine Anthroposophie loszielt. (Ausführlich hat der Verfasser dieses Aufsatzes dieses Loszielen aller Philosophie

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auf eine Anthroposophie in seinem Buche «Die Rät­sel der Philosophie» dargestellt.)

Philosophie wird zumeist von denjenigen, die sie treiben, als etwas Unbedingtes angesehen, nicht als etwas, das im Laufe der Menschheitsentwicklung aus gewissen Voraus­setzungen heraus hat entstehen und sich wandeln müssen. Über den eigentlichen Charakter der Philosophie ist man­cher im Irrtum. Gerade ihr gegenüber ist man imstande, auch aus äußerlichen historischen Dokumenten, nicht bloß aus inneren Erkenntniserlebnissen, anzugeben, wann sie als solche ihren Ursprung innerhalb der Menschheitsentwick­lung genommen hat und nehmen mußte. Das haben auch die meisten, namentlich älteren Darsteller der Philosophie-Geschichte ziemlich gut getroffen. In allen diesen Darstel­lungen wird man finden, daß mit dem Thales begonnen wird und daß von ihm dann fortgeschritten wird bis in unsere Zeit herein.

Allerdings haben einige neuere Philosophie-Geschichts-schreiber, die ganz besonders vollständig und ganz beson­ders gescheit sein wollten, den Anfang der Philosophie in noch frühere Zeiten verlegt und allerlei aus früheren Weis­heitslehren hereingezogen. Aber das ist doch nur entsprun­gen aus einer ganz bestimmten Form des Dilettantismus, der nicht weiß, daß alles, was in Indien, Ägypten und Chaldäa an Weisheitslehren dargestellt worden ist, auch methodisch einen ganz anderen Ursprung hat, als das rein philosophische, dem Spekulativen zuneigende Denken Dieses hat sich erst in der griechischen Welt entwickelt, und der erste, welcher da in Betracht kommt, ist wirklich erst Thales. Man braucht aber gar nicht erst eine Charak­teristik der verschiedenen griechischen Philosophen von

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Thales ab, nicht von Anaxagoras, Heraklit, Anaximenes, auch nicht von Sokrates und Plato; man kann gleich an­knüpfen an diejenige Persönlichkeit, die eigentlich zu aller­erst als der Philosoph im engsten Sinne dasteht, und das ist Aristoteles.

Alle anderen Philosophien sind im Grunde genommen noch durch Mysterienweisheit angeregte Abstraktionen; für Thales und Heraklit ließe sich das zum Beispiel leicht nachweisen*. Aber Philosophen im eigentlichen Sinne des Wortes sind auch noch nicht einmal Plato oder Pythagoras, die beide ihre Quellen im Sehertum haben. Denn nicht dar­auf kommt es an, wenn wir die Philosophie als solche charakterisieren, daß irgend jemand sich in Begriffen aus­drückt; sondern wo seine Quellen sind, darauf kommt es

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* Mit Mysterienweisheit ist hier eine von der späteren Erkenntnisart verschiedene gemeint, die in ältere Zeiten der Geistesentwi&elung der Mensd,heit fällt. Diese Weisheit hatte zur Quelle ein innerliches Er­leben der Seele, in dem die Geheimnisse des Weltgescheh'ens zur Offen­barung kamen. Mit dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert ungefähr ging diese Art des Erkennens über in diejenige, welche die Aufschlüsse über das Weltgeschehen weniger in innerem Erleben als vielmehr in der von dem Verstande orientierten Beobachtsng der sinnlichen und seelischen Wahrnehmungen sucht. In der älteren Art des Erkennens war ein inneres Schauen durchsetzt von einer instinktiven Logik. Diese Seelenverfassung macht derjenigen Platz, für welche das logische Den­ken immer bewußter wurde. Die alte Fähigkeit eines intuitiven Schauens verlor sich in der Menschenseele. An die Stelle der Mysterien-weisheit trat die philosophische Betrachtung. Doch war es in den ersten Zeiten der philosophischen Entwiekelung so, daß die Philosophen ent­weder durch ihnen noch mögliches inneres Schauen, oder durch Clber­lieferung der alten Mysterienerkenntnis von dieser noch wußten und sie mit der in der Menschheitsentwickelung auftretenden Verstandes-fähigkeit durchsetzten. Wie dieser Übergang sich gestaltete, darüber findet man Angaben in den vom Verfasser des vorliegenden Aufsatzes veröffentlichten «Rätseln der Philosophie>.

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an. Pythagoras hat als Quellen die Mysterienweisheit und hat diese in Begriffe umgewandelt; er ist Hellseher, nur hat er das, was er als Seher erfahren, in philosophische Form gebracht, und dasselbe ist auch bei Plato der Fall.

Was aber den Philosophen ausmacht, und was gerade erst bei Aristoteles auftritt, ist, daß er aus der reinen Begriffs-technik heraus arbeitet, und daß er andere Quellen not­wendig ablehnen muß oder sie ihm unzugänglich sind. Und weil das erst bei Aristoteles der Fall ist, deshalb ist es auch nicht ohne welthistorischen Grund, daß eben er es ist, der die Logik, die Wissenschaft der Denktechnik, begründet hat. Alles andere ist nur Vorläufertum gewesen. Die Art und Weise, wie man Begriffe bildet, Urteile formt, Schlüsse zieht, das alles hat erst Aristoteles als eine Art Natur­geschichte des subjektiven menschlichen Denkens gefunden, und alles, was uns bei ihm entgegentritt, ist mit dieser Grundlegung der Denktechnik eng verknüpft. Da wir noch auf einiges zurückkommen werden, was bei ihm fundamen­tal wichtig ist für alle späteren Betrachtungen, so bedarf es jetzt nur dieser historischen Andeutung, um den Ausgangs­punkt kurz zu charakterisieren.

Aristoteles bleibt auch für die spätere Zeit der tonange­bende Philosoph. Seine Leistungen flossen nicht nur ein in die nacharistotelische Zeit des Altertums bis zur Begrün­dung des Christentums, sondern gerade in der ersten christ­lichen Zeit bis hinein in das Mittelalter war er derjenige Denker, nach dem man sich bei der Ausarbeitung aller Weltanschauungsbestrebungen richtete. Damit soll nicht ge­sagt werden, daß man etwa, namentlich im Mittelalter, wo man nicht die Urtexte hatte, die Philosophie des Aristoteles als System, als eine Summe von Dogmen vor sich gehabt

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habe; aber man hatte sich eingelebt in die Art, wie man an der Leiter der reinen Begriffstechnik zu einem Wissen bis hinauf zum Denken über die Grundrätsel des Lebens kommt. Und so kam es, daß Aristoteles immer mehr und mehr der logische Lehrer wurde. Man sagte sich im Mittel­alter etwa so: Möge die positive Tatsachenerkenntnis der Welt wo immer herkommen, möge sie davon kommen, daß der Mensch mit seinen Sinnen die äußere Wirklichkeit untersucht, oder daß eine Offenbarung durch göttliche Gnade stattfindet wie durch den Christus Jesus - so sind das Dinge, die einfach hinzunehmen sind, auf der einen Seite als Aussagen der Sinne, auf der anderen als Offen­barung. Will man aber etwas in dieser oder jener Art Ge­gebenes durch reine Begriffe begründen, dann muß man es mit jener Denktechnik tun, die Aristoteles aufgedeckt hat.

Und in der Tat, die Begründung der Denktechnik ist von Aristoteles so bedeutsam geleistet worden, daß Kant, und zwar mit Recht, gesagt hat, daß seit Aristoteles die Logik eigentlich um keinen einzigen Satz fortgeschritten sei*. Und im Grunde genommen gilt das im wesentlichen auch noch für heute; auch heute ist der Grundstock logischer, denk-technischer Lehren ziemlich unverändert geblieben gegen­über dem, was Aristoteles gegeben hat. Das, was man heute hinzufügen will, entspringt aus einem ziemlich mißver­ständlichen Verhalten gegenüber dem Begriffe der Logik, auch in philosophischen Kreisen.

Nun wurde nicht bloß etwa das Studium des Aristoteles, sondern vor allen Dingen das Sichhineinfinden in seine

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* Was gegen diese Anschauung Kants von verschiedenen Seiten vor­gebracht worden ist, hat doch nur die allereingeschränkteste Geltung.

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Denktechnik tonangebend für die mittlere Zeit des Mittel­alters, für die frühscholastische Zeit, wie man sie auch nennen könnte, wo die Scholastik in der Blüte stand. Diese Zeit fand ja in bezug auf diese ihre Blüte ihren Abschluß durch Thomas von Aquino im 13. Jahrhundert. Wenn man von dieser frühscholastischen Zeit spricht, muß man sich klar darüber sein, daß man heute nur dann philosophisch darüber urteilen kann, wenn man frei von aller Autorität und allem Dogmenglauben ist. Es ist ja gegenwärtig fast schwerer, rein objektiv, als abfällig über diese Dinge zu sprechen. Wenn man abfällig über die Scholastik spricht, kommt man nicht in die Gefahr, von den sogenannten freien Geistern verketzert zu werden; spricht man aber objektiv darüber, so liegt die Wahrscheinlichkeit nahe, miß­verstanden zu werden, und zwar deshalb, weil man sich heute innerhalb der positiven und gerade der intolerantesten Kirchenbewegung vielfach ganz mißverständlich auf die Thomistik beruft. Was heute als orthodox katholische Phi­losophie gilt, das alles soll hier nicht besprochen werden, aber ebensowenig darf uns abschrecken, daß uns der Vor­wurf gemacht werden könnte, wir pflegten dasselbe, was von dogmatischer Seite getrieben und festgesetzt wird. Wir wollen vielmehr, unbekümmert um alles, was von rechts und links sich geltend machen kann, einmal charakte­risieren, welche Empfindung die Blütezeit der Scholastik in bezug auf die Wissenschaft, die Denktechnik und die übernatürliche Offenbarung hatte.

Die Frühscholastik ist nicht das, als was man sie gewöhn­lich heute mit einem Schlagwort charakterisieren möchte; sie ist im Gegenteil Monismus, Einheitslehre - nicht im entferntesten ist sie dualistischer Natur in dem Sinne, wie

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sich das jetzt viele vorstellen. Der Urgrund der Welt ist für sie ein durchaus einheitlicher; nur hat der Scholastiker in bezug auf das Erschauen dieses Urgrundes eine bestimmte Empfindung. Er sagt: es gibt ein gewisses übersinnliches Wahrheitsgut, ein Weisheitsgut, das zunächst der Mensch­heit offenbart worden ist; das menschliche Denken mit all seiner Technik kommt nicht so weit, um aus sich selbst in die Regionen zu dringen, deren Wesenheit der Inhalt der höchsten geoffenbarten Weisheit ist. Daher besteht für den Frühscholastiker ein gewisses Weisheitsgut, das zunächst der Denktechnik nicht völlig zugänglich ist. - Nur insofern ist es ihr zugänglich, als der Gedanke imstande ist, das, was geoffenbart wurde, zu verdeutlichen.

Für diesen Teil des Weisheitsgutes obliegt also dem Denker, es als geoffenbartes hinzunehmen, und die Denk-technik nur zu seiner Verdeutlichung zu verwenden. Was der Mensch aus sich selbst finden kann, bewegt sich nur in gewissen untergeordneten Regionen der Wirklichkeit. Für diese wendet der Scholastiker die Denktätigkeit auf die eigene Forschung des Menschen an. Er dringt da bis zu einer gewissen Grenze, an der ihm die geoffenbarte Weis­heit begegnet. So schließen sich die Inhalte der eigenen Forschung und der Offenbarung zu einer objektiv einheit­lichen, monistischen Weltanschauung zusammen. Daß dabei eine Art von Dualismus, durch die menschliche Eigentüm­lichkeit geboten, in die Sache hineinkommt, ist nur sekun­där. Es handelt sich um einen Dualismus der Erkenntnis, nicht um einen solchen des Weltzusammenhanges.

Der Scholastiker erklärt also die Denktechnik für ge­eignet, dasjenige, was in der empirischen Wissenschaft, in der Sinnesbeobachtung gewonnen wird, rationell zu bearbeiten,

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ferner auch ein Stück hinaufzudringen bis zur spirituellen Wahrheit. Und dann stellt der Scholastiker in Bescheidenheit ein Stück der Weisheit als Offenbarung hin, die er nicht selbst finden kann, die er nur hinzuneh­men hat.

Was nun aber der Scholastiker als diese besondere Denk-technik anwendet, das ist durchaus aus dem Boden aristo­telischer Logik entsprungen. Es gab für die Frühscholastik, die etwa mit dem 13. Jahrhundert sich ihrem Abschluß nähert, eine zweifache Notwendigkeit, sich mit Aristoteles zu befassen. Die eine Notwendigkeit war in der geschicht­lichen Entwicklung gegeben: der Aristotelismus hatte sich eben eingelebt. Die andere Notwendigkeit war die Folge davon, daß dem überlieferten christlichen Lehrgut nach und nach von einer anderen Seite ein Gegner erstanden war.

Aristoteles hatte nämlich nicht nur im Abendlande seine Verbreitung gefunden, sondern auch im Morgenlande; und alles, was durch die Araber über Spanien nach Europa ge­bracht worden war, war in bezug auf die Denktechnik durchtränkt von Aristotelismus. Namentlich war es eine gewisse Form der Philosophie, der Naturwissenschaft, bis in die Medizin hineinreichend, was da herübergebracht worden war und was im eminentesten Sinne von aristote­lischer Denktechnik durchdrungen war. Nun hatte sich von dorther die Meinung gebildet, daß gar nichts anderes als Konsequenz aus dem Aristotelismus folgen könne, als eine Art von Pantheismus, der namentlich in der Philosophie aus einer sehr verschwommenen Mystik entsprungen war. Man hatte also außer dem einen Grunde, daß nämlich Aristoteles in der Denktechnik fortgelebt hatte, noch einen andern, sich mit ihm zu befassen: in der Auslegung der

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Araber erschien die im Sinne des Aristoteles gehaltene Denkart als Gegner, als Feind des Christentums.

Man mußte sich sagen: wenn das, was die Araber als Interpretation des Aristotelismus herübergebracht haben, wahr ist, dann wäre dieser eine wissenschaftliche Grund­lage, die dazu geeignet wäre, das Christentum zu wider­legen. Nun stellen wir uns vor, was mußten demgegenüber die Scholastiker empfinden? Auf der einen Seite hielten sie fest an der Wahrheit des Christentums, auf der anderen aber konnten sie nach aller Tradition nicht anders, als ein­gestehen, daß die Logik, die Denktechnik des Aristoteles, die wahre, die richtige sei. Aus diesem Zwiespalt heraus ergab sich für die Scholastiker die Aufgabe: zu beweisen, daß man die Logik des Aristoteles anwenden könne, seine Philosophie treiben könne, und daß man gerade durch ihn das Instrument habe, das Christentum wirklich zu begrei-fen und zu verstehen. Es war eine Aufgabe, die durch die Zeitentwicklung gestellt war. Es mußte der Aristotelismus so behandelt werden, daß ersichtlich wurde: was als Lehre des Aristoteles von den Arabern gebracht worden war, ist nur eine mißverständliche Auffassung derselben. Daß man den Aristotelismus nur richtig deuten müsse, um in ihm das Fundament für das Begreifen des Christentums zu haben: das zu zeigen, war die Aufgabe, die sich die Scho­lastik stellte und der ein großer Teil des Schrifttums des Thomas von Aquino gewidmet ist.

Nun aber geschieht etwas anderes. Im Laufe der Entwick­lung tritt nach der Blütezeit der Scholastiker in der ganzen logisch-philosophischen Denkentwicklung der Menschheit ein völliger Bruch ein. Das Natürliche wäre gewesen (aber das soll keine Kritik sein, nicht einmal soll damit gesagt

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sein, daß es hätte anders geschehen können; der tatsächliche Verlauf war eben notwendig - nur hypothetisch soll das Folgende hingestellt werden), das Natürliche wäre gewesen, daß man die Denktechnik immer mehr ausgedehnt hätte, daß man immer höhere und höhere Teile der übersinnlichen Welt durch das Denken ergriffen hätte. So war aber die Entwicklung zunächst nicht. Der Grundgedanke, der zum Beispiel für Thomas von Aquino zunächst für die höchsten Gebiete galt, und welcher hätte durchaus sich so entwickeln können, daß die Grenze der menschlichen Forschung sich immer mehr nach oben in das übersinnliche Gebiet hätte erweitern lassen, wurde in seiner Tragkraft gehemmt und lebte nun weiter in der Überzeugung: die höchsten spiri­tuellen Wahrheiten entziehen sich ganz und gar der rein menschlichen Denktätigkeit, der Ausarbeitung in Begriffen, zu denen es der Mensch aus sich selbst bringen kann. Da­durch ist ein Riß im menschlichen Geistesleben eingetreten. Man stellte die übersinnliche Erkenntnis als etwas hin, das sich jeder menschlichen Denkarbeit absolut entziehe, das nicht durch subjektive Akte der Erkenntnis zu erreichen sei, das nur einem Glauben entspringen müsse. Veranlagt war das schon früher, zum Extrem getrieben wurde es gegen das Ende des Mittelalters. Es wurde immer mehr heraus­gearbeitet die Scheidung zwischen dem Glauben, der durch eine subjektive Gefühlsüberzeugung erreicht werden muß, und dem, was als Grundlage eines sicheren Urteils durch logische Tätigkeit erarbeitet werden kann.

Und es war nur natürlich, daß, nachdem dieser Abgrund sich einmal aufgetan hatte, Wissen und Glauben immer mehr auseinander gedrängt wurden. Und natürlich war es auch, daß man Aristoteles und seine Denktechnik hineinzog

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in diesen Riß, der sich durch die historische Entwicklung aufgetan hatte. Insbesondere wurde er im Beginne der Neu­zeit hineingezogen. Da sagte man auf der Seite der Wissen­schafter - und vieles von dem was diese sagten, können wir als begründet ansehen -: mit dem bloßen Fortspinnen des schon bei Aristoteles Gegebenen kann man doch keine Fort­schritte in der empirischen Wahrheitsforschung machen. Außerdem gestaltete sich die geschichtliche Entwicklung so, daß es mißlich wurde, mit den Aristotelikern eine Vereini­gung zu haben, ja, als die Zeit des Kepler und Galilei heraufkam, da war der mißverstandene Aristotelismus eine wahre Erkenntnisplage geworden.

Es kommt ja immer wieder vor, daß die Nachfolger, die Bekenner einer Weltanschauung ungemein viel von dem verderben, was die Begründer durchaus richtig hingestellt haben. Statt in die Natur selbst hineinzuschauen, statt zu beobachten, fand man es am Ende des Mittelalters bequem, die alten Bücher des Aristoteles zu nehmen und bei allen akademischen Vorlesungen das Geschriebene des Aristote­les zugrunde zu legen. Charakteristisch dafür ist, daß ein orthodoxer Aristoteliker aufgefordert wurde, sich an einer Leiche zu überzeugen, daß nicht, wie er mißverständlich aus Aristoteles herausgelesen hatte, die Nerven vom Her­zen ausgehen, sondern daß das Nervensystem sein Zentrum im Gehirn habe. Da sagte der Aristoteliker: Die Beobach­tung zeigt mir, daß sich das wirklich so verhält, aber in Aristoteles' Werken steht das Gegenteil, und dem glaube ich mehr. So waren die Aristoteliker in der Tat eine Er­kenntnisplage geworden. Und darum mußte die empirische Wissenschaft aufräumen mit diesem falschen Aristotelismus und sich auf die reine Erfahrung berufen, wie wir das be­sonders

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stark als Impuls gegeben sehen bei dem großen Galilei.

Auf der anderen Seite entwickelte sich etwas anderes. Bei den Persönlichkeiten, die sozusagen den Glauben vor einem Einbruch des nun auf sich selbst gestellten Denkens schützen wollten, entwickelte sich eine Abneigung gegen die Denk­technik. Sie waren der Meinung, daß diese Denktechnik ohnmächtig sei gegenüber dem geoffenbarten Weisheitsgut. Wenn die weltlichen Empiriker sich auf das Buch des Ari­stoteles beriefen, so beriefen sich die andern auf etwas, was sie - freilich in mißverständlicher Weise - einem anderen Buche, der Bibel, entnommen hatten. Das sehen wir am stärksten im Beginn der Neuzeit zum Ausdruck gebracht, wenn wir die harten Worte Luthers hören: «die Vernunft ist die stockblinde, taube Närrin», die nichts zu schaffen haben soll mit den spirituellen Wahrheiten; und wenn Luther weiter behauptet, daß die reine Glaubensüberzeu­gung niemals in richtiger Weise aufdämmern kann durch das vernünftige Denken, das sich auf Aristoteles' Vorstel­lungsart stützt. Diesen nennt er «einen Heuchler, einen Sykophanten, einen stinkenden Bock». Das sind, wie gesagt, harte Worte, aber vom Standpunkte der neuen Zeit er­scheinen sie uns begreiflich; es hatte sich eben eine tiefe Kluft aufgetan zwischen der Vernunft und ihrer Denktech­nik einerseits und der übersinnlichen Wahrheit andererseits.

Einen letzten Ausdruck hat diese Kluft durch einen Philo­sophen gefunden, unter dessen Einfluß sich das 19. Jahr­hundert in einem Netz gefangen hat, aus dem es schwer wieder herauskommen kann: durch Kant. Er ist im Grunde genommen der letzte Ausläufer jener durch den mittelalter­lichen Riß hervorgebrachten Spaltung. Er trennt streng den

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Glauben und dasjenige, was der Mensch durch das Wissen erreichen kann. Schon äußerlich steht die «Kritik der reinen Vernunft» neben der «Kritik der praktischen Vernunft», und die praktische Vernunft versucht, einen wenn auch rationalistischen Glaubensstandpunkt zu gewinnen gegen­über dem, was man Wissen nennen kann. Dagegen wird in der Kantschen theoretischen Vernunft in der extremsten Weise behauptet, daß diese Vernunft unfähig sei, das Wirk­liche, das Ding an sich, zu begreifen. Das Ding an sich mache zwar Eindrücke auf den Menschen, aber dieser könne nur in seinen Vorstellungen, in seinen eigenen Begriffen leben. Nun müßten wir eigentlich tief in die Geschichte der Kant­schen Philosophie hineingehen, wenn wir den verwüstenden Fundamental-Irrtum Kants charakterisieren wollten; aber das würde uns zu weit von unserer Aufgabe entfernen. -Man findet übrigens das zu sagen Nötige darüber in meiner «Wahrheit und Wissenschaft».

Für heute interessiert uns vielmehr etwas anderes, näm­lich das Netz, in dem sich das philosophische Denken des 19. Jahrhunderts gefangen hat. Wir wollen einmal unter­suchen, wie das zustande gekommen ist. Kant hatte vor allen Dingen das Bedürfnis, zu zeigen, inwiefern in dem Denken etwas Absolutes vorliege, etwas, in dem es keine Unsicherheit geben könne. Alles aber, was aus der Erfah­rung stammt, sagte er, das ist kein Sicheres. Die Sicherheit kann unserem Urteil nur dadurch gegeben werden, daß ein Teil der Erkenntnis nicht von den Dingen, sondern von uns selbst stammt. Wir sehen nun im Kantschen Sinne in unserer Erkenntnis die Dinge wie durch ein gefärbtes Glas an; wir fangen in unserer Erkenntnis die Dinge in die ge­setzmäßigen Zusammenhänge ein, die von unserer eigenen

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Wesenheit herrühren. Unsere Erkenntnis hat gewisse For­men, die Raumform, die Zeitform, die Form der Kategorie von Ursache und Wirkung und so weiter. - Diese Formen haben für das Ding an sich keine Bedeutung, wenigstens kann der Mensch nichts davon wissen, ob das Ding an sich in Raum, Zeit oder Kausalität existiert. Das sind Formen, die nur aus dem Subjekt des Menschen entspringen, und die der Mensch in dem Augenblicke über das «Ding an sich» spinnt, in dem dies letztere an ihn herantritt, so daß ihm das Ding an sich unbekannt bleibt. Wo also der Mensch diesem Ding an sich gegenübertritt, da umspinnt er es mit der Form des Raumes, der Zeit, faßt es in einen Zusammen­hang, der als Ursache und Wirkung erscheint; und so legt der Mensch sein ganzes Netz von Begriffen und Formen über das Ding an sich hinüber. Deshalb gibt es ja für den Menschen eine gewisse Sicherheit der Erkenntnis, weil - so lange er ist, wie er ist - Zeit, Raum und Kausalität für ihn gelten. Was der Mensch selbst in die Dinge hineinschaut, das muß er wieder aus ihnen herausdröseln. Aber was das Ding an sich ist, kann der Mensch nicht wissen, denn er bleibt ewig in den Formen seiner Vorstellung befangen. Das hat Schopenhauer zum klassischen Ausdruck gebracht in dem Satze: «Die Welt ist meine Vorstellung.»

Diese ganze Schlußfolgerung ist übergegangen fast in das gesamte Denken des 19. Jahrhunderts; nicht bloß in die Er­kenntnistheorie, sondern auch zum Beispiel in die theoreti­schen Grundlagen der Physiologie. Es kamen zu den philo­sophischen Erwägungen gewisse Erfahrungen hinzu. Wenn man zum Beispiel auf die Lehre von den spezifischen Sinnes-energien blickt, so scheint in ihr eine Bestätigung der Kant­schen Meinung zu liegen. Wenigstens hat man die Sache so

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im Laufe des 19. Jahrhunderts angesehen. Man sagt so: das Auge nimmt Licht wahr. Wenn man aber das Auge auf andere Weise affiziert, zum Beispiel durch Druck, durch elektrischen Impuls und so weiter, so zeigt es auch Lichtwahrnehmung. Daher sagt man: Der Inhalt der Lichtwahr­nehmung ist aus der spezifischen Energie des Auges heraus erzeugt und ist übergezogen über das Ding an sich. Insbe­sondere Helmholtz hat das in krasser Weise als physiologisch - philosophische Lehre zum Ausdruck gebracht, in­dem er sagt: Alles, was wir wahrnehmen, ist nicht einmal bildhaft ähnlich zu denken mit den Dingen, die außer uns sich befinden. Das Bild hat Ähnlichkeit mit dem, was es darstellt; aber das, was wir Sinnesempfindung nennen, das kann nicht einmal solche Ähnlichkeit mit dem Original haben, wie es das Bild mit seinem Original hat. Man kann daher, sagt er weiter, das, was der Mensch in sich erlebt, nicht anders ansprechen, denn als ein «Zeichen» des Dinges an sich. Ein Zeichen braucht ja nichts Ähnliches zu haben mit dem, was es ausdrückt.

Was sich lange vorbereitet hat, von dem ist das philo­sophische Denken des 19. Jahrhunderts und bis zur Gegen­wart ganz durchsetzt worden. Man konnte über das Ver­hältnis des menschlichen Erkennens zur Wirklichkeit nur im Sinne der hier angedeuteten Vorstellungen denken. Ich muß oft mich erinnern an ein Gespräch, das ich vor längerer Zeit mit einem von mir sehr geschätzten philosophischen Denker des 19. Jahrhunderts führen durfte, mit dessen er­kenntnistheoretischen Anschauungen ich aber durchaus nicht übereinstimmen konnte. Ich wollte geltend machen, daß die Anschauung von der subjektiven Wesenheit der mensch­lichen Vorstellung doch eine erkenntnismäßige Feststellung

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sei und nicht von vornherein behauptet werden dürfe. Er erwiderte, man brauche sich doch nur an die Wortdefinition «Vorstellung» zu halten; diese sage aus, daß «Vorstellung» nur in der Seele sei; da aber alles Wirkliche nur durch die Vorstellungen gegeben sei, so habe man eben im Erkennt­nisvorgang nicht eine Wirklichkeit, sondern nur die Vor­stellungen von einer solchen. - Eine vorgefaßte Meinung hatte sich bei dem wahrlich scharfsinnigen Denker zu einer Definition verdichtet, so daß für ihn völlig einwandfrei feststand: Das, was ich im Vorstellen ergreife, geht immer nur bis an die Grenze des Dinges an sich, es ist also nur subjektiv. Diese Denkgewohnheit hat sich im Laufe der Zeit so fest eingelebt, daß alle diejenigen Erkenntnistheo­retiker, die sich etwas darauf zugute tun, Kant zu ver­stehen, einen jeden für einen beschränkten Menschen halten, der nicht zugeben kann, daß ihre Definition von der Vor­stellung und von der subjektiven Natur des Beobachteten richtig sei. Das alles ist durch den vorhin geschilderten Riß in der menschlichen Geiste sentwicklung herbeigeführt wor­den.

Wer nun aber wirklich den Aristoteles richtig begreift, der wird finden, daß in einer geraden, also gewissermaßen nicht umgebogenen Entwickelung von Aristoteles aus ganz anderes als Erkenntnis-Prinzip und -Theorie hätte kom­men können. Aristoteles hat bereits Dinge eingesehen auf erkenntnistheoretischem Gebiet, zu denen sich der Mensch heute durch all das denkerische Wesen, das unter dem Ein­flusse Kants entstanden ist, erst wieder langsam und all­mählich wird aufschwingen können. Er muß vor allen Dingen begreifen lernen, daß Aristoteles schon die Mög­lichkeit hatte, durch die Denktechnik Begriffe sich zu erarbeiten,

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die richtig gefaßt sind, und die unmittelbar dahin führen, die durch die gekennzeichnete Vorstellungsart von dem Menschen selbst gezogenen Erkenntnisgrenzen zu überschreiten. Wir brauchen uns nur mit einigen Funda­mental-Begriffen des Aristoteles zu befassen, um das ein­zusehen. Es ist durchaus in seinem Sinne zu sagen: Wenn wir die Dinge um uns herum gewahr werden, finden wir zunächst das, was uns eine Erkenntnis dieser Dinge ver­schafft, dadurch, daß wir mit dem Sinn wahrnehmen; der Sinn liefert uns das einzelne Ding. Wenn wir aber an­fangen zu denken, da gruppieren sich uns die Dinge, wir fassen verschiedene Dinge in einer Denkeinheit zusammen. Und Aristoteles findet die richtige Beziehung zwischen die­ser Gedankeneinheit und einem objektiv Wirklichen, jenem Objektiven, das zu dem Ding an sich führt - indem er zeigt, daß wir bei konsequentem Denken die Erfahrungswelt um uns herum zusammengesetzt denken müssen aus Materie und aus dem, was er die Form nennt. Materie und Form faßt Aristoteles in zwei Begriffen, die er in dem einzig rich­tigen Sinne, wie sie geschieden werden müssen, wirklich scheidet. Man könnte stundenlang reden, wenn man diese beiden Begriffe und alles, was damit zusammenhängt, er­schöpfen wollte. Aber einiges Elementare wollen wir we­nigstens herbeitragen, um zu verstehen, was Aristoteles als Form und Materie unterscheidet. Er ist sich klar darüber, daß es in bezug auf alle Dinge, die unsere Erfahrungswelt bilden, für das Erkennen darauf ankommt, daß wir die Form ergreifen, denn die Form gibt den Dingen das We­sentliche, nicht die Materie.

Es gibt auch in unserer Zeit noch Persönlichkeiten, die ein richtiges Verständnis haben für Aristoteles. Vincenz

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Knauer, der in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahr­hunderts in Wien Universitätsdozent war, hat seinen Hörern den Unterschied zwischen Materie und Form gewöhnlich durch eine Illustration klar gemacht, über die man viel­leicht spotten mag, die aber doch treffend ist. Er sagte, man solle sich einmal denken, wie ein Wolf, der einige Zeit seines Lebens lauter Lämmer gefressen habe, wie der sich dann eigentlich aus der Materie der Lämmer zusammensetzt -und doch wird dieser Wolf niemals ein Lamm! Das gibt, wenn man es nur richtig verfolgt, den Unterschied zwischen Materie und Form. Ist der Wolf ein Wolf durch Materie? Nein! Seine Wesenheit hat er durch die Form - wir finden die «Wolfform» nicht nur bei diesem Wolf, sondern bei allen Wölfen. So finden wir die Form, indem wir einen Begriff bilden, der ein Universelles zum Ausdruck bringt, im Gegensatz zu dem, was die Sinne erfassen, und das immer ein Besonderes, ein einzelnes Ding ist. Man bewegt sich mit dem Denken durchaus innerhalb der Vorstellungs­art des Aristoteles, wenn man, wie die Scholastiker, das Wesenhafte der Form durch eine Gliederung des Univer­sellen in drei Arten erkennend zu durchschauen strebt. Die Scholastiker setzen das Universelle als Sein der Form vor allem Wirken und Leben dieser Form in dem einzelnen Dinge voraus; dann dachten sie es sich als diese einzelnen Dinge durchwirkend und durchlebend; und drittens fanden sie, daß die menschliche Seele die universelle Form durch die Beobachtung der Dinge in sich auf diejenige Art auf­leben läßt, die ihr möglich ist. Danach unterschieden diese Philosophen das in den Dingen Universell-Lebende und im menschlichen Erkennen zum Ausdruck Kommende in folgender Art: Erstens Universalia ante rem, das Wesenhafte

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der Form, bevor es in den Einzelheiten derDinge lebt; zweitens Universalia in re, die wesenhaften Formen in den Dingen; drittens Universalia Post rem, diese wesenhaften Formen, von den Dingen abgezogen und als innere Seelen­erlebnisse im Erkennen durch das Wechselverhältnis der Seele mit den Dingen auftretend.

Bevor man nicht auf diese Dreigliederung eingeht, kann man auf diesem Grunde zu keiner richtigen Einsicht in be­zug auf dasjenige kommen, was hier wichtig ist. Denn man bedenke, um was es sich handelt! Es handelt sich um die Einsicht, daß der Mensch, insofern er in den Universalia Post rem drinnen lebt, ein Subjektives hat. Aber es wird zugleich auf etwas Wesentliches hingewiesen, nämlich dar­auf, daß der Begriff in der Seele eine «Repräsentation» dessen ist, was als reale Formen (Entelechien) universalen Bestand hat. Und diese - die Universalia in re - sind wie­derum nur in die Dinge hineingeflossen, weil sie schon vor den Dingen existiert haben als Universalia ante rem.

In dem Universell-Wesenhaften, wie es vor seiner Ver­wirklichung in den Einzeldingen besteht, muß eine rein geistige Daseinsstufe gedacht werden. Es ist selbstverständ­lich, daß in der Annahme eines solchen Wesenhaften (Uni­versalia ante rem) derjenige das Ergebnis eines abstrakten Gedankengespinstes sehen muß, der nur das sinnlich Ge­gebene als Wirkliches gelten lassen will. Aber es kommt gerade darauf an, das innere Seelenerlebnis zu haben, das zu einer solchen Annahme nötigt. Es ist das Seelenerlebnis, welches in dem Allgemein-Begriff «Wolf> nicht bloß ein Gebilde des die verschiedenen Einzel-Wölfe zusammen­fassenden Verstandes, sondern eine über diese Einzelwesen hinausliegende geistige Wirklichkeit «Wolf» schaut. Diese

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geistige Wirklichkeit gibt dann die Möglichkeit, den Unter­schied zwischen Tier und Mensch in einem geistgemäßen Sinne zu sehen. Das Gattungsmäßige «Wolf» kommt nicht im Einzelwolfe, sondern in der Gesamtheit dieser Einzel-Wölfe zur Verwirklichung. Im Menschen aber lebt das Geistig-Seelische, das im Tiere durch die Gattung (oder Art) in der Summe der Individuen zur Offenbarung kommt, auf individuelle Art. Oder aristotelisch gesprochen:

Im menschlichen Individuum lebt die «Form» sich in der sinnlichen Wesenheit unmittelbar aus; im tierischen Reich bleibt diese «Form» als solche im Übersinnlichen und ge­staltet sich in dem ganzen Entwicklungsleben erst aus, das alle Individuen derselben «Form» umfaßt. Es gestattet der Aristotelismus bei den Tieren von Gruppenseelen (Art-, Gattungsseelen) zu sprechen, beim Menschen von Indivi­dualseelen. Gelingt es, ein solches inneres Seelenleben her­zustellen, für das eine derartige Unterscheidung einer an­geschauten Wirklichkeit entspricht, so ist dieses Seelenleben ein weiterer Fortschritt auf einer Erkenntnisbahn, die der Aristotelismus und die Scholastik nur bis zur Begriffstech­nik beschritten haben.

Daß solches gelingen kann, sucht die anthroposophische Geisteswissenschaft zu beweisen. Für sie sind die «Formen» nicht bloß Ergebnisse begrifflicher Unterscheidung, sondern der übersinnlichen Anschauung. Sie schaut in den Gattungs-seelen der Tiere und in den Individualseelen der Menschen Wesen ähnlicher Art. Und sie schaut in diese Verhältnisse hinein, wie in die physisch-sinnliche Wirklichkeit die Sinne hineinschauen. Wie das innerhalb der anthroposophischen Geisteswissenschaft angestrebt wird, soll in dem weiteren Fortgang dieser Abhandlung angedeutet werden; hier sollte

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gezeigt werden, wie in der aristotelischen Vorstellungsart die Möglichkeit liegt, Begriffe zu finden, durch die man Anthroposophie stützen kann. Nur gehört zu all dem, was uns bei Aristoteles entgegentritt, noch etwas, das in der Neuzeit immer unbeliebter geworden ist. Es ist nötig, daß man sich dazu bequeme, in scharfen, fein ziselierten Be­griffen zu denken, in Begriffen, die man sich erst zubereitet; es gehört dazu, daß man die Geduld hat, von Begriff zu Begriff vorzuschreiten, daß man vor allen Dingen Neigung zu begrifflicher Reinheit und Sauberkeit habe, daß man weiß, wovon man redet, wenn man einen Begriff anschlägt. Wenn man im scholastischen Sinne zum Beispiel von der Beziehung des Begriffs zu dem, was er repräsentiert, spricht, so muß man erst lange Definitionen in den scholastischen Schriften durcharbeiten. Man muß wissen, was es heißt, wenn man sagt, der Begriff ist formaliter begründet im Subjekt und fundamentaliter im Objekt; was der Begriff als seine eigene Gestalt hat, kommt vom Subjekt, was er als Inhalt hat, vom Objekt her. - Das ist nur eine kleine Probe. Wirklich nur eine kleine. Wenn Sie scholastische Werke durchnehmen, müssen Sie sich durch dicke Bände von Definitionen durdiwinden, und das ist dem heutigen Wissenschafter sehr unangenehm; daher betrachtet er die Scholastiker als Schulfüchse und tut sie damit ab. Er weiß gar nicht, daß wahre Scholastik nichts anderes ist, als die gr ündli che Ausarbeitung der Gedankenkunst, so daß diese ein Fundament für das wirkliche Begreifen der Wirklichkeit bilden kann. Indem ich dies spreche, werden Sie empfinden, daß es eine große Wohltat ist, wenn gerade innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft Bestrebungen auftauchen, die in allerbestem (erkenntnistheoretischem) Sinne auf eine

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Ausarbeitung der erkenntnistheoretischen Prinzipien hin­zielen. Und wenn wir gerade hier in Stuttgart einen Ar­beiter auf diesem Gebiete von außerordentlicher Bedeutung haben (Dr. Unger), so ist das als eine wohltätige Strömung innerhalb unserer Bewegung zu betrachten. Denn diese Be­wegung wird in ihren tiefsten Teilen nicht durch diejenigen ihre Geltung in der Welt erlangen, die nur die Tatsachen der höheren Welt hören wollen, sondern durch solche, welche die Geduld besitzen, in eine Gedankentechnik einzudringen, die einen realen Grund für ein wirklich ge­diegenes Arbeiten schafft, die ein Skelett schafft für das Arbeiten in der höheren Welt. So wird vielleicht gerade innerhalb der anthroposophischen Bewegung und aus der Anthroposophie selbst heraus erst wiederum verstanden werden, was die von Anhängern und Gegnern zum Zerr­bild gemachte Scholastik eigentlich wollte. Es ist natürlich bequemer, mit ein paar mitgebrachten Begriffen alles, was uns als höhere Wirklichkeit entgegentritt, begreifen zu wollen, als eine gediegene Fundamentierung in der Be­griffstechnik zu schaffen; aber was sind die Folgen davon? Es gibt oft einen mißlichen Eindruck, wenn man heute philosophische Bücher in die Hand nimmt. Die Menschen verstehen einander gar nicht mehr, wenn sie über höhere Dinge sprechen; sie sind sich nicht klar darüber, wie sie die Begriffe gebrauchen. Das hätte in der scholastischen Zeit nicht vorkommen können, denn damals mußte man sich klar über die Konturen eines Begriffs sein.

Sie sehen, es hat in der Tat einen Weg gegeben, um in die Tiefen der Denktechnik einzudringen. Und wäre dieser Weg weiter beschritten worden, hätte man sich nicht ein­fangen lassen in das Kantsche Gespinst vom «Ding an

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sich» und der Vorstellung, die subjektiv sein soll, dann hätte man zweierlei erreicht: erstens wäre man zu einer in sich selbst sicheren Erkenntnistheorie gelangt, und zweitens

- und das ist von großer Bedeutung - hätte man nicht in den maßgebenden Kreisen diejenigen großen Philosophen so gänzlich mißverstehen können, die nach Kant gearbeitet haben. Es folgt zum Beispiel das Trifolium Fichte, Schel­ling, Hegel. Was sind sie dem heutigen Menschen? Man hält sie für Philosophen, die aus rein abstrakten Begriffen eine Welt haben herausspinnen wollen. Das ist ihnen nie­mals eingefallen*. Aber man war eingezwängt in Kantsche Begriffe und deshalb konnte man den größten Philosophen der Welt weder philosophisch noch sachlich begreifen. Sie wissen, es ist derjenige, der im Hause vis-a'-vis, wie aus der Gedenktafel hervorgeht, die Sie sehen können, wenn Sie hier die Straße betreten, seine Jugendzeit verbracht hat:

Hegel. Erst allmählich wird man dazu heranreifen, das zu verstehen, was er der Welt gegeben hat; erst dann wird man ihn begreifen können, wenn man wieder herauskommt aus dem theoretisch gesponnenen, beengenden Erkenntnis-gespinst. Und das wäre so einfach! Man brauchte sich nur zu einem natürlichen, unbefangenen Denken zu bequemen und sich frei zu machen von dem, was in der philosophi­schen

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* Es ist dem Verfasser dieser Abhandlung durchaus nicht unbekannt, daß es neuere philosophische Betrachtungen gibt, die auf Fichte, Schel­ling und Hegel zurückgehend, sich an den Anschauungen dieser Den­ker orientieren möchten. Allein er muß finden, daß in diesen Bestre­bungen gerade das nioht lebt, was für jene Denker das Bedeutsame ist: deren Stellung zu einer geistigen Wirklichkeit, die im Seelenleben er-fahren werden muß. In dem Zurückgehen auf dasjenige, was im abstrakt-logischen Elemente bei diesen Denkern sich ausgelebt hat, wird man, was in ihren Anschauungen wirkte, nicht erreichen.

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Literatur unter dem Einfluß der getrübten Strömun­gen des Kantianismus sich zu Denkgewohnheiten entwik­kelt hat. Man muß sich klar sein über die Frage: Verhält es sich denn wirklich so, daß der Mensch vom Subjekt aus­geht, sich im Subjekt seine Vorstellung baut und diese Vor­stellung dann hinüberspinnt über das Objekt? Ist das wirk­lich so? Ja, es ist so. - Aber folgt daraus notwendigerweise, daß der Mensch niemals in das Ding an sich eindringen kann? Ich will einen einfachen Vergleich machen. Denken Sie sich, Sie haben ein Petschaft, darauf stehe der Name Müller. Nun drücken Sie das Petschaft in ein Siegellack und nehmen es fort. Nicht wahr, darüber sind Sie sich doch klar, daß wenn dies Petschaft, sagen wir, aus Mes­sing besteht, daß nichts von dem Messing in das Siegellack übergehen wird. Wenn nun dies Siegellack erkennend im Kantschen Sinne wäre, so würde es sagen: «Ich bin ganz Lack, nichts kommt vom Messing in mich herein, also gibt es keine Beziehung, durch die ich über die Natur dessen, was mir da entgegentritt, etwas wissen könnte.» Dabei ist ganz vergessen, daß das, worauf es ankommt, nämlich der Name Müller, ganz objektiv als Abdruck im Siegellack drinnen ist, ohne daß vom Messing etwas hinübergegangen ist. So lange man materialistisch denkt und glaubt, daß, um Beziehungen herzustellen, Materie von dem einen zum anderen hinüberfließen müsse, so lange wird man auch theoretisch sagen: «Ich bin Siegellack, und das andere ist Messing an sich, und da von dem nichts hereinkommen kann in mich, kann auch der Name Müller nichts anderes sein als ein Zeichen. Das Ding an sich aber, das im Petschaft drinnen war, das sich mir abgedrückt hat, so daß ich es lesen kann: das bleibt mir ewig unbekannt.»

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Da sehen Sie die Schlußformel, der man sich bedient. Spinnt man in dem Vergleiche weiter, so ergibt sich: «der Mensch ist ganz Siegellack (Vorstellung>, das Ding an sich ist ganz Petschaft (das außerhalb der Vorstellung Befindliche). Weil ich nun als Lack (Vorstellender) nur an die Grenze des Petschafts (das Ding an sich) herankommen kann, so bleibe ich in mir selbst, es kommt nichts vom Ding an sich in mich herüber.» Solange man den Materialismus auf die Er­kenntnistheorie ausdehnen wird, solange wird man nicht herausfinden, worauf es ankommt *. Der Vordersatz gilt: wir kommen nicht über unsere Vorstellung hinaus, aber was herüberkommt vom Wirklichen zu uns, ist als Geistiges zu bezeichnen; das hat nicht nötig, daß materielle Atome herüberfließen. Nichts von einem Materiellen kommt in das Subjekt herein - trotzdem aber kommt das Geistige herüber in das Subjekt, so wahr wie der Name Müller in das Siegellack. Davon muß eine gesunde, erkenntnistheore­tische Forschung ausgehen können, dann wird man sehen, wie sehr sich der neuzeitliche Materialismus unvermerkt selbst in die erkenntnistheoretischen Begriffe eingebürgert

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* Man sieht daraus, daß man den Begriff Materialismus viel weiter fassen muß, als man dies gewöhnlich tut. Wer durch seine Vorstellungs-art dazu gezwungen ist, zu denken, von dem wirklichen «Ding an sich> könne nichts in seiner Seele aufleben, weil dessen Materie nicht in diese hinüberwandern kann, der ist Materialist, auch wenn er glaubt, Idealist zu sein, weil er die Seele gelten läßt. Und Kant war zu seinen Vorstellungen durch seinen versteckten Materialismus verführt. Sieht man diese Dinge im rechten Lichte, so wird allerdings auch die Nich­tigkeit der in der Gegenwart immer wieder auftretenden Versicherung durchschaut : Die Wissenschaft sei heute über den Materialismus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hinausgekommen. Sie ist in ihn deshalb tiefer hineingekommen, weil sie ihre materialistische Vorstellungsart nicht mehr als solche erkennt.

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hat. Es folgt nichts anderes aus einem unbefangenen Betrachten der Sachlage, als daß Kant sich ein «Ding an sich» nur materiell vorstellen konnte, so grotesk eine solche Behauptung sich auch für den ersten Blick ausneh­men mag.

Nun müssen wir allerdings, wenn wir die Sache voll­ständig betrachten wollen, noch etwas anderes skizzieren. Wir haben gesagt, daß Aristoteles darauf hingewiesen hat, daß bei allem, was in unseren Erfahrungskreis tritt, not­wendig unterschieden werden müsse zwischen dem, was Form und was Materie ist. Nun kann man sagen: wir kommen im Erkenntnisprozeß bis zur Form heran in dem Sinne, wie eben dargestellt worden ist. Gibt es aber nun auch eine Möglichkeit, bis zum Materiellen heranzukom­men? Wohl gemerkt: Aristoteles versteht unter dem Mate­riellen nicht nur Stoffliches, sondern die Substanz, das­jenige, was auch als Geistiges der Wirklichkeit zugrunde liegt. Gibt es eine Möglichkeit, nicht nur das, was vom Ding zu uns herüberfließt, zu begreifen, sondern auch in die Dinge hineinzutauchen, sich mit der Materie zu identi­fizieren? Diese Frage ist auch für die Erkenntnistheorie wichtig. Sie kann nur von demjenigen beantwortet werden, der sich in die Natur des Denkens, des reinen Denkens, vertieft hat. Zu diesem Begriff des reinen Denkens muß man sich zuerst aufschwingen. Das reine Denken können wir nach Aristoteles als Aktualität bezeichnen. Es ist reine Form; es ist zunächst, so wie es auftritt, ohne Inhalt in bezug auf die unmittelbaren, einzelnen Dinge in der sinn­lichen Wirklichkeit draußen. Warum? Machen wir uns ein­mal klar, wie der reine Begriff im Gegensatz zur Wahr­nehmung entsteht.

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Man stelle sich vor, daß man sich den Begriff des Kreises bilden will. Das kann man, wenn man zum Beispiel hin­ausfährt aufs Meer, bis man rings um sich herum nur Was­ser sieht; dann hat man sich durch die Wahrnehmung die Vorstellung eines Kreises gebildet. Es gibt aber eine andere Art, zum Begriff des Kreises zu kommen, indem man näm­lich, ohne an die Sinne zu appellieren, sich folgendes sagt:

Ich konstruiere mir im Geiste die Summe aller Orte, welche von einem Punkt gleich weit entfernt sind. Um diese ganz im Innern des Gedankenlebens verlaufende Konstruktion zu bilden, braucht man nicht an Äußerliches zu appellieren; das ist durchaus reines Denken im Sinne des Aristoteles, reine Aktualität.

Nun aber tritt etwas Besonderes hinzu. Diejenigen reinen Gedanken, die so gebildet werden, passen zur Erfahrung. Ohne sie kann man sogar die Erfahrung gar nicht begrei­fen. Man denke einmal, daß Kepler sich durch reine Be­griffskonstruktion ein System ausarbeitet, das zum Beispiel elliptische Bahnen zeigt für die Planeten, wobei die Sonne sich in einem Brennpunkt befindet, und daß dann hinter­her durch das Fernrohr konstatiert wird, die Beobachtung stimme überein mit dem vor der Erfahrung gefaßten reinen Gedankenbilde! Da zeigt es sich für jedes unbefangene Denken, daß was als reines Denken entsteht, für die Reali­tät nicht bedeutungslos ist; - denn es stimmt ja mit der Realität überein. Ein Forscher wie Kepler illustriert durch sein Verfahren, was der Aristotelismus erkenntnistheoretisch begründet hat. Er erfaßt das, was zu den Universalien post rem gehört und findet, wenn er an die Dinge heran­geht, daß diese Universalia Post rem vorher als Universalia ante rem in sie hineingelegt worden ist. Werden nun nicht

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im Sinne einer verkehrten Erkenntnistheorie die Universa­lien zu bloßen subjektiven Vorstellungen gemacht, sondern zeigt es sich, daß man sie objektiv in den Dingen findet, so müssen sie erst (von der Gottheit) in die Form hineingelegt sein, von der Aristoteles annimmt, daß sie der Welt zu­grunde liegt.

So findet man, daß das, was zuerst das Subjektivste ist, was unabhängig von der Erfahrung festgestellt ist, daß gerade das am allerobjektivsten in die Wirklichkeit hinein-führt. Was ist denn der Grund, warum das Subjektive der Vorstellung zuerst nicht in die Welt hinauskommen kann? Der Grund ist, daß es sich an einem «Ding an sich» stößt. Wenn der Mensch einen Kreis konstruiert, da stößt er an kein Ding an sich, da lebt er in der Sache selbst, wenn auch zunächst nur formal.

Nun ist die nächste Frage: kommen wir überhaupt aus einem solchen subjektiven Denken zu irgendeiner Realität, zu einem Bleibenden? Und nun handelt es sich darum, daß ja, wie wir charakterisiert haben, das Subjektive zunächst gerade im Denken konstruiert, formal ist, daß es zunächst für das Objektive wie etwas Hinzugebrachtes aussieht. Gewiß, wir können sagen: im Grunde genommen ist es einem in der Welt befindlichen Kreis oder einer Kugel ganz gleichgültig, ob ich sie denke oder nicht. Mein Gedanke, der zur Wirklichkeit hinzu kommt, ist für die um mich liegende Erfahrungswelt ganz gleichgültig. Diese besteht in sich, unabhängig von meinem Denken. Es kann also sein, daß das Denken zwar für den Menschen eine Objektivität ist, daß es aber die Dinge nichts angehe. Wie kommen wir über diesen scheinbaren Widerspruch hinaus? Wo ist der andere Pol, den wir jetzt ergreifen müssen? Wo gibt es

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innerhalb des reinen Denkens einen Weg, nicht nur die Form zu erzeugen, sondern mit der Form zugleich die Ma­terie? Sobald wir irgend etwas haben, was mit der Form zugleich die Materie erzeugt, dann können wir an einen festen Punkt erkenntnistheoretisch anknüpfen. Wir sind ja überall, zum Beispiel wenn wir einen Kreis konstruieren, in dem besonderen Fall, daß wir sagen müssen: was ich von diesem Kreis behaupte, ist objektiv richtig; - ob es anwendbar ist auf die Dinge, das hängt davon ab, daß, wenn ich den Dingen begegne, sie mir zeigen, ob sie die Gesetze in sich tragen, die ich konstruiert habe. Wenn die Summe aller Formen sich auflöst im reinen Denken, so muß ein Rest bleiben, den Aristoteles Materie nennt, wenn es nicht möglich ist, aus dem reinen Denken selbst zu einer Wirklichkeit zu kommen.

Aristoteles kann hier durch Fichte ergänzt werden. Im Sinne des Aristoteles kann man zunächst zu der Formel kommen: Alles, was um uns herum ist, auch das, was un­sichtbaren Welten angehört, macht es notwendig, daß wir dem Formalen der Wirklichkeit ein Materielles entgegen­setzen. Für Aristoteles ist nun der Gottesbegriff eine reine Aktualität, ein reiner Akt, das heißt, ein solcher Akt, bei dem die Aktualität, also die Formgebung, zugleich die Kraft hat, ihre eigene Wirklichkeit hervorzubringen, nicht etwas zu sein, dem die Materie entgegensteht, sondern etwas, das in ihrer reinen Tätigkeit zugleich selbst die volle Wirklich­keit ist.

Das Abbild dieser reinen Aktualität findet sich nun im Menschen selbst, wenn er aus dem reinen Denken heraus zu dem Begriff des «Ich» kommt. Da ist er im Ich bei etwas, was Fichte als Tathandlung bezeichnet. Er kommt in seinem

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Innern zu etwas, das, indem es in Aktualität lebt, zugleich mit dieser Aktualität seine Materie mit hervor­bringt. Wenn wir das Ich im reinen Gedanken fassen, dann sind wir in einem Zentrum, wo das reine Denken zugleich essentiell sein materielles Wesen hervorbringt. Wenn Sie das Ich im Denken fassen, so ist ein dreifaches Ich vorhan­den: ein reines Ich, das zu den Universalien «ante rem» gehört, ein Ich, in dem Sie drinnen sind, das zu den Uni­versalien «in re» gehört, und ein Ich, das Sie begreifen, das zu den Universalien «Post rem» gehört. Aber noch etwas ganz Besonderes ist hier: für das Ich verhält es sich so, daß, wenn man sich zum wirklichen Erfassen des Ich auf-schwingt, diese drei «Ichs» zusammenfallen. Das Ich lebt in sich, indem es seinen reinen Begriff hervorbringt und im Begriff als Realität leben kann. Für das Ich ist es nicht gleichgültig, was das reine Denken tut, denn das reine Den­ken ist der Schöpfer des Ich. Hier fällt der Begriff des Schöpferischen mit dem Materiellen zusammen, und man braucht nur einzusehen, daß wir in allen anderen Erkennt­nisprozessen zunächst an eine Grenze stoßen, nur beim Ich nicht: dieses umfassen wir in seinem innersten Wesen, in­dem wir es im reinen Denken ergreifen.

So läßt sich erkenntnistheoretisch der Satz fundamen­tieren, «daß auch im reinen Denken ein Punkt erreichbar ist, in dem Realität und Subjektivität sich völlig berühren, wo der Mensch die Realität erlebt». Setzt er da ein und befruchtet er sein Denken so, daß dieses Denken von da aus wiederum aus sich herauskommt, dann ergreift er die Dinge von innen. Es ist also in dem durch einen reinen Denkakt erfaßten und damit zugleich geschaffenen Ich etwas vorhanden, durch das wir die Grenze durchdringen,

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die für alles andere zwischen Form und Materie gesetzt werden muß.

Damit wird eine solche Erkenntnistheorie, die gründlich vorgeht, zu etwas, das auch im reinen Denken den Weg zeigt, in die Realität hinein zu gelangen. Geht man diesen Weg, so wird man schon finden, daß man von da aus in die Anthroposophie hineinkommen muß. Die wenigsten Philosophen haben ein Verständnis für diesen Weg. Sie haben sich in ein selbstgemachtes Begriffsnetz eingesponnen; sie können auch, weil sie den Begriff nur als etwas Abstrak­tes kennen, niemals den einzigen Punkt erfassen, wo er archetypisch schöpferisch ist; sie können dadurch auch nichts finden, durch das sie mit einem «Ding an sich» sich verbinden können.

Um das «Ich» als dasjenige zu erkennen, vermittelst des­sen das Untertauchen der menschlichen Seele in die volle Wirklichkeit durchschaut werden kann, muß man sich sorg­fältig davor bewahren, in dem gewöhnlichen Bewußtsein, das man von diesem «Ich» hat, das wirkliche Ich zu sehen. Wenn man, durch eine solche Verwechslung verführt, wie der Philosoph Descartes sagen wollte: «Ich denke, also bin ich», so würde man von der Wirklichkeit jedesmal dann widerlegt, wenn man schläft. Denn dann ist man, ohne daß man denkt. Das Denken verbürgt nicht die Wirklichkeit des «Ich». Aber ebenso gewiß ist, daß durch nichts anderes das wahre Ich erlebt werden kann als allein durch das reine Denken. Es ragt eben in das reine Denken, und für das gewöhnliche menschliche Bewußtsein nur in dieses, das wirkliche Ich herein. Wer bloß denkt, der kommt nur bis zu dem Gedanken des «Ich»; wer erlebt, was im reinen Den­ken erlebt werden kann, der macht, indem er das «Ich»

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durch das Denken erlebt, ein Wirkliches, das Form und Materie zugleich ist, zum Inhalte seines Bewußtseins. Aber außer diesem «Ich» gibt es zunächst für das gewöhnliche Bewußtsein nichts, was in das Denken Form und Materie zugleich hereinsenkt. Alle anderen Gedanken sind zunächst nicht Bilder einer vollen Wirklichkeit. Doch indem man im reinen Denken das wahre Ich als Erlebnis erfährt, lernt man kennen, was volle Wirklichkeit ist. Und man kann von diesem Erlebnis weiter vordringen zu anderen Gebie­ten der wahren Wirklichkeit.

Dies versucht die Anthroposophie. Sie bleibt nicht bei den Erlebnissen des gewöhnlichen Bewußtseins stehen. Sie strebt nach einer Wirklichkeitsforschung, die mit einem verwandelten Bewußtsein arbeitet. Das gewöhnliche Be­wußtsein schaltet sie mit Ausnahme des im reinen Denken erlebten Ich für die Zwecke ihrer Forschung aus. Und sie setzt an dessen Stelle ein solches Bewußtsein, das sich in seinem vollen Umfange so betätigt, wie das gewöhnliche Bewußtsein dies nur dann zustande bringt, wenn es das Ich im reinen Denken erlebt. Um das so Angestrebte zu erreichen, muß die Seele die Kraft erwerben, sich von aller äußeren Wahrnehmung und von allen Vorstellungen zu­rückzuziehen, die im gewöhnlichen Leben der menschlichen Innenwelt so anvertraut werden, daß sie in der Erinnerung wieder aufleben können. Die meisten Menschen, welche eine Erkenntnis der wahren Wirklichkeit anstreben, stellen in Abrede, daß von der Menschenseele das hier Gekennzeich­nete erreicht werden könne. Ungeprüft stellen sie es in Ab­rede. Denn die Prüfung kann nur dadurch geschehen, daß man innerhalb des Seelenlebens diejenigen inneren Ver­richtungen vornimmt, die zu der angegebenen Umwandlung

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des Bewußtseins führen. (Ich habe ausführlich von diesen inneren Seelenverrichtungen in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höherenWelten?» und in an­deren meiner Bücher gesprochen.) Wer sich dagegen ableh­nend verhält, kann nie in die wahre Wirklichkeit eindrin­gen. - Hier kann nur von dem Prinzipiellen dieser Seelen-verrichtungen gesprochen werden. (Genaues findet man in dem genannten und anderen meiner Bücher.) Die Seelen-kräfte, die im gewöhnlichen Leben und in der gewöhnlichen Wissenschaft in das Wahrnehmen und in ein Vorstellen ein-fließen, das in der Erinnerung wieder aufleben kann, sie können auch auf das Erleben einer übersinnlichen, geistigen Welt gerichtet werden. Man erlebt auf diese Art zunächst seine eigene, übersinnliche Wesenheit. Man durchschaut, warum man im gewöhnlichen Bewußtsein diese übersinn­liche Wesenheit nie erreichen kann. (Immer ausgenommen in dem einen Punkt des wahren Ich, das man aber in seiner Isoliertheit nicht unmittelbar erkennen kann.) Dieses ge­wöhnliche Bewußtsein kommt eben dadurch zustande, daß das Leiblich-Körperhafte des Menschen dessen übersinn­liche Wesenheit gewissermaßen aufsaugt und an deren Stelle wirkt. Die gewöhnliche Wahrnehmung der sinnlichen Welt ist diejenige Tätigkeit des Menschenorganismus, die durch Umwandlung der übersinnlichen Menschenwesenheit in Sinnliches sich vollzieht. Das gewöhnliche Vorstellen entsteht auf eben dieselbe Art. Nur daß die Wahrnehmung im Wechselverhaltnis des Menschenorganismus mit der Außenwelt sich vollzieht das Vorstellen im Innern dieses Organismus selbst ablauft Auf der Einsicht in diese Tat sachen beruht alle wahre Wirklichkeits Erkenntnis Diese Einsicht zu erwerben muß fur den Erkenntnis Suchenden

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innere Seelenarbeit werden. Die Denkgewohnheiten un­serer Zeit verwechseln diese innere Seelenarbeit mit allen möglichen Arten nebelhaft mystischer Dilettantismen. Sie ist in Wahrheit das gerade Gegenteil davon. Sie lebt in der vollsten, inneren Seelenklarheit. Das stren Den­ken ist ihr Vorbild und Ausgangspunkt. Was nicht in solch reiner, innerer Klarheit erlebt wird wie dieses, schließt sie von sich aus. Aber dieses bloße logische Denken verhält sich zu ihr selbst wie das Schattenbild zu dem schattenwer­fenden Gegenstand. Durch sie erkraftet sich das mensch­liche Erkenntnisstreben so, daß es nicht allein abstrakte Gedanken erlebt, sondern von geistiger Wirklichkeit durch-tränkten Inhalt. Eine Erkenntnis lebt in der Seele auf, von der ein nicht umgewandeltes Bewußtsein sich keine Vor­stellung machen kann. Mit irgendeiner Form der visiona­ren oder sonstigen krankhaften Art des Seelenlebens hat diese Steigerung des Bewußtseins nichts zu tun. Denn diese Formen beruhen auf einer Herabstimmung des Seelenlebens unter die Sphäre, in welcher das logisch klare Denken wirkt; die anthroposophische Forschung führt aber über diese Sphäre in das Geisstige hinauf. Bei jenen Formen wirkt stets der körperlich-leibliche Organismus mit; die anthroposophische Forschung erkraftet das Seelenleben so, daß dieses ohne den Organismus im Bereich des Übersinn­lichen sich betätigen kann. - Um solche Erkraftung des Seelenlebens zu erreichen, ist zunächst notwendig, sich zu üben in bildhaftem Denken. Man stellt in das Bewußtsein herein so lebendig-anschauliche Vorstellungen, wie sie sonst nur unter dem Einfluß der äußeren Sinneswahrnehmung entstehen. Dadurch lebt man mit dem Bewußtsein in einer solch regen Tätigkeit, die sonst nur von äußerem Ton oder

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äußerer Farbe oder einer anderen Sinneswahrnehmung her­vorgerufen wird, die jetzt aber durch Aufrufung rein inne­rer Kraftanstrengung vollbracht wird. Diese Tätigkeit ist zügleich ein Denken, aber ein solches, das nicht in abstrak­ten Begriffen die sinnliche Anschauung begleitet, sondern das selbst sich steigert bis zur Anschaulichkeit, die im ge­wöhnlichen Leben nur in Sinnesbildern lebt. - Nicht darauf kommt es an, was man so denkt, sondern darauf, daß man sich einer solchen, von dem gewöhnlichen Bewußtsein nie geübten Tätigkeit bewußt wird. Denn dadurch lernt man sich in dem übersinnlichen Wesen seines Ich erleben, das sich im gewöhnlichen Seelenleben hinter den Offenbarungen des körperlich-leiblichen Organismus verbirgt. Mit dem, was man auf diese Art als ein umgewandeltes Selbstbewußt­sein erworben hat, läßt sich erst die übersinnliche Wirklich­keit wahrnehmen. Um dies zu können, sind noch andere Seelenverrichtungen notwendig, die sich auf Wollen und Fühlen beziehen, während die bisher gemeinten es mit um-gewandelten Wahrnehmungs- und Vorstellungskräften zu tun haben. Wollen und Fühlen beziehen sich im gewöhn­lichen Seelenleben auf Wesen oder Vorgänge, die außerhalb des eigenen Seelenlebens liegen. Um die übersinnliche Wirk­lichkeit in den Erkenntnisbereich zu ziehen, muß die Seele dieselben Betätigungen entfalten, die sonst im Fühlen und Wollen auf Äußeres gehen; diese Betätigungen müssen aber lediglich das eigene, innere Leben ergreifen. Der Mensch muß, um im Übersinnlichen zu forschen, für die Dauer dieser Forschung Wollen und Fühlen ganz von der Außen­welt ablenken und von ihnen nur das ergreifen lassen, was nach den umgewandelten Wahrnehmungs- und Vorstel­lungskräften im Innern der Seele lebt. Man fühlt nur und

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durchsetzt nur mit Willensimpulsen, was man als umge­wandeltes Selbstbewußtsein durch das zu innerer Anschau­lichkeit gesteigerte Denken erlebt. (Das Genauere über diese Umwandlung von Fühlen und Wollen findet man in den oben bezeichneten Büchern.) Dadurch aber geht mit dem Seelenleben eine völlige Umwandlung vor sich. Es er­lebt sich als geistige Eigenwesenheit in einer wirklichen übersinnlich-geistigen Umwelt, wie sich für das gewöhnliche Bewußtsein der Mensch durch seine Sinne und das an diese gebundene Vorstellungsvermögen in einer sinnlich-physi­schen Umwelt erlebt.

Der Mensch strebt eine Erkenntnis der wahrhaftigen Wirklichkeit an. Der erste Schritt für eine ihm mögliche Befriedigung dieses Strebens ist die Einsicht, daß ihm solche Erkenntnis nicht durch Naturbetrachtung und auch nicht durch gewöhnliches, mystisches Innenleben werden kann. Denn zwischen beiden klafft ein Abgrund - wie im Beginne dieser Auseinandersetzungen gezeigt worden ist -, der erst ausgefüllt werden muß. Durch die hier skizzenhaft geschilderte Umwandlung des Bewußtseins wird dieser Ab­grund ausgefüllt. Niemand kann zu der angestrebten Er­kenntnis der wahrhaften Wirklichkeit gelangen, der nicht erkannt hat, daß zu dieser Erkenntnis die gewöhnlichen Erkenntnismittel nicht ausreichen und daß die zu ihr not­wendigen Erkenntnismittel erst ausgebildet werden müs­sen. Der Mensch fühlt, daß mehr in ihm schlummert, als im gewöhnlichen Leben und in der gewöhnlichen Wissen­schaft sein Bewußtsein umfaßt. Er verlangt instinktiv nach einer Erkenntnis, welche für dieses Bewußtsein nicht er­reichbar ist. Er darf nicht davor zurückschrecken, zur Er­langung dieser Erkenntnis die Kräfte, welche im gewöhnlichen

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Bewußtsein auf die sinnliche Welt gerichtet sind, so umzuwandeln, daß sie eine übersinnliche Welt ergreifen können. Bevor man die wahre Wirklichkeit ergreifen kann, muß man erst den Seelenzustand herstellen, der auf die übersinnlicheWelt Bezug haben kann Was für das gewöhn­liche Bewußtsein erreichbar ist hangt von der Menschheits M organisation ab die im Tode zerfallt Deshalb ist es begreiflich, daß die Erkenntnis dieses Bewußtseins von dem Übersinnlichen dem Ewigen in der Menschennatur nichts wissen kann Erst das verwandelte Bewußtsein schaut in diejenige Welt, in welcher der Mensch als übersinnliches Wesen lebt, als ein Wesen, das von dem Zerfall des sinn­lichen Organismus nicht berührt wird.

Das Bekennen zu dem verwandlungsfähigen Bewußtsein und damit zu einer wahren Wirklichkeitsforschung liegt den Denkgewohnheiten der Gegenwart noch fern. Viel-leicht ferner, als zu Kopernikus' Zeit den Menschen das physische Weltsystem dieses Denkers gelegen hat. Aber so wie dieses den Zugang zu den Menschenseelen durch alle Hemmnisse hindurch gefunden hat, so wird ihn auch die anthroposophische Geisteswissenschaft finden. Sie zu ver­stehen, wird auch der Philosophie der Gegenwart schwer, weil diese ihren Ursprung aus einer Vorstellungsart her­leitet, welche die fruchtbaren Keime einer vorurteilslosen Begriffstechnik, die schon im Aristotelismus liegen, nicht zur Entfaltung bringen konnte. Aus diesem Mangel aber entsprang, wie hier gezeigt worden ist, der andere, daß man sich durch künstliche Begriffsgespinste von der wahren Wirklichkeit, die man zu einem unnahbaren «Ding an sich» machte, abschloß. Durch diese ihre Grundrichtung muß die Philosophie der Gegenwart die Anthroposophie ablehnen.

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Denn für ihre Begriffe von Wissenschaftlichkeit kann diese Anthroposophie als nichts anderes denn als Dilettantismus erscheinen. Wer die in Betracht kommenden Dinge durch­schaut, dem wird nicht unbegreiflich, sondern eigentlich selbstverständlich dieser Vorwurf des Dilettantismus er­scheinen. Hier sollte der Quell dieses Vorwurfes dargelegt werden.

Man kann aus dieser Darlegung vielleicht ersehen, was notwendig geschehen muß, bevor die Philosophen dazu kommen werden, einzusehen, daß Anthroposophie nicht Dilettantismus ist. Es ist notwendig, daß die Philosophie mit ihrem Begriffssystem sich zu einem vorurteilsiosen Er­kennen ihrer eigenen Grundlagen hindurcharbeite. Es ver­hält sich, was hier in Betracht kommt, nicht so, daß An­throposophie einer gesunden Philosophie widerspräche, sondern so, daß eine für Wissenschaft geltende neuere Er­kenntnistheorie den tieferen Grundlagen einer wahren Philosophie selbst widerspricht. Diese Erkenntnistheorie wandelt in Irrgängen und muß erst aus diesen herauskom­men, wenn sie Verständnis für anthroposophisches Welt begreifen entwickeln will.

DIE PSYCHOLOGISCHEN GRUNDLAGEN UND DIE ERKENNTNISTHEORETISCHE STELLUNG DER ANTHROPOSOPHIE

#G035-1965-SE111 - Philosophie und Anthroposophie (1904 - 1918)

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DIE PSYCHOLOGISCHEN GRUNDLAGEN UND DIE ERKENNTNISTHEORETISCHE STELLUNG DER ANTHROPOSOPHIE

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Die Aufgabe, welche ich mir in den folgenden Ausführun­gen stellen möchte, soll sein, über den wissenschaftlichen Charakter und Wert einer Geistesströmung zu sprechen, welcher man in weiten Kreisen gegenwärtig noch das Prädi­kat «wissenschaftlich» zu bestreiten geneigt ist. Diese Gei­stesströmung trägt im Hinblick auf mancherlei Versuche, welche in ihrer Art in unserer Zeit unternommen worden sind, den Namen Theosophie (Anthroposophie). Mit die­sem Namen werden in der Geschichte der Philosophie gewisse Geistesrichtungen belegt, welche im Verlauf des menschlichen Kulturlebens von Zeit zu Zeit immer wieder auftauchen, und mit denen sich dasjenige, was hier vorge­bracht werden soll, keineswegs deckt, obwohl es in mancher Beziehung an sie anklingt. Deshalb soll hier nur dasjenige in Betracht kommen, was im Verlaufe der Darstellung als eine besondere Geistesart charakterisiert werden kann, ohne Rücksicht auf Meinungen, welche möglich sind in bezug auf vieles, was man gewohnt ist, als «Theosophie» zu bezeich­nen. - Es wird durch Einhaltung dieses Gesichtspunktes allein möglich sein, in präziser Art zum Ausdruck zu brin­gen, wie sich das Verhältnis der hier gemeinten Geistesrichtung zu den wissenschaftlich-philosophischen Vorstel­lungsarten der Gegenwart ansehen läßt.

Zunächst liegt - das sei rückhaltslos zugestanden - die

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Sache so, daß sich dasjenige, was man «Theosophie» zu nennen gewohnt ist, schon in bezug auf den Erkenntnisbegriff nur schwer zusammenbringen läßt mit allem, was in der Gegenwart als Idee von «Wissenschaft» und «Er­kenntnis» festgestellt zu sein scheint und was für die Kul­tur der Menschheit so reichen Segen gebracht hat und zwei­fellos weiter bringen wird. Die letzten Jahrhunderte haben dahin geführt, als «wissenschaftlich» dasjenige gelten zu lassen, was sich durch Beobachtung, Experiment und deren Bearbeitung durch den menschlichen Intellekt jederzeit für jeden Menschen ohne weiteres nachprüfen läßt. Dabei muß aus den wissenschaftlichen Feststellungen alles das ausge­schlossen werden, was nur innerhalb der subjektiven Er­lebnisse der menschlichen Seele eine Bedeutung hat. Es wird nun kaum geleugnet werden können, daß sich der philoso­phische Erkenntnisbegriff seit langer Zeit der eben charak­terisierten wissenschaftlichen Vorstellungsart anbequemt hat. Man kann das wohl am besten ersehen aus den Unter­suchungen, die in unserer Zeit darüber gepflogen worden sind, was Gegenstand einer möglichen menschlichen Er­kenntnis sein kann, und wovor diese Erkenntnis ihre Gren­zen zu bekennen hat. Es wäre unnötig, wenn ich an dieser Stelle durch einen Abriß der erkenntnistheoretischen Un­tersuchungen in der Gegenwart die eben ausgesprochene Behauptung belegen wollte. Ich möchte nur den Zielpunkt dieser Untersuchungen betonen. Es wird bei ihnen voraus­gesetzt, daß durch das Verhältnis des Menschen zur Außen­welt sich ein festzustellender Begriff von dem Wesen des Erkenntnisprozesses ergibt, und daß sich dann auf Grund dieses Erkenntnisbegriffes der Umfang des wissenschaftlich Erreichbaren charakterisieren läßt. Mögen die einzelnen

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erkenntnistheoretischen Richtungen noch so sehr auseinan­dergehen: wenn man die obige Charakteristik nur weit genug faßt, so wird man in ihr das Gemeinsame der ein­schlägigen philosophischen Richtungen finden können.

Nun ist der Erkenntnisbegriff dessen, was hier mit Anthroposophie gemeint ist, ein solcher, der dem oben charakterisierten zu widersprechen scheint. Erkenntnis wird von ihr als etwas angenommen, was sich nicht unmittelbar aus einer Betrachtung der menschlichen Wesenheit und ihrer Beziehung zur Außenwelt ergibt. Sie glaubt auf Grund sicherer Tatsachen des Seelenlebens behaupten zu dürfen, daß Erkenntnis nichts Fertiges, Abgeschlossenes, sondern etwas Fließendes, Entwicklungsfähiges ist. Sie glaubt hin­weisen zu dürfen darauf, daß es hinter dem Umkreis des normal bewußten Seelenlebens ein anderes gibt, in welches der Mensch eindringen kann. Und es ist notwendig zu be­tonen, daß mit diesem Seelenleben nicht dasjenige gemeint ist, was man gegenwärtig als «Unterbewußtsein» zu bezeichnen gewohnt ist. Dieses «Unterbewußtsein» mag Ge­genstand der wissenschaftlichen Forschung sein; es kann von dem Gesichtspunkte der gebräuchlichen Forschungs­methoden als Objekt untersucht werden. Mit jener Seelenverfassung, von welcher hier gesprochen werden soll, hat es nichts zu tun. Innerhalb dieser lebt der Mensch geradeso bewußt, sich logisch kontrollierend, wie er im Horizonte des gewöhnlichen Bewußtseins lebt. Nur muß diese Seelenverfassung erst durch bestimmte Seelenübungen, Seelenerlebnisse hergestellt werden. Sie kann nicht als ein gege­benes Faktum der menschlichen Wesenheit vorausgesetzt werden. In dieser Seelenverfassung tritt etwas auf, was als eine Fortentwickelung des menschlichen Seelenlebens be­zeichnet

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werden darf, ohne daß bei dieser Fortentwicke­lung die Selbstkontrolle und die anderen Kennzeichen des bewußten Seelenlebens aufhören.

Ich möchte nun zunächst diese Seelenverfassung charak­terisieren und dann zeigen, wie sich das, was durch sie gewonnen wird, hineinstellen kann in die wissenschaft­lichen Erkenntnisbegriffe unserer Zeit. Meine erste Aufgabe soll also sein, zu schildern die Methode der hier gemeinten Geistesrichtung auf Grund möglicher Seelenentwickelung. Es darf genannt werden dieser erste Teil meiner

Darstellung:

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Eine geisteswissenschaflliche Betrachtungsart auf Grund

gewisser psychologisch möglicher Tatsachen

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Was hier charakterisiert wird, soll gelten als Seelenerleb­nisse, die erfahren werden können, wenn gewisse Bedin­gungen in der menschlichen Seele hergestellt werden. Der erkenntnistheoretische Wert dieser Seelenerlebnisse soll erst nach ihrer einfachen Schilderung geprüft werden.

Als «Seelenübung» kann bezeichnet werden, was vorzu­nehmen ist. Der Anfang wird damit gemacht, daß Seeleninhalte, die für gewöhnlich nur in ihrem Wert als Abbilder eines äußeren Wirklichen nach bewertet werden, von einem anderen Gesichtspunkte aus genommen werden. In den Begriffen und Ideen, die sich der Mensch macht, will er zunächst etwas haben, was Abbild oder wenigstens Zeichen eines außerhalb der Begriffe oder Ideen Liegenden sein kann. Der Geistesforscher in dem hier gemeinten Sinne sucht nach Seeleninhalten, die ähnlich sind den Begriffen

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und Ideen des gewöhnlichen Lebens oder der wissenschaft­lichen Forschung; allein er betrachtet diese zunächst nicht in bezug auf ihren Erkenntniswert für ein Objektives, son­dern er läßt sie in der eigenen Seele als wirksame Kräfte leben. Er senkt sie gewissermaßen als geistige Keime in den Mutterboden des seelischen Lebens und wartet in einer vollkommenen Seelenruhe ihre Wirkung auf das Seelenleben ab. Er kann dann beobachten, wie bei wiederholter Anwendung einer solchen Übung in der Tat die Verfassung der Seele sich ändert. Es muß aber ausdrücklich betont wer­den, daß die Wiederholung dasjenige ist, worauf es an­kommt. Denn es handelt sich nicht darum, daß durch den Inhalt von Begriffen im gewöhnlichen Sinne nach Art eines Erkenntnisprozesses sich etwas in der Seele abspielt, sondern es handelt sich um einen realen Prozeß im Seelenleben. In diesem Prozeß wirken Begriffe nicht als Erkenntniselemente, sondern als reale Kräfte; und ihre Wirkung beruht auf dem oft wiederholten Ergriffen werden des Seelen­lebens von denselben Kräften. Und vorzüglich beruht alles darauf, daß die Wirkung in der Seele, welche erzielt wor­den ist durch das Erlebnis mit einem Begriff, als solche immer wieder ergriffen wird von der gleichen Kraft. Daher wird am meisten erzielt durch über längere Zeiträume sich erstreckende Meditationen über denselben Inhalt, die in bestimmten Zeiträumen wiederholt werden. Die Länge einer solchen Meditation kommt dabei wenig in Betracht. Sie kann sehr kurz sein, wenn sie nur bei absoluter Seelenruhe und bei vollkommener Abgeschlossenheit der Seele von allen äußeren Wahrnehmungseindrücken und von aller gewöhnlichen Verstandestätigkeit verläuft. Auf Isolation des Seelenlebens mit dem angedeuteten Inhalte kommt es

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an. Das muß gesagt werden, weil klar sein soll, daß nie­mand durch Vornahme solcher Übungen in seinem gewöhn­lichen Leben gestört zu sein braucht. Die Zeit, welche zu ihnen notwendig ist, hat jeder Mensch in der Regel zur Verfügung. Und die Änderung, welche durch sie im Seelenleben eintritt, bewirkt, wenn sie richtig vollzogen werden, nicht den geringsten Einfluß auf die Bewußtseinskonstitu­tion, welche zum normalen Menschenleben erforderlich ist. (Daß bei der Art, wie der Mensch nun einmal ist, Über­treibungen und Sonderbarkeiten vorkommen, die nach­teilig sind, kann an der Ansicht über das Wesen der Sache nichts ändern.)

Nun sind zu der geschilderten Verrichtung der Seele die meisten Begriffe des Lebens am wenigsten brauchbar. Alle Seeleninhalte, welche im ausgesprochenen Maße auf ein außer ihnen liegendes Objektives sich beziehen, sind für die charakterisierten Übungen von geringer Wirkung. Es kom­men vielmehr besonders solche Vorstellungen in Betracht, welche man als Sinnbilder> Symbole bezeichnen kann. Am fruchtbarsten sind diejenigen, welche sich in lebendiger Art zusammenfassend auf einen mannigfaltigen Inhalt bezie­hen. Man nehme als ein erfahrungsgemäß gutes Beispiel das, was Goethe als seine Idee von der «Urpflanze» be­zeichnet hat. Es darf darauf hingewiesen werden, wie er von dieser «Urpflanze» einmal in Anlehnung an ein Ge­spräch mit Schiller mit wenigen Strichen ein symbolisches Bild gezeichnet hat. Auch hat er gesagt, daß derjenige, welcher dieses Bild in seiner Seele lebendig macht, an ihm etwas habe, aus dem durch gesetzmäßige Modifikationen alle möglichen Formen ersonnen werden können, welche die Möglichkeit des Daseins in sich tragen. Man mag zu­nächst

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über den objektiven Erkenntniswert einer solchen «symbolischen Urpflanze» denken, wie immer: wenn man sie in dem angedeuteten Sinne in der Seele leben läßt, wenn man ihre Wirkung auf das Seelenleben in Ruhe abwartet, dann tritt etwas von dem ein, was man veränderte Seelenverfassung nennen kann. Die Vorstellungen, welche von den Geistesforschern als in dieser Beziehung brauchbare Symbole genannt werden, mögen zuweilen recht sonder­bar erscheinen. Das Sonderbare kann abgestreift werden, wenn man bedenkt, daß solche Vorstellungen nicht nach ihrem Wahrheitswert im gewöhnlichen Sinne genom­men werden dürfen, sondern daraufhin angesehen wer­den sollen, wie sie als reale Kräfte im Seelenleben wirken. Der Geistesforscher legt eben nicht Wert darauf, was die zur Seelenübung verwendeten Bilder bedeuten, sondern was unter ihrem Einflusse in der Seele erlebt wird. Hier können naturgemäß nur einzelne wenige Beispiele wirk­samer symbolischer Vorstellungen gegeben werden. Man denke sich die menschliche Wesenheit im Vorstellungsbilde so, daß die mit der tierischen Organisation verwandte nied­rige Natur des Menschen im Verhältnis zu ihm als Geistes­wesen durch sinnbildliches Zusammensein einer Tiergestalt mit daraufgesetzter höchstidealisierter Menschenform (etwa wie ein Kentaur) erscheint. Je bildhaft lebensvoller, inhalts­gesättigter das Symbol erscheint, um so besser ist es. Dieses Symbol wirkt unter den angeführten Bedingungen so auf die Seele, daß diese nach Verlauf einer - allerdings länge­ren - Zeit die inneren Lebensvorgänge in sich gestärkt, be­weglich, sich gegenseitig erhellend empfindet. Ein altes gut brauchbares Symbol ist der sogenannte «Merkurstab», das heißt, die Vorstellung einer Geraden, um welche spiralig

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eine Kurve läuft. Man muß dann allerdings ein solches Gebilde als ein Kräftesystem sich verbildlichen, etwa so, daß längs der Geraden ein Kräftesystem läuft, dem gesetz­mäßig ein anderes von entsprechend geringerer Geschwin­digkeit in der Spirale entspricht. (Im Konkreten darf in Anlehnung daran vorgestellt werden das Wachstum des Pflanzenstengels und dazu gehörige Sich-Ansetzen der Blätter längs desselben; oder auch das Bild des Elektro-magneten. Im weiteren ergibt sich auf solche Art auch das Bild der menschlichen Entwickelung, die im Leben sich steigernden Fähigkeiten symbolisiert durch die Gerade; die Mannigfaltigkeit der Eindrücke entsprechend dem Lauf der Spirale und so weiter.) - Besonders bedeutungsvoll können mathematische Gebilde werden, insofern in ihnen Sinnbilder von Weltvorgängen gesehen werden. Ein gutes Beispiel ist die sogenannte «Cassinische Kurve» mit ihren drei Gestalten, der ellipsenähnlichen Form der Lemniskate und der aus zwei zusammengehörigen Ästen bestehenden Form. Es kommt in einem solchen Falle darauf an, die Vorstellung so zu erleben, daß dem Übergang der einen Kurvenform in die andere entsprechend mathematischer Gesetzmäßigkeit gewisse Empfindungen in der Seele ent­sprechen.

Zu diesen Übungen kommen dann andere. Sie bestehen auch in Symbolen, jedoch solchen, welche in Worten aus­drückbaren Vorstellungen entsprechen. Man denke sich die Weisheit, welche in der Ordnung der Welterscheinungen lebend und webend vorgestellt wird, durch das Licht sym­bolisiert. Weisheit, die in opfervoller Liebe sich darlebt, denke man von Wärme versinnlicht, die in Gegenwart des Lichtes entsteht. Aus solchen Vorstellungen denke man sich

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Sätze geprägt, die also nur sinnbildlichen Charakter haben. Solchen Sätzen kann sich das Seelenleben in Meditation hingeben. Der Erfolg hängt im wesentlichen von dem Grade ab, welchen der Mensch in bezug auf Seelenruhe und Isolie­rung des Seelenlebens innerhalb der Symbole erreicht. Tritt der Erfolg ein, so besteht er darin, daß sich die Seele wie herausgehoben fühlt aus der körperlichen Organisation. Es tritt für sie etwas ein wie eine Änderung ihrer Seinsemp­findung. Läßt man gelten, daß der Mensch sich im nor­malen Leben so fühlt, daß sein bewußtes Leben sich wie von einer Einheit ausgehend spezifiziert nach den Vorstellun­gen, die von den Wahrnehmungen der einzelnen Sinne her­rühren, so fühlt sich die Seele infolge der Übungen durch­setzt von einem Erleben ihrer selbst, dessen Teile weniger schroffe Übergänge zeigen, wie zum Beispiel Farben- und Tonvorstellungen innerhalb des gewöhnlichen Bewußt­seinshorizontes. Die Seele hat das Erlebnis, daß sie sich in ein Gebiet inneren Seins zurückziehen kann, das sie dem Erfolge der Übungen verdankt und das ein Leeres, ein Unwahrnehmbares war vor der Vornahme der Übungen.

Bevor ein solches inneres Erlebnis erreicht wird, finden mannigfaltige Übergänge in der Seelenverfassung statt. Einer derselben gibt sich kund in einem aufmerksamen - durch Übung zu erlangenden - Verfolgen des Augenblik­kes, in dem der Mensch aus dem Schlafe erwacht. Er kann da deutlich fühlen, wie von einem ihm vorher unbekannten Etwas Kräfte gesetzmäßig in das Gefüge der Körperorga­nisation eingreifen. Er fühlt, wie in einer Erinnerungsvor­stellung, einen Nachklang von Wirkungen, die von diesem Etwas während des Schlafes auf die körperliche Organi­sation ausgegangen sind. Und hat der Mensch sich dann

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noch dazu die Fähigkeit angeeignet, das charakterisierte Etwas innerhalb seiner Körperorganisation zu erleben, so wird ihm der Unterschied klar in dem Verhältnis dieses Etwas zu dem Körper während des Wachens und des Schla­fens. Er kann dann gar nicht anders, als sagen, daß dieses Etwas während des Wachens in dem Körper, während des Schlafens aber außerhalb des Körpers ist. Man muß nur mit diesem «innerhalb» und «außerhalb» nicht gewöhn­liche räumliche Vorstellungen verbinden, sondern durch sie bezeichnen die spezifischen Erlebnisse, welche eine durch die charakterisierten Übungen gegangene Seele hat.

Die Übungen sind intimer seelischer Art. Sie gestalten sich für jeden Menschen in individueller Form. Ist einmal ein Anfang mit ihnen gemacht, so ergibt sich das Indivi­duelle aus einer gewissen, aus dem Verlaufe zu machenden Seelenpraxis. Was sich aber mit zwingender Notwendig­keit herausstellt, ist das positive Bewußtsein von einem Leben in einer Realität, die gegenüber der äußeren Körper-Organisation selbständig und von übersinnlicher Art ist. Der Einfachheit wegen sei ein Mensch, der die charakterisier­ten Seelenerlebnisse sucht, ein «Geistesforscher» genannt. Für einen solchen Geistesforscher liegt das bestimmte, ge­nauer Selbstkontrolle unterstellte Bewußtsein vor, daß der sinnlich wahrnehmbaren Körperorganisation eine über­sinnliche zum Grunde liegt, und daß es möglich ist, sich selbst innerhalb derselben so zu erleben, wie das normale Bewußtsein sich erlebt innerhalb der physischen Körper-­Organisation. (Es ist hier nur möglich, die gemeinten Übun­gen im Prinzip anzudeuten. Eine ausführliche Darstellung findet man in meinem Buche «Wie erlangt man Erkennt­nisse der höheren Welten?».)

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Durch entsprechendes Fortsetzen der Übungen geht das charakterisierte Etwas in einen gewissermaßen geistig orga­nisierten Zustand über. Das Bewußtsein wird sich klar dar­über, daß es in ähnlicher Art in Beziehungen steht zu einer übersinnnlichen Welt, wie es durch die Sinne in Erkennt­nis-Beziehung steht zur Sinnenwelt. Es ist ganz selbstver­ständlich, daß gegenüber der Behauptung einer solchen Er­kenntnis-Beziehung des übersinnlichen Teiles der mensch­lichen Wesenheit zur Umwelt gewichtige Bedenken ganz naheliegend sind. Man kann geneigt sein, alles, was so er­lebt wird, in das Gebiet der Illusion, der Halluzination, der Autosuggestion und so weiter zu verweisen. Eine theo­retische Widerlegung solcher Bedenken muß im Grunde naturgemäß unmöglich sein. Denn es kann sich hierbei nicht um eine theoretische Auseinandersetzung über den Bestand einer übersinnlichen Welt handeln, sondern nur um mög­liche Erlebnisse und Beobachtungen, die sich in genau der gleichen Art dem Bewußtsein ergeben wie die Beobachtun­gen, welche durch die äußeren Sinnesorgane vermittelt werden. Daher kann für die entsprechende übersinnliche Welt keine andere Art der Anerkennung erzwungen wer­den, wie diejenige ist, welche der Mensch der Farben-, der Tonwelt und so weiter entgegenbringt. Berücksichtigt muß nur werden, daß dann, wenn die Übungen in der rechten Art, vor allem mit nie erlahmender Selbstkontrolle ge­macht werden, in der unmittelbaren Erfahrung sich der Unterschied des vorgestellten Übersinnlichen von dem wahrgenommenen mit der gleichen Sicherheit für den Gei­stesforscher ergibt, wie sich in bezug auf die Sinneswelt der Unterschied ergibt zwischen einem vorgestellten Stücke heißen Eisens und einem wirklich berührten. Gerade im

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Hinblick auf den Unterschied zwischen Halluzination, Illu­sion und übersinnlicher Wirklichkeit eignet sich der Geistesforscher durch seine Übungen eine immer untrüglicher wer­dende Praxis an. Naturgernäß ist aber auch, daß der be­sonnene Geistesforscher im eminentesten Sinne kritisch sein muß gegenüber den einzelnen von ihm gemachten über­sinnlichen Beobachtungen. Und er wird eigentlich niemals in bezug auf positive Ergebnisse der übersinnlichen For­schung anders sprechen als mit dem Vorbehalt: dies oder jenes ist beobachtet worden; und die dabei geübte kritische Vorsicht berechtigt zu der Annahme, daß jeder, welcher sich durch entsprechende Übungen in Verhältnis bringen kann zu der übersinnlichen Welt, dieselben Beobachtungen machen wird. Differenzen in den Angaben der einzelnen Geistesforscher können eigentlich nicht in einem anderen Licht gesehen werden, als die voneinander differierenden Angaben verschiedener Reisenden, welche dieselbe Gegend besucht haben und beschreiben.

In meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» habe ich im Einklange mit den Ge­wohnheiten derjenigen, welche sich auf demselben Felde als Geistesforscher betätigt haben, diejenige Welt, welche auf die beschriebene Art im Bewußtseinshorizonte auf­taucht, die «imaginative Welt» genannt. Es muß nur von diesem rein als technischer Ausdruck gebrauchten Worte alles ferngehalten werden, was etwa auf eine bloß «ein­gebildete» Welt deuten könnte. «Imaginativ» soll nur auf die qualitative Beschaffenheit des Seeleninhaltes deuten. Dieser Seeleninhalt ist seiner Form nach ähnlich den «Ima­ginationen» des gewöhnlichen Bewußtseins, nur daß sich innerhalb der physischen Welt eine Imagination nicht un­mittelbar

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auf ein Wirkliches bezieht, während die Imagina­tionen des Geistesforschers ebenso eindeutig einem Übersinnlich-Wirklichen zuzuteilen sind, wie zum Beispiel in der physischen Welt eine Farbenvorstellung eindeutig einem Objekiv-Wirklichen zugeteilt wird.

Mit der «imaginativen Welt» und ihrer Erkenntnis ist für den Geistesforscher aber nur der erste Schritt gemacht. Und es ist durch sie kaum mehr von der übersinnlichen Welt zu erfahren als deren Außenseite. Ein weiterer Schritt ist notwendig. Er besteht in einer noch weitergehenden Vertiefung des Seelenlebens, als sie für den ersten Schritt in Betracht gezogen worden ist. Der Geistesforscher muß sich fähig machen durch scharfes Konzentrieren auf das­jenige Seelenleben, das sich in ihm durch die Symbole er­gibt, den Inhalt der Symbole aus seinem Bewußtsein voll­ständig zu entfernen. Was er dann noch innerhalb des Be­wußtseins festzuhalten hat, ist nur der Vorgang, dem sein Seelenleben unterworfen war, während er sich an die Sym­bole hingegeben hat. In einer Art realer Abstraktion muß der Inhalt des Symbol-Vorstellens abgeworfen werden, und nur die Form des Erlebens an den Symbolen im Be­wußtsein vorhanden bleiben. Damit wird der unreale, bloß für eine Übergangsstufe der Seelenentwickelung bedeu­tungsvolle sinnbildliche Charakter des Vorstellens entfernt, und das Bewußtsein macht das innere Weben des Seelen­inhaltes zum Gegenstande der Meditation. Was man von einem solchen Vorgang beschreiben kann, verhält sich zu dem realen Seelenerlebnis in der Tat wie ein schwacher Schatten zu dem schattenwerfenden Gegenstand. Was in der Beschreibung einfach erscheint, erhält seine bedeutungs­volle Wirkung durch die aufgewendete psychische Energie.

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Das auf solche Art erlangte Weben in dem Seeleninhalte kann reale Selbstanschauung genannt werden. Es lernt sich dabei das menschliche Innere kennen, nicht bloß durch Re­flexion auf sich selbst als den Träger der Sinneseindrücke und des gedanklichen Verarbeiters dieser Sinneseindrücke, sondern es lernt sich das Selbst kennen, wie es ist, ohne Beziehung auf einen sinnenfälligen Inhalt; es erlebt sich in sich selber als übersinnliche Realität. Es ist dieses Erleben nicht so, wie dasjenige des Ich, wenn in der gewöhnlichen Selbstbeobachtung die Aufmerksamkeit von dem Erkann­ten der Umwelt abgezogen und auf das erkennende Selbst reflektiert wird. In diesem Falle schrumpft gewissermaßen der Inhalt des Bewußtseins immer mehr zu dem Punkte des «Ich» zusammen. Dies ist bei der realen Selbstanschau­ung des Geistesforschers nicht der Fall. Bei ihr wird der Seeleninhalt im Verlaufe der Übungen immer reicher. Und er besteht in einem Leben in gesetzmäßigen Zusammenhän­gen, und das Selbst fühlt sich nicht wie bei den Naturgeset­zen, welche aus den Erscheinungen der Umwelt abstrahiert werden, außerhalb des Gewebes von Gesetzen; sondern es empfindet sich innerhalb dieses Gewebes; es erlebt sich als Eins mit demselben.

Die Gefahr, welche in diesem Stadium der Übungen sich ergeben kann, liegt darin, daß beim Mangel an wahrer Selbstkontrolle der Übende zu früh das rechte Ergebnis er­langt zu haben glaubt und dann nur den Nachklang der symbolischen Vorstellungen wie ein inneres Leben emp­findet. Ein solches ist selbstverständlich wertlos und darf nicht mit dem inneren Leben verwechselt werden, das im rechten Augenblick eintritt, und das wirklicher Besonnen­heit dadurch sich zu erkennen gibt, daß es, obgleich es volle

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Realität zeigt, doch keiner vorher gekannten Realität gleichkommt.

Für ein so erlangtes inneres Leben ist nun eine übersinn­liche Erkenntnis möglich, welche einen höheren Grad von Sicherheit in sich trägt als das bloße imaginative Erkennen. Es stellt sich auf diesem Punkte der Seelenentwickelung das Folgende ein. Es erfüllt sich nach und nach das innere Erleben mit einem Inhalt, der in die Seele von außen kommt, in ähnlicher Art wie der Inhalt der sinnlichen Wahrnehmung aus der physischen Außenwelt durch die Sinne. Nur ist die Erfüllung mit übersinnlichem Inhalt ein unmittelbares Leben in diesem Inhalt. Will man einen Ver­gleich mit einer Tatsache des gewöhnlichen Lebens gebrau­chen, so kann man sagen: das Zusammengehen des Ich mit einem geistigen Inhalt wird nunmehr so erfahren, wie das Zusammengehen des Ich mit einer im Gedächtnisse be­wahrten Erinnerungsvorstellung. Nur liegt der Unterschied vor, daß sich der Inhalt dessen, womit man zusammengeht, in nichts vergleichen läßt mit einem vorher Erlebten, und daß er nicht auf ein Vergangenes, sondern nur auf ein Gegenwärtiges bezogen werden kann. Wenn bei dem Worte an nichts gedacht wird als an das hier Charakterisierte, dann darf man wohl eine so geartete Erkenntnis eine solche «durch Inspiration» nennen. So habe ich den Ausdruck als terminus technicus in meinem Buche «Wie erlangt man Er­kenntnisse der höheren Welten?» gebraucht.

Es tritt nun bei dieser «Erkenntnis durch Inspiration» ein neues Erlebnis auf. Die Art, wie man sich des Seelen­inhaltes bewußt wird, ist nämlich eine ganz subjektive. Zunächst erweist sich der Inhalt gar nicht als objektiv. Man weiß ihn als einen erlebten; aber man fühlt sich ihm nicht

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gegenübergestellt. Das Letztere tritt erst ein, wenn man ihn durch Seelenenergie gewissermaßen in sich selbst ver­dichtet. Dadurch wird er erst zu dem, was man objektiv anschauen kann. In diesem Prozesse der Psyche wird man aber gewahr, daß zwischen der physischen Leibesorganisa­tion und jenem Etwas, das man durch die Übungen von dieser abgetrennt hat, noch etwas dazwischenliegt. Will man Namen für diese Dinge haben, so kann man, wenn man mit diesen Namen nicht allerlei Phantastisches ver­knüpft, sondern lediglich das mit ihnen belegt, was hier charakterisiert ist, diejenigen gebrauchen, welche in der sogenannten «Theosophie» üblich geworden sind. Es wird da jenes Etwas, in dem das Selbst als in einem von der Körper-Organisation unabhängigen lebt, der Astralleib ge­nannt; und dasjenige, was zwischen diesem Astralleib und dem physischen Organismus sich ergibt, wird Ätherleib genannt. (Wobei natürlich nicht an den «Äther» der mo­dernen Physik zu denken ist.)

Aus dem Ätherleib stammen nun die Kräfte, durch welche das Selbst in die Lage kommt, den subjektiven Inhalt der inspirierten Erkenntnis zur objektiven Anschauung zu machen. Mit welchem Rechte, so kann mit gutem Grunde gefragt werden, kommt nun der Geistesforscher dazu, diese Anschauung auf eine übersinnliche geistige Welt zu bezie­hen und sie nicht bloß für ein Erzeugnis seines Selbst zu halten? - Er hätte dazu kein Recht, wenn ihn nicht der Ätherleib, den er bei seinem physischen Prozeß erlebt, in seiner inneren Gesetzlichkeit mit objektiver Notwendig­keit dazu zwänge. Dies ist aber der Fall. Denn der Ätherleib wird erlebt als ein Zusammenfluß der allumfassenden Gesetzmäßigkeit des Makrokosmos. Wieviel von dieser

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Gesetzmäßigkeit dem Geistesforscher zum wirklichen Be­wußtseinsinhalt wird, darauf kommt es dabei nicht an. Es liegt das Eigentümliche darin, daß in unmittelbarem Wis­sen klar ist: der Ätherleib ist nichts anderes als ein zusam­mengedrängtes, die Weltgesetzlichkeit in sich spiegelndes Bild der kosmischen Gesetzmäßigkeit. Das Wissen von dem Ätherleib erstreckt sich zunächst für den Geistesforscher nicht darauf, welchen Inhalt dieses Gebilde aus der Summe der allgemeinen Weltgesetzlichkeit spiegelt, sondern dar­auf, was dieser Inhalt ist.

Die berechtigten Bedenken, welche das gewöhnliche Be­wußtsein gegen die Geistesforschung zunächst erheben muß, sind außer vielem andern noch die folgenden. Man kann sich die Ergebnisse dieser Forschung ansehen (wie sie in der gegenwärtigen Literatur vorliegen) und kann sagen: Ja, was ihr da beschreibt als Inhalt der übersinnlichen Erkennt­nis, erweist sich doch bei näherem Zusehen als nichts anderes denn als Kombinationen der gewöhnlichen aus der Sinnenwelt gekommenen Vorstellungen. - Und so ist es in der Tat. (Auch in den Darstellungen der höheren Welten, welche ich selbst in meiner «Theosophie» und in meiner «Geheimwissenschaft» geben durfte, findet man, wie es scheint, nichts als Kombinationen der aus der Sinnenwelt genommenen Vorstellungen. So wenn die Entwickelung der Erde durch Kombinationen von Wärme-, Licht- und so weiter Entitäten dargestellt wird.) - Dagegen aber muß folgendes gesagt werden. Wenn der Geistesforscher seine Erlebnisse zum Ausdruck bringen will, so ist er genötigt, das in einer übersinnlichen Sphäre Erlebte durch die Mittel des sinnlichen Vorstellens darzustellen. Sein Erle­ben ist dann nicht aufzufassen, wie wenn es gleich wäre

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seinen Ausdrucksmitteln, sondern so, daß er sich dieser Ausdrucksmittel nur bedient wie der Worte einer ihm not­wendigen Sprache. Man muß den Inhalt seines Erlebens nicht in den Ausdrucksmitteln, das heißt, in den versinnlichenden Vorstellungen suchen, sondern in der Art, wie er sich dieser Ausdrucksmittel bedient. Der Unterschied seiner Darstellung von einem phantastischen Kombinieren sinn­licher Vorstellungen liegt in der Tat nur darin, daß phanta­stisches Kombinieren der subjektiven Willkür entspringt, die Darstellung des Geistesforschers aber auf dem durch Übung erlangten Einleben in die übersinnliche Gesetzmäßigkeit beruht. Hier aber ist auch der Grund zu suchen, warum die Darstellungen des Geistesforschers so leicht miß­verstanden werden können. Es kommt nämlich bei ihm wirklich weniger darauf an, was er sagt, sondern wie er spricht. In dem «Wie» liegt der Abglanz seiner übersinn­lichen Erlebnisse. Wenn jemand den Einwand machte: dann habe ja doch dasjenige, was der Geistesforscher sagt, gar keinen unmittelbaren Bezug auf die gewöhnliche Welt, so muß geltend gemacht werden, daß die Art der Darstellung in der Tat für praktische Erklärungsbedürfnisse der Sinnen weit aus einer übersinnlichen Sphäre heraus genügt und bei einem wirklichen Eingehen auf die Feststellungen des Geistesforschers das Verständnis des sinnenfälligen Weltverlaufes gefördert wird.

Ein anderer Einwand kann sich erheben. Man kann sagen: Was haben die Behauptungen des Geistesforschers mit dem Inhalt des gewöhnlichen Bewußtseins zu tun. Dieses könne sie ja doch nicht kontrollieren. - Eben dieses letztere ist im Prinzip unrichtig. Zum Forschen in der über­sinnlichen Welt, zum Aufsuchen von deren Tatsachen ist

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die Seelenverfassung notwendig, welche nur durch die charakterisierten Übungen erlangt werden kann. Nicht aber zur Kontrolle. Dazu genügt, wenn der Geistesforscher seine Erlebnisse mitgeteilt hat, die gewöhnliche unbefangene Logik. Diese letztere wird im Prinzip immer entscheiden können: wenn das wahr ist, was der Geistesforscher sagt, dann ist der Welt- und Lebensverlauf, so wie diese sich sinnenfällig abspielen, verständlich. Als was man die Erleb­nisse des Geistesforschers zunächst ansieht, darauf kommt es nicht an. Man kann in ihnen Hypothesen, regulative Prinzipien (im Sinne der Kantschen Philosophie) sehen. Man wende sie nur an auf die sinnenfällige Welt, und man wird schon sehen, wie diese in ihrem Verlaufe alles bestä­tigt, was vom Geistesforscher behauptet wird. (Dies gilt natürlich nicht anders als im Prinzip; im einzelnen können selbstverständlich die Behauptungen der sogenannten Gei­stesforscher die größten Irrtümer enthalten.)

Ein weiteres Erlebnis des Geistesforschers kann sich nur ergeben, wenn die Übungen noch fortgesetzt werden. Diese Fortsetzung muß darin bestehen, daß der Geistesforscher nach erlangter Selbstanschauung diese durch energische Wil­lenskraft zu unterdrücken vermag. Er muß die Seele frei machen können von allem, was noch unter der Nachwir­kung seiner an die sinnliche Außenwelt sich anlehnenden Übungen erlangt worden ist. Die Symbol-Vorstellungen sind kombiniert aus sinnlichen Vorstellungen; das Weben des Selbst in sich bei erlangter inspirierter Erkenntnis ist zwar frei von dem Inhalt der Symbole; aber es ist doch eine Wirkung der Übungen, welche unter ihrem Einfluß angestellt worden sind. Wenn so die inspirierte Erkenntnis auch schon ein unmittelbares Verhältnis des Selbst zur übersinnlichen

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Welt herstellt, so kann das reine Anschauen dieses Verhältnisses doch noch weiter getrieben werden. Das geschieht durch energisches Unterdrücken der erlang­ten Selbstschau. Das Selbst wird nach dieser Unterdrük­kung entweder dem Leeren gegenüber sich finden. In diesem Falle müssen die Übungen fortgesetzt werden. Oder aber es wird sich dem Wesenhaften der übersinnlichen Welt noch unmittelbarer gegenübergestellt finden als bei der inspirier­ten Erkenntnis. Bei dieser erscheint nur das Verhältnis einer übersinnlichen Welt zum Selbst; bei der hier charakterisier­ten Erkenntnisart ist das Selbst vollständig ausgeschaltet. Will man einen dem gewöhnlichen Bewußtsein angepaßten Ausdruck haben für diese Seelenverfassung, dann kann man sagen: das Bewußtsein erlebe sich nunmehr als Schau­platz, auf dem ein wesenhafter übersinnlicher Inhalt nicht vorgestellt wird, sondern sich selbst vorstellt. (Ich habe diese Erkenntnisart in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» das «intuitive Erken­nen» genannt, wobei abgesehen werden muß von dem gewöhnlichen Begriff «Intuition», der jedes unmittelbare gefühlsmäßige Erleben eines Bewußtseinsinhaltes bezeich­nen will.)

Durch intuitive Erkenntnis wandelt sich für die unmit­telbare Seelen-Innen-Beobachtung das ganze Verhältnis um, in dem sich der Mensch als «Seele» zu seiner Leibesorganisation empfindet. Es tritt gewissermaßen vor das geistige Anschauungsvermögen der Ätherleib als ein in sich differenzierter übersinnlicher Organismus. Und man er­kennt seine differenzierten Glieder als zugeordnet den Glie­dern der physischen Leibesorganisation in einer bestimmten Weise. Man empfindet den Ätherleib als das Primäre und

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den physischen Leib als dessen Abbild, als ein Sekundäres. Der Horizont des Bewußtseins erscheint bestimmt durch das gesetzmäßige Wirken des Ätherleibes. Die Zusammenordnung der Erscheinungen auf diesem Horizont ergibt sich als die Wirkung der differenzierten Glieder des Ätherleibes nach einer Einheit hin. Es liegt dem Ätherleib die allumfas­sende kosmische Gesetzmäßigkeit zu Grunde; der Verein­heitlichung seines Wirkens liegt die Tendenz zu Grunde, sich auf etwas wie auf einen Mittelpunkt zu beziehen. Und das Bild dieser Einheitstendenz ist der physische Leib. So erweist sich der letztere als Ausdruck des Welt-Ich, wie sich der Ätherleib als Ausdruck der makrokosmischen Ge­setzmäßigkeit erweist.

Deutlicher wird das hier Dargestellte werden, wenn von einer besonderen Tatsache des Seelen-Innenlebens gespro­chen wird. Es soll in bezug auf das Gedächtnis geschehen. Der Geistesforscher erlebt durch die Ablösung des Selbst von der Leibesorganisation die Erinnerung anders als das gewöhnliche Bewußtsein. Für ihn legt sich die Erinnerung, die sonst ein ziemlich undifferenzierter Vorgang ist, in Teil-Fakten auseinander. Zunächst empfindet er den Zug nach einem Erlebnis, das erinnert werden soll, wie die Hinlen­kung der Aufmerksamkeit nach einer bestimmten Richtung. Das Erlebnis ist dabei wirklich analog dem räumlichen Hinsehen auf einen fernen Gegenstand, den man erst an­gesehen hat, von dem man dann wegsieht, und sich wieder hinwendet. Das Wesentliche dabei ist, daß das zur Erinne­rung drängende Erlebnis als etwas empfunden wird, was im Zeithorizonte entfernt stehengeblieben ist, und was nicht etwa bloß aus den Tiefen des seelischen Unterlebens heraufgeholt wird. Dieses Hinwenden zu dem in die Erinnerung

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drängenden Erlebnis ist erst ein bloß subjektiver Vorgang. Wenn nun die Erinnerung wirklich eintritt, dann fühlt der Geistesforscher, daß es der Widerstand des physi­schen Leibes ist, der wie eine spiegelnde Fläche wirkt, und der das Erlebte in die objektive Vorstellungswelt erhebt. Somit fühlt der Geistesforscher beim Erinnerungsvorgang zunächst ein Geschehen, das (subjektiv wahrnehmbar) in­nerhalb des Ätherleibes verläuft und das zu seiner Erinne­rung wird durch die Spiegelung am physischen Leib. Das erste Faktum des Erinnerns würde nun nur zusammenhang­lose Erlebnisse des Selbstes geben; daß jede Erinnerung sich spiegelt durch das Versenktwerden in das Leben des physi­schen Leibes: dadurch wird sie zu einem Teile der Ich-Erlebnisse.

Es ist aus alledem ersichtlich, daß der Geistesforscher in seinem inneren Erleben dazu kommt anzuerkennen, wie dem sinnenfälligen Menschen ein übersinnlicher zu Grunde liegt. Er sucht ein Bewußtsein dieses übersinnlichen Men­schen nicht durch Schlußfolgerungen und Spekulationen auf Grundlage der unmittelbar gegebenen Welt zu erlangen; sondern dadurch, daß er die Seelenverfassung so umwan­delt, daß sie sich aus der Wahrnehmung des Sinnfälligen zum realen Miterleben des Übersinnlichen heraushebt. Da­durch kommt er zur Anerkenntnis eines Seeleninhaltes, der reicher, inhaltvoller sich erweist als der des gewöhnlichen Bewußtseins. Wozu dieser Weg dann weiter führt, das kann hier allerdings nur angedeutet werden, da eine ausführliche Darstellung ein umfassendes Werk in Anspruch nehmen würde. Das Innere der Seele wird dem Geistesforscher zum Produzenten, zum Bildner dessen, was das einzelne Men­schenleben der physischen Welt ausmacht. Und dieser Produzent

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erweist sich so, daß er in seinem Leben real einver­woben hat die Kräfte nicht des einen Lebens, sondern vieler Leben. Das, was als Reinkarnation, Wiederholung des Erdenlebens, gelten kann, wird zu einer wirklichen Be­obachtung. Denn die Erfahrung über den inneren Kern des Menschenlebens zeigt gewissermaßen die Einschachtelung sich aufeinander beziehender Menschenpersönlichkeiten. Und diese können nur im Verhältnis des Vorher und Nach­her empfunden werden. Denn es erweist sich immer eine folgende als das Ergebnis einer anderen. Es ist in dem Ver­hältnis der einen zur anderen Persönlichkeit auch nichts von Kontinuität; es ist vielmehr ein solches Verhältnis, das sich in aufeinanderfolgenden Erdenleben ausdrückt, die durch Zwischenzeiten eines rein geistigen Daseins getrennt sind. Die Zeiten, in welchen der geistige Wesenskern des Men­schen in physischer Leibesorganisation verkörpert war, unterscheiden sich für die Seelen-Innen-Beobachtung von denjenigen der übersinnlichen Existenz dadurch, daß für die ersteren das Erleben des Seeleninhaltes wie auf den Hintergrund des physischen Lebens projiziert erscheint, für die letzteren aber eingetaucht in ein ins Unbestimmte verlaufendes Übersinnliches. Es sollte hier in bezug auf die so­genannte Reinkarnation nichts weiter gegeben werden als eine Art Ausblick in eine Perspektive, die sich aus den vor­hergehenden Betrachtungen eröffnet. Wer die Möglichkeit zugibt, daß das menschliche Selbst sich einleben kann in den übersinnlich anschaulichen Wesenskern, der wird es auch nicht mehr unverständlich finden können, daß beim wei­teren Einblick in diesen Wesenskern sich dessen Inhalt differenziert zeigt, und daß sich durch diese Differenzie­rung der geistige Anblick einer in die Vergangenheit laufenden

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Reihe von Existenzformen ergibt. Daß diese Exi­stenzformen in sich selbst ihre Zeitdaten tragen, kann durch die Analogie mit dem gewöhnlichen Gedächtnis begreiflich erscheinen. Ein in der Erinnerung auftretendes Erlebnis trägt ja auch in seinem Inhalte sein Zeitdatum. Die wirk­liche, von strenger Selbstkontrolle gestützte «Rückerinne­rung» an vergangene Existenzformen ist allerdings noch weit abgelegen von jener Schulung des Geistesforschers, die vorher beschrieben worden ist, und es türmen sich große Schwierigkeiten des inneren Seelenlebens auf, bevor sie ein­wandfrei erreicht wird. Trotzdem liegt sie in der geraden Fortsetzung des beschriebenen Erkenntnisweges. Ich wollte hier zunächst Erfahrungstatsachen der Seelen-Innen-Beob­achtung gewissermaßen registrieren. Deshalb habe ich auch die Reinkarnation nur als eine solche beschrieben. Man kann dieselbe aber auch theoretisch belegen. Dies habe ich in meiner «Theosophie» in dem Kapitel «Karma und Re­inkarnation» getan. Da versuchte ich zu zeigen, wie gewisse Ergebnisse der neueren Naturwissenschaft «zu Ende ge­dacht» zu der Annahme der Reinkarnationsidee für den Menschen führen.

Für die Betrachtung der Gesamtnatur des Menschen er­gibt sich aus dem Vorhergehenden, daß seine Wesenheit verständlich werden kann, wenn man dieselbe als das Er­gebnis des Zusammenwirkens von vier Gliedern ansieht:

1. der physischen Leibesorganisation; 2. des Ätherleibes;

3. des Astralleibes und 4. des in dem letzteren sich ausbil­denden, durch Beziehung des Wesenskernes auf die physi­sche Organisation zur Erscheinung kommenden «Ich». Auf die weiteren Gliederungen dieser vier Lebensäußerungen des Gesamtmenschen kann im Raume eines Vortrages nicht

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eingegangen werden. Hier sollte nur die Grundlage der Geistesforschung aufgezeigt werden; weiteres habe ich aus­zuführen versucht: erstens methodisch in der Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» und zwei­tens systematisch in meiner «Theosophie» und meiner «Ge­heimwissenschaft im Umriß».

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Die Erlebnisse des Geistesforschers und die

Erkenntnistheorie

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Die hier gemachten Ausführungen werden erkennen lassen, daß der im rechten Sinne verstandenen Anthroposophie ein in sich streng zu systematisierender Entwickelungsweg der menschlichen Seele zu Grunde liegt und daß es ein Irr­tum wäre zu glauben, daß in der Seelenverfassung des Geistesforschers etwas von dem lebt, was man im gewöhn­lichen Leben als Enthusiasmus, Ekstase, Verzückung, Vi­sion und so weiter bezeichnet. Gerade durch die Verwechse­lung der hier charakterisierten Seelenverfassung mit solchen Zuständen müssen die Mißverständnisse entstehen, welche der wahren Anthroposophie entgegengebracht werden kön­nen. Erstens wird durch diese Verwechselung der Glaube erweckt, als ob in der Seele des Geistesforschers ein Ent­rücktsein von der Selbstkontrolle des Bewußtseins vorhan­den wäre, eine Art Streben nach unmittelbarer, instinktiver Schauung. Es ist aber das Gegenteil der Fall. Und von der gewöhnlich so genannten Ekstase, Vision, von allem land­läufigen Sehertum entfernt sich die Seelenverfassung des Geistesforschers noch mehr als das gewöhnliche Bewußt­sein. Selbst solche Seelenverfassungen, wie sie zum Beispiel

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Shaflesbury im Auge hat, sind nebulose Innenwelten ne­ben dem, was durch die Übungen des echten Geistesfor­schers angestrebt wird. Shaftesbury findet, daß durch «kal­ten Verstand» ohne Entrücktsein des Gemütes zu tieferen Erkenntnissen kein Weg führt. Die wahre Geistesforschung nimmt den ganzen inneren Seelenapparat von Logik und Selbstbesonnenheit mit, wenn sie das Bewußtsein aus der sinnlichen in eine übersinnliche Sphäre zu verlegen sucht. Deshalb kann gegen sie auch nicht vorgebracht werden, daß sie das rationelle Element der Erkenntnis unberücksichtigt lasse. Sie kann allerdings ihren Inhalt nicht nach der Wahr­nehmung in Begriffen denkerisch bearbeiten, weil sie das rationelle Element bei ihrem Hinausgehen aus der Sinnenwelt stets mitnimmt und es wie ein Skelett der übersinn­lichen Erfahrung in aller übersinnlichen Wahrnehmung als einen integrierenden Bestandteil stets beibehält.

Es ist naturgemäß hier unmöglich, die Geistesforschung in Beziehung zu setzen zu den verschiedenen erkenntnistheoretischen Richtungen der Gegenwart. Es soll deshalb - gleichsam probeweise - versucht werden, mit einigen - mehr aphoristischen - Bemerkungen auf die erkenntnistheoretische Auffassung und deren Bezug zur Geistesforschung hinzuweisen, welche gegenüber dieser letzteren die größten Schwierigkeiten empfinden muß. Es ist vielleicht nicht un­bescheiden, darauf hinzuweisen, daß man eine vollständige Grundlage für die Auseinandersetzung zwischen Philo­sophie und Anthroposophie aus meinen Schriften gewin­nen kann: «Wahrheit und Wissenschaft» und «Philosophie der Freiheit».

Für die Erkenntnistheorie unserer Zeit ist es immer mehr zu einer Art Axiom geworden, daß in dem Bewußtseinsinhalte

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zunächst nur Bilder, oder gar nur «Zeichen» (Helmholtz) des Transzendent-Wirklichen gegeben seien. Es braucht hier nicht auseinandergesetzt zu werden, wie die kritische Philosophie und die Physiologie («spezifische Sin­nesenergien», Ansichten von Johannes Müller und seiner Nachfolger) zusammengewirkt haben, um eine solche Vor­stellung zu einer scheinbar unabweislichen zu machen. Der «naive Realismus», welcher in den Erscheinungen des Be­wußtseinshorizontes etwas anderes sieht als Repräsentan­ten subjektiver Art für ein Objektives, galt in der philo­sophischen Entwickelung des neunzehnten Jahrhunderts als eine für alle Zeit überwundene Sache. Aus dem aber, was dieser Vorstellung zu Grunde liegt, ergibt sich fast mit Selbstverständlichkeit die Ablehnung des theosophischen Gesichtspunktes. Dieser kann ja für den kritischen Stand­punkt nur als ein unmögliches Überspringen der im We­sen des Bewußtseins liegenden Grenzen angesehen werden. Wenn man eine unermeßlich große, scharfsinnige Ausprä­gung von kritischer Erkenntnistheorie auf eine einfache Formel bringen will, so kann man etwa sagen: Der kri­tische Philosoph sieht in den Tatsachen des Bewußtseins­horizontes zunächst Vorstellungen, Bilder oder Zeichen, und eine mögliche Beziehung zu einem Transzendent-Äußeren könne nur innerhalb des denkenden Bewußtseins gefunden werden. Das Bewußtsein könne sich eben nicht selber überspringen, könne nicht aus sich heraus, um in ein Transzendentes unterzutauchen. Solch eine Vorstellung hat in der Tat etwas an sich, was wie eine Selbstverständlich­keit erscheint. Und dennoch - sie beruht auf einer Voraus­setzung, die man nur zu durchschauen braucht, um sie abzuweisen. Es klingt ja fast paradox, wenn man dem subjektiven

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Idealismus, der sich in der gekennzeichneten Vor­stellung ausspricht, einen versteckten Materialismus vor­wirft. Und doch kann man nicht anders. Es möge, was hier gesagt werden kann, durch einen Vergleich veranschaulicht werden. Man nehme Siegellack und drücke darin mit einem Petschaft einen Namen ab. Der Name ist mit allem, wor­auf es bei ihm ankommt, von dem Petschaft in den Siegellack übergegangen. Was nicht aus dem Petschaft in das Siegellack hinüberwandern kann, ist das Metall des Pet­schafts. Man setze statt Siegellack das Seelenleben des Men­schen und statt Petschaft das Transzendente. Es wird dann sofort ersichtlich, daß man von einer Unmöglichkeit des Herüberwanderns des Transzendenten in die Vorstellung nur sprechen kann, wenn man sich den objektiven Inhalt des Transzendenten nicht spirituell denkt, was dann in Analogie mit dem vollkommen in das Siegellack herübergenommenen Namen zu denken wäre. Man muß vielmehr die Voraussetzung zum Behufe des kritischen Idealismus machen, daß der Inhalt des Transzendenten in Analogie zu denken sei zum Metall des Petschaftes. Das aber kann gar nicht anders geschehen, als wenn man die versteckte mate­rialistische Voraussetzung macht, das Transzendente müsse durch ein materiell gedachtes Herüberfließen in die Vor­stellung von dieser aufgenommen werden. In dem Falle, daß das Transzendente ein spirituelles ist, ist der Gedanke eines Aufnehmens desselben von der Vorstellung absolut möglich.

Eine weitere Verschiebung gegenüber dem einfachen Tat­bestande des Bewußtseins geschieht von dem kritischen Idealismus dadurch, daß dieser außer acht läßt, welche faktische Beziehung zwischen dem Erkenntnisinhalte und

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dem «Ich» besteht. Setzt man nämlich von vornherein vor­aus, daß das «Ich» mit dem Inhalte der in Ideen und Be­griffe gebrachten Weltgesetze außerhalb des Transzenden­ten stehe, dann wird es eben selbstverständlich, daß dies «Ich» sich nicht überspringen könne, das heißt, stets außer­halb des Transzendenten bleiben müsse. Nun ist aber diese Voraussetzung gegenüber einer vorurteilsfreien Beobach­tung der Bewußtseinstatsachen doch nicht festzuhalten. Es soll der Einfachheit halber zunächst hier auf den Inhalt der Weltgesetzlichkeit verwiesen werden, insofern dieser in mathematischen Begriffen und Formeln ausdrückbar ist. Der innere gesetzmäßige Zusammenhang der mathemati­schen Formeln wird innerhalb des Bewußtseins gewonnen und dann auf die empirischen Tatbestände angewendet. Nun ist kein auffindbarer Unterschied zwischen dem, was im Bewußtsein als mathematischer Begriff lebt, wenn dieses Bewußtsein seinen Inhalt auf einen empirischen Tatbestand bezieht; oder wenn es diesen mathematischen Begriff in rein mathematischem abgezogenen Denken sich vergegenwär­tigt. Das heißt aber doch nichts anderes als: das Ich steht mit seiner mathematischen Vorstellung nicht außerhalb der transzendent mathematischen Gesetzmäßigkeit der Dinge, sondern innerhalb. Und man wird deshalb zu einer besse­ren Vorstellung über das «Ich» erkenntnistheoretisch ge­langen, wenn man es nicht innerhalb der Leibesorganisation befindlich vorstellt, und die Eindrücke ihm «von außen» geben läßt; sondern wenn man das «Ich» in die Gesetz­mäßigkeit der Dinge selbst verlegt, und in der Leibesorgani­sation nur etwas wie einen Spiegel sieht, welcher das außer dem Leibe liegende Weben des Ich im Transzendenten dem Ich durch die organische Leibestätigkeit zurückspiegelt. Hat

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man sich einmal für das mathematische Denken mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß das «Ich» nicht im Leibe ist, sondern außerhalb desselben und die organische Leibes­tätigkeit nur den lebendigen Spiegel vorstellt, aus dem das im Transzendenten liegende Leben des «Ich» gespiegelt wird, so kann man diesen Gedanken auch erkenntnistheo­retisch begreiflich finden für alles, was im Bewußtseinshori­zonte auftritt. - Und man könnte dann nicht mehr sagen, das «Ich» müsse sich selbst überspringen, wenn es in das Trans­zendente gelangen wollte; sondern man müßte einsehen, daß sich der gewöhnliche empirische Bewußtseinsinhalt zu dem vom menschlichen Wesenskern wahrhaft innerlich durchlebten, wie das Spiegelbild sich zu dem Wesen dessen verhält, der sich in dem Spiegel beschaut. - Durch eine solche erkenntnistheoretische Vorstellung würde nun der Streit zwischen der zum Materialismus neigenden Natur­wissenschaft und einer das Spirituelle voraussetzenden Gei­stesforschung in eindeutiger Art wirklich beigelegt werden können. Denn für die Naturforschung wäre freie Bahn ge­schaffen, indem sie die Gesetze der Leibesorganisation un­beeinflußt von einem Dazwischenreden einer spirituellen Denkart erforschen könnte. Will man erkennen, nach wel­chen Gesetzen das Spiegelbild entsteht, so ist man an die Gesetze des Spiegels gewiesen. Von diesem hängt es ab, wie der Beschauer sich spiegelt. Es geschieht in verschiedener Art, ob man einen Planspiegel, einen konvexen oder einen konkaven Spiegel hat. Das Wesen dessen, der sich spiegelt, liegt aber außerhalb des Spiegels. So könnte man sehen in den Gesetzen, welche die Naturforschung ergibt, die Gründe für die Gestaltung des empirischen Bewußtseins; und in diese Gesetze wäre nichts einzumischen von dem, was die

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Geisteswissenschaft über das innere Leben des menschlichen Wesenskernes zu sagen hat. Innerhalb der Naturforschung wird man mit Recht sich immer wehren gegen ein Einmi­schen rein spiritueller Gesichtspunkte. Und auf dem Felde dieser Forschung ist es nur naturgemäß, daß man mehr sympathisiert mit Erklärungen, die mechanisch gehalten sind, als mit spirituellen Gesetzen. Eine Vorstellung wie die folgende muß dem in klaren naturwissenschaftlichen Vorstellungen Lebenden sympathisch sein: «Die Tatsache des Bewußtseins durch Gehirnzellen-Erregung ist nicht we­sentlich anderer Ordnung als die Tatsache der an den Stoff gebundenen Schwerkraft» (Moritz Benedikt). Jedenfalls ist mit einer solchen Erklärung exakt methodologisch das na­turwissenschaftlich Denkbare gegeben. Sie ist naturwissen­schaftlich haltbar, während die Hypothesen von einem Re­geln der organischen Vorgänge unmittelbar durch psychische Einflüsse naturwissenschaftlich unhaltbar sind. Der vorhin charakterisierte erkenntnistheoretische Grundgedanke kann aber in dem ganzen Umfange des naturwissenschaftlich Feststellbaren nur Einrichtungen sehen, welche der Spiege­lung des eigentlichen seelischen Wesenskernes des Menschen dienen. Dieser Wesenskern aber ist nicht in das Innere des physischen Organismus, sondern in das Transzendente zu verlegen. Und Geistesforschung wäre dann als der Weg zu denken, sich in das Wesen dessen einzuleben, was sich spie­gelt. Selbstverständlich bleibt dann die gemeinsame Grundlage der Gesetze des physischen Organismus und jener des Übersinnlichen hinter dem Gegensatz: «Wesen und Spie­gel» liegen. Doch ist dies gewiß kein Nachteil für die Praxis der wissenschaftlichen Betrachtungsweise nach den beiden Seiten hin. Diese würde bei der charakterisierten Festhal­tung

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des Gegensatzes in zwei Strömungen fortfließen, die sich gegenseitig erhellen und erläutern. Denn es ist ja fest­zuhalten, daß man es in der physischen Organisation nicht mit einem von dem Übersinnlichen unabhängigen Spiege­lungsapparat im absoluten Sinne zu tun hat. Der Spiege­lungsapparat muß eben doch als das Ergebnis der sich in ihm spiegelnden übersinnlichen Wesenheit gelten. Der rela­tiven gegenseitigen Unabhängigkeit der einen und der an­deren von obigen Betrachtungsweisen muß ergänzend eine andere, in die Tiefe gehende, gegenübertreten, welche die Synthesis des Sinnlichen und Übersinnlichen anzuschauen in der Lage ist. Der Zusammenschluß der beiden Strömun­gen kann als gegeben gedacht werden durch eine mögliche Fortentwickelung des Seelenlebens zu der charakterisierten intuitiven Erkenntnis. Erst innerhalb dieser ist die Möglichkeit gegeben, den Gegensatz zu überwinden.

Man kann somit sagen, daß erkenntnistheoretisch unbe­fangene Erwägungen die Bahn frei machen für eine richtig verstandene Anthroposophie. Denn sie führen dazu, die Möglichkeit theoretisch verständlich zu finden, daß der menschliche Wesenskern ein von der physischen Organisation freies Dasein habe. Und daß die Meinung des gewöhnlichen Bewußtseins, das Ich sei als absolut innerhalb des Leibes ge­legene Wesenheit zu betrachten, als eine notwendige Illu­sion des unmittelbaren Seelenlebens zu gelten habe. Das Ich

- mit dem ganzen menschlichen Wesenskern - kann ange­sehen werden als eine Wesenheit, welche ihre Beziehung zu der objektiven Welt innerhalb dieser selbst erlebt, und die ihre Erlebnisse als Spiegelbilder des Vorstellungslebens aus der Leibesorganisation empfängt. Die Absonderung des menschlichen Wesenskernes von der Leibesorganisation darf

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naturgemäß nicht räumlich gedacht werden, sondern muß als relatives dynamisches Losgelöstsein gelten. Dann löst sich auch ein scheinbarer Widerspruch, der etwa zwischen dem hier Gesagten und dem oben über das Wesen des Schlafes Bemerkten gefunden werden könnte. In wachem Zustande ist der menschliche Wesenskern der physischen Organisation so eingefügt, daß er durch sein dynamisches Verhältnis zu dieser sich in ihr spiegelt; im Schlafzustande ist die Spiegelung aufgehoben. Da nun das gewöhnliche Bewußtsein im Sinne der hier gemachten erkenntnistheore­tischen Erwägungen nur durch die Spiegelung (durch die gespiegelten Vorstellungen) ermöglicht ist, so hört es wäh­rend des Schlafzustandes auf. Die Seelenverfassung des Geistesforschers kann nur so verstanden werden, daß in ihr die Illusion des gewöhnlichen Bewußtseins überwunden ist, und daß ein Ausgangspunkt des Seelenlebens gewonnen wird, der den menschlichen Wesenskern real in freier Los­lösung von der Leibesorganisation erlebt. Alles weitere, was dann durch Übungen erreicht wird, ist nur ein tieferes Hineingraben in das Transzendente, in welchem das Ich des gewöhnlichen Bewußtseins wirklich ist, obgleich es sich als solches nicht in demselben weiß.

Geistesforschung ist damit als erkenntnistheoretisch denk­bar nachgewiesen. Diese Denkbarkeit wird naturgemäß nur derjenige zugeben, welcher der Ansicht sein kann, daß die sogenannte kritische Erkenntnistheorie ihren Satz von der Unmöglichkeit des Überspringens des Bewußtseins nur dann zu halten in der Lage ist, wenn sie die Illusion von dem Eingeschlossensein des menschlichen Wesenskernes in der Leibesorganisation und dem Empfangen der Eindrücke durch die Sinne nicht durchschaut. Ich bin mir bewußt, daß

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mit meinen erkenntnistheoretischen Ausführungen nur skiz­zenhafte Andeutungen gegeben sind. Doch wird man viel­leicht aus diesen Andeutungen erkennen können, daß sie nicht vereinzelte Einfälle sind, sondern daß sie aus einer ausgebauten erkenntnistheoretischen Grundanschauung ent­springen.

DIE THEOSOPHIE UND DAS GEISTESLEBEN DER GEGENWART

#G035-1965-SE145 - Philosophie und Anthroposophie (1904 - 1918)

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DIE THEOSOPHIE UND DAS GEISTESLEBEN DER GEGENWART

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Von allen verschiedenen Gesichtspunkten der Weltbetrach­tung, welche auf dem Vierten Internationalen Kongreß für Philosophie vertreten worden sind, wird vielen unserer Zeitgenossen der theosophische als der am wenigsten wis­senschaftliche gelten. Man kann über diese Tatsache nicht verwundert sein. Denn vieles, was in einem Zeitpunkte, in welchem es zuerst auftritt, als phantastisch und unbegrün­det galt, wurde in einer späteren Epoche eine anerkannte, oft sogar eine selbstverständliche Wahrheit. Wenn nun auch Theosophie als eine Bezeichnung gebraucht wird für Gei­stesströmungen, die schon oft in der Kulturentwickelung aufgetreten sind, so wie sie auf diesem Kongresse in einem kurzen Vortrage charakterisiert worden ist, stellt sie eine absolut neue Geistesrichtung dar. Sie will eine Eröffnung der Tore zu einer übersinnlichen Welt sein. Und sie will diese Welt nicht durch bloßes spekulatives Denken finden, sondern durch wirkliche Wahrnehmung, welche der mensch­lichen Seele ebenso zugänglich ist wie die Wahrnehmung der physischen Sinne. Man ist gewöhnlich der Ansicht, daß eine solche Wahrnehmung in geistiger Art nur in Zustän­den der Vision, der Ekstase in der Seele auftritt, und daß sie bei den mit ihr begnadeten Menschen keiner wissen­schaftlichen Kontrolle unterliege. Deshalb will man ihr auch keinen anderen Wert beilegen als einen solchen per­sönlicher Erlebnisse der einzelnen menschlichen Individuen. Mit dieser Art von Seelenerlebnissen hat die moderne Theosophie

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nichts gemein. Sie zeigt, daß in der menschlichen Seele Erkenntniskräfte schlummern, welche im gewöhn­lichen Leben und auch in der äußeren Wissenschaft nicht zutage treten. Diese Kräfte können durch Meditation und durch eine energische Konzentration des inneren Empfin­dungs- und Willensiebens wachgerufen werden. Es muß die Seele, um dazu zu kommen, sich abschließen können gegenüber allen äußeren Eindrücken und auch gegenüber allem, was das Gedächtnis von solchen äußeren Eindrücken aufbewahrt. Meditation ist die intensive Hingabe der Seele an Vorstellungen, Empfindungen und Gefühle, so, daß man kein Bewußtsein davon entwickelt, was diese Vorstel­lungen oder Gefühle für die physische Welt bedeuten, son­dern so, daß diese sich innerhalb des Seelenlebens als Kräfte erweisen, welche die Seele gleichsam durchstrahlen und so aus deren Tiefen Mächte herausholen, deren sich der Mensch im gewöhnlichen Leben nicht bewußt ist. Die Wirkung die­ser inneren Versenkung ist eine solche, daß sich durch sie der Mensch als einer geistigen Realität seines eigenen We­sens bewußt wird, von welcher er sonst keine Wahrneh­mung hat. Bevor er solche Übungen anstellt, erkennt er sich als eine Wesenheit, welche durch körperliche Organe von sich und von der Welt etwas weiß. Nach solchen Übungen weiß er, daß er ein Leben in sich entfalten kann, auch ohne daß ihm seine körperlichen Organe ein solches Leben vermit­teln. Er weiß, daß er sich geistig abtrennen kann von sei­nem physischen Körper und daß er durch diese Abtrennung nicht in den Zustand der Bewußtlosigkeit versinken muß. Und er erlangt nicht nur von sich selbst eine solche Er­kenntnis, sondern auch von einer übersinnlichen Welt, welche sich für die gewöhnliche Erkenntnis hinter der

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physisch sinnlichen Welt verbirgt und in welcher die wahren Ursachen dieser letzteren liegen. -Auf diese Art lerntder Mensch auch erkennen, daß er als seelisch - geistiges Wesen ebenso abstammt von Seelisch-Geistigem wie er als physisches Wesen abstammt von seinen physischen Vorfahren. Nur muß er empfinden, daß das seelisch-geistige Wesen, von dem er abstammt, er selbst ist, während er seine physischen Vorfahren von seinem Selbst unterscheidet. Es eröffnet sich ihm dadurch der Ausblick auf wiederholte Erdenleben. Durch wirkliche Beobachtung lernt er verstehen, daß sich das Menschenleben wahr­haft zusammensetzt aus dem Leben der Seele im phy­sischen Leibe zwischen Geburt und Tod, und daß darauf ein geistiges Dasein folgt, das in der Regel wesentlich länger ist als das physische. Nach diesem geistigen Dasein muß wieder eine physische Verkörperung folgen, und so fort, bis mit dem Erdenziele selbst der Lauf der physischen Ver­körperungen erfüllt ist.

Diese Idee von wiederholten Erdenleben (Reinkarnatio­nen) mußgegenwärtig notwendigerweise den meisten unserer Zeitgenossen als paradox, ja grotesk erscheinen. Aber es wird mit ihr so sein, wie mit der Idee des Francesco Redi, der vor wenigen Jahrhunderten zuerst gegen den Wider­stand seiner Zeitgenossen den Gedanken vertrat, daß ein Lebenskeim nicht durch Kombination unlebendiger Stoffe, sondern nur als Nachkomme eines gleichgearteten Lebe­wesens entstehen kann. Was vor wenigen Jahrhunderten den Menschen als phantastische Idee des Francesco Redi erschienen ist, gilt gegenwärtig als allgemein anerkannte Wahrheit.

Damit ist nur auf eines der vielen Ergebnisse der modernen

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Theosophie hingewiesen. Die meisten Mißverständ­nisse, welche dieser entgegengebracht werden, entspringen daraus, daß man meint, sie wolle eine Wiedererneuerung des Buddhismus sein. Sie ist dies nicht in derjenigen Gestalt, welche sie im Abendland angenommen hat. Denn wenn es nie einen Buddhismus gegeben hätte, so müßte doch die charak­terisierte Entwickelung höhere Erkenntniskräfte in der Seele zur Auffindung der theosophischen Wahrheiten führen.

In ihrer modernen Form will die abendländische Theo-sophie keine Religion sein oder begründen, sondern eine Erweiterung der Wissenschaft in das übersinnliche Welt-gebiet. Damit wird sie nicht selbst Religion, sondern ein Instrument zum vertieften Verstehen des religiösen Lebens. Sie tritt als ein solches Instrument an das Christentum her­an; und es zeigt sich ihr, daß in dem Christentum Tiefen des Lebens liegen, welche nur gefunden werden können, wenn man sich ihm nahet mit einer Wissenschaft des Über­sinnlichen. Es zeigt sich, wie die Begründung des Christen­tums nur begriffen werden kann als eine Tat, die aus einer übersinnlichen Welt stammt, und welche ihre Strahlen in die physische Geschichtsentwickelung der Menschheit her­eingeworfen hat. Gerade dadurch, daß erkannt wird, wie der Mensch sein volles Erdenleben in wiederholten Ver­körperungen vollendet, tritt die übermenschliche, die gött­liche Natur Christi hervor. Die Christuswesenheit ist für die wahre übersinnliche Beobachtung nur einmal in einem physischen Körper anwesend gewesen. Und sie ist seit dem Ereignis auf Golgatha mit der Menschheitsentwickelung auf Erden verbunden. Der höchste Gipfel der übersinnlichen Beobachtung besteht darin, daß in der geistigen Welt Christus als die dirigierende Kraft erkannt wird. Je mehr

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die Seele übersinnliche Erkenntniskräfte entwickelt, desto näher kommt sie der Christuswesenheit. Die Theosophie stört in keiner Weise den religiösen Glauben des Christen, sondern sie befestigt ihn, indem sie ihn zu einer über­sinnlich-wissenschaftlichen Wahrheit erhebt. Wenn für die gewöhnliche Wissenschaft das Wesen des Christentums für viele Menschen zweifelhaft werden kann, so wird es zu einer unerschütterlichen Wahrheit für die wissenschaftlich-geistige Beobachtung. Durch das Instrument der Theo-sophie werden in den Evangelien die in ihnen enthaltenen Wahrheiten erst im rechten Lichte gesehen werden können.

Für diejenigen, welche die theosophische Geistesrichtung verfolgt haben, seitdem sie im Jahre 1875 durch die Theo­sophische Gesellschaft begründet worden ist, kann es be­fremdlich erscheinen, daß hier von dem theosophischen Ge­sichtspunkte aus in dieser Art vom Christentum gesprochen wird. Denn man hält dafür, daß die Hauptlehren derTheo­sophie mit orientalischen Religionssystemen, vor allem mit dem Brahmanismus oder Buddhismus übereinstimmen. Und es ist auch richtig, daß gegenwärtig noch viele Vertreter der Theosophie diese in einer Art darstellen, welche eine solche Meinung berechtigt erscheinen läßt. Doch muß gesagt werden, daß die ersten Begründer der Theosophie das We­sen des Christentums nicht verstanden haben, und daß dieses auch gegenwärtig noch viele wichtige Vertreter der Theosophie nicht verstehen. Es müßte erst die Theosophie selbst eine gewisse Stufe erreichen, um zu erkennen, daß im Christentum nicht nur ein Fortschritt liegt gegenüber allen ihm vorangegangenen Religionssystemen, sondern daß es tatsächlich die wahren Seiten aller anderen Reli­gionen in sich vereinigt, wenn es richtig verstanden wird.

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Theosophie kann nicht Religion als solche sein; aber sie ist ein Weg zum vollen Verständnisse der Religion, wie sie auch ein solcher ist zum ersten Verständnisse der Natur und des Geistes. Weil dies verkannt wird, deshalb erwach­sen gegenwärtig noch der Theosophie Gegner sowohl auf Seite der religiös gesinnten, wie auch der religionsgegne­rischen Persönlichkeiten. Die ersteren meinen, sie könnten durch die Theosophie ihre Religion verlieren. Sie werden bei einer richtigen Vertiefung in die Theosophie erkennen, daß die wahre Religiosität durch die Theosophie ebenso­wenig verloren geht, wie die Herrlichkeit der Naturerschei­nungen durch die wissenschaftliche Betrachtung.

Die anderen glauben, daß Theosophie wieder zum blin­den Glauben zurückführen müsse. Sie könnten sich durch wirkliche Bekannschaft mit der Theosophie davon über­zeugen, daß der Verlauf der menschlichen Geschichte nicht eine Aufeinanderfolge von Irrtümern, sondern eine Ent­wickelung der Wahrheit ist. Sie werden zu der Einsicht kom­men, daß wahre Wissenschaft die schönsten Blüten des menschlichen Geisteslebens - eben die religiösen - nicht be­greift, indem sie dieselben als Illusionen enthüllt, sondern indem sie deren Wahrheit zutage fördert.

Wer die Entwickelung der Seelen in unserer Zeit betrach­tet, muß finden, daß in ihnen der Durst nach einer Erkennt­nis der übersinnlichen Welt lebt. Die gewöhnlichen Wissen­schaften weisen einen wunderbaren Fortschritt auf. Sie ha­ben unsere Kultur gänzlich umgewandelt in verhältnis­mäßig kurzer Zeit. Sie haben Lösungen gebracht von Fra­gen für das äußere Leben und werden in der Zukunft noch viele bringen. Für das Seelenleben haben sie - bei richtiger Betrachtung - keine Lösungen gebracht, sondern werfen

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unaufhörlich neue Fragen auf. Auf solche Fragen wird von den traditionellen Religionsvorstellungen keine Antwort gegeben. Man kann da nicht einwenden: diese Antworten seien doch vorhanden, nur werden sie von vielen unserer Zeitgenossen nicht mehr als Antwort empfunden. Daß sie als solche nicht mehr empfunden werden, darin liegt das Wesentliche, das die moderne Menschheit vor neue Auf­gaben des inneren Lebens stellt. Wenn diese Menschheit diese Aufgaben durch die Wissenschaft des Übersinnlichen erfassen wird, dann kann Harmonie geschaffen werden zwischen den Sehnsuchten der Seelen, welche erwachsen durch das moderne Leben. Wenn dieses Erfassen nicht ein­treten sollte, dann müßten die neuen Fragen als brennen­der Durst der Seelen ohne Lösungen bleiben. Fragen aber, welche sich die Seelen stellen müssen, ohne zu Antworten gelangen zu können, bedeuten Seelenleerheit, Seelenunglück; Erreichung der Antworten auf solche Fragen bedeutet Seelenfrieden, Seelenstärke, Seelenglück. Und diese braucht die moderne Menschheit, wenn ihre herrliche äußere Kultur nicht selbst ohne Seele bleiben soll.

EIN WORT ÜBER THEOSOPHIE AUF DEM VIERTEN INTERNATIONALEN KONGRESS FÜR PHILOSOPHIE

#G035-1965-SE152 - Philosophie und Anthroposophie (1904 - 1918)

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EIN WORT ÜBER THEOSOPHIE AUF DEM VIERTEN INTERNATIONALEN KONGRESS FÜR PHILOSOPHIE

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Über die psychologischen Grundlagen der Theosophie und deren wissenschaftliche Rechtfertigung sprach innerhalb der Sektion für Philosophie der Religionen Dr. Rudolf Steiner aus Deutschland. Der Redner wies darauf hin, daß er einen Gegenstand zu vertreten habe, welcher gegenwärtig noch in den weitesten Kreisen nicht als wissenschaftlich angesehen werde. Dies sei aber ganz begreiflich. Denn die in Frage kommende Geistesrichtung habe eine ganz andere Art von Erkenntnis im Auge als die übrigen gegenwärtigen philo­sophischen Richtungen. Diese fragen, wie ist die Seele des Menschen, und was kann sie dadurch erkennen, daß sie in einer gewissen Art beschaffen ist? Theosophie aber, in dem Sinne, wie der Redner sie vertritt, muß von der Seele sagen, daß diese über den sogenannten normalen Zustand sich erheben könne und dadurch ihre Erkenntnis-kräfte aus dem Gebiete des Sinnlichen und Intellektuellen in dasjenige des Übersinnlichen erstrecken könne. Es sei jedoch mit einem solchen anderen Zustand der Seele nicht derjenige gemeint, den man in der gewöhnlichen Psycho­logie als das «Unterbewußte» oder «Unbewußte» be­zeichne, auch nicht derjenige einer Vision, Ekstase oder dergleichen, sondern ein Zustand, der unter strengster Selbstkontrolle der Seele erreicht werden kann. Um zu demselben zu kommen, muß die Seele sich strengen, in­timen Übungen unterwerfen. Sie muß sich mit Ideen, Ge­danken und Empfindungen durchdringen, welche nicht

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den gewöhnlichen Charakter von Abbildungen eines äu­ßerlich Wirklichen tragen, sondern welche einen mehr symbolischen Charakter tragen. Die Seele muß nun von ihrem Leben alle sinnlichen, gedächtnis- und verstandes­mäßigen Impressionen und Inhalte ausschließen, und in fortgehender Wiederholung immer wieder mit den charak­terisierten symbolischen Vorstellungen ganz eins werden. Es resultiert daraus ein ganz bestimmtes Erlebnis, welches darin besteht, daß die Seele sich als innere Realität erfaßt, welche unabhängig von der Körperorganisation in sich selber ruht. Der Mensch weiß durch dieses Erlebnis, daß er als Seele real von seinem Körper unabhängig leben kann. Die Übungen müssen von diesem Punkte aus weitergehen. Der Mensch muß die symbolischen Vorstellungen wieder aus seinem Seelenleben entfernen und nur auf die eigene Tätigkeit den inneren Sinn lenken, auf jene Tätigkeit, durch welche er die Symbole in sich erlebt hat. Durch diese Übung wird eine Verdichtung des vom Körper unabhängigen See­lischen erreicht; und in dieses Innenleben strömt nun der Inhalt einer geistigen Welt so ein, wie der sinnliche Inhalt in das sinnliche Wahrnehmen einströmt, wenn Augen und Ohren auf die physische Außenwelt gerichtet sind. Es sind dadurch neue Stufen der Erkenntnis eröffnet; die erste, in welcher die symbolischen Vorstellungen das Seelenleben umwandeln, kann als die imaginative Erkenntnis, die zweite, welche erst entsteht, wenn die Symbole wieder aus dem Bewußtsein entfernt worden sind, die Erkenntnis durch Inspiration genannt werden. Der Redner macht dann noch darauf aufmerksam, wie die Theorie der Wissenschaft ge­genwärtig einer so geschilderten Seelenentwickelung nicht zustimmen könne, weil sie von vornherein das «Ich» des

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Menschen in die leibliche Innenwelt verlegt. Doch wird eine Erkenntnistheorie der Zukunft anerkennen, daß das Ich in Wahrheit schon in der geistigen Außenwelt liegt und das ge­wöhnliche Ich nur als sein Abbild in die Leibesorganisation hineinspiegelt. Eine solche Erkenntnistheorie wird sich mit der Theosophie vollständig versöhnen können.

An die durch die kurz bemessene Zeit aphoristisch ge­gebenen Darstellungen des Redners schloß sich eine lebhafte Debatte. Es stellte der bekannte Platoniker Dr. W. Luto­slawski an den Redner eine Reihe von Fragen. Durch diese kam noch zur Erörterung, daß die Seelenübungen des mo­dernen Menschen nicht so wie jene in alten Zeiten auf phy­sische Isolierung von der Umgebung, auf ein extrem asketi­sches Leben und dergleichen begründet sind, sondern daß sie den Hauptwert auf die Entfaltung derjenigen geistig-seelischen Kräfte legen, welche im Innern des Menschen dessen Isolierung des Bewußtseins herbeiführen. Auf eine andere Frage Lutoslawskis hin bemerkt der Redner, daß die Methoden der Seelenübung, wie sie für den Menschen der modernen Kulturen entsprechend sind, sich durch ent­sprechende Führer des geistigen Lebens seit dem elften und zwölften Jahrhundert ausgebildet haben.

Ein weiterer Diskussionsredner, Herr Dr. Stark, frägt, ob ein objektives Kriterium angeführt werden könne für dasjenige, was der Mensch nach der entsprechenden Vor­bereitung als Tatsachen der geistigen Welt findet. Der Red­ner antwortet darauf, daß zum Forschen, zum Erleben in den übersinnlichen Welten eine so vorbereitete Seele gehöre, wie sie geschildert worden sei. Wenn jedoch die Tatsachen dieser Welten in entsprechender logischer Form mitgeteilt werden, dann kann die wirklich unbefangene Logik des

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gewöhnlichen Bewußtseins über sie entscheiden und sie als richtig anerkennen. Auf eine entsprechend gestellte Frage desselben Diskussionsredners sagt Dr. Steiner noch, daß die Zeitepoche eben zu beginnen scheine, in welcher die charak­terisierte Theosophie in das geistige Kulturleben einfließen und zu einem anerkannten allgemeinen Gut der mensch­lichen Wissenschaft sich gestalten werde.

WAS SOLL DIE GEISTESWISSENSCHAFT UND WIE WIRD SIE VON IHREN GEGNERN BEHANDELT?

#G035-1965-SE156 - Philosophie und Anthroposophie (1904 - 1918)

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WAS SOLL DIE GEISTESWISSENSCHAFT UND WIE WIRD SIE VON IHREN GEGNERN BEHANDELT?

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Seit diejenige Form der «Geisteswissenschaft», zu welcher sich der Schreiber dieser Seiten bekennt, bei den Zeitgenos­sen einige Beachtung findet, besonders seit daran gedacht werden konnte, der Pflege dieser Wissenschaft eine eigene Stätte, eine «Hochschule für Geisteswissenschaft» (in Dornach im Kanton Solothurn) zu erbauen, melden sich, von den verschiedensten Seiten her, die Angriffe ihrer Gegner. Ver­sucht wird, die Erkenntnisse der Geistesforschung auf Träu­mereien, Phantastereien ihrer Vertreter, die Ausbreitung derselben über eine ganze Reihe von Kulturländern auf die blinde Gläubigkeit der Anhänger und auf manches andre zurückzuführen, das man in nicht sympathischen Farben darzustellen sich bestrebt. Die Bekenner verschiedener Reli­gionsrichtungen finden in der Geisteswissenschaft etwas, das sie bekämpfen zu müssen glauben. Sie malen gar mancherlei Gefahren hin, die aus ihr dem religiösen Empfinden drohen sollen.

Wer in den wahren Sinn der Geistesforschung wirklich eindringen will, dem kann es nicht schwer werden, einzu­sehen, auf welch unbegründeten Voraussetzungen die An­griffe der Gegner aufgebaut sind. In fast allen Fällen könnte auf die leichteste Art das Gewebe der objektiv un-richtigen Behauptungen aufgedeckt werden, auf denen diese oft bis zu persönlicher Verunglimpfung sich versteigenden Angriffe beruhen. Und in den Fällen, wo solche Angriffe von den Erkenntnissen der Geistesforschung sprechen, liegt

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ihnen zumeist die allermangelhafteste, die mißverständlich­ste Auffassung dieser Erkenntnisse zugrunde. Es werden Zerrbilder dieser Erkenntnisse gegeben, welche die Gegner sich erst selbst zurechtlegen; und auf diese hin kann dann selbstverständlich eine leichte «Widerlegung» gefunden werden.

Es besteht bei dem Schreiber dieser Ausführungen nicht die Absicht, in denselben auf diesen oder jenen einzelnen Angriff einzugehen; dagegen möchte er im allgemeinen einiges sagen über Sinn und Bedeutung der Geisteswissen­schaft gegenüber den Vorurteilen, welche ihr entgegenge­bracht werden.

Zunächst darf bemerkt werden, daß besonders solche «Angriffe» in Verwunderung versetzen können, welche auf die Geistesforschung von Vertretern der religiösen Bekennt­nisse gemacht werden. Man hat doch nur eine geringe Ein­sicht in diese Forschung nötig, um zu erkennen, daß die­selbe von sich aus keinem religiösen Bekenntnisse gegnerisch gegenübertreten will. Denn sie betrachtet sich selbst nicht als ein neues religiöses Bekenntnis; sie ist von jeder Art Religionsgründung oder Sektenbildung so weit wie nur möglich entfernt. Sie will sein die echte, wahre Fortsetze­rin der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart, wie diese sich in der Morgenröte der neueren Kultur durch Koperni­kus, Kepler, Galilei, Giordano Bruno und andere dem Geistesleben der Menschheit einverleibt hat. Aus derselben Denkergesinnung heraus, aus der Galilei, Bruno und so weiter das Reich der Natur betrachteten, will Geisteswis­senschaft das Reich des Geistes betrachten. Und so wenig des Kopernikus Lehre, daß die Erde sich bewege, der wah­ren Religiosität Abbruch getan hat, so wenig kann zum

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Beispiel das geisteswissenschaftlich richtig verstandene Ge­setz, daß die menschliche Seele wiederholte Erdenleben durchmacht, der wahren Religiosität irgendwelche Gefahr bringen. - Es wurde allerdings nach dem Auftreten des Kopernikus geglaubt, daß seine Lehre der Religion abträg­lich sei; man kann aber diesem Glauben gegenüber denken wie ein gelehrter Priester> der, zum Rektor einer großen Universität gewählt, eine Rektoratsrede über Galilei ge­halten und in derselben die so einleuchtenden Worte ge­sprochen hat, daß die Zeitgenossen des Kopernikus sich aus mißverstandener Religiosität gegen diesen gewandt haben, daß hingegen in unsrer Zeit der wahrhaft religiöse Mensch erkennen sollte, wie jede neue Einsicht in den Weltzusam­menhang ein neues Stück zur Offenbarung der göttlichen Weltenlenkung hinzufügen müsse. - Die Weltgeschichte ist über die Meinung, welche den Kopernikus ablehnen wollte, hinweggeschritten, und diejenigen, welche die Geisteswis­senschaft im echten Sinne erfassen, müssen sich der Ansicht hingeben, daß über die Gegnerschaft, welche dieser Wissen­schaft in unsrer Zeit erwächst, viel schneller hinweggeschrit­ten werden wird. Denn selbst, wo diese Gegnerschaft aus gutem Glauben hervorgeht, ist sie von keiner anderen Ge­sinnung getragen, als diejenige war, die sich gegen die Kopernikanische Weltanschauung richtete. Fragen möchte man nur: Warum machen sich die Träger solcher Gesinnung die Lehren nicht zunutze, die aus der Tatsache gezogen werden können, daß so viele nicht müde geworden sind, zu sagen, die Lehre des Kopernikus widerspreche der Bibel? Täten sie dieses, so könnten sie die Geisteswissenschaft so wenig als Gegner der Bibel anklagen, wie sie es gegenwärtig sicher nicht mehr mit der Lehre von der Erdbewegung tun.

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Geisteswissenschaft ist die wahre Fortsetzerin der natur-wissenschaftlichen Forschung dadurch, daß sie das Gebiet des Geistes mit denjenigen Mitteln zu erkennen strebt, welche für dieses Gebiet tauglich sind. Als Fortsetzerin der Naturwissenschaft kann sie nicht selbst bloße Naturwissen­schaft sein. Denn diejenigen Mittel, welche dieser Wissen­schaft so gewaltige Triumphe gebracht haben, vermochten dies eben aus dem Grunde, weil sie der Erforschung der Natur im höchsten Maße angepaßt waren, und weil diese Forschung sie nicht durch andre - nicht für das Naturgebiet geeignete - beeinträchtigt hat. Um auf dem Gebiete des Geistes ein Ahnliches zu leisten, wie Naturwissenschaft auf dem der Natur geleistet hat, muß Geisteswissenschaft andre Erkenntnisfähigkeiten zur Entwickelung bringen, als die in der Naturforschung anwendbaren sind. Damit muß sie allerdings einen Gesichtspunkt geltend machen, der begreif­licherweise in der Gegenwart vielseitigem Zweifel begeg­nen kann. Man betrachte doch nur einmal unbefangen, was über diese «andern Erkenntnisfähigkeiten» gesagt wird. Es sind Fähigkeiten, welche durchaus in der Entwickelungslinie der gewöhnlichen menschlichen Seelenkräfte liegen. Wie muß die Geisteswissenschaft ihren Unterschied von der Na­turwissenschaft auffassen? Die Erforschung der Natur kann nur mit den Erkenntniskräften gepflegt werden, welche der Mensch im naturgemäßen Verlauf seines Lebens erlangt und die zum Zwecke dieser Erforschung durch geregelte Be­obachtung und wissenschaftliche Versuchswerkzeuge unter­stützt werden. Um in die geistige Welt einzudringen, muß sie der Mensch durch geistigseelische Übungen über den Punkt hinaus weiterentwickeln, bis zu dem sie ohne solche Übungen sich - gleichsam von selbst - bilden. Es geschieht

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auf diese Weise mit dem Menschen auf einer andern Stufe etwas Ahnliches wie beim Kinde, das aus den Fähigkeiten seiner ersten Jahre diejenigen seines späteren Alters her­ausentwickelt. Wie das Kind lernt, seine Seelenfähigkeiten so zu gebrauchen, daß ihm der Leib ein gutes Werkzeug wird für das Erleben in der Sinneswelt, so kann der Mensch seine Erkenntniskräfte weiterbilden, so daß er in einem leibfreien Zustand - bloß als Seele - wahrnehmen und er­leben kann. Es geschieht dies dadurch, daß die Seele gewisse Verrichtungen, welche sie in geringem Maße auch schon im gewöhnlichen Leben anwendet, unbegrenzt verstärkt, und es so dahin bringt, alles, was an ihr seelisch-geistig ist, aus dem Leibe gleichsam herauszuziehen. Sie kann dann - für kurze, begrenzte Zeitabschnitte - ihren Leib außer sich er­leben, sich selbst aber in eine Welt versetzt wissen, in wel­cher sie mit geistigen Wesenheiten und geistigen Vorgängen lebt, wie sie in der sinnlichen Welt von sinnlichen Vorgängen und Wesen umgeben ist. Durch welche Art von geistig-see­lischen Übungen dieses erreicht wird, findet man in meinen Büchern: «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Wel­ten?» und «Geheimwissenschaft» dargestellt. Was die Seele durch solche Übungen an sich als Veränderung erlebt, ist in meinem Buche: «Die Schwelle der geistigen Welt» beschrie­ben. Wer sich auf die Darstellung solcher tatsächlicher Vor­gänge, wie sie in diesen Büchern beschrieben sind, nicht einlassen will, der wird die Möglichkeit eines leibfreien Seelenlebens leugnen können, wie ja schließlich jemand auch sagen könnte: ich glaube nicht, daß der Wasserstoff als etwas, das vom Wasser ganz verschieden ist, aus dem Was­ser heraus entwickelt werden kann; er kann das sagen, wenn er sich nicht darum bekümmern will, daß durch die

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Chemie das Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff zerlegt wird. Aber es kann der Mensch - durch eine Art geistiger Chemie - sich selbst zerlegen in die physische Leiblichkeit und in das Geistig-Seelische. Die Vorstellungsart der Gei­steswissenschaft ist die gleiche wie diejenige der Natur­wissenschaft; nur muß diese Vorstellungsart, um über die Natur hinauszukommen, entsprechend weitergebildet wer­den. Betont muß aber immer werden: zum Erforschen der Wesen und Vorgänge in der geistigen Welt ist die Entwicke­lung der gekennzeichneten Seelenkräfte notwendig; um aber einzusehen und begreiflich zu finden, was der Geistes-forscher durch diese Seelenkräfte findet, dazu ist nur ein vorurteilsloses, unbefangenes Betrachten der Ergebnisse der Geistesforschung mit den gewöhnlichen Seelenfähigkeiten vonnöten. Und man kann sagen: nicht darum lehnen so viele Menschen diese Ergebnisse ab, weil diese sich dem ge­wöhnlichen Verständnisse nicht als einleuchtend erwiesen, sondern allein deswegen, weil diese Menschen sich das Ver­ständnis durch Vorurteile und Befangenheit trüben lassen. -Es gehört ja in der Tat eine gewisse Unbefangenheit dazu, sich zu gestehen: der Mensch, so wie er im gewöhnlichen Leben ist, sei noch nicht so ganz vollkommen; er könne noch in ihm schlummernde Seelenkräfte entwickeln, ja, diese Kräfte müssen sogar entwickelt werden, wenn sich die gei­stige Welt offenbaren soll. Das aber zeigt die Geisteswis­senschaft, daß für die Sinne und die gewöhnlichen Seelen-kräfte nur die sinnliche, dem Tode unterworfene Welt wahrnehmbar ist, und daß sich eine andre, nicht dem Tode unterworfene Welt nur den dazu erst erschlossenen Seelen-kräften kundgeben kann.

Wer in diese Dinge sich Einblick verschafft, der kann nur

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die tiefste Befriedigung davon empfinden, daß in unserer Zeit schon in fast allen Kulturländern Menschen Interesse der Geisteswissenschaft entgegenbringen. Denn dieses In­teresse, diese Ausbreitung der Geisteswissenschaft ist ein Zeugnis für den gesunden Wahrheitssinn, für den Willen zu unbefangener Erfassung des Lebens. Wer sich diesen Einblick nicht verschaffen will, der wird von den Beken­nern der Geisteswissenschaft behaupten können: diese lau­fen deren Vertretern aus blinder Gläubigkeit nach. In Wahrheit steht die Sache so, daß die rechten Bekenner der Geisteswissenschäft dies gerade deshalb sind, weil sie sich über blinde Gläubigkeit erheben können. Die Gegner der Geistesforschung verdächtigen gerne diejenigen Menschen der blinden Gläubigkeit, bei denen sie bemerken, daß sie an andres sich halten, als an die oft recht «blinde Gläubigkeit» dieser Gegner selbst.

Eine viel beliebte und doch nur irreführende Art, über die Geisteswissenschaft abfällig zu sprechen, besteht darin, daß man ein entstelltes Bild gibt über die «Zusammenset­zung der Menschenwesenheit» im Sinne dieser Wissenschaft, und dann dieses entstellte Bild kritisiert. Wer sich die Mühe nimmt, aus meiner «Theosophie» die Art zu erkennen, wie Geisteswissenschaft zu dieser «Zusammensetzung» gelangt, der kann finden, daß damit das Streben, die Natur des Men­schen zu erkennen, wie es ein Ideal aller Weltanschauungen war, auf eine Form gebracht werden soll, welche den For­derungen der gegenwärtigen Wissenschaft genügt. Neu an dieser «Zusammensetzung» ist im Grunde nur dasjenige, was durch die oben charakterisierten geistigen Fähigkeiten gewonnen wird. Das andere findet sich bei einer großen An­zahl einsichtiger Seelenforscher. Wenn man die «Siebenzahl»

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verfänglich findet als Zahl der menschlichen Wesens-glieder, so sollte man auch verfänglich finden, daß das Licht in sieben Regenbogenfarben, der Ton in einer siebenglied-rigen Tonleiter (die Oktav ist wieder Grundton) zur Offen­barung kommend gedacht werden müssen. Denn in dem­selben Sinne, nur auf einer höheren Stufe, offenbart sich der Mensch in sieben Gliedern, wovon drei, an den Leib ge­bunden, vergehen, drei - als geistige - unsterblich sind, und ein mittleres das Bindeglied bildet zwischen dem sterblichen und dem unsterblichen Teil des menschlichen Wesens. Es wird eine Zeit kommen, in welcher es ebensowenig ein «Aberglaube» sein wird, anzuerkennen, daß der Mensch diese «sieben» Glieder hat, wie es heute als «Aberglaube» gilt, daß der Regenbogen aus «sieben» Farben besteht. -Wer einfach sagt: die Theosophen geben sich mit Leib, Seele und Geist nicht zufrieden, sie wollen herausgefunden haben, daß der Mensch aus «sieben» Gliedern zusammen­gesetzt ist, der führt irre, weil er bei seinen Zuhörern und Lesern durch die Vorenthaltung der wahren Gründe für diese «Siebenzahl» dievorstellung erweckt, die sieben Glieder seien auf eine Willkür hin angenommen, während sie sich ergeben auf Grund sorgfältiger geisteswissenschaftlicher Forschung.

Und wie oft wird behauptet, das Gesetz der «wiederhol­ten Erdenleben» beruhe auf einem «bloßen Glauben». In Wahrheit beruht es auf den sorgfältigsten und nach Tiefe strebenden geisteswissenschaftlichen Untersuchungen. Durch diese findet man, daß sich im Leben des Menschen zwischen Geburt und Tod ein «Seelenkern» in Entwicke­lung zeigt, der ebenso die Grundlage eines neuen Menschen­lebens ist, wie der in der Pflanze sich entwickelnde Pflan­zenkeim die Grundlage eines neuen Pflanzenlebens ist, das

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sich in der Vorgängerpflanze also bereits veranlagt findet. Da der Pflanzenkeim physischer Natur ist, so findet man ihn mit den Mitteln der Sinneswissenschaft; da der «Seelenkern» geistig seelischer Art ist, so kann ihn nur die Seele beobachten, welche sich in einen leibfreien Zustand in oben beschriebenem Sinne versetzt. Und so wird im Menschen -streng wissenschaftlich - der unsterbliche Seelenkern gefun­den; er wird nicht etwa bloß vorgestellt auf eine Analogie (einen Vergleich) hin mit dem Pflanzenleben. Er zeigt sich der geistigen Beobachtung als dasjenige, was zwischen Ge­burt und Tod im gegenwärtigen Leben schon vorhanden ist, jedoch die Kräfte enthält, um die Seele über den Tod in ein rein geistiges Leben - zwischen dem Tode und einer neuen Geburt - zu führen und nach Verlauf dieses Lebens sie wieder zu einem neuen Erdenleben zurückzugeleiten. Daß auf höherer Stufe für das Menschenwesen etwas Ahnliches - nur mit dem Unterschiede, daß es geistig-seelisch ist - gefunden wird, wie auf niederer Stufe für das Pflan­zenleben, bezeugt, daß Geisteswissenschaft die wahre Fort­setzerin der Naturwissenschaft ist. - Der Pflanzenkeim -als physisches Wesen - kann zugrunde gehen, ohne ein neues Pflanzenwesen zur Entfaltung zu bringen; der «Seelenkern» erweist sich als unvergänglich; es gibt nichts, das ihn am Weiterführen des Lebens der Seele verhindert. Und wie die «wiederholten Erdenleben» Forschungs-Ergebnis und nicht «bloßer Glaube» sind, so ist es auch mit dem Gesetze von dem Zusammenhange dieser Erdenleben der Fall. Ein folgendes Erdendasein zeigt sich der Geistesforschung in bezug auf die Fähigkeiten, den Charakter und auch das Schicksal des Menschen als Wirkung der früher verbrachten Erdenleben.

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Man hat wirklich nicht nötig, seinen Verstand besonders anzustrengen, um scheinbare Widerlegungen zu finden für Angaben, welche der Geistesforscher macht über spezielle Zusammenhänge zwischen den einzelnen Erdenleben der Menschen. Ja, es ist auch nicht besonders schwierig, man­ches auf diesem Gebiete zu verspotten, da es doch den «verborgenen Tiefen des Daseins» angehört und sich dem Gebiete des gewohnten Denkens gegenüber leicht abson­derlich zeigen kann. Wenn zum Beispiel der Geistesforscher sagt: es komme vor, daß ein Mensch in einem Erdenleben idiotisch war, sich aber gerade durch seine Erlebnisse als Idiot, auf die er nach dem Tode zurückblickt, für ein fol­gendes Erdenleben die Kräfte zu einem philanthropischen Genie aneignet, so werden Menschen von einer gewissen Gesinnung gegenüber einer solchen Bemerkung selbstver­ständlich lachen und spotten; wer durch den Einblick in wahre geisteswissenschaftliche Forschung und die damit notwendig zusammenhängende Gefühisstimmung des For­schers sich einen Begriff verschafft von dem tiefen Ernst, der einer solchen Aussage zugrunde liegen muß, von dem geistigen Arbeiten, durch das man eine solche Aussage der Seele abringt, dem werden das Lachen und der Spott ver­gehen. Er wird aber auch seine Seelenstimmung vertiefen gegenüber der Betrachtung der Tiefe, Herrlichkeit und inneren Würde alles Menschen- und Weltdaseins.

Wie leicht ist es ferner, etwa zu sagen: ja, was wird aus der menschlichen Freiheit, wenn des Menschen Tun von seinen vorangehenden Erdenleben bestimmt wird? Denn wenn so der Mensch einem Gesetze des Schicksals gemäß handelt, so handle er doch nicht frei. Es ist eine leicht­geschürzte Logik, die in einem solchen Einwand sich ent­hüllt.

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Wenn ich meinen Fuß vorsetze, so handle ich gemäß den Lebensgesetzen meines Beines. Kann dadurch jemand die Freiheit gefährdet glauben? Wird man etwa sagen: ja, wenn ich in Gemäßheit der Lebensgesetze des Beines gehe, so bin ich im Gehen nicht frei? Ebenso wenig sollte jemand zu dem logischen Fehler sich gedrängt fühlen, zu sagen: wenn der Mensch im Sinne des Gesetzes vom Schicksal handelt, so könne nicht von Freiheit gesprochen werden. -Man kann finden, daß eine wirklich gründliche und ernsthafte Logik überall mit den Ergebnissen der Geistes-forschung im Einklang steht; von einer mangelhaften Logik - die sich nur allzu oft für unfehlbar hält - kann dies allerdings nicht gesagt werden. Man kann es von einer sol­chen auch wohl nicht verlangen und erwarten.

Wenn es nun gegenüber den Fortschritten der natur-wissenschaftlichen Vorstellungsart wenigstens einen schein­baren Grund - allerdings nur einen scheinbaren - dafür gibt, daß die Bekenner verschiedener Religionen eine Ge­fahr für das religiöse Leben fürchten, so sollte bei einigem besonnenem Nachdenken gegenüber der Geisteswissenschaft selbst dieses wegfallen. In den Ergebnissen der Naturwis­senschaft glaubt so mancher, der nicht gründlich denken kann, etwas zu haben, was ihm eine religionslose Welt­anschauung aufnötigt. Er glaubt, daß Naturwissenschaft gegen Unsterblichkeit und göttliche Weltenlenkung spreche. So wahr es nun auch ist, daß echte Geisteswissenschaft keine neue Religion oder Sekte stiften will, so wahr ist es auch, daß sie Herz und Gemüt des Menschen im schönsten und höchsten Sinne religiös stimmt, daß sie die beste För­derin tiefsten religiösen Empfindens ist. Nur ein solcher kann sich dieser Einsicht verschließen, dem es im Ernste gar

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nicht um die Förderung wahrer Religiosität zu tun ist, sondern dem es darauf ankommt, das Wissen von den geistigen Welten zu unterbinden. Wer für sein religiöses Empfinden, seine Gottesvorstellung wirklich den rechten Glauben aufbringt, der wird nicht so schwachmütig sein können, zu meinen, daß dieses religiöse Empfinden, diese Gottesvorstellung durch eine Erweiterung des Wissens Schaden nehmen können. Man denke doch nur, daß jemand dem Kolumbus gesagt hätte, er dürfe kein unbekanntes Land entdecken, denn man müsse fürchten, daß in einem solchen Lande die Sonne vielleicht nicht scheine, die doch das alte Land so herrlich erleuchte. Der Verständige hätte erwidert, daß die Sonne über jedes neu entdeckte Land scheinen werde. Wer eine Gottesvorstellung, ein religiöses Leben hat, die tief und wahr genug gegründet sind, der fürchtet für diese Vorstellung und dieses Leben nicht, denn er weiß, der wahre Gott offenbart sich in jedem physischen oder geistigen Gebiete, das der Mensch je entdecken kann; und das echte religiöse Empfinden muß vertieft und nicht untergraben werden, wenn der Mensch seinen Blick über den Umkreis des Weltendaseins erweitert.

Besonders anstößig ist für viele Menschen dasjenige, was die Geisteswissenschaft über die Christus-Wesenheit zu sa­gen hat. Und doch liegt auch dem nur ein Mißverständnis zugrunde. Wenn jemand zum Beispiel sagt, die Geistes-wissenschaft behaupte, daß Jesus nicht von jung auf unter der Leitung des heiligen Geistes zum Christus herangereift sei, sondern daß er in den ersten dreißig Lebensjahren nur die leibliche Hülle zubereitet habe, in die sich bei der Taufe durch Johannes der Christus niederließ: so verzerrt er die Ergebnisse der Geisteswissenschaft in diesem Punkte. Die

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Geistesforschung untersucht, was eigentlich durch die Jo­hannestaufe geschehen ist, die ja ganz unzweifelhaft auch der Bibel gemäß als ein wichtiges Ereignis im Jesus-Leben zu gelten hat. (Es gibt Übersetzer des Evangeliums, welche die wichtige Stelle bei Lukas wiedergeben: «Dieser ist mein vielgeliebter Sohn; heute habe ich ihn gezeuget».) Und diese Forschung findet, daß der Christus-Geist, der Jesus von Nazareth bis zu seinem dreißigsten Jahre wie von außen geführt hat, dann in diesem Jahre in das Innerste seines Wesens eingezogen ist. Sicher wird die Bibelforschung der Zukunft erkennen, daß gerade in diesem Punkte auch das Evangelium nicht den Gegnern der Geisteswissenschaft, sondern dieser recht gibt. - Warum greift man von christ­licher Seite überhaupt die Christus-Lehre der Geisteswis­senschaft an? Diese enthält nichts, aber auch gar nichts von einer Verneinung dessen, was das bisherige Christentum über Christus sagt. Sie gibt nur eine Erweiterung, Erhö­hung des Christus-Begriffes. Man sollte glauben, daß dar­über jeder frohlocken müßte, der es ehrlich im tiefsten Herzensgrunde mit dem Christus hält. Wenn durch Gei­steswissenschaft das Ereignis von Golgatha in seiner welt­umspannenden Bedeutung wissenschaftlich erkannt wird, so wird ihm nichts genommen von derjenigen Anerken­nung, die nur irgendein Christ dafür in Anspruch nehmen kann. Wohin kommt man, wenn man es unstatthaft findet, daß jemand über den Christus noch etwas anderes glaubt, als man selber glauben will? Man kommt dazu, zu sagen: ich verlange von dir nicht nur, daß du glaubst, was ich glaube; sondern ich mißbillige an dir, daß du auch noch etwas wissen willst, was ich nicht wissen und nicht glauben will.

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In diesen Ausführungen sollten nur einige, wenige Ge­sichtspunkte angegeben werden, welche vielleicht geeignet erscheinen, auf manches unrichtige Urteil über die Geistes­wissenschaft hinzuweisen. Wollte man einzelnes bespre­chen, was über diese da oder dort gesagt wird, man müßte wohl mehr als einige Seiten schreiben. Aber man würde sicherlich, wenn man dieses täte, die unrichtigen Urteile nicht zum Verstummen bringen, welche zum Beispiel im Gefolge des Baues der Dornacher «Hochschule für Geistes­wissenschaft» in Umlauf gesetzt worden sind. - Dieser Bau wird der anthroposophischen Gesellschaft dienen, welche einzig und allein der Pflege der hier charakterisier­ten Geisteswissenschaft gewidmet ist. Diese Gesellschaft ist zwar aus der sogenannten «theosophischen Gesellschaft» hervorgegangen, hat aber nunmehr nicht das geringste mit dieser zu tun. Die Mitglieder dieser anthroposophi­schen Gesellschaft veranstalteten seit einer Reihe von Jah­ren in jedem Sommer in München geisteswissenschaftliche und künstlerische Darbietungen. Zu diesen fanden sich die Mitglieder aus allen westeuropäischen Ländern zusammen. Die wachsende Zahl der teilnehmenden Mitglieder wurde so groß, daß ein eigener Bau in Aussicht genommen wer­den mußte. Die beste Stelle für einen solchen Bau ist nun sicherlich die westliche Schweiz; der Bau ist in diesem Ge-biete im Mittelpunkt desjenigen Teiles von Europa, in dem die meisten Mitglieder der anthroposophischen Gesellschaft ihren Wohnsitz haben. Und diese sind durch diese Lage des Baues in die Möglichkeit versetzt, im Anschlusse an die Veranstaltungen die herrlichen Naturschönheiten der Schweiz zu besuchen. Daß sich in Zukunft die Veranstal­tungen über größere Teile des Jahres ausdehnen und dadurch

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auf naturgemäße Weise sich eine «Hochschule für Geisteswissenschaft» ergeben werde, liegt im Wesen dieser Wissenschaft und ihrer Bedeutung für das geistige Leben der Gegenwart. - Wer sich mit der in der anthroposophi­schen Gesellschaft gepflegten Gesinnung und Arbeitsweise nur ein wenig bekannt macht, wird nicht fürchten - was auch im Gefolge des Dornacher Baues befürchtet worden ist -, daß diese Gesellschaft in der Gegend des Baues oder sonst irgendwo eine störende Propaganda treiben werde. Wer allerdings demgegenüber die Bemerkung macht: es erscheinen doch Bücher über Geisteswissenschaft; es wer­den doch Vorträge gehalten; ist das keine Propaganda? dem braucht man - nichts zu erwidern, denn es könnte ihm ja auch beifallen zu sagen: du schweigst doch nicht über Geisteswissenschaft, also treibst du Propaganda. -Gesagt aber muß werden, daß die ganze Art, wie die anthroposophische Gesellschaft arbeitet, nicht auf Propa­ganda, sondern darauf angelegt ist, daß wahrheitsuchende Seelen aus vollster innerer Freiheit heraus und nur auf Grundlage eigner Urteilskraft eine Stätte finden, wo über die Geisteswelten nach Wahrheit gestrebt wird.

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Nachwort

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Die unmittelbare Veranlassung zu diesen Ausführungen gab der in der Beilage zum «Tagbiatt für das Birseck, Bir­sig- und Leimental» gebrachte Abdruck eines Vortrages:

«Was wollen die Theosophen?», den Herr Pfarrer E. Rig­genbach am Familienabend der reformierten Kirchgenossen in Arlesheim am 14. Februar 1914 gehalten hat. Die Redaktion

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des genannten «Tagblattes» war so liebenswürdig, eine ausführliche Erwiderung von mir in seinen Spalten zu bringen, an deren Schluß ich sagte, daß «ich die ruhig-sachliche, herzvolle Auseinandersetzung des Herrn Pfarrer voll würdige und ihm dafür dankbar bin.» Auf diese meine Erwiderung hin brachte das Blatt die folgenden Zeilen des Herrn Pfarrer Riggenbach:

Ein letztes Wort zur Frage: #SE035-172

diskreditieren zu wollen. Ich hoffe vielmehr, daß wir mit den Mitgliedern der Gesellschaft, die nun unsere Gäste geworden sind, wie bisher in gutem Einvernehmen leben werden.

Arlesheim, den 2. März 1914 E. Riggenbach, Pfarrer

Diese loyale Bemerkung des Herrn Pfarrer Riggenbach veranlaßt mich, von der ursprünglich gehegten Absicht abzugehen, meine Erwiderung so als Druckschrift erschei­nen zu lassen, wie sie im «Tagblatt für das Birseck, Birsig­und Leimental» gestanden hat. Ich habe die Ausführungen dieser Erwiderung ganz losgelöst von ihrer Beziehung auf Pfarrer Riggenbach und das notwendig Auszusprechende ganz für sich hingestellt und durch einige Bemerkungen erweitert. Einem Gegner gegenüber, der in so vornehmer Art seine Gesichtspunkte vertritt, wie Pfarrer Riggenbach es tut, widerstrebt es mir, das einmal Gesagte mit der Be­ziehung auf ihn ein zweites Mal abzudrucken.

DIE AUFGABE DER GEISTESWISSENSCHAFT UND DEREN BAU IN DORNACH

#G035-1965-SE173 - Philosophie und Anthroposophie (1904 - 1918)

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DIE AUFGABE DER GEISTESWISSENSCHAFT UND DEREN BAU IN DORNACH

Vorwort

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Die in dieser Schrift enthaltenen Betrachtungen sind die Wiedergabe eines Vortrages, der von mir gehalten worden ist, nachdem von anderer Seite in einem Vortrage eine Reihe von Einwendungen gegen die Anschauungen vor­gebracht worden sind, die ich mit dem Namen Anthropo­sophie, oder auch Geisteswissenschaft zusammenfasse. Die Einwendungen dieses Vortrages lernte ich dadurch ken­nen, daß sie der Vortragende selbst in einer Zeitung abdrucken ließ. Es könnte, mit Rücksicht auf diese Ver­anlassung zu dem von mir in dieser Schrift Vorgebrachten, so erscheinen, als ob deren besondere Veröffentlichung un­gerechtfertigt wäre. Dem gegenüber darf gesagt werden, daß die in Frage kommenden Einwendungen, wenn sie auch zunächst nur Gegenstand eines einzelnen Vortrages waren, doch solche sind, mit denen man von vielen Seiten und in zahlreichen Wiederholungen die in dieser Schrift gemeinte Geisteswissenschaft (Anthroposophie) zu wider­legen vermeint. Es waren gewissermaßen typische «Wider­legungen». Sie waren dies nicht nur durch dasjenige, was vorgebracht wurde, sondern auch durch die Art, wie man sich zu dem stellte, gegen das die Einwendungen erhoben wurden. Und eben diese Art ist das Bezeichnende. Sie be­steht vielfach darin, daß man nicht etwa dasjenige ins Auge faßt, was die gemeinte Geisteswissenschaft sagt, und dagegen sich wendet, sondern man zimmert sich ein Bild zurecht nach dem oder jenem, was man meint, daß sie sage,

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und wendet sich dann gegen dieses Bild. Dabei tritt etwas ganz Absonderliches zu Tage. Der Angegriffene kann mit dem Angreifer ganz einverstanden sein in der Verurtei­lung alles dessen, was angegriffen wird, und er muß doch erfahren, daß man ihn mit dem Zerrbilde, das man von ihm geformt hat, mitverurteilt. - Für diese Art des An­griffs ist ein Beispiel ganz besonders bezeichnend. Den anthroposophischen (geisteswissenschaftlichen) Bestrebun­gen wird ein Haus gebaut. Dasselbe soll einer «Hochschule für Geisteswissenschaft» dienen. Für diesen Bau wird an­gestrebt, in der künstlerischen Gestaltung das zu verwirk­lichen, wozu diese Geisteswissenschaft anregen kann. Der Bau soll künstlerisch zum Ausdruck bringen, wofür er die Umrahmung bildet. Wie das geschieht, darüber kann si­cherlich von diesem oder jenem künstlerischen Gesichts­punkte das oder jenes eingewendet werden. Und der Ver­fasser dieser Schrift ist weit davon entfernt, zu glauben, daß das Angestrebte durch diesen Bau einwandfrei erreicht werden könne. Was er aber von diesem Bau ganz fern zu halten sucht, ist jede Art von unkünstlerischer Symbolik oder Allegorisiererei. Man hat nur notig, seine Augen zu gebrauchen, um bei Besichtigung dieses Baues gar nichts Symbolisches oder Allegorisches in dem Sinne zu finden, wie man dergleichen oft dort antrifft, wo allerdings nicht Geisteswissenschaft, wie sie in diesem Bau getrieben wer­den soll, sondern ungesunder Mystizismus oder Ähnliches sich geltend macht. Dies aber hindert nicht, daß einer der Einwände gegen den Bau also gezimmert wird: «wer die­sen Bau betritt, dem werden allerlei für den «Nicht Eingeweihten» unverständliche geheimnisvolle Symbole ent­gegentreten... und so weiter.» Auf solchem Wege gelingt

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es, das mit dem Bau Gewollte zu bekämpfen; aber nur dadurch, daß man seinen Kampf gegen etwas richtet, was gar nicht vorhanden ist, und was der Angegriffene im ent­sprechenden Falle ebenso zurückweisen würde, wie es der Angreifer tut. - Aber so gestaltet sich weitaus das meiste, was gegen die gemeinte Geisteswissenschaft vorgebracht wird. Man macht aus ihr erst ein Zerrbild, das jeder wis­senschaftlichen Gesinnung Hohn spricht, und bekämpft dann dieses Zerrbild mit den Waffen der Wissenschaft; man bildet ein anderes Zerrbild, das man vom Gesichts­punkte religiöser Empfindung bekämpft, während in Wahr­heit kein religiöses Bekenntnis auch nur den geringsten An­laß haben würde, die in Rede stehende Geisteswissenschaft anders als wohlwollend zu betrachten, wenn sie deren wahre Gestalt statt eines Zerrbildes ins Auge fassen wollte.

Bei solcher Lage der Dinge wird es fast zur Unmöglich­keit, den Angriffen anderes gegenüber zu stellen als die wirk­lichen Wege und Ziele der anthroposophisch orientierten Gei­steswissenschaft. Dies hat mein Vortrag, der dieser Schrift zum Grunde gelegt ist, versucht. Es wird vor allem gezeigt, daß die Angriffe nicht treffen, weil sie auf selbstgemachte Ziele und nicht auf das sich richten, von dem sie sprechen.

So will diese Schrift die wahre Gestalt der Geisteswis­senschaft gegenüber der erdichteten zeichnen.

In einem Nachwort soll noch Einiges kurz gesagt wer­den, was die in der Schrift vorgebrachten Andeutungen erweitert. Wenn in dem Vortrage oftmals «wir» steht, so ist dies, weil ich gewissermaßen als Vertreter des Kreises sprach, der die Anthroposophie pflegt.

Berlin, April 1916 Rudolf Steiner

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Wenn ich am heutigen Abend versuchen werde, einiges vorzubringen über die sogenannte Geisteswissenschaft, wie sie behandelt werden soll in dem Ihnen ja bekannten Dornacher Bau und über diesen Bau selber, so ist keines­wegs meine Absicht, irgendwie Propaganda oder Stim­mung zu machen für diese Geisteswissenschaft oder für diesen Bau.

Ich habe vorzugsweise im Auge, gewisse Mißverständ­nisse, von denen bekannt geworden ist, daß sie über die Bestrebungen der anthroposophischen Gesellschaft vorhan­den sind, zu besprechen. Ich möchte mit demjenigen be­ginnen, wonach eine zunächst mehr oder weniger unbe­kannte Sache, wenn sie da oder dort auftritt, beurteilt wird. Es ist nur allzubegreiflich, daß derjenige, der einer Sache noch wenig nahe getreten ist, in dem Namen irgend etwas sieht, woraus er die Sache verstehen will. Anthropo­sophie und Anthroposophische Gesellschaft sind ja Namen, welche mehr, als sie es früher waren, durch den Dornacher Bau bekannt geworden sind. «Anthroposophie» ist keines­wegs ein neuer Name. Als es sich vor einer Anzahl von Jahren darum handelte, unserer Sache einen Namen zu geben, da verfiel ich auf einen solchen, der mir lieb ge­worden war, deshalb, weil ein Philosophie-Professor, des­sen Vorträge ich in meiner Jugendzeit gehört habe, Robert Zimmermann, sein Hauptwerk «Anthroposophie» ge­nannt hat. Das war in den achtziger Jahren des 19. Jahrhun­derts. Übrigens führt der Name Anthroposophie weiter zurück in der Literatur. Man brauchte ihn auch schon im 18. Jahrhundert; ja auch früher. Der Name ist also alt; wir wenden ihn für Neues an. Uns soll der Name nicht bedeuten «Wissen vom Menschen». Das ist die ausdrückliche

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Absicht derjenigen, die den Namen gegeben haben. Unsere Wissenschaft selbst führt uns zu der Überzeugung, daß innerhalb des Sinnesmenschen ein Geistesmensch lebt, ein innerer Mensch, gewissermaßen ein zweiter Mensch.

Während nun dasjenige, was der Mensch durch seine Sinne und durch den an die Sinnesbeobachtung sich hal­tenden Verstand über die Welt wissen kann, «Anthropo­logie» genannt werden kann, soll dasjenige, was der innere Mensch, der Geistesmensch wissen kann, «Anthroposophie» genannt werden.

Anthroposophie ist also das Wissen des Geistesmenschen; und es erstreckt sich dieses Wissen nicht bloß über den Menschen, sondern es ist ein Wissen von allem, was in der geistigen Welt der Geistesmensch so wahrnehmen kann, wie der Sinnesmensch in der Welt das Sinnliche wahr­nimmt. Weil dieser andere Mensch, dieser innere Mensch, der Geistesmensch ist, so kann man dasjenige, was er als Wissen erlangt, auch «Geisteswissenschaft» nennen. Und der Name Geisteswissenschaft ist noch weniger neu als der Name Anthroposophie. Er ist nämlich gar nicht einmal selten; und es wäre ein völliges Mißverstehen, wenn irgend jemand glauben würde, daß etwa ich, wie gesagt worden ist, oder irgend jemand mir Nahestehender den Namen Geisteswissenschaft geprägt habe. Geisteswissenschaft wird überall da gebraucht, wo man glaubt, ein Wissen erlangen zu können, das nicht bloß Naturwissen, sondern Wissen von etwas Geistigem ist. Zahlreiche unserer Zeitgenossen nennen die Geschichte eine Geisteswissenschaft, nennen die Soziologie, die Nationalökonomie, die Ästhetik, die Reli­gions-Philosophie Geisteswissenschaften. Wir gebrauchen den Namen nur in etwas anderem Sinne, nämlich in dem,

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daß uns der Geist etwas Wirkliches, etwas Reales ist, wäh­rend diejenigen, die heute zumeist sprechen von der Ge­schichte, von der Nationalökonomie und so weiter als Gei­steswissenschaften, den Geist in abstrakte Ideen auflösen.

Ich will nun auch über die Entwickelung unserer Anthro­posophischen Gesellschaft einiges sagen, weil darüber Irr­tümer verbreitet worden sind. Es wird zum Beispiel ge­sagt, daß unsere Anthroposophische Gesellschaft nur eine Art von Entwickelung wäre aus dem, was man die «Theo­sophische Gesellschaft» nennt. Obzwar dasjenige, was wir innerhalb unserer Anthroposophischen Gesellschaft anstre­ben, eine Zeitlang innerhalb des Rahmens der Allgemeinen Theosophischen Gesellschaft sich gestellt hat, darf doch keineswegs unsere Anthroposophische Gesellschaft mit der Theosophischen Gesellschaft verwechselt werden. Und da­mit dies nicht geschehe, muß ich einiges, was anscheinend persönlich ist, vorbringen über die allmähliche Entstehung der Anthroposopl:ischen Gesellschaft.

Es war vor etwa fünfzehn Jahren, da wurde ich von einem kleinen Kreise aufgefordert, gewisse geisteswissen­schaftliche Vorträge zu halten. Diese geisteswissenschaft­lichen Vorträge wurden dann später gedruckt in meinem Buche «Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geistes­lebens und ihr Verhältnis zu der Naturwissenschaftlichen Weltanschauung». Bis dahin hatte ich, ich möchte sagen, in einem einsamen Denkerwege versucht, eine Weltanschau­ung aufzubauen, die auf der einen Seite voll mit den gro­ßen, mit den bedeutsamen Errungenschaften der Natur­wissenschaften rechnet, und die auf der anderen Seite sich erheben will zum Einblick in die geistigen Welten.

Ich muß ausdrücklich betonen, daß, als ich dazumal aufgefordert

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worden bin, über das genannte geisteswissen­schaftliche Thema in einem kleineren Kreise Deutschlands zu sprechen, ich mich in nichts an die Schriftstellerin Bla­vatsky oder an Annie Besant anlehnte oder sie besonders berücksichtigte. Deren Bücher waren durch ihre Betrach­tungsweise meiner Weltanschauung wenig entsprechend. Ich hatte, rein aus dem heraus, was ich gefunden hatte, dazumal versucht einige Gesichtspunkte über die geistigen Welten zu geben. Diese Vorträge wurden gedruckt; und sie wurden sehr bald teilweise ins Englische übersetzt, und zwar von einem angesehenen Mitgliede der dazumal be­sonders in England blühenden Theosophischen Gesellschaft; und von jenem Kreise wurde mir dazumal nahe gelegt, in die Theosophische Gesellschaft einzutreten. Niemals habe ich eine andere Idee gehabt, als die, wenn mir eine Mög­lichkeit geboten wird innerhalb der Theosophischen Gesell­schaft, etwas vorzubringen, es das sein solle, was auf Grundlage einer eigenen, selbständigen Forschungsmethode aufgebaut war.

Was jetzt Inhalt der anthroposophischen Weltanschau­ung ist, wie sie in unserem Kreise gepflegt wird, das ist nicht von der Theosophischen Gesellschaft entlehnt, son­dern es wurde als etwas ganz Selbständiges und einer Auf­forderung dieser Gesellschaft zufolge innerhalb derselben von mir vertreten, so lange, bis man es dort ketzerisch fand und ihm den Stuhl vor die Türe setzte; und das­jenige, was so immer ein selbständiges Glied innerhalb jener Gesellschaft war, das entwickelte sich weiter und wurde weiter gepflegt in der nunmehr auch ganz selbstän­digen anthroposophischen Gesellschaft.

So ist es eine vollständig irrtümliche Auffassung, wenn

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man dasjenige, was in der Anthroposophischen Gesell­schaft lebt, in irgendeiner Weise verwechselt mit dem­jenigen, was von Blavatsky und Besant vertreten wird. Blavatsky hat allerdings in ihren Büchern bedeutsame Wahrheiten über die geistigen Welten vorgebracht, allein vermischt mit so viel Irrtum, daß es nur demjenigen, der genau eingedrungen ist in diese Dinge, gelingt, das Bedeu­tungsvolle vom Irrtümlichen zu trennen. Daher muß un­sere anthroposophische Bewegung den Anspruch machen, als etwas völlig Selbständiges aufgefaßt zu werden. Das soll nicht aus Unbescheidenheit vorgebracht werden, son­dern nur um eine Tatsache objektiv richtigzustellen.

Dann kam die Zeit, in welcher es nötig wurde, das­jenige, was unsere Geisteswissenschaft, unsere Anthropo­sophie, gab, durch Lehren, auch in einer künstlerisch dra­matischen Form darzustellen. Wir fingen damit an im Jahre 1909 in München. Von da ab haben wir dann bis zum Jahre 1913 jedes Jahr, in dramatischen Darstellungen, in München, versucht, dasjenige zur künstlerischen Darstel­lung zu bringen, wovon wir nach unseren Forschungen annehmen müssen, daß es als geistige Kräfte, als geistige Wesenheiten, in der Welt lebt.

Diese dramatischen Vorführungen wurden zunächst in einem gewöhnlichen Theater gegeben. Allein bald stellte es sich heraus, daß ein gewöhnliches Theater nicht die rich­tige Umrahmung sein kann für dasjenige, was da in einer gewissen Weise neu in die geistige Entwickelung der Mensch­heit eintreten sollte. Und so stellte sich die Notwendigkeit heraus, für solche Aufführungen, überhaupt für den ganzen Betrieb unserer Geisteswissenschaften und geisteswissen­schaftlichen Kunst, ein eigenes Gebäude zu haben, ein Gebäude,

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das auch in seiner Bauform ein Ausdruck ist für dasjenige, was gewollt wird. Zuerst wurde gemeint, daß es gut wäre, einen solchen Bau in München aufzuführen. Als das dann sich als unmöglich oder wenigstens als außer­ordentlich schwierig erwies, ergab sich für uns die Möglich­keit, diesen Bau in Dornach bei Basel aufzurichten, auf dem wunderschönen Dornacher Hügel, wo uns ein grö­ßeres Stück Boden angeboten wurde von einem lieben schweizerischen Freunde, der diesen Boden zur Verfügung hatte, und der unserer Sache zugetan ist. Und so hat sich auch durch ganz leicht begreifliche Umstände ergeben, daß dieser Bau gerade am Nordwest-Ende der Schweiz auf­gerichtet worden ist.

Und nun möchte ich, bevor ich ein weiteres über den Dornacher Bau sage, eingehen auf die Aufgabe der Gei­steswissenschaft selber. Man kann es durchaus begreiflich finden, daß diese Geisteswissenschaft, die Anthroposophie, wie sie hier gemeint sind, mißverstanden werden. Der­jenige, der sich eingelebt hat in diese Geisteswissenschaft, findet es vollständig begreiflich, daß viele Mißverständ­nisse ihr entgegengebracht werden. Und wer den Gang der Geistesentwickelung der Menschheit kennt, wird sich nicht wundern über solche Mißverständnisse. Urteile wie: das ist eitle Phantasterei, das ist Träumerei oder vielleicht Schlimmeres, - sie sind begreiflich. So, wie diese Geistes­wissenschaft, wurden in der Regel diejenigen Dinge auf­gefaßt, die in einer ähnlichen Art in die Geistesentwicke­lung der Menschheit eingetreten sind. Und außerdem kann es sehr leicht scheinen, als ob diese Geisteswissenschaft Ähn­lichkeit hätte mit gewissen älteren Weltanschauungen, die in der Gegenwart nicht gerade beliebt sind. Man könnte

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etwa finden, wenn man das, was Geisteswissenschaft, was Anthroposophie wollen, nur äußerlich anschaut, daß es Ähnlichkeit habe mit dem, was die Gnostiker in den ersten christlichen Jahrhunderten pflegten. Derjenige aber, der wirklich kennen lernt, was unsere Geisteswissenschaft ist, der wird finden, daß sie nicht mehr Ähnlichkeit hat mit der Gnosis, als die Naturwissenschaft der Gegenwart Ähn­lichkeit hat mit der Naturwissenschaft aus dem 8. oder 6. Jahrhundert nach Christus. Man kann ja allerdings zwi­schen allen Dingen Ähnlichkeit finden, wenn man nur ge­nügend viel von dem Unterscheidenden wegdenkt. Wenn man zum Beispiel sagt: Nun, diese Geisteswissenschaft, diese Anthroposophie, will auf eine geistige Art die Welt erkennen. Die Gnostiker wollten auch auf eine geistige Art die Welt erkennen. Folglich sind Geisteswissenschaft und Gnosis ein und dasselbe.

In ähnlicher Weise kann man zusammenwerfen die An­throposophie, sagen wir mit der Alchemie, mit der Magie des Mittelalters. Das alles beruht auf einem vollständigen Verkennen, auf einem vollständigen Mißverständnis des­sen, was diese Geisteswissenschaft, diese Anthroposophie, eigentlich will. Wenn man dies einsehen will, dann muß man zunächst hinblicken auf das, was sich seit drei bis vier Jahrhunderten als neuere naturwissenschaftliche Denkungs-weise aus einer ganz anderen Denkungsweise heraus ent­wickelt hat. Man muß sich klar machen, was es für die Menschheit bedeute, als vor drei bis vier Jahrhunderten jener Umschwung eintrat, den man ausdrücken kann mit den Worten: Bis dahin glaubten die Menschen, Laien und Gelehrte, die Erde stehe still im Weltenall, die Sonne und die Sterne bewegten sich um die Erde. Man kann sagen:

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Damals wurde durch dasjenige, was durch Kopernikus, Galilei und andere gelehrt worden ist, den Menschen der Boden unter den Füßen beweglich gemacht. Heute, wo man die Bewegung der Erde als eine Selbstverständlichkeit ansieht, heute hat man gar kein Gefühl mehr davon, wie überraschend das - und alles, was damit zusammenhing -auf die Menschheit gewirkt hat.

Dasjenige nun, was dazumal versucht worden ist für die Naturwissenschaft in der Ausbeutung und Erklärung der Geheimnisse der Natur, das versucht, für den Geist und für das Seelische, die Geisteswissenschaft in der heuti­gen Zeit. Nichts anderes will diese Geisteswissenschaft in ihren Grundlagen sein, als für das geistig-seelische Leben etwas Ähnliches, wie die Naturwissenschaft es dazumal geworden ist für das äußere Naturleben. Derjenige, der zum Beispiel glaubt, daß unsere Geisteswissenschaft irgend etwas mit der alten Gnosis zu tun habe, der verkennt ganz, daß mit dieser naturwissenschaftlichen Weltanschau­ung etwas Neues in die Geistesentwickelung der Mensch­heit eingetreten ist und daß, als Folge dieses Neuen, die Geisteswissenschaft etwas ähnlich Neues für die Erfor­schung der geistigen Welten sein soll. Nun muß die Geistes­wissenschaft, wenn sie für den Geist dasselbe sein will wie die Naturwissenschaft für die Natur, ganz anders forschen als die letztere. Sie muß Mittel und Wege finden, um in das Gebiet des Geistigen einzudringen, das nicht wahr­genommen werden kann mit äußeren physischen Sinnen, nicht begriffen werden kann mit dem Verstande, der an das Gehirn gebunden ist.

Es ist heute noch schwierig, sich verständlich zu machen über die Mittel und Wege, welche die Geisteswissenschaft

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sucht, um in das geistige Gebiet einzudringen, weil den weitesten Kreisen die geistige Welt, von vornherein, als die unbekannte gilt, ja als diejenige, die unbekannt blei­ben muß. Geisteswissenschaft zeigt nun, daß diejenige Erkenntniskraft, welche der Mensch für das gewöhnliche Leben hat, und die er auch in der gewöhnlichen Wissen­schaft anwendet, allerdings nicht in die geistige Welt ein­dringen kann. In dieser Beziehung ist die Geisteswissen­schaft in völligem Einklange mit gewissen Richtungen der Naturwissenschaft. Nur kennt die Naturwissenschaft ge­wisse Fähigkeiten im Menschen nicht, die in ihm schlum­mern, die aber entwickelt werden können.

Es ist auch schwierig, heute über diese Fähigkeiten zu sprechen, aus dem Grunde, weil sie in weitesten Kreisen verwechselt werden mit allerlei krankhaften Erscheinungen des Menschen. So zum Beispiel spricht man heute vielfach davon, daß der Mensch zu gewissen abnormen Fähigkeiten kommen könne; und der naturwissenschaftlich Gebildete erklärt dann: ja, aber diese Fähigkeiten beruhen nur dar­auf, daß das sonst normale Nervensystem, das sonst nor­male Gehirn, abnorm, krankhaft geworden sind. Überall da, wo der Naturforscher recht hat mit einer solchen Aus­sage, da gibt ihm auch der Geistesforscher ohne weiteres recht. Man sollte aber dasjenige, was die Geisteswissen­schaft anstrebt, nicht verwechseln mit dem, was oftmals in weitesten Kreisen, im trivialen Sinne, Hellsehen genannt wird. Man darf auch nicht verwechseln die Geisteswissen­schaft mit dem, was auftritt, etwa unter dem Namen des Spiritismus und so weiter. Gerade das ist das Wesentliche, daß diese Geisteswissenschaft unterschieden werde von allem, was irgendwie auf krankhaften Menschheitsanlagen beruht.

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Um mich in bezug auf diesen Punkt völlig verständlich zu machen, muß ich, wenigstens in kurzen Angaben, hin­deuten darauf, wie der Geistesforscher seine Forschungen anstellt. Es beruht die geisteswissenschaftliche Forschungsart auf etwas, was nichts zu tun hat mit den Seelenkräften des Menschen, insofern diese an die leibliche Organisation gebunden sind. Wenn zum Beispiel gesagt würde: Geistes­wissenschaft beruhe auf dem, was sich durch irgendwelche Askese erreichen läßt, oder auf etwas, wofür das Nerven­system in einer gewissen Weise zubereitet, aufgeregt ge­macht wird, oder sie beruhe darauf, daß in einer äußeren physischen Weise Geister zur Erscheinung gebracht werden, so wären diese Behauptungen sämtlich ganz unrichtig. Das­jenige, was der Geistesforscher zu tun hat, um sich die Fähig­keit zu erwerben, in die geistige Welt hineinzuschauen, das sind rein geistig-seelische Vorgänge; das hat nichts zu tun mit Veränderungen des Leibes, nichts mit denjenigen Visionen, die dem krankhaften Leibesleben entspringen.

Der Geistesforscher wird in sorgfältiger Weise darauf bedacht sein, daß auf alles dasjenige, was er geistig wahr­nimmt, das Leibliche keinen Einfluß habe. Ich erwähne nur nebenbei: wenn eine große Anzahl von Bekennern der Geisteswissenschaft zum Beispiel Vegetarier sind, so ist das eine Geschmackssache, die prinzipiell mit den geistigen Forschungsmethoden nichts zu tun hat. Es hat nur zu tun mit einer gewissen Erleichterung des Lebens, ich möchte sagen, sogar mit einem gewissermaßen bequemlicheren Ge­stalten des Lebens, weil man leichter arbeiten kann, in geistiger Weise wenn man kein Fleisch ißt

Die Hauptsache ist, daß die Geisteswissenschaft mit ihren Forschungswegen da erst beginnt, wo die neuere Naturwissenschaft

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aufhört. Die Menschheit verdankt dieser naturwissenschaftlichen Weltanschauung, ich möchte sagen, eine Logik, die sich an den Tatsachen der Natur selber er­zieht. Eine bedeutsame Schulung ist eingetreten bei den­jenigen, die sich mit Naturwissenschaft befaßt haben, in bezug auf die innere Handhabung des Denkens. Ich werde mich jetzt durch einen Vergleich verständlich zu machen suchen über das Verhältnis von geisteswissenschaftlichem und naturwissenschaftlichem Forschen. Das Denken, das der Naturforscher anwendet, ich möchte es vergleichen mit den Formen einer Bildsäule. Die an den äußeren, natür­lichen Tatsachen herangebildete Logik hat etwas Totes. Man hat in den Begriffen, in den Vorstellungen, indem man logisch denkt, Bilder. Aber diese Bilder sind nur inner­liche Gedankenformen, wie die Formen einer Bildsäule Formen sind.

Nun geht der Geistesforscher von diesem Denken aus. Man findet in meinem Buche «Wie erlangt man Erkennt­nisse der höheren Welten?» Anleitungen darüber, was man nun gerade mit dem Denken machen muß, damit es etwas völlig anderes wird, als es im gewöhnlichen Leben und in der gewöhnlichen Wissenschaft ist. Der Geistesforscher ent­wickelt sein Denken, er nimmt es in eine gewisse, ganz besondere Zucht. Ich kann in diesen kurzen Andeutungen nicht auf die Einzelheiten mich einlassen. Die sind in dem genannten Buche geschildert. Dann, wenn das Denken, wenn die im Menschen waltende Logik, in einer gewissen Art behandelt wird, verändert sich das ganze innere Seelenleben. Dann geschieht etwas, was dieses Seelenleben zu etwas anderem macht, als es sonst ist, und das ich jetzt wieder durch einen Vergleich anschaulich machen will.

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Denken Sie einmal, sehr verehrte Anwesende, - es kann natürlich das nicht eintreten, aber nehmen wir an, es würde eintreten -, daß eine Bildsäule, die vorher nur in toten Formen da stand, plötzlich anfinge zu gehen, lebendig zu werden. Die Bildsäule kann es nicht, aber das menschliche Denken, die innere logische Betätigung, die kann das. Durch die vorgenommenen Seelen-Übungen, die der Gei­stesforscher durchmacht, versetzt er sich in einen solchen Zustand, daß in ihm nicht nur eine gedachte Logik ist, sondern eine lebendige Logik, daß die Logik in ihm selber zu einem lebendigen Wesen wird. Dadurch aber hat er in sich statt der toten Begriffe lebendig Waltendes erfaßt. Er wird durchdrungen von lebendig Waltendem. Und wenn die Geistesforschung, außer dem physischen Leibe, den man mit Augen sieht, noch einen Ätherleib annimmt, dann ist damit nicht irgend etwas Erträumtes gemeint, sondern es ist gemeint, daß der Mensch dadurch, daß er das logische Denken in sich zum Leben aufgerufen hat, innerlich einen zweiten Menschen erlebt. Das ist eine Sache der Erfahrung, zu der man es bringen kann. Aber die muß eben gemacht werden, damit die Wissenschaft vom geisti­gen Menschen entstehen könne, gerade so wie die äußeren Experimente der Naturwissenschaft gemacht werden müs­sen, um der Natur ihre Geheimnisse abzulauschen.

Gerade so, wie man das Denken umwandelt, daß es nicht mehr nur zu Bildern führt, sondern innerlich regsam und lebendig wird, so kann man auch den Willen in einer gewissen Weise entwickeln. Die Methoden, wodurch der Wille so behandelt wird, daß man ihn als etwas anderes kennen lernt, als er im gewöhnlichen Leben ist, findet man ebenfalls in dem bereits genannten Buche geschildert.

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Durch diese Willensentwickelung kommt dann etwas ganz anderes zustande, als durch die Entwickelung des Denkens. Wenn man im gewöhnlichen Leben etwas will, wenn man arbeitet, dringt der Wille gleichsam in die menschlichen Glieder ein. Man sagt: Ich will, man bewegt die Hände; aber nur in dieser Bewegung kommt der Wille zum Aus­druck. In seinem Wesen bleibt er eigentlich unbekannt. Aber man kann, wenn man sich in einer gewissen Weise übt, den Willen loslösen von seinem Verbundensein mit den Gliedern. Man kann den Willen, allein für sich, er­leben. Das Denken kann man rege machen, so daß es ein inneres Lebendiges wird, eine Art Ätherleib. Den Willen kann man herausschälen, lostrennen von seinem Zusam-menhange mit der Leiblichkeit, und dann erlebt man, daß man in einem noch viel höheren Sinne einen zweiten Men­schen in sich hat als beim Denken. Durch die Entwickelung des Willens erlebt man, daß man einen zweiten Menschen in sich hat, der ein eigenes Bewußtsein hat. Wenn man in entsprechender Weise an seinem Willen arbeitet, dann tritt etwas ein, das ich nur klar machen kann, wenn ich daran erinnere, daß es im gewöhnlichen Leben zwei abwechselnde Zustände gibt: Wachen und Schlafen. Wachend lebt der Mensch bewußt; während des Schlafes hört das Bewußt­sein auf.

Nun, zunächst ist es eine bloße Behauptung, wenn man sagt, das Seelisch-Geistige, das hört aber nicht auf zwi­schen dem Einschlafen und Aufwachen. Aber es ist direkt nicht mehr in dem Leibe, es ist außerhalb desselben. Der Geistesforscher bringt es dahin, daß er sein Leibesleben willkürlich so gestalten kann, wie es unwillkürlich beim Einschlafen sich gestaltet. Er gebietet den Sinnen, dem gewöhnlichen

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Verstande Stillstand. Er erreicht dies durch Entwickelung des Willens. Und dann tritt das ein, daß man gewissermaßen willkürlich denselben Zustand hervorruft, den man sonst unwillkürlich als Schlafzustand hat. Doch ist andererseits das, was man jetzt hervorgerufen hat, auch völlig entgegengesetzt dem Schlafzustand. Während man im Schlafe unbewußt wird, nichts weiß von sich und der Umgebung, tritt man dadurch, daß man den Willen in der angedeuteten Art entwickelt hat, bewußt aus seinem Leibe heraus; man schaut den Leib außer sich, so wie man sonst einen äußeren Gegenstand außer sich wahrnimmt. Da merkt man: In dem Menschen lebt ein wesenhafter Zuschauer seines Denkens und Tuns. Das ist kein Bild, kein bildlicher Ausdruck, sondern das ist eine Wirklichkeit. In unserem Willen lebt etwas, was fortwährend uns inner­lich beobachtet. Man kann diesen inneren Zuschauer leicht wie etwas bildhaft Gemeintes ansehen; der Geistesforscher kennt ihn als eine Wirklichkeit, wie Sinnesgegenstände Wirklichkeiten sind. Und wenn man diese zwei hat: den beweglichen Denkmenschen, den Äthermenschen, und die-sen inneren Zuschauer, dann hat man sich in eine geistige Welt hineingestellt, die man wirklich erlebt, wie man mit den Sinnen die sinnliche Welt erlebt. Man findet so in dem Menschen einen zweiten Menschen, wie man den Sauer­stoff im Wasser durch die naturwissenschaftlichen Methoden findet.

Was das entwickelte Denken erreicht, sind nicht Visio­nen, sondern geistige Anschauungen von Wirklichkeiten; was man durch den entwickelten Willen erreicht, sind nicht gewöhnliche Seelenerlebnisse, sondern es ist die Entdeckung eines anderen Bewußtseins, als es das gewöhnliche ist. Es

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wirken nun aufeinander: der Mensch, der bewegliche Lo­gik ist, und der andere Mensch, der ein höheres Bewußt­sein ist. Wenn man diese im Menschen kennen lernt, dann kennt man dasjenige, was vom Menschen vorhanden ist auch dann, wenn sein physischer Leib zerfällt, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes geht. Man lernt das­jenige Wesen im Menschen kennen, das nicht durch den äußeren Leib wirkt, das geistig-seelisch ist, das nach dem Tode vorhanden sein wird, das auch vor der Geburt, oder sagen wir vor der Empfängnis, vorhanden war. Man lernt das ewige Wesen des Menschen so kennen, daß man es gleichsam herausgebildet hat aus dem gewöhnlichen sterb­lichen Menschen, wie man durch einen chemischen Prozeß den Sauerstoff aus dem Wasser herausbilden kann.

Alles das, was ich Ihnen jetzt vorgebracht habe, muß selbstverständlich gegenwärtig noch als phantastisch ange­sehen werden; es ist in bezug auf die gewohnten Darstel­lungen ebenso phantastisch, wie es phantastisch erschien, als Kopernikus gesagt hat: Nicht die Sonne bewegt sich um die Erde herum, sondern die Erde bewegt sich um die Sonne herum. Doch, was so phantastisch erscheint, ist eigentlich nur ein Ungewohntes. Es handelt sich nicht darum, daß mit dem was eben auseinandergesetzt worden ist, irgend etwas Erdachtes, Erträumtes gesagt wird, sondern es handelt sich darum, daß das Geistige wirklich durch innere Erlebnisse als Tatsache erfahren wird. Der Geistesforscher spricht nicht einfach vom Wesen des Menschen, indem er aufzählt: der Mensch besteht aus einem physischen Leibe, Ätherleib, Astralleib und so weiter, sondern er zeigt, wie dasjenige, was menschliche Natur ist, zerfällt, wenn man es vollstän­dig betrachtet, in gewisse Glieder, aus denen es gebildet ist.

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Und es ist, wenn man die Sache ihrem Grundwesen nach betrachtet, nichts in üblem Sinne Magisches oder Mystisches gemeint mit diesen Gliedern der menschlichen Wesenheit. Es zeigt eben die Geisteswissenschaft, daß der Mensch aus einzelnen Nuancen des menschlichen Wesens, aus einzelnen Schattierungen desselben besteht. Und das ist auf einem höheren Gebiete nichts anderes, als auf einem niederen die Tatsache ist, daß man das Licht so wirken lassen kann, daß es in sieben Farben erscheint. Wie das Licht in sieben Farben zergliedert werden muß, damit man es studieren kann, so muß man den Menschen in seine Teile gliedern, damit man ihn wirklich studieren kann.

Man sollte nicht erwarten, daß man das, was geistig ist, vor die Augen, vor die Sinne bringen kann. Es muß inner­lich, geistig erlebt werden. Und wer das innerliche Erleben, das geistige Erlebnis, überhaupt nicht als Tatsache gelten lassen will, dem wird alles Reden des Geistesforschers nur leeres Wortgeplänkel sein. Für denjenigen, der die geistigen Tatsachen kennen lernt, sind sie Wirklichkeiten in einem viel höheren Sinne als die physischen Tatsachen Wirklich­keit sind. Wenn die Pflanze wächst und Blüten und Früchte entwickelt hat, so entwickelt sich aus dem Pflanzenkeime wieder eine neue Pflanze; und man weiß, wenn man den Keim kennen lernt, es hat der Keim die ganze Kraft der Pflanze in sich, und eine neue Pflanze entsteht aus diesem Keime.

Das Geistig-Seelische muß man aus geistig-seelischen Tatsachen heraus kennen lernen. Dann weiß man: In dem lebendigen Denken, das von dem aus dem Willen gelösten Bewußtsein erfaßt wird, hat man einen Lebenskeim er­kannt, der durch die Pforte des Todes schreitet, durch die

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geistige Welt nach dem Tode geht und dann wieder zum Erdenleben zurückkehrt. Und so wahr, als der Pflanzenkeim eine neue Pflanze entwickelt, so wahr entwickelt das, was da im Menschen als Wesenskern ist, ein neues Erden­leben. Man sieht diesen neuen Menschen im gegenwärtigen Menschen, denn er wird innerlich lebendig.

Die Naturwissenschaft hat Methoden, gewisse Ereignisse zu berechnen, die in der Zukunft eintreten. Man kann aus dem Stand, aus dem gegenseitigen Verhältnis des Sonnen-und des Mondenstandes, berechnen, wann in der Zukunft Sonnen- und Mondenfinsternisse eintreten werden. Man braucht nur die entsprechenden Faktoren zu kennen, so kann man berechnen, wann in Zukunft eine gewisse Ster­nenkonstellation eintreten wird. Da muß man, weil man es mit dem äußeren Raume zu tun hat, es so machen, daß man die Mathematik anwendet. Aber dasjenige, was man innerlich als Lebenskeim erlebt, das enthält auch in leben­diger Art den Hinweis auf die künftigen Erdenleben. Wie in den gegenwärtigen Verhältnissen von Sonne und Mond der Hinweis auf künftige Sonnen- und Mondenfinsternisse liegt, so liegt in dem, was jetzt in uns lebt, der Hinweis auf zukünftige Erdenleben. Man hat es da nicht zu tun mit dem, was im Sinne älterer Anschauungen etwa Seelen­wanderung genannt wird, sondern man hat es zu tun mit etwas, was die neuere Geistesforschung aus den Tatsachen des geistigen Lebens, die erforscht werden können, findet.

Nun müssen gewisse Dinge sorgfältig ins Auge gefaßt werden, wenn man die eigentlichen Grundlagen der Gei­stesforschung verstehen will. Daß Denken und Wollen in der angedeuteten Art behandelt werden, dadurch gelangt man dazu, mit seinem Geistig-Seelischen herauszutreten

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aus dem Leibe. Man ist dann außer dem Leibe; und so, wie man sonst die äußeren Dinge vor sich hat, so hat man seinen eigenen physischen Leib vor sich. Aber das Wesent-liche ist, daß man ihn auch wirklich immer beobachten kann. Und wenn es sich um Geistesforschung im wahren Sinne des Wortes, so wie sie hier gemeint ist, handelt, dann darf niemals das eintreten, was bei irgendeinem krank­haften Seelenleben eintritt. Was ist denn das Charakteri­stische bei einem abnormen oder krankhaften Seelenleben? Wenn jemand in einen hypnotischen Zustand oder in eine sogenannte Trance, wie man gewisse Zustände nennt, ver­setzt wird, und aus dem Unterbewußten heraus spricht, was oft als eine Art von Hellsehen bezeichnet wird, dann ist das Wesentliche dabei, daß das gewöhnliche Bewußtsein nicht da ist, während das veränderte Bewußtsein sich betätigt. Es hat sich das erstere umgewandelt in ein her­abgedämpftes, abnormes Bewußtsein. Man wird beim abnormen und krankhaften Seelenzustand niemals sagen können: Neben diesem Seelenzustand ist der gesunde gleichzeitig da, - denn dann würde der Mensch ja nicht krank oder abnorm sein.

Bei der wirklichen Geistesforschung ist es so, daß der Mensch zu einem veränderten Bewußtsein kommt, daß er aber als normaler Mensch fortwährend neben sich steht. Der Zustand, in dem der geistige Forscher ist, der ent-wickelt sich nicht aus dem gewöhnlichen normalen Seelen-leben heraus, wenn er richtig ist, sondern nebenher. Wenn jemand ein richtiger Geistesforscher ist, dann lebt er wäh­rend seines Forschens außerhalb seines Leibes; aber sein Leib mit allen normalen Seelenverrichtungen, mit dem gewöhnlichen Verstande, der ganz und gar normal bleibt,

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wirkt ungestört weiter. Der Mensch bleibt, wenn er ein wahrer Geistesforscher ist, trotzdem er mit dem, was er in sich entwickelt hat, aus seinem Leibe herausgetreten ist, ein normaler Mensch, dem derjenige, der nicht selber in eine Geistesforschung eintreten kann, wahrhaftig nicht anzu­sehen braucht, daß er in einer anderen Welt lebt. Neben dem Hypnotisierten ist nicht der nicht Hypnotisierte da, neben dem Menschen, der ein krankhaftes Seelenleben ent­wickelt, ist nicht der Mensch mit dem normalen Seelen-leben da. Das aber ist gerade das Charakteristische, daß während des geistigen Forschens der normale Zustand des Menschen vollständig bestehen bleibt.

Gerade dadurch aber ist der Geistesforscher in der Lage, genau dasjenige, was wahre Geistesforschung ist, zu unter­scheiden von dem, was auftritt in irgend welchen krank­haften Seelenzuständen. Ein anderer Irrtum entsteht, wenn gemeint wird, Geistesforschung habe etwas gemein mit dem gewöhnlichen Spiritismus. Es soll nicht damit gesagt wer­den, daß durch den Spiritismus nicht allerlei Tatsachen ge­funden werden können; allein die gehören zur Naturwis­senschaft, nicht zur Geisteswissenschaft, denn dasjenige, was durch den Spiritismus gefunden wird, das wird vor die äußeren Sinne hingestellt, sei es durch Materialisationen, sei es durch Klopftöne oder dergleichen. Was vor die Sinne treten kann, gehört der Naturwissenschaft an. Dasjenige, was dem Geistesforscher als Objekt sich ergibt, das ist geistig-seelisch; und es kann nicht äußerlich, im Raume zum Beispiel dargestellt werden; es muß innerlich erlebt werden Durch das geschilderte innere Erleben bildet sich eine um­fassende Geisteswissenschaft, die nicht nur aufklärt über das Wesen des Menschen, über das Durchgehen durch wiederholte

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Erdenleben, sondern welche auch aufklärt über dasjenige, was, als geistige Welten und als geistige Wesen, der Natur zu Grunde liegt. Eintreten kann die Geistes-forschung in diejenige Welt, die der Mensch durchmacht nach seinem Tode. Nur soll man nicht glauben, daß das­jenige, was in gewissem Sinne als abnorme Fähigkeiten des gewöhnlichen Lebens auftritt, in der Geisteswissenschaft einen besonderen Wert hat. Man redet heute vielfach da­von, daß stattfinden kann Fernwirkung der Gedanken. Es soll jetzt nicht eingetreten werden in all das hierauf bezügliche Für und Wider. Die Menschen müssen sich ja im Laufe der Zeit an vieles gewöhnen. Gerade unsere jetzige Zeit hat ernsten Forschern es abgerungen, die Bedeutung der Wünschelrute kennen zu lernen, die jetzt in einem so aus­giebigen Sinne verwendet wird, und über die einer der allernüchternsten Forscher jetzt gerade wichtige Versuche macht, um herauszubekommen, unter welchem Einflusse ein Mensch lebt, der durch die Wünschelrute irgend welche Er­folge hat. Aber das alles gehört in das Gebiet der feineren Naturwissenschaft. Ebenso gehört in das Gebiet der feineren Naturwissenschaft, daß Gedanken, die der Mensch hegt, auf einen anderen Menschen in der Ferne wirken können. Aber die wahre Geistesforschung kann solche Kräfte nicht dazu verwenden, um Erkenntnisse über die geistig-seelische Welt zu erlangen. Derjenige verkennt die Geisteswissenschaft vollständig, der glaubt, daß sie die Lehre von der Fern-wirkung als etwas anderes ansieht, als den Teil einer verfeinerten Physiologie, einer verfeinerten Naturwissenschaft.

Geisteswissenschaftliche Forschungsart darf nicht mit demjenigen verwechselt werden, was heute als Spiritismus auftritt. Wenn Geisteswissenschaft gedenkt der menschlichen

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Seelen, die zwischen dem Tode und einer neuen Ge­burt ein rein geistiges Leben in einer geistigen Welt durch­machen, so weiß diese Geisteswissenschaft, daß diese Seelen, in einem rein seelischen Zustande, in der geistigen Welt sind. Es kann nun das, was im Leibe des Menschen ein Geistig-Seelisches ist, sich so zu den Toten wenden, daß ein realer Zusammenhang mit diesen erreicht wird. Aber die Hinwendung zu dem Toten muß selbst einen rein geistig-seelischen Charakter haben. Das zeigt die Geisteswissen­schaft. Und da kann dasjenige, was Hinlenkung des eigenen Seelenlebens zu den teueren Toten ist, schon während man selber noch in der physischen Welt ist, eine tiefe Bedeutung gewinnen. Keinem religiösen Bekenntnisse kann es wider­sprechen, wenn gerade durch die geisteswissenschaftliche Weltanschauung das Andenken an die Toten, das tätige Zu­sammenleben mit den Toten, in dieser Weise gepflegt wird, wenn Geisteswissenschaft anregt, dieses Zusammenleben mit den Toten zu pflegen. Dabei muß immer daran gedacht werden, daß der Tote nur dann wahrnehmen werde, was wir in unseren Seelen für ihn hegen, wenn er den Zusam­menhang mit uns will. Auch das zeigt die Geistesforschung. Und irgendwie eine Macht auszuüben über den Toten, das liegt gerade dem Geistesforscher vollständig ferne. Der Geistesforscher weiß ganz gut, daß der Tote in einer Sphäre lebt, in der andere Willensverhältnisse sind als die in der physischen Welt; und der Geistesforscher würde, wenn er in die geistige Welt mit dem eindringen wollte, was er hier entwickeln kann innerhalb der physischen Welt, sich so vorkommen, wie - um einen Vergleich zu gebrauchen - es erschiene, wenn eine Gesellschaft hier säße und plötzlich aus den Untergründen ein Löwe erschiene und Unheil anrichtete.

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Solches Unheil wäre die Folge, wenn ein Erdenmensch in ungehöriger Weise in das Leben der Toten eindringen würde. Von einem Zitieren der Toten, wie es etwa im Spiritismus versucht wird, kann innerhalb der Geisteswis­senschaft deshalb nicht die Rede sein, weil gerade das Ver­hältnis der Lebenden zu den Toten in einer wunderbaren Weise verklärt wird durch dasjenige, was die Geisteswissen­schaft in unseren Seelen anregt. Und da unter den mancher­lei Irrtümern, die gegen unsere Geisteswissenschaft vorge­bracht werden, sogar dieser ist, daß die Geisteswissenschaft irgendwie eine Berührung mit dem Spiritismus, gerade mit Bezug auf die Toten hat, so ist es schon notwendig, daß dieses Mißverständnis schärfer betont wird. Es wird in bezug darauf nichts anderes als das gerade Gegenteil des Richtigen mit Bezug auf die Geisteswissenschaft behauptet.

Wie gesagt, nicht irgendwie Stimmung oder Propaganda machen möchte ich für unsere Sache, sondern nur Mißver­ständnisse, von denen ich weiß, daß sie herrschen, möchte ich besprechen, und in möglichst deutlicher Weise möchte ich hindeuten darauf, wie sich die Geisteswissenschaft zu diesen Dingen verhält.

Nun, es wird auch gefragt - und diese Frage wird sogar als eine naheliegende bezeichnet -, wie Geisteswissenschaft oder Anthroposophie zu dem religiösen Leben des Men­schen steht. Sie wird aber ihrer ganzen Wesenheit nach nicht in irgendein religiöses Bekenntnis, in das Gebiet irgendeines religiösen Lebens unmittelbar eingreifen. Ich möchte mich in dieser Beziehung in der folgenden Weise vielleicht klar machen. Nehmen wir an, wir haben es mit Naturwissenschaft zu tun. Wir werden uns nicht einbilden, dadurch, daß wir ein Wissen von der Natur gewinnen,

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irgend etwas in der Natur selber schaffen zu können. Das Wissen der Natur schafft nicht irgend etwas in der Natur. Wir werden uns auch nicht einbilden, dadurch, daß wir ein Wissen von den geistigen Verhältnissen gewinnen, etwas in den geistigen Tatsachen schaffen zu können. Wir beobachten die geistigen Verhältnisse. Geisteswissenschaft sucht hinter die Geheimnisse der geistigen Weltverhältnisse zu kom­men. Religionen sind im geschichtlichen Leben der Mensch­heit Tatsachen. Geisteswissenschaft kann sich auch aller­dings darauf erstrecken, die geistigen Erscheinungen, die im Laufe der Weltentwicklung als Religion auftraten, zu betrachten. Allein Geisteswissenschaft kann niemals eine Religion schaffen wollen, ebensowenig wie sich die Natur­wissenschaft der Illusion hingibt, etwas in der Natur zu schaffen. Daher werden in dem Kreise der geisteswissen­schaftlichen Weltanschauung in allertiefstem Frieden und in vollständiger Harmonie die verschiedensten Religions­bekenntnisse zusammenleben und nach der Erkenntnis des Geistigen streben können; - so streben können, daß das­jenige, was der Einzelne als religiöse Überzeugung trägt, nicht dadurch in irgendeiner Weise beeinträchtigt wird. Auch nicht die Intensität in der Ausübung seines religiösen Bekenntnisses und seines religiösen Kultus braucht in irgendeiner Weise beeinträchtigt zu werden durch das­jenige, was der Mensch in der Geisteswissenschaft findet. Man muß vielmehr sogar sagen, Naturwissenschaft, so wie sie aufgetreten ist in der neueren Zeit, hat vielfach die Menschen weggeführt von einem religiösen Begreifen des Lebens, von innerer, wahrer Religiosität. Und gerade das ist eine Erfahrung, die wir mit der Geisteswissenschaft machen, daß diejenigen Menschen, die durch die naturwissenschaftlichen

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Haibwahrheiten allem religiösen Leben ent­fremdet werden, durch die Geisteswissenschaft gerade wie-der zu diesem Leben hingeführt werden können. Niemand braucht irgendwie abgewendet zu werden von seinem reli­giösen Leben durch die Geisteswissenschaft. Daher kann man auch nicht davon sprechen, daß die Geisteswissenschaft als solche ein religiöses Bekenntnis sei. Weder will sie ein religiöses Bekenntnis schaffen, noch will sie den Menschen irgendwie verändern in bezug auf dasjenige, was er als sein religiöses Bekenntnis hat. Dennoch scheint es, als ob man sich Gedanken machte über die Religion der Anthroposo­phen. In Wahrheit kann man in solcher Art gar nicht spre­chen, denn innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft sind alle Religionsbekenntnisse vertreten; und keiner wird durch sie gehindert werden, sein religiöses Bekenntnis auch praktisch in der vollsten, umfänglichsten und intensivsten Weise zu betätigen. Geisteswissenschaft will nur die ganze Welt in ihre Betrachtung einbeziehen; sie will auch das ge­schichtliche Leben betrachten, auch dasjenige, was an höch­ster Geistigkeit in das geschichtliche Leben eingetreten ist. Daß sie aus diesem Grunde auch Betrachtungen über die Religionen anstellt, das widerspricht durchaus nicht dem­jenigen, was ich eben ausgesprochen habe. Und so kommt es, daß die geisteswissenschaftliche Weltbetrachtung in ge­wisser Beziehung den Menschen vertiefen muß, auch in bezug auf die Gegenstände des religiösen Lebens.

Aber wenn zum Beispiel es geschieht, daß dieser Geistes­wissenschaft vorgeworfen wird, sie spreche nicht von einem persönlichen Gotte, wenn gesagt wird, daß ich selber es vorzöge, von der Gottheit, nicht von Gott zu sprechen, wenn die Behauptung getan wird, als ob dasjenige, was als

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das Göttliche bezeichnet wird, in der Geisteswissenschaft einen ähnlichen Charakter annehme wie im Pantheismus der Monisten oder Naturalisten, so ist von alle dem das Gegenteil richtig. Gerade der Umstand, daß man in der Geisteswissenschaft zu realen geistigen Wesenheiten geführt wird, auch zu der realen Wesenheit, die der Mensch nach dem Tode ist, gerade dadurch, daß man zu konkreten, zu wirklichen geistigen Wesen geführt wird, kommt man auch zu einem vollständigen Verstehenkönnen, wie ungereimt es ist, zu einem Pantheismus sich zu bekennen, wie widersin­nig es ist, die Persönlichkeit in Gott leugnen zu wollen. Im Gegenteil, dazu kommt man, einzusehen, daß man nicht nur von der Persönlichkeit, sondern sogar von einer Über-persönlichkeit Gottes sprechen kann. Die gründlichste Wi­derlegung des Pantheismus kann gerade durch die Geistes­wissenschaft gefunden werden.

Und kann es ein Vorwurf sein, sehr verehrte Anwesende, daß der Geistesforscher nur mit tiefer Ehrfurcht dann spricht, wenn er aus den Empfindungen, die seine Wissen­schaft in ihm anregt, scheu zu dem Göttlichen hindeutet? Wie oft wird im Kreise unserer Freunde gesagt: «In Gott leben, weben und sind wir.» Und derjenige, der da will Gott mit einem Begriffe umfassen, der weiß nicht, daß alle Begriffe Gott nicht umfassen können, weil alle Begriffe in Gott sind. Aber Gott anzuerkennen, als ein Wesen, das in einem viel höheren Sinne noch als der Mensch, in einem Sinne, den man auch durch Geisteswissenschaft nicht einmal voll ahnen kann, Persönlichkeit hat, das wird insbesondere durch die Anthroposophie so recht den Menschen, ich möchte sagen, natürlich. Religiöse Begriffe werden durch die Geisteswissenschaft nicht im pantheistischen Sinne ver­nebelt,

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sondern, ihrer Wesenheit nach, vertieft. Wenn man doch davon spricht, daß Gott auch in unserem eigenen Her­zen, in unserer eigenen Seele sich offenbart, so ist das ja die Überzeugung vieler religiöser Leute. Und immer wieder wird in der Geisteswissenschaft gesagt, davon könne keine Rede sein, dadurch den Menschen etwa vergotten zu wollen.

Ich habe oftmals ein Gleichnis ausgesprochen, indem ich sagte: ein Tropfen aus dem Meere genommen sei Wasser, -sage ich dann: der Tropfen sei das Meer? Wenn ich sage: in der einzelnen menschlichen Seele spreche etwas Göttliches, ein Tropfen aus dem Meere des unendlichen Göttlichen -sage ich da irgend etwas, was die einzelne menschliche Seele vergöttlicht? Sage ich irgend etwas, was die Natur in pan­theistischer Weise zusammenbringt mit Gott? Nie und nim­mer. Und schließlich, wenn aus gewissen Grundempfin­dungen heraus, die gerade durch die Geisteswissenschaft angeregt werden, in scheuer Ehrfurcht der Name Gottes nicht genannt, sondern umschrieben wird, darf das eigent­lich, vom religiösen Standpunkte aus, getadelt werden? Ich frage: Heißt nicht sogar eins der zehn Gebote: «Du sollst den Namen Gottes nicht unehrerbietig aussprechen?» Könnte es nicht gerade eine Anregung aus der Geisteswissenschaft heraus sein zu einer treuen Erfüllung dieses Gebotes, wenn der Name Gottes nicht fortwährend auf der Zunge geführt wird?

Und der Christusname und das Christuswesen? Sehr ver­ehrte Anwesende, gerade die Geisteswissenschaft ist es, von der auch gesagt werden darf, daß sie alle Anstrengungen macht, die Christuswesenheit zu begreifen, und daß sie dabei niemals in irgendwelchen Zwiespalt kommt mit dem­jenigen, was, aus wahren Grundlagen heraus, irgendein

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religiöses Bekenntnis entwickelt. Nun begegnet einem, ge­rade auf diesem Gebiete, etwas höchst Eigentümliches. Es kommt da zum Beispiel jemand und sagt, er habe diese oder jene Auffassung, diese oder jene Empfindung von dem Christus, von dem Jesus, und dann sagt man ihm: Gewiß diese Empfindung anerkenne man als vollberechtigt; nur führt die Geisteswissenschaft dazu, noch manches andere über Christus zu denken. Sie leugnet das Deine nicht, sie nimmt das Deine hin. Nur muß sie noch manches andere hinzufügen.

Gerade dadurch, daß die Geisteswissenschaft den geisti­gen Blick, das Seelenauge erweitert über die geistige Welt, dadurch zum Beispiel ist es notwendig, in demjenigen Wesen, zu dem der Christ als seinem Christus aufschaut, nicht nur denjenigen zu erkennen, der über die Erde hin­gegangen ist, sondern dieses Wesen auch in einen Zusam­menhang mit dem gesamten Kosmos zu bringen. Und dann ist wieder manches andere die Folge. Aber nichts, was die Folge ist, nimmt der Christuserkenntnis etwas, sondern nur hinzugefügt wird etwas demjenigen, was der Religiöse, der wahrhaft christlich Religiöse über den Christus zu sagen hat. Und niemals erscheint es einem als Geistesforscher anders, wenn jemand den geisteswissenschaftlichen Begriff des Christus-Jesus angreift, als wenn jemand kommt und sagt: Ich habe dies oder jenes, was ich von Christus auszu­sagen habe; glaubst du das? Man sagt ihm Ja. «Ja, aber du glaubst nicht nur dies, sondern auch noch etwas ande­res!» Das erlaubt er einem nicht. Er begnügt sich nicht damit, daß man dasjenige zugibt, was er vertritt, sondern er ver­bietet einem, noch Herrlicheres, noch Größeres von dem Christus auszusagen, als er selber aussagen will.

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Kann es denn in Wahrheit ein Ketzerisches sein, wenn die Geisteswissenschaft, aus ihren Grundlagen, aus der Be­obachtung desjenigen, was als Geist durchwaltet den gan­zen Erdenlauf in bezug auf die menschliche und sonstige Entwickelung - wenn aus all dem die Geisteswissenschaft darauf kommt, zu sagen: Dieses ganze Erdensein hätte für das Weltall keinen Sinn, wenn sich innerhalb dieses Erden-daseins nicht das Mysterium von Golgatha zugetragen hätte? Ja, der Geistesforscher muß sagen: Wenn irgend welche Bewohner ferner Welten herunterschauen könnten auf die Erde und könnten anschauen, was die Erde ist, sie würden keinen Sinn innerhalb der ganzen Entwickelung der Erde sehen, wenn nicht auf dieser Erde Christus gelebt hätte, gestorben und auferstanden wäre. Das Ereignis von Gol-gatha gibt dem Erdenleben Sinn und Inhalt für die ganze Welt. Wenn Sie sich einlassen würden auf die Geistesfor-schung, würden Sie sehen, daß die Christusverehrung, die Hingabe an den Christus, nicht geringer werden kann durch diese Forschung, sondern im Gegenteil nur erhöht werden kann.

Es drängt die Zeit, und ich kann nicht eingehen auf mancherlei, was sich noch als Mißverständnis verbreitet hat über diese oder jene Gedanken, die da herrschen sollen im Kreise der Anthroposophen - wie man sie auch nennt, ob­wohl man das Wort besser vermeiden sollte und nur von Anthroposophie sprechen sollte - über die Bibel. Da han­delt es sich darum, daß man ein sehr guter Geistesforscher sein kann, ohne überhaupt irgendwie hinzunehmen das­jenige, was, allerdings auf bestimmten Grundlagen, für die­jenigen Kreise unserer Gesellschaft gesagt wird, die gerade etwas wissen wollen über die Evangelien oder die Bibel überhaupt.

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Wenn aber das darüber Gesagte im Zusammenhange gelesen wird, so wird man jedenfalls finden, daß zum Bei­spiel der Unsinn von mir niemals ausgesprochen worden ist, die wiederholten Erdenleben könnten aus der Bibel be­wiesen werden durch die Stelle, wo über Nathanael gespro­chen wird. Da wurde behauptet, ich meinte, wenn der Chri­stus sagt: «Ich habe dich schon unter dem Feigenbaume sitzen sehen», so deute er auf eine frühere Inkarnation, in der er Nathanael unter dem Feigenbaume habe sitzen sehen. Ich kann, wenn diese Dinge als Mißverständnisse heute durch die Welt schwirren, nur das eine tun: mich darüber verwundern, wie solche Dinge überhaupt aus dem, was wirklich gesagt worden ist, haben entstehen können. Ge­rade das sind die Beweise dafür, wie dasjenige, was wirk­lich gesagt wird, wenn es von Mund zu Ohr weitergetragen wird, geändert wird in der mannigfachsten Weise, und wie das Gegenteil - denn in diesem Falle ist es wahrhaftig das Gegenteil, das herausgekommen ist, - von dem, was gesagt worden ist, mir angedichtet wird.

Ich will mich jetzt nicht darauf einlassen, andere Miß­verständnisse zu widerlegen, die leicht widerlegt werden könnten. Ich will nur noch über das Eine sprechen, das zum Beispiele sehr leicht gesagt werden könnte: Ja, wie hältst du es denn damit, daß man in der Bibel nichts findet über die wiederholten Erdenleben? Es könnte sein, daß jemand sagt: Er könne nicht an diese wiederholten Erden-leben glauben, aus dem einfachen Grunde, weil seiner Über­zeugung nach ein Widerspruch sei zwischen der Annahme dieser wiederholten Erdenleben, zu der sich ja allerdings Geister wie Lessing zum Beispiel bekannt haben, und dem, was in der Bibel steht.

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Nun, die wiederholten Erdenleben wird man erkennen als eine wissenschaftliche, eine geisteswissenschaftliche Tat­sache, und über das Verhältnis einer solchen geisteswissen­schaftlichen Tatsache, die einmal gefunden werden mußte, zur Bibel, wird man lernen können, in der folgenden Weise zu denken. Könnte man es für möglich halten, daß jemand sagte, er glaube nicht, daß es Amerika gibt, weil in der Bibel nicht steht, daß es Amerika gibt? Oder glaubt man deshalb der Bibel irgendeinen Abbruch zu tun, daß man sagt: Ich finde es vollständig mit meiner Bibelverehrung im Ein­klange, daß es Amerika gibt, trotzdem das nicht in der Bibel gefunden wird? Oder steht in der Bibel etwas davon, daß die kopernikanische Weltanschauung richtig ist? Es hat Leute gegeben, die aus diesem Grunde die kopernikanische Weltanschauung als etwas Falsches, als etwas Verbotenes angesehen haben. Heute wird es niemanden geben, der, auf dem wirklichen Bildungsstandpunkte seiner Zeit stehend, sagen könnte: er fände einen Widerspruch zwischen der Lehre des Kopernikus und der Bibel, - trotzdem die Lehre des Kopernikus nicht in der Bibel steht.

Ebenso wird man sagen können über die geisteswissen­schaftliche Tatsache der wiederholten Erdenleben, daß es in nichts Abbruch tue der Anerkennung der Heilswahrhei-ten der Bibel, daß darüber nichts in dieser gefunden werden könne, ja manches darin so gedeutet werden könne, als ob es dieser Erkenntnis widerspräche. Man muß diese Punkte nur von dem richtigen Gesichtspunkte ansehen. Dann aber, wenn man sie von dem richtigen Gesichtspunkte ansieht, darf man wohl daran erinnern, wie solche Dinge sich im Laufe der Zeit ändern. Wenn jemand sagt, er wolle die wiederholten Erdenleben nicht anerkennen, aus dem einfachen

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Grunde, weil das der Bibel widerspreche, so muß ich immer daran denken, daß es eine Zeit gab, in der Gali­lei aus dem Grunde, weil er etwas zu sagen hatte, was scheinbar, eben nur scheinbar, der Bibel widersprach, in einer ganz eigentümlichen, bekannten Weise behandelt wor­den ist. Oder man denke, wie Giordano Bruno behandelt worden ist, weil auch er etwas zu sagen hatte, von dem man eben auch behaupten konnte, es ließe sich aus der Bibel nicht nachweisen.

Da muß ich denn weiter eines Priesters gedenken, der vor einigen Jahren das Rektorat einer Universität angetreten hat, aus der theologischen Fakultät heraus, und der in seiner Rektoratsrede, die über Galilei handelte, als katholischer Priester etwa die folgenden Worte gesprochen hat. Er sagte:

Die Zeiten ändern sich eben, und damit auch die Art und Weise, wie Menschen erkannte Tatsachen aufnehmen. In seiner Zeit hat man Galilei in der bekannten Weise behan­delt; jetzt aber sieht wohl jeder wahre Christ ein, daß durch die Entdeckung der Herrlichkeit des Weltenbaues, wie sie durch Galilei bekannt geworden ist, die Glorie, der Herrlichkeit Gottes und die Hingabe an Gott nur erhöht, nicht vermindert werden kann. Das war auch priesterlich, das war auch christlich, ja vielleicht erst echt christlich ge­sprochen. Und christlich war die schöne Anerkennung, die Galilei durch die ganze Rede dieses Priesters erfuhr.

Im ganzen möchte ich, aus der geisteswissenschaftlichen Gesinnung heraus, sagen, sehr verehrte Anwesende: von demjenigen, was das Christentum ist, von demjenigen, was der Christus der Welt ist, muß gerade der Geisteswissen­schafter durch seine Lehren, so denken, daß er sagt: Wie kleingläubig finde ich eigentlich diejenigen, die da glauben,

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daß durch irgendeine Entdeckung, auf physischem oder gei­stigem Gebiete, die Größe, die uns anweht aus der Christus­offenbarung, verkleinert werden könnte. Nein, dem Gei­stesforscher kommt derjenige kleinmütig vor, der da glaubt, daß durch irgendeine Tatsache, und sei sie selbst eine so schwerwiegende wie die wiederholten Erdenleben, daß durch irgendeine Tatsache, die entdeckt wird auf physi­schem oder geistigem Gebiete, der Glanz des Christusereignisses und der Einfluß des Christus vermindert werden könnte für den Christen; der das glaubt, der möge nur auch glauben, daß die Sonne an Kraft verliere aus dem Grunde, weil sie nicht für Europa allein, sondern auch über Amerika scheint.

Was auch noch immer, in irgendeiner Zukunft, an physi­schen oder geistigen Tatsachen wird entdeckt werden: die großen Wahrheiten des Christentums werden alles über-leuchten. Das erkennt gerade derjenige, der aus geistes-forscherischem Sinn heraus sich dem Christusimpuls und der ganzen christlichen Weltauffassung nähert. Er ist nicht so kleinmütig, zu sagen: es könnte der Glanz des Christen­tums verringert werden durch irgendeine Forschung. Er weiß, daß derjenige klein denkt über das Christentum, der dieses durch irgendeine Natur- oder Geistesforschung ge­fährdet glauben kann.

Es kommt eben wirklich darauf an, daß vielleicht die mancherlei Mißverständnisse, die da bestehen, gegenüber dem, für das der Dornacher Bau ein äußeres Zeichen, eine äußere Behausung ist, daß diese mancherlei Mißverständ­nisse doch überwunden werden könnten. Über den Dorn-acher Bau se[ber will ich nur sagen, daß er nichts anderes sein soll als eine künstlerische Ausgestaltung desjenigen,

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was in unseren Empfindungen, in unseren Gefühlen an­geregt wird, wenn wir eben das Lebendige der Geistes­wissenschaft, der Anthroposophie in unsere Seele aufge­nommen haben. Daher ist dieser Bau nicht so gemeint, daß etwa die Ideen, die die Geisteswissenschaft hat, durch Sym­bole oder Allegorien in den Formen des Baues ausgebildet wären. Davon kann gar keine Rede sein.

Wenn Sie diesen Bau einmal betrachten werden, dann werden Sie finden, er habe das Eigentümliche, daß in ihm gar nichts Geheimnisvolles ist, daß in ihm kein einziges Symbol ist, nichts irgendwie von einer Allegorie oder der­gleichen. Das sollte, gerade durch die ganze Natur dieses Baues, von ihm vollständig ferngehalten werden.

Wenn etwa gesagt würde: Aber man muß doch die gei­steswissenschaftlichen Gedanken kennen, wenn man ver­stehen will, was man da sieht - ja, das hat aber die Kunst des Dornacher Baues mit jeder anderen Kunst gemein. Neh­men wir die Sixtinische Madonna, nehmen wir das wunder­bare Mutterbild mit dem Jesuskinde: Ich denke, wenn ein Mensch, der niemals etwas vom Christentum gehört hat, vor die Sixtinische Madonna sich hinstellt, dann muß man ihm auch erklären, was das ist, dann wird er auch, aus sei­nen Empfindungen heraus, die Sache nicht unmittelbar ver­stehen können. So ist es selbstverständlich, daß man in der ganzen Strömung der Geisteswissenschaft leben muß, wenn man ihre Kunst verstehen will, wie man im Christentum drinnen stehen muß, wenn man zum Beispiel die Sixtinische Madonna verstehen will.

Im Dornacher Bau ist versucht, nicht etwa geisteswissen­schaftliche Ideen sinnbildlich auszudrücken, sondern es liegt zu Grunde die Tatsache unserer Weltauffassung, daß die

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Geisteswissenschaft etwas ist, was ja - und das geht aus den Worten, die ich heute hier gesprochen habe, hervor - so lebendig, so stark das Innere des Menschen ergreift, daß Fähigkeiten, die in ihm sonst schlummern, also auch künst­lerische Fähigkeiten, geweckt werden. Und da die Geistes-wissenschaft etwas Neues ist - nicht ein neuer Name für etwas Altes, sondern etwas wirklich Neues -, so wie die heutige Naturwissenschaft gegenüber der mittelalterlichen Naturwissenschaft etwas Neues ist, so wird auch ihre Kunst gegenüber bestehenden Kunstwerken etwas Neues sein müssen. Die Gotik stellte sich als eine neue Kunst neben die Antike hin; wer nun die Meinung hätte, daß nur die antike Kunst gelten soll, der mag die Gotik schmähen; so mag man auch schmähen einen neueren Stil, der aus einer neueren Empfindungsweise hervorgeht.

Besonders schlimm wird ein Nebenbau befunden. Da steht, neben dem Doppelkuppelbau, ein Kesselhaus. Mit diesem ist versucht worden, einen Nutzbau künstlerisch zu gestalten, aus dem modernsten Material heraus, aus dem Beton. Dem Beton wurde Rechnung getragen. Und auf der anderen Seite wurde all dem Rechnung getragen, was in dem Hause ist. Wenn jemand diese Form sinnbildlich aus­legt, wenn er allerlei Symbole sieht, dann ist er eben ein Mensch, der träumt, ein Phantast, nicht einer, der da sieht, was da ist. Gerade so, wie die Nußschale so gebildet ist, daß sie dem Nußkerne angemessen ist: so versucht der Künst­ler, in demjenigen, was er aufbaut, eine Schale zu bilden für das, was drinnen ist, eine gewissermaßen naturgemäße Schale, so daß die äußere Form die sinngemäße Umhül­lung des Inhaltes ist. Das ist versucht. Und demjenigen, der es beurteilen will und nicht schön findet, - man kann ihn

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verstehen, denn man muß sich erst gewöhnen an diese Dinge. Aber er könnte vielleicht doch versuchen, sich einen anderen Schornstein, wie man ihn heute macht, neben un­serem Kesselhaus zu denken - so einen richtigen roten Schornstein mit Umbau - und er könnte dann beides ver­gleichen.

Gewiß, wir sehen sehr genau, dasjenige, was in Dornach mit dem Bau versucht wird, ist ein Anfang, sogar ein mangelhafter Anfang, aber es soll der Anfang sein zu et­was, was als ein neuer Baustil aus einer neuen Weltauffas­sung entspringt. Es gab auch Leute, die sagten: Ja, da habt ihr sieben Säulen gemacht, seht ihr, auf jeder Seite sieben Säulen im Hauptraum. Ihr seid eben doch eine recht aber­gläubische Gesellschaft. An die mystische Siebenzahl glaubt ihr.

Ja, man könnte jemand auch abergläubisch finden, der sieben Farben im Regenbogen sieht. Da müßte man eigent­lich die Natur abergläubisch finden, die dies bewirkt. Aber wenn jemand über diese sieben Säulen spricht, so sollte er zunächst gar nicht auf diese Zahl sehen, sondern sehen, was da neu versucht worden ist. Sonst ist es immer so, daß gleiche Säulen nebeneinandergestellt werden. Bei unseren Säulen sind die Kapitäle in fortlaufender Ent­wicklung gedacht; die zweite Säule ist anders als die erste, die dritte wieder anders; das eine Kapitäl geht aus dem andern hervor. Das gibt einen Organismus, der so inner­lich gesetzmäßig ist, wie die sieben Töne von der Prim bis zur Septime.

Und so wird man finden, daß nirgends aus den Ideen, aus der Symbolik, aus dem Geheimnisvollen heraus ge­arbeitet worden ist, sondern überall versucht worden ist,

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ein Künstlerisches in Formen, in Farben und so weiter zu entwickeln. Es ist erstrebt worden, den ganzen Bau zur richtigen Umhüllung für dasjenige zu machen, was in ihm gepflegt werden soll. Baue haben Wände. Aber bei Wän­den, die man bis jetzt gebaut hat, ist man gewöhnt, in den Wänden etwas zu sehen, was so geformt ist, daß es den Raum abschließt. Unsere Wände sind von innen so mit Formen überkleidet, daß man nicht das Gefühl hat, der Raum wird durch die Form abgeschlossen, sondern man rechnet mit der Empfindung, die Wand sei wie durchlässig, und man blicke ins Unendliche hinaus. Die Wände in ihren Formen sind so gebildet, daß sie sich gleichsam selber auslöschen, daß man mit der Natur und mit der ganzen Welt im Zusammenhange bleibt.

Ich habe, durch diese kurzen Betrachtungen, nicht etwa jemand überzeugen wollen. Ich wollte nur dasjenige er­reichen, was ich im Anfange betont habe: anregen möchte ich, nicht überzeugen. Aber das möchte ich doch noch be­tonen: die Art und Weise, wie man sich in eine Weltan­schauung hineinfindet, hängt von den Denkgewohnheiten ab. Und derjenige, der den geistigen Entwicklungsgang der Menschheit kennt, der weiß, daß die Wahrheit immer durch Hindernisse sich hindurch hat entwickeln müssen. Man denke nur einmal, wie Giordano Bruno vor die Menschheit treten mußte, vor eine Menschheit, die immer geglaubt hat: da oben ist das blaue Himmelsgewölbe, das schließt den Raum ab. Giordano Bruno mußte den Men­schen sagen: Da ist gar nichts; wo ihr das blaue Himmels-gewölbe seht; das setzt ihr selber mit eurem Sehen hin. Der Raum dehnt sich in die Unendlichkeit hinaus, und unend­liche Welten sind im unendlichen Raume. Das, was Gior­dano

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Bruno für das sinnliche Anschauen tat, das hat die Geisteswissenschaft für das Geistig-Seelische und für das Zeitliche zu tun. In bezug auf das Geistig-Seelische ist auch so eine Art Firmament da, auf einer Seite Geburt, oder sagen wir Empfängnis, auf der anderen Seite der Tod. Aber dieses Firmament ist in Wahrheit ebensowenig eine Realität, wie das blaue Firmament oben; sondern nur, weil man mit den gewöhnlichen menschlichen Erkenntnisfähig­keiten nur bis zur Geburt oder zur Empfängnis und bis zum Tode sehen kann, glaubt man, daß eine Grenze da sei, wie man geglaubt hat, daß das Firmament eine Grenze ist. Wie aber das blaue Firmament nicht eine Grenze ist, son­dern unendliche Welten im unendlichen Raume sich be­finden, so müssen wir durch erweiterte Fähigkeiten hinaus über das Firmament von Geburt und Tod sehen, in die zeitliche Unendlichkeit, und in ihr auf die Entwicklung der ewigen Seele durch die wiederholten Erdenleben hindurch. Die Dinge sind auf geistigem Gebiet nicht anders als auf naturwissenschaftlichem Gebiet. Deshalb könnte man fra­gen, wie kommt es denn, daß so viele Mißverständnisse von so mancher Seite dieser Geisteswissenschaft entgegen­gebracht werden? Und da muß ich sagen, wenn ich gewis­sermaßen persönlich mich dazu verhalten möchte, daß ich finde: die Gründe, warum die Geisteswissenschaft so man­cherlei Gegnerschaft und Mißverständnis findet, sie sind zum Teil objektiv, zum Teil subjektiv.

Unter den objektiven Gründen möchte ich diesen vor allen anderen sehen: Geisteswissenschaft ist etwas, in das man sich ernsthaft vertiefen muß; eine lange, ernste Arbeit ist für ihr Verständnis nötig, eine Arbeit, die mit vielen Erlebnissen, auch mit vielen Enttäuschungen verknüpft ist.

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Aber das ist ja im Grunde genommen bei jeder Erkenntnis-arbeit so. Nicht ohne solche Arbeit lassen sich die Wege der Anthroposophie auffinden. Aber es scheint nun einmal üb­lich zu sein, daß man sich sagt: eine Uhr zu verstehen, -ja, dazu muß man lernen, wie die Räder zusammenwirken. Das erfordert einige Mühe. Nicht aber scheint es in gleicher Weise üblich zu sein, gegenüber dem ganzen Weltall ein Gleiches zuzugestehen. Da will man nicht schwierige, ver­wickelt scheinende Anschauungen gelten lassen, die das doch nur deshalb sind, weil die Sache schwierig ist. Statt sich auf die Geisteswissenschaft selbst einzulassen, bemän­gelt man sie, weil man sie, von dem eigenen Standpunkte aus beurteilt, schwierig findet.

Dann gibt es subjektive Gründe. Und diese subjektiven Gründe, sie liegen eben in dem, was ich eigentlich schon ausgeführt habe. Es wird den Menschen im allgemeinen schwer, diejenigen Vorstellungen, die sich einmal gebildet haben, zu vereinigen mit solchen Vorstellungen, an die sie nicht gewöhnt sind. Es brauchen solche ungewohnte Vor­stellungen nicht einmal zu leugnen dasjenige, was schon vorgestellt wird, sondern nur etwas hinzuzufügen zu dem, was schon gedacht worden ist.

So ging es der Wahrheit immer. Dem widersprochen wird, das sind die Denkgewohnheiten. Und von diesem Gesichtspunkte aus, wenn man die subjektiven Gründe sucht für die Mißverständnisse gegenüber der Geisteswis­senschaft, muß man sagen: Die Gründe liegen auf demsel­ben Boden, von dem aus die kopernikanische Lehre ab­gelehnt worden ist von der ganzen Welt, als sie zuerst aufgetreten ist. Sie war eben etwas Neues. Allein die Wahrheit muß sich in der Welt durchsetzen, und setzt sich

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auch durch. Das darf von demjenigen empfunden werden, der verwoben ist mit alledem, was Geisteswissenschaft ist und wozu sie anregen kann.

Er stützt sich auf die Erfahrung, daß die Wahrheit im­mer doch sich durcharbeitet durch die feinsten Ritzen der Felsen von Vorurteilen, die die Menschen aufgerichtet haben. Man mag Geisteswissenschaft vielleicht heute noch hassen. Derjenige aber, der sie haßt, wird höchstens be­wirken können, daß andere sie mit ihm hassen, die ihm zugetan sind und die auf sein Wort schwören. Aber noch niemals ist in der Welt irgendeine Wahrheit ausgemerzt worden dadurch, daß sie gehaßt worden ist. Mißver­standen und mißdeutet werden kann die Wahrheit zu irgendeiner Zeit, aber gegenüber dem Mißverstehen und Mißkennen werden sich immer Erkenner und richtige Ver­steher finden. Und selbst wenn dasjenige, was die Geistes­wissenschaft in unserer Zeit sagen will, heute nicht aner­kannt würde, wenn es mißverstanden und verkannt würde,

- die Zeiten werden kommen auch für diese Wissenschaft. Unterdrücken sogar kann man die Wahrheit, aber man kann sie nicht vertilgen. Immer wieder muß sie geboren werden, wenn sie auch noch so oft unterdrückt wird.

Denn Wahrheit ist tieflebendig verbunden mit der menschlichen Seele, so daß man überzeugt davon sein kann, daß die menschliche Seele und die Wahrheit zusammen­gehören wie Schwestern. Und mögen sie auch für Zeiten und für Orte irgend welchen Zwiespalt entwickeln, mag irgend welche Verkennung zwischen ihnen entstehen: es muß immer wieder Anerkennung, - es muß immer wieder gegenseitige Liebe eintreten zwischen der Seele und der Wahrheit. Denn Schwestern sind sie, die in einem Gemeinsamen

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ihren Ursprung haben, und die in Liebe sich immer ihres gemeinsamen Ursprunges erinnern müssen, des Ur­sprungs in der alle Welt durchwaltenden Geistigkeit, welche zu erforschen sich gerade die Anthroposophie als Aufgabe setzt.

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Nachwort

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Durch die Ausführungen dieser Schrift sollte gezeigt wer­den, wie die anthroposophisch orientierte Geisteswissen­schaft ihre Gestalt, als Erkenntnis der geistigen Welt, in der Gegenwart dadurch erhält, daß sie Wege geht, die neben den berechtigten Wegen der naturwissenschaftlichen Vor­stellungsart bestehen können. Um in die geistige Welt ein­zudringen in so gesicherter Art, wie die Naturwissenschaft in die stoffliche eindringt, muß Geisteswissenschaft andere Wege einschlagen, als die naturwissenschaftlichen sind. Sie muß, um auf geistigem Gebiete denselben Forderungen zu genügen, wie die Naturwissenschaft auf ihrem Felde, mit Erkenntniskräften arbeiten, welche dem Geistigen so an­gemessen sind, wie die naturwissenschaftlichen der Natur. -So wenig nun eine Geisteswissenschaft mit solchen Zielen mit älteren Weltanschauungsrichtungen, wie der Gnosis und ähnlichem, verwechselt werden darf, so ist doch die Tatsache vorhanden, daß im Laufe der neueren Zeit deut­lich das Bestreben auftritt, zu ihr zu kommen, daß sie nicht also wie ein willkürlich Ersonnenes in der Gegenwart auf­tritt, sondern wie eine Erfüllung von Hoffnungen, die im geistigen Entwicklungsprozeß des Abendlandes zu bemer­ken sind. Um dies zu belegen, ließe sich vieles anführen. Es sollen hier aber nur zwei Beispiele gebracht werden, welche

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zeigen, daß «Anthroposophie». etwas ist, woran seit lange gedacht wird. Troxler, ein viel zu wenig gewürdigter Den­ker aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, gab 1835 «Vorlesungen über Philosophie» heraus. Darin findet sich der Satz: «Wenn es nun höchst erfreulich ist, daß die neueste Philosophie, die... in jeder Anthroposophie, also in Poesie, wie in Historie, sich offenbaren muß, empor-windet, so ist doch nicht zu übersehen, daß diese Idee nicht eine Frucht der Spekulation sein kann, und die wahrhafte Persönlichkeit oder Individualität des Menschen weder mit dem, was sie als subjektiven Geist oder endliches Ich auf­stellt, noch mit dem, was sie als absoluten Geist oder absolute Persönlichkeit diesem gegenüberstellt, verwechselt werden darf.» Und was er über diese seine Idee einer Anthropo­sophie vorbringt, ist bei Troxler angeschlossen an Sätze, die deutlich zeigen, wie er der Annahme von Wesensgliedern der Menschennatur über den physischen Leib hinaus nahe steht. Sagt er doch: «Schon früher haben die Philosophen einen feinen, hehren Seelleib unterschieden von dem gröberen Körper, oder in diesem eine Art von Hülle des Geistes angenommen, eine Seele, die ein Bild des Leibes an sich habe, das sie Schema nannten, und das ihnen der innere höhere Mensch war.» Der Zusammenhang, in dem diese Worte bei Troxier stehen, und dessen ganze Weltanschau­ung bezeugen, daß man bei ihm Bestrebungen sehen darf, die sich durch eine Geisteswissenschaft im Sinne dieser Schriften erfüllen lassen. Nur weil Troxler nicht in der Lage ist, zu erkennen, daß Anthroposophie nur möglich ist durch Entwicklung von Seelenfähigkeiten in der Richtung wie diese Schrift dies andeutet, fällt er mit seinen eigenen Anschauungen in Gesichtspunkte zurück, die gegenüber dem

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von J. G. Fichte, Schelling, Hegel errungenen nicht ein Fortschritt, sondern ein Rückschritt sind. (Vgl. mein Buch:

«Die Rätsel der Philosophie».) - Bei J. H. Fichte, dem Sohne des großen Philosophen (in dessen «Anthropologie», 2. Auflage von 1860, S.608) findet man die Sätze: «Aber schon die Anthropologie endet in dem von den mannigfal-tigsten Seiten her begründeten Ergebnisse, daß der Mensch nach der wahren Eigenschaft seines Wesens, wie in der eigentlichen Quelle seines Bewußtseins einer übersinnlichen Welt angehöre. Das Sinnenbewußtsein dagegen, und die auf seinem Augpunkte entstehende phänomenale Welt, mit dem gesamten, auch menschlichen Sinnenleben, haben keine andere Bedeutung, als nur die Stätte zu sein, in welcher jenes übersinnliche Leben des Geistes sich vollzieht, indem er durch frei bewußte eigene Tat den jenseitigen Geistes-gehalt der Ideen in die Sinnenwelt einführt... Diese gründliche Erfassung des Menschenwesens erhebt nunmehr die «Anthropologie» in ihrem Endresultate zur «Anthropo-sophie>. Im Anschluß an die Erläuterung dieser Sätze, sagt J. H. Fichte (S.609): «So vermag endlich die Anthropo­sophie an sich selbst nur in Theosophie ihren Abschluß und Halt zu finden.» Daß auch J. H. Fichte mit seiner eigenen Weltanschauung nicht zu einer Anthroposophie kam, son­dern hinter J. G. Fichte, Schelling und Hegel zurückging: dafür bestehen dieselben Gründe wie bei Troxler. - Hier zunächst nur diese beiden Beispiele für eine Fülle geistes-geschichtlicher Tatsachen, die erbracht werden können zum Beweise dafür, daß die in dieser Schrift gekennzeichnete antliroposophische Geisteswissenschaft einem seit lange lebenden wissenschaftlichen Streben entspricht.

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Auf diese Aussprüche I. H. Fichtes (die mir der Aus­druck einer neuzeitlichen Geisteströmung schienen, nicht bloß eines Einzelnen Meinung) wies ich in einem Vortrage hin, den ich 1902 im Giordan-Bruno-Bund hielt; damals, als der Anfang gemacht wurde mit dem, was gegenwärtig als anthroposophische Vorstellungsart sich darstellt. Man sieht daraus, daß eine Erweiterung des neuzeitlichen Welt-anschauungsstrebens zu einer wahrhaften Betrachtung der geistigen Wirklichkeit ins Auge gefaßt war. Nicht ein Her­ausholen irgend welcher Anschauungen aus den Veröffent­lichungen, die man damals «theosophische» nannte (auch gegenwärtig noch so nennt), ward angestrebt, sondern eine Fortsetzung des Strebens, das bei den neueren Philosophen seinen Anfang genommen, aber bei diesen im Begrifflichen stecken geblieben war, und dadurch den Zugang in die wirkliche geistige Welt nicht erreicht hat. Mir schien diese Fortsetzung zugleich ein Ausbau der Weltanschauung zu sein, die Goethe seiner von ihm «geistgemäß> genannten Naturanschauung zu Grunde liegend - nicht aussprach, aber empfand. - Wer meine Schriften und Vorträge ver­folgt hat, kann das alles durch dieselben selbst so finden; und ich würde dies nicht besonders aussprechen, wenn nicht immer wieder die Entstellung der Wahrheit sich dadurch zeigte, daß gesagt wird, ich hätte mit dem, was ich früher zum Ausdruck gebracht, gebrochen und wäre eingeschwenkt in die Anschauungen, wie sie etwa von Blavatsky und Be­sant in deren Veröffentlichungen dargestellt werden. Wer zum Beispiel meine «Theosophie» wirklich sachgemäß be­urteilt, der kann finden, wie in ihr alles als Fortsetzung der oben gekennzeichneten neueren Weltanschauungsströme entwickelt ist, wie aus gewissen Voraussetzungen der Goetheschen

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Weltanschauung heraus die Darstellung gegeben wird, und nur an gewissen Punkten darauf hingewiesen wird, wie Ideen, die sich mir ergeben hatten (ätherischer Leib, Empfindungsleib und so weiter), sich in den Angaben der theo sophi sch genannten Literatur auch finden. Ich weiß, daß ich durch diese Ausführungen gewisse immer wieder gegen mich auftretende Angriffe nicht aus der Welt schaffen werde, denn diesen ist es ja in vielen Fällen nicht um Er-gründung des wahren Tatbestandes, sondern um ganz an­deres zu tun. Aber, was kann getan werden auch gegenüber immer wiederkehrenden Unrichtigkeiten? Doch nur: das Richtige aussprechen. -

*

Der Forscher, der auf Grundlage einer Erkenntnisart arbeitet, wie sie in dieser Schrift angedeutet wird, erblickt den Gang seiner Untersuchungen in vollem Einklang mit den Bestrebungen der Naturwissenschaft in der Gegenwart. Nur weiß er, daß diese naturwissenschaftlichen Bestrebun­gen überall an tote Punkte (oder in Sackgassen) kommen müssen, wenn sie sich nicht begegnen können mit dem, was, von entgegengesetzten Ausgangspunkten her, die Geistes­wissenschaft zu Tage fördern kann. Eine richtige Anschau­ung würde die beiden Arbeitsrichtungen so erblicken, wie die Arbeiter eines Tunnels, die von zwei Seiten herrichtig geordnet - in einen Berg bohren und zusammentreffen. Die Tatsachen der zeitgenössischen Arbeit bestätigen durchaus diese Anschauung; nur die irregeführten Meinungen über diese Tatsachen stellen dies in Abrede und bringen Geistes­wissenschaft mit Naturwissenschaft in einen «gemeinten», aber in Wahrheit nicht bestehenden Widerspruch. - Wie

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bedeutsam sich das Zusammentreffen von Naturwissen­schaft und Geisteswissenschaft erweist, das zeigt auf das glänzendste ein eben erschienenes - meiner Meinung nach geradezu epochemachendes - Buch: «Vom Schaltwerk der Gedanken. Neue Einsichten und Betrachtungen über die Seele» von Carl Ludwig Schleich, S. Fischer Verlag Berlin 1916. Man lese in diesem Buche das eindringlich sprechende

Kapitel: «Die Hysterie - ein metaphysisches Problem», und man sehe, wie hier der naturforschende Arzt, der zu­gleich ein tiefdringender Denker ist, vor Tatsachen steht, die aus der Geisteswissenschaft erst ihre volle Beleuchtung finden, und die ihn zu dem Satze nötigen: In «der Ge­websproduktion, durch den hysterischen Impuls, liegt das metaphysische Problem der Inkarnation vor», in «der des mediumistischen Schauens, eine Art Hellsehens von Krank-heitsmöglichkeiten». Nun gibt man sich einer der aller-schlimmsten Illusionen hin, wenn man ernstlich meint, man könne ohne die geisteswissenschaftlichen Ergebnisse mit den naturwissenschaftlich gefundenen Tatsachen für das volle wirkliche Erleben der Menschen etwas anfangen. Der Na­turforscher, der die Geisteswissenschaft ablehnt, ist durch­aus wie in dem Falle eines Menschen, der ein magnetisches Stück Eisen in der Hand hält, von dem Magnetismus nichts ahnt, und das Eisen nur zu einem Werkzeug verwendet, bei dem der Magnetismus keine Rolle spielt. Was wäre wohl geworden, wenn er den Magnetismus und nicht den «Stoff» Eisen in irgend welche Dienste gestellt hätte? -Man lese auch in dem Schleichschen Buche das Kapitel «Der Mythos vom Stoffwechsel im Gehirn», und man überzeuge sich, wie der naturforschende Arzt durch Denkzwang zu einer förmlichen Schilderung dessen kommt, was die Geisteswissenschaft

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aus einer umfassenden Darstellung des Geisteslebens als den Ätherleib des Menschen sachgemäß schildert. - Es ist interessant, wie gerade dieses Kapitel der Schleichschen Darstellung zeigt, daß Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft in der Gegenwart vielfach aus dem Grunde aneinander vorbei reden, weil die Zusammenwir­kung in geistiger Lebenspraxis bei Naturwissenschaftern und Geisteswissenschaftern wegen der Zersplitterung unse­res Geisteslebens so schwierig ist. Man kommt da zu der schmerzlichen Vorstellung: Wie könnten sich die Dinge stellen, wenn die Naturforscher die Geisteswissenschaft wirklich kennen lernen wollten, statt an ihr vorbeizugehen, und sie den unverständigen Verdächtigungen derer zu über­lassen, die nach dem Grundsatze handeln: nicht prüfen, aber die unsachgemäße Aburteilung behalten-? Am Schlusse des angedeuteten Kapitels sagt nämlich Schleich - und der Fall ist bedeutsam, weil es sich da nicht um Übelwollen, sondern um den Ausspruch eines redlichen, wahren For­schers handelt -: «Wenn Goethe, dieser Seher und Prophet, so vieles Zusammenhängende der Gottnatur bemerkte und bewies, daß der Schädel mit allen seinen Schalen nichts ist, als ein plattenförmig aufgerollter Halswirbel, weil alle Be­standteile des letzteren an der beineren Hülle des Hirns nachweisbar sind, so sollte mich wundernehmen, ob er nicht auch den Gedanken, den wir eben aussprachen, «von dem Auftürmen des Gehirns aus den Elementen des Rücken­marks», gleich uns im Labyrinth seiner Gedanken gewälzt hat. Es würde mich nicht überraschen, wenn darüber noch einmal irgendein Goethesches Zettelchen gefunden würde.» -So ist unser geistiges Zusammenwirken! 1916 erwartet ein redlicher Forscher, daß noch einmal ein «Goethesches Zetteichen»

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gefunden werde. Dies ist aber bereits im Jahre 1891 von mir gefunden. Man lese im Goethe-Jahrbuch von 1892 auf S. 175 in dem Aufsatze: «Goethe als Anatom» (der von dem Prof. der Anatomie K. v. Bardeleben geschrie­ben ist): «Daß sich Goethe aber nicht nur mit der Osteo­logie, sondern auch mit den Bändern, den Muskeln, sowie dem Gehirne beschäftigt hat, zeigen verschiedene Notizen, auf meist losen Blättern. In dem venetianischen Tagebuche von 1790 fand R. Steiner folgenden Satz, der in innerem Zusammenhange mit den Gedanken über die Wirbelnatur der Schädeiknochen stehen dürfte: Auf der Grundlage dieser und ähnlicher von mir gemachter «Goethefunde» konnte ich denn in meinem Buche «Goethes Weltanschauung» - aus rein geisteswissenschaftlichem Den­ken heraus - 1897 schreiben: «Jedes Nervenzentrum der Ganglien gilt ihm (Goethe) als ein auf niederer Stufe ste­hendes Gehirn.» Und dieses, sowie manches damit in Zu­sammenhang Stehende habe ich seither oft ausgesprochen. -Es sollte dies nur ein kleines Beispiel sein für die Art, wie man im modernen Wissenschaftsbetrieb aneinander vorbei-redet. Ich werde gewiß der letzte sein, der Schleich vor­werfen will, daß er das Goethe-Jahrbuch von 1892 und mein Buch von 1897 nicht kennt; das Mißliche unseres Wissenschaftsbetriebes liegt nicht an Personen, sondern an den Verhältnissen.

In der vorliegenden Schrift wird auch darauf hingewie­sen, wie unbegründet jegliche Gegnerschaft gegen die Gei­steswissenschaft ist, die von religiösen Gesichtspunkten ausgeht.

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Dabei wird auf die ausgezeichnete Rektoratsrede hingewiesen, die 1894 ein katholischer Priester, der Pro­fessor an der theologischen Fakultät an der Universität Wien war, gehalten hat. Gemeint ist Dr. Laurenz Müllner und seine Rede: «Die Bedeutung Galileis für die Philo­sophie». In dieser Rede sagt dieser Priester, der immer ein treuer Sohn seiner Kirche geblieben ist, das Folgende: «So kam eine neue Weltanschauung (gemeint ist die Koperni-kanisch-Galileische Anschauung) vielfach in den Schein eines Gegensatzes zu Meinungen, die in sehr fraglichem Rechte ihre Abfolge aus den Lehren des Christentums be­haupteten. Es handelt sich vielmehr um den Gegensatz des erweiterten Weltbewußtseins einer neuen Zeit zu dem enger geschlossenen der Antike, um einen Gegensatz zur griechi­schen, nicht aber zur richtig verstandenen christlichen Welt­anschauung, die in den neuentdeckten Sternenwelten nur neue Wunder göttlicher Macht und Weisheit hätte sehen dürfen, wodurch die auf Erden vollzogenen Wunder gött­licher Liebe nur höhere Bedeutung gewinnen konnten.» In ähnlicher Weise darf mit Bezug auf das Verhältnis der Gei­steswissenschaft zur Religion gesagt werden: Es kommt diese Geisteswissenschaft vielfach in den Schein eines Gegen­satzes zu Meinungen, die oft wie zum Christentum gehörig dargestellt werden, die aber in sehr fraglichem Rechte ihre Abfolge aus den Lehren des Christentums behaupten. Es handelt sich vielmehr um den Gegensatz des in die geistige Wirklichkeit hinein erweiterten Weltbewußtseins unserer neuen Zeit zu dem enger geschlossenen bloß naturwissen-schafllichen der letzten Jahrhunderte, nicht aber zur richtig verstandenen christlichen Weltanschauung, die in den Gei­steswelten der Anthroposophie nur neue Wunder göttlicher

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Macht und Weisheit sehen sollte, wodurch die in der Sinnes-welt vollzogenen Wunder göttlicher Liebe nur höhere Be­deutung gewinnen können. - Sobald auf gewissen Seiten ein so gründlicher Einblick in die Geisteswissenschaft vor­handen sein wird, wie ihn der genannte edle Priester und Theologe Laurenz Müliner in die naturwissenschaftliche An­schauung der neuen Zeit hatte, werden alle Angriffe auf­hören, die gegen die Geisteswissenschaft von religiöser Seite oftmals in so ganz unbegründeter Art gemacht werden.

DAS MENSCHLICHE LEBEN VOM GESICHTSPUNKTE DER GEISTES­WISSENSCHAFT (ANTHROPOSOPHIE)

#G035-1965-SE225 - Philosophie und Anthroposophie (1904 - 1918)

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DAS MENSCHLICHE LEBEN VOM GESICHTSPUNKTE DER GEISTES­WISSENSCHAFT (ANTHROPOSOPHIE)

Vorwort

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Die folgenden Ausführungen bildeten den Inhalt eines Vor­trages, den idi am 16. Oktober 1916 in Liestal gehalten habe, und der eine Art Fortsetzung enthielt des am 11. Ja­nuar ebendaselbst gehaltenen über «Die Aufgabe der Gei­steswissenschaft und deren Bau in Dornach». In diesen bei­den Vorträgen war ich bestrebt, in möglichster Kürze die Wege zu kennzeichnen, auf denen die Erkenntnisse gewon­nen werden, die ich unter dem Namen «Anthroposophie» oder «Geisteswissenschaft» zusammenfasse. Auch suchte ich einige von diesen Erkenntnissen über das geistige Wesen der Menschenseele und damit Zusammenhängendes kurz darzustellen. Eingefügt habe ich auch in diesen Vortrag wie in den andern einiges über Einwände, die von manchen Seiten gegen die anthroposophisch orientierte Geisteswis­senschaft gemacht werden. Diese Einwände kommen oft in einer recht sonderbaren Art zustande. Sie besteht darinnen, daß man nicht dasjenige ins Auge faßt, was die gemeinte Geisteswissenschaft sagt, und dagegen sich wendet, sondern daß man sich ein Zerrbild zurechtzimmert nach dem oder jenem, was man meint, das sie sage, und sich dann gegen dieses Zerrbild wendet. Man wird auf diese Art oftmals angegriffen nicht um deswillen, was man wirklich anstrebt, sondern wegen des Gegenteils, das man niemals angestrebt

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hat. Solche Gegnerschaft hat oft gar nicht die ernste Absicht, das wirklich kennenzulernen, was sie verurteilt. Man kann solchen Angriffen gegenüber kaum etwas anderes tun, als die Darstellung der wirklichen Wege und Ziele der anthro­posophisch orientierten Geisteswissenschaft von verschiede­nen Gesichtspunkten aus stets von neuem versuchen. Das ist mit Bezug auf einige Punkte auch in diesem Vortrag ge­schehen.

Dornach bei Basel, November 1916 Rudolf Steiner

Ebensowenig wie dem Vortrage, den ich hier im Januar dieses Jahres gehalten habe, liegt meinen heutigen Aus­führungen die Absicht zugrunde, für Geisteswissenschaft oder Anthroposophie das zu treiben, was man im gewöhn­lichen Sinne Propaganda nennt. Wie damals ist mir auch diesmal daran gelegen, einige Fragen zu beantworten, die gerade in dieser Gegend entstehen müssen, wo man den Dornacher Bau unmittelbar vor Augen hat, welcher dieser Geisteswissenschaft dienen soll.

Eine ganz begreifliche Frage für denjenigen, der zunächst als Außenstehender Kenntnis nimmt von dieser anthropo­sophischen Bewegung ist die: Gibt es denn überhaupt einen Grund im Geistesleben der Gegenwart, der das Aufkom­men einer solchen Bewegung fordert? Man kann es ganz gut verstehen, wenn solche Außenstehende zunächst zu einer ablehnenden Meinung kommen. Sie können glauben, daß einige Menschen, die zu wenig zu tun haben im Leben, sich zusammenfinden, um allerlei für das wirkliche Leben Unnützliches zu treiben, Dinge> die eigentlich denjenigen Menschen nichts angehen, der seine Zeit mit werktätiger

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Arbeit im Dienste der Menschheit zu verbringen hat. Diese Meinung kann aber nur dann entstehen, wenn man nicht in einer gründlichen Weise sich bekannt macht mit den Be­dingungen des menschlichen Fortschrittes im Laufe der letz­ten drei bis vier Jahrhunderte, insbesondere im Laufe des 19. Jahrhunderts, und bis in unsere Tage herein. Man lenke den Blick auf all die Veränderungen, die sich in dem mensch­lichen Leben in dieser Zeit vollzogen haben gegenüber den Bedürfnissen früherer Zeiten. Über das Wirken der Natur­kräfte ist Neues entdeckt worden, und das Entdeckte hat das ganze menschliche Dasein, hat die Bedingungen des Lebens von Grund aus geändert. Wie anders wird gegen­wärtig der Mensch in das Leben hereingestellt als in einer noch gar nicht allzuweit zurückliegenden Vergangenheit! Überschaut man das menschliche Leben, wie es sich entwik­kelt von der Kindheit bis ins reife Alter, so ergibt sich heute ein anderer Anblick als in dieser Vergangenheit. Eine solche Überschau zeigt, wie der Mensch hereingestellt wird in das Leben, wie er seine Arbeit zu leisten hat, für die er vorberei­tet wird im Verlaufe seiner Kindheit und Jugendzeit. Sie zeigt, wie dann in ihm das Bedürfnis erwacht, etwas zu wissen über den Sinn und über die eigentliche Bedeutung des Lebens. Der Mensch kann sich nicht zufriedengeben mit demjenigen, was er durch seine Sinne sieht, mit demjenigen, was er durch seine Hände erarbeiten muß. Er wird aufmerk­sam im Verlaufe seines Lebens auf die Stimmen seines seeli­schen Wesens, und er muß fragen: Welchen Sinn hat dieses Seelische innerhalb der äußeren, physischen Welt? Man kann nun zunächst selbstverständlich mit vollem Rechte darauf antworten: Nun, die Welt befriedigt ja dasjenige, was der Mensch also zu fragen hat. Sie bringt ihm zu dem

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Inhalt seiner äußeren Lebensarbeit und äußeren Lebens­erfahrung die Religion, das religiöse Element hinzu. Durch dies wird ihm der ewige Sinn desjenigen enthüllt, was in dem äußeren Physischen des Menschen lebt; und dadurch verwandelt sich für ihn das Tor, welches scheinbar schließt dieses physische Leben, zu dem Aufgangstor für das ewige, unsterbliche Leben der Seele.

Im allgemeinen wird man mit dieser Antwort gewiß recht haben; und berechtigt scheint es daher, zu sagen: Wo­zu ist noch irgend etwas notwendig, das sich als Geistes­wissenschaft oder Anthroposophie eindrängen will zwischen das äußere Leben in der physischen Welt und die religiöse Offenbarung, die religiöse Verkündigung über die ewige Wesenheit des Menschen?

Wer bei dieser im allgemeinen ganz richtigen Meinung über das menschliche Leben der Gegenwart sich beruhigen will, der berücksichtigt aber nicht, wie die letzten Jahr­hunderte, insbesondere die neueste Zeit, diesem Leben eine besondere Gestalt gegeben haben, welche den Menschen gegenwärtig nötigt, auch alle Fragen des Lebens in einer Art zu sehen, die über diese allgemeine Meinung hinaus­gehen muß. Der Mensch wird heute schon in frühester Ju­gend bekannt mit ganz anderem als in früheren Jahrhun­derten. Man bedenke nur einmal, wie man heute durch die Erziehung und Schule hindurchgeht und da Anschauungen aufnimmt, Vorstellungen empfängt, die ganz andere sind als die der früheren Zeit, weil sie auf den großen Fort­schritten der letzten Jahrhunderte und der unmittelbaren Gegenwart beruhen. Es liegt im Wesen des geschichtlichen Fortschreitens der Menschheit, daß sich durch gewisse Zei­ten hindurch die Lebensverhältnisse gründlich ändern, und

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daß erst, wenn diese Änderung ein gewisses Maß erreicht hat, der Mensch dazu gelangt, sein Seelenleben auf die Änderung einzustellen. Deshalb bedrängen erst in unserer Gegenwart den Menschen die Seelenfragen, welche durch die Änderung der Lebensverhältnisse in den letzten drei bis vier Jahrhunderten in der Menschheitsentwicklung herauf-gezogen sind. Erst in der Gegenwart nehmen diese Seelen-fragen eine deutliche Gestalt an. Das kann man vor allem aus dem Glauben ersehen, dem sich viele Persönlichkeiten im Laufe des 19. Jahrhunderts hingeben konnten, und den erst unsere Zeit als einen irrtümlichen enthüllt.

Man konnte sich noch vor kurzem dem Glauben hin­geben, daß die Naturwissenschaft - die wahrhaftig von Geisteswissenschaft nicht verkannt wird, sondern gerade in ihren großen Fortschritten voll gewürdigt und bewundert wird - die großen Rätsel des Menschendaseins mit ihren Mitteln lösen werde. Allein derjenige, der mit vertieften Seelenkräften sich einlebt in die Errungenschaften der neue­ren Naturwissenschaft, der wird immer mehr und mehr gewahr, daß für die höchsten Fragen des Menschendaseins dasjenige, was die Naturwissenschaft bringt, nicht Antwor­ten sind, sondern im Gegenteil immer neue und neue Fra­gen. Es bereichert das Leben des Menschen, diese Fragen jetzt stellen zu können; aber sie bleiben auf dem Boden der Naturwissenschaft eben Fragen. Die Menschen des 19. Jahr­hunderts, auch die Gelehrten, haben das viel zu wenig be­rücksichtigt. Sie haben geglaubt, Antworten zu bekommen auf gewisse Rätselfragen, während in Wahrheit diese Fragen in einer neuen Art gestellt werden mußten. Diese Fragen werden nun sozusagen uns anerzogen. Sie sind in der Seele des gegenwärtigen Menschen da, wenn er sich

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in das Leben hineingestellt findet, und sie verlangen Ant­worten.

Nun sind diejenigen Persönlichkeiten, welche sich zu­sammenfinden in der Anthroposophischen Gesellschaft, in gewisser Beziehung solche, welche fühlen, was man an Rätselfragen heute naturgemäß durch das Leben empfängt, Rätselfragen, die man nicht willkürlich aufwirft, sondern die sich als notwendig selbst stellen durch das Leben, in das jetzt der Mensch versetzt ist. Diese Fragen werden zwar durch die neuere Wissenschaft besonders anschaulich, aber sie werden nicht nur dem gestellt, der sich tiefer einläßt in die Wissenschaft, sondern jedem, der mit vollem Anteil durch das gegenwärtige Menschenleben geht. Könnte der Mensch nicht zu Antworten auf solche Fragen kommen, so müßten sich gewisse Folgen ergeben für das menschliche Leben, welche die Menschenzukunft in einem traurigen Lichte heraufziehen lassen würden. Man kann heute noch als ein Phantast erscheinen, wenn man von diesen Folgen spricht. Man wird als solcher aber nur denen gelten, welche sich blenden lassen durch die großen Fortschritte der Menschheit, die aber nicht einsehen, daß diese von Fort­schritten auf anderem Gebiet gefolgt sein müssen, wenn sich nicht unter ihrer Oberfläche das vorbereiten soll, was nun­mehr angedeutet werden mag.

Denken könnte man sich allerdings, daß die Menschen sich abstumpfen gegenüber den angeführten Rätselfragen, sich gewissermaßen betäuben und sie nicht stellen. Aber dann lähmte man gewisse Geisteskräfte, die der Mensch hat, und welche gerade durch die besprochene neuere Entwick­lung nach Ausbildung streben. Es würde dann das mensch­liche Seelenleben in einen Zustand kommen, welcher sich

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vergleichen läßt etwa mit dem, in den man kommen würde, wenn man seine Hände und Arme wohl hätte, aber sie ge­bunden wären und man mit ihnen nichts leisten könnte. Kräfte, die der Mensch hat, und mit denen er nichts an­fangen kann, wirken auf ihn lähmend. Und durch das immer weiter und weiter um sich greifende Fühlen einer solchen Lähmung gewisser Seelenkräfte würde das mensch­liche Leben in einen Zustand von Gleichgültigkeit, ja von völliger Interesselosigkeit kommen gegenüber allem Seeli­schen, und damit auch gegenüber dem religiösen Empfin­den. Dabei könnte es aber nicht bleiben. Der Zustand der Gleichgültigkeit gegenüber dem Seelischen ist für den Men­schen erträglich nur so lange, als sein Interesse noch lebhaft angezogen wird von dem andern, durch welches das Seeli­sche verdunkelt wird. Allein dieses Interesse hört nach eini­ger Zeit auf. Es konnte noch vorhanden sein bei denen, welche unter dem unmittelbaren Eindruck der bewunde­rungswerten naturwissenschaftlichen Ergebnisse standen. Aber es erlischt. Und dann tritt als weitere Folge bei den nicht mehr unter diesem unmittelbaren Eindruck stehenden zur Gleichgültigkeit gegenüber dem Seelischen die Inter­essenlosigkeit auch gegenüber dem äußeren Leben hinzu. Die Lebensfreude, die Arbeitsfreude wird getrübt. Das Leben wird als Last empfunden.

Die Vorboten der Gleichgültigkeit gegenüber dem reli­giösen Leben sind im 19. Jahrhundert deutlich zu beob­achten gewesen. Ich will in diesem Augenblicke nicht als Beispiel etwas anführen, was in der Reihe der zahlreichen Gelehrten aufgetreten ist, die glaubten, aus der Naturwis­senschaft heraus die Fragen des geistigen Lebens beant­worten zu können. Ich will sprechen von einem einfachen

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Mann aus dem Volke, der in einem solchen Glauben be­fangen war. Ich meine einen Bauern, der in der oberöster­reichischen Alpengegend im 19. Jahrhundert wie ein Mär­tyrer gelebt hat: Konrad Deubler. Deubler wurde ganz ergriffen von den naturwissenschaftlichen Erfolgen des 19. Jahrhunderts. In seiner Jugend hat er sich eine Zeitlang vertieft in geistige Betrachtungen, wie sie von Zschokke ausgegangen sind. Aber er ist durch die Bekanntschaft mit dem Darwinismus, mit Haeckels, Büchners und anderer Schriften davon abgekommen. Er hat sich ganz hinnehmen lassen von der materialistischen Gestaltung des Darwinis­mus, hat sich ganz hinreißen lassen von dem Haeckelismus, hat endlich ganz den Glauben angenommen, daß alles Tor­heit ist, was über irgendeine geistige Welt aus irgendwelchen andern Quellen als den naturwissenschaftlichen heraus ge­sagt werden kann. Er glaubte die Welt nur aus materiellen Stoffen und materiellen Kräften auferbaut. Für die Per­sönlichkeit Deublers selbst kann man nur Bewunderung haben; er wurde wirklich ein Märtyrer seiner Überzeugung, denn er mußte für diese sogar lange im Kerker sitzen in den fünfziger Jahren, wo das noch möglich war. Deubler ist gewiß nicht ein Mensch, der aus irgendeinem oberfläch­lichen Trieb seine Anschauung angenommen hat, sondern ein Mensch, der ganz und gar verführt durch die Strömun­gen seines Jahrhunderts zur Ablehnung geistiger Wissens-quellen gekommen ist. Gewiß, er war lebensfreudig bis zu seinem Tode. Aber er war es, weil er in dem Zeitalter lebte, in dem man noch von dem Glanze rein naturwissenschaft­licher Ergebnisse geblendet sein konnte; für Späterlebende könnten sich erst die seelischen Folgen solcher Vorstel­lungen, wie er sie sich bildete, zeigen. Deubler bietet ein

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berühmt gewordenes Beispiel für eine gewisse Seelenver­fassung der jüngsten Zeit. Es könnten ja viele solche Bei­spiele angeführt werden. Sie würden den Beweis liefern, daß allerdings viele Persönlichkeiten dieser Zeit glauben konnten, Naturwissenschaft gebe eine umfassende Erklä­rung des Sinnes der Welt. Die naturwissenschaftliche Er­kenntnis wird man nicht aufhalten können noch wollen, denn diese lebt in den Errungenschaften, welche der moderne Mensch braucht, in allem, was er als Nützliches in sein Da­sein einführen muß. Wenn aber der menschliche Sinn ein­seitig auf dieses Naturwissenschaftliche gerichtet ist, dann verliert der Mensch den Zusammenhang mit dem geistigen Leben, mit dem Seelischen in seinem eigenen Innern. Persönlichkeiten wie Deubler durchschauten noch nicht, daß die Naturwissenschaft wohl neue Fragen, nicht aber neue Antworten für das Seelenleben gebiert. Seine An­schauung müßte sich immer weiter verbreiten, wenn zur Naturwissenschaft nicht eine ihr gewachsene Geisteswissen­schaft hinzukäme.

Daher sind diejenigen, die sich zusammengefunden haben in der Anthroposophischen Gesellschaft, von der Mei­nung beseelt, daß in der neueren Geisteswissenschaft oder Anthroposophie ein Band zwischen den großen Fortschrit­ten des im Lichte naturwissenschaftlicher Erkenntnis stehen­den Lebens und dem religiösen Leben des Menschen geschaf­fen werden solle. Von der Naturwissenschaft kann man, wenn man wirklich in ihren Sinn eindringt, sagen: Sie führt zu einem Bilde von der Welt, in welchem das Wesentliche des Menschen gar nicht vorkommen kann. Indem ich dieses ausspreche, rede ich nicht von meiner Ansicht, sondern von dem, was die unbefangene Betrachtung der naturwissenschaftlichen

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Forschung jetzt schon mit aller Deutlichkeit erkennen läßt, und über das sich nur das Zeitalter noch täu­schen konnte, das zwar die naturwissenschaftlichen Erkennt­nisse mit Recht bewundern durfte, ihre Grenzen aber noch nicht anerkennen konnte. Einzelne Naturforscher haben das Richtige in gewissen Grenzen längst erkannt; und be­rühmt geworden ist ja jene Rede, welche Du Bois-Reymond in den siebziger Jahren in Leipzig gehalten hat, und die geschlossen hat mit dem Ignorabimus: Wir werden niemals wissen. Dieser bedeutende Forscher meinte: Wenn man noch so sehr die Geheimnisse der Natur mit den naturwissen­schaftlichen Methoden erforscht, so findet man zuletzt nie­mals die Möglichkeit, dasjenige zu erkennen, was als Be­wußtsein in der Menschenseele lebt, ja, man findet nicht einmal die Möglichkeit zu verstehen, was der Materie selbst zu Grunde liegt. Naturwissenschaft taugt nicht dazu, Ma­terie und Bewußtsein, gewissermaßen die beiden Enden des Menschenlebens, zu verstehen. Man kann sagen, die Naturwissenschaft habe gewissermaßen den Menschen als geistiges Wesen herausgedrängt aus dem Weltbilde, an dem sie arbeitet. Das zeigt sich, wenn man den Blick auf die Vorstellungen richtet, die aus dem naturwissenschaftlichen Boden heraus sich über die Entwicklung des Erdenplaneten ergeben haben.

Ich weiß sehr wohl, daß diese Vorstellungen bis zum heutigen Tage vielen Wandlungen unterworfen waren, und daß vielleicht mancher dasjenige, worauf ich mich beziehe, als veraltet bezeichnen kann. Allein darum handelt es sich nicht. Dasjenige, was auch heute in dieser Richtung gesagt wird, ist aus demselben Geiste heraus vorgestellt, wie die jetzt schon ältere Kant-Laplacesche Vorstellung, von der

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ich reden will. Im Sinne dieser Vorstellung hat sich die Erde und das ganze Sonnensystem gebildet aus einer Art Urnebel heraus, einem Urnebel, indem nichts anderes vor­handen war als Kräfte, die eben ein Nebelgebilde enthält. Durch Drehung dieses Urnebels habe sich allmählich das System der Planeten, und innerhalb desselben die Erde gebildet, und durch die Fortentwicklung derselben Kräfte, die einstmals in diesem Urnebel enthalten waren, ist alles dasjenige entstanden, was wir jetzt auf der Erde bewun­dern mit Einschluß des Menschen. - Diese Ansicht findet man ungemein einleuchtend, und sie wird schon den Kin­dern in der Schule beigebracht. Man gibt sich der Täu­schung hin, daß sie einleuchtend sei, denn man braucht nur den Kindern ein einfaches Experiment vorzumachen, und man kann glauben, die Sache bis zur offenbarsten An­schaulichkeit getrieben zu haben. Und Anschaulichkeit lie­ben ja viele, die in der Naturwissenschaft eine ausreichende Weltanschauung haben wollen. Man braucht nur einen Tropfen zu nehmen einer Substanz, die auf dem Wasser schwimmt, braucht durch den Tropfen in der Äquator-ebene ein Stückchen Kartonpapier durchzuführen, in das man eine Nadel einsticht, welche senkrecht auf dieser Äquatorebene steht - dann läßt man den Tropfen auf der Wasseroberfläche schwimmen und dreht ihn durch die Nadel. In der Tat: es lösen sich kleine Tröpfchen ab - ein Weltensystem im kleinen entsteht! Wie sollte man nicht sagen können: Nun, seht ihr, da habt ihr ja die ganze Weltentstehung im kleinen! - Die Kinder glauben das zu begreifen, denn es scheint so einleuchtend. Es wird dabei nur immer einiges aus dem Auge verloren. Wenn es auch manchmal recht gut ist in der Welt, sich selbst zu vergessen,

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so ist es nicht beim naturwissenschaftlichen Experimen­tieren gut.

Der Tropfen würde nämlich nichts absondern von klei­nen Tröpfchen, - wenn nicht der Herr Lehrer dastehen würde und die Nadel drehte. Da man aber alles dasjenige, was notwendig ist bei der Entstehung einer Sache, mit be­rücksichtigen muß, so müßte de4enige, der das den Leuten vormacht, ihnen auch klarmachen, daß da auch ein großer Professor oder Lehrer, ein Riesenprofessor draußen im Weltenall sein müßte, der etwas wie eine Riesennadel durch die Nebelmasse steckte und das Ganze in Rotation brächte. Und außerdem: was ist aus dem Tropfen entstanden? Nichts, als was im unzerteilten Zustande schon da war. Das Anschauliche tritt oft als Verführer der Erkenntnis auf.

Menschen allerdings mit völlig gesundem Weltempfin-den lehnten solche Anschaulichkeit trotz aller naturwissen­schaftlichen Autoritäten ab. Ich will ein Beispiel anführen, von dem ich auch in meinem neuesten Buche über das «Menschenrätsel> gesprochen habe. Herman Grimm, der große Kunstforscher, vertrat die Anschauung, daß Goethe niemals in seinem Leben sich eingelassen hätte auf die ge­kennzeichnete rein äußerliche Erklärung der Weltenent­wicklung. Herman Grimm sagt: «Längst hatte, in seinen (Goethes) Jugendzeiten schon, die große Laplace-Kantsche Phantasie von der Entstehung und dem einstigen Unter-gange der Erdkugel Platz gegriffen. Aus dem in sich rotie­renden Weltnebel - die Kinder bringen es bereits aus der Schule mit - formt sich der zentrale Gastropfen, aus dem hernach die Erde wird, und macht, als erstarrende Kugel, in unfaßbaren Zeiträumen alle Phasen, die Episode der Bewohnung durch das Menschengeschlecht mit einbegriffen,

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durch, um endlich als ausgebrannte Schlacke in die Sonne zurüchzustürzen: ein langer, aber dem Publikum völlig begreiflicher Prozeß, für dessen Zustandekommen es nun weiter keines äußeren Eingreifens bedürfe, als die Be­mühung irgendeiner außenstehenden Kraft, die Sonne in gleicher Heiztemperatur zu erhalten. - Es kann keine fruchtlosere Perspektive für die Zukunft gedacht werden als die, welche uns in dieser Erwartung als wissenschaftlich notwendig heute aufgedrängt werden soll. Ein Aasknochen, um den ein hungriger Hund einen Umweg machte, wäre ein erfrischendes, appetitliches Stück im Vergleiche zu diesem letzten Schöpfungsexkrement, als welches unsere Erde schließlich der Sonne wieder anheimfiele, und es ist die Wißbegier, mit der unsere Generation dergleichen auf­nimmt und zu glauben vermeint, ein Zeichen kranker Phantasie, die als ein historisches Zeitphänomen zu er­klären, die Gelehrten zukünftiger Epochen einmal viel Scharfsinn aufwenden werden. Niemals hat Goethe solchen Trostlosigkeiten Einlaß gewährt...»

Was Herman Grimm empfindet in der Zeit, in der von einer Geisteswissenschaft oder Anthroposophie, wie sie hier gemeint ist, noch nicht gesprochen werden konnte, das verdient wohl berücksichtigt zu werden. Denn es zeigt, daß im Menschen eine Empfindung besteht, die nach anderer Lösung der großen Weltendaseinsfragen drängt, als die­jenige ist, welche man im Sinne der - immer wieder sei es betont, daß Geisteswissenschaft die Naturwissenschaft nicht befeindet - bewunderungswürdigen Naturwissenschaft glaubt geben zu können. Nein, das gerade zeigt der wirk­liche Gang der naturwissenschaftlichen Entwicklung der neueren Zeit, daß diese Entwickelung tiefgehende Fragen

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aufzuwerfen in der Lage ist, daß aber Antworten darauf von einer anderen Seite her kommen müssen. Und diese Antworten darauf, sie will Geisteswissenschaft oder An­throposophie geben. Allerdings muß diese zu ganz ande­ren Erkenntniskräften greifen als den heute anerkannten. Ich habe über die Entwickelung dieser übersinnlichen Er­kenntniskräfte durch den vorigen Vortrag, den ich hier halten durfte, gesprochen. Dieser Vortrag ist gedruckt als Broschüre: «Die Aufgabe der Geisteswissenschaft und deren Bau in Dornach». Ich will dasjenige, was in jenem Vortrage gesagt worden ist, nicht wiederholen, will nur darauf hinweisen, daß zu den gewöhnlichen Seelenkräften, die der Mensch hat und die er auch anwendet, wenn er naturwissenschaftlich erkennt, andere hinzu entwickelt werden können, und daß diese anderen Erkenntniskräfte sich zu den gewöhnlichen verhalten wie, vergleichsweise, das musikalische Ohr zu der Anschauung, die bloß auf die schwingenden Saiten des Instrumentes gerichtet ist. In der Außenwelt zeigt die vom Hören absehende Anschauung für eine Symphonie schwingende Saiten und so weiter. Dem musikalischen Ohr offenbart sich durch die Schwin­gungen aber ein ganz anderes. Gewissermaßen ist der­jenige, der ein Geistesforscher ist, ein Mensch, welcher ent­wickelt hat ein Anschauungsvermdgen gegenüber der Welt, das sich verhält zu der naturwissenschaftlichen Anschauung wie das musikalische Ohr zu der Anschauung, die nur auf die räumlichen Schwingungsvorgänge sich richtet. Der Gei­stesforscher greift zu Fähigkeiten, durch welche sich die geistige Welt offenbart wie die Symphonie durch die Schwingungsvorgänge. Ausdrücklich hinweisen möchte ich darauf, daß keineswegs jeder Mensch ein Geistesforscher

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zu werden braucht, welcher die Geisteswissenschaft oder Anthroposophie in entsprechender Weise für seine Seele fruchtbringend machen will>. Der Geistesforscher verhält sich nicht zu dem anderen Menschen, der nicht selbst forscht, sondern nur dasjenige aufnimmt, was die Ergeb­nisse der Geistesforschung sind, wie der Naturforscher zu demjenigen der sich über die Ergebnisse der Naturfor­schung unterrichtet>. Das Verhältnis ist ein anderes; und dies soll hier im Bilde besprochen werden>. Der Geistes-forscher selbst bereitet gewissermaßen nur das Instrument zu, das die Erkenntnis der geistigen Welt vermittelt. Da­durch, daß er sich gewisse Fähigkeiten aneignet, ist der Geistesforscher gewissermaßen in der Lage, solche Werk­zeuge zu formen, durch die jeder Mensch in die geistige Welt eindringen kann, der nur unbefangen genug ist, um die Werkzeuge richtig zu gebrauchen. Man muß sich über die Natur dieser Werkzeuge nur die rechten Vorstellungen machen>. Während derjenige, welcher die Werkzeuge für ein äußeres chemisches oder klinisches Experiment vorbe­reitet, äußere Dinge zusammenstellt, durch welche dann ein Naturgeheimnis anschaulich werden kann, bereitet der Geistesforscher ein rein seelisch-geistiges Werkzeug zu>. Dieses Werkzeug sind gewisse Vorstellungen und Vorstel­lungszusammenhänge, die, richtig gebraucht, den Eingang in die geistige Welt erschließen>.

Daher ist auch die geisteswissenschaftliche Literatur an­ders aufzufassen als die andere Literatur>. Die naturwis­senschaftliche Literatur teilt gewisse Ergebnisse mit, von denen man sich unterrichtet. Die geisteswissenschaftliche Literatur ist nicht von gleicher Art. Sie kann ein Instru­ment in der Seele eines jeden Menschen werden. Durchdringt

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man sich mit den Vorstellungen, die in ihr nieder­gelegt sind, dann hat man nicht ein bloßes totes Ergebnis, von dem man sich unterrichtet, vor sich, sondern man hat etwas vor sich, das den Menschen durch ein in ihm liegen­des Leben mit der Geisteswelt verbindet, die man sucht. Wer ein geisteswissenschaftliches Buch durchliest, der merkt, wenn er es recht durchliest, daß dasjenige, was in dem Buche lebt, in seinem Seelenleben zum Mittel werden kann, dieses Seelenleben selber in eine Art Mitschwingung mit dem geistigen Dasein zu bringen; und er faßt das­jenige, was er sonst nur mit den Sinnen und dem an die Sinne gebundenen Verstand auffaßt, nunmehr geistig auf. -Wenn dies noch wenig erkannt wird und die geistes-wissenschaftliche Literatur so genommen wird wie eine andere, so ist der Grund einzig und allein darinnen zu suchen, daß wir erst am Anfange der geisteswissenschaft­lichen Entwickelung stehen. Wird diese Fortschreiten, dann wird man immer mehr und mehr erkennen, daß man in einem wirklich echt geisteswissenschaftlich geschriebenen Buch nicht etwas vor sich hat wie in einem andern, son­dern etwas wie ein Instrument, das nicht bloß Erkenntnis-ergebnisse mitteilt, sondern durch das man sich solche Er­gebnisse selbsttätig verschafft. Nur muß man sich klar sein darüber, daß das geisteswissenschaftliche Instrument eben ein rein geistig-seelisches ist, daß es in gewissen ganz be stimmt belebten Vorstellungen und Ideen besteht, die sich unterscheiden von allen andern Vorstellungen und Ideen, weil sie nicht wie diese Bilder, sondern lebendige Wirklich­keiten sind. - Betont muß allerdings werden, daß auch bei dem heutigen Stande der Geisteswissenschaft jeder, der es anstrebt, bis zu einem gewissen Grade selbst Geistesforscher

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werden kann. Notwendig ist dieses aber nicht, wenn man im Sinne des eben Besprochenen die geisteswissenschaftliche Erkenntnis für die Seele fruchtbar machen will.

Und gerade aus dem Grund, weil Geisteswissenschaft oder Anthroposophie noch im Anfange ihrer Entwickelung ist, erscheint es ganz begreiflich, ja selbstverständlich, daß man heute noch den Ergebnissen, zu denen man durch die entwickelten Fähigkeiten des Geistesforschers kommt, mit zweifelnden Vorstellungen begegnet, daß man sie auch wohl belächelt, ja verhöhnt. Aber diese Zweifel, dieses Verhöhnen, sie werden im Laufe der Zeit immer mehr und mehr schwinden, wenn die angedeuteten Bedürfnisse, die heute noch in der Mehrzahl der Menschen schlummern, aufwachen werden. Und wie für manches, was für die Menschheit im Laufe ihrer Entwickelung sich ergeben hat, so wird auch für Geisteswissenschaft die allgemeine Aner­kennung kommen.

Der Geistesforscher erkennt zunächst, daß in dem Men­schen, wie er den Sinnen und dem an die Sinne sich halten­den Verstand erscheint, wie er auch erforscht werden kann von der mit äußeren Mitteln arbeitenden Naturwissen­schaft, nur ein Teil, nur ein Glied der ganzen menschlichen Wesenheit gegeben ist, und daß innerhalb der ganzen menschlichen Natur zu diesem Sinnenmenschen, zu dem physischen äußeren Menschen, hinzukommt ein übersinn­licher Mensch, der in dem sinnlichen Menschen wirkt und lebt, und ohne den der sinnliche Mensch in jedem Augen­blicke seines Lebens zum Leichnam zerfallen müßte. Denn der Geistesforscher entdeckt, daß ebenso wie man durch das physische Auge die Farbe sieht, man durch das - um diesen Goetheschen Ausdruck zu gebrauchen - «geistige

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Auge> innerhalb dieses physischen Menschen den sogenann­ten - auf den Ausdruck kommt es nicht an, und ich bitte, sich durchaus nicht an Worten zu stoßen; ich könnte ebenso­gut ein anderes Wort gebrauchen - ätherischen Menschenleib wahrnehmen kann>. In dem physischen Menschenleib steckt der ätherische Menschenleib übersinnlich darinnen, der nicht durch physische Augen gesehen werden kann, sondern der mit dem geistigen Auge geschaut werden muß>. Man kann darüber spotten, daß der Geistesforscher zu dem physischen Menschen diesen ätherischen Menschen hinzu­fügt; allein so wie der Mensch als physischer die Kräfte und Stoffe in sich hat mit ihren Wirksamkeiten, die in seiner physischen Erdenumgebung sind, so hat er in sich auch geistige Kräfte, die er mit einer geistigen Umwelt ge­meinsam hat>. Zunächst berücksichtigen wir diejenigen des sogenannten Ätherleibes>. Dieser besteht in gewissen über­sinnlich zu nennenden Kräften>. Und diese Kräfte kann man ebenso in der Umgebung des Menschen aufsuchen, wie man die physischen Kräfte, die der Mensch in sich trägt, durch Naturwissenschaft in der irdischen Umgebung finden kann. Aber man muß dann eben mit dem «gei­stigen Auge> dasjenige schauen, was geistig in unserer Um­gebung ist>.

Nun will ich zunächst ein Ergebnis besprechen, welches einen gewissen Zusammenhang zeigen soll, der besteht zwischen geistigen Vorgängen in der menschlichen Welt-umgebung und den Kräften im Menschen, welche seinen Ätherleib bilden>. Mit dem gewöhnlichen menschlichen An­schauen verfolgt man im Verlaufe eines Jahres, wie, wenn der Frühling kommt, die Pflanzen aufsprießen, wie sie immer mehr und mehr Grünes, wie sie dann später die

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farbigen Blüten entwickeln, wie die Früchte sich bilden. Man erlebt weiter das Abwelken, das Vergehen der Pflan­zen>. Man nimmt wahr abwechselnd das sommerliche Ge­deihen in der Natur und das winterliche Ruhevolle>. So stellt sich zunächst für die äußere Sinnesbeobachtung der Jahreslauf dar>. Aber für diese Sinnesbeobachtung stellt sich eben nur dasjenige dar, was sich zu dem Geistigen ver­hält wie die schwingenden Saiten zu den sich auslebenden Tonmassen>. Das «geistige Auge» fügt zu diesem Wechsel im Gedeihen und in der Ruhe, der da ist für den Geistes-forscher wie die schwingende Saite für das musikalische Ohr, eine Art geistigen Hörens und geistigen Schauens hinzu>. Und während man physisch aus der Erde heraus­sprießen sieht die Pflanzen, so wie sie für das physische Auge wahrnehmbar sind, so schaut der Geistesforscher in dem Maße, in dem die Pflanzen aus der Erde herauskom­men, von der Umgebung der Erde, von dem Außerirdi­schen her sich Wesenhaftes gegen die Erde zu bewegen>. So paradox das für die gegenwärtige Vorstellungswelt auch noch klingen mag, es ist eine Wirklichkeit, daß das «gei­stige Auge> ein reiches Leben aus der Erdumgebung auf der Erde mit jedem Frühling einströmen sieht, ein Leben, das im Winter nicht einströmt. Während man mit dem physischen Auge nur vom Boden herauf die physischen Pflanzen erwachsen sieht, schaut man aus der ganzen kos­mischen Weltumgebung herein geistige Wesenheiten, äthe­rische Wesenheiten gewissermaßen herniederwachsen. Und in demselben Maße, in dem die physischen Pflanzen immer vollkommener werden, sieht man, wie gewissermaßen das­jenige aus der ätherischen Erdenumgebung verschwindet, was als lebendige Geisteswesen sich hineinsenkt in das dem Erdboden

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entwachsende Pflanzenleben>. Und erst, wenn die Frucht sich zu entwickeln beginnt, wenn die Blüten zu ver­welken beginnen, erst wenn der Herbst naht, dann sieht man, wie dasjenige, was sich verbunden hat mit dem Irdi­schen, was gewissermaßen verschwunden ist innerhalb der Pflanzenwelt, sich wieder zurückzieht in den die Erde um­gebenden Raum>. Und so erschaut man geistig ein Ein- und Ausströmen eines übersinnlichen Elementes in das Erden-wesen vom Frühling bis in den Herbst hinein>. Es wachsen gleichsam aus dem Ä therischen lebendige, übersinnliche Pflanzen heraus, die in die physischen Pflanzen hinein ver­schwinden>. - Ein anderes geistiges Erlebnis gibt die Win­terzeit>. Derjenige, welcher den Winter bloß erlebt, indem er den Schnee anschaut, die Kälte empfindet, der weiß nicht, daß die Erde im Winter als Erde etwas ganz anderes ist als im Sommer>. Die Erde hat nämlich ein viel inten­siveres, regeres geistiges Eigenleben während der Winters-zeit als während der Sommerszeit. Und lebt man sich in diese Verhältnisse hinein, dann erlebt man den Wechsel des ätherischen Winter-Sommer-Lebens; man erlebt ein Geistiges, das sich in einem gewissen Sinne vergleichen läßt dem Wechsel des menschlichen Erlebens durch das Einschla­fen und Aufwachen hindurch>. (Es kann innerhalb dieser kurzen Ausführungen nicht gezeigt werden, daß die ge­schilderten Erlebnisse nicht in Widerspruch stehen mit den Bewegungsverhältnissen des Erdkörpers. Wer sich auf die Geisteswissenschaft näher einläßt, der wird bald erkennen, daß Einwände keine Bedeutung haben wie dieser: ja aber die Erde dreht sich doch, - et cetera.

Man lernt so erkennen, wie gewisse Wesenheiten im Winter nicht mit der Erde verbunden sind, sondern nur

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in der kosmischen Umgebung der Erde sind, wie diese Wesenheiten mit dem Frühling heruntersteigen zur Erde, sich mit dem Pflanzenleben verbinden, und gewissermaßen eine Art von Ruhe dadurch genießen, daß sie sich mit dem Erdenleben verbinden>. Diese Ruhe, welche diese Wesen innerhalb der Erde finden, die regt aber dadurch, daß Geistiges sich mit der Erde verbunden hat, das Erdenleben selber an; und im Winter hat die Erde selber als Wesen etwas wie eine Erinnerung an dieses sommerliche Zusam­mensein mit Wesenheiten des außerirdischen Weltenrau­mes. Dasjenige, was sonst gar nicht geahnt wird, das offen­bart sich dem geisteswissenschaftlichen Erkennen aus der umgebenden Natur heraus; es ist, wie wenn man plötzlich hörend würde und aus der schwingenden Saite die Ton-masse herausklingen hörte, die man vorher, weil man taub war, nicht hören konnte>. Man lernt das ätherische Leben kennen>. Dieses ätherische Leben zeigt, daß gewisse Wesen­heiten der Erdumgebung, die mit anderen Weltenkörpern verbunden sind, sich während des Sommers mit der Erde verbinden und während des Winters sich wieder zurück­ziehen>. Es bedingt dieses Leben, daß gewissermaßen die Erde - die Erde als Wesen, jetzt nicht als toter Körper, den die Geologie oder die sonstige äußere Naturwissen­schaft betrachtet - während der Sommerszeit schläft, wäh­rend der Winterzeit aber wachend lebt, in lebendigen Er­innerungen an dasjenige, was sich im Sommer mit ihr ver­bunden hat>. Gerade das Gegenteil von dem ist nämlich richtig, was man durch allerlei Analogieschlüsse sich mit Bezug auf das Erdenleben etwa vorstellen möchte>. Durch solche Schlüsse könnte man glauben, daß die Erde im Früh­ling aufwacht und im Herbst einschläft; die Geisteswissenschaft

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bringt aber die Erkenntnis, daß die warme, schwüle Sommerszeit die Schlafenszeit der Erde ist, und die kalte, mit der Schneedecke die Erde umhüllende Zeit die des Wachens der Erde ist. (Wer ein solches Erlebnis in rechter Art versteht, für den entfällt der billige Einwand: der Vergleich mit dem musikalischen Hören erweise die Geistes­wissenschaft als bloß Subjektives, wie die künstlerische Auf­fassung. Denn die im Erdorganismus eintretende Folge des für die Sommerzeit Geschauten zeigt das Objektive des Vorganges.)

Ich betone ausdrücklich: Geisteswissenschaft bildet keine anthropomorphistischen Begriffe aus, wie gewisse Philo­sophen des 19. Jahrhunderts (Fechner zum Beipiel), son­dern sie gibt Anschauungen, wirkliche geistige Wahrneh­mungen; und diese zeigen sich meist sehr verschieden von den anthropomorphistischen Vorstellungen>. Schon daraus könnten gewisse Gegner der Geisteswissenschaft ersehen, wie unbegründet es ist, diese mit anthropomorphistisch denkender Philosophie zu verwechseln. Wenn man sich durchdringt mit der Erkenntnis, die aus solchen Beobach­tungen fließt, dann lernt man verstehen, wie das mensch­liche Leben selber sich gestaltet>. Denn von allen Rätseln, die uns in der Außenwelt entgegentreten, ist das mensch­liche Leben selber das allergrößte. Nun kann ich selbstver­ständlich in einem kurzen Vortrage nur ganz weniges von dem skizzenhaft andeuten, was Geisteswissenschaft oder Anthroposophie zu sagen hat über die Rätsel des mensch­lichen Lebens>. Aber andeuten will ich, wie geistiges Schauen einen fortlaufenden Rhythmus wahrnimmt im menschlichen Leben. Es erkennt dieses Schauen als erstes Glied in diesem Rhythmus die Periode der Kindheit>. (Die Zeit, die an sich

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interessant zu beobachten ist, von der Empfängnis bis zur Geburt, soll hier übergangen werden>.) Die Kindheitszeit von der Geburt bis zu einem gerade für die geistige Be­trachtungsweise außerordentlich interessanten Abschnitte, bis zum Erwachsen der zweiten Zähne, ungefähr also bis zum sechsten oder siebenten Jahre, muß die erste Periode im Lebensrhythmus des Menschen sein, den Geisteswissen­schaft betrachtet>.

Diese erste Periode der Entwicklung bildet in dem Men­schen unermeßlich vieles aus, so daß einsichtige Pädagogen gesagt haben: «Der Mensch lernt von seiner Mutter oder Amme, selbst wenn er ein Weltumsegler wird, in seinen ersten Lebensjahren mehr als von allen Völkern er lernen kann während seines ganzen übrigens Lebens>.> Von allem andern abgesehen, fällt in diese Periode die Aneignung der Fähigkeit zur aufrechten Haltung, der Sprachfähigkeit, der Denk- und Erinnerungsfähigkeit, dann die Arbeit der­jenigen inneren Kräfte, welche mit dem Hervorbringen der zweiten Zähne einen gewissen Abschluß finden. Alle diese Entwickelungsvorgänge stellen sich nun für den Geistes-forscher so dar, daß sie ihm als von irdischen Kräften her­vorgebracht erscheinen>. Er muß allerdings zu dem, was die Sinne im Bereich des Erdendaseins wahrnehmen kön­nen, dasjenige hinzufügen, was das «geistige Auge> inner-halb der Erdenentwicklung sieht>. Aber dasjenige, was bis etwa zum siebenten Jahre im Menschen vorgeht, es ist zu begreifen aus dem Umfang der Kräfte heraus, die im Erdenbereich zu finden sind. (Es braucht kaum gesagt zu werden, daß mit diesem nicht gemeint ist, daß Geistes-forschung schon alle Geheimnisse dieser menschlichen Ent­wicklungsperiode erforscht hat, sondern nur, daß eine ins

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Unbegrenzte gehende Forschung das hier in Betracht kom­mende im Erdendasein wird zu suchen haben>.)

Vom Zahnwechsel an beginnt im menschlichen Leben ein zweiter Abschnitt, der bis ungefähr zum vierzehnten Jahre dauert, wo der Mensch in die physische Reife eintritt. Für diesen Abschnitt erkennt die Geistesforschung, daß die im physischen Leibe sich offenbarenden Vorgänge nicht mehr zu erklären sind aus dem, was auf der Erde selber wirksam ist, sondern aus außerirdischen Kräften, nämlich solchen, die von gleicher Art sind wie diejenigen, die für das Leben der Pflanzen im Jahreslauf beschrieben worden sind>. Dasjenige außerirdische Geistesleben (Ätherleben), das für die Pflanzenwelt in Betracht kommt, wirkt in der zweiten menschlichen Lebensperiode; jedoch so, daß der Vorgang, der für die Pflanzenentwicklung der Erde im Wechselverhältnis mit dem Außerirdischen sich in einem Jahre abspielt, sich beim Menschen in ungefähr sieben Jah­ren vollzieht>. (Dies alles wird nicht gesagt mit einem my­stischen Seitenblick auf die Siebenzahl, sondern aus den Ergebnissen der geistigen Beobachtung heraus>.) Es muß be­tont werden, daß die Wirkenskräfte in der zweiten mensch­lichen Lebensperiode nur der Art nach gleich sind denen, die vom Außerirdischen in das Pflanzenwachstum hinein-wirken>. Bei der Pflanze findet ein tatsächliches Einwirken des Außerirdischen statt; im Menschen werden innerhalb seines Organismus dieselben Kräfte tätig, ohne daß eine tatsächliche Einwirkung vom Außerirdischen her räum­lich stattfindet>. Was also ätherisch in der Entfaltung und im Verwelken der Pflanzenwelt im Laufe des Jahres wirkt, das lebt wie eingeschlossen im menschlichen Organismus als Ätherleib. Die Entwickelungsvorgänge der zweiten Lebensepoche

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im allgemeinen Lebensrhythmus vom siebenten bis vierzehnten Jahre geschehen unter dem Einflusse dieser Kräfte>. Dadurch, daß der Mensch die Kräfte für diese Ent­wicklungsvorgänge in sich birgt, stellt er sich dar nicht mehr als ein bloß irdisches Wesen, sondern als das Abbild eines Außerirdischen, wenn auch zunächst noch eines wenig­stens im Sinnenraume vorhandenen Außerirdischen. Durch Erdenkräfte wird insbesondere dasjenige entwickelt, was im menschlichen Gehirn zur Ausbildung kommt>.

So sonderbar dies klingt den heute gebräuchlichen Vor­stellungen gegenüber: Das Gehirn ist am meisten irdisches Erzeugnis>. Äußerlich zeigt sich dieses übrigens dadurch, daß bis zu einem hohen Grade eben um das siebente Jahr herum das menschliche Gehirn zu einer Art von Abschluß in seiner Entwickelung gekommen ist, nicht in der Entwicke­lung, die besteht in der Aufnahme von Begriffen und Ideen selbstverständlich, sondern in seiner inneren Formung, Ge­staltung, im Verfestigen seiner Teile und so weiter. - Zu dem, was bis zum siebenten Jahre sich an der Entwickelung des Menschenleibes beteiligt hat, muß nun etwas treten, was nicht innerhalb des Irdischen enthalten ist, sondern aus dem Außerirdischen stammt, und was unter anderm auch bewirkt, daß nunmehr vom siebenten bis zum vier­zehnte Jahre die Kräfte, die der Mensch außer seinem Haupte, außer seinem Gehirne im übrigen Organismus ent­wickelt, sich heraufdrängen auch in die Kopf- und Antlitz-entwickelung. Der Mensch gebiert gleichsam mit dem sie­benten Jahre einen überirdischen ätherischen Menschen in sich, der frei und lebendig in ihm wirkt. So wie sein physi­scher Leib mit der Geburt ins physische Dasein tritt, so tritt jetzt ein ätherischer, ein überirdischer Leib ins Dasein.

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Und die Folge davon ist, daß sich dasjenige deutlicher dar­stellt, was in den Gesichtszügen sich ausdrückt. Durch den Ätherleib wird auch das Atmungs- und Zirkulationssystem in einer individuelleren Art beeinflußt>. Dadurch aber, daß nunmehr nicht ausschließlich die irdischen Kräfte tätig sind, sondern daß der ätherische Leib in die physische Organi­sation eingreift und das Außerirdische der Menschennatur eingestaltet, dadurch entwickelt sich erst jene Innerlichkeit, die dann durch das weitere Leben den Menschen begleitet als die leibliche Ausgestaltung seines Gemüts- und Gefühls-lebens. Indem die Geistesforschung diesen ätherischen Leib erkennt, den der Mensch mit den Pflanzen gemein hat, hat sie die menschliche Natur noch nicht erschöpft>. Wenn die Geistesforschung die Aufmerksamkeit zur Tierwelt wen­det, dann findet sie, daß da ein weiteres Übersinnliches lebt; ein Übersinnliches, das nicht gefunden wird wie das Übersinnliche der Pflanzenwelt in der außerirdischen Um­gebung>. Man gelangt da zu einem geistig Wirklichen, das weder innerhalb des Irdischen noch innerhalb jenes Außer-irdischen gefunden werden kann, das noch sich durch Sinn­liches offenbart>. Es ist dies ein Übersinnliches, das im Men­schen schon vorhanden ist von seiner Geburt, ja von seiner Empfängnis an, das aber wirksam in die Leibesorgani­sation erst ungefähr vom vierzehnten Jahre an eintritt>. Dieses Übersinnliche wirkt nicht wie das Ätherische in dem Raume, der uns als Erdenmenschen umgibt>. Ich habe nun vorhin angedeutet, wie durch die Geistesforschung die Erde so erkannt werden kann, daß man in ihr gewahr wird, wie sie während des Winters als Erinnerung festhält, was sie während des Sommers im Zusammenhang mit außerirdi­schen Kräften erlebt hat>. Im weiteren Verfolge dieser Erkenntnis

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des Geistigen der Erde wird man erkennen, wie derjenige Erdenkörper, auf dem wir jetzt leben, gerade so ein Nachkomme eines vorirdischen Planeten ist wie der Sohn gegenüber dem Vater; nur daß der Sohn seinem Vater an Gestalt gleicht; der Erdenkörper aber ist wie ein Nach­komme hervorgegangen aus einem anderen planetarischen Wesen, dem er nur wenig gleicht>. Dieses planetarische We­sen lernt man erkennen, wenn man die Erde beobachten kann im Winter, wo sie gewissermaßen wach wird, wo sie eine Art Gedächtnis entwickelt>. Denn in dem Geistigen, das da innerhalb der Erde sich offenbart, ist auch jetzt noch gewissermaßen das Erinnerungsbild festgehalten an den Zustand, den derjenige Weltenkörper durchgemacht hat, der zur Erde geworden ist>.

Diese Dinge klingen heute noch paradox, für viele sogar töricht oder verrückt; aber so haben alle diejenigen Dinge zuerst geklungen, die in der Wissenschaft später als selbst­verständlich anerkannt worden sind>. In dem Weltenkörper, aus dem die Erde geworden ist, war dasjenige noch gar nicht vorhanden, was jetzt Mineralreich ist. Es ist ein lan­ger Weg, den die Geistesforschung durchmachen muß, um zur Anerkennung der Tatsache zu kommen, daß die Erde aus einem planetarischen Vorgänger sich entwickelt hat, auf dem ein Mineralreich noch nicht vorhanden war>. Das­jenige, was heute als Ätherisches außerirdisch wirkt, und was sich nur während der Sommerszeit vereinigt mit dem Erdenleib, das war noch nicht so von dem planetarischen Vorfahren der Erde getrennt, wie es von dem Erdenleib getrennt ist. Dieser Vorfahre war, bevor sich das mine­ralische Reich entwickelt hat, ein Wesen, das selber leben­dig war. Er war als Ganzes ein Lebewesen.

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Schaut das «geistige Auge>, wie die gegenwärtige Erde aus einem ihr vorangehenden Lebendigen geworden ist, so ge­winnt es dadurch auch die Fähigkeit, dasjenige Übersinnliche zu erkennen, das im Menschen und auch im Tiere als ein sol­ches wirksam ist, und welches weder in dem irdischen Raum, noch in dem außerirdischen gegenwärtig gefunden werden kann. Es ist schon im Tierischen wirksam, allein im Men­schen auf eine höhere Art>. Der menschliche Organismus ist Träger dieses Übersinnlichen von seinem Lebensbeginne an; und er ist so gestaltet, daß er dieser Träger sein kann. Allein ungefähr vom vierzehnten Lebensjahre an zeigt die­ses Übersinnliche in den Leibesvorgängen eine besondere selbständige Wirksamkeit, die vorher nicht vorhanden war>. Die Beobachtung dieser Wirksamkeit durch das «geistige Auge» gibt eine der Möglichkeiten (von andern soll hier abgesehen werden), ein drittes Glied der Menschennatur, den astralischen oder Seelenleib zu erkennen. (Wieder soll berücksichtigt werden, daß der Name gleichgültig ist und durch jeden andern ersetzt werden könnte>.) Für ein Vor­stellen, das in solche Gedankengänge nicht eingewöhnt ist, wird es anfänglich nicht leicht, auseinanderzuhalten, wie der astralische Leib vor und nach dem vierzehnten Lebens­jahre im Menschen zu denken ist. Diese und ähnliche Schwie­rigkeiten können erst bei längerer Bekanntschaft mit der Geistesforschung überwunden werden.

Ungefähr vom einundzwanzigsten Lebensjahre ab greift ein weiteres übersinnliches Glied auf besondere Art in die menschliche Leibesorganisation ein, dasjenige, welches der eigentliche Träger des Ich, des menschlichen Selbstes ist. Dieses Glied seiner Wesenheit erhebt den Menschen über die Tierheit>. - Nun wird man insbesondere diesem Gliede

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der menschlichen Wesenheit gegenüber fragen müssen, in welchem Sinne die Geisteswissenschaft behauptet, daß es sich erst in der vierten Lebensperiode als selbständig wirk­sam zeige, da doch ersichtlich ist, daß ihm der Mensch die Eigenschaften verdanken muß, die ihn schon während der Kindheit über das Tier erheben: Die aufrechte Haltung, die Sprachfähigkeit und so weiter>. Die Losung dieses schein­baren Widerspruches ergibt sich aus der Erkenntnis von der besonderen übersinnlichen Wesenheit des menschlichen «Ich»>. Der Mensch ist nämlich einerseits so organisiert, daß sich in seiner Entwickelung die selbständige Ausgestaltung des Ich in der Leibesorganisation erst im vierten Lebens­abschnitt ergibt; andererseits aber entwickelt sich das «Ich» durch wiederholte Erdenleben hindurch. Hätte das «Ich» nur die Kräfte, die ihm in einem Erdenleben werden kön­nen, so müßte es mit der Entfaltung dieser Kräfte warten, bis ihm im vierten Lebensabschnitt sein Leib dazu die Mög­lichkeit gibt>. Aber es tritt in dieses Erdenleben, nachdem es frühere durchgelebt hat>. Und diese Kräfte, die es zu wiederholten Erdenleben befähigen, bringen es dazu, auf gewisse Teile der Leibesorganisation so zu wirken, daß in dieser Gestaltungen von der genannten Art vor dem vier­ten Lebensabschnitt auftreten>. Und demselben Umstande ist es zuzuschreiben, daß durch das «Ich> auch der astralische Leib zu einer früheren Wirksamkeit im physischen Orga­nismus gebracht wird, als durch die Wesenheit desselben selbst bedingt ist. - Gerade dadurch, daß die Geistesfor­schung ihre Beobachtung einstellt auf den Unterschied, wie im menschlichen Organismus das «Ich» vor dem Eintritt des vierten Lebensabschnittes und nach demselben wirkt, er­kennt sie, wie das eigentliche Menschenwesen auf Erden

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wiederholte Leben durchläuft, zwischen denen lange Zeit­abschnitte rein geistigen Daseins zwischen Tod und neuer Geburt liegen>.

Ich habe damit einiges geschildert aus der anthroposophi­schen Weltanschauung, das allerdings nur ganz skizzenhaft vorgetragen werden konnte, denn ich müßte viele Stunden reden, wenn ich auch nur annähernd über den Forschungs-weg berichten wollte, welcher dazu führt, solche Gedanken auszusprechen, wie sie hier ausgesprochen worden sind>. Vielleicht kann man aus dem Gesagten aber auch einen Be­griff davon erhalten, daß diese Dinge durchaus auf einer sorgfältigen, gewissenhaften Forschung beruhen, welche die Anwendung besonders entwickelter Erkenntnisarten vor­aussetzt, und nicht auf willkürlichem Walten einer phan­tastischen Spekulation oder Philosophie. Durch diese For­schung wird zu demjenigen, was die Naturwissenschaft zu sagen vermag über das Leibliche des Menschen, das Geistige hinzugefügt, das uns ebenso umgibt, wie uns als physische Wesen die physische Außenwelt umgibt>.

In dieser Welt, die durch Geistesforschung offenbar wird, begegnen uns zunächst Wesen, die ebenso ätherisch auf die Erde herunterwachsen, wie die Pflanzen physisch aus der Erde heraufwachsen>. In diesen Ätherpflanzen haben wir sozusagen die ersten Vorboten von geistigen Wesen und geistigen Kräften, in die wir hineinwachsen, ebenso, wie wir durch unsere Sinne in die Sinnenwelt hineinwachsen>. Aber indem wir die geistige Welt kennen lernen, diejenige, aus der das menschliche Astralleben, das menschliche Ich stammen, lernen wir eine geistige Welt mit wirklichen gei­stigen Wesenheiten in unserer Umgebung kennen, der wir mit der Seele angehören, wie wir mit dem Leibe der physi­schen

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Welt angehören, die Welt, in der die Menschen sind, die schon vor uns durch die Pforte des Todes gegangen sind>. Auch diesmal soll wieder besonders betont werden, daß nicht geglaubt werden darf, die Geistesforschung suche irgendeine Beziehung zu den Toten - ich habe schon in dem früheren Vortrage davon gesprochen-von der mensch­lichen Willkür aus>. Wenn wir in die Nähe eines Toten kom­men sollen, dann muß das von dem Toten selber ausgehen. Dann wird es allerdings möglich, daß wir durch seinen Willen eine Offenbarung von ihm in das Anschauen des «geistigen Auges» herein erhalten können, wie wir andere Erkenntnisse aus der geistigen Welt erhalten>. Doch gehört alles, was aus diesem Bereich kommt, zu demjenigen, dem sich der Geistesforscher stets nur mit ehrfürchtiger Scheu nähern wird. Dasjenige, was wir aber von der geistigen Welt durch die willentliche Entwickelung unserer Fähig­keiten erkennen können, das ist dasjenige, was uns selber angeht, was enthält Antworten, welche ersehnt werden von denjenigen Menschen, die im Sinne des heutigen Vor­trages geistige Bedürfnisse empfinden, die durchaus natur­gemäß aus der gegenwärtigen Entwicklungsepoche der Menschheit sich ergeben>.

Ebenso notwendig, wie diese Entwickelungsepoche zur neueren Naturerkenntnis geführt hat, ebenso wird sie zur Geisteswissenschaft führen. Immer mehr Menschen werden erkennen, was heute noch vielfach angezweifelt ist, daß Geisteswissenschaft nicht im geringsten der religiösen Emp­findung, dem religiösen Leben des Menschen Abbruch tut, sondern, im Gegenteil, daß sie das Band bilden wird, das gerade den im naturwissenschaftlichen Zeitalter sich ent­wickelnden Menschen wiederum knüpfen wird an die Geheimnisse,

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die ihm durch die religiösen Offenbarungen zu­teil werden können. Echte Geisteswissenschaft ist weder in irgendeinem Widerspruche mit der Naturwissenschaft, noch kann sie jemanden dem religiösen Leben entfremden>.

Die Naturwissenschaft hat selber im Laufe der letzten Zeit zu der Erkenntnis geführt, daß sie eine große Frage ist, daß zu ihr etwas hinzukommen muß, wenn sie selbst dem Menschen wahrhaftig verständlich werden soll>. Was ich nun zunächst sage über die Tatsache, daß die Natur­wissenschaft heute schon über ihr Gebiet hinausweist, wenn sie auf die Menschenrätsel blickt, möchte ich hier nicht auf­bauen auf meine persönliche Ansicht über die Naturwissen­schaft. Von solchen persönlichen Ansichten im gewöhnlichen Sinne wird man durch die Geistesforschung abgebracht, die immer mehr dazu führt, nicht aus subjektiven Erwägungen heraus zu sprechen, sondern die Entwickelung der Tatsachen selbst sprechen zu lassen>. So möchte ich auch hier von dem sprechen, was das geschichtliche Werden der Naturwissen­schaft in der letzten Zeit selbst zum Ausdruck bringt. Da darf ich hinweisen auf eine Tatsache, die immerhin inter­essant ist vom Gesichtspunkte einer Aufklärung über die naturwissenschaftliche Entwicklung in der neuesten Zeit.

Die großen Hoffnungen, die man aus dem Darwinismus, auch die, welche man aus der Spektralanalyse, aus den che­mischen, den biologischen Fortschritten geschöpft hat, waren besonders entwickelt in der Mitte des 19. Jahrhunderts>. Da schrieb Ende der sechziger Jahre dieses Jahrhunderts Edu­ard von Hartmann seine «Philosophie des Unbewußten». In dieser sprach noch nicht ein Geistesforscher, sondern es sprach ein Mensch, welcher auf dasjenige, was als Tatsache durch die Geistesforschung erst für die Menschen erobert

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werden wird, zunächst durch Hypothesen, manchmal noch recht unlogische Hypothesen hindeutete>. Eduard von Hart­mann weist so auf ein geistig Wesenhaftes hinter der phy­sischen Welt hin, das er - was anfechtbar ist - das «Un­bewußte» nennt. Er ahnt philosophisch das, was durch die Geisteswissenschaft tatsächlich gegeben werden kann>. Weil er das Geistige philosophisch notwendig voraussetzte, konnte er - trotz der bewundernswerten Gestaltung, welche der materialistische Darwinismus, überhaupt die Natur­wissenschaft, in den sechziger Jahren bereits angenommen hatte - nicht übereinstimmen mit dem, was die Naturfor­scher damals vielfach glaubten, nämlich daß die Erkenntnis der physikalisch-chemischen Kräfte und der äußerlich wahr­nehmbaren biologischen Kräfte eine Anschauung über gei­stige Wirkenskräfte als unwissenschaftlich erscheinen lasse. Er versuchte deshalb, zu zeigen, wie dasjenige, was der Darwinismus erkennt, überall auf geistige Kräfte im Wer­den der Lebewesen hinweist>.

Wie nahmen nun gewisse Naturforscher dasjenige auf, was Eduard von Hartmann vorbrachte? Ungefähr so, wie heute gewisse Leute dasjenige aufnehmen, was die Geistes-forschung vorbringt, insbesondere diejenigen, welche sich in eine naturwissenschaftliche Weltanschauung so einge­wöhnt haben, daß ihnen alles wüste Phantasie ist, was nicht mit ihrer Ansicht zusammenstimmt. Solche Persönlichkeiten, die beim Auftreten Eduard von Hartmanns glaubten, allein die echte, wahre Wissenschaft zu besitzen, sie ließen sich etwa so vernehmen: Nun, der Eduard von Hartmann ist eben ein Dilettant; er weiß nichts von dem, was der wahre Nerv der Ergebnisse der Naturwissenschaft ist; man brau­che durch diese laienhafte «Philosophie des Unbewußten>

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sich nicht irre machen zu lassen>. Viele Erwiderungen er­schienen, die Hartmann alle als einen Dilettanten hinstell­ten; die zeigen wollten, daß er eben dasjenige, was die Naturwissenschaft zu sagen hat, nicht verstehe>.

Unter den vielen Erwiderungsschriften erschien auch eine von einem Mann, der sich zunächst nicht nannte, eine ge­dankenvolle Schrift, geschrieben aus echt naturwissenschaft­lichem Geist im Sinne der Hartmann streng ablehnenden Naturforschung>. Für Hartmann schien diese Kritik seiner naturwissenschaftlichen Torheiten vernichtend zu sein>. Be­deutende Naturforscher sagten ungefähr dazumal: Schade, daß dieser Unbekannte sich uns nicht genannt hat, denn er hat den Geist eines echten Naturforschers, der weiß, auf was es in der Naturforschung ankommt>. Er nenne sich uns, und wir betrachten ihn als einen der Unseren>. Und dieses Urteil der Naturforscher hat viel dazu beigetragen, daß dieses Schriftchen sehr bald abgesetzt worden ist>. Es wurde nach kurzer Zeit eine zweite Auflage nötig, und jetzt nannte sich der vorher unbekannte Verfasser; und dieser Verfasser war - Eduard von Hartmann! Das war einmal eine Lektion, die erteilt worden ist allen denjenigen, welche aus einem solchen Geiste heraus über das ihnen Fremde ab­urteilen, wie das die naturwissenschaftlichen Gegner Hart­manns getan haben>. So wie Eduard von Hartmann dazu­mal gezeigt hat, daß er gerade so wissenschaftlich reden konnte wie Naturforscher selber, so könnte auch der heu­tige Geistesforscher, ohne sich besonders anzustrengen, all dasjenige vorbringen, was sehr häufig von denjenigen ge­sagt wird, die über ihn als Phantasten aburteilen, als über einen Menschen, dem wissenschaftliches Denken fernliegt. Tch bringe dieses hier vor, nicht um etwas zu sagen, wodurch

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der oder jener getroffen werden soll; sondern um darauf hinzuweisen, wie es oftmals mit den Widerlegungen steht, die von der sich selber wahrhaft wissenschaftlich dün­kenden Welt gegen ihr fremdartige Erkenntnisse ins Feld geführt werden>.

Doch diese Sache ist damit nicht erschöpft>. Einer der be­deutendsten Schüler Haeckels, also derjenigen Persönlich­keit, die am radikalsten die materialistische Richtung des Darwinismus vertreten wollte, Oskar Hertwig, der eine ganze Reihe von Büchern über Biologie geschrieben hat, liefert in seinem neuesten, höchst bedeutenden Werk: «Das Werden der Organismen, eine Widerlegung der darwi­nistischen Zufallstheorie», eine Darlegung der vollkomme­nen wissenschaftlichen Ohnmacht des materialistisch ge-färbten Darwinismus gegenüber den Fragen des Lebens>. In diesem Buche ist von dem Gesichtspunkte des Natur-forschers selbst der Beweis erbracht, daß die Hoffnungen, die Haeckel und andere für die Lösung der Lebensfragen auf den Darwinismus gesetzt haben, unbegründet waren. (Ich möchte auch hier ausdrücklich erwähnen, daß ich die großen Leistungen Haeckels für die naturwissenschaftliche Weltanschauung innerhalb ihres Gebietes heute noch ebenso anerkenne wie vor Jahren. Ich glaube heute und glaubte immer, daß die richtige Würdigung des von Haeckel Ge­leisteten am besten über seine einseitigen Anschauungen hinausführt. Daß er selbst diese Einsicht nicht gewinnen kann, ist durchaus begreiflich.) Oskar Hertwig zitiert oft Eduard von Hartmann in dem genannten Buche; und er weist sogar hin auf Urteile Hartmanns, die vernichtend sind für die einstmaligen darwinistischen Gegner dieses Philosophen.

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Aus solchen Tatsachen ist zu ersehen, wie die natur­wissenschaftliche Weltanschauung sich entwickelt hat; ihre bedeutendsten Vertreter sprechen heute deutlich aus, worin sie in der neueren Zeit völlig sich verirrt hat. Das wird man immer mehr und mehr erkennen; und mit dem Er­kennen dieser Tatsache wird auch die Einsicht kommen, die nicht nur auf das verweisen wird, was Eduard von Hartmann und die spekulierenden Philosophen einstmals zu geben hatten über die Naturwissenschaft hinaus, son­dern die auch anerkennen wird, was die Geisteswissenschaft zu den naturwissenschaftlichen Errungenschaften hinzuzu­fügen hat. In dieser Art könnte noch unbegrenzt viel zur Befestigung der Anschauung vorgebracht werden, die dahin zielt, daß gerade die echte naturwissenschaftliche Denkart gegenwärtig sich mit der Geisteswissenschaft in vollem Einklang befindet. Ebenso wenig wie ein Wider­spruch besteht zwischen Geisteswissenschaft und Natur­wissenschaft, kann mit Recht von einem solchen zwischen Geisteswissenschaft und dem religiösen Leben gesprochen werden. - Von Wichtigem in dieser Beziehung sprach ich in meinem ersten hier gehaltenen Vortrag. Es ist meine Über­zeugung, daß niemand von einem religiösen Gesichtspunkte aus Bedenken gegen die Geisteswissenschaft erheben wird, der die Gesinnung ernstlich in Erwägung zieht, welche durch die in jenem Vortrag gemachten Äußerungen spricht. Ich will heute in einem besonderen Punkte zeigen, wie jemand, der in dem wissenschaftlichen Leben eines bestimmten reli­giösen Bekenntnisses drinnen steht, nichts gegen Geistes­wissenschaft einwenden kann, wenn er nur guten Willens ist. Ich werde zeigen, wie man vom Gesichtspunkte der Philosophie des von der katholischen Kirche als christlichen

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Philosophen voll anerkannten Thomas von Aquino über die hier gemeinte Geisteswissenschaft denken kann. Und was ich in dieser Richtung mir zu sagen erlaube, würde sich auch übertragen lassen auf die Beziehung einer protestan­tisch gearteten Denkrichtung zur Geisteswissenschaft.

Die Philosophie Thomas Aquinas unterscheidet zweier­lei Erkenntnisse: erstens solche, die unbedingt nur aus der göttlichen Offenbarung erfließen können, die der Mensch annimmt, weil er in dieser Offenbarung den Grund für ihre Wahrheit sieht. Solche Wahrheiten sind im Sinne des Thomas von Aquino die von der Trinität, der Lehre von dem zeitlichen Anfang des Erdendaseins, die Lehre von dem Sündenfall und der Erlösung, von der Inkarnation des Christus in Jesus von Nazareth, und die Lehre von den Sakramenten. Thomas hat die Auffassung, daß der Mensch, der das Wesen seiner Erkenntniskräfte versteht, nicht ver­suchen werde, durch Erkenntnisse, die er von sich aus ent­wickelt, die genannten Wahrheiten aufzufinden.

Außer diesen reinen Glaubenswahrheiten gibt es für Thomas von Aquino solche, die der Mensch durch die eige­nen Erkenntniskräfte gewinnen kann. Solche Wahrheiten sind für Thomas die Praeambula fidei. Zu ihnen zählt er alle diejenigen Wahrheiten, die sich darauf beziehen, daß ein Göttlich-Geistiges in der Welt vorhanden ist. Also das Dasein eines Göttlich-Geistigen, das Schöpfer, Regierer, Erhalter, Richter der Welt ist, das ist nicht bloß Glaubens-wahrheit, sondern eine durch menschliche Kräfte zu er­ringende Erkenntnis. Es gehört ferner in den Bereich der Praeambula fidei dasjenige, was sich auf die geistige Natur des menschlichen Daseins bezieht, und außerdem das, was auf die richtige Unterscheidung zwischen Gut und Böse

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führt, ferner die Erkenntnisse, welche die Grundlage für die Ethik, für die Naturwissenschaft, Ästhetik und Anthro­pologie liefern.

Man kann sich nun ganz auf den Standpunkt Thomas Aquinas stellen und anerkennen, daß einerseits die Glau­benswahrheiten durch die Geisteswissenschaft nicht in ihrem Charakter berührt werden, und daß anderseits alles, was diese vorbringt, in den Bereich der Praeambula fidei fällt, wenn man diesen Begriff nur im richtigen Sinne der tho­mis tischen Philosophie versteht. Für die Geisteswissenschaft gibt es nämlich Erkenntnisse, auf dem Menschen sogar ganz nahe liegenden Gebieten, die so behandelt werden müssen, wie die Glaubenswahrheiten auf einem höhern Gebiete. Der Mensch muß im gewöhnlichen Leben etwas durch Mit­teilung annehmen, ohne daß das Mitgeteilte für ihn Er­fahrung sein kann; nämlich die Kenntnis von dem, was mit ihm vorgegangen ist zwischen dem Zeitpunkte seiner Geburt und demjenigen, bis zu dem er sich durch sein eige­nes Gedächtnis zurückerinnert. Wenn nun der Mensch als Geistesforscher die geistigen Erkenntniskräfte ausbildet, so sieht er zwar hinter diesen Zeitpunkt zurück; aber von der Entwicklungsperiode ab, bis zu der man sich im gewöhn­lichen Leben zurückerinnert, sieht das «geistige Auge» nicht Ereignisse in der Form der Sinnenwelt, sondern dasjenige, was im geistigen Gebiete geschehen ist, während sich die entsprechenden Tatsachen in der physischen Welt abgespielt haben. Die für Sinne wahrnehmbaren Vorgänge als solche können, wenn sie nicht durch Erleben bewußt werden kön­nen, auch für die geistige Erfahrung nur durch Mitteilung erhalten werden. (Kein gesund denkender Geistesforscher wird zum Beispiel glauben, daß er auf die Mitteilungen

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durch seine Mitmenschen verzichten wolle und das auf diese Art zu Erfahrende durch geistiges Schauen gewinnen sollte.> - So gibt es für die Geisteswissenschaft schon im Bereiche des gewöhnlichen Lebens Erkenntnisse, die nur durch Mitteilung erhalten werden. Auf einem höheren Gebiet sind die von Thomas von Aquino als Glaubens-wahrheiten anerkannten solche, welche sich auf Vorgänge beziehen, die einer auf sich selbst gestellten menschlichen Erkenntnis deshalb nicht zugänglich sind, weil sie in einem Bereiche liegen, der sich dem gewöhnlichen Erleben ent­zieht, und der ebenso, wie die dem physischen Dasein an-gehörigen Vorgänge in den Jahren nach der Geburt, in seiner unmittelbaren Form nicht in das Feld geistigen Schauens fällt. Wie jene physischen Vorgänge nur durch Mitteilung von Menschen empfangen werden, so auch die Vorgänge, die den Glaubenswahrheiten entsprechen, nur durch Mitteilung (Offenbarung) aus dem geistigen Gebiete. Daß aber die Geisteswissenschaft Begriffe wie Dreiheit, In­karnation im Bereiche der geistigen Wahrnehmung an­wendet, das hat nichts zu tun mit der Anwendung dieser Begriffe auf das von Thomas gemeinte Gebiet. Daß eine solche Denkart nicht unchristlich genannt werden kann, weiß übrigens jeder, der Augustinus kennt.

Auch der Gesichtspunkt Thomas Aquinas mit Bezug auf die Praeambula fidei ist mit der Geisteswissenschaft ver­einbar. Denn als Praeambula fidei muß alles anerkannt werden, was den auf sich selbst gestellten menschlichen Er­kenntniskräften zugänglich ist. Thomas rechnet dazu zum Beispiel die geistige Natur der Menschenseele. Wenn nun die Geisteswissenschaft durch Erweiterung des Erkennens auch die Einsichten vermehrt, die durch den bloßen Intellekt

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über die Seele erschlossen werden, so erweitert sie nur den Umfang einer Erkenntnis, die in das Gebiet der Prae­ambula fidei fällt; nicht aber tritt sie aus diesem Gebiete heraus. Sie gewinnt dadurch Wahrheiten, welche die Glau­benswahrheiten noch intensiver stützen, als die durch den bloßen Intellekt erhaltenen. Nun ist Thomas der Ansicht, daß die Praeambula fidei niemals in das Gebiet der Glau­benswahrheiten dringen können, daß sie diese aber ver­teidigen (stützen> können. Was also Thomas von den «Praeambula fidei> verlangt, das wird durch die Erweite­rung derselben durch die Geisteswissenschaft noch inten­siver geleistet als durch den bloßen Intellekt. - Mit diesen Ausführungen über die Thomistik wollte ich nur zeigen, daß man im strengsten Sinne Anhänger dieser philosophi­schen Denkrichtung sein und doch die Erkenntnisse der Gei­steswissenschaft mit diesem Bekenntnis vereinigen kann. Selbstverständlich wollte ich nicht den Nachweis führen, daß jeder, der die Erkenntnisse der Geisteswissenschaft an­nimmt, sich zum Thomismus bekennen müsse. Die Geistes­wissenschaft stört niemanden in seinem religiösen Bekennt­nisse; und ob der Eine zu dieser, der Andere zu jener Glaubensrichtung gehört, das hängt nicht davon ab, was er über die geistige Welt weiß oder zu wissen vermeint, sondern von andern Lebensverhältnissen. Je mehr man diese Dinge wirklich durchschauen wird, desto mehr werden die Gegnerschaften gegen die Geisteswissenschaft schwinden.

Wer aber schon gegenwärtig sich zur Anerkennung der Geistesforschung durchgearbeitet hat, der wird sich über die Gegnerschaften hinwegtrösten durch die Erkenntnis, wie es anderen Dingen ergangen ist, die leichter sich in die Außenwelt einleben, weil sie dem Nützlichkeitsprinzip zusprechen.

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Nun, im 19. Jahrhundert sind die Eisenbahnen dem äußeren Kulturleben eingefügt worden. Ein Verwal­tungskörper, der damals anerkannte Autoritäten in sich barg, hatte an einem gewissen Orte sein Urteil abzugeben darüber, ob man eine Eisenbahn bauen solle oder nicht. Die Sache ist oft erzählt worden. Das Urteil wurde nach der Überlieferung dahin abgegeben: Man solle keine Eisen­bahnen bauen, denn die Menschen, die darinnen fahren werden, müßten sich gesundheitlich schädigen. Und wenn doch schon solche Menschen sich finden würden, die sich dem aussetzen wollten, und man für sie Eisenbahnen bauen wolle, dann müsse man wenigstens links und rechts von den Eisenbahnen hohe Bretterwände aufführen, damit diejeni­gen, an denen sie vorbeifahren, an ihrer Gesundheit nicht geschädigt werden. - Ich erzähle solche Dinge nicht, um diejenigen zu verspotten, die durch ihre Einseitigkeit sol­chen Urteilen verfallen. Man kann nämlich ein sehr be­deutender Mensch sein und doch einen solchen Fehler ma­chen. Wer einen Gegner für das von ihm Geleistete findet, sollte nicht ohne weiteres diesen Gegner töricht oder bös­artig nennen. Ich erzähle von Widerständen, die so man­ches gefunden hat, vielmehr aus dem Grunde, weil der Anblick solcher Widerstände demjenigen die rechte Emp­findungsrichtung gibt, der solchen Widerständen ausge-setzt ist.

Heute wird in den weitesten Kreisen sich nicht leicht jemand finden, der nicht entzückt wäre, wenn er Beethovens Siebente Symphonie hört. Als dies Kunstwerk zuerst auf­geführt wurde, hat - nicht ein unbedeutender Mensch, son­dern der berühmte Komponist des «Freischütz>, Weber, diesen Ausspruch getan: «Nun haben die Extravaganzen

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dieses Genius das non plus ultra erreicht; Beethoven ist nun ganz reif für das Irrenhaus!» Und der Abbé Stadler, der damals diese Siebente Symphonie gehört hat, sprach sich so aus: «Es kommt immer noch das ; es fällt ihm eben nichts ein, dem talentlosen Kerl.>

Es ist gewiß wahr, daß auch derjenige, welcher für eine Torheit keine Anerkennung findet, besonders gerne auf solche Erscheinungen in der Entwicklung der Menschheit sich berufen wird. Und selbstverständlich ist, daß sie gar nichts beweisen, wenn ein besonderer Fall von Gegnerschaft vorliegt. Aber sie werden hier auch nicht in der Absicht vor­gebracht, um etwas zu beweisen; sondern weil sie dazu an­regen können, manches, das fremdartig erscheint, doch ge­nauer zu prüfen, bevor man verurteilt. In bezug auf solche Dinge darf ja erinnert werden auch an Größeres. Ich möchte dies tun, selbstverständlich ohne in die Albernheit zu ver­fallen, damit die Arbeit der Geisteswissenschaft auch nur von ferne vergleichen zu wollen mit dem größten Ereignis, das in die Menschheitsentwickelung eingetreten ist. Man blicke auf die Entwickelung des römischen Reiches im Be­ginne unserer christlichen Zeitrechnung und auf den Auf­stieg des Christentums von dieser Zeit an. Wie lag doch dieses Christentum damals in Rom fern all dem, was man des Interesses eines gebildeten Menschen würdig fand. Und man blicke von diesem Leben hinweg auf dasjenige, was buchstäblich unter der Erde in den Katakomben sich ent­faltete; auf das in diesen Untergründen aufblühende christ­liche Leben. Und dann richte man den Blick auf das, was an diesem Orte ein paar Jahrhunderte danach war. Herauf­gestiegen war aus den Untergründen das Christentum, er­griffen wurde es in den Gebieten, in denen man es vorher

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verachtet, von sich gewiesen hatte. Der Anblick solcher Er­scheinungen kann die Zuversicht bestärken in demjenigen, der glaubt einer Wahrheit dienen zu sollen, die sich durch­ringen muß gegen Widerstände. - Wer sich von der an­throposophischen Wahrheit wirklich durchdrungen hat, der wird nicht erstaunt darüber sein, daß sie Gegnerschaft fin­det; aber er wird es auch als Pflicht erkennen, gegenüber solchen Gegnerschaften immer wieder in das rechte Licht zu setzen, was Anthroposophie wirklich im geistigen Leben des Menschen sein möchte.

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Nachträgliche Bemerkung

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Meine dem vorliegenden Vortrag eingefügten kurzen Besprechungen mancher von gegnerischer Seite gemachten Einwendungen gegen die von mir gemeinte anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft tragen den Charakter all­gemeiner Erörterungen, ohne daß auf Einzelheiten Rück­sicht genommen wird. Wollte man sich auf solche Einzel­heiten einlassen, so käme man allerdings auf sonderbare Dinge zu sprechen. Man kann da zum Beispiel in einer vor kurzem erschienenen Broschüre, die einen in der Schweiz gehaltenen Vortrag wiedergibt, mit Bezug auf das Ver­hältnis des von mir Dargestellten zum Christentum lesen:

«So kommt es denn wieder auf die nämliche Forderung heraus, die schon der erwähnte russische Mystiker Solowieff erhoben hat, wir könnten und sollten alle Christusse sein, übrigens eine Forderung, die schon jeder Mystiker, der so freundlich war, auf das Christentum Rücksicht zu nehmen, erhoben hat.» Das wird 1916 über die von mir gemeinte

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Geisteswissenschaft gesagt, trotzdem sich jeder überzeugen kann, daß dies eine objektive Unwahrheit ist, der meine schon 1903 erschienene Schrift «Das Christentum als mysti­sche Tatsache> zur Hand nimmt, und der anderes später und bis heute von mir in dieser Richtung Gesagte auch nur ober­flächlich ansieht. - Ja, sogar das Folgende ist möglich: Trotzdem aus einer Reihe meiner Schriften ganz deutlich werden sollte, daß ich eine Forschungsart anstrebe, die auf gründliche Austilgung aller Suggestionen und Anaesthe­sien hinarbeitet, wird in derselben Broschüre, der obiger Satz entnommen ist, gesagt: «Wir sind Dr. Steiner nur dank­bar, daß er uns gezeigt, mit wie viel Suggestion und An­aesthesien in neuerer Mystik gearbeitet wird.> Mit diesem Satz ist nicht gemeint, daß ich zeige, wie Suggestion und Anaesthesie überwunden wird, sondern wie ich ihnen ver-falle. So sehen manche «Widerlegungen> aus, die allerdings nur zeigen, wie man aus dem zu Bekämpfenden erst ein Zerrbild macht, wie man es braucht, und dann dieses Zerr­bild bekämpft.

DIE ERKENNTNIS VOM ZUSTAND ZWISCHEN DEM TODE UND EINER NEUEN GEBURT

#G035-1965-SE269 - Philosophie und Anthroposophie (1904 - 1918)

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DIE ERKENNTNIS VOM ZUSTAND ZWISCHEN DEM TODE UND EINER NEUEN GEBURT

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Die folgenden Ausführungen wollen aphoristisch gehal­tene Andeutungen geben über ein Erkenntnisgebiet, das in der Gestalt, in der es hier gekennzeichnet wird, von der Zeitbildung fast ganz abgelehnt wird. Das aphoristische Gepräge wurde deshalb gewählt, damit eine Vorstellung gegeben werden konnte von dem Grundcharakter dieses Er­kenntnisgebietes einerseits, und andererseits wenigstens nach einer Richtung hin die Lebensausblicke gezeigt werden konnten, die es eröffnet. Der enge Rahmen eines Aufsatzes erforderte, für Weiteres auf in Betracht kommende Lite­ratur zu verweisen. Der Verfasser ist sich dessen bewußt, daß gerade diese Form der Darstellung leicht als anmaßend empfunden werden kann von manchem, der, aus gut be­gründeten Denkgewohnheiten der gegenwärtigen Zeitbil­dung heraus, das Vorgebrachte als «allen berechtigten For­derungen von Wissenschaftlichkeit ins Gesicht schlagend> finden muß. Dem gegenüber sei nur gesagt, daß der Ver­fasser meint, trotz seiner geisteswissenschaftlichen Rich­tung, mit jedem Naturwissenschafter in der Schätzung des Wesens und der Bedeutung naturwissenschaftlicher Den­kungsart übereinstimmen zu können. Nur darüber glaubt er Klarheit zu haben, daß man Naturwissenschaft voll an­erkennen kann und doch dadurch nicht gezwungen ist, eine selbständige Geisteswissenschaft von der Art, wie sie hier charakterisiert sein soll, abzulehnen. Eine Folge eines sol­chen

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Verhältnisses zur Naturwissenschaft wird allerdings sein, daß gerade von wahrer Geisteswissenschaft das dilet­tantische Getriebe fern gehalten werde, das sich auch gegen­wärtig an vielen Orten breit macht, und das zumeist um so anmaßender sich in Redensarten über den «rohen Materia­lismus der Naturwissenschaft» ergeht, je weniger die Re­denden die Möglichkeit haben, sieh über Ernst, Strenge und wissenschaftliche Tragkraft der Natur-Erkenntnis ein Ur­teil zu bilden. Weil die Kürze seiner Ausführungen in die­sem Aufsatze vielleicht für den Leser allzu wenig hervor­treten läßt, wie der Verfasser nach diesen beiden Rich­tungen gesinnt ist, wollte er diese einleitende Bemerkung voraus machen.

Wer gegenwärtig von Erforschung der geistigen Welt redet, begegnet den Bedenken derer, die ihre Denkgewohn­heiten an der naturwissenschaftlichen Anschauung gebildet haben. Er wird auf die Segnungen verwiesen, welche diese Anschauungen für die Gesundung des menschlichen Lebens-standes gebracht haben, indem die Wahngebilde einer an­geblich rein geistigen Erkenntnisarten folgenden Wissen­schaft durch sie vernichtet wurden. - Dem Geistesforscher können diese Bedenken durchaus verständlich sein. Er sollte sogar sieh völlig klar darüber sein, daß jegliche Geistesfor­schung, die mit berechtigten Gedanken der naturwissen­schaftlichen Erkenntnis in Widerstreit gerät, nicht auf siche­rer Grundlage ruhen kann. Ein Geistesforscher, der Sinn und Verständnis für den Ernst des naturwissenschaftlichen Verfahrens, Einsicht in die Leistungen der Naturerkenntnis für das menschliche Leben hat, wird sich nicht in die Reihen derer stellen wollen, die leichtfertig vom Gesichtspunkte

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ihrer «Geistesschau» über die Beschränktheit der Natur-forscher aburteilen, und die diesen Gesichtspunkt um so höher wähnen, je mehr sich für sie jegliche Natur-Erkennt­nis in unergründliche Tiefen verliert.

Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft könnten im Einklange miteinander leben, wenn sich auf Seite der ersteren der Irrglaube vernichten ließe, daß wahre Geistes-forschung die Ablehnung berechtiger Erkenntnisse der sinnenfälligen Wirklichkeit und des mit dieser Wirklich­keit verknüpften Seelenlebens notwendig bedingen müsse. In diesem Irrglauben liegt der Quell unzähliger Mißver­ständnisse, welche der Geistesforschung entgegengebracht werden. - Es wird auf Seite derer, die mit ihrer Lebens­anschauung fest auf dem «sichern Boden der Naturwissen­schaft» zu stehen vermeinen, geglaubt, der Geistesforscher sei durch seine Gesichtspunkte gezwungen, ihre Erkennt­nisse abzulehnen. In Wirklichkeit liegt diese Ablehnung aber gar nicht vor. Echte Geistesforschung ist mit der Na­turwissenschaft völlig einverstanden. Und so wird die Geistesforschung nicht bekämpft um deswillen, was sie be­hauptet, sondern um deswillen, was man glaubt, daß sie behaupten könne oder müsse.

Für das menschliche Seelenleben muß der naturwissen­schaftlich Denkende behaupten, daß die Betätigungen des Seelischen, die sich als Denken, Fühlen und Wollen offen­baren, zur Erlangung einer wissenschaftlichen Erkenntnis in derselben Art vorurteilslos beobachtet werden sollen wie die Licht- oder die Wärmeerscheinungen der äußeren Na­tur. Dieser naturwissenschaftlich Denkende muß ablehnen alle nicht aus dieser vorurteilfreien Beobachtung stammen­den Ideen über die Wesenheit der Seele, aus denen dann

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allerlei Schlüsse gezogen werden über die Unzerstörbarkeit dieser seelischen Wesenheit und über den Zusammenhang der Seele mit der geistigen Welt. Es ist durchaus begreiflich, wenn ein also Denkender seine Betrachtungen über die Tat­sachen des Seelenlebens beginnt, wie dies Th. Ziehen in der ersten seiner Vorlesungen über «physiologische Psychologie» tut: «Die Psychologie, welche ich Ihnen vortragen will, ist nicht jene alte Psychologie, welche die psychischen Erschei­nungen auf einem mehr oder weniger spekulativen Wege zu erforschen versuchte. Diese Psychologie ist von denen, die naturwissenschaftlich zu denken gewohnt sind, längst verlassen.» - Mit der wissenschaftlichen Gesinnung, die in einem solchen Bekenntnis liegen kann, braucht eine echte Geistesforschung nicht in Widerspruch zu kommen. Und doch wird im Kreise derjenigen, die solche Gesinnung aus ihren naturwissenschaftlichen Denkgewohnheiten heraus haben, gegenwärtig noch fast ausnahmslos die Meinung ge­hegt werden, daß die besonderen Ergebnisse einer Geistes-forschung als unwissenschaftlich zu gelten haben. Zwar wird man nicht überall auf eine grundsätzliche Ablehnung der Erforschung geistiger Tatsachen stoßen; doch wenn diese Erforschung mit besonderen Ergebnissen auftritt, wird sie kaum dem Einwande entgehen, daß naturwissenschaft­liches Denken mit solchen Ergebnissen nichts anzufangen wisse. - Als eine Folge dieser Tatsache kann bemerkt wer­den, wie in der neueren Zeit eine Seelenwissenschaft er­wachsen ist, welche die Art ihres Forschens den naturwis­senschaftlichen Verfahrensarten nachgebildet hat, die aber nicht die Kraft finden kann, an jene höchsten Fragen heran­zutreten, die ein inneres Erkenntnisbedürfnis stellen muß, wenn der Blick sich auf die Schicksale der Seele richtet.

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Man forscht gewissenhaft über den Zusammenhang der seelischen Erscheinungen mit den Vorgängen des Leibes, man versucht Ideen zu gewinnen über die Art, wie sich die Vorstellungen in der Seele binden und lösen, wie die Auf­merksamkeit tätig ist, wie das Gedächtnis wirkt, welches Verhältnis zwischen Vorstellen, Fühlen und Wollen be­steht; aber für die höheren Fragen des Seelenlebens gilt, was ein scharfsinniger, selbst auf dem Boden naturwissen­schaftlicher Denkart stehender Seelenforscher, Franz Bren­tano, gesagt hat: «Für die Hoffnungen eines Platon und Aristoteles, über das Fortleben unseres besseren Teiles nach der Auflösung des Leibes Sicherheit zu gewinnen, würden dagegen die Gesetze der Assoziation von Vorstellungen, der Entwickelung von Überzeugungen und Meinungen, und des Keimens und Treibens von Lust und Liebe alles andere, nur nicht eine wahre Entschädigung sein...> Und wenn wirklich die neue naturwissenschaftliche Denkungs­art «den Ausschluß der Frage nach der Unsterblichkeit be­sagte, so wäre er für die Psychologie ein überaus bedeuten­der zu nennen». -

Tatsache ist, daß in den neueren Schriften über Seelenwissenschaft, die den Forderungen der naturwissenschaft­lichen Denkungsart gerecht werden wollen, Betrachtungen über Erkenntnisse, die den «Hoffnungen eines Platon und Aristoteles» entgegenkämen, vermieden werden. - Der Gei­stesforscher wird nun, wenn er Verständnis hat für den Lebensnerv der neueren naturwissenschaftlich gehaltenen Seelenwissenschaft, mit deren Verfahrensart nicht in Wider­streit geraten. Er wird aus diesem Verständnisse heraus an-erkennen müssen, daß im wesentlichen von dieser Seelen-wissenschaft der richtige Weg eingeschlagen wird, insoferne

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es sich um die Betrachtung der inneren Erlebnisse des Den­kens, Fühlens und Wollens handelt. Denn ihn führt sein Erkenntnisweg dazu anzuerkennen, daß Denken, Fühlen und Wollen nichts offenbaren, was die «Hoffnungen eines Platon und Aristoteles> erfüllen könnte, wenn die genann­ten Seelenbetätigungen nur so betrachtet werden, wie sie im gewöhnlichen Menschendasein erlebt werden. Dieser Erkenntnisweg zeigt aber auch, daß in Denken, Fühlen und Wollen etwas verborgen liegt, das im Verlaufe des gewöhnlichen Lebens nicht bewußt wird, das aber durch innere Seelenübungen zum Bewußtsein gebracht werden kann. In diesem dem gewöhnlichen Seelenleben verborge­nen Geistwesen der Seele offenbart sich dasjenige, was in ihr unabhängig vom Leibesleben ist und an dem die Be­ziehungen des Menschen zur geistigen Welt beobachtet werden können. Für den Geistesforscher erscheint es eben­so unmöglich, durch Beobachtung des gewöhnlichen Den­kens, Fühlens und Wollens die «Hoffnungen des Platon und Aristoteles> über das vom Leibesleben unabhängige Seelendasein zu erfüllen, wie es unmöglich ist, im Wasser die Eigenschaften des Wasserstoffes zu erforschen. Will man diese kennen lernen, so muß man durch ein entsprechendes Verfahren erst den Wasserstoff aus dem Wasser heraus-holen. So aber ist auch nötig, aus dem alltäglichen durch den Zusammenhang mit dem Leibe geführten Seelenleben dasjenige Wesen abzusondern, das in der Geisteswelt durch seine ihm ureigenen Kräfte wurzelt, wenn dieses Wesen beobachtet werden soll.

Der Irrtum, der echter Geisteswissenschaft trübende Miß­verständnisse entgegenwerfen muß, liegt darin, daß man zu allermeist glaubt, wenn über die höheren Fragen des

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Seelenlebens etwas erkannt werden soll, so müsse sich die­ses aus den Seelentatsachen ergeben, die im gewöhnlichen Leben bereits vorliegen. Aus diesen Tatsachen ergeben sich aber keine anderen Erkenntnisse als diejenigen, zu denen das im gegenwärtigen Sinne naturwissenschaftlich gehaltene Forschen führen kann. Deshalb kann wahre Geisteswissen­schaft nicht unmittelbar Betrachtung des von vorneherein vorliegenden Seelenlebens sein. Sie muß durch innere Ver­richtungen im Seelenleben erst die Tatsachenwelt bloßlegen, die ihrer Betrachtung unterworfen werden kann. Zu diesem ihrem Ziel wendet die Geistesforschung Seelenvorgänge an, die im inneren Erleben erarbeitet werden. Ihr Forschungs­feld ist ein ganz im Innern des seelischen Daseins Gelege­nes. Sie kann ihre Ergebnisse nicht äußerlich veranschau­lichen. Aber diese sind deshalb nicht weniger von jeder persönlichen Willkür unabhängig wie die wahren natur-wissenschaftlichen Ergebnisse. Sie haben mit den mathe­matischen Wahrheiten zwar nichts anderes, aber dieses gemeinschaftlich, daß sie nicht durch äußere Tatsachen be­wiesen werden können, aber - gleich diesen - bewiesen sind für jeden, der sie im inneren Anschauen erfaßt. Und ebenso wie diese können sie äußerlich höchstens verbild­lieht, nicht aber in ihrem sie beweisenden Inhalte darge­stellt werden.

Das Wesentliche, das leicht mißverstanden werden kann, ist, daß man auf dem Wege, den die Geistes-forschung geht, den Seelenerlebnissen durch innere An­stöße eine gewisse Richtung gibt, und ihnen dann, wenn sie diese Richtung verfolgen, Kräfte entlockt, die sonst in ihnen, wie in einer Art von Seelenschlaf, unbewußt liegen. (Die Seelenverrichtungen, die zu diesem Ziele führen, fin­det

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man in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» und in meiner «Geheimwissenschaft> ausführlich beschrieben. Hier soll nur gekennzeichnet wer­den, was in der Seele vorgeht, wenn sie sich solchen Ver­richtungen unterzieht.) - Verfährt die Seele in dieser Art, so schiebt sie gewissermaßen ihr inneres Erleben in das Gebiet der geistigen Wirklichkeit hinein. Sie öffnet ihre dadurch sich bildenden rein geistigen Wahrnehmungsorgane der geistigen Welt, wie sich die Sinne nach außen der physi­schen Wirklichkeit öffnen.

Eine Art dieser Seelenverrichtungen besteht in einer kraftvollen Hingabe an den Vorgang des Denkens. Man treibt diese Hingabe an die Denkvorgänge so weit, daß man die Fähigkeit erlangt, die Aufmerksamkeit nicht mehr auf die im Denken vorhandenen Gedanken zu lenken, son­dern allein auf die Tätigkeit des Denkens. Für das Bewußt­sein verschwindet dann jeglicher Gedankeninhalt, und die Seele erlebt sich wissend in der Verrichtung des Denkens. Das Denken verwandelt sich so in eine feine innerliche Wil­lenshandlung, die ganz vom Bewußtsein durchleuchtet ist. -Im gewöhnlichen Denken leben Gedanken; die gekennzeich­nete Verrichtung tilgt den Gedanken aus dem Denken aus. Das herbeigeführte Erlebnis ist ein Weben in einer inneren Willenstätigkeit, die ihre Wirklichkeit in sich selbst trägt. Es handelt sich darum, daß durch fortgesetztes inneres Er­leben in dieser Richtung die Seele sich dahin bringe, mit der rein geistigen Wirklichkeit, in der sie webt, so vertraut zu werden, wie die Sinnesbeobachtung es mit der physischen Wirklichkeit ist. - Daß etwas wirklich ist, kann bei dieser innen erfahrenen Wirklichkeit ebenso nur erlebt werden, wie bei der äußeren Wirklichkeit. Wer den Einwand erhebt,

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daß das innerlich Wirkliche doch nicht bewiesen wer­den könne, der zeigt nur, daß er auch noch nicht begriffen hat, wie auch von der äußeren Wirklichkeit nicht anders eine Überzeugung gewonnen werden kann, als allein da­durch, daß man das Wirkliche durch das erlebte Zusammen­sein mit ihm gewahr wird. Ein gesundes Sinnenleben kann die echte Wahrnehmung von der Vision oder Halluzina­tion auf äußerem Gebiete durch unmittelbares Erleben unterscheiden; ein gesund entwickeltes Seelenleben kann die geistige Wirklichkeit, der sie sich entgegenträgt, in ähnlicher Art von der Phantastik und Träumerei unter­scheiden.

Ein in der angegebenen Art entwickeltes Denken wird gewahr, daß es sich von jener Seelenkraft losgelöst hat, die im gewöhnlichen Vorstellen zur Erinnerung führt. Was in dem Denken, das innerlich erlebte Willenswirklichkeit ge­worden ist, erfahren wird, das ist so unmittelbar, wie es auftritt, nicht geeignet, erinnert zu werden, wie dasjenige, was als gewöhnliches Denken erlebt wird. Was man über einen erlebten Vorgang gedacht hat, wird dem Gedächt­nisse einverleibt. Es kann im weiteren Verlaufe des Lebens wieder aus dem Gedächtnisse hervorgeholt werden. Die ge­schilderte Willenswirklichkeit muß, wenn sie als solche wie-der im Bewußtsein erlebt werden soll, auch wieder so er­arbeitet werden wie das erstemal. Nicht gemeint ist damit, daß diese Wirklichkeit nicht mittelbar dem gewöhnlichen Gedächtnisse einverleibt werden könnte. Das muß sogar geschehen, wenn der Weg der Geistesforschung ein gesunder sein soll. Aber, was von der geistigen Wirklichkeit im Ge­dächtnis verbleibt, das ist nur Vorstellung von dieser Wirk­lichkeit, wie dasjenige, was man heute erinnert von einem

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gestrigen Erlebnis nur eine Vorstellung ist. Begriffe, Ideen kann man gedächtnismäßig behalten; die geistige Wirklich­keit muß immer neu erlebt werden. Indem man diesen Un­terschied der durch die Entwickelung der Denktätigkeit erreichten geistigen Wirklichkeit von dem Hegen bloßer Gedanken lebendig erfaßt, gelangt man dazu, sich mit die­ser Wirklichkeit außerhalb des physischen Leibes zu erleben. Was das gewöhnliche Denken zumeist für eine Unmöglich­keit halten muß, tritt ein: man erlebt sich als außerhalb des Daseins, das mit dem Leibe zusammenhängt. Dieses Denken muß zunächst, wenn es das «Erleben außerhalb des Leibes» nur von seinem Gesichtspunkte aus betrachtet, dies für eine Illusion halten. Die Gewißheit dieses Erlebens kann eben nur im Erleben selbst gewonnen werden. Und es ist gerade dem, der dieses Erleben kennt, nur allzu begreiflich, daß die­jenigen, welche ihre Denkgewohnheiten an den naturwis­senschaftlichen Erkenntnissen gebildet haben, ein solches Erleben als nichts anderes zunächst ansehen können denn als eine Phantasterei oder Träumerei, vielleicht als ein We­ben in Illusionen oder Halluzinationen. Erst wer zu der Erkenntnis gelangt ist, daß der Weg, der in wahre Geistes-forschung führt, in der Seele Kräfte loslöst, die in der völ­lig entgegengesetzten Richtung von derjenigen liegen, die krankhafte Seelenerlebnisse herbeiführen, kann, was hier vorliegt, durchschauen. Was die Seele auf der Bahn der Geistesforschung entwickelt, sind Kräfte, die geeignet sind, krankhaften Seelenerlebnissen entgegenzuwirken, oder diese zu zerstreuen, wo sie sich zeigen wollen. Keine Naturfor­schung kann das Visionäre, Halluzinatorische so unmittel­bar durchschauen, wenn es dem Menschen in den Weg treten will, wie wahre Geistesforschung, die sich nur entfalten

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kann in einer Seelenrichtung, die den genannten ungesun­den Erlebnissen entgegengesetzt ist.

Der Geistesforscher erlangt in dem Augenblicke, da ihm das «Erleben außerhalb des Leibes> Wirklichkeit wird, durch dieses Erleben Aufschluß darüber, wie das gewöhn­liche Denken an die körperhaften Vorgänge des Leibes gebunden ist. Seine im Erleben gewonnene Erkenntnis führt ihn dazu, einzusehen, wie der im äußeren Erleben gewon­nene Gedanke seiner Wesenheit nach so entsteht, daß er erinnert werden kann. Diese Art des Entstehens aber, die zur Erinnerung wird, beruht darauf, daß der Gedanke nicht bloß ein geistiges Leben in der Seele führt, sondern daß sein Leben von dem Leibe mitgemacht wird. Durch diese Einsicht kommt der Geistesforscher also nicht zu einer Ablehnung, sondern im Gegenteile, zu einer Anerkennung dessen, was das naturwissenschaftliche Denken über die Ab­hängigkeit des Gedankenlebens von den Leibesvorgängen behaupten muß.

Zunächst führt das Geschilderte zu inneren Seelenerleb­nissen, die sich dem Menschen als bange seelische Bedrük­kung darstellen. Was erlebt wird, erscheint so, als wenn es aus dem Gebiete des gewöhnlichen Daseins herausführe und doch in eine neue Wirklichkeit nicht wahrhaft hineinführe. Man weiß zwar, daß man in einer Wirklichkeit lebt, aber man erfühlt diese Wirklichkeit nur als die eigene geistige Wesenheit. Man hat sich aus der Sinneswirklichkeit heraus­gefunden; aber man hat nur sich selbst in einer rein geisti­gen Daseinsform ergriffen. Ein angstähnliches Einsamkeits­empfinden kann die Seele befallen. Eine Sehnsucht, nicht nur sich zu haben, sondern sich in einer Welt zu erleben. Auch ein anderes Gefühl tritt noch auf. Man empfindet,

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daß man das erlangte geistige Selbst-Erleben wieder ver­lieren muß, wenn man sich nicht einer geistigen Umwelt gegenüberstellen kann. Der geistige Zustand, in den man sich so hineinlebt, läßt sich etwa damit vergleichen, wenn man empfinden müßte, wie man mit den Händen nach allen Seiten Greifbewegungen machen müsse, man aber nirgends etwas ergreifen könnte.

Wird jedoch der Weg der Geistesforschung in der rich­tigen Art gegangen, so treten die obigen Erlebnisse zwar auf, aber sie werden als eine Seite der Seelenentwickelung durchgemacht, die ihre notwendige Ergänzung in anderen Erlebnissen findet. Wie gewisse Anstöße, die man den Seelen-erlebnissen gibt, zu dem Erfassen der Willenswirklichkeit im Denken führen, so führen andere Richtungen, in die man die Seelenvorgänge lenkt, dazu, in der Willenstätig­keit verborgene Kräfte zu erleben. (Auch darüber soll hier nur gesagt werden, was durch solche Seelenverrichtungen in dem menschlichen Innern vorgeht; die ausführliche Schilde­rung desjenigen, was die Seele in sich verrichten muß, um zu dem angedeuteten Ziele zu gelangen, ist in den schon genann­ten Büchern zu finden.) - Im gewöhnlichen Leben wird eine Willensentfaltung der eigenen Seele nicht so wahrgenommen wie ein äußerer Vorgang. Selbst dasjenige, was man zumeist Selbstbeobachtung auf diesem Gebiete nennt, bringt den Men­schen durchaus nicht in eine Lage, in der er etwa das eigene Wollen so ansehe, wie er einen äußeren Naturvorgang an­sieht. Daß man dieses Wollen sich so gegenüber finden könne, wie man als Zuschauer eine äußere Tatsache gegen­über hat, dazu sind wieder kraftvolle, durch Willkür her­vorgerufene Seelenvorgänge notwendig. Werden diese aber in der entsprechenden Art herbeigeführt, dann tritt etwas

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völlig anderes ein als etwa ein Anschauen des eigenen Wol­lens in derselben Weise, wie eine äußere Tatsache ange­schaut wird. In diesem Anschauen taucht im Seelenleben eine Vorstellung auf, die gewissermaßen ein inneres Abbild der äußeren Tatsache ist. Beim Beobachten des eigenen Wol­lens erlischt die gewohnte vorstellende Kraft. Man hört auf, in der nach außen gerichteten Art vorzustellen; dafür aber entbindet sich aus den Untergründen des Wollens ein we­senhaftes Vorstellen. Es bricht durch die Oberfläche der Willensbetätigung ein solches wesenhaftes Vorstellen her­vor; ein Vorstellen, das mit sich lebendige geistige Wirklich­keit bringt. Zunächst tritt innerhalb dieser geistigen Wirk­lichkeit die eigene verborgene Geistwesenheit hervor. Man wird gewahr, wie man einen verborgenen Geist-Menschen in sich trägt. Man hat diesen nicht wie ein Gedankenbild in sich, sondern als ein wirkliches Wesen; wirklich in einem höhern Sinne, als es der äußere Leibesmensch ist. Nur tritt dieser Geistmensch nicht so auf, wie äußere sinnlich wahr­nehmbare Wesen, die dem Beobachter sich in ihren nach außen sich offenbarenden Eigenschaften darbieten. Er stellt sich vielmehr durch sein Inneres dar, durch Entfaltung einer inneren Betätigung, die ähnlich ist dem Entfalten der Be­wußtseinsvorgänge in der eigenen Seele. Nur ist das so ent­deckte Bewußtseinswesen nicht wie die im Menschenleibe lebende Seele auf Sinnesdinge gerichtet, sondern auf geistige Vorgänge, zunächst auf die Vorgänge des eigenen bisher entwickelten Seelenlebens. Man entdeckt wahrhaftig in sich einen zweiten Menschen, der als Geistwesen ein bewußter Zuschauer des gewöhnlichen Seelen-Erlebens ist. - So phan­tastisch diese Schilderung eines geistigen Menschen im leiblichen erscheinen mag: sie wird für das entsprechend

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geschulte Seelenleben nüchterne Wirklichkeitsschilderung, Darstellung eines geistig Wesenhaften, das von allem Vi­sion- oder Illusionartigen so verschieden ist, wie der Tag von der Nacht. - Wie im verwandelten Denken eine Wil­lenswirklichkeit entdeckt wird, so im Willen ein im Geisti­gen webendes wesenhaftes Bewußtsein. - Und die beiden erweisen sich nun für das weitere Seelen-Erleben als zu­sammengehörig. Sie werden gewissermaßen auf nach ent­gegengesetzten Richtungen laufenden Wegen gefunden; er­geben sich aber als eine Einheit. Die Bangnis der Seele, die im Weben in der Willenswirkhchkeit erlebt wird, hört auf, wenn sich diese aus dem entwickelten Denken geborene Willenswirklichkeit mit dem gekennzeichneten Bewußt­seinswesen verbindet. Und durch diese Verbindung wird der Mensch erst vor die allseitig wirkliche Geistwelt ge­stellt. Indem diese Verbindung eintritt, hat der Mensch nicht nur das eigene Selbst sich geistig gegenüber, sondern auch Wesenheiten und Vorgänge der geistigen Welt, die außerhalb seines Selbst liegen.

In der Welt, welche der Mensch also betreten hat, wird das Wahrnehmungs-Erlebnis ein wesentlich anderer Vor­gang als die Wahrnehmung es im Verhältnis des Menschen zur Sinnenwelt ist. Wirkliche Wesenheiten und Vorgänge der geistigen Welt heben sich aus dem Bewußtseinswesen heraus, das aus der Entwickelung des Willens sich geoffen­bart hat. Und durch die Wechselwirkung dieser Wesenhei­ten und Vorgänge mit dem aus der Entwickelung des Den­kens entsprungenen Willenswirklichen werden sie geistig wahrgenommen. - Was man im Erleben der physischen Welt als Gedächtnis kennt, hört für die geistige Welt auf, eine Bedeutung zu haben. Man erkennt, daß diese Seelenkraft

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den physischen Leib als Werkzeug braucht. Doch tritt im Beobachten der geistigen Welt eine andere Kraft an die Stelle des Gedächtnisses. Es wird durch diese Kraft ein ver­gangener Vorgang nicht vorstellungsmäßig erinnert, son­dern unmittelbar in einem neuen Erlebnis angeschaut. Den Vorgang, der sich dabei abspielt, kann man nicht etwa ver­gleichen mit dem Lesen eines Satzes und dem späteren Erinnern desselben, sondern mit dem Lesen und Wieder-Lesen. Der Begriff der Vergangenheit gewinnt auf diesem Felde eine andere Bedeutung als er in der physischen Welt hat. Die Vergangenheit erscheint dem geistigen Wahrneh­men wie ein Gegenwärtiges; und, daß das in ihr liegende einer verflossenen Zeit angehört, erkennt man nicht aus der Anschauung des Zeitverlaufes, sondern aus dem Verhältnis eines geistigen Wesens oder Vorganges zu andern.

Der Weg in die geistige Welt wird also zurückgelegt durch die Bloßlegung dessen, was im Denken und im Wollen ent­halten ist. Es kann nicht in einer ähnlichen Art das Gefühls­leben durch einen inneren Seelenanstoß entwickelt werden. Was im Fühlen innerhalb der physischen Welt erlebt wird, dafür kann auf dem Felde des geistigen Wahrnehmens nicht durch Umwandlung einer inneren Kraft wie bei Denken und Wollen etwas entwickelt werden. Das dem Gefühl in der geistigen Welt Entsprechende tritt vielmehr ganz von selbst auf, sobald die geistige Wahrnehmung in der geschil­derten Art errungen ist. Nur stellt sich ein Gefühls-Erleben mit ganz anderem Charakter ein, als ihn das Fühlen in der physischen Welt trägt. Man fühlt nicht in sich, sondern in den Wesenheiten und Vorgängen, die man wahrnimmt. Man taucht mit seinem Fühlen in diese unter; man erfühlt deren Inneres, wie man im physischen Leben sein eigenes

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Innere fühlend erlebt. Man könnte auch sagen: wie man in der physischen Welt das Bewußtsein hat, die Dinge und Vorgänge als stofflich zu erleben, so hat man in der gei­stigen Welt das entsprechende Bewußtsein, die Wesenheiten und Tatsachen durch Gefühisoffenbarungen zu erfahren, die von außen kommen wie in der physischen Welt Farben oder Töne.

Eine Seele, die sich das gekennzeichnete geistige Erleben errungen hat, weiß sich in einer Welt, von der aus sie auf ihr eigenes Erleben in der physischen Welt hinzuschauen vermag, wie das physische Wahrnehmen auf einen Sinnes-gegenstand hinschauen kann. Sie ist mit demjenigen Wesen-haften in sich verbunden, das durch die Geburt (beziehungs­weise durch die Empfängnis) als Geistiges mit dem Leibe sich verbindet, der aus der physischen Welt von der Vor­fahrenschaft stammt, mit dem Wesenhaften, das in sich Be­stand hat, wenn der physische Leib mit dem Tode abgelegt wird. Nur durch das Anschauen dieses Wesenhaften kön­nen die von Brentano erwähnten «Hoffnungen des Platon und Aristoteles> für die Seelenwissenschaft erfüllt werden.

- Für ein Erleben dieser Art wird die Anschauung von den wiederholten Erdenleben, zwischen denen immer solche Le­ben liegen, welche die Seele in der rein geistigen Welt zu-bringt, insoferne eine Tatsache, als der dadurch entdeckte geistig-seelische Kern des Menschen sich im Zusammen-hange erschaut mit seinem Werden und Weben in der gei­stigen Welt. Er lernt in der eigenen Wesenheit erkennen, wie diese das Ergebnis früherer Erdenleben und dazwischen liegender geistiger Daseinsformen ist; und er findet, wie sich in seinem gegenwartigen Erdenleben ein geistiger Keim veranlagt, der, nachdem er durch Zustände zwischen Tod

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und neuer Geburt hindurchgegangen ist, sich zu einem wei­teren Erdenleben entfalten muß. Wie der Pflanzenkeim in der gegenwärtigen Pflanze die künftige vorbildet, so ent­wickelt sich, verborgen im menschlichen Innern, ein geistig-seelischer Keim, der sich durch seine eigene Wesenheit für die geistige Wahrnehmung als die Anlage des künftigen Erdenlebens erweist.

Es wäre unrichtig, wenn man die geistige Wahrneh­mung des Lebens zwischen Tod und neuer Geburt so deuten wollte, als ob in ihr das Erleben der geistigen Welt, die mit dem physischen Tode betreten wird, schon vorweggenommen wäre durch diese geistige Wahrneh­mung. Was man so wahrnimmt, gibt nicht ein vollkom­menes leibfreies Erleben der geistigen Welt, wie es nach dem Tode eintritt, sondern ein erlebtes Wissen von dem tatsächlichen Erleben. Man kann, so lange man im Leibe ist, von dem leibfreien Erleben zwischen Tod und neuer Geburt alles dasjenige aufnehmen, was die oben geschilder­ten Erfahrungen der Seele in dem aus dem Denken gelösten Willenswirklichen mit Hilfe des aus dem Willen entbun­denen Bewußtseins darbieten. Das von außen sich offen­barende Gefühlhafte der geistigen Welt kann erst erfahren werden durch den Eintritt in diese Welt selbst. - So sonder­bar dies auch klingt; es stellt sich als ein Ergebnis des Er-lebens in der geistigen Welt dar: die physische Welt ist für den Menschen zunächst als äußerer Tatsachenzusammen-hang vorhanden; und ein Wissen von ihr erwirbt er, nach­dem sie an ihn als solcher Tatsachenzusammenhang heran-getreten ist; die geistige Welt schickt dagegen das Wissen von ihr voraus, und das von ihr in der Seele voraus ent­fachte Wissen ist die Leuchte, welche auf die geistige Welt

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hinstrahlen muß, auf daß diese selbst sich als Tatsache offenbaren kann. Wer dies in geistiger Anschauung er­kennt, dem ist klar, daß während des Erden-Leibeslebens sich im Unbewußt-Verborgenen der Seele dieses Licht ent­wickelt, das dann nach dem Tode über die Gefilde der gei­stigen Welt hin leuchtet, und diese zu Erlebnissen der Men­schenseele macht.

Man kann im Erden-Leibesleben das Wissen vom Zu­stande zwischen dem Tode und einer neuen Geburt be­leben. Es ist ein Wissen von völlig entgegengesetztem Cha­rakter dem gegenüber, das für das Leben in der physischen Welt entwickelt wird. Man erschaut durch dieses Wissen, was die Seele vollbringen wird zwischen Tod und neuer Geburt, weil man den Keim dessen in geistiger Anschauung vor sich hat, was zu dieser Vollbringung treibt. In der An­schauung dieses Keimes offenbart es sich, daß nach dem Ab­leben des Leibes für die Seele ein Erleben eintritt, das schöpferisch verbunden mit der geistigen Welt in einer Tä­tigkeit sich entfaltet, die auf das künftige Erdenleben als auf seinen Zielpunkt so gerichtet ist, wie das Wahrnehmen im physischen Leibe im Erkennen - nicht schöpferisch, son­dern - nachbildend auf die äußere Sinneswelt gerichtet ist. Das Werden des Menschen als Geistwesen im Zusammen-hange mit der geistigen Welt liegt im Blickfelde der Seele, die zwischen Tod und neuer Geburt lebt, wie das Sein der Sinneswelt im Blickfelde des Leibesmenschen sich befindet. Die tätige Anschauung eines Werdens im Geiste kennzeich­net die Zustände zwischen Tod und neuer Geburt. (Im ein­zelnen diese Zustände zu schildern, kann nicht die Aufgabe dieses Aufsatzes sein; wer Einzelheiten sucht, findet sie in meiner «Theosophie» und «Geheimwissenschaft».)

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Gegenüber dem Erleben im Leibe hat das geistige Erleben insoferne etwas völlig Ungewohntes, als für dieses Erleben die Idee des Seins, wie sie innerhalb der physischen Welt er­worben wird, alle Bedeutung verliert. Es gibt im Geistigen nichts Seiendes wie in der physischen Welt. Im Geiste ist alles Werden. Das Einleben in eine geistige Umwelt ist ein Einleben in ein immerwährendes Werden. Dieser Unruhe des Werdens der geistigen Außenwelt steht aber gegenüber das Erleben des Innern, das sich als ruhendes Bewußtsein innerhalb der nie ruhenden Bewegung, in die es versetzt ist, wahrnimmt. Das erwachte geistige Bewußtsein muß sich in diese Umkehrung des inneren Erlebens gegenüber dem Be­wußtsein, das im Leibe lebt, hineinfinden. Dadurch kann es sich ein wirkliches Wissen von einem leibfreien Erleben erringen. Und nur ein solches Wissen kann die Zustände zwischen Tod und neuer Geburt in seinen Bereich aufneh­men.

Das Vorhandensein von Erkenntniskräften, welche zur Wahrnehmung einer übersinnlichen Welt führen, wird in dem Augenblicke eine innere Lebenserfahrung, in dem man bewußt erlebt, was die Seele in Wahrheit vollbringt, wenn sie denkend, wollend und fühlend im gewöhnlichen Leben oder in der anerkannten Wissenschaft der Welt gegenübertritt. So lange die Seele in diesem gewöhnlichen Leben und in dieser Wissenschaft sich betätigt, bleibt ihr das eigene Vollbringen durchaus unbewußt. Dieses Unbewußte zum Bewußtsein bringen, führt unbedingt dazu, daß man dabei nicht stehen bleiben kann, sondern durch eine innere Seelen-kraft weiter getrieben wird. Die Seele tritt gewissermaßen einen Schritt zurück von dem Gesichtspunkte, von dem aus

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sie gewöhnlich die Welt betrachtet; auf dem neuen Gesichts­punkte kann sie aber nicht stehen bleiben, denn ein inneres Leben ergreift sie, dem sie sich nicht entziehen darf, wenn sie wahrhaftig gegenüber sich selbst bleiben will.

Man nehme den folgenden Fall. Ein Mensch sinnt über eine derjenigen Fragen, welche eine gewisse Weltanschau­ung als über die Grenzen der menschlichen Erkenntnis-fähigkeit hinausgehend betrachtet. Man kann in einem sol­chen Falle sich denkend mit sich selbst auseinandersetzen, und glauben, daß man durch diese Auseinandersetzung ge­nötigt wird, zu sagen, bis hierher vermag der Mensch mit seinem Erkennen zu gehen; ein weiteres Vordringen in die Wirklichkeit ist nicht möglich. Man kann aber auch es gewissermaßen probeweise mit seinem Denken bis zum scharfen Erfahren desjenigen treiben, was die Seele erlebt, wenn sie sich so an diese Grenze stellt. Man muß dabei in innerer Ruhe die Kraft aufbringen, die Seelentätigkeit im Erfassen dieses Erlebnisses zum Stillstand zu bringen. Man wird dann erfahren, woran es liegt, daß man mit dem Denken nicht weiter kommt. Und diese Erfahrung offen­bart demjenigen, dem sie zuteil wird, daß es nicht an dem Denken liegt, sondern an dem Umstande, daß das Denken durch die Leibeswerkzeuge ausgeübt wird, wenn er nun sich an eine Grenze gestellt findet. Die Abhängigkeit des gewöhnlichen Denkens von den Leibeswerkzeugen wird nun unmittelbare Seelenerfahrung. Die Geisteswissenschaft würde von der gegenwärtig herrschenden naturwissen­schaftlichen Weltanschauung weniger befehdet, wenn diese in nötiger Unbefangenheit sich zu der Einsicht durchringen könnte, daß das erste Erlebnis des Geistesforschers eine volle Bestätigung dessen ist, was sie selbst behauptet: daß

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das gewöhnliche Vorstellen an die entsprechenden Leibes-werkzeuge so gebunden ist, wie die Schwerkraft an den Stoff. Nur ist für den Geistesforscher diese Einsicht nicht die Folge theoretischer Erwägungen, sondern ein schwer­wiegendes Seelen-Erlebnis, das er macht, wenn er sich voll-bewußt an die Grenze des gewöhnlichen Erkennens stellt. Man kann nun wohl das Stehen-Bleiben an dieser Grenze als in der Natur des Erkennens begründet finden, wenn man zu seiner Anerkennung durch theoretische Erwägun­gen gelangt ist; man kann dies aber nicht, ohne sich selbst zu täuschen, wenn man mit Bewußtsein sich an dieser Grenze innerlich lebend weiß. Denn bei diesem Erlebnis hängt es nur davon ab, ob man es lange genug in Seelen-ruhe festhalten kann, um die innere Offenbarung zu emp­fangen, daß sich nun das Denken aus seiner Gebundenheit an die Leibeswerkzeuge heraus löst und zu einer in sich lebendigen Wirklichkeit wird, gegenüber welcher sich alles, was an die Leibeswerkzeuge gebunden ist, nur noch als Zu­schauer verhält. Es ergreift nunmehr das Denken ein Eigen­leben, das es zu einer Wirklichkeit macht, die man im gewöhnlichen Leben und in der anerkannten Wissenschaft nicht beobachten kann. Man erlebt nunmehr den Unter­schied zwischen dem gewöhnlichen Denken und dem in sich lebendigen Denken. Das gewöhnliche Denken gibt Abbilder von Wesen; es ist aber in sich so wenig eine Wirk­lichkeit, wie es ein Spiegelbild ist gegenüber dem abgespie-gelten Gegenstande. Das lebendige Denken ist eine Wirk­lichkeit in sich selbst.

Hat man das Denken bis zum inneren Leben getrieben, dann weiß man aus der Seelen-Erfahrung heraus, was es heißt, den Übergang erleben von dem «Ich denke> zu dem

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«Es denkt in mir». Dieser Übergang kann für niemand eine Wahrheit sein, der ihn nicht erlebt hat; ohne Erlebnis kann er nur eine Denk-Phantasie sein. Wird er aber erlebt, dann bleibt er nicht ohne Folge, wenn die Seele sich den Wahr­nehmungen überläßt, die sich ergeben, so daß sie weiß, sie fügt zu ihnen nichts hinzu, was aus ihren an die Leibes-werkzeuge gebundenen Kräften hervorgeht. Sie muß es nur dahin gebracht haben, diesen Kräften Stillstand zu gebie­ten, so daß sie ohne deren Einmischung dasjenige verfolgen kann, was ohne sie vorgeht. - Es treten dann in die Seelen-Erfahrung herein wirkliche Gebilde, die sich aus dem Den­ken ergeben, wie die Blätter aus der Wurzel der Pflanze, die aber von den Inhalten des gewöhnlichen Denkens grund­verschieden sind. Es findet sich im seelischen Blickfeld eine Wirklichkeit ein, die nicht mit irgendeinem Sinne geschaut werden kann, die auch nicht die geringste Ahnlichkeit hat mit irgendeiner Sinneswahrnehmung. Es gibt viele Arten, in denen so eine übersinnliche Wahrnehmung in das geistige Blickfeld der Seele eintritt. Es haben alle diese Arten das miteinander gemein, daß man in ihrer Wahrnehmung sich viel inniger mit der entsprechenden Wirklichkeit verbun­den weiß, als durch eine äußere Wahrnehmung mit der durch sie vermittelten sinnlichen Wirklichkeit. Sie alle aber geben die Erkenntnis, daß im Menschen ein übersinnlicher Organismus lebt, der mit einer übersinnlichen Umwelt in einem ähnlichen Verhältnis steht wie der sinnliche Organis­mus zu der sinnlichen Umwelt. Nur ist die übersinnliche Umwelt eine in sich bewegte; die sinnliche im Verhältnis zu ihr eine zwischen Ruhe und Bewegung wechselnde. Der­jenige Teil der eigenen menschlichen Wesenheit, der gleich­artig mit der übersinnlichen Umwelt ist, sieht sich in deren

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Bewegung eingesponnen. Wie dieses Verhältnis ist, das kann in folgender Art veranschaulicht werden. In der Um­welt des Menschen, auf welche dieser als sinnliches Wesen angewiesen ist, wechseln Tag und Nacht. Im menschlichen Erleben selbst wechseln die Zustände des Wachens und Schlafens. Es soll hier nicht auf eine Darstellung des Zu­sammenhanges zwischen den Weltzuständen Tag und Nacht und den Menschenzuständen Wachen und Schlafen einge­gangen werden. Es wird aber kaum jemand leugnen wol­len, daß die beiden Wechselzustände etwas miteinander zu tun haben, wenn der Mensch auch in seinem gegenwärtigen Entwicklungspunkte bis zu einem gewissen Grade für das Wechselverhältnis von Tag und Nacht sich in seinem Wa­chen und Schlafen unabhängig machen kann. In einem viel geringeren Grade kann von einer Unabhängigkeit gewisser Vorgänge im übersinnlichen Menschen-Organismus von der in sich bewegten übersinnlichen Umwelt gesprochen wer­den. Nur haben diese Vorgänge nichts zu tun mit dem­jenigen, was der Mensch in der gewöhnlichen Sinnes-Wirk­lichkeit durchlebt. Es sind vielmehr Vorgänge, welche sich zu dem Verlauf des Lebens zwischen Geburt und Tod (oder zwischen Empfängnis und Tod) so verhalten wie etwa die Vorgänge im physischen Organismus zu einem Tagesver-lauf, vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Es sind Vor­gänge, durch die das Leben des physischen Organismus von einem Augenblick des Lebens in den andern während der ganzen physischen Lebenszeit hinübergetragen wird. Wer diese Vorgänge durch die gekennzeichnete innere Seelen-Erfahrung wahrnimmt, der weiß, daß ohne die Wirklich­keit, von welcher sie getragen sind, der physische Organis­mus in jedem Lebensaugenblicke das sein müßte, was er

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durch den physischen Tod wird, ein Zusammenhang von physischen und chemischen Stoffen und Kräften.

Es ist eine Welt von Bilde-Kräften, in welche man durch diese Seelen-Erfahrung das Bewußtsein hineingetragen hat. (Die Erkenntnis, die sich diese Welt erschließt, ist in mei­nem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» die genannt, weil in ihr ein Wahmehmungsinhalt gegeben ist, der gewissermaßen Bilder zur geistigen Anschauung bringt, die doch nicht bloße Abbilder anderer Wesenheiten sind, wie die gewöhnlichen Gedanken, sondern in Leben-durchdrungener Bewegung befindliche Gebilde, die ihre eigene Wesenheit darstellen. In dem genannten Buche und in anderen meiner Schriften findet man auch nähere Angaben darüber, wie durch richtig ausgeführte Seelenverrichtungen der Mensch dazu gelangt, die Kraft zu den gekennzeichneten Seelen-Erfahrungen in sachgemäßer Art zu entwickeln und Selbsttäuschungen aus­zuschließen.) Das Einleben in diese Welt von Bilde-Kräften erfordert eine Anpassung der Seelen-Tätigkeit an Verhält­nisse, die im gewöhnlichen Leben bewußt nicht vorhanden ist. In dieser Notwendigkeit einer Anpassung an ganz un­gewohnte Verhältnisse liegen Schwierigkeiten, aus deren Vorhandensein es völlig erklärlich erscheint, daß der Gei­steswissenschaft von vielen Seiten ablehnend gegenüber-getreten wird. Man kann sagen, zur Auffassung einer Wirk­lichkeit, welche der imaginativen Erkenntnis sich offenbart, gehört es, den Augenblick zu erfassen. Denn, indem sie im Bewußtsein aufleuchtet, ist sie auch wieder aus demselben ausgetreten. Es ist in dieser Welt eben alles in fortwähren­der Bewegung. Aus dem gewöhnlichen Leben ist die Men­schenseele aber daran gewöhnt, eine Vorstellung, die für sie

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eine Bedeutung haben soll, durch die eigene Willkür so lange festzuhalten, als es ihr zum Ergreifen dieser Bedeu­tung notwendig erscheint. Das kann sie mit dem Inhalte der imaginativen Erkenntnis nicht. Sie muß sich vielmehr dar­auf einrichten, ihn in seinem Werden zu ergreifen. Erst wenn sie ihn erfaßt und umgewandelt hat in eine gewöhnliche Vorstellung, kann er festgehalten werden. Man kann immer nur ein in das gewöhnliche Vorstellen gekleidetes Nachbild einer übersinnlichen Anschauung so in der Seele gegenwärtig haben, daß eine Erinnerung an sie möglich wird. - Damit ist aber keine Kennzeichnung des Wesenhaften gegeben, das sich durch die imaginative Erkenntnis offenbart, sondern nur eine solche des Verhältnisses der Seele zu dem Wahrgenommenen. Das Vorüberhuschende, Flüchtige der übersinnlichen Wahrnehmung darf nicht hin­dern, zu erkennen, was, davon ganz unabhängig, in dem Inhalte des Wahrgenommenen lebt. So wird der aus Bilde-Kräften gewobene übersinnliche Organismus des Men­schen sich wohl nur in flüchtigen Eindrücken offenbaren. Was aber in diesen enthalten ist, läßt sich als ein in sich zusammenhängender, seine Wesenheit zusammenhaltender Bilde-Kraft-Leib erkennen, der allen Lebensvorgängen des Menschen von der Geburt bis zum physischen Tode zu­grunde liegt. Durch diesen übersinnlichen Leib gehört der Mensch einer übersinnlichen Welt an, die ihn in jedem Augenblicke aus dem Bereich der physikalischen und chemi­schen Gesetze hinaushebt, in die sein physischer Organismus einverwoben ist.

Noch in einer anderen Beziehung ist die Menschenseele der imaginativen Erkenntnis nicht angepaßt. Sie bedarf näm­lich zu dieser Erkenntnis einer besonderen Ausbildung derjenigen

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Gefühlskräfte, welche sich im gewöhnlichen Leben nur in solchen Fällen äußern, in denen ihr etwas sie Über­raschendes, völlig Unerwartetes gegenübertritt. Mit einer solchen Erfahrung ist im gewöhnlichen Leben mehr oder weniger das Gefühl des Erschreckens verknüpft. Im Gleich-gewichte kann dieses Gefühl durch die Erwerbung jener Seelenstimmung gehalten werden, welche die Geistesgegen­wart bringt, um auch Unerwartetes mit Seelenruhe über sich ergehen zu lassen. Obwohl sich die übersinnlichen Er­fahrungen der imaginativen Erkenntnis nicht so verhalten, wie das Sinnlich-Überraschende, so ist doch notwendig, daß die Seele alle solche Erfahrungen in diesem Seelen-Gleich-gewichte empfängt. Die Ausbildung dieser Seelenstimmung ist notwendig, wenn diese Erfahrungen nicht entweder dem Unbewußten anheimfallen sollen, oder durch Einflüsse ge­trübt, verfälscht werden sollen, die aus dem gewöhnlichen Seelenleben in Form von Illusionen, Träumereien, Sugge­stionen, Erinnerungen usw. kommen.

Von wesentlicher Bedeutung ist, daß die Umwandlung der gewöhnlichen Gedanken in die Offenbarungen der ima­ginativen Erkenntnis sehr häufig sich so vollzieht, daß zwi­schen dem einen und dem andern eine längere Zeitspanne liegt. In dieser Zeitspanne ist das Seelenleben mit Dingen ausgefüllt, welche für das Bewußtsein nichts mit dem Um­wandlungsvorgange zu tun haben. Der Verlauf ist dann der folgende: Man nimmt (meditierend) einen Gedanken auf, man versenkt sich in einen solchen, der den Keim zu einer Offenbarung durch imaginative Erkenntnis in sich trägt. Aber die ganze Seelen-Übung führt zunächst zu nichts. Das Leben geht weiter. Viel später stellt sich die Umwandlung in imaginative Erkenntnis erst ein. Sie kommt wie der Seele

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zugeflogen. In der Zwischenzeit kann sich dem Wesenhaf­ten, das in der Umwandlung lebt, alles mögliche aus den unbewußten, oder trübe bewußten Untergründen des See­len- und Leibeslebens beimischen, das aus der übersinnlichen Erfahrung eine völlige Phantasterei macht. In dieser Mög­lichkeit liegt es, daß Einwände gegen die übersinnliche Er­fahrung so berechtigt erscheinen, die von seiten solcher Persönlichkeiten gemacht werden, denen das wirkliche Wesen solcher Erfahrungen doch unbekannt ist. Diese Per­sönlichkeiten können schwer verstehen, daß ein gesundes Seelenleben bei seinem Aufrücken von der sinnlichen zur übersinnlichen Erfahrung das volle Bewußtsein in sich so zur Entfaltung bringt, daß es Täuschung von Wirklichkeit unterscheiden lernt, wie man im gewöhnlichen Leben ein aus Papierstoff verfertigtes Tier von einem lebenden unterschei­den kann. Aber allerdings: diese Entfaltung des vollen Be­wußtseins ist für die übersinnliche Erfahrung notwendig. Denn nur sie kann sich im imaginativen Erkennen so ein­stellen, daß sie an dem Unterschiede, der zwischen dem wirklich Übersinnlichen und dem Illusionären besteht, er-kennt, was auszuschalten ist, weil es nur aus der Persönlich­keit kommt. Wer das Wesen des wahrhaft Übersinnlichen erfaßt hat, der kann nie eine Illusion, Halluzination, ver­steckte Erinnerung usw. für etwas Übersinnliches ansehen, weil das wahrhaft Übersinnliche eben ganz anderer Art ist, als alles, was aus dem gewöhnlichen Erleben heraus durch phantastische oder krankhafte Seelen- oder Leibesverfas-sung in den Bereich eines nicht voll entfalteten Bewußtseins drängt.

Nun offenbart dasjenige, das hier als Inhalt der imagina­tiven Erkenntnis geschildert worden ist, am Menschen nur

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ein solches Übersinnliches, das als geistige Bilde-Kräfte dem Leibesleben zugrunde liegt. Wer die imaginative Erkenntnis in sich entwickelt, der erwirbt damit zugleich ein Bewußtsein davon, daß das eigentlich Seelische in dem Inhalt dieser Er­kenntnis noch nicht enthalten ist. Es muß dieses noch tiefer in den verborgenen Untergründen des Seelenlebens zur Ent­wickelung gebracht werden. Es sei hier wieder das Beispiel herangezogen, in dem der Geistesforscher durch Entfaltung von Gedanken, die ihn an die Grenze des gewöhnlichen Erkennens führen, einer Seelenverrichtung obliegt. Es ist damit nur ein Beispiel gegeben. Denn die Seelenverrichtun­gen, durch welche der Eintritt in die übersinnliche Erfah­rung vermittelt wird, sind sehr mannigfaltige. Doch soll hier möglichst anschaulich geschildert werden; deshalb wird an ein besonderes Beispiel angeknüpft. Ist man in der See­lenverrichtung, die an die gewöhnliche Erkenntnisgrenze führt, ganz wahr gegen sich selber, so können in den fol­genden Vorgang sich Selbsttäuschungen nicht einschleichen. Ruht nämlich die Seele in der Lage, in die sie ihre Gedanken an der bezeichneten Grenze gebracht haben, so dringen von den verschiedensten Seiten her andere Gedanken heran. Zu diesen Gedanken kommt man in ein ganz anderes Verhält­nis, als man es im Denken des gewöhnlichen Lebens ent­wickelt. Da bringt man die Gedanken in ein Wechselspiel und läßt den einen durch den andern sich logisch tragen, berichtigen, widerlegen usw. Man ist sich bewußt, daß man in einem logischen Tatbestand sich bewegt, und daß die Gedanken nur logisch auf einander wirken. Dies wird an­ders, sobald man in dem oben gekennzeichneten Erlebnis steht. Man beginnt das Aufeinanderwirken der Gedanken als wirklichen Vorgang zu erleben, in dem man auf ähnliche

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Art darinnen steht, wie in dem moralischen Verhalten des gewöhnlichen Lebens. Der eine Gedanke muß nicht nur logisch angenommen, der andere ebenso abgewiesen wer­den, sondern mit wfrklicher Kraft muß der eine aus gewis­sen Untergründen heraufgezogen, der andere gewisser­maßen getilgt werden. Es tritt etwas ein, das sich damit vergleichen läßt, daß im gewöhnlichen Leben aus morali­schen Gesichtspunkten die eine Handlung erlaubt, die andere nicht erlaubt erscheint. Man muß festhalten, daß es sich hier um einen Vergleich handelt. Aber die Sache ist doch so, daß im Bereiche des geistigen Erlebens die Seele aus dem bloß logischen Verhalten heraustritt und in ein Wirksames hineingestellt wird. Sie gelangt dazu, zu erkennen: auf dem Wege, auf dem du dich jetzt bewegst, ist der eine Gedanke nicht bloß richtig, sondern eine Wirklichkeit fördernd, der andere ist nicht bloß unrichtig, sondern etwas wirklich ver­derbend, vernichtend. - Nun ist noch nicht dies unmittel­bare Erlebnis dasjenige, das auf dem Wege übersinnlicher Erkenntnis weiter führt. Dies versetzt die Seele zunächst in eine Art inneren Kampfzustandes, der in erschütternden Erlebnissen sich zum Ausdruck bringt. Es werden da die Erlebnisse, die man mit rechten Gedanken macht, zu Ereig­nissen, durch die sich die Seele innerhalb gewisser Grenzen wie in ihrem Wesen verwandelt fühlt; was im gewöhn­lichen Erleben nur zu Zweifeln führt, wird hier zu inneren tief wirkenden Schicksalstatsachen des seelischen Erfahrens.-Und doch ist dies alles nur der Ausgangspunkt dessen, was in übersinnlicher Erkenntnis weiter führt. Es muß dazu kommen ein Seelenvorgang in solchen Bereichen des mensch­lichen Erlebens, die im gewöhnlichen Leben gar nicht mit-tätig sind, die ganz im Unbewußten liegen bleiben. Eine

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innere Verdichtung des Seelenlebens tritt ein, ein sich Durch­dringen mit Kräften, die sie vorher in dunklen Untergrün­den gelassen hat. Ist in diesen innerseelischen Vorgängen die Reifung eingetreten, dann tritt in das Bewußtsein der Inhalt eines Seelenlebens, das den Bilde-Kraft-Leib durch­setzt. Man lernt dieses Seelenleben als etwas kennen, das seiner Wesenheit nach in entgegengesetzter Richtung wirkt wie die Kräfte des Bilde-Kraft-Leibes. Diese Kräfte suchen, zum Beispiele, die physischen und chemischen Kräfte des Leibes mit ihrem Wesen zu durchdringen und sie nach einer gewissen Richtung hinzuordnen; die eigentlich seelischen Kräfte wirken diesem Vorgang entgegen; sie suchen die Bildekräfte von dem physischen Leibe loszulösen. In dem Maße, in dem sie sie loslösen, durchdringen sie den Bilde-Kräfte-Leib mit ihrer eigenen Wesenheit. Dieser Vorgang muß fortwährend stattfinden, wenn das menschliche Leben seiner Wesenheit gemäß verlaufen soll. Der Bilde-Kräfte-Organismus ist wie in einer hin und her schwingenden Bewegung, schwebend zwischen einem Hinneigen zu den physischen und chemischen Vorgängen des Leibes und zwi­schen einem Durchdrungenwerden von dem Seelischen. -Hat man durch ein solches Seelen-Erlebnis sich zum Bewußt­sein gebracht, wie die Seele sich verhält zu dem physischen und dem Bilde-Kraft-Organismus, so erkennt man auch ihr wahres Wesen, das von beiden unterschieden ist. Der wirkliche Vorgang, an dem dies erkannt wird, läßt sich mit dem Vorgange des Aufwachens vergleichen. Aufgewacht fühlt sich die Seele aus einem Zustand, in den keine Erinne­rung zurückreicht, in einen solchen versetzt, in dem das bewußte Tagesleben mit seinem Vorstellen, Fühlen und Wollen verläuft. Ist die Seele dazu gelangt, sich in ihrem

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in sich verdichteten Erleben zu erkennen, wie es durch die oben gekennzeichneten Seelen-Erfahrungen ermöglicht wird, so ist sie in der Lage, auch Erlebnisse zu haben, von denen sie durch unmittelbare Wahrnehmung weiß, daß der physische und Bilde-Kräfte-Organismus daran keinen An­teil haben. Sie erkennt auch, daß dasjenige Bewußtsein, das sich mit Hilfe dieser Organismen entwickelt, sich zu dem übersinnlich Erlebten nicht anders verhalten kann wie es sich im Augenblicke des Aufwachens verhält zu dem im Schlafe vorgegangenen. Das heißt, man hat es mit über­sinnlichen Erlebnissen zu tun gehabt, welche durch das gewöhnliche Bewußtsein nicht entwickelt werden können, sondern welche von demselben aus einem andern Bewußt­sein herübergenommen werden müssen. So hat man den «zweiten Menschen» in sich gefunden, der einer übersinn­lichen Welt angehört, und der nur Gegenstand eines Be­wußtseins werden kann, das sich in einer jenseits des physischen und des Bilde-Kräfte-Leibes gelegenen Welt er-schaut. (Die in solcher Art unabhängig vom physischen aber auch vom Bilde-Kräfte-Organismus gewonnenen Erkennt­nisse einer übersinnlichen Welt sind in meinen oben genann­ten Büchern die Erst durch diese Erkenntnisart ist es möglich, in das Wesen der Wechselzustände zwischen Schlafen und Wachen sowie in dasjenige des Lebens der Menschenseele zwischen dem Tode und einer neuen Geburt einzudringen. Dem ge­wöhnlichen Wachbewußtsein kommt der Zustand der Seele während des Schlafes nur durch das verworrene Leben des Traumes in das Blickfeld. Es ist diesem Bewußtsein aber unmöglich, das Wesen des Traumes zu erkennen. Diese Er­kenntnis wird erst möglich, wenn durch die inspirierte Erkenntnis

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das innere Wesen des Schlafes der übersinnlichen Beobachtung zugänglich wird. Der Augenblick des Aufwachens stellt sich für diese Erkenntnis in anderer Art dar als für das gewöhnliche Bewußtsein. Er offenbart sich als ein Hereinnehmen des seelischen Wesens aus einer rein gei­stigen Welt, in der sie vom Einschlafen bis zum Aufwachen ist, in den physischen und den Bilde-Kräfte-Organis-mus. Diesen Organismen wird gewissermaßen das Seeli­sche im Aufwachen eingeatmet, im Einschlafen ausgeatmet. Es kann für diese Erkenntnis, wenn sie genügend in sich gefestigt ist, auch das seelische Leben, das im Schlafe unab­hängig vom physischen und Bilde-Kräfte-Organismus ver­bracht wird, in das gewöhnliche Leben herüberleuchten. Dann wird es sich aber grundverschieden darstellen von dem gewöhnlichen verworrenen Traumleben. Man wird erkennen, daß dieses eine für die übersinnliche Erkenntnis belanglose Umgestaltung des eigentlichen im Schlafe ver­brachten Seelenlebens durch den physischen und den Bilde-Kräfte-Organismus ist. Diese Organismen fangen gewisser­maßen in ihr Wesen das unabhängige Seelenleben ein und kleiden es in die Erinnerungs- oder Phantasievorstellun-gen, die dem durch sie vermittelten persönlichen Leben entnommen sind.

Was durch die inspirierte Erkenntnis über das unab­hängige Seelenleben sich offenbart, läßt durchschauen, das sich mit der durch Vererbungsstoffe und Kräfte von der physischen Vorfahrenschaft überkommenen Organisation des Menschen sein geistiges Wesen verbindet, das vorher in einer geistigen Welt ein geistiges Dasein geführt hat. Und es ermöglicht diese Erkenntnis auch, das Wesen des physi­schen Todes zu durchschauen. Tritt dieser Tod ein, so löst

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sich der physische Organismus von dem Seelischen und dem Bilde-Kräfte­Organismus. Während des Lebens zwischen Geburt und Tod kann das Seelische niemals mit dem Bilde­Kräfte-Organismus allein verbunden sein ohne den physi­schen Leib. Denn da ist die Anziehungskraft, welche die beiden Organismen auf einander ausüben, größer als die­jenige des Seelischen zum Bilde-Kräfte-Organismus. Erst wenn mit dem Tode der physische Organismus beginnt, seinen eigenen Gesetzen zu folgen, bleibt der Bilde-Kräfte-Organismus in dem Bereich des Seelischen zurück. Die Kraft, mit welcher das Seelische nunmehr diesen Organismus hält, ist dieselbe, mit welcher durch sie die Erinnerungen an das im physischen Dasein Erlebte aus den Untergründen der Seele heraufgeholt werden. Es findet deshalb in der Zeit, durch welche hindurch die Seele den Bilde-Kräfte-Organis­mus festhalten kann, eine zur Einheit zusammengefaßte Erinnerungs-Rückschau über das beschlossene physische Leben statt. Es würde nun den Umfang eines Aufsatzes weit überschreiten, sollte von den mannigfaltigen Verrich­tungen gesprochen werden, welchen sich das Zusammen­wirken von inspirierter und imaginativer Erkenntnis unter-ziehen muß, um zu Vorstellungen darüber zu kommen, wie lange die Seele durch ihre eigene Kraft, ohne die Unter­stützung des physischen Organismus, den Bilde-Kräfte-Organismus festhalten kann. Es soll nur als Ergebnis mit-geteilt werden, daß sich diese Zeitdauer bei verschiedenen Personen verschieden stellt, daß sie aber nur wenige Tage ist. Nach Verlauf derselben befindet sich die Menschenseele in einem Zustand, der nur für das inspirierte Bewußtsein zugänglich ist. Es ist ihr dieses Bewußtsein aber selbst eigen, wenn auch in einer anderen Form als diejenige ist,

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die der Geistesforscher für die übersinnliche Erkenntnis während des Lebens im Leibe entwickelt.

Mit dem durch den Tod abgeschlossenen Erdenleben bleibt die Seele nach der Trennung vom Bilde-Kräfte-Or­ganismus verbunden. Die Verbindung ist eine seelische. Es handelt sich zunächst darum, die in der Seele vorhanden gebliebenen Ergebnisse des Erdendaseins dem Leben in der geistigen Welt anzupassen. Die Ergebnisse der inspirierten Erkenntnis führen zu der Vorstellung, daß diese Anpas­sung Jahrzehnte dauert. Erst nach Ablauf dieser Zeit ist die Seele in ihrem eigenen geistigen Elemente, in dem sie auf geistige Art die lange Zeit durchlebt, deren Ergebnis dazu führt, ein neues Erdenleben aufzunehmen. Über einen Teil des Lebens in diesem Elemente gelangt die inspirierte Erkenntnis zu folgenden Vorstellungen. - Die physische Wissenschaft führt dazu, anzuerkennen, daß die Eigen­schaften eines Menschen gewissermaßen eine Zusammen­ziehung von Eigenschaften seiner physischen Vorfahren sind. Die Begriffe, durch welche die Naturwissenschaft in das physische Wesen der Vererbung einzudringen sucht, werden von der Geisteswissenschaft ebenso wenig ange­fochten, sondern voll anerkannt wie andere naturwissen­schaftliche Vorstellungen (Geisteswissenschaft ist mit Na­turwissenschaft im vollen Einklange, was nicht oft genug gesagt werden kann, da die Gegner der Geisteswissenschaft immer wieder mit Einwendungen zur Hand sind, ohne eigentlich zu wissen, wovon sie reden und ohne zu durch­schauen, daß der Geistesforscher ihre Einwände kennt, aber daneben allerdings auch deren Mangel an beweisender Kraft). Nun ist die vom physischen Organismus unab­hängige Seele zwischen Tod und neuer Geburt nicht unver­bunden

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mit der physischen Welt. Sie ist vielmehr mit den Verhältnissen, welche durch lange Geschlechterfolgen hin­durch die Vorfahren ihres neuen physischen Erdenleibes zusammenführen, verbunden. Wie die Seele im physischen Dasein mit dem eigenen Leibe verbunden ist, so ist sie übersinnlich verbunden mit den Gesetzen, nach denen sich eine Geschlechterfolge bildet, die zuletzt zu dem Eltern­paare führt, das diese Seele in ein neues Erdendasein trägt. Und sie ist ein Teil der Kräfte, welche in diesen Gesetzen wirken. Man kann deshalb sagen: ein Mensch ererbt ge­wisse Eigenschaften, weil er sich das Wesen dieser Ver­erbung selbst mitvorbereitet. Selbstverständlich sind seine Kräfte nicht allein in den die Vererbungsverhältnisse be­stimmenden Kräften der Geschlechterfolge tätig. Doch dies braucht ja nur gesagt zu werden, weil durch die Nicht-Erwähnung billige Einwände hervorgerufen werden kön­nen. Erheblicher ist es aber, zu betonen, daß diese Mit­wirkung zu den Vererbungsverhältnissen nur ein geringer Teil des Lebensinhaltes der Seele in der Zeit zwischen Tod und neuer Geburt sein kann. Es ergibt sich so für die inspi­rierte Erkenntnis das Hereinwirken des Lebens zwischen dem Tode und einer neuen Geburt in das neue physische Erdenleben. Es wirken die Kräfte der geistigen Welt aus der Zeit vor der Geburt (oder der Empfängnis) in den Verlauf des Erdenlebens in alles dasjenige hinein, was durch die innere Wesenheit des Menschen bestimmt erscheint.

Ein anderes als dieser durch die innere Wesensart des Menschen hervorgerufene Lebensverlauf ist dasjenige, was mit dem Worte Schicksal umfaßt wird. Im Schicksal ist inbegriffen, was das Leben durch das Herankommen äuße­rer Verhältnisse bestimmt. In das Wesen des Schicksals

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kann weder die imaginative noch die inspirierte Erkennt­nis einen Einblick gewinnen. Um Vorstellungen über das Schicksal zu erringen, ist notwendig, daß die inspirierte Erkenntnis den Augenblick abwartet, in dem ohne Selbst­täuschung die übersinnliche Erkenntnis selbst ein vollwer­tiges Schicksals-Erlebnis des Menschen wird. Der Augen­blick ist dann gekommen, wenn durch alle vorangegange­nen Seelenverrichtungen das Gefühlsleben so verdichtet ist, daß die gewonnene Erkenntnis als Schicksals-Ereignis alles andere zu übertönen vermag, was im Leben sonst an Schick­sals-Einschlägen möglich ist. Es muß von vorneherein zu­gegeben werden, daß in der Beurteilung dessen, was hier gemeint ist, dem Menschen unermeßliche Gefahren der Selbsttäuschung, der Unwahrkaftigkeit gegen sich selbst entgegenstehen. Getilgt können diese nur werden, wenn die vorangegangenen Seelen-Verrichtungen ihn so vorbereitet haben, daß er diesen Gefahren nicht unbewußt gegenüber­steht, sondern daß er sie gewissermaßen vollwirklich vor sich sieht. - Die Verdichtung des Seelenlebens, die sich auf diese Art ergibt, trägt in dieses zu der imaginativen und inspirierten Erkenntnis die «intuitive> hinzu. Durch sie ist es möglich, Vorstellungen darüber zu gewinnen, wie aus vorangegangenen Erdenleben auf geistige Art Kräfte her­überwirken in das gegenwärtige, die sich in dem Schicksal offenbaren. Der imaginativen Erkenntnis ist zugänglich der Zusammenhang von Bilde-Kräften, welche das Leibesleben des Menschen von der geistigen Welt aus ordnen. Der in­spirierten Erkenntnis offenbaren sich die Kräfte, welche aus dem Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt in das seelische Leben des Erdendaseins hereinwirken. Der intuitiven Erkenntnis sind Vorstellungen möglich über das

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Herüberwirken von Kräften aus verflossenen Erdenleben in den Schicksalsverlauf. Das Wesen dieser Kräfte soll hier durch einen etwas groben Vergleich angedeutet werden. Ein Erlebnis des physischen Daseins erschöpft sich nicht in dem­jenigen, was von ihm dem Erleben im physischen Dasein zugänglich ist. Seine Wirkung ist eine viel umfänglichere als das so Erlebte. Es geschieht auf die Seele eine Wirkung, die zunächst unbewußt bleibt. Diese Wirkung verharrt aber in der Seele. Sie erzeugt in derselben etwas, das sich eben grob vergleichen läßt mit einem leeren Raum im Umfang der Seelenkräfte. Es wird diese «Leerheit> des Seelischen durch den Tod und durch das Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt hindurchgetragen und ist weiter vorhanden im neuen Erdenleben. Da verhält es sich seelisch-geistig - wieder ein grober Vergleich - wie sich ein Raum, aus dem die Luft ausgepumpt ist, verhält zu seiner Umge­bung, wenn in seinem Umfassungsgefäß eine Öffnung an­gebracht wird. Der leere Raum saugt die ihn umgebende Luft in sich. So saugt die «Leerheit» in der Seele die Ver­hältnisse herbei, die in das Schicksalsgewebe eingreifen. Und da die Wirkung solcher «Leerheiten» der Seele vor­handen ist seit ihrem Entstehen in einem Erdenleben, so ist die Möglichkeit gegeben, daß durch die Seele selbst ein Zu­sammenhang geschaffen wird zwischen den Erlebnissen der aufeinanderfolgenden Erdenläufe. Die Seele gibt sich unter dem Einflusse der vorangegangenen Erdenleben aus ihrem geistigen Leben zwischen Tod und neuer Geburt die Rich­tung nach denjenigen Erdenverhältnissen, deren Beschaffen­heit das folgende Schicksal mit dem vorangegangenen ur­sächlich verknüpft. Die Kräfte, welche in dieser Richtung wirken, vereinigen sich mit denen, welche in der vorher ge­schilderten

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Art das Erdenleben vom Innern des Menschen heraus bestimmen, oder sie durchkreuzen auch diese für eines oder mehrere Erdenleben. Die Zusammenhänge des Lebens, die sich dadurch ergeben, sind naturgemäß schwer in Kürze zu schildern, weil sie fast unüberschaubar mannig­faltig sind. Doch wird ein Verständnis der dargestellten Vorstellungen, die nur allgemeine Gesichtspunkte geben, jedem einen genug bestimmten Begriff vor die Seele treten lassen, wie zum Beispiele die Art der Begegnung mit einem Menschen und alles, was damit zusammenhängt, die Folge sein kann des Zusammenseins mit demselben Menschen in vorangegangenen Erdenleben.

Wer vermeint, daß Vorstellungen dieser Art unvereinbar seien mit dem Vorhandensein der menschlichen Freiheit, der lebt in demselben Denkfehler, in dem sich derjenige befin­det, welcher glaubt, von dieser Freiheit könne nicht gespro­chen werden, weil durch das Leben in der physischen Welt der Mensch doch den Notwendigkeiten des Essens, des Schlafens usw. unterworfen ist. Freiheit wird durch die übersinnlichen Notwendigkeiten so wenig ausgeschlossen wie durch die sinnlichen.

DIE GEISTESWISSENSCHAFT ALS ANTHROPOSOPHIE UND DIE ZEITGENUSSISCHE ERKENNTNISTHEORIE PERSÖNLICH-UNPERSÖNLICHES

#G035-1965-SE307 - Philosophie und Anthroposophie (1904 - 1918)

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DIE GEISTESWISSENSCHAFT ALS ANTHROPOSOPHIE UND DIE ZEITGENUSSISCHE ERKENNTNISTHEORIE PERSÖNLICH-UNPERSÖNLICHES

#TX

Als 1894 meine «Philosophie der Freiheit» gedrudtt war, übergab ich das Buch persönlich Eduard von Hartmann. Mir lag damals viel an einer wissenschaftlichen Auseinan­dersetzung mit diesem Manne über die grundlegenden An­schauungen, auf denen der Ideenbau meines Buches ruhte. Meine diesbezüglichen Erwartungen schienen berechtigt, da Eduard von Hartmann meinem literarischen Wirken vom Anfang an in wahrhaft freundlicher Art entgegengekom­men war. Jedesmal, wenn ich ihm meine vor der «Philo­sophie der Freiheit» veröffentlichten Schriften übersandt hatte, erfreute er mich mit oft ausführlicher brieflicher Be­antwortung der Zusendung. Im Jahre 1889 durfte ich mit ihm ein langes Gespräch führen, welches die damals die philosophische Welt bewegenden erkenntnistheoretischen Fragen zum Inhalt hatte. Und besonders deshalb erwartete ich vieles von einer Auseinandersetzung über mein Buch, weil ich einerseits warmer Verehrer des Idealismus seiner Philosophie, aufmerksamer Betrachter seiner Behandlung wichtiger Lebensfragen, andrerseits sein entschiedener Geg­ner war in allem Wesentlichen der erkenntnistheoretischen Grundlegung einer Weltanschauung. In völligem Einklang wußte ich mich allerdings mit ihm in einem wichtigen Punkte der philosophischen Ethik; nur trennte ich für mich diesen Punkt - das selbstlose Hingeben der Menschenseele

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an den geschichtlichen Werdeprozeß der Menschheit als ethisches Motiv - von dem mir haltlos scheinenden Pessi­mismus Hartmanns. Es konnte mich selbstverständlich nicht der naive Glaube befallen, den Schöpfer der «Philosophie des Unbewußten» in grundlegenden Anschauungen zu meinen Gesichtspunkten zu bekehren. Aber Eduard von Hartmann war stets geneigt, in wirklich liebevoller Art auf Anschauungen einzugehen, die den seinigen entgegengesetzt waren; und sein Eingehen führte zu denjenigen fruchtbaren Auseinandersetzungen, die auf dem Gebiete des Weltan­schauungsstrebens wünschenswert sind. Außerdem lag mir auch schon damals nichts ferner, als die Schätzung des Wer­tes einer Persönlichkeit davon abhängig zu machen, inwie­weit ich Gegner oder Bekenner von deren Ideen sein konnte. Die Schätzung, die ich Eduard von Hartmann ent­gegenbrachte, hatte zur Folge, daß ich ihn 1891 bat, die Widmung meiner kleinen Schrift: «Wahrheit und Wissen­schaft. Vorspiel einer Philosophie der Freiheit» anzuneh­men. Er erklärte sich dazu bereit. Und so konnte ich denn auf die zweite Seite dieser Schrift in voller Aufrichtigkeit die Worte drucken lassen: «Dr. Eduard von Hartmann in warmer Verehrung zugeeignet von dem Verfasser.» Dies geschah, trotzdem Eduard von Hartmann den Inhalt der Schrift vom Gesichtspunkte seiner Weltanschauung restlos ablehnen mußte.

Mit meinen Erwartungen bezüglich einer Auseinander­setzung über die «Philosophie der Freiheit» hatte ich mich nicht getäuscht. Denn Eduard von Hartmann beehrte mich wenige Wochen nach der Überreichung des Buches nicht nur mit einem freundlichen Schreiben, sondern er sandte mir auch das ihm übergebene Exemplar des Buches mit seinen

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zum Teile sehr ins einzelne gehenden Bemerkungen und Einwendungen, die er fast Seite für Seite in das Buch ein­getragen hatte. Am Schlusse hatte er den Gesamteindruck in zusammenfassenden Sätzen verzeichnet. Er hatte sein Urteil so scharf gestaltet, daß mir in seinen Worten das Schicksal vor die Seele treten konnte, das meine Welt­anschauung innerhalb des zeitgenössischen Denkens finden mußte. Indem ich in einer Besprechung dieses Urteils die vorliegenden Ausführungen werde ausklingen lassen, wird es mir möglich sein, zu zeigen, wie ich vom Anfang meiner schriftstellerischen Laufbahn an die erkenntnistheoretische Grundlegung für dasjenige erstrebte, was ich später in einer Reihe von Schriften als «Geisteswissenschaft» oder Anthro­posophie darzustellen versuchte und an dessen Ausbau ich bis heute arbeite.

In den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, in denen meine schriftstellerische Betätigung begann, sah man sich einer Weltanschauungsströmung gegenübergestellt, die im Grunde jeden Zugang des menschlichen Erkennens zu einer Welt der wahrhaftigen Wirklichkeit verbaut hatte. Mir schien vor allem andern nötig, in Weltanschauungsfra­gen nach einer wissenschaftlich gesicherten erkenntnistheo­retischen Grundlage zu streben. Welchen Meinungen man damals auf diesem Gebiete begegnete, könnte aus einer Un­zahl damaliger Schriften gekennzeichnet werden. Es soll hier diejenige des Dichters und Philosophen Robert Hamer­ling angeführt werden. Dies wieder aus dem Grunde, weil ich mich in den erkenntnistheoretischen Grundfragen in vollstem Gegensatze zu dieser von mir hoch verehrten und geschätzten Persönlichkeit befand. Robert Hamerling schrieb damals seine bedeutungsvolle «Atomistik des Willens>. Sogleich

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am Anfange dieses Buches begegnet man dem folgen­den Gedanken: «Gewisse Reizungen erzeugen den Geruch in unserm Riechorgan... Die Rose dufttet also nicht, wenn sie niemand riecht. - Gewisse Luftschwingungen erzeugen in unserm Ohr den Klang. Der Klang existiert also nicht ohne ein Ohr. Der Flintenschuß würde also nicht knallen, wenn ihn niemand hörte... Wer dies festhält, wird begrei­fen, welch ein naiver Irrtum es ist, zu glauben, daß neben der von uns genannten Anschauung oder Vorstel­lung noch ein anderes, und zwar erst das rechte, wirkliche existiere, von welchem unsere Anschauung eine Art von Abbild ist. Außer mir ist - wiederholt sei es gesagt -nur die Summe jener Bedingungen, welche bewirken, daß sich in meinen Sinnen eine Anschauung erzeugt, die ich nenne.» Hamerling fügt zu diesen Sätzen hinzu:

«Leuchtet dir, lieber Leser, das nicht ein und bäumt dein sich vor dieser Tatsache wie ein scheues Pferd, so lies keine Zeile weiter: laß dieses und alle andern Bücher, die von philosophischen und naturwissenschaftlichen Din­gen handeln, ungelesen, denn es fehlt dir die hierzu nötige Fähigkeit, eine Tatsache unbefangen aufzufassen und in Gedanken festzuhalten.» Die Gedanken, die Hamerling ausspricht, gehörten so zu den Denkgewohnheiten der Er­kenntnistheoretiker in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, daß von ihnen schon 1879 Gustav Theodor Fechner in seinem Buche «Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht» schrieb: «Sind es doch die Gedanken der ganzen denkenden Welt um mich. Wie sehr und um was sie zanken mag, darin reichen sich Philosophen und Physi­ker, Materialisten und Idealisten, Darwinianer und Anti­darwinianer, Orthodoxe und Rationalisten die Hände. Es

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ist nicht ein Baustein, sondern ein Grundstein der heutigen Weltansicht... Was wir der Welt um uns abzusehen, ab­zuhören meinen, es ist alles nur unser innerer Schein, eine Illusion, die man sich loben kann, wie ich's noch jüngst ge­lesen; bleibt aber eine Illusion. Licht und Ton in der äu­ßern, von mechanischen Gesetzen und Kräften beherrschten, zum Bewußtsein noch nicht durchgedrungenen Welt über die organischen Geschöpfe hinaus sind nur blinde, stumme Wellenzüge, die von mehr oder weniger erschütterten mate­riellen Punkten aus den Äther und die Luft durchkreuzen, und erst, wenn sie an den Eiweißknäuel unseres Gehirns, ja wohl gar erst, wenn sie an einen bestimmten Punkt des­selben antreffen, sich durch den spiritistischen Zauber dieses Medium in leuchtende, tönende Schwingungen umsetzen. Über Grund, Wesen, nähere Bestimmungen dieses Zaubers streitet man; über die Tatsache ist man einig; und von allen Denk- und Erkenntnistheorien, in denen die Philosophie sich eben jetzt erschöpfen und leeren will, als wollte sie noch eine Philosophie gebären, führt keine zu einem Zweifel an der Richtigkeit dieser Tatsache, es sei denn, um den Zweifel für unlösbar zu erklären oder die Welt in Stäub­chen zu zertrümmern, die nur sich selber, aber nicht die Welt erleuchten.»

Wer sein Denken solchen Betrachtungen ferne gehalten hat, dem können sie als wertloses Vorstellungsgespinst er­scheinen. In den Einzelwissenschaften und in der mehr dem unmittelbaren Leben zugewandten Betätigung tauchen sie nicht in einer Art auf, daß man mit ihnen rechnen müßte. Wer aber in Weltanschauungsfragen mitsprechen will, der muß sich mit ihnen auseinandersetzen. Man findet im zwei­ten Bande meines Buches «Die Rätsel der Philosophie» - in

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dem Abschnitte: «Die Welt als Illusion» - eme ausführliche Darstellung der wesentlichsten Formen, in denen sich diese Betrachtungen in der neuesten Zeit auslebten. Fruchtlos wäre es vor dreißig Jahren gewesen, sich mit einer Welt­anschauung in die Gedankenrichtung der Zeit hineinzu­stellen, ohne Stellung zu diesen Betrachtungen zu nehmen. Denn auf ihrem Boden wurden die Urteile darüber erzeugt, ob eine Weltanschauung einen berechtigten Ausgangspunkt habe oder nicht. Gideon Spicker, von dem es ein anregen­des Werk über «Lessings Weltanschauung» gibt, der dann die beiden bedeutungsvolle Bändchen «Vom Kloster ins akademische Lehramt» und «Am Wendepunkt der christ­lichen Weltperiode» veröffentlicht hat, schrieb mir zwar 1886, nach dem Erscheinen meiner «Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung», es wäre nötig, daß man endlich aufhöre, fortwährend über die Frage nachzusinnen, wie und innerhalb welcher Grenzen der Mensch erkennen könne. Man solle lieber darangehen, einmal wirklich etwas zu erkennen. Allein die Beobachtung der Zeitverhältnisse auf diesem Gebiet ließ es aussichtslos erscheinen, mit einer Weltanschauung aufzutreten, die nicht ihre sichere erkennt­nistheoretische Grundlegung voranschickt.

Die verschiedensten Gestaltungen des Schopenhauerschen Satzes: die Welt ist meine Vorstellung, boten sich damals in allen möglichen Abänderungen dar. Volkelt, der fein-sinnige Zergliederer Kants, der umsichtige Verfasser des erkenntnistheoretischen Buches: «Erfahrung und Denken», schrieb in der damaligen Zeit: «Der erste Fundamentalsatz, den sich der Philosoph zum deutlichen Bewußtsein zu brin­gen hat, besteht in der Erkenntnis, daß unser Wissen sich zunächst auf nichts weiter als auf unsere Vorstellungen erstreckt.

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Unsere Vorstellungen sind das Einzige, das wir un­mittelbar erfahren, unmittelbar erleben; und eben weil wir sie unmittelbar erfahren, deshalb vermag uns auch der radi­kalste Zweifel das Wissen von denselben nicht zu entreißen. Dagegen ist das Wissen, das über mein Vorstellen - ich nehme diesen Ausdruck hier überall im weitesten Sinne, so daß alles psychische Geschehen darunter fällt - hinausgeht, vor dem Zweifel nicht geschützt. Daher muß zu Beginn des Philosophierens alles über die Vorstellungen hinausgehende Wissen ausdrücklich als bezweifelbar hingestellt werden.» Solche Behauptungen waren für philosophisch Denkende im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts zu selbst­verständlichen Wahrheiten geworden; sie sind es für viele noch heute, die gehört werden, wenn darüber geurteilt wer­den soll, ob eine Weltanschauung auf einem berechtigten Boden steht oder nicht.

In die Vorstellungsart, die zu solchen Behauptungen führt, muß man sich einleben, wenn man in unserer Zeit in Weltanschauungsfragen mitreden will. Mir schien ein solches Einleben zu zeigen, daß die Grundfragen über den Erkenntnisvorgang ganz anders gestellt werden müssen, als dies von vielen Erkenntnistheoretikern geschieht, wenn nicht der Gedankengang, der in solchen Fragen eingeschla­gen wird, dazu führen soll, daß man am Ende vor einer Selbstauflösung dieses Gedankenganges steht. Klarheit auf diesem Gebiete zu suchen, Klarheit über Wert und Gel­tungsberechtigung der in Betracht kommenden Ideen, war die Aufgabe, die ich durch die Forschungen zu lösen suchte, deren Darstellung man in meinem Schriftchen «Wahrheit und Wissenschaft» und in meinem Buche «Philosophie der Freiheit» findet. «Wahrheit und Wissenschaft» war als eine

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«Verständigung des philosophierenden Bewußtseins mit sich selbst» gedacht. Diesen Titel trägt die Schrift auch in dem Druck als Doktordissertation, in dem deren wesent­licher Inhalt schon enthalten ist.

Ich glaubte zur Zeit, als ich diese Schriften verfaßte, und glaube noch heute, man habe den Grundfehler vieler Er­kenntnistheorien darin zu suchen, daß der Erkenntnisvor-gang schon an seiner Wurzel ganz falsch angeschaut wird. Man denkt zunächst an den Gegensatz: Mensch und Welt. Man stellt sich vor, die Welt wirke auf den Menschen. Dieser bekommt von ihr Eindrücke. Aus diesen Eindrücken gestaltet sich das Weltbild, in dem er vorstellend lebt. Von diesem Gedanken aus ist dann ein fast selbstverständlicher Ideengang zu der Meinung: also ist alles, was innerhalb des menschlichen Bewußtseins auftritt, nur Bewußtseinserzeug­nis. Jegliches Ding oder Wesen einer Außenwelt liegt jenseits des Bewußtseins; denn erst, wenn das unbekannt, unbe­wußt bleibende der Außenwelt vom Bewußtsein aufge­nommen ist, wird es menschliches Weltbild. Wie die Dinge oder Wesen außerhalb des Bewußtseins sind, ist eine das menschliche Erkenntnisvermögen übersteigende Frage. Diese Vorstellungsart erscheint in verschiedenen Philosophien ein­geschnürt in wahre Knäuel von Begriffen, die oft in einer so un-ursprünglichen, von ihrer Quelle weit abstehenden Form gedacht werden, daß mancher, der sich in sie einge­wöhnt hat, gar nicht anders kann, als jeden für einen Dilet­tanten zu halten, der diese Begriffe auf ihre einfache Form zurückführen möchte.

Es ist nicht in Abrede zu stellen, daß der geschilderte Gedankengang von einem gewissen Gesichtspunkte aus so festgefügt erscheint, daß ein Einwand fast zur Unmöglichkeit

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wird, und daß Hamerling mit einigem Recht sagen konnte, wer diese Anschauung nicht gelten läßt, dem fehle die Fähigkeit, eine Tatsache unbefangen aufzufassen und in Gedanken festzuhalten. Mir kam es nicht auf eine Wider­legung oder Kritik im gewöhnlichen Sinne gegenüber dieser Vorstellungsart an. Ich stellte nicht die Frage: inwieferne ist dieser Gedankengang unrichtig? Sondern ich versuchte, die andere erschöpfend zu beantworten: inwieferne ist er richtig? Und mir ergab sich, daß die Erkenntnistheoretiker in den Fehler verfallen waren, die Beantwortung nicht zu Ende zu führen. Sie waren auf halbem Wege stehengeblie­ben. Ein Weiterschreiten führt gerade von ihrem Ausgangs­punkt aus zu anderen Ergebnissen, als die von ihnen gel­tend gemachten sind. Wer einen Sinn für gewisse feinere Gesetze der menschlichen Logik und Psychologie hat, der weiß, daß man den Wahrheitswert eines Gedankens sehr oft dadurch verkennt, daß man sich von vorschnell in der Seele aufsteigenden widerlegenden Vorstellungen gefangen nehmen läßt. Auf diese Art entstehen für eine unbefangene Betrachtungsart verhängnisvolle Fallen, die verhindern können, zu rechten Erkenntniszielen zu gelangen. Das Sich­Einleben in einen Gedankengang, das Mitgehen auf seinen Wegen ist dagegen in vielen Fällen ein besseres Verhalten. Verliert man dabei die Einsicht in die Tragweite und den Geltungsbereich der einzelnen Gedankenverrichtungen nicht aus dem Bewußtsein, läßt man sich nicht überwältigen von dem Streben nach Einseitigkeit, das so viele Gedankenrich­tungen in sich bergen: so kann auch das einseitig und un­vollkommen Gedachte in das Gebiet der Wahrheit führen.

Von solchen Voraussetzungen ausgehend, versuchte ich zu erkenntnistheoretischen Ergebnissen zu kommen. Das

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Gefundene scheint mir auch heute noch völlig gesichert. So wie der Mensch in die Welt hineingestellt ist, muß er sich gestehen, daß sein Weltbild ihm so gegeben ist, wie es die Wesenheit seiner Organisation verlangt. In diesem Grund­gedanken kann man sich einig wissen mit Kantianern, Neu­kantianern, Physiologen und deren Gefolge. Man kann mit ihnen bekennen: was dem menschlichen Bewußtsein er­scheint, tritt so auf, wie es die Bedingungen des wahrnehmenden Menschen erfordern. Bleibt man nun an dieser Vor­stellung haften und führt man sie einseitig gedanklich weiter, ohne im Fortschreiten sich mit der Wirklichkeit des Menschenwesens zu verbinden, dann versperrt man sich den Zugang zu einem wahrhaftigen Erfassen der Erkennt­nisfähigkeit. Dieses versuchte ich in meinen beiden genann­ten Schriften ausführlich darzulegen. An die erste Gestalt, in welcher dem Menschen sein Weltbild gegeben ist, kann sich im Menschen-Innern ein Geistesvorgang anschließen, der dieses Weltbild insoferne verwandelt, als er ihm seinen subjektiven Charakter benimmt und das Erkennen in das Objektive untertauchen läßt. Man kann nun allerdings der Meinung sein, dieser Vorgang sei nur eine Fortsetzung, eine Art gedanklicher oder methodischer Überarbeitung des gegebenen Weltbildes. Ist man dieser Ansicht, dann wird man in allem, was innerhalb des Bewußtseins auftreten kann, nichts anderes zu sehen vermögen als eine Art Be­wußtseinswirkung der jenseits des Erkennens bleibenden wahren Wirklichkeit. Ich bemühte mich nun, zu zeigen, daß das Erkennen in seinem weiteren Fortschreiten die Gestalt überwindet, welche dem Weltbild bei seinem ersten Auf­treten durch die menschliche Organisation gegeben ist. Allerdings muß das Erkennen, um ein Bewußtsein von dieser

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Tatsache zu haben, zu einer Betätigung gelangen, die ich diejenige im reinen Denken genannt habe. Diese Betäti­gung wird von vielen Erkenntnistheoretikern von vornher­ein bestritten. Man könnte aber, Hamerlings Worte ver­wandelnd, sagen: wer die Anschauung nicht gelten läßt, daß im inneren Denk-Erleben eine Betätigung möglich ist, welche sich nur in inneren lebendigen Denkvorgängen selbst bewegt und welche die Vorstellungen der Sinneswelt nicht mehr als Abbilder, sondern nur als veranschaulichende Bilder verwendet, dem fehlt die Fähigkeit, eine Tatsache unbefan­gen aufzufassen und in Gedanken festzuhalten. Meine er­kenntnistheoretische Forschung führte zu dem Ergebnis, daß der Mensch durch seine Organisation sich zunächst aus der wahren Wirklichkeit eine unvollständige gewisserma­ßen herausschneidet, und daß er im weiteren Fortgang seines Erkennens, in der Erhebung zum reinen Denken, sich in diese wahre Wirklichkeit wieder hineinstellt. Meine genannten Bücher wollen zeigen, daß das menschliche Er­kennen unbegriffen bleibt, wenn man es wie ein dem objek­tiven Weltprozeß gleichgültiges Abbild ansehen möchte und sich dann doch gestehen muß, daß es ein solches nicht sein kann. Das Erkennen zeigte sich mir als ein im Wesen des Menschen begründeter Entwicklungsvorgang, der dieses Wesen von einer Stufe zur andern führt. Der Mensch erlebt in seinem erkennenden Verkehr mit der Außenwelt sein eigenes Wesen zunächst unvollständig, indem er sich durch seine Organisation ein unvollständiges Bild der Wirklich­keit vor die Wahrnehmung stellt. Er verwandelt im weite­ren inneren Erfahren die erste Gestalt seines Weltbildes, das ein unvollendetes Abbild der Außenwelt ist, so, daß er mit seinem inneren Erleben in der wahren Wirklichkeit

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steht. In dieser Art angesehen erscheint der Erkenntnisvor-gang schon an seiner Wurzel anders als bei vielen Erkennt­nistheoretikern. Ein Vergleich kann das hier in Betracht kommende verdeutlichen. Er ist selbstverständlich mit all der Einschränkung gemeint, die für alle Vergleiche gilt. Man kann die substantielle Natur der Getreidepflanze un­tersuchen mit Bezug darauf, inwiefern sich Getreide durch die in ihm enthaltenen Stoffe zum menschlichen Nahrungs­mittel eignet. Diese Untersuchung kann sehr wissenschaft­lich getrieben werden. Und doch kann man von einem ge­wissen Gesichtspunkte aus sagen: eine solche Untersuchung besagt nichts für das Wesen der Pflanze, insoferne sich dieses in den Vorgängen auslebt, die zum Wachsen, Blühen und Fruchttragen führen. Das innere Wesen der Pflanze offenbart sich aber in diesen Vorgängen. Und was die Pflanze als menschliches Nahrungsmittel wird, ist in ge­wissem Sinne eine aus dem Pflanzenwesen herausfallende Nebenwirkung. Der menschliche Erkenntnisvorgang ist sei­nem Wesen nach ein Glied der menschlichen Entwicklung. Was durch ihn geschieht, hat seine Bedeutung innerhalb dieser Entwicklung. Daß auf einer gewissen Stufe dieser Entwicklung in der Gedanken- und Ideenbetatigung auch ein Abbild der Außenwelt zutage tritt, ist dem Erkenntnis-vorgang in einem ähnlichen Sinne nicht ureigentümlich, wie das Eintreten des Getreides in die menschliche Ernährung. Glaubt man die Hauptfrage der Erkenntnistheorie so stel­len zu müssen, daß man nur darauf sieht: inwieferne ist das Erkennen Abbild einer Außenwelt, so verschiebt man die Betrachtung ebenso, wie man die botanische Hauptfrage verschöbe, wenn man das Wesen der Pflanze durch die Nah­rungsmittelchemie suchen wollte.

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In dem Schluß abschnitt des zweiten Bandes meiner «Rät­sel der Philosophie» findet man einen «skizzenhaft darge­stellten Ausblick auf eine Anthroposophie» (geschrieben 1914). In diesem versuche ich zu zeigen, daß ein völlig orga­nisches Fortschreiten gedacht werden muß von den er­kenntnistheoretischen Grundanschauungen meiner Schrift «Wahrheit und Wissenschaft» und meiner «Philosophie der Freiheit» zu dem Inhalte der «Geisteswissenschaft» oder «An­throposophie», wie ich sie weiter ausgebaut habe. Wer diese meine früheren Schriften aber unbefangen liest, wird be­merken können, daß die in ihnen entwickelten Ergebnisse durch rein philosophische Forschung gewonnen sind, und daß deshalb die Zustimmung zu dem in ihnen geltend Ge­machten nicht abhängig ist von der Stellung, die jemand zu der von mir vertretenen «Geisteswissenschaft» einnimmt. Ich habe mich bewußt in jenen Büchern der Denkmittel und der Methodik allein bedient, die man gewöhnt ist, in philo­sophischen Arbeiten zu finden. So scheint mir, daß die von mir «Geisteswissenschaft» genannte Forschungsart zwar eine gesicherte philosophische Grundlegung in meinen er­kenntnistheoretischen Darstellungen hat, daß aber das phi­losophische Urteil über diese Grundlegung von dem geistes-wissenschaftlichen Überbau ganz unabhängig gehalten werden kann. Für mich liegt aber ein eindeutiger Weg von meiner Erkenntnistheorie zur «Geisteswissenschaft». Wer unbefangen zu durchschauen vermag, welches die For­schungsart ist, die den Ausführungen meiner späteren Bü­cher oder den kurzen Darstellungen des ersten und vierten Buches dieser Zeitschrift zugrunde liegt, dem werden die möglichen erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten durch meine früheren Schriften aus dem Wege geräumt.

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Wenn ich in meinen geisteswissenschaftlichen Schriften diejenigen Erkenntnisvorgänge darstelle, welche durch gei­stige Erfahrung und Beobachtung in ebensolcher Art zu Vorstellungen führen über die geistige Welt wie die Sinne und der an sie gebundene Verstand über die sinnenfällige Welt und das in ihr verlaufende Menschenleben, so durfte dieses nach meiner Auffassung nur dann als wissenschaft­lich berechtigt hingestellt werden, wenn der Beweis vorlag, daß der Vorgang des reinen Denkens selbst schon sich als die erste Stufe derjenigen Vorgänge erweist, durch welche übersinnliche Erkenntnisse erlangt werden. Diesen Beweis glaube ich in meinen früheren Schriften erbracht zu haben. Ich habe in der verschiedensten Art zu begründen versucht, daß der Mensch, indem er im reinen Denkvorgang lebt, nicht bloß eine subjektive, von den Weltvorgängen abge­wandte und für diese gleichgültige Verrichtung vollbringt, sondern daß das reine Denken ein über das subjektiv menschliche Tun hinausführendes Geschehen ist, in dem das Wesen der objektiven Welt lebt. Es lebt so darin, daß der Mensch im wahren Erkennen mit dem objektiven Welt-wesen zusammenwächst. Wer die Darstellungen meiner frü­heren Schriften, auch die einführende Auseinandersetzung, die ich in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhun­derts zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften in Kürsch­ners deutscher Nationalliteratur geschrieben habe, in unbe­fangene Erwägung ziehen will, der wird das Gewicht des Satzes fühlen können, den ich 1897 in meinem Buche «Goe­thes Weltanschauung» niedergeschrieben habe. «Wer von der Kälte der Ideenwelt spricht, der kann Ideen nur denken, nicht erleben. Wer das wahrhaftige Leben der Ideenwelt lebt, der fühlt in sich das Wesen der Welt in einer Wärme wirken,

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die mit nichts zu vergleichen ist.» In meinem vor kur­zem erschienenen Buch «Vom Menschenrätsel» habe ich das «schauende Bewußtsein» beschrieben - in Anlehnung an die Goethesche Idee von der «anschauenden Urteilskraft». Ich verstehe darunter die Fähigkeit des Menschen, sich eine geistige Welt zur unmittelbaren Anschauung und Beobach­tung zu bringen. Meine früheren Schriften behandeln das reine Denken so, daß ersichtlich ist, ich zähle dieses durch­aus zu den Verrichtungen des «schauenden Bewußtseins». Ich sehe in diesem reinen Denken die erste, noch schatten­hafte Offenbarung der geistigen Erkenntnisstufen. Man kann aus meinen späteren Schriften überall ersehen, daß ich als höhere geistige Erkenntniskräfte nur diejenigen an­zusehen vermag, die der Mensch in einer ebensolchen Art entwickelt wie das reine Denken. Ich lehne für den Bereich der geistigen Erkenntniskräfte jede menschliche Verrichtung ab, die unter das reine Denken herunterführt, und erkenne nur eine solche an, die über dieses reine Denken hinaus-geleitet. Ein vermeintliches Erkennen, das nicht in dem reinen Denken eine Art Vorbild anerkennt und das sich nicht im Gebiete derselben Besonnenheit und inneren Klar­heit bewegt wie das ideenscharfe Denken, kann nicht in eine wirkliche geistige Welt führen. Durch diese meine Stellung zu den geistigen Erkenntniskräften des Menschen, welche für jedes Erkennen die Gesetzmäßigkeit des reinen Den­kens zur Voraussetzung hat, kam ich gegenüber derjenigen Vorstellungsart, die man da und dort Mystik nennt, in eine besondere Lage. Gibt man von der «Mystik» die Definition, sie sei ein Erkennen, durch das der Mensch sein eigenes Wesen mit dem Weltwesen verbunden erlebt, so muß ich diese Definition für diejenige Anschauung in Anspruch

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nehmen, die ich von dem wahren Erkennen habe. Ich muß sagen: «echte Mystik» kann nur erreicht werden, wenn diejenigen erkenntnistheoretischen Grundlagen anerkannt werden, die ich glaube, erarbeitet zu haben. Blicke ich da­gegen auf dasjenige, was oft als Mystik bezeichnet wird und was gerade die Besonnenheit und Klarheit vermeidet, die dem Denkvorgang eignen, dann sehe ich mich genötigt, eine solche Mystik so zu kennzeichnen, wie ich es (S.59 f.) in meinem Buche «Goethes Weltanschauung» getan habe:

«Die Mystik geht darauf aus, in der menschlichen Seele den Urgrund der Dinge, die Gottheit zu finden. Der Mystiker ist geradeso wie Goethe davon überzeugt, daß ihm in inne­ren Erlebnissen das Wesen der Welt offenbar werde. Nur gilt ihm die Versenkung in die Ideenwelt nicht als das innere Erlebnis, auf das es ankommt. Über die klaren Ideen der Vernunft hat er ungefähr dieselbe Ansicht wie Kant. Sie stehen für ihn außerhalb des schaffenden Ganzen der Natur und gehören nur dem menschlichen Verstande an. Der Mystiker sucht deshalb zu den höchsten Erkenntnissen durch Erweckung besonderer Kräfte zu gelangen. Er sucht durch Entwickelung ungewöhnlicher Zustände, zum Beispiel durch Ekstase, zu einem Schauen höherer Art zu gelangen... In eine Welt unklarer Empfindungen und Gefühle versenkt sich der Mystiker; in die klare Ideenwelt versenkt sich Goethe. Die Mystiker verachten die Klarheit der Ideen. Sie halten diese Klarheit für oberflächlich. Sie ahnen nicht, was Menschen empfinden, welche die Gabe haben, sich in die belebte Welt der Ideen zu vertiefen. Es friert den My­stiker, wenn er sich der Ideenwelt hingibt.» Diese so von mir zu kennzeichnende Mystik muß ich weit aus dem Ge­biete herausstellen, in dem ich die Erkenntniskräfte suche,

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welche die geistige Welt erschließen. Diese Mystik treibt das menschliche Seelenleben in einen Bereich, in dem es in grö­ßere Abhängigkeit gerät von der menschlichen Organisa­tion, als es im gewöhnlichen sinnlichen Wahrnehmen und in der Verstandestätigkeit ist. Die wahrhaftigen geistigen Erkenntnisfähigkeiten aber führen das Seelenleben in ein Ge­biet, in dem ihr größere Unabhängigkeit von der Organi­sation eignet als im sinnlichen Wahrnehmen und Vorstellen, und das mit dem reinen Denken bereits in der einfach­sten Form betreten ist. Mit dem träumerischen, halbbewuß­ten Seelenleben der falschen Mystik hat die Erkenntnis-tätigkeit, durch die ich die «Geisteswissenschaft» errichtet denke, nichts gemein. Leider verwechseln die Gegner und auch diejenigen, welche Anhänger dieser Geisteswissenschaft sein wollen, diese nur allzuoft mit der falschen Mystik, ob­wohl diese Verwechslung diejenige einer Sache mit ihrem Gegenteile ist. Wer nicht an Worten klebt und aus Worten willkürliche Entstellungen drechselt, der wird in meinen Schriften überall ersehen, wo ich auf das relativ Berech­tigte der Definition der Mystik abziele, und wo ich die Verworrenheiten falscher Mystik ablehne.

Wird der Erkenntnisvorgang als Entwickelungserlebnis des Menschenwesens erkannt, dann kann man nicht mehr die Möglichkeit zugeben, durch Begriffe und Ideen von den Wahrnehmungen der Sinne auf eine jenseits aller Bewußt­heit liegende Wirklichkeit durch bloße logische Schlußfolge­rung oder Aufstellung von Hpothesen hinzuweisen. Von einer über die Sinneswahrnehmungen hinaus liegenden Welt kann dann nur in dem Sinne gesprochen werden, daß eine solche Welt dem «schauenden Bewußtsein» sich so offenbart wie die sinnenfällige Welt der Sinneswahrnehmung. Indem

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ich diese Anschauung zu der meinigen machen mußte, stand ich in einem vollkommenen Gegensatz zu denjenigen Philosophien, die ein Erleben der über die Sinneswelt hinaus liegenden Wirklichkeitsgebiete ablehnen und höchstens zu­geben wollen, daß eine logische Notwendigkeit vorliege, hy­pothetisch eine der bewußten weltfremde Wirklichkeit an­zunehmen. Eine besonders charakteristische Stellung nimmt innerhalb dieser Philosophien Eduard von Hartmanns «transzendentaler Realismus» ein. Von seinem Gesichts­punkt aus erscheint das gegebene Weltbild des Menschen, einschließlich aller im Denken erringbaren Erlebnisse als Ergebnis der subjektiven menschlichen Organisation. Doch betont Eduard von Hartmann die aus der Natur dieses Weltbildes selbst folgende Notwendigkeit, hypothetisch von dem Subjektiven, Bewußten auf eine objektive Wirk­lichkeit zu schließen, die aber entschieden im Felde des Unbewußten verbleibend gedacht werden muß. Diese Art, zu einer Metaphysik zu gelangen, versuche ich in meiner «Philosophie der Freiheit» als eine irrtümliche zu kenn­zeichnen. Ich strebte nach einem einheitlichen Weltbilde und schrieb die scheinbare dualistische Gestaltung desselben dem Umstande zu, daß der Mensch im bloßen Sinneswahr­nehmen eine unvollkommene Form dieses Bildes aus dessen ganzem Wesen herausgliedert, um die Unvollkommenheit im weiteren Fortschritt des Erkennens wieder zu überwin­den. Eduard von Hartmann behauptet einen erkenntnis-theoretischen Dualismus, der für das menschliche Bewußt­sein nicht zu überwinden ist, und der alle Ideen über die Weltwesenheit zu solchen macht, die im Sinne des Dualis­mus gedacht sind. Für meinen Gesichtspunkt ist das Meta­physische dasjenige, das nicht seiner Artung nach unbewußt

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ist, sondern von dem Träger des Bewußtseins nur so lange nicht geschaut wird, als nicht die Erkenntniskräfte bloß­gelegt sind, welche das über die Sinneswahmehmung hin­aus Liegende ebenso Erlebnis werden lassen, wie es die physische Wirklichkeit für die Sinne ist. Es sollte kaum nötig sein, ausdrücklich zu betonen, daß derjenige, welcher in dieser Art von dem Übersinnlichen spricht, nicht behaup­ten will, es offenbaren sich mit der Betätigung des «schau­enden Bewußtseins» dem Menschen mit einem Schlage alle Geheimnisse der geistigen Welt. Es wird nur die Erkennt­nis über die Sinneswelt hinaus erweitert in einen Bereich hinein, der für diese Sinneswelt und für das menschliche Leben in dieser Welt erklärende Untergründe darbietet. Das Wesentliche ist, daß man in die Daseinsform des Gei­stigen eintritt, auch wenn man der Überzeugung sein muß, daß der zunächst zu erkennende Teil der geistigen Welt nur ein kleines Gebiet in ihrem weiten Umkreis ist. Auch sollte nicht verkannt werden, daß die Erforschung der Einzelhei­ten der Geisteswelt eine wahrhaftig nicht geringere Sorgfalt und wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit erfordert als die­jenige der physischen Welt.

Mir schien bei Ausarbeitung meiner beiden auf Erkennt­nistheorie gebauten Schriften die Ablehnung jeglicher bloß erdachter, von nicht geistig erlebbarem Inhalt erfüllten Metaphysik deshalb an Eduard von Hartmanns transzen­dentalen Realismus anknüpfen zu sollen, weil ich warme Anerkennung hatte für die Art, wie abgesehen von dieser erkenntnistheoretischen Grundansicht dieser Philosoph ver­stand, den Geist in der Form der Idee in allen Welt- und Lebenserscheinungen aufzuzeigen. Was mich zwang, Hegels Philosophie stets in ihrem vollen Werte anzuerkennen, und

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doch das eigene Erkennen über sie hinauszuführen, das traf für mich in anderer Beziehung auch für Eduard von Hart­mann zu. Bei Hegel sah ich, wie er den Inhalt des Den­kens in seiner geistigen Wirklichkeit erfaßt hatte, aber ihn doch nur in einer solchen Gestalt zu halten vermochte, daß das Denken nicht zum lebendigen Anfangsglied in einem geistigen Erkenntnisvorgang werden konnte, der sich die übersinnliche Welt erschließt. Bei Hegel ist die Idee zwar geistige Wirklichkeit; aber als solche doch nur Ausdrucks-mittel für die sinnenfällige Welt und das Leben in ihr. Des­halb hat die Hegelsche Philosophie über eine geistige Welt nichts zu sagen; ihr Inhalt ist nur die Natur- und Ge­schichtswelt.

Meine Lage gegenüber der Hartmannschen Philo­sophie war die, daß ich seiner idealistischen Beleuch­tung der sinnenfälligen Welt und des Menschenlebens in ihr in vielen Dingen zustimmen durfte; daß ich aber in seinen erkenntnistheoretischen Grundansichten nicht nur einen theoretischen Gegensatz zu dem sehen mußte, was mir Wahrheit ist, sondern eine Vorstellungsart, die dem menschlichen Denken praktisch die Möglichkeit benimmt, die Erkenntniskräfte des «schauenden Bewußtseins», die in der Seele bereitliegen, zu entdecken und anzuwenden. Des­halb durfte ich im zweiten Bande meiner Ausführungen über Goethes naturwissenschaftliche Schriften (in Kürsch­ners deutscherNationalliteratur) 1887 über die idealistische Beleuchtung der Sinnes- und Geschichtswelt durch Eduard von Hartmann aus ehrlichster Überzeugung Sätze schreiben wie diese: «Mit seinem objektiven Idealismus steht Eduard von Hartmann ganz auf dem Boden der Goetheschen Welt­anschauung... Hartmann will zwar kein bloßer Idealist

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sein. Allein, wo er behufs der Welterklärung etwas Positi­ves braucht, ruft er doch die Idee zu Hilfe . . . Mit der Unterscheidung von Bewußtem und Unbewußtem ist aber nicht viel getan... Man muß der Idee in ihrer Objektivi­tät, in ihrer vollen Inhaltlichkeit zu Leibe gehen, man muß nicht nur darauf sehen, daß die Idee unbewußt wirksam ist, sondern was dieses Wirksame ist. Wäre Hartmann dabei stehengeblieben, daß die Idee unbewußt ist, und hätte er aus diesem Unbewußten - also aus einem einseitigen Merk­mal der Idee - die Welt erklärt, er hätte zu den vielen Systemen, die die Welt aus irgendeinem abstrakten For­melprinzip ableiten, ein neues einseitiges System geschaffen. Und man kann sein erstes Hauptwerk nicht ganz von die­ser Einseitigkeit freisprechen. Aber Eduard von Hartmanns Geist wirkt zu intensiv, zu umfassend und tiefdringend, als daß er nicht erkannt hätte: die Idee darf nicht bloß als Unbewußtes gefaßt werden, man muß sich vielmehr in das vertiefen, was man als unbewußt anzusprechen hat, muß über diese Eigenschaft hinaus auf dessen konkreten Inhalt gehen und daraus die Welt der Einzelerscheinungen ableiten.»

Da ich in solcher Gesinnung und in einem solchen wissen­schaftlichen Gegensatz zu Eduard von Hartmann mich be-fand, schien mir 1894 sein Gesamturteil über meine «Philo­sophie der Freiheit» bedeutsam. Bei der Stellung, welche Hartmanns Philosophie in der geistigen Welt einnimmt, kann es wohl nicht anstößig erscheinen, daß ich dieses Ur­teil, das damals nur für mich bestimmt war, hier mitteile und bespreche. Dies darf um so mehr als berechtigt erschei­nen, da man aus dem Vorangehenden die Schätzung erkennt, die ich der Persönlichkeit und philosophischen Bedeutung

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Hartmanns entgegenbringe. Ich hatte damals in diesem Ur­teile schon im Keime alle die Schwierigkeiten vor dem gei­stigen Auge, denen meine Weltanschauung innerhalb des zeitgenössischen Denkens begegnen mußte. Alle Verwechs­lungen mit andern Vorstellungsarten, die ich selber ablehne und mit deren unabsichtlicher - und jetzt auch absichtlicher -Bekämpfung man auch mein Streben zu treffen meint: sie alle waren im Grunde mit Hartmanns Urteil vorweg ge­nommen. Aber ich hatte eben das Urteil einer von mir ge­schätzten Persönlichkeit vor Augen, deren wissenschaft­lichen Ernst ich anerkennen konnte, trotzdem sie meine Vorstellungsart ablehnte. Eduard von Hartmann schrieb: «In diesem Buche ist weder Humes in sich absoluter Phäno­menalismus mit dem auf Gott gestützten Phänomenalismus Berkeleys versöhnt, noch überhaupt dieser immanente oder subjektive Phänomenalismus mit dem transzendentalen Panlogismus Hegels, noch auch der Hegelsche Panlogismus mit dem Goetheschen Individualismus. Zwischen je zweien dieser Bestandteile gähnt eine unüberbrückbare Kluft. Vor allem aber ist übersehen, daß der Phänomenalismus mit unausweichlicher Konsequenz zum Solipsismus, absoluten Illusionismus und Agnostizismus führt, und nichts getan, um diesem Rutsch in den Abgrund der Unphilosophie vor­zubeugen, weil die Gefahr gar nicht erkannt ist.» - Was ist nun in meiner «Philosophie der Freiheit» in bezug auf das­jenige angestrebt, das Eduard von Hartmann mit diesem Urteil zu treffen vermeint? Der absolute Phänomenalismus, wie er in Humes Philosophie sich auslebte, erscheint über­wunden durch den Versuch einer solchen Kennzeichnung des Denkens, daß durch dieses dem sinnenfälligen Welt-bilde sein phänomenaler Charakter benommen und es zur

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Erscheinung einer objektiven Welt gemacht wird; Berkeleys subjektiver Phänomenalismus verliert vor dieser Auffassung seine Berechtigung, indem gezeigt wird, daß im Den­ken der Mensch mit der objektiven Welt zusammenwächst und daher die Behauptung allen Sinn verliert, die Weltphänomene seien außerhalb des Wahrgenommenwerdens nicht vorhanden; Hegels Panlogismus gegenüber wird im Denken das Anfangsglied für rein geistige Erkenntnisfähig­keiten des Menschen gesehen, nicht ein letztes Glied des gewöhnlichen Bewußtseins, das den sinnenfälligen Welt-inhalt nur in schattenhaften Ideen begrifflich abbildet; Goethes Individualismus wird dadurch auszubauen ver­sucht, daß gezeigt wird, wie das Begreifen der menschlichen Freiheit nur einer Weltanschauung möglich ist, die sich auf die erkenntnistheoretischen Grundlagen der «Philosophie der Freiheit» stützt. Nur wenn die objektive Wesenheit der Gedankenwelt erkannt wird und dadurch die seelische Ver­bindung des Menschen mit ethischen Motiven als übersub­jektives Erlebnis zur Anschauung kommt, kann das Wesen der Freiheit erfaßt werden. In dieser Erfassung versuchte ich denn auch die Darstellung meines Buches gipfeln zu lassen. Der Vorwurf des Solipsismus ist meiner Weltauffas­sung gegenüber deshalb unbegründet, weil diese dem Den­ken seine Stellung im objektiven Weltengange zuweist, also ganz unmittelbar auf dasjenige Erkenntnismittel hindeutet, das den Fall in den Solipsismus unmöglich macht. Auf die Erwähnung der Gefahr des absoluten Illusionismus und Agnostizismus kann meiner «Philosophie der Freiheit» gegenüber nur derjenige verfallen, der das lebendige Den­ken, das ich kennzeichne, in seinem Wirklichkeitswert ver­kennt. und dem es deshalb unbewußt geschieht, daß er

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seine Anschauung vom Denken mir unterschiebt. Sieht man in dem Denken nur, was Eduard von Hartmann darin sieht, so ergibt sich in der Tat bei Ablehnung des transzen­dentalen Realismus der Illusionismus und Agnostizismus, während meine Anschauung vom Denken gerade dazu führt, durch dessen Kraft und Geltungsbereich allen Illusio­nismus und Agnostizismus unmöglich zu machen. Und am Schlusse seines Urteiles ahnt Eduard von Hartmann, daß meine erkenntnistheoretische Grundanschauung aus dem Begrifflichen als bloßem Abbild der sinnenfälligen und ge­schichtlichen Welt hinausführt. Für ihn hört an diesem Punkte alle Philosophie und alles mögliche Weltanschau­ungsstreben auf; für mich beginnt da der Eintritt der menschlichen Erkenntniskräfte in die Welt der Geistes­wissenschaft. Er nennt das den «Rutsch in den Abgrund der Unphilosophie»; was ich so kennzeichnen muß, wie ich es in meinem Buche «Vom Menschenrätsel» getan habe, als den Aufstieg vom gewöhnlichen zum «schauenden» Bewußt­sein.

Daß sich meine Auseinandersetzungen mit der Weltan­schauung Friedrich Nietzsches und Haeckels, wie man sie in meinen Schriften aus den neunziger Jahren findet, in geradem Fortgang auf dem Wege befinden, der von meiner «Philosophie der Freiheit» zu der von mir vertretenen «Geisteswissenschaft» oder «Anthroposophie» führt, werde ich später einmal zur Darstellung bringen. Wessen Sinn nach Worten geht und danach, mit Worten ein System des Widerspruchs - vielleicht ein recht gehässiges System - zu konstruieren, der wird in dem Aufbau einer Weltanschau­ung recht leicht nach Widersprüchen angeln können, wenn diese Weltanschauung selbst nicht auf Worte und Wort- Definitionen

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formelhaft sich stützt, sondern aus dem vollen Leben mit all seinen Widersprüchen schöpfen möchte. Ein solcher Widerspruchangler könnte ja der Welt selbst ihre Widersprüche vorhalten. An einer entsprechenden Einschät­zung dessen, was er Widersprüche nennt, hindert allerdings manchen Gegner meiner Weltanschauung seine nur zu deut­lich ersichtliche Unbekanntschaft mit der Entwickelung der philosophischen Wissenschaft. Mir können Angriffe auf meine Weltanschauung auch von zweifelhafter Seite nicht unbegreiflich erscheinen, da ich vor langer Zeit das bespro­chene Urteil von ernster und von mir hochgeschätzter Seite vor mir hatte und mich damit all den Schwierigkeiten gegenübergestellt sah, die diese Weltanschauung in vielen Kreisen finden muß.

DIE CHYMISCHE HOCHZEIT DES CHRISTIAN ROSENKREUTZ

#G035-1965-SE332 - Philosophie und Anthroposophie (1904 - 1918

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DIE CHYMISCHE HOCHZEIT DES CHRISTIAN ROSENKREUTZ

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Wer das Wesen der Erlebnisse kennt, welche die Menschen­seele macht, wenn sie sich die Eingangspforten zur geistigen Welt eröffnet hat, der braucht nur wenige Seiten der «Chy-mischen Hochzeit Christiani Rosencreutz Anno 1459 » zu lesen, um zu erkennen, daß die Darstellung des Buches sich auf wirkliche geistige Erfahrungen bezieht. Subjektiv er­sonnene Bilder verraten sich als solche demjenigen, der Ein­sicht in die geistige Wirklichkeit hat, weil sie weder in ihrer eigenen Gestalt noch in der Art, wie sie aneinandergereiht werden, dieser Wirklichkeit vollkommen entsprechen kön­nen. - Damit scheint der Gesichtspunkt gegeben, von dem aus die «Chymische Hochzeit» zunächst betrachtet werden kann. Man kann den geschilderten Erlebnissen gewisser­maßen seelisch nachgehen und erforschen, was die Einsicht in geistige Wirklichkeiten zu ihnen zu sagen hat. Unbeküm­mert um alles, was über dieses Buch geschrieben worden ist, soll der damit gekennzeichnete Gesichtspunkt hier zunächst eingenommen werden. Aus dem Buche selbst soll geholt werden, was es sagen will. Dann erst kann über Fragen gesprochen werden, welche viele Betrachter stellen, bevor dafür eine genügende Grundlage geschaffen ist.

In sieben seelische Tagewerke sind die Erlebnisse des Wanderers zur «Chymischen Hochzeit» gegliedert. Der erste Tag beginnt damit, daß dem Träger der Erlebnisse Ima­ginationen vor die Seele treten, die seinen Entschluß reifen lassen, die Wanderung zu beginnen. Die Schilderung ist so gehalten, daß sie besondere Sorgfalt des Darstellers erken­nen

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läßt, zu unterscheiden zwischen dem, was der Träger der Erlebnisse zur Zeit, da er ein «Gesicht» hat, von dem­selben versteht, und dem, was seiner Einsicht noch verbor­gen ist. Ebenso ist unterschieden, was aus der geistigen Welt an den Schauenden herantritt, ohne daß sein Wille daran beteiligt ist, und was durch diesen Willen herbeige­führt wird. Das erste Erlebnis ist kein willkürlich herbei-geführtes und nicht ein solches, das der Schauende völlig versteht. Es bringt ihm die Möglichkeit, in die geistige Welt einzutreten. Es trifft ihn aber nicht unvorbereitet. Vor sie­ben Jahren ist ihm angekündigt worden durch ein «leib­liches Gesicht», daß er zur Teilnahme an der «Chymischen Hochzeit» werde berufen werden. Der Ausdruck #SE035-334

welches Verhältnis sie im Traume zu einer Wirklichkeit hat, kann sie zunächst nicht durchschauen. Der Wanderer zur «Chymischen Hochzeit» hatte schon zur Zeit des «leiblichen Gesichts», an das er sich erinnert, noch ein anderes als dieses gewöhnliche Bewußtsein. Er hat erfahren, daß die Seele wahrnehmen kann> auch wenn sie gegenüber den Sinnen in einem solchen Verhältnisse ist wie sonst im Schlafe. Der Begriff der vom Leibe getrennt lebenden und in diesem Leben von einer Wirklichkeit wissenden Seele ist für ihn ein gültiger geworden. Er weiß, die Seele kann ihr eigenes Wesen so erkräftigen, daß sie in ihrer Getrenntheit vom Leibe mit einer geistigen Welt so vereint zu sein vermag, wie durch die leiblichen Sinnesorgane mit der Natur. Daß eine derartige Vereinigung stattfinden kann, daß sie ihm bevorstehe, dies hat er durch das «leibliche Gesicht» erfah­ren. Das Erlebnis selbst dieser Vereinigung konnte ihm durch dieses Gesicht nicht werden. Auf das hat er gewartet. Es stellt sich in seinen Vorstellungen als die Teilnahme an der «Chymischen Hochzeit» dar. So ist er vorbereitet auf ein erneutes Erleben in der geistigen Welt.

In einer Zeit gehobener Seelenstimmung, am Vorabend des Osterfestes, tritt dieses erneute Erleben ein. Der Träger der Erlebnisse fühlt sich wie von Sturm umbraust. So kün­digt sich ihm an, daß er eine Wirklichkeit erlebt, deren Wahrnehmung nicht durch den physischen Leib vermittelt ist. Er ist aus dem Gleichgewichtszustande gegenüber den Weltenkräften herausgehoben, in den der Mensch durch seinen physischen Leib versetzt ist. Seine Seele lebt nicht das Leben dieses physischen Leibes mit; sie fühlt sich nur verbunden mit dem (ätherischen) Bildekräfteleib, der den physischen durchsetzt. Dieser Bildekräfteleib ist aber nicht

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in das Gleichgewicht der Weltenkräfte eingeschaltet, son­dern in die Beweglichkeit derjenigen übersinnlichen Welt, welche der physischen zunächst steht, und die von dem Menschen zuerst wahrgenommen wird, wenn er sich die Pforten des geistigen Schauens eröffnet hat. Nur in der physischen Welt erstarren die Kräfte zu festen, in Gleich­gewichtszuständen sich auslebenden Formen; in der geisti­gen Welt herrscht fortdauernde Beweglichkeit. Das Hin­genommen -Werden von dieser Beweglichkeit kommt dem Träger der Erlebnisse als die Wahrnehmung des brausenden Sturmes zum Bewußtsein. - Aus dem Unbestimmten dieser Wahrnehmung löst sich heraus die Offenbarung eines Geist-Wesens. Diese Offenbarung geschieht durch eine bestimmt gestaltete Imagination. Das Geistwesen erscheint in blauem, sternbesetztem Kleide. Man muß von der Schilderung die­ses Wesens alles fernhalten, was an symbolischen Ausdeu­tungen dilettantische Esoteriker gerne zur «Erklärung» herbeitragen. Man hat es zu tun mit einem nicht-sinnlichen Erlebnis, das der Erlebende durch ein Bild für sich und andere zum Ausdrucke bringt. Das blaue, sternbesetzte Kleid ist so wenig Sinnbild etwa für den blauen Nacht-himmel oder ähnliches, wie die Vorstellung des Rosen-stockes im gewöhnlichen Bewußtsein Sinnbild für die Abendröte ist. Beim übersinnlichen Wahrnehmen ist eine viel regere, bewußtere Betätigung der Seele vorhanden als beim sinnlichen. - In dem Falle des Wanderers zur «Chymi­schen Hochzeit» wird diese Betätigung durch den Bilde­kräfteleib ausgeübt, wie im Falle des physischen Sehens durch den sinnlichen Leib vermittels der Augen. Diese Tä­tigkeit des Bildekräfteleibes läßt sich vergleichen mit der Erregung von ausstrahlendem Licht. Solches Licht trifft auf

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das sich offenbarende Geistwesen. Es wird von diesem zurückgestrahlt. Der Schauende sieht also sein eigenes aus­gestrahltes Licht, und hinter dessen Grenze wird er das be­grenzende Wesen gewahr. Durch dieses Verhältnis des Geistwesens zu dem Geisteslicht des Bildekräfteleibes tritt das «Blau» auf; die Sterne sind die nicht rückstrahlenden, son­dern von dem Wesen aufgenommenen Teile des Geistes-lichtes. Das Geistwesen hat objektive Wirklichkeit; das Bild, durch das es sich offenbart, ist eine durch das Wesen bewirkte Modifikation in der Ausstrahlung des Bildekräfte-leibes. Auch diese Imagination darf nicht mit einer Vision verwechselt werden. Das subjektive Erleben des Trägers einer solchen Imagination ist ein völlig anderes als das­jenige des Visionärs. Der Visionär lebt in seiner Vision durch einen inneren Zwang; der Träger der Imagination fügt diese zu dem bezeichneten geistigen Wesen oder Vor­gang mit derselben inneren bewußten Freiheit hinzu, mit der ein Wort oder ein Satz als Ausdruck für einen sinn­lichen Gegenstand gebraucht wird. Es kann derjenige, wel­cher keine Erkenntnis von dem Wesen der geistigen Welt hat, auf den Gedanken kommen, daß es völlig unnötig sei, diese in bildlosen Erfahrungen sich offenbarende geistige Welt in Imaginationen zu kleiden, die den Schein des Visionären hervorrufen. Dem ist zu erwidern, daß zwar nicht die Imagination das Wesenhafte ist, das geistig wahrgenom­men wird, daß sie aber das Mittel ist, durch das dieses Wesenhafte in der Seele sich offenbaren muß. So wenig man eine sinnliche Farbe ohne bestimmte Tätigkeit eines Auges wahrnehmen kann, so wenig kann man ein Geistiges erleben, ohne daß man von innen heraus ihm mit einer bestimmten Imagination begegnet. Dies hindert nicht daran,

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bei der Darstellung geistiger Erlebnisse, die durch Ima­gination gemacht sind, sich reiner Begriffe, wie sie in der Naturwissenschaft oder Philosophie üblich sind, zu bedie­nen. Die vorliegenden Ausführungen bewegen sich in sol­chen, um den Inhalt der «Chymischen Hochzeit» nachzu­zeichnen. Doch war im siebzehnten Jahrhundert, als J. V. Andreae das Buch schrieb, es noch nicht üblich, sich in einem weiteren Umfang solcher Begriffe zu bedienen; man stellte da unmittelbar die Imaginationen hin, durch die man die übersinnlichen Wesen und Vorgänge erlebt hatte.

In der sich ihm offenbarenden Geistgestalt erkennt der Wanderer zur «Chymischen Hochzeit» die Wesenheit, die ihm zu seiner Wanderung den rechten Impuls geben kann. Er fühlt sich durch die Begegnung mit dieser Gestalt be­wußt in der geistigen Welt stehend. Die Art, wie er in dieser steht, weist auf die besondere Richtung seines Er­kenntnisweges hin. Er wandelt nicht in der Richtung des Mystikers im engeren Sinne, sondern in derjenigen des Alchimisten. Man halte, um die folgende Darstellung nicht mißzuverstehen, von dem Begriffe «Alchimie» alles fern, was sich durch Aberglauben, Schwindel, Abenteurersucht und dergleichen an ihn geheftet hat. Man denke an das­jenige, was die ehrlichen, vorurteilslosen Wahrheitssucher, die diesen Begriff gebildet haben, erstrebten. Sie wollten gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen den Dingen der Natur erkennen, die nicht von der Naturtätigkeit selbst bedingt sind, sondern von einem geistig Wesenhaften, das durch die Natur sich offenbart. Sie suchten übersinnliche Kräfte, die in der sinnlichen Welt wirksam sind, sich aber nicht auf sinnliche Art erkennen lassen. Auf den Weg solcher Forscher begibt sich der Wanderer der «Chymischen

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Hochzeit». Er ist in diesem Sinne Repräsentant alchym: sti­schen Suchens. Als solcher ist er überzeugt, daß die über­sinnlichen Kräfte der Natur sich vor dem gewöhnlichen Bewußtsein verbergen. Er hat in seinem Innern Erlebnisse herbeigeführt, die durch ihre Wirkung die Seele befähigen, den Bildekräfteleib als Wahrnehmungsorgan zu gebrau­chen. Durch dieses Wahmehmungsorgan gelangt er zur An­schauung der übersinnlichen Naturkräfte. In einer geistigen Daseinsform, die außer dem Bereich der sinnlichen Wahr­nehmung und der gewöhnlichen Verstandestätigkeit erlebt wird, will er zuerst die außermenschlichen übersinnlichen Kräfte der Natur erkennen, um dann, mit der Erkenntnis dieser Kräfte ausgerüstet, die wahre Wesenheit des mensch­lichen Leibes selbst zu durchschauen. Er glaubt, daß man durch eine Erkenntnis, die von der Seele im Verein mit dem vom physischen Organismus unabhängig betätigten Bilde­kräfteleib gewonnen wird, die menschliche Leibeswesenheit durchschauen und dadurch dem Geheimnis nahe kommen kann, welches das Weltall durch diese Wesenheit auswirkt. Für die gewöhnliche sinnliche Wahrnehmung ist dieses Ge­heimnis verhüllt; der Mensch lebt in demselben; er durch­schaut aber das Erlebte nicht. Von der übersinnlichen Er­kenntnis der Natur ausgehend, wollte der Wanderer zur «Chymischen Hochzeit» zuletzt zum Anschauen der über-sinnlichen Wesenheit des Menschen gelangen. Durch diesen Forschungsweg ist er Alchimist, im Gegensatz zu dem Mystiker im engeren Sinne. Auch dieser strebt nach einem anderen Erleben der Menschenwesenheit, als sie durch das gewöhnliche Bewußtsein möglich ist. Aber er wählt nicht den Weg, der zu einem vom physischen Leibe unabhängigen Gebrauch des Bildekräfteleibes führt. Er geht von dem unbestirnmten

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Gefühle aus, daß eine innigere Durchdringung des physischen Leibes mit dem Bildekräfteleib, als die des gewöhnlichen wachen Lebens ist, von der Gemeinschaft mit dem sinnlich Wesenhaften hinwegführt und zum Zusam­mensein mit dem geistig Wesenhaften des Menschen hinge-leitet. Der Alchimist strebt danach, sich mit seinem be­wußten Wesen aus dem gewöhnlichen Zusammenhang des Leiblichen herauszuziehen und in die Welt einzutreten, welche als «Geistiges der Natur» hinter dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmungswelt liegt. Der Mystiker ver­sucht, die bewußte Seele tiefer hineinzuführen in den Zu­sammenhang des Leiblichen, um selbstbewußt in dasjenige Gebiet der Leiblichkeit unterzutauchen, das sich dem Selbst­bewußtsein verbirgt, wenn dieses mit den Wahrnehmungen der Sinne erfüllt ist. Von diesem seinem Bestreben sucht der Mystiker sich nicht immer vollkommen Rechenschaft zu geben. Er wird nur zu oft bestrebt sein, seinen Weg in anderer Art zu kennzeichnen. Aber der Mystiker ist in den meisten Fällen ein schlechter Erklärer seines eigenen Wesens. Es hängt dies damit zusammen, daß sich an das geistige Suchen bestimmte Gefühle knüpfen. Weil die Seele des Mystikers dasjenige Zusammensein mit dem Leibe, das im gewöhnlichen Bewußtsein erlebt wird, überwinden will, bemächtigt sich ihrer durch eine Art Selbsttäuschung nicht nur eine gewisse Verachtung dieses Zusammenseins, son­dern eine solche des Leibes selbst. Daher will sie sich nicht eingestehen, daß ihr mystisches Erleben auf einem noch innigeren Zusammenhang mit dem Leibe beruht, als der­jenige ist, der das gewöhnliche Bewußtsein erzeugt. - Der Mystiker nimmt durch diesen innigeren Zusammenhang in sich eine Veränderung seines Vorstellens, Fühlens und

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Wollens wahr. Dieser Wahrnehmung gibt er sich hin, ohne Neigung zu entwickeln, sich über den Grund der Verände­rung aufzuklären. Diese Veränderung offenbart sich ihm, trotzdem er tiefer in die Leiblichkeit hinuntergestiegen ist, als eine Vergeistigung seines Innenlebens. Und sie als solche anzusehen, hat er ein volles Recht. Denn Sinnlichkeit ist nichts anderes als diejenige Daseinsform, welche die Seele erlebt, wenn sie in demjenigen Zusammenhange mit dem Leibe steht, der dem gewöhnlichen wachen Bewußtsein zu­grunde liegt. Verbindet sich die Seele inniger mit dem Leibe, als es in dieser Daseinsform der Fall ist, dann erlebt sie ein Verhältnis des Menschenwesens zur Welt, das geistiger ist als das durch die Sinne hergestellte. Die Vorstellungen, die dann entstehen, sind zu Imaginationen verdichtet. Diese Imaginationen sind Offenbarungen der Kräfte, mit denen der Bildekräfteleib an dem physischen Leib wirkt. Sie blei­ben dem gewöhnlichen Bewußtsein verborgen. Das Fühlen erkräftigt sich zu einer solchen Stärke, daß die ätherisch­geistigen Kräfte, die aus dem Kosmos in das Menschen-wesen wirkend hereinstrahlen, wie durch eine innere Be-rührung erlebt werden. Im Wollen weiß sich die Seele an ein geistiges Wirken hingegeben, das den Menschen einglie­dert in einen übersinnlichen Weltzusammenhang, aus dem er durch das subjektive Wollen des gewöhnlichen Bewußt­seins sich heraussondert. Wahre Mystik entsteht nur, wenn der Mensch sein vollbewußtes seelisches Wesen in den ge­kennzeichneten innigeren Zusammenhang mit dem Leibe hineinträgt und er nicht durch den Zwang der Leibesorgani­sation zu krankhaft visionärem oder herabgestimmtem Be­wußtsein getrieben wird. Echte Mystik ist bestrebt, das nach dem menschlichen Innern zu gelegene geistig Wesenhafte

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des Menschen, das von der Sinneswahrnehmung für das gewöhnliche Bewußtsein überdeckt wird, zu erleben. Echte Alchimie macht sich unabhängig von der sinnlichen Wahr­nehmung, um das außerhalb des Menschen vorhandene geistig Wesenhafte der Welt zu schauen, das von der Sinnes-wahrnehmung verdeckt wird. Der Mystiker muß vor sei­nem Eintreten in das Menschen-Innere seine Seele in eine solche Verfassung bringen, daß sie ihr Bewußtsein gegen­über dem erhöhten Gegendruck, den sie durch das innigere Zusammensein mit dem Leibe erfährt, nicht dem Herab-dämmern oder Auslöschen aussetzt. Der Alchimist bedarf vor seinem Betreten der hinter dem Sinnesgebiet liegenden Geistwelt einer Erkräftigung seines Seelenwesens, damit dieses sich nicht an die Wesen und Vorgänge dieser Welt ver­liert. Die Forschungswege des Mystikers und des Alchimisten liegen nach entgegengesetzten Richtungen. Der Mystiker geht unmittelbar in das eigene Geistwesen des Menschen hinein. Sein Ziel ist, was die Mystische Hochzeit genannt werden kann, die Vereinigung der bewußten Seele mit der eigenen geistigen Wesenheit. Der Alchimist will das Geist-gebiet der Natur durchwandeln, um nach der erfolgten Wanderung mit den in diesem Gebiet erworbenen Erkennt­niskräften das Geistwesen des Menschen zu schauen. Sein Ziel ist die «Chymische Hochzeit», die Vereinigung mit dem Geistgebiet der Natur. Nach dieser Vereinigung erst will er die Anschauung der Menschenwesenheit erleben.

Sowohl der Mystiker wie auch der Aldilmist erleben schon im Anfange ihrer Wege ein Geheimnis, das sich inner­halb des gewöhnlichen Bewußtseins seinem Wesen nach nicht durchschauen läßt. Es bezieht sich auf das Verhältnis von Menschenleib und Menschenseele. Der Mensch lebt, als

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seelisches Wesen, zwar in Wahrheit in der geistigen Welt; aber er hat auf der gegenwärtigen Entwicklungsstufe, die er innerhalb des Weltenwerdens einnimmt, keine eigene Orientierungsfähigkeit im Geistgebiet. Durch die Kräfte seines gewöhnlichen Bewußtseins kann er sein Verhältnis zu sich selbst und zur außermenschlichen Welt nur dadurch im Sinne der Wahrheit herstellen, daß der Leib ihm die Richtungen für die Seelenbetätigung anweist. Der Leib ist so in die Welt eingegliedert, daß diese Eingliederung der kosmischen Harmonie entspricht. Lebt die Seele innerhalb der Sinneswahrnehmung und der gewöhnlichen Verstandes-tätigkeit, so ist sie gerade mit derjenigen Stärke an den Leib hingegeben, durch die dieser seine Harmonie mit dem Welt­all auf sie übertragen kann. Hebt sich die Seele aus diesem Erleben nach der mystischen oder der alchimistischen Rich­tung heraus, so wird für sie nötig, Vorsorge zu treffen, damit sie die durch den Leib gewonnene Harmonie mit dem Weltall nicht verliere. Träfe sie diese Vorsorge nicht, so drohte ihr auf dem mystischen Wege der Verlust des geistigen Zusammenhanges mit dem Weltall; auf dem alchi­mistischen Pfade die Einbuße des Unterscheidungsvermö-gens für Wahrheit und Irrtum. Der Mystiker würde ohne diese Vorsorge durch den dichteren Zusammenhang mit dem Leib die Kraft des Selbstbewußtseins so verdichten, daß er von ihr überwältigt in dem Eigenleben nicht mehr das Weltleben miterfahren könnte. Dadurch würde er in den Bereich einer anderen geistigen Welt mit seinem Bewußt­sein eintreten, als die dem Menschen entsprechende ist. (Ich habe in meinen geisteswissenschaftlichen Schriften diese Welt die luziferische genannt.) Der Alchimist käme ohne nötige Vorsorge zu einer Entkräftung seines Unterscheidungsvermögens

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gegenüber Wahrheit und Täuschung. Im großen Zu­sammenhange des All ist die Täuschung eine Notwendig­keit. Der Mensch kann ihr auf seiner gegenwärtigen Ent­wicklungsstufe aber nicht verfallen, weil ihm das Gebiet der Sinneswahrnehmung Schutz gewährt. Wäre die Täu­schung nicht im Hintergrunde des menschlichen Welt-Erlebens, so könnte der Mensch nicht die verschiedenen Stufen seines Bewußtseins entwickeln. Denn die Täuschung ist die treibende Kraft dieser Bewußtseinsentwickelung. Auf der gegenwärtigen Stufe der menschlichen Bewußtseinsentwik­kelung muß die Täuschung zwar zur Entstehung des Be­wußtseins wirken; sie muß aber selbst im Unbewußten blei­ben. Denn träte sie in das Bewußtsein ein, so würde sie die Wahrheit überwältigen. Sobald nun die Seele auf dem alchymistischen Wege in das hinter der Sinneswahrneh­mung gelegene Geistgebiet eintritt, gerät sie in die Wirbel der Täuschung, innerhalb derer sie ihr Wesen nur in rechter Art bewahren kann, wenn sie aus dem Erleben in der Sin­neswelt ein genügend großes Unterscheidungsvermögen für Wahrheit und Täuschung mitbringt. Sorgte sie für ein sol­ches Unterscheidungsvermögen nicht, so würden sie die Wir­bel der Täuschung in eine Welt verschlagen, in der sie sich selbst verlieren müßte. (Ich habe in meinen geisteswissen­schaftlichen Schriften diese Welt die ahrimanische genannt.) -Der Mystiker hat nötig, bevor er seinen Weg antritt, die Seele in eine solche Verfassung zu bringen, daß das Eigen­leben nicht überwältigt werden kann; der Alchirnist muß den Sinn für die Wahrheit erkräftigen, damit er ihm nicht verlorengehe, auch wenn er nicht durch die Sinnes­wahrnehmung und den an diese gebundenen Verstand un­terstützt wird.

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Der Träger der Erlebnisse, die in der «Chymischen Hoch­zeit» geschildert sind, ist als Alchimist sich bewußt, daß er auf seinem Wege ein erstarktes Unterscheidungsvermögen für Wahrheit und Täuschung braucht. Nach den Lebens­verhältnissen, aus denen heraus er seinen alchymistischen Pfad antritt, sucht er seine Stütze aus der christlichen Wahr­heit zu gewinnen. Er weiß: was ihn mit Christus verbindet, hat schon innerhalb seines Lebens in der Sinnenwelt eine zur Wahrheit führende Kraft in seiner Seele zur Entfaltung ge­bracht, welche der Sinnesgrundlage nicht bedarf, die sich also auch bewähren kann, wenn diese Sinnesgrundlage nicht da ist. Mit dieser Gesinnung steht seine Seele vor dem Wesen im blauen Kleide, das ihn auf den Weg zur «Chymischen Hochzeit» weist. Dieses Wesen könnte zunächst ebensogut der Welt der Täuschung und des Irrtums wie derjenigen der Wahrheit angehören. Der Wanderer zur «Chymischen Hochzeit» muß unterscheiden. Aber sein Unterscheidungs-vermögen wäre verloren, der Irrtum müßte ihn über­wältigen, könnte er nicht im übersinnlichen Erleben er­innern, was ihn in der sinnlichen mit einer inneren Kraft an die Wahrheit bindet. Aus der eigenen Seele steigt auf, was in dieser durch Christus geworden ist. Und so wie sein übriges Licht, so strahlt der Bildekräfteleib dieses Christuslicht nach dem sich offenbarenden Wesen hin. Es bildet sich die rechte Imagination. Der Brief, der ihn auf den Weg zur «Chymischen Hochzeit» weist, enthält das Christuszeichen und die Worte: in hoc signo vinces. - Der Wanderer weiß: er ist durch eine Kraft, die nach der Wahrheit weist, mit dem erscheinenden Wesen verbunden. Wäre die Kraft, die ihn in die übersinnliche Welt geführt hat, eine zur Täu­schung neigende gewesen, so stünde er vor einer Wesenheit,

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die sein Erinnerungsvermögen für den in ihm lebenden Christusimpuls gelähmt hätte. Er würde dann nur der ver­führerischen Macht gefolgt sein, welche den Menschen auch dann anzieht, wenn die übersinnliche Welt ihm Kräfte ent­gegenführt, die seinem Wesen und Wollen verderblich sind.

Der Inhalt des Briefes, welcher dem Wanderer nach der «Chymischen Hochzeit» von dem ihm erscheinenden Wesen überreicht wird, enthält in der Ausdrucksweise des fünf­zehnten Jahrhunderts eine Kennzeichnung seines Verhält­nisses zur geistigen Welt, soweit ihm davon am Beginne des ersten Tages seiner Geisterlebnisse ein Bewußtsein auf­gegangen ist. Das Zeichen, welches den Worten beigegeben ist, bringt zum Ausdrucke, wie das gegenseitige Verhältnis von physischem Leib, Bildekräfteleib und Seelisch-Geisti­gem sich bei ihm gestaltet hat. Bedeutungsvoll für ihn ist, daß er sich sagen darf, diese Verfassung in seiner Menschen­Wesenheit stehe im Einklang mit den Verhältnissen im Weltall. Er hat in «fleißiger Nachrechnung und Kalkula­tion» seiner «annotierten Planeten» gefunden, daß diese Verfassung bei ihm in dem Zeitpunkte eintreten darf, in dem sie nunmehr stattfindet. Wer das hier in Betracht Kom­mende im Sinne der Torheiten mancher «Astrologen» an­sieht, der wird es mißverstehen, gleichgültig ob er sich als Gläubiger zustimmend oder als «Aufgeklärter» hohn­lächelnd dazu verhält. Der Darsteller der «Chymischen Hochzeit» hat aus guten Gründen dem Titel seines Buches die Jahreszahl ,459 hinzugefügt. Er war sich bewußt, daß die Seelenverfassung des Trägers der Erlebnisse zusammen-stimmen muß mit der Verfassung, bei der in einem be-stimmten Zeitpunkte das Weitwerden angelangt ist, wenn innere Seelenverfassung und äußerer Weltinhalt nicht eine

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Disharmonie ergeben sollen. Der von der gewöhnlichen Sinneswahrnehmung unabhängigen Seele muß der äußere übersinnliche Weltinhalt in Harmonie begegnen, wenn durch den Zusammenklang der beiden derjenige Bewußt-seinszustand entstehen soll, welcher die «Chymische Hoch­zeit» ausmacht. Wer glaubt, daß die Konstellation der « annotierten Planeten» eine geheimnisvolle Kraft enthält, welche den Erlebniszustand des Menschen bestimmt, der gliche demjenigen, welcher der Meinung wäre, die Zeiger-stellungen seiner Uhr hätten die Kraft, ihn zu einem Aus­gang zu veranlassen, den er aus seinen Lebensverhältnissen heraus zu einer bestimmten Stunde hat unternehmen müs­sen.

In dem Briefe wird auf drei Tempel verwiesen. Was mit diesen gemeint ist, wird von dem Träger der Erlebnisse in dem Zeitpunkte noch nicht verstanden, in dem er den Hin­weis erhält. Wer in der geistigen Welt wahrnimmt, muß wissen, daß ihm zuweilen Imaginationen zuteil werden, auf deren Verständnis er zunächst verzichten muß. Er muß sie als Imaginationen hinnehmen und als solche in der Seele ausreifen lassen. Während dieser Reifung bringen sie im Menschen-Innern die Kraft hervor, welche das Verständnis bewirken kann. Wollte sie der Beobachter in dem Augen­blicke sich erklären, in dem sie sich ihm offenbaren, so würde er dieses mit einer dazu noch ungeeigneten Verstan-deskraft tun und Ungereimtes denken. In der geistigen Er­fahrung hängt vieles davon ab, daß man die Geduld hat, Beobachtungen zu machen, sie zunächst einfach hinzuneh­men und mit dem Verstehen bis zu dem geeigneten Zeit­punkte zu warten. Was der Wanderer zur «Chymischen Hochzeit» am ersten Tage seiner Geist-Erlebnisse erfährt,

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bezeichnet er als ihm vor «sieben Jahren» angekündigt. Er durfte in dieser Zeit nicht über sein damaliges «Gesicht» eine verstandesmäßige Meinung sich bilden, sondern mußte warten, bis das «Gesicht» in seiner Seele so lange nach­gewirkt habe, daß er weiteres mit Verständnis erfahren konnte.

Die Erscheinung des Geistwesens im blauen, sternbesetz­ten Kleide und dieÜberreichung desBriefes sind Erlebnisse, welche der Wanderer zur «Chymischen Hochzeit» macht, ohne daß ein eigener freier Entschluß seiner Seele dazu führt. Er geht im weiteren dazu über, durch einen solchen freien Entschluß Erlebnisse herbeizuführen. Er tritt in einen schlafähnlichen Zustand ein; in einen solchen, der ihm Traumerfahrungen bringt, deren Inhalt Wirklichkeitswert besitzt. Er kann dieses, weil er nach den Erlebnissen, die er hinter sich hat, durch den Schlafzustand in ein anderes Ver­hältnis zur geistigen Welt tritt, als das gewöhnliche ist. Die Seele des Menschen ist im gewöhnlichen Erleben während des Schlafzustandes nicht durch Bande an die geistige Welt geknüpft, die ihr Vorstellungen mit Wirklichkeitswert ge­ben können. Die Seele des Wanderers zur «Chymischen Hochzeit» ist aber verwandelt. Sie ist innerlich so erkräftigt, daß sie in die Traumerfahrung aufnehmen kann, was in ihrem Erleben Zusammenhang hat mit der geistigen Welt, in der sie sich befindet. Und sie erlebt durch eine solche Er­fahrung zunächst ihr eigenes, neu gewonnenes Verhältnis zu dem Sinnenleibe. Sie erlebt dieses Verhältnis durch die Ima­gination des Turmes, in dem der Träumende eingeschlossen ist, und aus dem er befreit wird. Sie erlebt bewußt, was unbewußt im gewöhnlichen Dasein erlebt wird, wenn die Seele einschlafend aus dem Gebiet der Sinneserfahrung in

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dasjenige übersinnlicher Daseinsform übergeht. Die Be-engungen und Nöte in dem Turm sind der Ausdruck für die Sinneserlebnisse nach dem Seelen-Inneren zu, wenn dieses sich dem Gebiet solcher Erlebnisse entwindet. Was die Seele in der Art an den Leib bindet, daß das Ergebnis dieser Bindung die Sinneserfahrung ist, dies sind die wachstum-fördernden Lebenskräfte. Unter dem alleinigen Einfluß die­ser Kräfte könnte nie Bewußtsein entstehen. Das bloß Le­bendige bleibt unbewußt. Zur Entstehung des Bewußtseins führen im Verein mit der Täuschung diejenigen Kräfte, welche das Leben vernichten. Trüge der Mensch nicht in sich, was ihn dem physischen Tode entgegenführt: er könnte zwar im physischen Leibe leben, aber in demselben nicht Bewußtsein entwickeln. Für das gewöhnliche Bewußtsein bleibt der Zusammenhang zwischen den tod-bringenden Kräften und diesem Bewußtsein verborgen. Wer wie der Träger der Erlebnisse in der «Chymischen Hochzeit» ein Be­wußtsein für die geistige Welt entwickeln soll, dem muß dieser Zusammenhang vor das «Geistesauge» treten. Er muß erfahren, daß mit seinem Dasein der #SE035-349

Bewußtsein verborgen ist. Dadurch ist er gereift für die Erfahrungen der nächsten Tage.

Im Beginne der Schilderung des zweiten Tages wird auch sogleich darauf hingewiesen, wie ihm die Natur in einer neuen Art erscheint. Aber er soll nicht nur in die Hin­tergründe der Natur schauen; er soll in die Beweggründe des menschlichen Wollens und Handelns tiefere Blicke tun, als sie dem gewöhnlichen Bewußtsein zuteil werden. Der Darsteller der «Chymischen Hochzeit» will sagen, daß die­ses gewöhnliche Bewußtsein nur die Außenseite des Wollens und Handelns kennenlernt, und daß auch die Menschen durch dieses Bewußtsein von ihrem eigenen Wollen und Handeln nur diese Außenseite gewahr werden. Die tiefer liegenden geistigen Impulse, die aus der übersinnlichen Welt heraus in dieses Wollen und Handeln sich ergießen, und die das menschliche soziale Zusammenleben gestalten, bleiben diesem Bewußtsein unbekannt. Der Mensch kann in dem Glauben leben, ein bestimmter Beweggrund führe ihn zu einer Handlung; in Wahrheit ist dieser Beweggrund nur die bewußte Maske für einen unbewußt bleibenden. Inso­fern die Menschen ihr soziales Zusammenleben nach dem gewöhnlichen Bewußtsein regeln, greifen in dieses Zusam­menleben Kräfte ein, die nicht im Sinne der Entwickelung liegen, welche der Menschheit heilsam sind. Diesen Kräften müssen andere entgegengestellt werden, welche durch über-sinnliches Bewußtsein erschaut und dem sozialen Wirken einverleibt werden. Zur Erkenntnis solcher Kräfte soll der Wanderer der «Chymischen Hochzeit» geführt werden. Dazu soll er die Menschen durchschauen nach dem Wesen, das wirklich in ihnen lebt, und das ein ganz anderes ist, als das in ihrem Glauben von sich vorhandene, oder das der

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Stelle entspricht, die sie in der vom gewöhnlichen Bewußt­sein bestimmten sozialen Ordnung einnehmen. - Das Bild der Natur, welches sich dem gewöhnlichen Bewußtsein offenbart, ist sehr verschieden von demjenigen einer sozialen Menschenordnung. Die übersinnlichen Naturkräfte, welche das geistige Bewußtsein kennenlernt, sind aber verwandt den übersinnlichen Kräften dieser sozialen Menschenord­nung. Der Alchimist strebt nach einem Naturwissen, das für ihn Grundlage wahrhaftiger Menschenkenntnis werden soll. Den Weg zu einem solchen Wissen muß der Wanderer zur «Chymischen Hochzeit» suchen. Doch nicht ein solcher Weg, sondern mehrere werden ihm gezeigt. Der erste führt in ein Gebiet, in welchem die in der Sinneswahrnehmung gewonnenen verstandesmäßigen Vorstellungen des gewöhn­lichen Bewußtseins in den Gang der übersinnlichen Erfah­rung einwirken, so daß durch das Zusammenwirken der beiden Erfahrungskreise die Einsicht in die Wirklichkeit ertötet wird. Der zweite stellt in Aussicht, daß der Seele die Geduld verloren gehen kann, wenn sie nach geistigen Offenbarungen sich langen Wartezeiten unterwerfen muß, um stets ausreifen zu lassen, was zunächst nur als unver­standene Offenbarung hingenommen werden darf. Der dritte fordert Menschen, welche durch ihre bereits unbe­wußt erlangte Entwickelungsreife in kurzer Zeit schauen dürfen, was andere in langem Ringen erwerben müssen. Der vierte bringt den Menschen zur Begegnung mit all den Kräften, die aus der übersinnlichen Welt heraus sein Be­wußtsein umnebeln und verangstigen, wenn dieses sich der Sinneserfahrung entreißen will. - Welcher Weg für die eine oder die andere Menschenseele zu nehmen ist, das hängt ab von der Verfassung, in welche sie durch die Erfahrungen

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des gewöhnlichen Bewußtseins gebracht ist, bevor sie die geistige Wanderung antritt. «Wählen» im gewöhnlichen Sinne kann sie nicht, denn ihre Wahl würde aus dem sinn­lichen Bewußtsein hervorgehen, dem eine Entscheidung in übersinnlichen Dingen nicht zusteht. Die Unmöglichkeit einer solchen Wahl sieht der Wanderer nach der «Chymi­schen Hochzeit» ein. Er weiß aber auch, daß seine Seele für ein Verhalten in einer übersinnlichen Welt genügend er­starkt ist, um zum Rechten veranlaßt zu werden, wenn eine solche Veranlassung aus der geistigen Welt selbst kommt. Die Imagination seiner Befreiung «aus dem Turm» gibt ihm dieses Wissen. Die Imagination des «schwarzen Raben», welcher der «weißen Taube» die ihr geschenkte Speise ent­reißt, ruft in der Seele des Wanderers ein gewisses Gefühl hervor; und dieses aus übersinnlichem, imaginativem Wahr­nehmen erzeugte Gefühl führt auf den Weg, auf den die Wahl des gewöhnlichen Bewußtseins nicht hätte leiten dür­fen. - Auf diesem Wege gelangt der Wanderer dahin, wo sich seinem Schauen Menschen und Menschenzusammen-hänge in dem Lichte zeigen sollen, das dem Erleben im Sinnesleibe nicht zugänglich ist. Er tritt durch eine Pforte in eine Behausung ein, innerhalb welcher sich die Menschen so verhalten, wie es den in ihre Seelen sich ergießenden über­sinnlichen Kräften entspricht. Er soll durch die Erfahrun­gen, die er innerhalb dieser Behausung macht, zu einem neuen Leben erwachen, das zu führen ihm obliegen wird, wenn von seinem übersinnlichen Bewußtsein ein genügend großes Gebiet dieser Erfahrungen umfaßt sein wird. - Es haben manche Beurteiler der «Chymischen Hochzeit Chri­stiani Rosencreutz» die Meinung geäußert, daß sie nichts weiter sei als ein satirischer Roman auf das Treiben gewisser

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Sektierer oder abenteuerlicher Alchimisten oder auf ähnliches. Vielleicht ergibt aber schon eine wirklich richtige Ansicht über die Erlebnisse, welche der Verfasser des Bu­ches seinen Wanderer «vor dem Tore» machen läßt, daß die satirische Stimmung, die das Werk in seinen weiteren Teilen zeigt, zurückzuführen ist auf Seelenerfahrungen, deren Ernst eine Gestalt annimmt, welche dem wie bloße Satire erscheint, der nur im Gebiete des Sinnes-Erlebens bleiben will. Es könnte gut sein, wenn dieses bei der Be­trachtung der weiteren Erlebnisse des Wanderers nach der «Chymischen Hochzeit» nicht unberücksichtigt bliebe.

Das zweite seelische Tagewerk bringt den Geistsucher, dessen Erfahrungen Johann Valentin Andreae schildert, zu Erlebnissen, durch die es sich entscheidet, ob er die Fähig­keit des wahren geistigen Schauens erlangen kann, oder ob eine Welt geistigen Irrtums seine Seele umfangen soll. Diese Erlebnisse kleiden sich für sein Wahrnehmungsvermögen in die Imaginationen des Eintrittes in ein Schloß, in dem die Welt der geistigen Erfahrung verwaltet wird. Solche Ima­ginationen kann nicht nur der echte, sondern auch der un­echte Geistsucher haben. Die Seele gelangt zu ihnen, wenn sie gewissen Gedankenrichtungen und Empfindungsweisen folgt, durch die sie eine Umgebung vorzustellen vermag, die ihr nicht durch sinnliche Eindrücke vermittelt ist. - An der Art, wie Andreae die Gesellschaft unechter Geistsucher dar­stellt, innerhalb welcher der «Bruder vom roten Rosen-kreuz» sich am «zweiten Tage» noch befindet, erkennt man, daß ihm das Geheimnis vom Unterschied des echten und des unechten Geistsuchers wohl bewußt ist. Wer die Möglich­keit hat, solche innere Zeugnisse von der geistigen Einsicht des Verfassers der «Chymischen Hochzeit» richtig zu beurteilen,

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der wird über den wahren Charakter dieser Schrift und über die Absicht Andreaes nicht im Zweifel sein kön­nen. Sie ist ganz offenbar geschrieben, um ernst strebenden Menschen Aufklärung zu geben über das Verhältnis der sinnenfälligen Welt zur geistigen und über die Kräfte, wel­che der Menschenseele für das soziale und sittliche Leben aus der Erkenntnis der Geisteswelt erwachsen können. Die unsentimentale, humoristisch-satirische Darstellungsart An­dreaes spricht nicht gegen, sondern für die tiefernste Ab­sicht. Nicht nur kann man innerhalb der scheinbar leicht wiegenden Szenen den Ernst wohl durchempfinden; man hat auch das Gefühl, Andreae schildert wie jemand, der das Gemüt seines Lesers nicht durch Sentimentalität gegen-über den Geheimnissen der Geistwelt umnebeln, sondern der bei dem Leser ein seelisch freies, selbstbewußt-ver­nünftiges Verhalten zu dieser Welt als Stimmung erzeugen will.

Hat sich jemand durch Gedankenverrichtungen und Empfindungsweisen in die Lage versetzt, in Imaginationen eine übersinnliche Welt vorstellen zu können, so ist mit einer solchen Fähigkeit noch keineswegs die Gewähr ver­bunden, daß die Jmaginationen dazu geeignet sind, ihn in ein wirkliches Verhältnis zur Geisteswelt zu bringen. Der Bruder vom Rosenkreuz sieht sich auf dem Felde des imagi­nativen Erlebens umgeben von zahlreichen Seelen, die zwar in Vorstellungen über die geistige Welt leben, die aber durch ihre innere Verfassung in eine wirkliche Berührung mit dieser Welt nicht kommen können. Die Möglichkeit die­ser wirklichen Berührung hängt davon ab, wie der Geist­sucher seine Seele gegenüber der sinnenfälligen Welt einstellt, bevor er an die Schwelle zur geistigen Welt herantritt.

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Diese Einstellung bringt in der Seele eine Verfassung her­vor, die über die Schwelle getragen wird und sich innerhalb der Geisteswelt so offenbart, daß diese den Suchenden auf­nimmt oder zurückweist. Die rechtmäßige Seelenverfassung kann nur dadurch erlangt werden, daß der Suchende bereit ist, alles vor der Schwelle abzulegen, das sein Verhältnis zur Welt innerhalb der sinnenfälligen Wirklichkeit be­stimmt. Diejenigen Gemütsimpulse müssen für das Verwei­len in der Geisteswelt unwirksam werden, durch die der Mensch aus der äußeren Lebenslage und dem äußeren Le­bensschicksale heraus den Charakter und die Geltung - das Gewicht - seiner Persönlichkeit empfindet. Ist schon diese Notwendigkeit, durch die sich der Mensch in eine Art seeli­scher Kindheit versetzt fühlt, schwierig zu erfüllen, so widerstrebt dem gewöhnlichen Empfinden noch mehr die andere, auch die Art des Urteilens zu unterdrücken, durch die man sich innerhalb der Sinneswelt orientiert. Man muß zu der Einsicht kommen, daß diese Urteilsart an der Sinnes-welt gewonnen ist, daß sie nur innerhalb dieser Geltung haben kann, und daß man bereit sein muß, die Art, wie man in der Geisteswelt zu urteilen hat, aus dieser selbst erst zu erfahren. Der Bruder vom Rosenkreuz entwickelt bei seinem Eintritte in das Schloß eine Seelenstimmung, die aus dem Gefühle von diesen Notwendigkeiten herrührt. Er läßt sich nicht zum Verbringen der ersten Nacht im Schlosse in ein Gemach führen, sondern verbleibt in dem Saal, bis zu dem er durch seine Teilnahme an den Vorgängen des zwei­ten Tages gelangt ist. Auf diese Art bewahrt er sich davor, seine Seele in ein Gebiet der geistigen Welt zu tragen, mit der sich die in seinem Innern wirksamen Kräfte noch nicht würdig verbinden können. Diejenige Seelenstimmung, die

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ihn davon abhält, weiter in den Geistesort einzudringen, als ihn der zweite Tag gebracht hat, ist in seiner Seele die Nacht hindurch wirksam und rüstet ihn mit einem Wahr­nehmungs- und Willensvermögen aus, die er am folgenden Tage braucht. Solche Eindringlinge, die mit ihm gekommen sind ohne die Fähigkeit derartiger Seelenstimmung, müssen am folgenden Tage von der geistigen Welt wieder ausge­stoßen werden, da sie die Frucht dieser Stimmung nicht ent­wickeln können. Ohne diese Frucht ist es ihnen unmöglich, die Seele durch wirkliche Innenkräfte mit derjenigen Welt zu verbinden, von der sie gewissermaßen nur äußerlich um-fangen werden.

Die Vorgänge an den Pforten, die Begegnung mit dem Löwen, das Lesen der Inschriften an den zwei Säulen des Eingangs und anderes von den Vorkommnissen des zweiten Tages wird von dem Bruder des Rosenkreuzes so durchlebt, daß man sieht, seine Seele webt in der gekennzeichneten Stimmung. Er erfährt dies alles so, daß ihm derjenige Teil davon unbekannt bleibt, der zu dem gewöhnlichen an die Sinneswelt gebundenen Verstand spricht, und daß er nur das aufnimmt, was zu den tieferen Gemütskräften in ein geistig anschauliches Verhältnis tritt. - Die Begegnung mit dem #SE035-356

Worte spricht: «Nun sei mir Gott willkommen, der Mensch, den ich längst gern gesehen hätte.» Der geistige Anblick des «grausamen Löwen» ist das Ergebnis der Seelenverfassung des Bruders vom Rosenkreuz. Diese Seelenverfassung spie­gelt sich in dem Bildekräfteteil der geistigen Welt und gibt die Imagination des Löwen. In dieser Spiegelung ist ein Bild des eigenen Selbstes des Beschauers gegeben. Dieser ist im Felde der geistigen Wirklichkeit ein anderes Wesen als im Gebiete des sinnenfälligen Daseins.Die im Bereiche der Sinneswelt wirksamen Kräfte formen ihn zum sinnlichen Menschenbilde. Im Umkreis des Geistigen ist er noch nicht Mensch; er ist ein Wesen, das sich imaginativ durch die Tierform ausdrücken läßt. Was im sinnenfälligen Dasein des Menschen an Trieben, an Affekten, an Gefühls- und Willensimpulsen lebt, das ist innerhalb dieses Daseins in Fesseln gehalten durch das an den Sinnesleib gebundene Vorstellungs- und Wahrnehmungsleben, die selbst ein Er­gebnis der Sinneswelt sind. Will der Mensch aus der Sinnes-welt heraustreten, so muß er sich bewußt werden, was an ihm außer dieser Welt nicht mehr durch die Gaben der Sinneswelt gefesselt ist und durch neue Gaben aus der Gei­steswelt auf den rechten Weg gebracht werden muß. Der Mensch muß sich schauen vor der sinnenfälligen Mensch­werdung. Dieses Schauen wird dern Bruder vom Rosen-kreuz durch die Begegnung mit dem Löwen, dem Bilde sei­nes eigenen Wesens vor der Menschwerdung, zuteil. - Nur um nicht Mißverständnisse hervorzurufen, mag hier an­gemerkt werden, daß die Daseinsform, in der sich die dem Menschen zugrunde liegende Wesenheit vor der Mensch­werdung auf geistige Art erblickt, nichts zu tun hat mit der Tierheit, mit welcher der landläufige Darwinismus die

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Menschenart durch Abstammung verknüpft denkt. Denn die Tierform des geistigen Anblickes ist eine solche, die durch ihre Wesenheit nur der Bildekräftewelt angehören kann. Innerhalb der Sinneswelt kann sie nur als unterbe­wußtes Glied der Menschennatur ein Dasein haben. - Daß er mit dem Teil seiner Wesenheit, der durch den Sinnesleib in Fesseln gehalten ist, noch vor der Menschwerdung steht, das drückt sich in der Seelenstimmung aus, in der sich der Bruder vom Rosenkreuz beim Eintritte in das Schloß be­findet. Was er zu erwarten hat, dem stellt er sich unbefan­gen gegenüber und trübt es sich nicht durch Urteile, die noch von dem an die Sinneswelt gebundenen Verstand her-stammen. Solche Trübung muß er später an denjenigen bemerken, die nicht mit einer rechtmäßigen Seelenstim­mung gekommen sind. Auch sie sind an dem «grausamen Löwen» vorbeigekommen und haben ihn gesehen, denn dies hängt nur davon ab, daß sie die entsprechenden Gedanken-richtungen und Empfindungsweisen in ihre Seele aufgenom­men haben. Aber die Wirkung dieses geistigen Anblickes konnte bei ihnen nicht stark genug sein, um sie zum Ab­legen der Urteilsart zu bewegen, an die sie für die Sinnes-welt gewohnt waren. Ihre Art zu urteilen erscheint dem Geistesauge des Bruders vom Rosenkreuz innerhalb der Geisteswelt als eitel Prahlerei. Sie wollen Platos Ideen sehen, Demokrits Atome zählen, geben vor, das Unsicht­bare zu sehen, während sie in Wahrheit nichts sehen. An diesen Dingen zeigt sich, daß sie die inneren Seelenkräfte nicht verbinden können mit der Welt, die sie umfangen hat. Ihnen fehlt das Bewußtsein von den wahren Anforde­rungen, welche die Geistwelt an den Menschen stellt, der sie schauen will. Der Bruder vom Rosenkreuz kann in den folgenden

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Tagen seine Seelenkräfte mit der geistigen Welt deswegen verbinden, weil er sich am zweiten Tage der Wahrheit gemäß eingesteht, das alles nicht zu sehen und nicht zu können, was die andern Eindringlinge vor sich oder andern behaupten, zu sehen oder zu können. Das Er­fühlen seiner Ohnmacht wird ihm später zur Macht des geistigen Erlebens. Er muß sich am Ende des zweiten Tages fesseln lassen, weil er die Fesseln der seelischen Ohnmacht gegenüber der Geisteswelt fühlen soll, bis diese Ohnmacht als solche so lange dem Lichte des Bewußtseins ausgesetzt war, als sie nötig hat, um sich selbst in Macht umzuwandeln.

Andreae will zeigen, wie die sieben «Wissenschaften und freien Künste», in die man im Mittelalter die innerhalb der Sinneswelt zu gewinnenden Erkenntnisse gliederte, als Vorbereitung zur Geist-Erkenntnis wirken sollen. Als diese sieben Erkenntnisglieder waren gewöhnlich angesehen:

Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Aus der Schilderung in der «Chy­mischen Hochzeit» erkennt man, daß Andreae sowohl den Bruder vom Rosenkreuz und seine rechtmäßigen Genossen wie auch die unrechtmäßigen Eindringlinge ausgerüstet denkt mit dem Wissen, das aus diesen Erkenntnisgliedern zu gewinnen ist. Allein der Besitz dieses Wissens ist bei den Ankömmlingen ein verschiedenartiger. Die rechtmäßigen, vor allen der Bruder vom Rosenkreuz, dessen Erlebnisse geschildert werden, haben sich dieses Wissen so angeeignet, daß sie durch dessen Besitz in der Seele die Kraft entwik­kelt haben, das Unbekannte, das für diese «freien Künste» noch verborgen bleiben muß, aus der Geisteswelt zu emp­fangen. Ihre Seele ist durch diese Künste so vorbereitet, daß sie nicht nur weiß, was durch sie gewußt werden kann, son­dern

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daß dieses Wissen ihr das Gewicht gibt, durch das sie Erfahrungen in der Geistwelt machen kann. Den unrecht­mäßigen Ankömmlingen ist das Gewicht dieser Künste nicht zum Seelengewicht geworden. Sie haben in ihrer Seele nicht dasjenige, was an wahrem Weltgehalt diese «sieben freien Künste» enthalten. Am dritten Tage nimmt der Bru­der vom Rosenkreuz an der Wägung der Seelen teil. Diese wird durch die Imagination einer Waage geschildert, durch welche die Seelen gewogen werden, um zu finden, ob sie sich zu ihrem eigenen Menschengewicht auch noch dasjenige hinzuerworben haben, das sieben anderen Gewichten gleich­kommt. Diese sieben Gewichte sind die imaginativen Re­präsentanten der «sieben freien Künste».

Der Bruder vom Rosenkreuz hat in seiner Seele nicht nur den Gehalt, der den sieben Gewichten gewachsen ist, son­dern auch noch einen Überschuß. Dieser kommt einer an­dern Persönlichkeit zugute, die für sich selbst nicht genügend befunden wird, die aber durch den wahren Geistsucher vor der Ausstoßung aus der Geistwelt bewahrt wird. Durch die Anführung dieses Vorganges zeigt Andreae, wie gut er mit den Geheimnissen der geistigen Welt vertraut ist. Von all den Kräften der Seele, die sich schon in der Sinneswelt ent­wickeln, ist die Liebe die einzige, die unverwandelt bleiben kann beim Übergange der Seele in die Geistwelt. Den schwächeren Menschen helfen nach der Kraft, die man selbst besitzt, das kann geschehen innerhalb der Sinneswelt, und es kann sich auch in gleicher Art vollziehen mit dem Besitze, der dem Menschen im Bereich des Geistigen wird.

Durch die Art, wie Andreae die Vertreibung der unrecht-mäßigen Eindringlinge aus der Geistwelt schildert, ist er­sichtlich, daß er durch seine Schrift seinen Zeitgenossen zum

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Bewußtsein bringen will, wie weit entfernt von dieser Geistwelt und somit von der wahren Wirklichkeit ein Mensch sein kann, der sich zwar bekannt gemacht hat mit allerlei Schilderungen des Weges nach dieser Welt, dem aber das Bewußtsein von einer wirklichen inneren Seelen-Umwandlung fremd geblieben ist. Ein unbefangenes Lesen der «Chymischen Hochzeit» verrät als eines der Ziele ihres Verfassers, seinen Zeitgenossen zu sagen, wie verderblich für die wahre Menschheitsentwickelung diejenigen sind, welche in das Leben eingreifen mit Impulsen, die auf un­rechtmäßige Art sich zu der Geistwelt in Beziehung setzen. Andreae erwartet gerade für seine Zeit rechte soziale, sitt­liche und andere menschliche Gemeinschaftsziele von einem rechtmäßigen Erkennen der geistigen Untergründe des Da­seins. Deshalb läßt er in seiner Schilderung auf alles das­jenige ein deutliches Licht fallen, das dem Menschheitsfort­schritt dadurch schädlich wird, daß es solche Ziele aus einer unrechtmäßigen Beziehung zur Geistwelt holt.

Am dritten Tag, nachdem er die Ausstoßung der unrecht­mäßigen Ankömmlinge erlebt hat, empfindet der Bruder des Rosenkreuzes, daß für ihn die Möglichkeit beginnt, die Verstandesfähigkeit in einer Art zu gebrauchen, die für die geistige Welt geeignet ist. Der Besitz dieser Fähigkeit stellt sich vor die Seele als die Imagination des Einhorns, das sich vor einem Löwen neigt. Der Löwe ruft darauf durch sein Brüllen eine Taube herbei, die ihm einen Ulzweig bringt. Er verschluckt diesen. Wer solch ein Bild als Symbol und nicht als wirkliche Imagination behandeln wollte, der könnte sagen, es verbildliche den Vorgang in der Seele des Geistsuchers, durch den er sich fähig fühlt, Geistiges zu denken. Allein diese abstrakte Idee würde den Seelenvorgang,

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um den es sich tatsächlich handelt, nicht in seiner vollen Wesenhaftigkeit zum Ausdrucke bringen. Denn die­ser Vorgang wird so erlebt, daß der Umkreis des persön­lichen Erlebens, der für das Sinnesdasein sich bis an die Grenze des Leibes ausdehnt, über diese Grenze hinaus er­weitert wird. Der Seher erlebt im geistigen Felde Wesen und Vorgänge außerhalb seiner eigenen Wesenhaftigkeit so, wie der Mensch durch das gewöhnliche Wachbewußt-sein die Vorgänge innerhalb des eigenen Leibes erlebt. Tritt ein solches erweitertes Bewußtsein ein, dann hört das bloß abstrakte Vorstellen auf, und die Imagination stellt sich als die notwendige Ausdrucksform des Erlebten ein. Will man sich über solches Erleben dennoch in abstrakten Ideen aus­drücken, was namentlich in der Gegenwart zur Mitteilung geisteswissenschaftlicher Erkenntnisse in weitem Umfange notwendig ist, dann muß man die Imaginationen erst in sachgemäßer Weise auf die Ideenform bringen. Andreae unterläßt dies in der «Chymischen Hochzeit», weil er ohne Veränderung die Erlebnisse eines Geistsuchers aus der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts darstellen will; in dieser Zeit pflegte man die erlebten Imaginationen nicht in Ideen und Begriffe umzusetzen.

Wenn das imaginative Erkennen soweit gereift ist wie bei dem Bruder vom Rosenkreuz am dritten Tage, dann kann die Seele selbst mit ihrem inneren Leben in das Gebiet der Wirklichkeit eintreten, aus dem die Imaginationen stam­men. Erst durch diese Fähigkeit gelangt der Mensch dazu, von einem in der Geistwelt gelegenen Gesichtspunkt aus die Wesenheiten und Vorgänge der Sinneswelt auf eine neue Art zu sehen. Er schaut, inwiefern diese aus ihren wahren, in dem übersinnlichen Bereich gelegenen Quellen herausfließen.

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Andreae macht bemerklich, daß der Bruder vom Rosenkreuz diese Fähigkeit in einem stärkeren Maße sich erringt als seine Genossen. Er gelangt dazu, vom Gesichts­punkt der geistigen Welt aus die Bibliothek des Schlosses und die Begräbnisse der Könige zu sehen. Daß er dies ver­mag, hängt davon ab, daß er in hohem Grade den eigenen Willen in der imaginativen Welt betätigen kann. Seine Ge­nossen können nur dasjenige schauen, was durch fremde Kraft, ohne solche starke eigene Willensbetätigung an sie herankommt. Der Bruder vom Rosenkreuz lernt bei «der Könige Begräbnissen» mehr «denn in allen Büchern ge­schrieben steht». Die Anschauung dieser Begräbnisse wird in unmittelbaren Zusammenhang gebracht mit derjenigen des herrlichen «Phönix». In diesen Anschauungen enthüllt sich das Geheimnis des Todes und der Geburt. Diese beiden Grenzvorgänge des Lebens walten nur in der sinnenfälligen Welt. Im Geistigen entspricht der Geburt und dem Tode nicht ein Entstehen und Vergehen, sondern die Verwand­lung einer Lebensform in die andere. Man kann das Wesen von Geburt und Tod nur erkennen, wenn man es schaut von einem Gesichtspunkte außerhalb der Sinnenwelt, von einem Bereiche aus, in dem sie selbst nicht vorhanden sind.

Daß der Bruder vom Rosenkreuz zu der «Könige Be­gräbnissen» dringt und im Bilde des Phönix das Erstehen einer jungen königlichen Kraft aus der in den Tod ein­gegangenen der alten Könige schaut, verzeichnet Andreae deswegen, weil er den besonderen Geistesweg eines Er­kenntnissuchers aus der Mitte des fünfzehnten Jahrhun­derts schildern will. Es ist dies ein Zeitenwendepunkt in bezug auf das geistige Erleben der Menschheit. Die Formen, in denen sich durch Jahrhunderte hindurch vorher die Men­schenseele

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der geistigen Welt nähern konnte, wandelten sich in diesem Zeitpunkte in andere. Auf dem Gebiete des äußeren Menschheitslebens trat diese Wandlung durch die aufkommende naturwissenschaftliche Denkungsart der neuen Zeit und die übrigen Umwälzungen im Leben der Erdenvölker in dieser Epoche zutage. Im Bereiche derjeni­gen Welt, in welcher die Geistsucher nach den Geheimnissen des Daseins forschen, offenbart sich in solchen Zeitenwen­den das Vergehen einer bestimmten Richtung der mensch­lichen Seelenkräfte und das Auftreten einer anderen. Trotz aller andern umwälzenden Ereignisse im geschichtlichen Werden der Menschheit war der Charakter der Geistesschau seit den Zeiten des griechisch-römischen Lebens im wesent­lichen bis in das fünfzehnte Jahrhundert der gleiche geblie­ben. Der Geistsucher hatte den im Gemüte wurzelnden in­stinktiven Verstand, welcher die wesentliche Seelenkraft dieses Zeitalters war, in das Feld der geistigen Wirklichkeit hineinzutragen und dort zu der Kraft der Geistesschau um­zuwandeln. Von der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts an tritt an die Stelle dieser Seelenkraft der im Lichte des vollen Selbstbewußtseins wirkende, von den instinktiven Kräften sich befreiende Verstand. Ihn zum schauenden Be­wußtsein zu erheben, wird die Aufgabe des Geistsuchers.

In Christian Rosenkreutz, als führendem Bruder vom Rosenkreuz, kennzeichnet Andreae eine Persönlichkeit, welche auf die Art in die geistige Welt eingetreten ist, die im fünfzehnten Jahrhundert zu Ende ging. Die Erlebnisse der «Chymischen Hochzeit» stellen ihm dies Zu-Ende­Gehen und das Heraufkommen einer neuen Art vor das Seelenauge. Er muß deshalb in Geheimnisse eindringen, die ihm die Beherrscher des Schlosses, die in der alten Art das

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geistige Leben weiter verwalten möchten, verhüllen wollen. Den größten Geistesforscher vom Ende einer abgelaufenen Epoche, der aber den Tod dieser Epoche und den Aufgang einer neuen auf geistigem Feld durchschaut, will Andreae für seine Zeitgenossen charakterisieren. Er fand, daß diese sich mit den Überlieferungen der alten Epoche begnügten, daß sie im Sinne dieser Überlieferungen sich die geistige Welt erschließen wollten. Ihnen wollte er sagen: euer Weg ist ein fruchtloser; der Größte, der ihn zuletzt gegangen ist, hat seine Fruchtlosigkeit durchschaut. Erkennet, was er durchschaut hat, und ihr werdet euch ein Gefühl für einen neuen Weg aneignen. Christian Rosenkreutz' Geistesweg als das Vermächtnis der Geistforschung des fünfzehnten Jahrhunderts wollte Andreae in seine Zeit hineinstellen, um zu zeigen, daß die Initiative ergriffen werden muß zu einer neuen Art der Geistforschung. In der Fortsetzung von Bemühungen, wie sie durch Johann Valentin Andreae ihren Anfang genommen haben, steht auch gegenwärtig der Geistesforscher noch darinnen, der die Zeichen seiner Zeit versteht. Ihm treten die stärksten Widerstände von seiten derjenigen Geistsucher entgegen, welche aus einer Erneuerung oder Wieder-Belebung alter geisteswissenschaft­licher Überlieferungen den Weg in die übersinnliche Welt bahnen wollen.

In zarten Andeutungen spricht Andreae von den Er­kenntnis-Ausblicken, die sich durch das schauende Bewußtsein der Menschheit in der Zeitepoche ergeben müssen, die mit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts begonnen hat. Zu einem großen Globus dringt Christian Rosenkreutz vor, durch den ihm die Abhängigkeit der irdischen Ereignisse von außerirdischen, kosmischen Impulsen vor die Seele

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dringt. Es ist damit das erste Hineinsehen in eine «Him­melskunde» gekennzeichnet, die ihren Anfang genommen hat mit der kopernikanischen Weltansicht, die aber in die­ser nur eben einen Anfang sieht, der nur geben kaim, was für die sinnenfällige Welt Geltung hat. Im Sinne dieses Anfanges forscht die neuere naturwissenschaftliche Vorstel­lung bis heute. In ihrem Weltbilde sieht sie die Erde um­geben von «Himmelsvorgängen», die sie nur mit verstan­desgemäßen Begriffen erfassen will. Im Erdgebiete selbst sucht sie die Kräfte für die wesentlichen Vorgänge des Erd­Geschehens. Wenn sie die Bedingungen untersucht, unter denen der Keim zu einem neuen Wesen in einem Mutter-wesen entsteht, so sieht sie auf die Kräfte allein, die in der Vererbungsströmung bei den irdischen Vorfahren zu suchen sind. Sie hat kein Bewußtsein davon, daß bei der Keimes-entstehung der «himmlische Umkreis» der Erde herein-wirkt in das Erdgeschehen, daß im Mutterwesen nur der Ort ist, an dem der außerirdische Kosmos den Keim aus­bildet. Die Ursachen für historische Ereignisse sucht diese Denkweise ausschließlich bei den Tatsachen, die im Erden-leben diesen Ereignissen vorangegangen sind. Sie blickt nicht auf zu den außerirdischen Impulsen, die irdische Tat­sachen befruchten, daß aus dem Geschehen der einen Epoche dasjenige der nächsten hervorgehe. Vom Außerirdischen läßt diese Denkungsart lediglich die leblosen Erdenvorgänge beeinflußt sein. Der Ausblick auf eine organische, eine geistige «Himmelskunde» eröffnet sich für Christian Rosen­kreutz, die nichts mehr gemein haben kann mit der Art der alten Astrologie, die auf denselben Grundlagen für das Über­sinnliche ruht wie der Kopernikanismus für das Sinnliche.

Man kann gewahr werden, wie Andreae in der «Chymi­schen

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Hochzeit» das imaginative Leben durchaus sachgemäß behandelt. Alles, was an Christian Rosenkreutz als sich offenbarendes Wissen herantritt, zu dem sein eigener Wille nicht mitwirkt, läßt er durch Kräfte herankommen, die in Bildern des Weiblichen ihre Repräsentation finden. Wozu der eigene Wille des Geistsuchers sich den Weg bahnt, das wird durch Bilder von geleitenden Knaben>, durch Männ-liches veranschaulicht. Im Menschen walten, gleichgültig ob er als Sinneswesen Mann oder Weib ist, das Männliche und das Weibliche als polarische Gegensätze. Aus dieser Anschauung heraus charakterisiert Andreae. Das Vorstel­lungsgemäße wird zu dern Willensartigen in das rechte Ver­hältnis gebracht, wenn dieses Verhältnis sich in Bildern dar­stellt, die an den Bezug des Männlichen und Weiblichen in der Sinneswelt erinnern. - Wieder soll, um Mißverständ­nissen vorzubeugen, angemerkt werden, daß die Imagi­nation des Männlichen und Weiblichen mit den Beziehun­gen von Mann und Weib in der Sinnenwelt selbst nicht verwechselt werden darf; so wenig, wie die Imagination der Tierform, die sich dem schauenden Bewußtsein ergibt, zu tun hat mit der tierischen Natur, auf welche der landläufige Darwinismus die Menschheit bezieht. In der Gegen-wart glaubt so mancher, durch die Sexual-Physiologie in verborgene Geheimnisse des Daseins eindringen zu können. Eine flüchtige Bekanntschaft mit echter Geisteswissenschaft könnte ihn überzeugen, daß dieses Bestreben nicht zu den Geheimnissen des Daseins hin-, sondern von ihnen weit wegführt. Und jedenfalls ist es Unfug, die Meinung solcher Persönlichkeiten, wie Andreae eine ist, in irgendwelche Be­ziehung zu Vorstellungen zu bringen, die mit Sexual­Physiologie etwas zu tun haben.

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In deutlicher Art weist Andreae auf Wichtiges, das er in seine «Chymische Hochzeit» hineingeheimnissen will, da, wo er die charakterisiert, welche er zu dem Geistsucher in besonders nahe Beziehung bringt. Diese «Jungfrau» ist die imaginative Repräsentation eines über­sinnlichen Wissens, das im Gegensatze zu den «sieben freien Künsten», die auf sinnlichem Felde erworben werden, aus dem Geistgebiete geholt werden muß. Diese «Jungfrau» gibt in etwas rätselvoller Art ihren Namen, der «Alchimie» ist. Andreae will also sagen, daß wahre Alchimie in andrer Art eine Wissenschaft ist als die aus dern gewöhnlichen Be­wußtsein entsprungenen. Nach seiner Meinung vollzieht der Alchimist seine Verrichtungen mit sinnenfälligen Stoffen und Kräften nicht deshalb, weil er die Wirkung dieser Stoffe und Kräfte im Bereich der Sinneswelt kennenlernen will, sondern darum, weil er durch den sinnlichen Vorgang sich ein Übersinnliches offenbaren lassen will. Er will durch den sinnlichen Prozeß auf einen übersinnlichen hindurchschauen. Was er verrichtet, ist von der Untersuchung des gewöhn­lichen Naturforschers durch die Art verschieden, wie er den Vorgang anschaut.

Zu den Erlebnissen des «dritten Tages» gehört die völlige Überwindung des Glaubens, daß die Urteilsart, an die der Mensch in der Sinneswelt gewöhnt ist, in ihrer unverwan­delten Gestalt auch eine leitende Kraft in der übersinnlichen Welt sein kann. Es werden innerhalb der Gesellschaft, in der Christian Rosenkreutz weilt, Fragen vorgelegt, die alle dazu führen, daß man mit der Entscheidung für eine Ant­wort zurückhält. Es soll dadurch auf die Begrenztheit des gewöhnlichen Urteilsvermögens hingewiesen werden. Die Wirklichkeit ist reicher als die Entscheidungsmöglichkeit,

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welche in dem an der Sinneswelt herangezogenen Verstande liegt. - Nach der Schilderung dieser Erlebnisse führt An­dreae noch eine ein; er bringt also Christian Rosenkreutz in Beziehung zu der durch sie gekennzeichneten übersinnlichen Wissensart, der Theologie. Wie sie auf das Menschengemüt wirken soll, wird charakterisiert. Von be­sonderer Bedeutung ist, daß der Geistsucher nach allen die­sen Erlebnissen in der folgenden Nacht doch noch von dem Traume heimgesucht wird, der ihm eine Tür zeigt, die er öffnen will und die ihm lange Widerstand entgegensetzt. In seiner Seele wird eben dieses Bild durch die Meinung ausgewirkt, daß er alle vorangegangenen Erlebnisse nicht als etwas betrachten soll, was durch seinen unmittelbaren Inhalt Wert hat, sondern allein als Erzeuger einer Kraft, die sich weiteren Anstrengungen unterwerfen muß.

Entscheidend für die Stellung des Geistsuchers in der übersinnlichen Welt wird der «vierte Tag». Der Geistsucher begegnet wieder dem Löwen. Die alte Inschrift, die ihm durch den Löwen entgegengebracht wird, enthält im we­sentlichen die Aufforderung, an die Quelle heranzutreten, aus welcher die Inspirationen aus der geistigen Welt er-fließen. Die Seele, welche im bloß imaginativen Erleben stehenbleiben wollte, könnte sich doch gewissermaßen von der geistigen Welt nur anreden lassen und die Kraft des eigenen Willens dazu verwenden, die Offenbarungen sich zum Verständnis zu bringen. Soll die volle Kraft des menschlichen «Ich» in die übersinnliche Welt eintreten, dann muß dieses «Ich» das eigene Bewußtsein in diese Welt hineintragen. Es muß die Seele das «Ich» mit seinen sinnen-fälligen Erlebnissen in der geistigen Welt wiederfinden. Es muß im Übersinnlichen gewissermaßen die Erinnerung an

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die Erlebnisart der Sinneswelt auftauchen. Andreae stellt dies dadurch dar, daß er unter die Erfahrungen des «vier­ten Tages» eine stellt, also ein Scheinbild von Vorgängen der sinnenfälligen Welt. In der Anschauung dieses Scheinbildes von der sinnenfälligen Welt, die inner­halb des übersinnlichen Bereiches gewonnen wird, erkraftet sich das «Ich» des Geistsuchers, so daß er den festen Zusam­menhang erfühlt zwischen dern im Übersinnlichen erleben­den Seelenglied und demjenigen, das sich in der Sinneswelt durch den Leib betätigt.

Aus der Einsicht in die sachgemäße Darstellungsart An­dreaes kann die Überzeugung sich ergeben, daß dieser in ernster Art zu seinen Zeitgenossen von einem Weg in die Geisteswelt reden wollte, der angemessen ist der mit dern sechzehnten Jahrhundert einsetzenden Epoche der Mensch­heitsentwickelung, an deren Beginn sich der Verfasser der «Chymischen Hochzeit» gestellt fühlt. Daß zunächst der Verwirklichung dessen, was Andreae als ideale Anforde­rungen vor seine Zeitgenossen hinstellte, schwere Hinder­nisse sich darboten, liegt in der Tatsache begrundet, daß die Wirren des Dreißigjährigen Krieges mit allem, was sie über die neuere Zeit brachten, verheerend sich geltend machten. Ein Fortschritt in der Menschheitsentwickelung ist aber nur möglich, wenn von Persönlichkeiten, die gleich Johann Va­lentin Andreae gesinnt sind, den hemmenden Kräften einer gewissen Weltenströmung die wahrhaft fortbildenden ent­gegengehalten werden.

Ob es Andreae gelungen ist, in Christian Rosenkreutz einen Geistsucher zu schildern, der von dern Wege aus, den er aus den Geist-Erfahrungen einer verflossenen Epoche heraus eingeschlagen hat, auf den neuen wirk­sam

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weisen kann, welcher dem neuen Zeitabschnitt ent­spricht, das kann nur behauptet werden, wenn es gelingt, zu zeigen, daß die letzten «Tage» der «Chymischen Hochzeit» von Erlebnissen berichten, welche die Perspek­tive in diesen neuen Zeitabschnitt hinein eröffnen; wenn Christian Rosenkreutz sein «Ich» in diesen Zeitabschnitt hinübertragen kann.

Das bedeutungsvollste Erlebnis des «vierten Tages» ist für Christian Rosenkreutz seine Vorführung vor die Könige und deren nachfolgende Enthauptung. Der Verfasser der «Chymischen Hochzeit» deutet auf das Wesen dieses Er­lebnisses durch die Sinnbilder>, die auf einem kleinen Altar stehen. In diesen Sinnbildern kann die menschliche Seele ihr Verhältnis zum Weltall und dessen Werden schauen. In solchen Sinnbildern haben die Geistsucher immer der Seele nahezubringen gesucht, wie deren eigenes Wesen im Wesen des Kosmos lebt. Durch das Buch wird auf den Ge­dankeninhalt des Menschen gewiesen, der in Gemäßheit der menschlichen Organisation ein Hereinfluten der objektiven weltschöpferischen Gedanken in die Seele ist. In dem wird angezeigt, wie die weltschöpferischen Ge­danken als Lichtäther im All wirksam sind und im Men­schen erkenntnis-erzeugend, erleuchtend werden. Das Her-einspielen Cupidos durch sein Anblasen des Lichtleins bezieht sich auf die Anschauung des Geistsuchers, der in dern Wesenhaften, das ätherisch allem Dasein und Werden zu­grunde liegt, zwei polarisch zueinanderstehende Kräfte sieht: das Licht und die Liebe. Man beurteilt aber diese Anschauung nur richtig, wenn man in dern physischen Lichte und der innerhalb der physischen Welt tätigen Liebe die materiell wirksamen Offenbarungen geistiger Urkräfte

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sieht. Innerhalb der geistigen Urkraft des Lichtes lebt sich das schöpferische Gedankenelement der Welt aus und innerhalb der Liebe das schöpferische Willenselement. Eine ist unter den Sinnbildern, um anzudeuten, wie das menschliche Erleben im All-Erleben als dessen Glied drinnensteht. Die Uhr spricht von dem Eingewobensein der Seele in den Zeitverlauf des Kosmos, wie die Sphäre von demjenigen in dessen räumliches Dasein. Das Brünnlein, aus dem blutrotes Wasser fließt, und der Totenkopf mit der Schlange weisen auf die Art hin, wie Geburt und Tod von dem Geist-Erkenner im Weltall gegründet gedacht werden. Valentin Andreae verwendet für seine Schilderung diese Sinnbilder in einer ähnlichen Art, wie sie seit grauer Vor­zeit in den Versammlungsstätten gebraucht wurden, die solchen Gesellschaften dienten, durch welche die zu ihnen zugelassenen Menschen in die Geheimnisse des Lebens ein­geweiht werden sollten. Indem er sie so verwendet, zeigt er, daß sie nach seiner Meinung wirklich in der Entwicklung der Menschenseele begründete Imaginationen sind, welche diese anregen können, die Geheimnisse des Lebens zu emp­finden.

Es drängt sich die Frage auf: Was stellt der dar, in den Christian Rosenkreutz geführt wird, und was erlebt er durch die Gegenwart der Könige und ihre Ent­hauptung? Die Sinnbilder weisen auf die Antwort hin. Der Geistsucher soll schauen, wie er mit seinem eigenen Wesen im Wesen des Weltalls gegründet ist. Was in ihm ist, soll er in der Welt, was in der Welt ist, in sich selber schauen. Er kann es nur, wenn er in den Dingen und Vorgängen der Welt Bilder dessen sieht, was in ihm wirkt und webt. Er kommt dazu, was in ihm vorgeht, nicht mehr bloß durch

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Vorstellungen anzuschauen, die aus der Seele entnommen sind; sondern er sieht die Erlebnisse dieser Seele durch Bil­der, welche das Werden des Weltalls darstellen. Die Könige stellen sich vor Christian Rosenkreutz hin, um ihm anzu­zeigen: so leben deine Seelenkräfte in deinem eigenen Innern; und die Erlebnisse der Könige spiegeln, was in der Seele unter gewissen Bedingungen sich ereignen muß. Chri­stian Rosenkreutz steht vor den Vorgangen im «Königssaal» so, daß seine Seele sich in ihnen selbst schaut. Die Enthaup­tung der Könige ist ein Ereignis innerhalb seiner eigenen Seelenentwickelung. Er ist in den «Königssaal» gekommen mit den Erkenntniskräften, die noch immer nur diejenige Wesenheit haben, welche sie sich vor dern Betreten der gei­stigen Welt aneignen konnten. Durch das Einleben in diese Welt machen aber diese Erkenntniskräfte Erfahrungen, die sich auch auf die stoffliche Welt beziehen. Es leuchtet nicht nur die geistige Welt vor der Seele auf, sondern es zeigt sich auch die stoffliche in Formen, die derjenige nicht in ihrer vollen Bedeutung schauen kann, der im Stoffgebiete mit seiner Beobachtung stehenbleibt. Zu diesen Erfahrungen gehört, daß sich die zwiespältige Art der Menschenwesen­heit enthüllt. Es zeigen sich die Kräfte, welche dem physi­schen Wachstum zugrunde liegen, auch wirksam in den Er­scheinungen, die man gewöhnlich als seelische bezeichnet. Die Gedächtniskraft, die vorstellungbildenden Impulse er­weisen sich als solche, denen gleichgeartete physische Bedin­gungen zugrunde liegen wie dem Wachstum. Nur wirken die Wachstumskräfte so, daß sie in der menschlichen Kin­der- und Jugendzeit in aufsteigender Entwickelung sind, daß sie dann abnehmen und durch ihren Verfall in sich den Tod bedingen, während Gedächtnis- und Vorstellung bildende

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Kräfte von einem gewissen, sehr frühen Lebenszeit­punkte an die Möglichkeit des In-sich-Verfallens annehmen. In jeder Wachperiode machen diese Kräfte die absteigende, bis zum Verfall reichende Entwickelung durch, welche der Gesamtorganismus von der zweiten Lebenshälfte bis zum Tode durchmacht. In jeder Schlafperiode wird dieser Ver­fall wieder ausgeglichen, und Gedächtnis- und Vorstellungs­kräfte erleben eine Auferstehung. Es ist dem menschlichen Gesamtorganismus wie ein Parasit sein Seelenorganismus aufgesetzt, der deshalb zur Erinnerung und Vorstellung die Bedingung liefern kann, weil er im Tageslaufe den Weg zum Tode durchmacht, den der Gesamtorganismus im Erdenlebenslaufe durchführt. Auf diese Art wird für den Geistsucher der Seelenorganismus zu einer Metamorphose des Gesamtorganismus. Der Seelenorganismus erscheint als derjenige Teil des Gesamtorganismus, welcher die Kräfte, die in diesem das Leben von der Geburt bis zum Tode zur Offenbarung kommen lassen, in intensiverer Weise zur Ausgestaltung bringt, so daß sie hier die Grundlage abgeben für das Vorstellungsleben. In den täglichen Verfall der Kräfte des Seelenorganismus hinein ergießt sich das schöp­ferische Gedankenwesen der Welt und wird so in dem Men­schen zum Vorstellungsleben. Das Wesentliche ist, daß der Geistsucher die stoffliche Grundlage der Seelenvorgänge er­kennt als die umgewandelten allgemeinen Stoffprozesse des ganzen Organismus. Es liegt die paradoxe Tatsache vor, daß man zunächst auf dem Wege zum Geist die materiellen Be­dingungen des Seelenlebens schaut. Diese Tatsache kann der Ausgangspunkt für eine Versuchung sein. Man kann bei der Entdeckung stehenbleiben, daß die Seelenvorgänge sich in ihrer stofflichen Ausgestaltung offenbaren. Dann kann

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man, indem man den Geist sucht, in eine materialistische Weltauffassung hineingetrieben werden. Durchschaut man aber wirklich, was vorliegt, dann tritt das Entgegengesetzte ein. Man erkennt in der stofflichen Grundlage des Seelen­lebens die wirksamen Geistesmächte, die sich durch die stofflichen Gestaltungen offenbaren, und bereitet sich da­durch die Möglichkeit vor, auch in dem Gesamtorganismus und seinem Lebensverlauf den zugrunde liegenden Geist zu erkennen.

Christian Rosenkreutz ist also vor die wichtige Erfahrung gestellt, die ihm eine im Naturprozeß sich vollziehende Alchimie enthüllt. Die stofflichen Vorgänge des Gesamt-Organismus wandeln sich vor seinem geistigen Auge um. Sie werden solche, aus denen die Seelenvorgänge aufleuchten wie das Licht, das sich bei dem äußeren Vorgang der Ver­brennung offenbart. Aber diese Seelenvorgänge zeigen sich dadurch ihm auch an ihrer Grenze. Sie sind Vorgänge, die dem entsprechen, was im Gesamtorganismus zum Tode führt. Christian Rosenkreutz wird vor die «Könige» seines eigenen Seelenwesens, vor seine Erkenntniskräfte geführt. Sie erscheinen ihm als dasjenige, was der Gesamtorganis­mus aus sich heraus metamorphosiert. Aber die Wachstums-kräfte des Lebens werden nur dadurch zu Erkenntniskräf­ten umgestaltet, daß sie den Tod in sich aufnehmen. Und sie können deshalb auch nur das Wissen von dem Toten in sich tragen. - In alle Vorgänge der Natur ist der Tod ein­gegliedert dadurch, daß in allem das Unlebendige lebt. Nur auf dieses Unlebendige ist der gewöhnliche Erkenntnisvor-gang gerichtet. Dieser erfaßt das Unorganische, weil es ein Totes ist; aber er erfaßt die Pflanze und ein jegliches Leben­dige nur insoweit, als diese von dem Unlebendigen tingiert

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sind. Jede Pflanze enthält außer dem, was sie als Lebewesen ist, unorganische Prozesse. Diese erfassen in der gewöhn­lichen Anschauung die Erkenntniskräfte; das Lebendige er­fassen sie nicht. Dieses wird nur anschaulich, insofern es sich im Unlebendigen darlebt. Christian Rosenkreutz schaut den Tod seiner «Seelenkönige», seiner Erkenntniskräfte, wie sich diese aus der Metamorphose der stofflichen Kräfte des Gesamtorganismus ergeben, ohne daß der Mensch von der Natur-Alchimie zu der Kunst-Alchimie übergeht. Diese muß darinnen bestehen, daß der Mensch innerhalb des See­lischen seinen Erkenntniskräften einen Charakter verleiht, den sie durch die bloßen organischen Entwickelungsvor-gänge nicht haben. Was im aufsteigenden Wachstum wesen­haft ist, woran der Tod noch nicht genagt hat, das muß in den Erkenntniskräften erweckt werden. Die Natur-Alchi­mie muß fortgesetzt werden.

Diese Fortsetzung der Natur-Alchimie bildet das fünfte Tagewerk der «Chymischen Hochzeit». Der Geistsucher muß schauend eindringen in die Vorgänge, welche die Na­tur bewirkt, indem sie das wachsende Leben hervorbringt. Und er muß dieses Naturschaffen in die Erkenntniskräfte einführen, ohne daß er beim Übergange von den Wachs­tums- zu den Seelenvorgängen den Tod walten läßt. Er empfängt die Erkenntniskräfte von der Natur als tote We­senheiten; er muß sie beleben, indem er ihnen gibt, was die Natur ihnen genommen hat, als sie mit ihnen die alchimi­stische Umwandlung in Erkenntniskräfte vollzogen hat. Wenn er den Weg zu einem solchen Vorhaben betritt, naht sich ihm eine Versuchung. Er muß hinuntersteigen in das Gebiet, auf dem die Natur wirkt, indem sie durch die Kraft der Liebe das Leben aus dern zaubert, das durch sein Wesen

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nach dem Tode strebt. Er setzt sich dabei der Gefahr aus, daß sein Schauen von den Trieben erfaßt wird, die im nie­deren Gebiete des Stofflichen walten. Er muß kennenlernen, wie im Stoffe, dem der Tod eingeprägt ist, ein Liebe-ver­wandtes Element lebt, das jeder Erneuerung des Lebens zu­grunde liegt. Dieser der Versuchung ausgesetzte Seelenvor-gang wird von Andreae bedeutungsvoll geschildert, indem er Christian Rosenkreutz vor Venus treten und dabei Cu­pido sein Wesen treiben läßt. Und es wird deutlich darauf verwiesen, wie der charakterisierte Geistsucher nicht allein durch seine eigene Seelenkraft, sondern durch das Walten anderer Mächte durch die Versuchung nicht von seinem weiteren Wege zurückgehalten wird. Hätte Christian Rosen­kreutz nur seinen eigenen Erkenntnisweg zu wandeln: dieser könnte mit der Versuchung auch abschließen. Daß dies nicht der Fall ist, weist auf dasjenige hin, was Andreae schildern will. Christian Rosenkreutz soll mit seinem Geistesweg aus einer verflossenen Epoche in eine anbrechende hinüberwei­sen. Es sind die im Zeitenlauf tätigen Mächte, die ihm dazu verhelfen, daß er sein «Ich» mit den Erkenntniskräften durchdringt, welche dem neuen Zeitabschnitt entsprechen. Dadurch kann er die Fahrt zu dem «Turm» antreten, in dem er sich an dem alchimistischen Prozeß beteiligt, durch den die toten Erkenntniskräfte ihre Auferstehung erleben. Dadurch auch ist ihm auf dieser Fahrt die Kraft eigen, den Sirenen gesang von der Liebe zu hören, ohne seinen Verlok­kungen zu verfallen. Die geistige Urkraft der Liebe muß auf ihn wirken; von deren Offenbarungsweise auf dem sinnlichen Felde darf er sich auf seinem Wege nicht beirren lassen. Im Turm Olympi wird die Durchsetzung der toten Erkenntniskräfte mit den Impulsen vollzogen, die im gewöhnlichen

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Menschenorganismus nur in den Wachstums­vorgängen walten. Es wird darauf hingewiesen, wie Chri­stian Rosenkreutz an diesem Vorgang sich beteiligen darf, weil seine Seelenentwickelung im Sinne der sich wandeln­den Zeitkräfte erfolgen soll. Er geht, während er schlafen sollte, in den Garten, schaut nach dem Sternenhimmel und sagt sich: «Weil ich also gute Gelegenheit hatte, der Astro­nomie besser nachzudenken, befand ich, daß auf gegenwär­tige Nacht eine solche Konjunktion der Planeten geschehe, dergleichen nicht bald sonsten zu observieren.»

In den Erlebnissen des sechsten Tages werden im einzel­nen die Imaginationen beschrieben, welche in der Seele des Christian Rosenkreutz anschaulich machen, wie sich die toten Erkenntniskräfte, die der Organismus auf dem gewöhn­lichen Wege seines Lebenslaufes ausbildet, in die übersinn­lich anschauenden umwandeln. Jede dieser Imaginationen entspricht einem Erlebnis, das die Seele in bezug auf ihre eigenen Kräfte durchmacht, wenn sie erfährt, wie dasjenige, was in ihr bisher sich nur mit dem Toten hat durchdringen können, fähig wird, Lebendiges erkennend in sich rege wer­den zu lassen. Die einzelnen Bilder würde ein anderer Geistsucher in anderer Art beschreiben als Andreae. Aber nicht auf den Inhalt der einzelnen Bilder kommt es dabei an, sondern darauf, daß die Umwandlung der Seelenkräfte im Menschen sich vollzieht, indem er den Verlauf solcher Bilder als die Spiegelung dieser Umwandlung in einer Folge von Imaginationen vor sich hat.

Christian Rosenkreutz wird in der «Chymischen Hoch­zeit» wie der Geistsucher geschildert, der das Herannahen des Zeitalters fühlt, in dem die Menschheit den Blick auf die Naturvorgänge anders richten will als in dem mit dem

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fünfzehnten Jahrhundert ablaufenden, in dem sie nicht mehr, die Natur betrachtend, in dieser Betrachtung selbst die geistigen Inhalte der Naturdinge und Naturvorgänge mitanschaut, in dem sie zu einer Verleugnung der geistigen Welt kommen kann, wenn sie nicht einen Erkenntnisweg für möglich hält, auf dem man die Stoff-Grundlage des Seelenlebens durchschauen und doch das Wesen des Geistes in die Erkenntnis aufnehmen kann. Um das zu können, muß man über diese Stoff-Grundlage das geistige Licht breiten können. Man muß schauen können, wie die Natur verfährt, indem sie ihre Wirkenskräfte zu einem Seelen­Organismus gestaltet, durch den sich das Tote offenbart, um dann aus dem Wesen der Natur selbst das Geheimnis zu erlauschen, wie Geist dem Geist sich gegenüberstellen kann, wenn das schöpferische Wirken der Natur auf die Erwek­kung der toten Erkenntniskräfte zu einem höheren Leben gelenkt wird. Dadurch wird eine Erkenntnis entwickelt, welche als Geist-Erkenntnis in die Wirklichkeit hineinge­stellt wird. Denn eine solche Erkenntnis ist ein weiterer Sproß auf dem belebten Wesen der Welt; durch sie wird die Entwickelung der Wirklichkeit fortgesetzt, die bis zum Leben des Menschen herauf aus den Uranfängen des Da­seins waltet. Es wird nur dasjenige als höhere Erkenntnis­kräfte entfaltet, was im Keime in der Natur veranlagt ist und was im Naturwirken selbst auf dem Punkte zurück­gehalten wird, wo in der Metamorphose des Daseins sich die Erkenntniskräfte für das Tote entwickeln sollen. - Daß ein solches Fortsetzen der Naturwirksamkeit über dasjenige hinaus, was sie selbst in der menschlichen Organisation er­reicht, aus der Wirklichkeit heraus und in das Wesenlose führe, ist kein Einwand, welchen derjenige machen wird,

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der die Entwickelung der Natur selbst durchschaut. Denn diese besteht überall darinnen, den Fortgang der Wachs­tumskräfte an bestimmten Punkten zu hemmen, um die Offenbarungen der unendlichen Gestaltungsmöglichkeiten auf gewissen Stufen des Daseins zu bewirken. So auch ist in der menschlichen Organisation eine Gestaltungsmöglich­keit festgehalten. Aber wie in dem grünen Laubblatt der Pflanze eine solche Möglichkeit festgehalten ist, und doch die Bildungskräfte des Pflanzenwachstums dann wieder über diese Gestaltung hinausschreiten, um das grüne Blatt in dem farbigen Blumenblatt auf einer höheren Stufe er­stehen zu lassen, so kann der Mensch von der Gestaltung seiner auf das Tote gerichteten Erkenntniskräfte zu einer höheren Stufe dieser Kräfte fortschreiten. Er erfährt den Wirklichkeitscharakter dieses Fortschreitens, indem er in sich gewahr wird, wie er dadurch das seelische Organ in sich aufnimmt, um den Geist in seiner übersinnlichen Offenbarung zu erfassen, gleichwie die Umwandlung des grünen Blattes in das farbige Blumenorgan der Pflanze die Fähigkeit vorbereitet, die sich in der Fruchtbildung auslebt.

Nach der Vollführung des kunst-alchiinistischen Vor­ganges wird Christian Rosenkreutz zum ernannt. Man müßte sehr ausführlich in einer rein geschichtlichen Darstellung werden, wenn man aus der einschlägigen ernst zu nehmenden und der weit größeren schwindelhaften Literatur den Namen «güldener Stein» aufzeigen und auf seinen Gebrauch hindeuten wollte. Das liegt nicht in der Absicht, die mit diesem Aufsatz verfolgt wird. Doch darf auf dasjenige hingewiesen werden, was sich aus einem Verfolgen dieser Literatur als Ergebnis über

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diesen Gebrauch gewinnen läßt. Diejenigen ernst zu neh­menden Persönlichkeiten, die den Namen angewendet ha­ben, wollten mit ihm auf etwas hindeuten, in dem die tote Steinnatur sich so anschauen läßt, daß man ihren Zusam­menhang erkennt mit dern lebendigen Werden. Der ernst zu nehmende Alchimist glaubte, daß künstliche Naturvor­gänge hervorgerufen werden können, zu denen Totes, Steinartiges verwendet wird, in denen sich aber, wenn sie recht angeschaut werden, etwas von dem erkennen läßt, was vorgeht, wenn die Natur selbst das Tote in das leben­dige Werden hineinwebt. Durch die Anschauung von ganz bestimmten Vorgängen am Toten wollte man die Spuren der schöpferischen Naturtätigkeit und damit das Wesen des in den Erscheinungen waltenden Geistes erfassen. Das Sinn­bild für das Tote, das als Offenbarung des Geistes erkannt wird, ist der «güldene Stein». Wer einen Leichnam in seiner unmittelbar gegenwärtigen Wesenheit erforscht, der wird gewahr, wie das Tote in den allgemeinen Naturprozeß ein­geschaltet ist. Diesem allgemeinen Naturprozeß wider­spricht aber die Gestaltung des Leichnams. Diese Gestal­tung konnte nur ein Ergebnis des geistdurchsetzten Lebens sein. Der allgemeine Naturprozeß muß zerstören, was das geistdurchsetzte Leben gestaltet hat. Der Alchimist ist der Ansicht, daß die gewöhnliche menschliche Erkenntnis in der ganzen Natur etwas vor sich hat, wovon sie nur soviel er­faßt, als vom Menschen in einem Leichnam ist. Eine höhere Erkenntnis soll für die Naturerscheinungen finden, was sich zu ihnen verhält wie das geistdurchsetzte Leben zum Leich­nam. Solches Streben ist das nach dem «güldenen Stein». Andreae spricht von diesem Sinnbild so, daß man bemer­ken kann, er meine, nur ein solcher könne erfassen, wie

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man mit dem «güldenen Stein» zu verfahren habe, der durch die Erlebnisse der von ihm geschilderten sechs Tage­werke gegangen ist. Er will andeuten, daß ein jeder, der von diesem Sinnbild spricht, ohne zu wissen, was die Um­wandlung der Erkenntniskräfte dem Wesen nach ist, nur ein Trugbild im Auge haben kann. Er will in Christian Rosen­kreutz eine Persönlichkeit zeichnen, die in berechtigter Art über etwas sprechen kann, wovon viele ohne Berechtigung sprechen. Gegen das Irrereden über das Suchen nach der geistigen Welt will er die Wahrheit verteidigen.

Christian Rosenkreutz und seine Genossen erhalten, nachdem sie wirkliche Bearbeiter des «güldenen Steines» geworden sind, ein Denkzeichen mit den beiden Sprüchen:

«Die Kunst ist der Natur Dienerin» und «die Natur ist der Zeit Tochter». Im Sinne dieser Leitsätze sollen sie aus ihrer Geisterkenntnis heraus wirken. Die Erlebnisse der sechs Tage lassen sich in diesen Sätzen zusammenfassend charak­terisieren. Die Natur enthüllt dem ihre Geheimnisse, der sich in die Lage versetzt, durch seine Kunst ihr Schaffen fortzusetzen. Aber diese Fortsetzung kann dem nicht gelin­gen, der für seine Kunst ihr nicht zuerst den Sinn ihres Wollens abgelauscht hat, der nicht erkannt hat, wie ihre Offenbarungen dadurch entstehen, daß ihre unendlichen Entwickelungsmöglichkeiten aus dem Schoße der Zeit in endlichen Gestaltungen geboren werden.

In dem Verhältnisse, in das am siebenten Tage Christian Rosenkreutz zum König gesetzt wird, ist gekennzeichnet, wie der Geistsucher nunmehr zu seinen umgewandelten Er­kenntnisfähigkeiten steht. Es wird darauf verwiesen, wie er sie als «Vater» selbst geboren hat. Und auch seine Be­ziehung zu dem erscheint als eine solche

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zu einem Teile seines eigenen Selbstes, nämlich zu demjeni­gen, der vor Umwandlung seiner Erkenntniskräfte als «Astrologus» zwar auf der Suche nach den Gesetzen war, die das menschliche Leben bestimmen, der aber der Ver­suchung nicht gewachsen war, die sich ergibt, wenn der Geistsucher in eine Lage kommt, wie diejenige, in der Chri­stian Rosenkreutz am Beginne des fünften Tages war, als er der Venus gegenüberstand. Wer dieser Versuchung ver­fällt, findet keinen Einlaß in die geistige Welt. Er weiß zu viel, um von ihr ganz entfernt zu werden, aber er kann auch nicht eintreten. Er muß vor dem Tore Wache halten, bis ein anderer kommt, welcher der gleichen Versuchung verfällt. Christian Rosenkreutz glaubt sich zunächst der­selben verfallen und dadurch verurteilt zu sein, das Amt des Wächters übernehmen zu müssen. Aber dieser Wächter ist ja ein Teil seines eigenen Selbstes; und dadurch, daß er mit dem umgewandelten Selbst diesen Teil überschaut, kommt er in die Möglichkeit, ihn zu überwinden. Er wird zum Wächter seines eigenen Seelenlebens; aber dieses Wäch­teramt hindert ihn nicht, sein freies Verhältnis zur geistigen Welt herzustellen.

Christian Rosenkreutz ist durch die Erlebnisse der sieben Tage zum Geist-Erkenner geworden, der aus der Kraft heraus, die seiner Seele aus diesen Erlebnissen ge­worden ist, in der Welt wirken darf. Was er und seine Genossen im äußeren Leben vollbringen, das wird aus dern Geiste fließen, aus dem die Werke der Natur selbst fließen. Sie werden durch ihre Arbeit Harmonie in das Menschen­leben bringen, die ein Abbild sein wird der in der Natur wirkenden Harmonie, welche die entgegenstehenden Dis­harmonien überwindet. Die Anwesenheit solcher Menschen

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m der sozialen Ordnung soll in dieser selbst ein fortwäh­rend wirkender Anlaß zur Gesunderhaltung des Lebens sein. Auf Christian Rosenkreutz und seine Genossen ver­weist Valentin Andreae diejenigen, welche fragen: Welches sind die besten Gesetze für das Zusammenleben der Men­schen auf Erden? Andreae gibt die Antwort: Nicht, was man in Gedanken ausdrückt, daß es in der einen oder andern Art geschehen solle, kann dieses Zusammenleben regeln, sondern was die Menschen sagen können, die danach stre­ben, in dem Geiste zu leben, der sich durch das Dasein aus-sprechen will.

In fünf Sätzen wird zusammengefaßt, was Seelen lei­tet, die im Sinne des Christian Rosenkreutz im Men­schenleben wirken möchten. Ihnen soll es ferne liegen, aus einem andern Geiste heraus zu denken als aus dem, der sich im Schaffen der Natur offenbart, und sie sollen das Menschenwerk dadurch finden, daß sie die Fortsetzer wer­den der Naturwerke. Sie sollen ihr Werk nicht in den Dienst der menschlichen Triebe stellen, sondern diese Triebe zu Vermittlern der Werke des Geistes machen. Sie sollen liebevoll den Menschen dienen, damit im Verhältnis von Mensch zu Mensch der wirkende Geist sich offenbare. Sie sollen sich durch nichts, was die Welt ihnen an Wert zu geben vermag, beirren lassen in dem Streben nach dem Werte, den der Geist aller menschlichen Arbeit zu geben vermag. Sie sollen nicht nach der Art schlechter Alchimi­sten dem Irrtum verfallen, das Physische mit dem Geistigen zu verwechseln. Solche vermeinen, daß ein physisches Mittel der Lebensverlängerung oder ähnliches ein höchstes Gut sei, und vergessen darüber, daß das Physische nur solange Wert hat, als es durch sein Dasein sich als rechtmäßiger

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Offenbarer des ihm zu Grund liegenden Geistigen erweist. Am Ende seiner Schilderung der «Chymischen Hochzeit» deutet Andreae an, wie Christian Rosenkreutz «heimkom­men» ist. In allen Äußerlichkeiten der Welt ist er derselbe, der er vor seinen Erlebnissen war. Seine neue Lebenslage unterscheidet sich von der alten nur dadurch, daß er fortan seinen «höheren Menschen» als den Regierer seines Bewußt­seins in sich tragen wird, und daß, was er vollbringen wird, dasjenige werden kann, was dieser «höhere Mensch» durch ihn wirken mag. Der Übergang von den letzten Erlebnissen des siebenten Tages zu dern Sich-wieder-Finden in der ge­wohnten Umgebung wird nicht mehr geschildert. «Hie manglen ungefähr zwei quart Blättlein». Man könnte sich vorstellen, daß es Menschen gibt, die besonders neugierig wären auf das, was auf diesen fehlenden Seiten eigentlich hätte stehen sollen. Nun, es ist dasjenige, was nur erfahren kann, wer das Wesen der Seelenumwandlung als sein indi­viduelles Erlebnis kennt. Ein solcher weiß, daß alles, was zu diesem Erlebnis führt, eine allgemein-menschliche Be­deutung hat, die man mitteilt, wie man die Erlebnisse einer Reise mitteilt. Der Empfang des Erlebten durch den ge­wöhnlichen Menschen hingegen ist etwas ganz Persön­liches, ist auch bei jedem Menschen ein anderer und kann von niemandem in gleichem Sinne verstanden werden wie von dem Erleber. Daß Valentin Andreae die Schil­derung dieses Überganges in die altgewohnte Lebens-lage weggelassen hat, kann als weiterer Beweis dafür gel­ten, daß durch die «Chymische Hochzeit» sich wahre Kennerschaft über dasjenige ausspricht, was geschildert werden soll.

Die vorangehenden Ausführungen sind ein Versuch, zu

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kennzeichnen, was mit der «Chymischen Hochzeit» zum Ausdrucke gebracht ist, lediglich aus einer solchen Betrach­tung ihres Inhaltes heraus, wie sie sich dem Verfasser dieser Darstellung ergibt. Es sollte das Urteil begründet werden, daß durch die von Andreae veröffentlichte Schrift in die Richtung gewiesen werden sollte, die man einzuhalten habe, wenn man von dem wahren Charakter einer höhe­ren Erkenntnisart etwas wissen wollte. Und als Tatsache möchten diese Ausführungen erscheinen lassen, daß die be­sondere Art der seit dern fünfzehnten Jahrhundert gefor­derten Geisterkenntnis in der «Chymischen Hochzeit» ge­schildert ist. Wer den Inhalt dieser Schrift so auffaßt wie der Verfasser dieser Darstellung, für den ist sie eine ge­schichtliche Nachricht von einer bis ins fünfzehnte Jahrhun­dert zurückreichenden geistigen Strömung in Europa>, die auf Erlangung von Erkenntnissen über einen hinter den äußeren Erscheinungen der Welt liegenden Zusammenhang der Dinge gerichtet ist.

Es besteht aber eine ziemlich umfangreiche Literatur über die Wirksamkeit Johann Valentin Andreaes, in der über die Frage gesprochen wird, ob die von diesem veröffent­lichten Schriften als ein wirklicher Beweis für das Bestehen einer solchen geistigen Strömung gelten können. In diesen Schriften wird von dieser Strömung als von dem Rosen­kreuzertum Mitteilung gemacht. Einzelne Forscher sind der Meinung, daß Andreae sich mit seinen Rosenkreuzerschrif­ten nur einen literarischen Scherz erlaubt habe, durch den Schwarmgeister, die überall sich zeigen, wo in geheimnis­tuerischer Weise von höheren Erkenntnissen gesprochen wird, verhöhnt werden sollten. Das Rosenkreuzertum wäre dann ein Phantasiegebilde Andreaes, bestimmt, das Irrereden

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schwärmerischer oder schwindelhafter Mystiker zu verspotten. Mit vielem, was in dieser Richtung gegen den Ernst der Absichten Andreaes vorgebracht worden ist, glaubt der Verfasser dieser Ausführungen deshalb nicht vor seine Leser herantreten zu sollen, weil er meint, daß eine rechte Betrachtung des Inhaltes der «Chymischen Hochzeit» eine genügend begründete Ansicht darüber ermöglicht, was mit derselben gewollt ist. An dieser Ansicht können Zeug­nisse, die von einem Gebiete genommen sind, das außer­halb dieses Inhaltes liegt, nichts ändern. Wer innere Gründe in ihrem vollen Gewichte zu erkennen glaubt, der ist der Ansicht, daß äußere Urkunden in ihrem Werte nach diesen Gründen, und nicht das Innere nach dem Äußeren be-wertet werden soll. Stellen sich deshalb diese Ausführungen außerhalb der rein historischen Literatur über das Rosen­kreuzertum, so soll damit kein absprechendes Urteil über die historische Forschung selbst angedeutet werden. Es ist nur gemeint, daß der hier eingenommene Gesichtspunkt eine ausführliche Besprechung der Rosenkreuzer-Literatur nicht nötig erscheinen läßt. Nur einige Bemerkungen seien noch angefügt. Es ist bekannt, daß die Handschrift der «Chymischen Hochzeit» schon 1603 vollendet war. Erschie­nen ist sie erst 1616, nachdem 1614 Andreae die andere Rosenkreuzerschrift «Fama Fraternitatis R. C.» veröffent­licht hatte. Diese Schrift vor allem hat Veranlassung dazu gegeben, zu glauben, daß Andreae nur im Scherze von dem Vorhandensein einer Rosenkreuzergesellschaft gesprochen hat. Dieser Glaube wird darauf gestützt, daß Andreae selbst in der Folgezeit das Rosenkreuzertum als etwas be­zeichnet habe, wofür er nicht eintreten möchte. Manches in seinen späteren Schriften und Briefbemerkungen, die er

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gemacht hat, scheint gar nicht anders ausgelegt werden zu können, als daß er habe von einer solchen Geistesströmung nur fabeln wollen, um die Neugierigen und Schwarmgeister zu «foppen». In der Ausnützung solcher Zeugnisse wird aber gewöhnlich außer acht gelassen, welchen Mißverständnissen Schriften wie die von Andreae veröffentlichten ausgesetzt sind. Was er selbst später über sie gesagt hat, kann nur richtig beurteilt werden, wenn man bedenkt, daß er genö­tigt war zu sprechen, nachdem Gegner aufgetreten waren, welche die gekennzeichnete Geistesrichtung auf das ärgste verketzerten, daß sich «Anhänger» eingestellt hatten, die Schwärmer oder alchimistische Schwindler waren, und die alles entstellten, was mit dem Rosenkreuzertum gemeint war. Aber auch, wenn man alles dieses berucksichtigt, wenn man selbst annehmen wollte, daß der später mehr als pieti­stischer Schriftsteller sich zeigende Andreae bald nach dem Erscheinen der Rosenkreuzerschriften eine gewisse Scheu davor hatte, als der Bekenner dessen zu gelten, was in die­sen Schriften zum Ausdruck kommt, eine genügend begrün­dete Ansicht über das Verhältnis dieser Persönlichkeit zum Rosenkreuzertum kann man durch solche Betrachtungen nicht gewinnen. Ja, selbst wenn man so weit gehen wollte, die Verfasserschaft Andreaes bezüglich der «Fama» zu leug­nen, gegenüber der «Chymischen Hochzeit» wird man dies aus geschichtlichen Gründen nicht tun wollen.

Es muß auch geschichtlich die Sache noch von einem an-dern Gesichtspunkte aus beobachtet werden. Die «Fama Fraternitatis» ist 1614 erschienen. Man lasse zunächst da­hingestellt, ob Andreae mit dieser Schrift sich habe an ernsthafte Leser wenden wollen, um ihnen von der als Rosenkreuzertum bezeichneten Geistesrichtung zu sprechen.

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Aber zwei Jahre nach dem Erscheinen der «Fama» wird die «Chymische Hochzeit» veröffentlicht, die schon vor dreizehn Jahren vollendet war. Andreae war 1603 noch ein blutjunger Mensch (siebzehn Jahre alt). Sollte er schon als solcher die Lebensreife gehabt haben, um gegenüber den Schwarmgeistern seiner Zeit einen Spuk zu treiben, indem er ihnen ein Gebilde seiner Einbildungskraft als Rosen­kreuzerei zum Spotte hinwarf? Und auch, wenn er in der «Fama», die übrigens auch schon 1610 als Handschrift in Tirol gelesen worden ist, von einem von ihm ernsthaft ge­meinten Rosenkreuzertum zu sprechen gewillt war, wie kommt er dazu, als ganz junger Mann in der «Chymi­schen Hochzeit» diejenige Schrift zu verfassen, die er zwei Jahre nach der «Fama» als Mitteilung über das wahre Rosenkreuzertum dann veröffentlicht hatte? Es scheinen sich die Fragen in bezug auf Andreae in der Tat so zu ver­knoten, daß der rein historische Ausweg schwer wird. Man könnte wohl kaum einem bloß historischen Forscher viel einwenden, der versuchte, glaubwürdig zu machen, An­dreae habe - etwa im Besitze seiner Familie - das Manu­skript der «Chymischen Hochzeit» und der «Fama» vor­gefunden, sie in der Jugend aus irgendwelchen Gründen veröffentlicht, aber selbst mit der in ihnen ausgesprochenen Geistesrichtung später nichts zu tun haben wollen. Wenn aber dies eine Tatsache wäre, warum hat Andreae nicht einfach Mitteilung von ihr gemacht?

Geisteswissenschaftlich kann man zu einem völlig andern Ergebnis kommen. Aus dern eigenen Urteilsvermögen und der Lebensreife Andreaes zur Zeit, als er die «Chymische Hochzeit» verfaßte, braucht man deren Inhalt nicht abzu­leiten. Inhaltlich erweist sich diese Schrift als eine aus der

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Intuition heraus verfaßte. Solches kann geschrieben werden von dazu veranlagten Menschen, auch wenn deren eigenes Urteilsvermögen und Lebenserfahrung nicht in das hinein­sprechen, was niedergeschrieben wird. Und das Nieder­geschriebene kann trotzdem die Mitteilung von einem Wirklichen sein. Die «Chymische Hochzeit» als Mitteilung über eine wirklich vorhandene Geistesströmung in dem hier angedeuteten Sinne aufzufassen, das gebietet ihr Inhalt. Die Annahme, daß Valentin Andreae sie aus der Intuition heraus geschrieben hat, wirft ein Licht auf die Stellung, die er später zu dem Rosenkreuzertum eingenommen hat. Er war als junger Mann dazu veranlagt, von dieser Geistes-strömung heraus ein Bild derselben zu geben, ohne daß seine eigene Erkenntnisart dabei mitsprach. Diese eigene Er­kenntnisart aber ist in dem späteren pietistischen Theolo­gen Andreae zur Entwickelung gekommen. Die für Intui­tionen zugängliche Geistesart trat in seiner Seele zurück. Er hat später selbst über das philosophiert, was er in seiner Jugend niedergeschrieben hat. Schon 1619 in seiner Schrift «Turris Babel» tut er dies. Der Zusammenhang zwischen dern späteren Andreae und dem in der Jugend aus Intui­tionen schreibenden ist ihm nicht in völliger Klarheit vor die Seele getreten. Man ist, wenn man die Stellung An­dreaes zum Inhalte der «Chymischen Hochzeit» in der hier angedeuteten Art betrachtet, genötigt, dasjenige, was diese Schrift enthält, ohne Beziehung auf das ins Auge zu fassen, was ihr eigener Verfasser zu irgendeiner Zeit über sein Ver­hältnis zum Rosenkreuzertum geäußert hat. Was von dieser Geistesströmung zur Zeit Andreaes sich offenbaren konnte, das offenbarte sich durch eine dazu geeignete Persönlichkeit. Wer von vornherein des Glaubens ist, es sei unmöglich, daß

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in dieser Art das in den Welterscheinungen wirksame Gei­stesleben zur Offenbarung kommt, der wird allerdings das hier Gesagte ablehnen müssen. Es könnte aber doch auch Menschen geben, die, ohne von abergläubischen Vorurtei­len auszugehen, gerade durch ruhige Betrachtung des «Falles Andreae» zu der Überzeugung von einer solchen Offen­barungsart kommen.

FRÜHERE GEHEIMHALTUNG UND JETZIGE VERÖFFENTLICHUNG ÜBERSINNLICHER ERKENNTNISSE

#G035-1965-SE391 - Philosophie und Anthroposophie (1904 - 1918

#TI

FRÜHERE GEHEIMHALTUNG UND JETZIGE VERÖFFENTLICHUNG ÜBERSINNLICHER ERKENNTNISSE

#TX

Das Verständnis für die Erkenntnisart, der sich übersinn­liche Welten erschließen, kann aus zwei Seelenerlehnissen heraus errungen werden. Das eine dieser Erlebnisse wurzelt in der Naturerkenntnis, das andere in den mystischen Er­fahrungen, die von dem gewöhnlichen, unvorbereiteten Be­wußtsein gemacht werden, um in das Gebiet des Übersinn­lichen einzudringen. Beide Erlebnisse stellen die Seele vor Erkenntnisgrenzen, die sie nur überschreiten kann, wenn sie sich Tore eröffnet, welche Naturerkenntnis und gewöhn­liche Mystik durch ihre eigene Wesenheit verschlossen hal­ten müssen.

Die Naturerkenntnis führt notwendig zu Vorstellungen über die Wirklichkeit, an denen sich die tieferen Kräfte der Seele stoßen, die aber von dieser Erkenntnis nicht hinweg-geräumt werden können. Wer den Stoß nicht fühlt, der hat in seiner Seele die tieferen Erkenntnisbedürfnisse nicht zur Belebung gebracht. Ein solcher kann dann glauben, es sei dem Menschen überhaupt unmöglich, zu einer andern als der Naturerkenntnis zu kommen. Von diesem Glauben wird man abgebracht durch eine ganz bestimmte Art von Selbsterkenntnis. Diese besteht in der Einsicht, daß man den ganzen Umfang der Naturerkenntnisse in ein Nichts auflöst, wenn man den Versuch macht, die angedeuteten Vorstellungen mit den Mitteln des Naturwissens selbst er­kennend zu durchdringen. Man muß sie, ohne ihnen erken­nend

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zu nahen, im Bewußtseinsfelde stehen lassen, wenn man die Vorstellungen des Naturwissens vor der Seele er­halten will. Solcher Vorstellungen gibt es viele. Hier soll nur auf die allerbekanntesten, die von «Materie> und «Kraft» gedeutet werden. Mögen auch neuere Anschauungen an die Stelle dieser Vorstellungen andere setzen; Natur-erkenntnis muß immer zu emem in dieser Art für ihre eigenen Erkenntnismittel Undurchdringlichen führen. Dem hier gemeinten Seelenerlebris erscheinen diese Vorstellun­gen wie ein Spiegel, den die Seele vor sich hinstellen muß, und die Naturerkenntnis selbst wie das durch diesen Spiegel sich offenbarende Bild. Jeder Versuch, die Vorstellungen mit den Mitteln der Naturerkenntnis zu behandeln, ist wie ein Zerschlagen des Spiegels, mit dem dann die Natur­erkenntnis selbst verschwindet. Auch alles Reden über irgendwelche «Dinge an sich» hinter den Naturerscheinun­gen ergibt sich für dieses Erlebnis als nichtig. Wer solche «Dinge an sich» sucht, der gleicht dem, der einen Spiegel zerschlagen möchte, um zu sehen, was hinter der spiegeln­den Fläche die Veranlassung zum Erscheinen seines Bildes gibt.

Es ist ganz selbstverständlich, daß ein solches Seelen­erlebnis im gewöhnlichen Sinne des Wortes mit den in der Naturwissenschaft gegenwärtig gebräuchlichen Gedanken nicht «bewiesen» werden kann. Denn es kommt darauf an, was man an der ganzen Art dieses «Beweisens» erlebt, also auf etwas, das über dieses selbst hinausgeht. In einem sol­chen Erleben muß die Frage erfaßt werden: woran liegt es, daß die Seele gezwungen ist, sich vor Erkenntnisgrerizen zu stellen, um Naturerscheinungen vor sich zu haben? Eine entwickelte Selbsterkenntnis kommt zu einer Antwort auf

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diese Frage. Sie bemerkt, welche von den menschlichen Seelenkräften an der Aufrichtung dieser Erkenntnisgrenzen beteiligt ist. Es ist diejenige, welche den Menschen befähigt, aus seinem Wesen heraus innerhalb der Sinneswelt Liebe zu entfalten. Die Liebefähigkeit ist in der menschlichen Or­ganisation begründet. Was dem Menschenwesen die Kraft der Liebe, der Sympathie und Antipathie mit seiner sinnen­fälligen Umgebung verleiht, das entzieht seiner auf die Naturdinge und Naturvorgänge gerichteten Erkenntnis die Möglichkeit, solche Wirklichkeitspfeiler wie «Kraft» oder «Stoff» begrifflich durchsichtig zu machen. Für denjenigen, der vermag, sich selbst einerseits im Naturerkennen, ande­rerseits in der Liebesentfaltung selbsterkennend zu erleben, wird diese Eigenheit der menschlichen Organisation unmit­telbar anschaulich. - Man muß sich nur hüten, dieser An­schauung durch einen Rückfall in die dem Naturerkennen notwendige Vorstellungsart eine irrtümliche Auslegung zu geben. Eine solthe bestünde in der Annahme, die Natur-dinge und Naturvorgänge entziehen dem Menschen den Einblick in ihre wahre Wesenheit, weil er zu einem solchen Einblick nicht organisiert sei. Das Entgegengesetzte ist rich­tig. Die Natur wird dem Menschen sinnlich-anschaulich dadurch, daß sein Wesen liebefähig ist. Für ein Wesen, das innerhalb des Sinnesfeldes nicht liebefähig wäre, fiele das ganze menschliche Naturbild hinweg. Nicht die Natur zeigt, wegen der menschlichen Organisation, nur ihre Außenseite, sondern der Mensch wird durch diejenige Kraft in seiner Organisation, die ihn nach einer andern Richtung liebe­fähig macht, in die Lage versetzt, sich vor seiner Seele solche Wirklichkeitsgebilde aufzurichten, durch welche die Natur sich ihm offenbart.

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Es ergibt sich aus dem gekerinzeichneten Erlebnis, daß die naturwissenschaftlichen Erkerintnisgrenzen zusammenhän­gen mit der Art, wie der Mensch als Sinne-begabtes Wesen in die physische Wirklichkeit hineingestellt ist. Seine Natur-anschauung ist eine solche, wie sie einem zur Liebe fähigen Wesen angemessen ist. Er müßte die Liebefähigkeit in sich ausrotten, wenn er nicht vor Grenzen der Naturanschau­ung gestellt sein wollte. Damit aber vernichtete er auch die Kraft, welche ihm die Natur offenbart. Sein Erkenntnis-drang geht also in Wahrheit auf etwas anderes als auf Hinwegräumung der Grenzen seiner Naturanschanung durch die Mittel, die er im Naturanschauen selbst betätigt. Wer dies durchschaut hat, der kann nicht mehr danach stre­ben, durch diejenige Art von Erkenntnis, welche im Natur-wissen wirksam ist, in eine übersinnlicheWelt einzudringen. Er wird sich sagen, zur Erschließung des übersinnlichen Ge­bietes ist die Entwickelung einer ganz anderen Erkenntnis-art notwendig, als die für das Naturwissen angewendete.

Viele Menschen, die ein mehr oder weniger bewußtes Er­kennen des gekennzeichneten Erlebnisses haben, wenden sich für die Erschließung des übersinnlichen Gebietes von der Naturerkenntnis ab und suchen in der Art an dieses Gebiet zu dringen die man oft die mystische nennt. Sie ver­meinen, daß die Versenkung in das eigene Innere das offen­baren könne, was die nach außen gerichtete Anschauung verhüllt. Dem entwickelten Selbsterkennen stellt sich aber auch im Innenleben eine Erkenntnisschranke entgegen. Wie die Liebefähigkeit in das Sinnesfeld gewissermaßen eine Widerlage hineinstellt, an der sich die Natur spiegelt, so errichtet im Innenleben des Menschen die Erinnerungs­fähigkeit eine ebensolche. Dieselbe Seelenkraft, welche den

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Menschen zu einem erinnerungsfähigen Wesen macht, hin­dert ihn durch Hinabsteigen in sein Inneres, bis zu dem Er­leben vorzudringen, das ihn auf diesem Wege mit dem von ihm gesuchten übersinnlichen sich begegnen läßt. Er dringt auf diesem Wege stets nur bis zu derjenigen Seelen-kraft vor, die ihm die durch seine Organisation gemachten Erlebnisse zur Erinnerung bringt, nicht aber bis in das Ge­biet, in dem er mit dem eigenen übersinnlichen Wesen in einer übersinnlichen Welt wurzelt. Für denjenigen, der dies nicht durchschaut, entstehen bei einem mystischen Bestre­ben die ärgsten Täuschungen. Denn der Mensch nimmt im Laufe seines Lebens unermeßlich viel in sein Seelenleben auf, dessen er sich beim Aufnehmen nicht voll bewußt ist. Die Erinnerung aber bewahrt solches halbbewußt oder un­terbewußt Erlebte. Es tritt oft lange nach dem Erleben, wenn auch nicht in deutlichen Vorstellungen, so doch in Stimmungen, Gefühlsfärbungen und dergleichen im Be­wußtsein auf. Es verwandelt sich auch und tritt in ganz anderer Art ins Bewußtsein als in der, in welcher es erlebt worden ist. Man kann dann glauben, man habe es mit einer aus dem Innern der Seele aufsteigenden übersinnlichen Wirklichkeit zu tun, während man nur ein umgewandeltes, an der Sinneswelt gemachtes Erlebnis vor seinem Geistes-auge hat. Vor Täuschungen dieser Art ist nur derjenige be­wahrt, der erkennt, daß er auch auf einem mystischen Wege so lange nicht in das übersinnliche Gebiet eindringen kann, als er sich derjenigen Erkenntnismittel bedient, welche mit der in der Sinneswelt wurzelnden menschlichen Organisa­tion zusammenhängen. Wie mit der Liebefähigkeit das Vorhandensein eines Naturbildes zusammenhängt, so mit der Erinnerungsfähigkeit das unmittelbare Bewußtsein des

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menschlichen Selbstes. Dieselbe Seelenkraft, welche dem Menschen das an seine Organisation gebundene Selbstbe­wußtsein innerhalb der physischen Welt gibt, stellt sich hemmend seinem Zusammenschlusse mit der übersinnlichen Welt entgegen. Auch dasjenige, was oftmals als Mystik angesehen wird, bietet keinen Weg in das übersinnliche Gebiet des Daseins.

Für denjenigen, der in vollbewußter Klarheit in das Gebiet des Übersinnlichen eindringen will, sind die beiden geschilderten Erlebnisse vorbereitende Stufen seines Stre­bens. Durch sie erkennt er, daß ihn gerade das von der übersinnlichen Welt abschließt, was ihn als selbstbewußtes Wensen in das Naturdasein hineinstellt. Es liegt nun nahe, aus einer solchen Erkenntnis die Folgerung zu ziehen, daß der Mensch überhaupt darauf verzichten müsse, zu einer Er­kenntnis des Übersinnlichen zu kommen. Und man kann nicht in Abrede stellen, daß viele Persönlichkeiten, die einem solchen Verzicht nicht verfallen wollen, es vermeiden, sich über die beiden Erlebnisse zur vollen Klarheit durchzurin­gen. Solche bleiben lieber in einem Erkenntnisdunkel und geben sich entweder der Meinung hin, durch irgendwelche Verstandesbetätigung in philosophischer Art die Grenzen des Naturwissens überschreiten zu können, oder sie ver­meiden es, durch eine volle Aufklärung über die Wesen­heit des Selbstbewußtseins und die Erinnerungsfähigkeit die Unzulänglichkeit der gewöhnlichen Mystik, der sie sich hingeben, sich vor das Seelenauge zu führen.

Wer die geschilderten Erlebnisse bis zu einer gewissen Klarheit durchgemacht hat, dem ergibt sich gerade aus ihnen der Ausblick in übersinnliche Erkenntnismöglichkeit. Denn er findet im Verlaufe dieser Erlebnisse, daß in der

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Menschenseele innerhalb der gewöhnlichen Bewußtseins-betätigung Kräfte walten, die nicht an die physische Orga­nisation gebunden sind und für die auch nicht die Be­dingungen in Frage kommen, von denen innerhalb dieser Organisation die Liebefähigkeit und die Erinnerungsfähig­keit abhängig ist. Eine dieser Kräfte offenbart sich in dem Denken. Sie wird im gewöhnlichen Bewußtseinsleben aller­dings nicht bemerkt. Sie wird sogar von vielen Philosophen geleugnet. Diese Leugnung beruht aber auf einer unvollkom­menen Selbstbeobachtung. Im Denken waltet etwas, das nicht aus der Einnerungsfähigkeit in dasselbe eindringt. Etwas, das den Menschen nicht deshalb die Richtigkeit eines gegenwärtigen Gedankens verbürgt, weil aus der Erinne­rung ein ihn tragender früherer Gedanke auftaucht, son­dern deshalb, weil diese Richtigkeit unmittelbar erlebt wird. Dieses Erlebnis verbirgt sich dem gewöhnlichen Be­wußtsein aus dem Grunde, weil der Mensch die in Frage kommende Kraft innerhalb dieses Bewußtseins für das den­kende Wahrnehmen vollständig verbraucht. Im denkenden Wahrnehmen ist diese Kraft wirksam, aber der Mensch glaubt, indem er wahrnimmt, daß ihm die Wahrnehmung allein die Richtigkeit dessen verbürgt, was er in einer Be­tätigung seelisch ergreift, die aus Wahrnehmen und Denken stets zusammenfließt. Und wenn er dann im bloßen Den­ken, das er von den Wahrnehmungen abgezogen hat, lebt, so hat er es wirklich nur mit einem solchen Denken zu tun, das seine Stützen in der Erinnerung findet. In diesem ab­gezogenen Denken ist der physische Organismus mittätig. Ein Denken, das dem Organismus nicht unterworfen ist, lebt für das gewöhnliche Bewußtsein nur, während der Mensch im sinnlichen Wahrnehmen begriffen ist. Dieses

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sinnliche Wahrnehmen selbst ist vom Organismus abhängig. Das in ihm enthaltene und in ihm mitwirkende Denken ist aber ein rein übersinnliches Element, an dem der Or­ganismus keinen Anteil hat. In diesem Denken hebt sich die Menschenseele aus dem Organismus heraus. Wer dieses Denken im Wahrnehmen sich zum abgesonderten Bewußt­sein zu bringen vermag, der weiß durch unmittelbares Er­leben, daß er als Seele sich unabhängig von seinem Leibe ergreift.

Dieses erste Sich-Erleben des Menschen als übersinnliches Seelenwesen ergibt sich der entwickelten Selbsterkenntnis. Es ist in jedem Wahrnehmungsakt unbewußt vorhanden. Es handelt sich nur darum, die Selbstbeobachtung so weit zu schärfen, daß bemerkt wird: im Wahrnehmen offen­bart sich ein Übersinnliches. Und was sich so offenbart, als schwächste erste Ankündigung eines Erlebens der Seele im Übersinnlichen: es kann weiter entwickelt werden. Das ge­schieht, wenn der Mensch in einem meditativen Leben ein solches Denken entwickelt, das aus zwei Seelenbetätigungen zusammenfiießt, aus derjenigen, welche im gewöhnlichen Bewußtsein in dem Wahrnehmen lebt, und aus der andern, die im gewöhnlichen Denken wirkt. Das meditative Leben wird dadurch zu einem verstärkten Denken, zu einem sol­chen, das in sich diejenige Kraft aufnimmt, welche sonst in das Wahrnehmen ausfließt. Das Denken muß sich so er­kraften, daß es in derselben Lebendigkeit wirkt, die sonst nur im Wahrnehmen vorhanden ist; und ohne sinnliches Wahrnehmen muß ein Denken sich betätigen, das sich nicht auf Erinnerungen stützt, sondern in unmittelbarer Gegen­wart seinen Inhalt so erlebt, wie man ihn sonst nur aus der Wahrnehmung schöpft. Von dem am Wahrnehmen sich

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betätigenden Denken hat eine solche meditative Seelenver­richtung die freie, vollbewußte Art, die in sich selbst sicher ist, daß sie sich keinen Inhalt gibt, der wie eine Vision aus dem unbewußt Organischen in die Seele hereinstrahlt. Jede Art des Visionären ist das volle Gegenteil des hier Gemein­ten. Man muß durch Selbstbeobachtung dahin gelangen, diejenige Seelenverfassung genau zu kennen, in welcher man während des Wahrnehmens eines Sinnes ist; und in dieser Seelenverfassung, in der man sich bewußt ist, daß der Inhalt des Vorgestellten nicht aus der Tätigkeit des Organismus aufsteigt, muß man Vorstellungen erleben lernen, die ohne äußere Wahrnehmung so im Bewußtsein erregt werden wie sonst nur die im besonnenen, wahrneh­mungslosen Nachdenken im Bewußtsein vorhandenen. (Wie man in richtiger Art zur Entwickelung eines solchen medi­tativen Lebens gelangt, darüber findet man im einzelnen Angaben in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» und in andern meiner Schriften.)

Durch die Entwickelung des meditativen Lebens in der geschilderten Art erhebt sich die Menschenseele zum be­wußten Erfühlen ihrer selbst als eines von der Leibesorga­nisation unabhängigen übersinnlichen Wesens. Das erste Sich-Erleben als übersinnliche Wesenheit, auf das oben hin-gedeutet worden ist, schreitet zu einer zweiten Stufe über­sinnlicher Selbsterkenntnis fort. Auf der ersten Stufe kann man nur wissen, daß man ein übersinnliches Wesen ist; auf der zweiten erfühlt man dieses Wesen als vollinhaltliches, wie man durch die Leibesorganisation das Ich des gewöhn­lichen Wachlebens erfühlt. Von größter Bedeutung ist es, einzusehen, daß der Übergang von der einen zu der andern Stufe ganz unabhängig von jeder Mittätigkeit eines Nichtseelischen,

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bloß Organischen sich vollzieht. Würde der Über­gang mit Bezug auf die eigene Organisation anders erlebt als der Verlauf, zum Beispiel, des logischen Schließens, dann hätte man es nicht mit dem hier Geschilderten, sondern mit einem Visionären zu tun. Der Unterschied vom bloßen logischen Schließen liegt auf einem ganz anderen Gebiet als auf dem des Verhältnisses zur eigenen Leibesorganisa-tion. Er besteht in dem Bewußtsein, daß in das Erfühlen des Selbstes übersinnlicher Gehalt eintritt.

Die Art des meditativen Lebens, die bisher geschildert worden ist, ergibt das übersinnliche Selbstbewußtsein. Aber dieses müßte ohne alle übersinnliche Umgebung bleiben, wenn neben dieser Art von Meditation nicht eine andere einherginge. Zu deren Verständnis gelangt man, wenn man den selbstbeobachtenden Blick auf die Willenstätigkeit lenkt. Diese ist im gewöhnlichen Leben bewußt auf äußere Verrichtungen gerichtet. Neben dieser läuft aber eine andere Willensäußerung des Menschen, die vom Bewußtsein nur in ganz geringem Maße beachtet wird. Es ist diejenige, welche das menschliche Seelenwesen im Laufe des Lebens von einer Entwickelungsstufe zur andern trägt. Der Mensch ist nicht nur jeden Tag mit einem andern Seeleninhalt er­füllt als an dem vorangehenden; sein Seelenleben ist audi an jedem folgenden Tage aus demjenigen des vorangehen­den Tages herausentwickelt. Und das treibende Element die­ser Entwickelung ist der Wille, der auf diesem Felde seiner Betätigung zum weitaus größten Teile unbewußt bleibt. Dieser Wille kann aber durch entwickelte Selbstbeobach­tung in seiner eigentümlichen Verfassung in das Bewußtsein hereingehoben werden. Und durch dieses Hereinheben ge­langt man zur Empfindung eines Wollens, das mit Vorgän­gen

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einer sinnenfälligen Außenwelt gar nichts zu tun hat, das vielmehr ganz allein auf die von dieser Außenwelt un­abhängige Innenentwickelung der Seele gerichtet ist. Kennt man diesen Willen einmal, dann lernt man allmählich sich in seine Wesenheit so einleben wie in dem oben geschilder­ten meditativen Erleben in den Zusammenfluß von den­kender und wahrnehmender Seelentätigkeit. Aber das Er­leben innerhalb dieses Willenselementes erweitert sich zu demjenigen einer übersinnlichen Außenwelt. Das auf die gekennzeichnete Art entwickelte übersinnliche Selbstbe­wußtsein erlebt sich durch das Versetztsein in dieses Wil­lenselement in einer übersinnlichen Umgebung, die von geistigen Wesenheiten und Vorgängen erfüllt ist. Sowie das übersinnliche Denken zu einem Selbstbewußtsein führt, das sich der an die menschliche Sinnesorganisation gebundenen Erinnerungsfähigkeit nicht bedient, so belebt sich das über­sinnliche Wollen in solcher Art, daß es ganz durchsetzt ist von einer vergeistigten Liebefähigkeit. Und diese ist das­jenige, was des Menschen übersinnliches Selbstbewußtsein in den Stand setzt, die übersinnliche Außenwelt wahrneh­mend zu erfassen. Die übersinnliche Erkenntnisfähigkeit wird bewirkt durch ein Selbstbewußtsein, das die gewöhn­liche Erinnerung ausschaltet und das im intuitiven Erfassen der geistigen Außenwelt durch eine vergeistigte Liebekraft lebt.

Erst das Durchschauen des Wesens dieser übersinnlichen Erkenntnisfähigkeit macht es möglich, den Sinn des Naturerkennens zu verstehen. Dieses Naturerkennen hängt näm­lich wesentlich zusammen mit demjenigen, das im Menschen innerhalb der physisch-sinnlichen Welt sich ausbildet. In­nerhalb dieser Welt gliedert der Mensch seinem übersinn­lichen

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Wesen das Selbstbewußtsein und die Liebefähigkeit ein. Hat er beides seiner Wesenheit eingeordnet, dann kann er es in die übersinnliche Welt hineintragen. Die gewöhn­liche Erinnerungsfähigkeit wird im übersinnlichen An­schauen ausgeschaltet. An ihre Stelle tritt die unmittelbare Anschauung des Vergangenen. Für sie erscheint dieses Ver­gangene in rückschauender geistiger Beobachtung wie die Ge­genstände, an denen man vorbeigegangen ist und nach denen man sich umwendet, für die sinnliche Wahrnehmung. - Die gewöhnliche Liebefähigkeit ist an den physischen Organis­mus gebunden. An ihre Stelle tritt im übersinnlichen Er­leben eine vergeistigte Liebekraft, die einerlei ist mit Wahr­nehmungskraft.

Aus dieser Darstellung des übersinnlichen Erlebens wird man entnehmen können, daß dieses in einer Seelenverfas­sung erfolgt, die im Bewußtsein getrennt gehalten werden muß von derjenigen des gewöhnlichen Wahrnehmens, Den­kens, Fühlens und Wollens. Beide Anschauungsarten der Welt müssen durch die menschliche Besonnenheit so aus­einandergehalten werden wie nach einer andern Richtung hin das Wachbewußtsein und das Traumleben. Wer die Bildzusammenhänge des Traumlebens in sein Wachbewußt­sein hinüberspielen läßt, wird zum welifremden Phantas­ten. Wer sich dem Glauben hingibt, daß in das Traumleben hinein die wesenhafte Art des im Wachen erlebten Ur­sachenzusammenhanges sich fortsetzt, der durchsetzt die Traumbilder gedanklich mit einem Wirklichkeitscharakter, der es ihm unmöglich macht, deren Wesenheit richtig zu erleben. Wer die Vorstellungsart der Naturanschauung oder die innere Erlebnisart der gewöhnlichen Mystik in das über­sinnliche Erleben hinüberspielen läßt, der schaut nicht das

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Ubersinnliche, sondern er webt sich ein Phantasiegebilde, das ihn von der gesuchten Welt abgliedert, nicht ihn ihr nähert. Wer das Erleben im Übersinnlichen von demjenigen im Physisch-Sinnlichen nicht getrennt halten will, der ver­dirbt sich die unbefangene Naturanschauung, welche die Grundlage ist für ein richtiges Verbringen des Erdendaseins, und er durchsetzt die an den Organismus gebun­dene Liebefähigkeit mit der geistigen Wahrnehmungskraft, wodurch die erstere in ein trügerisches Verhältnis zum phy­sischen Erleben gebracht werden kann. Was der Mensch im Felde der Sinneswelt erlebt und erwirkt, das erhält seine wahre, von den tiefsten Seelenbedürfnissen geforderte Be­leuchtung durch die Wissenschaft von dem übersinnlich zu Erlebenden. Aber dieses zu Erlebende muß im Bewußtsein getrennt gehalten werden von dem Erleben in der Sinnes-welt. Es muß die Naturerkenntnis das moralische, das so­ziale Leben beleuchten; aber so, daß die Erleuchtung von dem getrennt Erlebten aus geschieht. Mittelbar muß durch die menschliche Seelenverfassung das Übersinnliche in das Sinnliche hereinscheinen, sonst bleibt dieses der gedank­lichen Finsternis und der Willkür der Triebe und Instinkte überlassen.

Persönlichkeiten, die dieses Verhältnis, in dem übersinn­liches und sinnliches Erleben in der Menschenseele stehen müssen, durchschauen, sind der Meinung, daß das über­sinnliche Wissen nicht der vollen Öffentlichkeit übergeben werden dürfe, sondern daß es Geheimwissen einiger Weni­ger bleiben müsse, die durch eine strenge Selbstzucht sich die Fähigkeit erworben haben, das geforderte Verhältnis richtig herzustellen. Solche Besitzer der übersinnlichen Er­kenntnis begründen diese ihre Meinung mit der völlig zutreffenden

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Behauptung, daß ein Mensch, der nicht in voll­kommen hinreichender Art für das Erkennen des Über­sinnlichen vorbereitet ist, einen unwiderstehlichen Drang empfindet, Übersinnliches und Sinnliches im Leben zu ver­mengen, und dadurch bei sich und andern alle die Schäden hervorrufen muß, die hier als die Folgen einer solchen Ver­mengung gekennzeichnet worden sind. - Da aber nach dem begründeten Glauben solcher Persönlichkeiten die mensch­liche Naturanschauung nicht in Finsternis verdumpfen, das Leben nicht in blinden Trieben und Instinkten dahinfije­ßen darf, so haben sie in sich geschlossene Gesellschaften -Geheimschulen - gegründet, in denen richtig vorbereitete Menschen stufenweise zum übersinnlichen Erkennen ge­führt werden. Solche Menschen haben dann die Aufgabe, die Früchte ihres Wissens in das Leben einfließen zu lassen, ohne dieses Wissen selbst der Öffentlichkeit auszuliefern.

Diese Anschauung war für die verflossenen Zeiten der Menschheitsentwickelung eine durchaus berechtigte. Für diese Zeiten kam der gekennzeichnete Drang der Menschen, der zum Mißbrauch des übersinnlichen Wissens führt, allein in Betracht, denn es stand ihm nichts anderes entgegen, das die Veröffentlichung dieses Wissens forderte. Es könnte nur geltend gemacht werden, daß die Überlegenheit der in das Wissen Eingeweihten über die Nichtwissenden den erstern eine starke Macht zur Beherrschung der letztern in die Hand gab. Allein, wer den Gang der Menschheitsgeschichte durch­schaut, der wird auch von der Notwendigkeit eines solchen Machtzusammenflusses in den Händen weniger für diese Macht durch Selbstzucht Geeigneter überzeugt sein.

Nun ist aber mit der Gegenwart - in einem weiteren Sinn - die Menschheitsentwickelung an einem Punkte angelangt,

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von dem aus diese Gepflogenheit fortzusetzen unmöglich und auch schädlich wird. Dem unwiderstehlichen Drang, das übersinnliche Wissen zu mißbrauchen, steht jetzt anderes gegenüber, das dessen - wenigstens teilweise -Veröffentlichung unerläßlich macht, und das auch die schäd­liche Wirkung dieses Dranges zu beseitigen geeignet ist. -Das Naturwissen hat eine Form angenommen, durch die es fortwährend zerstörend an seine eigenen Grenzen anschlägt. Der Mensch wird jetzt auf vielen Gebieten dieses Wissens durch die Art, wie er gewisse Naturtatsachen in Gesetz­mäßigkeiten zu bringen genötigt ist, auf seine übersinn­lichen Fähigkeiten hingewiesen. Diese drängen sich an das bewußte Seelenleben heran. Das war in früheren Zeiten bei dem der Allgemeinheit bekannten Naturwissen nicht der Fall. Durch die gegenwärtige Art des sich immer mehr aus­breitenden Naturwissens müßte die Menschheit in eine von zwei Verirrungen geworfen werden, wenn nicht eine Ver­öffentlichung übersinnlicher Erkenntnisse eintreten würde.

Entweder, man würde die Möglichkeit einer übersinnlichen Weltanschauung in immer stärkerer Art ableugnen, was nach entsprechender Zeit zu einer künstlichen Zurück­drängung der herausgeforderten übersinnlichen Fähigkeiten führen würde. Eine solche Zurückdrängung aber würde dem Menschen unmöglich machen, sein eigenes Wesen im wahren Lichte zu schauen. Verödung, Verwirrung, Unbe­friedigtheit des Seelenlebens, innere Haltlosigkeit, Willens­verkehrtheit und in deren Folge auch physische Verküm­merung und Ungesundheit müßten dann eintreten. Oder die übersinnlichen Fähigkeiten, unbeherrscht durch besonnenes übersinnliches Wissen, müßten als unbewußte, unorien­tierte, stumpfe Erkenntniskräfte wild wuchern und das

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menschliche Erkennen in einem chaotischen Vorstellungs­nebel verkommen lassen, was gleichbedeutend wäre mit dem Schaffen wissenschaftlicher Trugbilder, die sich als eine Decke für das menschliche Geistesauge vor die wahre über­sinnliche Welt hinstellen. Beiden Verirrungen ist nur ab­zuhelfen durch eine richtige Veröffentlichung des übersinn­lichen Wissens.

Dem Drange, dieses Wissen in der angedeuteten Art zu mißbrauchen, kann gegenwärtig dadurch entgegengearbeitet werden, daß man die durch das neuere Naturwissen erwor­bene Gedankenschulung für die Einkleidung der auf das Übersinnliche zielenden Wahrheiten fruchtbar macht. Dieses Naturwissen selbst kann nicht in die übersinnliche Welt eindringen; aber es verleiht der menschlichen Seele die Fähigkeit für Gedankenverbindungen, durch die sich über­sinnliche Erkenntnisse so ausdrücken lassen, daß der cha­rakterisierte unwiderstehliche Drang zum Mißbrauch dieses Wissens nicht auftreten muß. Die Gedankenverbindungen des Naturwissens früherer Zeitalter waren bildhafter, weni­ger nach dem Felde des reinen Denkens hin gelegen, und die Einkleidung der übersinnlichen Anschauungen in sie wirkte, ohne daß der Mensch sich dessen bewußt wurde, auf seine nach dem Mißbrauch drängenden Triebe. - Betont aller­dings kann nicht stark genug werden, daß der Verbreiter des übersinnlichen Wissens in der Gegenwart seiner Ver­pflichtung gegenüber der Menschheit in um so besserer Art nachkommt, als er sich bemüht, dieses Wissen in die Ge­dankenformen zu prägen, welche dem wissenschaftlichen Naturerkennen nachgebildet sind. Dadurch wird der_Emp­fänger der übersinnlichen Erkenntnis genötigt, auf die Überwindung gewisser Schwierigkeiten des Verständnisses

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solche Seelenfähigkeiten zu verwenden, die sonst unbetätigt blieben und zum Drange nach Mißbrauch führen würden. Alles von Übereifrigen oder Verirrten angestrebte Popu­larisieren des übersinnlichen Wissens sollte vermieden wer­den. Die ernsten Sucher verlangen solches Popularisieren nicht; es tritt nur auf als banaler Trieb der Bildungsbequem­linge.

Auch im sittlichen und sozialen Leben ist gegenwärtig die Menschheit auf einer Entwickelungsstufe angelangt, die un­möglich macht, das gesamteWissen vom Übersinnlichen vom öffentlichen Geisteswesen auszuschließen. Die ethischen und sozialen Triebe hatten in früheren Zeitaltern gewisse aus Urzeiten der Menschheit vererbte geistige Richtkräfte in sich, die instinktiv nach einem Gemeinschaftsleben drängten, das den Bedürfnissen der Einzelseelen entsprach. Das See­lenleben der Menschen ist ein bewußteres gegenüber frühe­ren Zeiten geworden. Damit sind die geistigen Instinkte zurückgedrängt; Wille und Triebe müssen auch bewußt ge­leitet werden, wenn sie nicht richtungslos werden sollen. Das können sie nur, wenn der einzelne Mensch durch seine eigene Anschauung das Leben in der sinnlich-physischen Welt von der Einsicht in die übersinnliche Menschenwesen­heit aus zu beleuchten in der Lage ist.

In die bewußten Richtkräfte des sittlichen und sozialen Lebens können Vorstellungen, die nach Art der naturwis­senschaftlichen Erkenntnisse gebildet sind, nicht eingreifen. Zum verhängnisvollsten Irrtum der neueren, auf ihrem Gebiete zu der schönsten Frucht vorbestimmten Natur-wissenschaft müßte es führen, wenn nicht durchschaut würde, daß die Denkart dieser Wissenschaft ganz unbrauch­bar ist, für moralisches und soziales Leben der Menschheit

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Verständnis zu eröffnen und Impulse zu geben. Das Vor­stellen der Gesetze dieses Gebietes und das bewußte Lenken des Handelns kann nur durch die Beleuchtung von Seite der übersinnlichen Erkenntnis aus gedeihen. Zwischen dem Her­aufkommen der hochentwickelten Naturwissenschaft und der gegenwärtigen Gestaltung des menschlichen Willenslebens, mit seiner Unterlage der Triebe und Instinkte, be­steht ein bedeutungsvoller Zusammenhang. Was in das Naturwissen an Erkenntniskraft eingeflossen ist, das ist aus dem früheren Geistgehalt der Triebe und Instinkte entnom­men worden. In diese müssen neue Triebkräfte aus den Quellen des Übersinnlichen nachfließen.

Wir leben in einem Zeitalter, in dem übersinnliche Er­kenntnis nicht mehr ein Geheimgut weniger bleiben kann; in dem sie Gemeingut aller derjenigen werden muß, denen der Sinn des Lebens in diesem Zeitalter als Bedürfnis ihres Seelendaseins sich regt. Dieses Bedürfnis ist gegenwärtig schon in den unbewußten Seelenuntergründen der Men­schen in viel weiterer Ausbreitung wirksam, als manche ahnen. Es wird immer mehr zur Forderung nach einer Gleichbehandlung des übersinnlichen Erkennens mit dem Naturerkennen werden.

LUZIFERISCHES UND AHRIMANISCHES IN IHREM VERHÄLTNIS ZUM MENSCHEN

#G035-1965-SE409 - Philosophie und Anthroposophie (1904 - 1918)

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LUZIFERISCHES UND AHRIMANISCHES IN IHREM VERHÄLTNIS ZUM MENSCHEN

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Wer auf dem Wege der übersinnlichen Erkenntnis zu einer Anschauung der menschlichen Wesenheit vorzudringen sucht, dem offenbart sich in immer stärkerer Art die gegen­sätzliche Natur der denkerischen und der willensartigen Seelenbetätigung. Dieser Gegensatz kann schon einer sach­gemäßen Selbstbeobachtung des gewöhnlichen Bewußtseins nicht entgehen. Aber was für eine solche Beobachtung doch nur wie eine Andeutung wirkt, das tritt für die geisteswis­senschaftliche Betrachtung in einem hellen Lichte auf. Das Denken, wie es beim Menschen im gewöhnlichen Leben wirkt, und wie es in der gebräuchlichen wissenschaftlichen Forschung angewendet wird, zeigt sich innig gebunden an die Vorgänge der leiblichen Organisation, während alles Willensartige seine Unabhängigkeit von dieser Organisation bei fortschreitender Durchdringung seiner Wesenheit durch übersinnliche Erkenntnis immer eindringlicher offenbart.

Da nun im alltäglichen Verlauf des Seelenlebens die den­kerische und die willensartige Betätigung nie getrennt sich der Selbstbeobachtung zeigen, ist es dem gewöhnlichen Be­wußtsein unmöglich, die beiden Gegensätze in ihrer ureige­nen Wesenheit kennenzulernen. Diesem gewöhnlichen Be­wußtsein liegt immer ein Denken vor, in dem auch der Wille wirkt, und ein Wollen, das von denkerischer Tätig­keit durchsetzt ist. Es kann daher nie entscheiden, welchen Anteil das Denken oder der Wille als solche an der Seelen-verfassung haben. Das auf das Ubersinnliche hingeordnete Bewußtsein vermag sich so einzustellen, daß es das Denken

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und das Wollen getrennt in das Beobachtungsfeld bekommt. Und erst bei solcher Einstellung erkennt man die innige Gebundenheit des in der Sinneswelt tätigen Denkens an die leibliche Organisation.

Man kann diese Gebundenheit nicht untersuchen, wenn man nicht die Aufmerksamkeit lenkt auf die sich verän­dernden Eigentümlichkeiten des menschlichen Lebens in aufeinanderfolgenden Epochen. Die Seelenverfassung des Kindes von der Geburt bis zum Zahnwechsel ist für eine durch geisteswissenschaftliche Schulung geschärfte Beobach­tung eine ganz andere als die vom Zahnwechsel bis zur Ge­schlechtsreife. Und wieder andere Eigentümlichkeiten zeigt die Epoche von der Geschlechtsreife bis zum Anfang der zwanziger Jahre. Auch der folgende Lebenslauf gliedert sich in deutlich unterscheidbare Abschnitte. Der vierte schließt mit dem Ende der zwanziger, der fünfte mit der Mitte der dreißiger, der sechste mit dem Beginn, der sie­bente mit dem Ende der vierziger Jahre. Mit dem Eintritt in die fünfziger Jahre beginnt diejenige Lebenszeit, in der die Gliederung in Abschnitte sich nicht mehr in völlig be­stimmter Weise durchführen läßt.

Dem Beobachter des Übersinnlichen offenbart sich der Gesamtumfang der Seelenverfassung in seinen Umwand­lungen durch die Lebensepochen besonders deutlich, wenn er die Aufmerksamkeit auf die Gebundenheit des Denke­rischen an die Leibesorganisation richtet. Er muß nur, um in dieser Beziehung richtig zu sehen, streng sich halten an die denkerische Betätigung und von ihr wirklich alles ab­scheiden, was durch den Einfluß des Willens zustande kommt. Er findet dann, daß die Gedankentätigkeit in den ersten vier Lebensabschnitten, insoweit sie aus der eigenen

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Wesenheit des Menschen sich entfaltet und von seiner Lei­besorganisation abhängig ist, völlig ungeeignet dazu ist, diese eigene menschliche Wesenheit begreifend zu erfassen. Der Mensch könnte in den drei ersten Lebensjahrzehnten zu keinem in Gedanken erfaßbaren Bewußtsein seiner selbst gelangen, wenn er in seinem Seelenleben allein angewiesen wäre auf die denkerischen Fähigkeiten, die sich auf der Grundlage seiner Leibesorganisation entwickeln. Mit dem Ende der zwanziger Jahre nimmt das Denkerische einen gegenüber seinem frühem völlig veränderten Charakter an. Es wird geeignet, die in Abhängigkeit von der eigenen Lei­besorganisation entwickelten Gedanken in den Dienst der menschlichen Selbsterkenntnis zu stellen. Jedoch kann sich diese Selbsterkenntnis nur auf die in diesen Lebensabschnitt fallenden menschlichen Innenerlehnisse beziehen, nicht auf die der vorangehenden Lebensepochen. Ein gedankliches Verständnis für das Innenleben durch die auf Grund seiner Leibesorganisation entfaltete Denktätigkeit entwickelt der Mensch erst von der Mitte seiner dreißiger Jahre an. Es ge­schieht dies in gesetzmäßiger Weise. In der Mitte des vier­ten Lebensjahrzehntes findet sich eine Gedankenkraft ein, welche zum Erfassen des vierten Abschnittes geeignet ist, im Beginne der vierziger Jahre eine solche, die den dritten, mit dem Ende der vierziger Jahre eine die den zweiten Lebens­abschnitt erfassen, und in der Mitte der fünfziger Jahre erst diejenige, welche die Kindheitserlebnisse von der Geburt bis zum Zahnwechsel durchschauen kann. - Diese durch den Lebenslauf des Menschen sich hindurchziehende Entwicke­lung seines Denkens bleibt dem gewöhnlichen Bewußtsein völlig unbewußt. Sie verläuft ganz unter der Schwelle die­ses Bewußtseins und dringt aus dem sogenannten Unterbewußtsein

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in die täglichen Erlebnisse der Seele nur bei Menschen, die ihr Innenleben auf eine feinere Selbsterkennt­nis abgestimmt haben. Die übersinnliche Erkenntnisart hebt aber das Unterbewußte in das Feld des Bewußtseins herauf und kommt so zu der Einsicht, daß diejenige Selbsterkennt­nis, welche der Mensch vor der zweiten Lebenshälfte er­wirbt, nicht durch die denkerische Tätigkeit vermittelt ist, welche aus der eigenen Leibesorganisation sich entfaltet, sondern durch geistige Kräfte, die auf dem Umwege des Willens in das Denken kommen und die von der mensch­lichen physischen Organisation unabhängig sind. Der menschliche Organismus kann erst in der zweiten Lebens-hälfte die Grundlage werden für eine denkerische Betäti­gung, welche das eigene Wesen erfaßt.

Wenn nun auch die geschilderte Umwandlung und Aus-reifung des Denkens für das gewöhnliche Seelenleben un­bewußt bleibt: an sich ist des Menschen Wesenskern in Wirklichkeit in einer solchen Entwickelung, daß er in der zweiten Hälfte des Lebens ein aus der leiblichen Organi­sation stammendes Eigenbewußtsein von Innenerlehnissen der ersten Lebenshälfte hat, die für die ersten drei Lebens­jahrzehnte unbewußt blieben, wenn dem Denken nicht auf dem Umwege durch den Willen eine vom Leibe unabhängige Kraft zur Selbstanschauung zugeführt würde.

Wer sich durch übersinnliche Erkenntnis die hier geschil­derte Einsicht erworben hat, dem ergibt sich im Verfolg seines Forschungsweges auch die Anschauung auf die vom Leibe unabhängigen Vorgänge, durch die mittelst des Wil­lens Selbstanschauung in der ersten Lebenshälfte möglich wird. Sein geistiger Blick wird auf die Erlebnisse der Seele vor der Geburt - beziehungsweise vor der Empfängnis - in

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einer übersinnlichen Welt gelenkt. Diese Erlebnisse sind das Ergebnis eines völlig anderen Zusammenwirkens von Ge­danke und Wille, als sie im Sinnenleben statt hat. Und dieses andere Zusammenwirken entfaltet sich auf der Grundlage einer ganz anderen Beschaffenheit sowohl der Denk- wie der Willenstätigkeit, als sie im sinnlichen Leben vorhanden ist. Die Gedanken sind da von selbsttätig willensartiger Wesenheit, und der Wille ist durch seine eigene Natur ge­dankendurchleuchtet. Im sinnenfälligen Leben sind die Ge­danken nur wie Schatten dessen, als das sie sich im Über-sinnlichen offenbaren; und der in der Sinneswelt tätige Wille ist gegenüber seiner im Übersinnlichen erkennbaren Wesenheit wie eine lichtberaubte Strahlenkraft. Das Zu­sammenwirken von willenbegabten Gedanken und ge­dankentragendem Willen kann nicht auf der Grundlage der Leibesorganisation erfolgen. - Nun hört, was in der Seele durch das Zusammenwirken von Gedanke und Wil­len vor dem Eintritte in das sinnenfällige Leben vorgeht, mit diesem Eintritte nicht auf zu wirken. Es wirkt fort. Neben dem Strome des Seelenlebens, der in Abhängigkeit von der Leibesorganisation verläuft, fließt ein anderer, der die Fortsetzung des leibfreien seelisch-geistigen Erlebens ist. Dieser Strom führt dem Menschen in der ersten Hälfte des sinnenfälligen Lebens die Kraft der Selbstanschauung zu. Er versiegt in der Lebensmitte. An seiner Stelle entwickelt sich auf der Grundlage der Leibesorganisation denkerische Kraft für die Selbstanschauung.

Ein wesentlich anderer Anblick tritt vor dem für über-sinnliches Erkennen geschulten Bewußtsein auf, wenn es sich nicht auf die denkerische, sondern auf die willensartige Betätigung im sinnenfälligen Lebenslaufe richtet. Alles vom

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Willen Abhängige löst sich für einen solchen Anblick immer mehr von der Leibesorganisation los. Das übersinnliche Be­wußtsein bekommt Klarheit darüber, daß die wahre We­senheit des Willens in der Sinneswelt nicht anschaulich wer­den kann. Daß der Mensch, auch wenn er bewußt nicht eine übersinnliche Einsicht entwickelt, doch das Erlebnis des Willens hat, das rührt davon her, daß in allem Willens-artigen dem gewöhnlichen Bewußtsein ein Übersinnliches einverwoben ist. Mit dem Willen ist jedem menschlichen Bewußtsein ein unmittelbar wahrnehmbarer übersinnlicher Einschlag gegeben, auch wenn sich dieses Bewußtsein durch die eigene Seelenverfassung die Einsicht in das Übersinn­liche verdunkelt. Der Mensch wäre nicht einmal veranlaßt, ein Wort für den Willen zu bilden, wenn er in seinem Seelenleben nichts wahrnehmbares Übersinnliches hätte. Denn für die Fähigkeiten, die sich an der Sinneswelt und für diese entwickeln, bliebe der Wille ein vollständig Un­bekanntes. Wer von der Entwickelung übersinnlicher Er­kenntnisse spricht, behauptet in Wahrheit nichts anderes, als daß diejenigen Seelenfähigkeiten, welche schon in der Wahrnehmung der Willenserlebnisse sich betätigen, erwei­tert, verdichtet, erhöht werden können, so daß sie auf die­selbe Art, wie sie den Willen gewahr werden, auch zur Anschauung eines anderen übersinnlichen Weltinhaltes kom­men können.

Jede Seelenwissenschaft, die nur mit den Erkenntnis­mitteln des gewöhnlichen Bewußtseins forschen will, muß bei Wahrnehmungen angelangen, denen gegenüber sie, wenn sie sich selbst versteht, sagen muß, sie seien für dieses Be­wußtsein undurchschaubar. Denn das Seelenleben läßt sich einem Knoten vergleichen, der an dem Trefforte verschie­dener

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Fäden durch diese geschlungen ist und dessen Wesen­heit nur zu durchschauen ist, wenn man die Fäden audi außerhalb desselben nach Herkunft und Zielrichtung ver­folgen will. Die vorangegangenen Darlegungen sprechen von einem durch die Leibesorganisation vermittelten und einem damit verwobenen nur mit übersinnlichen Erkennt­nismitteln erfaßbaren Erleben im Seelenwesen. Ist das letz­tere Erleben schon durch sein ureigenes Wesen dem gewöhn­lichen Bewußtsein verborgen, so bleibt diesem auch das andere unerkennbar durch den Umstand, daß es, um erkannt zu werden, von dem nur übersinnlich erfaßbaren Teil los-gelöst werden muß.

In ihrer Loslösung voneinander angeschaut, zeigen die beiden Elemente des Seelenlebens, daß dieses nicht ein ruhi­ges Hinbewegen ist, sondern das Erstreben einer Gleich­gewichtslage zwischen der Bewegung, in die es die an den Leib gebundene mehr denkerische, und derjenigen, in die es die rein übersinnliche mehr willensartige Betätigung drän­gen will. Durchschaut man das Stehen der Seele in dem Kampfe dieser beiden Strömungen, dann erweitert sich durch die Betrachtung derselben die Einsicht in noch an­deres, das in das Seelenleben hinein wirkt. Diese Betrach­tung zeigt nämlich, daß in der Mitte des sinnenfälligen Le­bens ein Mindestmaß an derjenigen Kraft vorhanden ist, welche nicht auf der Leibesgrundlage sich entwickelt, soü­dern die aus der übersinnlichen Welt auf dem Umwege durch den Willen dem Menschen zugeführt wird. In dieser Lebensepoche entwickelt die Seele eine starke unterbewußte, aber in das Bewußtsein triebartig heraufwirkende Neigung nach dem Eins-Werden mit der physischen Leibesorgani­sation. Die Seele strebt da gewissermaßen durch die Kräfte

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ihrer eigenen Wesenheit danach, sich von der geistigen Welt, in der sie vor ihrem Eintritte in das sinnenfällige Dasein lebte, abzuwenden. Nun wirkt diesem Streben eine andere Kraft entgegen, die ursprünglich nicht wesensverwandt mit den Kräften der Menschenseele ist, die aber im Weltenlaufe zu einem Einfluß auf diese Seele gelangt. Diese Kraft ist aber nicht nur zur Zeit der Lebensmitte im Menschen wirk­sam, sondern sein ganzes Leben hindurch. In der Lebens-mitte macht sie sich nur dadurch besonders bemerkbar, daß sie die Abkehr von der geistigen Welt verhindert. Sie macht sich aber auch im allgemeinen innerhalb der Seelenverfas­sung geltend in menschlichen Neigungen, die man als un­berechtigt hochmütige bezeichnen kann. Sie ist wirksam, wenn der Mensch sich für höhergeartet hält, als dem Grade seiner Entwickelungsreife entspricht. Und sie ist auch wirk­sam, wenn der Mensch sich getrieben fühlt zu einem Tun, das zum Beispiel in moralischer Beziehung seiner Wesenheit als Mensch widerspricht. Es mag sonderbar erscheinen, daß eine Kraft, welche den Menschen davon abhält, sich von der geistigen Welt wegzuwenden, auch eine Quelle des Ab­irrens von dem Guten sein kann. Aber die übersinnliche Er­kenntnis zeigt ebenso wie die sinnliche, daß im Weltenlaufe Kräfte vorhanden sind, deren Wirken nach der einen Rich­tung notwendig und wohltuend ist, nach einer andern aber sich in das Gegenteil verkehren kann. Nach dem Gebrauch, den das Wort in älteren Weltanschauungen gehabt hat, kann man die gekennzeichnete Kraft das in der Menschennatur wirksame Luziferische nennen. Man muß nur diese Vorstellung nicht allein mit den Gefühlen der Antipathie belasten, die sich mit Recht wegen der einen Seite des Luzi­ferischen Wesens an sie geknüpft haben. Man sollte gewissermaßen

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die Rechtfertigung für das Auftreten einer sol­chen Kraft im Weltenlauf, deren Wirkung auch ihre bösen Folgen hat, in der Notwendigkeit suchen, die sie für die Entwickelung des Menschenwesens hat.

Im Gegensatze zu dieser Kraft steht eine andere, die ebenfalls, ohne ursprünglich in der Menschenwesenheit zu liegen, im Weltenlaufe in ihr wirksam wird. Wäre das luzi­ferische Element ohne solchen Gegensatz voll wirksam, so würde es beim Eintritte der Seele in das sinnenfällige Leben die Anziehungskraft des Menschenwesens für dieses Leben überwinden; und der Mensch käme überhaupt nicht zu die­sem Eintritte. In dem Zeitpunkte, in dem die Möglichkeit einer Abkehr der Menschenseele vom sinnenfälligen Leben eintritt, wird das Luziferische von einem anderen über­wunden, das diese Seele in stärkerem Maße zum sinnen-fälligen Dasein hinzieht, als es durch ihr eigenes Wesen geschieht. Aus den gleichen Gründen, wie für die entgegen­gesetzte Kraft der Name des «Luziferischen» gebraucht werden kann, sei diese das «Ahrimanische» genannt. Wie das Luziferische, so hat auch dieses Ahrimanische seine Schat­tenseite. In ihm liegt der Ursprung der Verirrungen des Denkens wie im Luziferischen derjenige der Verfehlungen des Willens. Denn auch das Ahrimanische ist nicht bloß im Lebensbeginne, sondern den ganzen Lebenslauf hindurch von Wirksamkeit auf die Menschenseele.

In welchem Verhältnisse der Mensch als erkennender und handelnder zur Welt steht, davon läßt sich eine Anschau­ung nur gewinnen, wenn man sie auf der Grundlage einer Einsicht in die gekennzeichneten innerhalb seines Lebens wirksamen Kräfte sucht. Die Erkenntnis des Naturzusam­menhanges ist durchaus vermittelt durch die leibliche Organi­sation.

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Die Geschehnisse dieses Zusammenhanges setzen sich durch die Tätigkeit der Sinne und den an die Sinne sich anschließenden Nervenorganismus in das Innere des Leibes fort. Das Verhalten des Gesamtleibes zu den in sein Inneres mündenden Naturvorgängen ist zu vergleichen mit einer Spiegelung. Der Leib erzeugt Bilder der Vorgänge; und die Seele verhält sich zu diesen Bildern wie derjenige, der vor einem Spiegel steht und die von ihm erzeugten Bilder be­obachtet. Eine Seelenwissenschaft, welche die übersinnliche Erkenntnis ablehnt, muß stets auf eine Erkenntnisschwie­rigkeit stoßen, wenn sie begreifen will, wie die durch Sinnes-und Nervenerregungen zustande kommenden Leibesvor-gänge sich in die seelischen Erlebnisse umsetzen. Durch philosophische Erwägungen, die mit den Offenbarungen des gewöhnlichen Bewußtseins allein rechnen, läßt sich diese Schwierigkeit nicht überwinden. Denn sie rührt davon her, daß zwischen den körperlichen Vorgängen, die diesem Be­wußtsein anschaulich sind, und der seelischen Wesenheit, von der es Kenntnis gewinnen kann, keine Beziehung be­steht. Weder kann diesem Bewußtsein in den körperlichen Vorgängen sich etwas offenbaren, das diese befähigt, geistig erfaßbare Spiegelbilder zu erzeugen, noch kann ihm wahr­nehmbar werden, wie die Seele solche Bilder erkennend er­lebt. Der übersinnlichen Anschauung aber offenbart sich, daß dieselben Kräfte, welche als ahrimanische die Seele an die Leibesorganisation heranziehen, auch geistig im Natur­zusammenhange außer dem Menschen wirksam sind. Sie sind als geistige Kräfte in der Leibesorganisation tätig in dem gekennzeichneten Spiegelungsvorgange, der also ein geistiger in dem Stofflichen des Leibes ist; und sie befähigen durch ihre Wirksamkeit in der Seele diese zum Erleben der

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Bilder. Alle Naturerkenntnis ist vermittelt durch ahrimani­sche Tätigkeit.

Als handelndes Wesen erlebt der Mensch den freien Wil­len. Dieser ist eine Tatsache des Bewußtseins. Ihn hinweg-leugnen kann nur derjenige, welcher sich gegen eine offen­bare Tatsache seelisch blind macht. Zu begreifen aber ist er für den nicht, der alles nach dem Muster der naturwissen­schaftlichen Vorstellungen begreifen will. Denn der freie Wille gehört dem Naturzusammenhange nicht an. Denker, welche nur Naturzusammenhänge in der Welt gelten lassen wollen, erklären sich gegen die Anerkennung des freien Willens nicht deshalb, weil sie ihn nicht wahrnehmen, son­dern weil sie ihn nicht begreifen können. Wie das Willens­artige überhaupt, so ist auch das Wesen des freien Willens nur dem übersinnlichen Anschauen erkennbar. Im Verhält­nis zur sinnenfälligen Welt kann die Menschenseele dadurch den freien Willen entfalten und zu einem Bestandteil des eigenen Wesens machen, daß sie durch die luziferischen Kräfte auch während des Verweilens in dieser Welt mit einem Teile ihres Wesens in der geistigen Sphäre zurück­gehalten wird. Dieselbe Kraft, welche in der Lebensmitte den Menschen vor dem Einswerden mit der Leibesorgani­sation rettet, ist auch die Bildnerin seines freien Willens. Durch sie wird sein Leben hinweggehoben von dem bloßen Naturzusammenhange, in dem er durch seine Leibesorgani­sation steht.

Aus den übersinnlichen Anschauungen, die vom Ahri­manischen und Luziferischen zu gewinnen sind, wird klar, daß der Mensch, seinem übersinnlichen Eigenwesen nach, einem andern Gebiet der geistigen Welt angehört als diese beiden Kräfte. Es leuchtet ferner ein, daß jede einzelne dieser

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Kräfte der dem Menschen in der Weltordnung zukom­menden Wesensrichtung widerstrebt, daß aber das Verfol­gen dieser Richtung durch die zwischen beiden Kraftarten mögliche Gleichgewichtslage hindurch die Bedingung seiner Entwickelung zu immer höheren Daseinsstufen ist. Die Ein­verleibung und seelische Aneignung der Naturerkenntnis und die Entfaltung des freien Willens können aus den vor­angehenden Ausführungen als Ergebnisse dieses Durch­ganges durch die angedeutete Gleichgewichtslage erkannt werden.

Eine geisteswissenschaftliche Überschau über das geschicht­liche Leben der Menschheit ergibt, daß auch dieses nach zwei entgegengesetzten Richtungen hin von den beiden gekenn­zeichnetenKräften beeinflußt wird und ihm ein Erstreben der Gleichgewichtslage zwischen ihnen eigen ist. Doch findet in aufeinanderfolgenden Epochen dieses Lebens abwechselnd ein Überwiegen der ahrimanischen oder der luziferischen Impulse statt. Auf eine Epoche, in denen die Menschheit vorwiegend der luziferischen Kraft ausgesetzt ist, und in der sie aus dem eigenen Seelenleben heraus Anstrengungen entwickelt, welche dieser Kraft sich widersetzen, folgt im­mer eine solche, in welcher der Wirkung des Ahrimanischen aus diesem Leben heraus entgegengestrebt werden muß. Seit dem Beginne der Neuzeit herrscht eine solche ahri­manische Epoche. Ihr ist eine bedeutsame Erweiterung der Naturerkenntnis und eine Lebensform zu verdanken, durch die der Mensch in der Verwaltung der Naturkräfte eine be­sondere Vollkommenheit erlangt. Doch entfernte er sich durch einseitige Hinneigung in diese Richtung von den Kräften, die seinem ureigenen Wesen entsprechen. Und wollte er der Neigung nach dem Ahrimanischen keinen

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Widerstand entgegensetzen, so würden an die Stelle seiner eigenen Wesenskräfte die luziferischen Impulse treten und eine Abirrung des geschichtlichen Lebens nach ihrer Rich­tung herbeiführen. In den älteren Zeiten der Menschheitsentwickelung wurde das Gleichgewicht zwischen den beiden Impulsen durch eine Art geistigen Instinktes bewirkt. In der neueren Zeit muß an die Stelle dieses Instinktes das be­wußte Ergreifen der auf die Seele wirksamen Kräfte treten. Es ist gerade darin ein Fortschritt im geschichtlichen Werde­gang der Menschheit wahrzunehmen, daß das ältere instink­tive Geistesleben sich in eine immer mehr vom Bewußtsein beherrschte Seelenverfassung umwandelt. Diese Umwand­lung des unbewußten, halbbewußten in bewußtes Seelen-leben ist in der Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Wer­dens begründet. Daß ihr Ergebnis nicht in eine ahrimanische Richtung gelenkt werde, dafür hat das aus einem freien Willensentschlusse zu bewirkende Erfassen der übersinn­lichen Welt durch den Menschen zu sorgen. Denn während außerhalb des menschlichen Seelenlebens das Ahrimanische und Luziferische einander bekämpfende Kräfte der Welten-entwickelung sind, bereitet in der Seele selbst eine zu starke Beeinflussung des bewußten Lebens durch das Ahrimanische den Boden auch für die Eingriffe des Luziferischen. Und wird der Mensch von Luziferischem durchsetzt, so entfaltet er eine besondere Neigung, sein bewußtes Seelenleben auch von einem ahrimanischen Charakter durchdringen zu las­sen. Der Eintritt in das vollbewußte Seelenleben der neue­ren geschichtlichen Entwickelung traf die Menschheit in einer Epoche, in der ahrimanische Impulse mächtig waren. Die Folge davon ist die Notwendigkeit, sich den dadurch herbeigerufenen luziferischen Neigungen durch eine entsprechende

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Seelenverfassung zu entziehen. Das kann nur geschehen, wenn durch ein aus der Menschennatur bewirk­tes Hinstreben zum Erkennen des Übersinnlichen verhin­dert wird, daß die Seelenkräfte, die einem solchen Hinstreben dienen können, von luziferischen Mächten erfaßt werden. -

In der Einsicht in diese Verhältnisse liegt für denjenigen, der sie durchschaut, der Anlaß, übersinnliche Erkenntnisse in der Gegenwart für eine im Entwickelungsgange der Menschheit bedingte Notwendigkeit zu halten. Ein solcher begreift aber auch, daß sich gegenüber diesen Erkenntnissen Mißverständnisse und Gegnerschaften erheben können. Solche ergeben sich gerade aus der Zwiespältigkeit der Menschenwesenheit, welche ihm durch diese Einsicht klar vor die Seele tritt. Der ahrimanische Impuls der neueren Zeit ergreift das bewußte Seelenleben. Im unbewußten Teile desselben werden dadurch zunächst gewisse Triebe rege, welche der Hinneigung zu übersinnlicher Erkenntnis widerstreben. Eine unbewußte Furcht vor diesem Übersinn-lichen tritt auf. Sie ist deshalb nicht weniger wirksam, weil sie unbewußt ist. Aber sie umkleidet sich für das bewußte Seelenleben mit allerlei Selbsttäuschungen, die sie in dem Menschen erzeugt. In diesem Seelenleben erscheinen Ge­danken, welche sich als logische Gründe gegen die Möglich­keit oder auch gegen das Segenbringende der übersinnlichen Erkenntnisse ankündigen, denen der Mensch aber nur aus der unbewußten Furcht vor dieser Erkenntnis seine Zustim­mung gibt. Er kennt Gründe, die in Wahrheit keine sind, und weiß nichts von der Furcht, die ihn in Wirklichkeit leitet. - Neben der Furcht macht sich im unbewußten Seelen-leben durch den ahrimanischen Impuls, der den Menschen

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zum sinnenfälligen Dasein hindrängt, eine gewisse Inter­esselosigkeit gegenüber dem Übersinnlichen geltend. Sie hält davon ab, die tieferen geistigen Zusammenhänge in der Naturordnung zu verfolgen, die durch ihre eigene Wesen­heit von der bloß sinnlichen Anschauung hinweg- und zum Übersinnlichen hinführen. Der Mensch will sich darauf'be­schränken, die bloße stoffliche Außenseite der Naturtat-sachen zu erfassen, und nach dieser Außenseite sein Leben einrichten. Er bemerkt nicht, daß es nur seine Interesse­losigkeit ist, die ihn von der Anschauung des Geistes in der Natur abdrängt, und gibt sich dem durch diese Interesse­losigkeit bewirkten Glauben hin, daß ein Übersinnliches entweder ganz in Abrede gestellt oder jenseits der Grenzen menschlichen Erkennens gedacht werden müsse. Gegen die unbewußte Furcht und Interesselosigkeit hat die Hinwen­dung zu übersinnlichen Erkenntnissen die Kräfte des See­lenlebens zu entfalten, während die Gegner vermeinen, daß sie für logische Gründe und für die bescheidene Haltung des Menschen innerhalb der Erkenntnisgrenzen kämpfen.

Dazu kommt noch das Mißverständnis, welches erzeugt wird dadurch, daß oft aus der gegensätzlichen Wesenheit des Ahrimanischen und Luziferischen unrichtige Folge­rungen gezogen werden für das Verhalten dieser Impulse gegenüber der Menschennatur. Man vermeint - manche stellen sich auch nur so an, als ob sie vermeinten -, daß mit dem bewußten Entgegensetzen einer übersinnlichen Er­kenntnis gegenüber dem ahrimanischen Charakter einer bloßen Naturanschauung ein Hingeleiten des Menschen zum Luziferischen erfolgen müsse. Wer dies behauptet, dem fehlt das Verständnis dafür, daß diejenige übersinnliche Erkenntnis, die aus dem ureigenen Wesen des Menschen

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selbst geholt wird, nicht nur nie in ein luziferisches Element führen kann, sondern gerade vor dem Verfall in ein sol­ches bewahrt, der notwendig eintreten müßte, wenn der einseitige ahrimanische Impuls die Bewußtseinskräfte in Anspruch nähme. Denn dieser lieferte die von der eigenen Wesenheit des Menschen nicht ergriffenen Strebungen zum Übersinnlichen an das Luziferische aus. Mit diesem Hin­weisen sind wohl auch die Hindernisse aufgezeigt, die ge­genwärtig aus gewissen Selbsttäuschungen und ungewoll­ten - manchmal halbgewollten - Mißverständnissen der Menschennatur sich gegen die Hinwendung zum übersinn­lichen Erkennen ergeben. Wird auf diese Hindernisse eine Aufmerksamkeit durch besonnenes Seelenleben gelenkt, so wird auch die Möglichkeit einer solchen Hinwendung leicht gefunden werden, denn dieses Erkennen offenbart seine Wahrheit durch sich selbst, wenn dieser Offenbarung nicht das Widerstreben der menschlichen Seele in der angedeute­ten Art entgegengetragen wird.

HINWEISE

#G035-1965-SE425 - Philosophie und Anthroposophie (1904 - 1918)

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HINWEISE

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Zu Seite

7 Mathematik und Okkultismus: Siehe den Bericht «Der theoso­phische Kongreß in Amsterdam» in «Luzifer-Gnosis 1903-1908» Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie und Berichte aus der Zeitschrift «Luzifer» und «Lucifer-Gnosis», Gesamtausgabe Dornach 1960, S.539 ff.

10 Es ist soviel wahre Wissenschaft im Naturerkennen: Kant, «Me­taphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft», 1776, Vor­rede: «Ich behaupte, daß in jeder besonderen Naturlehre nur soviel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.»

13 Karl Friedrich Gauß, 1777-1855. Er entdeckte, daß das Azio­mensystem der klassischen Euklidischen Geometrie nur eines unter vielen möglichen ist.

Bernhard Riemann, 1826-1866. Seine geometrischen Unter­suchungen wurden später unter der Bezeichnung «Riemanniche Geometrie» zusammengefaßt.

Oskar Simony, 1852-1915, Professor für Mathematik an der Hochschule für Bodenkultur in Wien. Vgl. Rudolf Steiner, «Weltwesen und Ichheit», Gesamtausgabe Dornach 1963, 6. Vor-trag.

15 Geburt des höheren Manas aus Kama-Manas: Siehe hierzu «Lu­zifer-Gnosis» (Hinweis zu S. 7), S. 107.

was das Arupa-Reich im Gegensatz zum Rupa-Reich ist: Rupa die geistige Welt) wird im Astralleib erlebt, Arupa (die über-geistige Welt) im Ich. Siehe Rudolf Steiner «Die Geheimnisse der Schwelle», Gesamtausgabe Dornach 1962.

17 Besonders scharf wandte sich in diesem Sinne Goethe gegen eine

Überschätzung der Mathematik: «Über Mathematik und deren

Mißbrauch sowie das periodische Vorwalten einzelner wissen­schaftlicher Zweige». Goethes Naturwissenschaftliche Schriften.

Herausgegeben von Rudolf Steiner. In Kürschners Deutscher

Nationalliteratur (1887). II. Bd. S.45 ff.

... . selbst da, wo wir uns keiner Rechnung bedienen»: Goethe,

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«Der Versuch als Mittler zwischen Objekt und Subjekt». Eben­da S.19.

an Herder: 17. Mai 1787.

19 Die okkulte Grundlage in Goethes Schaffen: Siehe den Bericht «Der theosophische Kongreß in London» in «Luzifer-Gnosis» (Hinweis zu S.7), S.566 ff.

23

24

25 Im Jahre 1816 wurde er dann . . . aufgefordert: «Die Geheim­nisse», Fragment von Goethe. Morgenblatt für gebildete Stände.

27. April 1816. In: Schriften zu Literatur und Theater II,

1807-1832.

29 In seinem Tagebuch der Schweizer Reise: 10. September 1797.

Karl Friedrich Kielmeyer, 1765-1844, Naturforscher.

spricht er seinen Gedanken . . . mit den Worten aus: «Howards Ehrengedächtnis», Goethes Naturwissenschaftliche Schriften (s.o.), II. Bd. S.346 f.

32 er werde am Schlusse Mystiker: «Faust endet als Greis, und im Greisenalter werden wir Mystiker.» Gespräch mit Friedrich För­ster, Datum nicht bestimmbar, in «Kunst und Leben». Aus Fried­rich Försters Nachlaß, Berlin 1873, S.216 f.

35 In seiner Art weist Schiller: «Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen». Vierter Brief.

Er schreibt darüber an Schiller: 26. Oktober 1794.

39 im Roman 15. Kapitel.

40 in der

41 Hylozoismus: Weltanschauung, die den Stoff als solchen als be­lebt ansieht.

Deshalb spricht er von einer Goethes Naturwissenschaftliche Schriften (s.o.) I. Bd., S.115.

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42

43 Theosophie in Deutschland vor hundert Jahren: Siehe den Be­richt «Der Kongreß in Paris im Juni1906» in «Luzifer-Gnosis» (Hinweis zu S.7), S.572 ff.

45 In dem Werk, das er

51 Einer seiner Kernsprüche: Aus dem Gedicht «Die Künstler».

Wörtlich: Nur durch das Morgentor des Schönen Drangst du in der Erkenntnis Land.

52

53 «Der neue Sinn ist demnach der Sinn für den Geist»: Ebenda

S.19.

55 Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, 1794. Anmerkung zu § 4.

61 Aussprüche wie die folgenden: Novalis, «Fragmente», 1300 (Wassmuth).

61/62 537 (Wassmuth).

62 So kann er sagen: «Fragmente», 209, 2708 (Wassmuth).

65

66 den ich 1908 in Stuttgart gehalten habe: am 17. August.

84 die harten Worte Luthers: Siehe Martin Luthers Briefe. Her-ausgegeben von Reinhard Buchwald. Leipzig 1909. Bd. I S. 17 f, 222, 254.

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87 mit einem von mzr sehr geschatzten Denker: Eduard von Hart­mann. Vgl. Rudolf Steiner «Mein Lebensgang», Gesamtausgabe Dornach 1962.

89/90 Wncenz Knauer, 1828-1894. Vgl. Rudolf Steiner «Vom Men­schenrätsel», Gesamtausgabe Dornach 1957, und «Methodische Grundlagen der Anthroposophie», Gesamtausgabe Dornach 1961.

94 Dr. Carl Unger, 1878-1929, bedeutender Schüler Rudolf Stei­ners, Gründungsmitglied der Anthroposophischen Gesellschaft.

98 Das reine Denken können wir nach Aristoteles als Aktualität be­zeichnen: d.h. als eine Tätigkeit, die keine Substanz voraussetzt.

116 Gespräch mit Schiller: Erste Bekanntschaft mit Schiller (Para­lipomena zu den Annalen). In etwas anderer Fassung in «Glück­liches Ereignis» (Morphologie).

Auch hat er gesagt: Brief an Herder vom 17. Mai 1787.

136 AnthonyAshley-Cooper,Earl von Shaftesbury, 1671-1713. Seine Weltanschauung sieht in der Persönlichkeit das Abbild der Welt als einer in sich harmonischen Ganzheit.

137 Hermann von Helmholtz, «Die Tatsachen in der Wahrneh­mung», Berlin 1879, S. 12 f.

Johannes Müller, «Handbuch der Physiologie des Menschen». 2 Bde. Koblenz 1833-1840. II. Bd. S. 254.

141

des Menschen als reine Erfahsungswissenschaft»,Wien 1894, S. 35. 147 Francesco Redi, 1626-1697.

158 Rektoratsrede über Galilei: Laurenz Müllner «Die Bedeutung

Galileis für die Philosophie». Inaugurationsrede, gehalten am

8. November 1894 in Wien. Abgedruckt in «Die Drei», XVI.

Jahrgang 1933/34, S. 29 ff. Siehe auch Rudolf Steiner «Mein

Lehensgang» und «Vom Menschenrätsel».

168 die wichtige Stelle: Lukas 3, 22.

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176 Robert Zimmermann, 1824-1898, vgl. Rudolf Steiner «Mein Lebensgang».

179 Helena Petrowna Blavatsky, 1831-1891, gründete 1875 mit H. S. Olcott die Theosophische Gesellschaft in New York. Hauptwerk: «Geheimlehre», London 1888, deutsch 3 Bde. 1898 bis 1906.

Annie Besant, 1847-1933, wurde nach dem Tode des ersten Prä-sidenten Olcott 1907 Präsidentin der Theosophischen Gesell­schaft. Werke: «Uralte Weisheit» 1898; «Der Mensch und seine Körper», 1906.

180 in dramatischen Darstellun gen: «VierMysteriendramen», 3. Auf-lage Gesamtausgabe Dornach 1962.

206 eines Priesters gedenken: siehe Hinweis zu S. 158.

216 «Wenn es nun höchst erfreulich ist»: J. P. V. Troxier, «Vor­lesungen über Philosophie». Neu herausgegeben von F. Eymann, Bern 1942, S. 88.

232 Konrad Deubler, 1814-1884, Tagebücher, Biographie und Brief­wechsel des üsterreichischen Bauernphilosophen. Herausgegeben von Dodel-Port, 2 Bde. 1886. Siehe auch Rudolf Steiner «Vom Menschenrätsel».

234 Emil Du Bois-Reymond, «Über die Grenzen des Naturerken­nens», Leipzig 1872.

236

258 Unter den vielen Erwiderungsschriften: «Das Unbewußte vöm Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie». Eine kri­tische Betrachtung des naturphilosophischen Teiles der Philo­sophie des Unbewußten. Berlin 1872.

272 Theodor Ziehen, «Leitfaden der physiologischen Psychologie» in

15 Vorlesungen. 4. Auflage Jena 1898, S. l.

273 Franz Brentano, «Psychologie vom empirischen Standptntskte», Leipzig 1874, S. 20.

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307 ein langes Gespräch: Siehe Rudolf Steiner «Mein Lebensgang» S. 154 ff.

308/309 mit seinen . . . Bemerkungen und Einwendungen: Eine Kopie dieser Bemerkungen von der Hand Rudolf Steiners befindet sich im Archiv der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung.

309 Robert Hamerling, «Die Atomistik des Willens». Beiträge zur Kritik der modernen Erkenntnis. Hamburg 1891, I. Bd. S. 13, 17, 13.

310 Gustav Theodor Fechner, «Die Tagesansicht gegenüber derNacht­ansicht», 2. Auflage Leipzig 1904, S.4.

312 GideonSpieker,«Lessings Weltanschauung», Leipzig 1883; «Vom Kloster ins akademische Lehramt. Schicksale eines ehemaligen Kapuziners», Stuttgart 1908; «Am Wendepunkt der christlichen Weltperiode. Philosophisches Bekenntnis eines ehemaligen Kapu­ziners», 1910.

Johannes Volkelt, «Erfahrung und Denken. Kritische Grund­legung der Erkenntnistheorie», Hamburg und Leipzig 1886.

: Johannes Volkelt, «Immanuel Kants Erkenntnistheorie nach ihren Grundprinzipien analysiert», Leipzig 1879, S.1.

319 den kurzen Darstellungen des ersten und vierten Buches dieser Zeitschrift: Siehe den vorangehenden Aufsatz «Die Erkenntnis vom Zustand zwischen dem Tode und einer neuen Geburt», der in der Zeitschrift «Das Reich», München, I. Jahrgang 1916/17, i. und 4. Buch veröffentlicht wurde.

330 werde ich später einmal zur Darstellung bringen: Siehe «Anthro­posophie, ihre Erkenntniswurzeln und Lebensfrüchte. Mit einer Einleitung über den Agnostizismus als Verderber echten Men-schentums», Dornach 1952.

NACHWEIS

#G035-1965-SE431 - Philosophie und Anthroposophie (1904 - 1918)

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NACHWEIS

früherer Veröffentlichungen

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Mathematik und Okkultismus:

Autoreferat eines Kongreßvortrages gehalten in Amsterdam am 21.Juni 1904; abgedruckt in «Nachrichten der Rudolf Steiner-Nachlaßverwal­tung», Heft 12, Sommer 1964.

Die okkulte Grundlage in Goethes Schaffen:

Autoreferat eines Vortrages gehalten in London am 10. Juli 1905; ab­gedruckt in «Nachrichten der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung», Heft 10, Sommer 1963.

Theosophie in Deutschland vor hundert Jahren:

Autoreferat eines Vortrages gehalten in Paris am 4.Juni 1906; abge­druckt in «Nachrichten der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung»,Heft 11, Weihnachten 1963.

Philosophie und Anthroposophie:

Nach einem Vortrag gehalten in Stuttgart am 17. August 1908; er­schienen unter dem Titel «Philosophie und Theosophie», Berlin 1908; 2. umgearbeitete Auflage «Philosophie und Anthroposophie» in «Durch den Geist zurWirklichkeitserkenntnis der Menschenrätsel», Berlin 1918; 3. Auflage Dornach 1920; 4. Auflage Düsseldorf 1948; S. Auflage Dornach 1964.

Die psychologischen Grundlagen und die erkenntnistheoretische Stel­lung der Anthroposophie:

Vortrag gehalten auf dem 4. Internationalen Philosophie-Kongreß in Bologna am 8. April 1911. Zuerst gedruckt in «Atti del IV Congresso internazionale di filosofia», Bologna 1911; Sonderdruck hieraus 0.0. 1911; ferner in «Anthroposophie», 16. Jahrg. Buch 4; «Die Drei»,

18. Jahrg. Heft 2/3; in «Reinkarnation und Karma» und andere Auf­sätze, Stuttgart 1961.

Die Theosophie und das Geistesleben der Gegenwart:

Autoreferat des Vortrags vom 8. April 1911; abgedruckt in «Die Drei», 18. Jahrg. Heft 213.

Ein Wort über Theosophie auf dem Vierten Internationalen Kongreß für Philosophie:

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Autoreferat des Vortrags vom 8. April 1911 und Bericht über die an­schließende Diskussion; abgedruckt in «Die Drei», 18. Jahrg. Heft 2/3.

Was soll die Geisteswissenschaft und wie wird sie von ihren Gegnern behandelt?:

Berlin 1914.

Die Aufgabe der Geisteswissenschaft und deren Bau in Dornach:

Nach einem öffentlichen Vortrag, gehalten in Liestal am 11. Januar

1916; mehrere Auflagen Berlin o. J.; Berlin 1920, 1921; Dornach 1916,

1920.

Das menschliche Leben vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft

(Anthroposophie):

Nach einem öffentlichen Vortrag, gehalten in Liestal am 16. Oktober

1916; Dornach 1916, 1918, 1919,1932; Stuttgart 1948.

Die Erkenntnis vom Zustand zwischen dem Tode und einer neuen

Geburt:

In «Das Reich», München, 1. Jahr, Buch 1 und Buch 4, ferner in «An-

throposophie» 17. Jahrg. Buch 2.

Die Geisteswissenschaft als Anthroposophie und die zeitgenössische Er­kenntnistheorie (Persönlich-Unpersönliches):

Zuerst erschienen in «Das Reich», München, 2. Jahr Buch 2, ferner in «Anthroposophie», 17.Jahrg. Buch 2; erste selbständige Ausgabe Dorn-ach 1950.

Die Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz:

Zuerst gedruckt in «Das Reich», München, 2. Jahr Buch 3 und 4, 3. Jahr

Buch 1; ferner in «Die Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz

Anno 1459», von Johann Valentin Andreae, ins Neuhodideutsche über­tragen von Walter Weber, Dornach 1942, Stuttgart 1957.

Frühere Geheimhaltung und jetzige Veröffentlichung übersinnlicher

Erkenntnisse:

In «Das Reich», München, 3. Jahr Buch 2; ferner in «Anthroposophie»,

17.Jahrg. Buch 2; «Usterreichischer Bote von Menschengeist zu Men­schengeist», Wien i. Jahrgang, I. Teil Nr.3, und II. Teil Nr.4/5.

Luziferisches und Ahrimanisches in ihrem Verhältnis zum Menschen:

In «Das Reich», München, 3. Jahr Buch 3; ferner in «Anthroposophie», 17.Jahrg. Buch 2; erste selbständige Ausgabe Dornach 1932.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.