GA 32

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LESER UND KRITIKER

#G032-1971-SE011 - Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884 - 1902

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LESER UND KRITIKER

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Hier an dieser Stelle, wo sonst so oft von Büchern die Rede ist, und denen, die sie schreiben, möchte ich auch einmal einige Worte sprechen über diejenigen, die sie lesen. Das erstere ist allerdings bequemer. Ein Buch ist ein ab­geschlossenes Ganzes und kann als ein solches beurteilt werden. Der Autor ist eine bestimmte Individualität, über deren Bedeutung wir eine Ansicht gewinnen können. In beiden Fällen ist also das Objekt, über das wir schreiben, faßbar. Wenn wir aber über die «Leser» schreiben wollen, so kann uns jemand einwenden: Die «Leser im allgemei­nen» gibt es überhaupt nicht; der Gegenstand, der be­sprochen werden soll, kann als ein bestimmter gar nicht gelten; wir können es da nur mit einer ganz nebulosen Vorstellung zu tun haben. Es muß zugegeben werden, daß das Wort «So viel Köpfe, so viel Sinne» auch auf das lesende Publikum seine vollste Anwendung findet. Meine Beobachtungen werden also auf Herrn Schulze in Oberholzhausen und für die Frau Müllerin in Alt-Gabelsberg nicht zutreffen. Aber ich gehöre nun einmal nicht zu jenen Menschen, die da glauben, um eine Ansicht über etwas zu haben, müsse man erst alle in Betracht kommenden Fälle prüfen. Da könnte man bis ans Ende der Tage über keine Sache ein Urteil gewinnen und seine Vernunft vorläufig außer Funktion setzen.

Wer überhaupt Augen für eine in einer gewissen Zeit herrschende Eigentümlichkeit hat, dem genügen wenige charakteristische Erscheinungen, um sie zu bemerken.

Es ist im Grunde ein allgemeiner Charakterzug unseres ganzen geistigen Lebens, der sich auch in der Wahl dessen

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ausspricht, was wir mit Vorliebe lesen, daß viele unserer Zeitgenossen mehr, als das bei irgendeinem Geschlecht der Fall war, mit den Nerven leben.*

Sie suchen nicht nach Gelegenheit zu energischem Wol­len, nicht nach Befriedigung in hohen Gedanken, nicht nach den erhabenen Kunstregionen, in denen Goethes «Iphigenie» oder «Tasso» schweben, sondern nach auf­regenden Eindrücken, nach seltenen Sensationen. Die Bläue des Himmels und das Abendrot verlieren ihre Ge­walt auf die Menschen, und eine weiche Hand, die sich wie verblaßte alte Seide anfühlt, fängt an, sie zu interessie­ren. Es gibt heute Kulturmenschen, denen Strindbergs « Gläubiger» interessant sind, während sie sich bei Goethes «Natürlicher Tochter» langweilen. Wenig Verständnis findet noch ein Wort wie das Schillers: «In der Über­windung des Stoffes durch die Form liegt das wahre Kunstgeheimnis des Meisters.» Heute schwelgt man in den Eindrücken, die das Roh-Stoffliche macht. Man be­trachtet eben die Welt nicht mehr mit dem Geiste, sondern mit den Nerven. Nicht was die Welt unserem Geiste offen­bart, das suchen wir, sondern die «Heimlichkeiten», die wir in allerlei verborgenen Löchern finden. Man hat keine Geduld zu warten, bis ein Eindruck den Weg in das Ge­hirn gefunden hat; man lauert aber, welche Prozesse sich auf der Peripherie unseres Körpers abspielen. Die Farbenharmonie,

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* Ich weiß, daß der Gang der Kultor im Großen nichts zu tun hat mit der Geistesrichtung derjerigen unserer Zeitgenossen, von denen ich hier rede. Die Höhe moderner naturwissenschaftlicher Anschauungen und die gesunde Kunst unserer Tage, die sozialen Einsichten und Tendenzen be­stimmen diesen Gang. Aber ich will hier nicht von der Weltanschau­ungsentwicklung reden, die es mit den leitenden Geistern und Ideen zu tun hat, sondern von einem für uns Gegenwärtige störenden und die gesunde Entwicklung beeinträchtigenden Seitentrieb.

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die das Auge vermittelt, ist nicht mehr inter­essant, aber die Aufregung, in die der gekitzelte Sehnerv gerät, möchte man am liebsten beobachten.

Dieses Leben mit den Nerven findet sich auch in der Wahl der Lesestoffe unseres Publikums wieder. Man liest heute auch mit den Nerven. Was in einem Buche steht, darauf kommt es weniger an als auf die Aufregung, in die man durch allerlei stilistische Parfüms gerät, die nicht zur Sache gehören. Ich liebe Nietzsche wie irgendeiner, aber seine Wirkung auf viele scheint mir nicht in seinem Ge­dankengehalte begründet, sondern in den mystischen Wir­kungen seines Stiles, die einem kranken Nervensystem ihr Dasein verdanken. Man liest Nietzsche nicht, um ihm in die Höhe seiner Ideen zu folgen, sondern um sich von den Reizmitteln seines Stiles aufregen zu lassen. Ich glaube auch nicht, daß Dostojewskij seinen Ruhm der tiefen Psychologie seiner Figuren verdankt, sondern jenen «Heimlichkeiten», die zur Wirkung gelangen, ehe sie im Gehirn angelangt sind. Zweierlei muß ein Schriftsteller können, wenn er heute eine große Wirkung haben will: Er muß den Geist durch narkotische Mittel einlullen und den Körper durch allerlei Reize aufregen.

Es gibt Leute, die darin einen Fortschritt sehen, daß wir zur Kunst «der heimlichen Nerven» gelangt sind, und die alle diejenigen als elende Philister verketz:ern, die es bis zu solcher Nervenkultur nicht gebracht haben. Mit solchen Menschen läßt sich nicht streiten, denn zum Streit gehört Urteil; und das Urteil sitzt nicht in den Nerven.

Wo liegt aber das eigentliche Übel? Liegt es in den Schriftstellern, die heute die Lesewelt beherrschen? Oder liegt es am Publikum, das durch einen sozialen Motor auf

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unnatürliche Bahnen gelenkt wird? Die erstere Frage ist unbedingt mit Nein zu beantworten. Wer möchte die psychologischen Wühlereien Dostojewskijs in seiner gran­diosen Darstellung, die tiefwahren Deutungen, die Tolstoi dem Menschenieben gibt, verantwortlich machen dafür, wie sie vom Publikum gelesen werden? Hier, in dem: Wie man heute liest, darin liegt es. Wer sich objektiv den dar­gestellten Problemen hingibt, dem wird auch bei Zola die künstlerische Form höherstehen als die sinnliche Auf­regung, die er beim Lesen hat. Unsere Zeitgenossen auf ihrer vorgeschrittenen Kulturstufe halten es aber damit genau so, wie ihre ungebildeten Mitmenschen mit ihren Räuberromanen und Mordaffären.

Aber die Leser selbst sind noch weniger anzuklagen als diejenigen, von denen sie sich leiten lassen. Ein Geschlecht von Kritikern ist erstanden, die dem Publikum einreden, das sei erst der rechte, der moderne Geschmack: Goethe und Schiller lebten und wirkten in einem aristokratischen Wolkenkuckucksheim mit ihren abstrakten Geschmacks-urteilen.

«Wahr» müsse die Kunst vor allen Dingen sein, das spricht heute einer dem andern nach, und « wahr» seien Goethe und Schiller mit ihren «Idealen» und ihren «Typen» nicht gewesen. Diese Kritikerleins glauben dabei wirklich, daß ihre abgegriffenen Kupfrrmünzen von Be­griffen hinreichen, um sich in Besitz dessen zu setzen, was Schiller und Goethe Wahrheit genannt haben. Dergleichen Dinge lernt man nicht in den Kaffeehäusern kennen. Ich habe sie dutzendweise gelesen, die Bücher der neuesten Ästhetiker, und ich werde nicht müde, deren Ansichten doch Tag für Tag wieder in den Zeitungen zu verfolgen.

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Immer und immer wieder bilde ich mir noch ein: Der Most müsse sich klären. Aber stets treten zu den neuen noch neuere und neueste dazu, die ihre Vorgänger an Un­klarheit und Unbildung überbieten. Man kann heute die Erfahrung machen, daß Leute, die geistig produktiv sein wollen, die deutsche Literatur bloß bis zum Jahre 1885 zurückverfolgt haben. Sie tun es oft unter dem Beifall des Publikums, das sich dabei wieder auf die Kritiker verläßt.

Ich wundere mich immer wieder über die Suffisance, mit der diese Herren Kritiker die Feder führen. Daß sie keine Ahnung haben, wieviel sie wissen könnten, das muß man ihnen verzeihen, denn niemand kann wissen, was eben über seinen Horizont geht. Aber daß sie nichts ge­lernt haben, das müssen sie wissen, und das wissen sie auch. Sie wissen es, denn sie tun alles, um auch von dem Publikum bessere Erzeugnisse fernzuhalten. Ein höherer Bildungsgrad der Leser wäre unsern Kritikern gefährlich. Kein Mensch soll merken, daß es geistige Erzeugnisse gibt, die hoch über dem stehen, was der Kritiker seines Leibbiattes zu beurteilen vermag. Dazu ist das Tot­schweigesystem erfunden. Ein Buch, das unbequem wird, wird einfach beiseite gelegt.

Und hier ist ein zweiter Krebsschaden unserer Zeit zu suchen: In dieser Abhängigkeit des Publikums von dem Afterurteile oft ganz inferiorer Menschen. Haarsträubend sind sie oft, diese Urteile, aber sie kleben doch einem Werke an wie eine Etikette. Solange sich unser Publikum nicht befreit von dem hypnotisierenden Einfluß des ge­druckten Wortes und noch immer glaubt: Aber doch ein Sinn muß in der Druckerschwärze liegen, solange werden die eben besprochenen Übelstände nicht beseitigt werden,

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solange werden wir in geistigen Dingen keine wahrhafte öffentliche Meinung haben. Erst dann, wenn sich die Leser zu dem Standpunkte erheben, wo sie den Schrift­steller deswegen hören, weil sie ihre Meinung gern an einer anderen messen und klären wollen, dann ist der Verkehr zwischen Schreibenden und Lesenden ein be­friedigender. Ratgeber, Gedankenanreger soll der Kritiker sein, nicht Autorität.

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LUDWIG ANZENGRUBER

Gestorben am 10. Dezember 1889

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Rasch nacheinander entriß uns Deutschen in Österreich der Tod unsere beiden größten Geister. Erst schloß der Dichter des deutschen Idealismus, der uns hinaufgeführt in die Höhen der weltumspannenden Gedanken, Robert Hamerling, die Augen. Vor wenigen Tagen folgte ihm der gewaltige Kenner und Darsteller der Seele unseres Volkes: Ludwig Anzengruber.

Beiden gegenüber zu einer gerechten, allseitigen Würdi­gung zu kommen, ist unsere unmittelbare Gegenwart fast unfähig. Parteienkampf auf der einen Seite, gelehrter Hoch­mut auf der anderen sind die Hindernisse, die sich einer solchen Würdigung ihrer Größe in den Weg legen. Un­empfindlich für das echt Künstlerische, das menschlich Große am Dichter, sucht die Partei nur nach Schlagworten in seinen Werken, um ihn zu einem der Ihrigen zu machen. Seine Schriften gelten ihr nur, insoferne sie Belege für ihre Parteizwecke sind. Die zeitgenössische Gelehrsamkeit hin­wiederum,

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die sich vermöge der Stellung und Aufgabe ihrer Träger den Blick frei und offen halten sollte für alles Große und Schöne, trägt heute weniger als je zur Er­kenntnis dessen bei, was die Gegenwart Bedeutendes leistet. Die wertlosesten Geistesprodukte längst vergange­ner Jahrhunderte, die nie einen Einfluß auf die Menschheit gehabt haben, werden aufgestöbert und in gelehrten Ab­handiungen und akademischen Vorträgen verarbeitet, aber die Literatur der Gegenwart wird behandelt, als ob sie die Herren überhaupt nichts anginge. Es werden wahrschein­lich erst Jahrzehnte vergehen müssen, dann werden die Literarhistoriker auch an Hamerling und Anzengruber herantreten, textkritische Ausgaben machen und histo­rische Würdigungen schreiben. Daß eigentlich die Ge­lehrsamkeit die Aufgabe hätte, den Zeitgenossen das Ver­ständnis der Gegenwart zu erschließen, und daß alle Kenntnis der Vergangenheit nur Wert hat, wenn sie uns das näherbringt, was um uns her vorgeht, uns unmittelbar berührt, davon wissen diese Kreise nichts.

Dazu kommt dann die Verlogenheit unserer Tages­presse, die vor keiner Schändiichkeit zurückschreckt, wenn es ihr gilt, das Bild eines Zeitgenossen zu entstellen, der ihr entweder nicht ganz zu Willen war oder dessen Lei­stungen ihr gegen den Strich gehen. Wir haben dies vor einigen Monaten an Hamerling erfahren müssen, jetzt an Anzengruber. Die Berichte der Wiener Tagesblätter über jenen zeugten von einer Unkenntnis seines Lebens und seiner Werke und waren voll von absichtlichen Ent­stellungen seines Wirkens als Mensch und als Dichter. Bei Anzengruber konnten wir keine besseren Erfaluingen machen. Was er wirklich ist, was er für sein Volk und für

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die deutsche Dichtung ist, das in würdiger Weise aus­zusprechen, dazu fühlte man durchaus keinen Beruf. Ist ja doch vor wenigen Wochen auch sein fünfzigster Ge­burtstag vorübergegangen, ohne daß eines der ton-angebenden Tagesblätter Wiens ein literarisches Feuilleton über ihn gebracht hätte.

Das geschieht den größten Söhnen unseres Volkes! Und Anzengruber war einer derselben. Mit ursprünglicher, naiver Geistesrichtung, starker dichterischer Anlage be­gabt, eroberte er der deutschen Literatur ein ganz neues Gebiet. Er ist Volksdichter, aber in dem Sinne, daß er die Seele des Volkes da erfaßt, wo sie sich erhebt zu den be­deutsamsten Fragen der Menschheit, da, wo sie bewegt wird von jenen Problemen, die in ihrer weiteren Aus­bildung zu den tiefsinnigsten Werken unseres Geschlechtes geführt haben. Die Frage des Rechtes oder Unrechtes, der Schuld und Verantwortung, der Freiheit und Unfreiheit des Willens, des Daseins und der Güte Gottes, insofern sie sich in dem naiven Gemüt des einfachen Menschen wider­spiegeln und in seinem Herzen die größten Leidenschaften aufwühlen, die stärksten Konflikte hervorrufen, das sind die Dinge, die Anzengrubers Werken zugrunde liegen. Das «Weh dir, daß du ein Enkel bist» ist von keinem klassischen Dichter wirksamer behandelt worden als im «Vierten Gebot» unseres Anzengruber. Daß alles Recht Menschensatzung ist und es kein ewiges, unabänderliches Naturrecht gibt, eine Frage, welche die tiefsten Geister beschäftigt hat, spricht in ihrer Art die « alte Liesl» im «Meineidbauer» aus. Wie wir das Spiel des Schicksals sind, wie wir abhängig sind von der Außenwelt, die den Keim des Bösen oder Guten in uns legt, so daß es mit der

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menschlichen Verantwortlichkeit schlimm bestellt ist, geht der «Vroni» als Ansicht auf, da sie ihre eigenen Lebens­schicksale betrachtet. Das ist das Große bei Anzengruber, daß er den « einfachen Menschen» so schildert, wie sich in ihm der « ganze Mensch», alles Menschliche, auslebt. Die Befreiung der Menschenbrust von hergebrachten Vor­urteilen, die Berufung auf die Stimme der eigenen Ver­nunft, alles dies vollzieht sich bei dem Manne aus dem Volke nicht minder als bei dem Geiste, der auf den Höhen der Menschheit einherschreitet. Was sich auf dem großen Plane der Weltgeschichte vollzieht, alles das verbreitet seine Wellen auch bis in das Volksgemüt hinein. Dafür sind unseres Dichters Werke der denkbar schärfste Beleg. Der große weltgeschichtliche Umschwung, der sich gegen­wärtig in den religiösen Vorstellungen der Menschheit vollzieht, er hat mit Macht auch das Volk ergriffen. Der blinde Glaube macht der denkenden Erfassung der Wahr­heit Platz. Vernunft will in ihre Rechte treten. Dieser Zug der Zeit, wie er auch in den untersten Volksschichten auf­tritt, ist in Anzengrubers «Kreuzeischreibern» und dem « Pfarrer von Kirchfeld» so meisterhaft verkörpert, daß diesen Werken schon dadurch ihr Wert für alle Zeiten gesichert ist.

Man hat diese Dichtungen als Tendenadichtungen auf­gefaßt; sie sind es aber durchaus nicht, ebensowenig Hamerlings « Homunkulus». Wenn der Dichter sich der Wirklichkeit gegenüberstellt und sie künstlerisch ver­körpert, dann darf man nicht von Tendenz sprechen. Denn das ist seine höchste Aufgabe. Nicht um zu sagen: Geist­liche vom Lande, Bauern, werdet so oder so, dichtete Anzengruber, sondern um zu zeigen: so sind sie, diese

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Landieute von heute. In ihm hat eben ein ganzes Stück Menschenleben seine dichterische Verklärung gefunden.

Goethe sieht die Vollendung des Dichters darin, wenn es ihm gelingt, seine Personen dergestalt lebendig zu machen, daß sie mit der Wirklichkeit wetteifern. Anzen­gruber erfüllt diese Bedingung wie wenige. Er schreibt zwar nirgends die Wirklichkeit ab, wie die Schule der modernen realistischen Verkehrtheit es will, aber dafür schafft er Gestalten, die, so wie sie im Drama auftreten, auch unmittelbar existieren könnten. Und das ist die Auf­gabe des wahren Dichters. Wir mögen welche Gestalt immer bei ihm hernehmen, alles ist naturmöglich, alles psychologisch wahr; nirgends ist auch nur ein Zug zu ent­decken, der dem Wesen der Person widersprechen würde. Ja in der Kunst der Charakteristik gehört Anzengruber zu den bedeutendsten Dramatikern aller Zeiten, und diese Kunst ist gerade die Grundlage der Dramatik, besonders der modernen. Hier haben alle Ereignisse, alle Konflikte nur insoferne Berechtigung, als sie aus dem menschlichen Innern fließen. Das Schicksal, das bei den Alten als eine äußere Macht wirksam war, ist verinnerlicht, ist zu einer Folge der Charakteranlage der Personen geworden. Das Drama der Jetztzeit zeigt uns den Menschen, insofern er Herr seines Schicksals sein will und insofern er selbst Schmied seines Glückes ist. Anzengruber läßt alles, was vorgeht, ganz aus den Charakteren folgen. Nichts wird von dieser eisernen Konsequenz, wie er sich sie in der Menschenseele vorgebildet denkt, abgelassen. Haben wir die auftretenden Menschen begriffen, dann haben wir den ganzen Verlauf eines Stückes von ihm begriffen. Da wird nichts einem Theatereffekt, einem angenehm berührenden

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Verlauf der Handiung usw. aufgeopfert, wie das die Scheingrößen unserer dramatischen Tagesliteratur tun. Wegen dieses Zuges ist Anzengruber der geborene Drama­tiker. Und Dramatiker ist er auch als Erzähler. Seine großartigen Erzählungen: « Der Sternsteinhof», « Einsam» usw., sind voll dramatischer Kraft und Vertiefung; ja selbst seine kleineren Geschichten sind von demselben Zuge beherrscht. Gelehrte Ästhetiker mögen sich dar­über die Köpfe zerbrechen, unter welchen ästhetischen Schablonenbegriff sie deshalb seine Prosa unterbringen können; ja sie mögen zuletzt sogar zu dem Schlusse kommen, daß diese Prosa überhaupt nicht bedeutsam ist, weil sie nicht den Charakter der reinen epischen Darstel­lung sich wahrt; wir möchten uns aber an dem Herr­lichen erfreuen, das Anzengruber vermöge seiner eigen­artigen Natur hervorbringen mußte, wenn auch die her­gebrachten Begriffe sich nicht einstellen, die es klassi­fizieren könnten.

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ZU IBSENS

SIEBZIGSTEM GEBURTSTAGE

20. März 1898

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Als vor fünfzig Jahren die wilden Stürme der Revolution durch Europa brausten, war Henrik Ibsen zwanzig Jahre alt. Mit stärkster Sympathie begrüßte er die Freiheits­bewegung. Die Leidenschaft der Revolutionäre war innig verwandt mit den Empfindungen, die in seiner eigenen Seele lebten. Rückblickend auf diese Zeit sagt er später:

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«Die Zeit war stark bewegt, die Februarrevolution, die Aufstände in Ungarn, der scHeswigsche Krieg - alles die­ses griff mächtig in meine Entwicklung ein. Ich richtete donnernde Gedichte an die Magyaren, in denen ich sie im Interesse der Freiheit und Menschenrechte dringend er­mahnte, in dem gerechten Kampfe gegen die Tyrannen auszuhalten.»

Die Revolution, die der Zwanzigjährige erlebte, war Vorbote und Symptom für eine größere, für die Revolu­tionierung der Geister. Die politische Revolution konnte nicht bewirken, was sich die Geister von ihr versprochen hatten. Siegreich sind Umgestaltungsbewegungen der menschlichen Ordnungen nur, wenn sie der Ausdruck sind für neugeborene Weltanschauungen. Das Christentum konnte eine Neuordnung der menschlichen Verhältnisse begründen, weil es hervorging aus einer Revolutionierung des ganzen Empfindungslebens. Ein neues Verhältnis zu Welt und Leben verkündete Jesus von Nazareth. Dem menschlichen Gemüte hat er eine neue Richtung gegeben. Die tatsächlichen Verhältnisse mußten sich der veränder­ten Richtung des Herzens anschließen. Die Revolution des Jahres achtundvierzig war eine rein politische. Sie wurde von keiner neuen Weltanschauung getragen.

Erst zehn Jahre nach dieser Revolution verkündete Charles Darwin den Menschen das Evangelium, das sie brauchten, einer neuen Lebensform einen Inhalt zu geben. Goethe hat dieses Evangelium schon besessen. Ihm ist schon die große Erkenntnis aufgegangen von der rein natürlichen, einheitlichen Wesenheit, welche den toten Stein, die stille Pflanze, das unvernünftige Tier hervorgebracht hat und die auch den Menschen ins Dasein gerufen hat,

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und neben der es nichts Göttliches im Menschen gibt. Als das vollendetste Naturwesen gilt ihm der Mensch. Die Natur hat die Kraft, auf ihrem Gipfrlpunkt das vernünftige Tier hervorzubringen; kein göttlicher Odem braucht diesem vernünftigen Tiere eingeblasen zu werden.*

Aber Goethe hat als Geistesaristokrat seine Lebens­anschauung gewonnen. Nur durch seinen individuellen Entwicklungsgang war es möglich, das Buch der Natur so zu lesen, daß es diese Offenbarung machte. Darwin verkündete dieselbe Erkenntnis auf demokratische Weise. Jeder konnte seine Geistesschritte nachtun. Nicht was er verkündet, macht den Menschen zu einem Propheten, son­dern wie er es verkündet.

Im Anblicke der griechischen Kunstwerke in Italien enthüllte sich für Goethe das große Geheimnis. Als er diese Werke sah, rief er aus: da ist Notwendigkeit, da ist Gott. Ich habe die Vermutung, daß die Künstler, als sie diese Kunstwerke hervorbrachten, nach denselben Gesetzen ver­fuhren, nach denen die Natur wirkt, und denen ich auf der Spur bin. - Menschen-Wirken ist nur Fortsetzung des Natur-Wirkens: das hat Goethe in diesem Augenblicke erkannt. Nicht als Gnadengeschenk vom Himmel kommt dem Menschen, was er schafft, sondern durch Entwicklung

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* Wir halten es nicht für überflüssig, weil heute schnell und dadurch oft oberflächlich gelesen wird, die Aufmerksamkeit darauf hinzulenken, daß Dr. R. Steiner hier nicht seine eigenen Anschauungen wiedergibt, sondern diejenigen einer Zeit, die durch Darwins Brille Dinge anschaute, welche auch tiefer angeschaut werden können. Wenn es auch dieselbe Richtung ist, nach welcher der moderne Geistesforscher blickt - das Tor der Naturcrkerntnis -, so ist es eine andere Sache, vor dem geöffneten Tore stehen zu bleiben oder hindurchzuschreiten und neue Horizonte zu erblicken. Notwendig ist es, durch jenes Tor zu dringen, - dann aber muß weiter geschritten werden. (Anm. v. Marie Steiner.)

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derselben Naturkräfte, die in der Pflanze, im Tiere tätig sind, zu einer höheren Stufe. Man müßte das Goethe­sche Leben nachleben, wenn man auf dieselbe Weise wie er zu seiner Erkenntnis kommen wollte. Darwin hat das-selbe gelehrt. Aber er hat auf gemeine Tatsachen, die solche Wahrheit aussprechen, hingewiesen - auf Tatsachen, die jedem zugänglich sind. In populärer Form hat er aus­gesprochen, was Goethe für die Auserlesenen verkündet hat.

Ein Unding wurde es nun, der Schöpferkraft, die von oben kommt, zuzuschreiben, was offenkundig die Natur aus sich selbst erzeugen konnte. Das ganze menschliche Empfindungsleben muß sich unter dem Einfluß der neuen Weltanschauung ändern. Der Mensch sieht, daß er ein Höheres, ein Vollkommeneres ist, als dasjenige, aus dem er sich entwickelt hat. Früher glaubte er: ein über ihm Stehendes hätte ihn ins Dasein verpflanzt. Sein Blick kann nun nicht mehr nach oben gerichtet sein. Er ist auf sich und auf das angewiesen, was unter ihm ist.

Jahrhundertelang hat sich das menschliche Herz daran gewöhnt, diesem nach oben gerichteten Blicke sich zu fügen. Seit Darwins Auftreten ist es bestrebt, sich eine solche Empfindungsrichtung abzugewöhnen.

Verhältnismäßig leicht ist es dem Verstande, die neue Erkenntnis sich anzueignen; unendlich schwer ist es dem Herzen, sich dieser Erkenntnis gemäß umzugestalten. In der Seele der besten Geister des letzten Halbjahrhunderts spielten sich deshalb die schwersten Kämpfe zwischen Ver­stand und Herz ab. In sich unklare, unharmonische, zwei­felnde, suchende Naturen sind typisch für dieses Halbjahrhundert.

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Die meisten, die heute mit einem ernsteren Gemüte unter uns wandeln, spüren diese Kampfe noch in ihrem Innern. Und selbst die Besten haben nur das Gefühl, die Befriedigung werde noch kommen; nicht aber, sie sei schon da. Unzählige Fragen entspringen uns aus diesen Kämpfrn; Antworten hoffen wir erst von der Zukunft.

Der künftige Geschichtsschreiber unserer Zeit wird von ringenden, von fragenden Menschen zu erzählen haben. Und wenn er eine einzelne Persönlichkeit wird schildern wollen, in deren Seele sich alle die Kämpfe gespiegelt haben, die fünf Jahrzehnte bewegt haben, wird er Henrik Ibsen schildern müssen. Alle die fragwürdigen Gestalten, die unser Halbjahrhundert hervorbringen mußte: in Ib­sens Dramen treten sie uns entgegen. Und alle die Fragen, welche diese Zeit aufgeworfen hat: in diesen Werken fin­den wir sie wieder. Und weil diese Zeit eine solche der Fragen ist, auf die erst die Zukunft antworten wird, des­halb schließen Ibsens Dramen mit Fragen; und deshalb mußte er von sich sagen: Ich frage meist, antworten ist mein Amt nicht.

Man muß der Wahrheit die Ehre geben und eingeste­hen, daß Ibsen nicht der Mann war, der auf die großen Zeitfragen die Antwort wußte. Mit aller Kraft zu fragen verstand er: zu antworten vermochte er nicht. Er empfand das selbst, als er sagte: «Ich meinesteils werde mit dem Erfolg der Arbeit mei­ner Lebenswoche zufrieden sein, wenn diese Arbeit dazu dienen kann, die Stimmung für den morgigen Tag zu be­reiten. Aber zunächst und vor allem werde ich zufrieden sein, wenn sie dazu mithelfen kann, die Geister für die­jenige Arbeitswoche zu stärken, welche nachher folgt.»

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Ich möchte es als ein Glück ansehen, daß Ibsen nur ein Fragender ist. Denn dadurch, daß er nicht vermag zu Ant­worten zu kommen, ist er imstande, tief und gründlich zu fragen. Und weil wir mit ihm den vollen, tiefen Ernst höchster Fragen durchkosten, werden die Nachfolgenden zu tiefern Antworten kommen. Die Zerrissenheit und Un-befriedigung, die wir heute in uns tragen, wenn wir von seinen Dramen kommen, wird sich in Glück wandeln bei denen, die lösen werden, was wir knüpfen.

So verstehe ich Ibsen. Mir ist er eine Natur, die stark genug ist, das Problematische unserer Zeit als eigenes Weh zu empfinden; die aber nicht kräftig genug ist, unsere höchsten Ziele zu verwirklichen.

Ein Baumeister ist mir Ibsen, der die Türme baut, von denen wir unsere Welt überschauen sollen; den aber Schwindel befällt, wenn er selbst auf den Gipfeln dieser Türme stehen soll.

Ich stelle mir vor, daß es schwer sein muß, in unserer Zeit alt zu sein. Wer heute jung ist, der glaubt, daß er mit seinem Herzen noch nachkommen kann der Verstan­deskultur, in welcher wir leben. Als Unmögliches er­scheint solches Nachkommen dem alten Manne von heute. Zu tief verwachsen ist das Herz Ibsens selbst mit den Emp­findungen, die vergangene Jahrhunderte uns anerzogen haben, als daß er zufrieden leben könnte mit dem stolzen Turmbau der Erkenntnis, den er mitgeschaffen hat.

Das Bekenntnis, daß ihn Schwindel ergreift bei dem eigenen Werke, hat er in der Weise eines großen Menschen in seinem «Baumeister Solneß» abgelegt.

Ich denke, der alte Meister wird sich freuen, wenn wir ihm heute an seinem Geburtstage sagen, daß wir ihn verstanden

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haben. Zur Freiheit wollte er in fünfzigjährigem Wirken die Menschen führen. Und die Freiheit ihm selbst gegenüber wollen wir uns wahren. Nicht blinde Ver­ehrung; verehrende Erkenntnis soll er bei uns sehen, wenn wir uns grüßend an diesem Tage an ihn wenden.

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HOFFMANN VON FALLERSLEBEN

Zu seinem hundertsten Geburtstage

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Der 2. April ruft die Erinnerung an eine liebenswürdige deutsche Dichternatur wach. Der Sänger von «Deutsch­land, Deutschland über alles» wurde im Jahre 1798 an diesem Tage geboren. Nicht eine imponierende, große Persönlichkeit war Hoffmann von Fallersleben, dieser Sänger, nicht einer der tonangebenden, führenden Geister, die ihrer Epoche die Richtung gaben. Vielmehr hat er alles, was er war, seiner Zeit zu verdanken. Was sie be­wegte, sprach er aus. Nicht energisch schritt er ihr voran, sondern hingebungsvoll brachte er zum Ausdruck, was sie bewegte. Kein Treibender war er, sondern ein Getriebe­ner. Die Verhältnisse und die Menschen gaben ihm die Richtung.

In Fallersleben verlebte Hoffmann seine Kindheit; sein Vater und seine Brüder hatten Regierungsämter inne. Sie waren brave, maßvolle Menschen, von durchaus liberaler Gesinnung. Keine extreme Vorstellung war in Hoffmanns Familie heimisch. Wichtige politische Ereignisse spielten sich ab, wähtend Hoffmann aufwuchs. Napoleons Taten gaben der Zeit das Gepräge. Hoffmanns Familie gehörte

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nicht zu denen, welche energisch nach der einen oder anderen Seite Partei ergriffen. Schwache Leidenschaften nur konnte der Knabe beobachten. Starke Sympathien und Antipathien konnten sich deshalb auch nicht seiner Seele bemächtigen. Sein Wollen ist deshalb immer ein schwaches geblieben. Er will 1816 Theologie studieren. Die Göttinger Professoren gefallen ihm nicht. Ohne viel Kampf geht er zur Philologie über. Er will eine Reise nach Italien und Griechenland machen, um Winckelmanns Werk fortzusetzen. Die Begegnung mit Jacob Grimm ge­nügt, um ihn von dieser schwachen Leidenschaft zu be­freien und für das Studium der deutschen Sprach-, Litera­tur- und Kulturwissenschaft zu gewinnen. Und eben weil er keine starke Persönlichkeit ist, leistet er auf diesem Gebiete Anerkennenswertes. Als schmiegsamer Geist ver­tieft er sich in die Äußerungen des Volksgeistes und liefert musterhafte gelehrte Untersuchungen über diesen Geist. Und als schmiegsame Natur gelingt es ihm, aus diesem Volksgeiste heraus eigene Dichtungen zu schaffen, in denen dieser Geist lebt.

Und als sich der revolutionäre Sinn in Deutschland zu regen beginnt, ist unser Hoffmann wieder schmiegsam und hingebungsvoll genug, in volltönenden Dichtungen den neuen Idealen, dem Trotz und der Unzufriedenheit Worte zu verleihen. In richtigster Selbsterkenntnis hat er sich selbst das Zeugnis ausgestellt, als er wegen seiner «Un­politischen Lieder» seine Breslauer Professur verlor. Er entschuldigte sich dem gestrengen Ministerium gegen­über, das ihn wegen seines revolutionären Dichtens aus dem Amte trieb, damit, daß er doch nur dem Drange sei­ner Zeit Worte geliehen habe.

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Eine weniger hingebungsvolle Persönlichkeit hätte sich auch nicht so tief in die Kindesseele versenken und sie zum Ausdruck bringen können wie er. Man muß deshalb dem charakterstarken Treitschke durchaus zustimmen, wenn er von dem charakterschwachen Hoffmann anerkennend sagt: «Wer konnte mit ihm rechten, der in guten Stunden seinem Volke so tief ins treue Herz blickte, der, selber ohne Haus und Herd, in seinen Kinderliedern das holde Dämmerglück der deutschen Kinderwelt so warm, so wahr, so einfältig ohne einen einzigen falschen Ton mo­derner Niedlichkeit besang ?»

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WILLIBALD ALEXIS

Zu seinem hundertsten Geburtstag am 29 Juni 1898

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Es gibt Persönlichkeiten, bei deren Betrachtung wir alles vergessen, was um sie herum vorgeht. Sie scheinen alle Kraft zu ihrem Dasein aus sich selbst zu schöpfen. Wir fragen nach der eigenartigen Natur ihrer Seelen, wenn wir den Charakter ihrer Taten begreifen wollen. Daß sie in einer Zeitperiode mit ganz bestimmten Kulturzuständen leben, schlagen wir bei solchen Menschen kaum viel höher an, als daß sie die Luft einer gewissen Gegend der Erde atmen. Wie abgeschlossene, mit einem eigenen Inhalt er­füllte Kreise erscheinen diese Persönlichkeiten. Ich meine nicht bloß diejenigen Geister, welche die führenden der Weltgeschichte sind, und welche Emerson die «Repräsen­tanten des Menschengeschlechtes» nennt. Auch Menschen,

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deren Leben für die Menschheit spurlos vorübergeht, können auf sich allein gebaute Naturen sein.

Im Gegensatz zu diesen Charakteren stehen andere, bei denen wir durch alles, was sie tun und treiben, an ihre Umgebung, an das Zeitalter, in dem sie leben, ja oft an den Ort erinnert werden, an dem sie geboren sind. Die Be­ziehung zur Umwelt interessiert uns bei solchen Menschen mehr als sie selbst. Und wenn sie der Vergangenheit an-gehören, dann hört jedes individuelle Interesse an ihnen auf; wir betrachten sie nur als typische Vertreter einer gewissen Zeitepoche. So geht es mir mit WiHibald Alexis (Wilhelm Heinrich Häring).

Seine Werke sind zwischen dem dritten und siebenten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts entstanden. Die Welt­anschauung, zu der heute die vorgeschrittensten Geister sich bekennen, war damals erst im Entstehen. In einzelnen besonders erleuchteten Köpfen waren Ideen vorhanden, in denen wir gegenwärtig erzogen werden. Die Mehrheit der Gebildeten aber wuchs in einer Vorstellungswelt auf, die unserem heutigen Empfindungsleben fremd ist. Und in der Kunst und Kunstauffassung dieser Zeit lebte diese uns fremde Vorstellungswelt. Man wollte damals eine un­persönliche, eine objektive Kunst. Selbstlos, mit Ent­äußerung seiner Persönlichkeit sollte der Künstler schaf­fen. Je mehr er hinter seinem Werke zurücktrat, desto höher schätzte man ihn. Nicht seine subjektiven Eigen­tümlichkeiten wollte man in seiner Schöpfung entdecken, sondern ein objektiv Schönes, das ewigen, jeder persön­lichen Privatneigung enthobenen Gesetzen unterworfen ist. Man erinnere sich doch, was Schopenhauer aus dem Geiste dieser Anschauung heraus von dem Künstler ver­langt:

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er solle «sein Interesse, sein Wollen, seine Zwecke, ganz aus den Augen lassen, sonach seiner Persönlichkeit sich auf eine Zeit völlig entäußern, um als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge, übrig zu bleiben». Philosophen, die sich im übrigen aufs heftigste bekämpften, waren in dieser Grundauffassung einig. Hegel, der Mann, den Schopenhauer haßte wie vielleicht keinen Menschen, hätte gegen den obigen Satz kaum etwas einzuwenden gehabt. Und einen Anhänger Herbarts, der Schopenhauer und Hegel mit der den Philosophen so eigenen Leichtigkeit widerlegte, Robert Zimmermann, habe ich die gleiche Kunstauffassung verteidigen gehört. Sie alle waren Kinder ihrer Zeit, des mittleren Drittels unseres Jahrhunderts. Und Willibald Alexis war ein Künstler eben dieser Zeit.

Selbstlos, daß es fast an das psychologisch Unmögliche grenzt, war Alexis. Man kann seine Wesenheit nicht stärker verleugnen, als er es tat. Karl Julius Schröer erzählt in seiner Geschichte der «Deutschen Dichtung des neun­zehnten Jahrhunderts» von einem Gespräche, das er mit dem Dichter gehabt hat. Da hat Alexis seine romantische Naturanlage besonders hervorgehoben. Unter anderem erzählte er, daß er als Knabe ein Gedicht gehört habe, das begann: «Hüll' o Sonne, deine Strahlen...» Der Sinn die­ses Gedichtes war ihm unbekannt. Der Kiang der Worte «Hüll' o» aber beseligte ihn. Dennoch wurde Alexis ein Dichter, dem es vor allen Dingen auf objektive Wiedergabe wirklicher Zustände ankam. Und wer in seinen Werken etwas sucht, das auf seine mit obigen Worten gekenn­zeichnete Naturanlage deutet, wird vergeblich suchen. Den Sinn vergangener Zeiten sucht er zu treffen, gegen­ständlich treu sucht er zu sein, den ursprünglich romantischen

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Zug strebt er zurückzudrängen. Den Charakter einer vollkommenen Selbstentäußerung trägt Alexis' Verhältnis zu Walter Scott. Man hat die Art Scotts zwar auch oft als romantisch bezeichnet. Mir kommt das immer so vor, wie wenn man das Schwarze als weiß bezeichnen würde, weil es entsteht, wenn diesem das Licht entzogen wird. Man hat ja sogar die objektive Vertiefung der Brüder Grimm in die deutsche Vergangenheit mit dem Beiwort romantisch belegt, weil sowohl die Brüder Grimm wie die Romantiker die Neigung hatten, sich in die Vergangenheit unseres Volkes zu vertiefen, und weil beide in einem gewissen zeitlichen Zusammenhang stehen. Worauf es aber an-kommt, ist nicht das Vergraben in vergangene Zeiten, sondern die Tendenz von der dieses Vergraben ausgeht. Und diese ist bei den Romantikern die Befriedigung eines Hanges zum Mystischen, Nebulosen, dem die ins Unklare verlaufende Geschichte des Vergangenen entgegenkommt; bei den Brüdern Grimm ist sie das Bestreben, in klarer, wissenschaftlich durchsichtiger Weise das geschichtliche Werden zu begreifen. Und wie die Klarheit sich zur Mystik verhält, so verhält sich Walter Scott zur Romantik. Derb die verflossene Wirklichkeit erfassend, streng reali­stisch, so ist Walter Scott. Und wenn sich der zum Roman­tiker geborene Willibald Alexis Scott zum Vorbild nahm, so konnte das nur durch ein vollständiges Aufgeben der Persönlichkeit geschehen.

Als ob er uns das hätte beweisen wollen, hat Alexis 1823 und 1827 zwei Romane veröffentlicht: «Walladmor, frei nach dem Englischen des Walter Scott» und «Schloß Avalon, frei nach dem Englischen des Walter Scott». Er hat die Weise des Engländers so nachgeahmt, daß man die

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Werke hätte für Übersetzungen halten können. Derlei kann nur vorkommen bei einer Persönlichkeit, die ihre eigene Wesenheit aufgibt.

Wie geschaffen war deshalb Willibald Alexis, vergangene Zeiten, ihre Kämpfe und Siege, ihre Persönlichkeiten und ihre Verhältnisse mit historischer Treue künstlerisch zu gestalten. In «Cabanis» schildert er in dieser Weise das deutsche Leben in der Zeit des siebenjährigen Krieges, im «Roland von Berlin» die Kämpfe zwischen den städtischen Vertretern Berlins und dem alten Adel, im «Falschen Waldemar» die Verhältnisse des Städte- und Ritterlebens. Auch in seinen späteren Romanen «Die Hosen des Herrn von Bredow», «Ruhe ist die erste Bürgerpificht» und «Isegrimm» herrscht die gleiche künstlerische Gesinnung.

Wie seine Zeit dachte, so dachte Willibald Alexis. Er hatte vor seinen Zeitgenossen nur die Kraft des Gestaltens voraus. Das ist zwar viel, aber man darf solche Naturen, wie er eine war, doch nicht verwechseln mit den eigentlich produktiven Geistern, die nicht nur gestalten, was alle empfinden, sondern die auch eigenartige Empfindungen haben.

#TI

WOLFGANG MENZEL

#TX

Am 21. Juni 1898 war Wolfgang Menzels hundertster Ge­burtstag. Er ist heute ein vergessener Mann, trotzdem er siebzig Bände in seinem Leben geschrieben hat und lange Zeit in Deutschland ein Beurteiler literarischer Erschei­nungen war, auf den man hörte. Das von ihm redigierte

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«Literaturblatt», das in Cottas Verlag erschien, war durch Jahrzehnte ein maßgebendes kritisches Organ. Es ist merk­würdig, daß gegenwärtig so wenig von Menzel ge­sprochen wird. Denn von seinem Geiste erfüllt sind nicht wenige unserer Zeitgenossen. Dieser Geist ist der einer engherzigen, bornierten, moralisierenden Kritik, die alles Große mit dem Maßstabe der Philisterei mißt und die das Genialische mit spießbürgerlichem Verstande abkanzelt. Höhere künstlerische Empfindungen, eine ästhetische Weltanschauung waren Menzel fremd. Er bekämpfte Goethe, Heine und das «Junge Deutschland». Die künstle­tischen Absichten derer, die er bekämpfte, verstand er nicht. Er harte sich gewisse Ansichten zurechtgelegt von dem, was moralisch gut und bös ist, Ansichten, die nur ein Philister haben kann. Und weil Goethe, Heine und das «Junge Deutschland» Werke schufen, die nicht nach der Philistermoral zugeschnitten waren, bekämpfte er sie. Auch heute finden wir Kritiker und Literaten, die in sei­nem Sinne schreiben. Wir haben ja eine Literatur­geschichte von König. Wir haben auch Literaturhistoriker, die auf Heine schimpfen, wie einst Menzel geschimpft hat. Den Menzel sind wir los, die Menzel sind geblieben. Be­sonders widerwärtig ist Menzels Gebelfer gegen Goethe. Er haßte Goethe, weil dieser sich nicht durch engherzig nationalen Sinn von der Bewunderung der Persönlichkeit Napoleons abhalten ließ; er haßte ihn, weil er die mensch­liche Natur nach allen Seiten darstellte und sie nicht in schablonenhafte, moralische Formen zwingen wollte; er haßte ihn, weil er das Leben nahm, wie es zu nehmen ist, und nicht wie ein Stier gegen das Natürlich-Gewordene ankämpfte. Die gesunde Sinnlichkeit, nach deren Darstellung

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das «Junge Deutschland» trachtete, bekämpfte Menzel, weil er sie «unmoralisch» fand. Engherzigster Nationalismus war ihm eigen, so daß man bei seinen Aus-führungen an die Antisemiten und Deutschnationalen von heute denken muß. Sie überragt er allerdings an Wucht und Treffsicherheit des Ausdruckes und Kunst der Dar­stellung.

Einer objektiven historischen Anschauungsweise, einet unbefangenen Betrachtung der geschichtlichen Erschei­nungen ist Menzel ganz und gar nicht gewachsen. Deshalb ist sein Hauptwerk, die «Deutsche Geschichte», ein kläg­liches Machwerk geworden.

An der Aufrichtigkeit seiner Urteile kann man leicht zweifeln. Er hat in seiner Jugend revolutionären Grund­sätzen gehuldigt und war eifriger Burschenschafter. Später hat er der Reaktion und den fortschrittfeindlichen Be­strebungen Handlangerdienste geleistet. Seine denunzia­torischen Schriften waren wichtige Dokumente für die Regierungen, welche die freiheitlichen Bestrebungen unterdrücken wollten. Heine ist der Meinung, daß er mit seinen Neigungen für Freiheit und Revolution nur ge­flunkert habe. Ob das der Fall ist, wird sich heute schwer entscheiden lassen. Zweifellos ist aber, daß Menzel zu den­jenigen Literaten gehört, die wegen ihrer Borniertheit zu frechen und mit eitler Zuversicht ausgesprochenen Urtei­len kommen. Sie reden mit der Miene des Alleswissenden über Dinge, von denen sie nicht das Geringste verstehen. Wertloseres als die siebzig Bände der Menzelschen Werke gibt es kaum in der deutschen Literatur.

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#TI

WILHELM JORDAN

Zu seinem achtzigsten Geburtstag

#TX

Eine Zeitschrift, die vor allen anderen Dingen der Weltanschauung der Gegenwart dienen will, muß am 8. Februar [1899] einen Festtag verzeichnen. An diesem Tage wird Wilhelm Jordan achtzig Jahre alt. Wer den Kultus der «reinen Kunst» treibt, wird an Jordan manches aus-zusetzen haben. Die künstlerische Komposition seiner Werke, namentlich aber die Wiedererneuerung des Stab­reimes bringen bei manchem Ästhetiker ein höchst «vor­nehmes» Achselzucken hervor. Man kennt sie, diese Ästhetiker, die es ihm nicht verzeihen konnten, daß er sang, er wolle «mit rauschendem Redestrom bis zum Rande der Vorzeit Gefäße wieder füllen und neu ver­jüngen nach tausend Jahren die wundergewaltige, uralte Weise der deutschen Dichtkunst». - Wer aber in der Kunst ein Glied innerhalb der allgemeinen Kultur-entwickelung sieht, der muß Wilhelm Jordan zu den besten Geistern des ablaufenden Jahrhunderts zählen. Er gehört zu denen, deren Schriften der Mensch der Gegen­wart nicht erschöpfen kann, weil sie ihm immer wieder Neues bringen. Es gibt nichts innerhalb der geistigen Interessen der Gegenwart, was Wilhelm Jordan nicht als seine persönliche Angelegenheit betrachtet hätte. Ein großer Dichter mag sich damit begnügen, in einem Teile des Kulturlebens der Gegenwart zu Hause zu sein. Ein führender Geist kann das nicht. Und Wilhelm Jordan ist ein führender Geist. Allerdings nur für diejenigen, die den Zauber empfinden, der in der Kraft seiner Ideen liegt.

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Wenige Künstler haben in so großzügiger Weise die Perspektive der Zukunft mit derjenigen der Vergangen­heit zu verbinden gewußt. In das Gewand der uralten deutschen Heldensage hat Jordan die Weisheit zu kleiden gewußt, die fortleben wird bis in die fernste Zukunft. Der Geist der modernen naturwissenschaftlichen Weltanschau­ung belebt die Gestalten der alten Sage in seiner gewaltigen Dichtung «Nibelunge».

Wilhelm Jordan hat als echt moderner Geist eines ge­wußt: daß die Phantasie des heutigen Menschen nicht dichterische Fabeln im großen Stile erfinden kann. Unsere Phantasie wirkt anders als die der Vorfahren. Das Über­menschliche, das der Mensch als das über ihn Hinaus-liegende ersinnt, ist heute ein gestaltloses Ideengebilde, das man im tiefsten Innern mit ali der Inbrunst empfindet, mit der die Vorfahren ihre Götter und Heroen empfanden, das aber nimmermehr plastische Gestalt annehmen kann. Der Künstler großen Stiles muß daher die Gestalten zu den modernen Ideen von den Ahnen entlehnen. Aber er kann diesen Gestalten die moderne Seele einhauchen. Und das hat Wilhelm Jordan getan. Er hat die alten Helden zu Idealen des modernen Menschen gemacht. Den Sinn, den ihnen die Vorfahren gegeben haben, können wir nicht mehr empfinden. Aber die Gestalt ist auch für uns an­schaulich. Hagen, Siegftied, Kriernhild, Brunhild sind menschliche Charakterfiguren, die als solche unvergäng­lich sind. Nur der Geist, den ihnen ihre Schöpfer innerhalb des Weitgetriebes gegeben haben, ist unserem Vorstellen fremd geworden. Die Dinge dieser Welt sind aber nicht auszuschöpfen. Und aller Sinn, den wir mit ihnen ver­binden, ist nur ein Teil des großen Geistes, den sie ent­halten.

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Es ist möglich, von Zeit zu Zeit einen neuen Sinn aus ihnen zu holen.

Dies hat Wilhelm Jordan in bezug auf die Gestalten der deutschen Heidensage geleistet. Sie haben durch ihn eine Seele ohne den Ausblick auf die germanische Götterwelt bekommen. Sie sind Repräsentanten des modernen Geistes geworden.

Denn Wilhelm Jordan ist selbst ein Träger des moder­nen Geistes. Es wird wohl kaum jemand das moderne Bewußtsein besser zum Ausdruck bringen können, als er es mit den Worten getan hat, die er - im Hinblick auf Darwin - sprach:

«Er hat's greiflich klar wie niemand

Ausgespürt und aufgezeigt,

Wie und welche tausend Pfade

Sacht empor das Leben steigt,

Ich nur aller Pfade Richtung

Aus des Dichters Vogelschau

Überblickt, er ahnt aus ihnen

Ziel und Plan im Weltenbau.

Wie - so lautet seine Frage -

Stärken, steigern Hunger, Tod?

Meine: - was erlöset weiter

Gott in Uns aus Neid und Not?»

Das ist der moderne Glaube: daß nicht ein Gott die Welt gemacht und den Menschen geschaffen, sondern daß in des Menschen Brust ein Gottesbild wohnt, geeignet, den Gott selbst zu schaffen.

Und Nietzsches Übermensch ist nur der Gott, der in uns wohnt und zum Vorschein kommen soll.

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Er ist unser: möchten wir von Wilhelm Jordan sagen. Wir, die nicht an den Gott der Vergangenheit glauben, die aber arbeiten für den Gott, den wir schaffen wollen, wie das Tier aus sich den Menschen geschaffen hat.

Und wir, die mit ihm eines Unglaubens sind, bringen ihm die Grüße zum Geburtstage.

#TI

FRIEDRICH SPIELHAGEN

Zu seinem siebzigsten Geburtstag

#TX

Die Berliner «Freie literarische Gesellschaft» hat Friedrich Spielhagen anläßlich seines siebzigsten Geburtstages das Ehrenpräsidium angeboten. Der Dichter hat ihr die Freude gemacht, es anzunehmen.

Zu einer umfassenden Würdigung Friedrich Spielhagens fühlen wir uns gegenüber dem zu unserer innigsten Be­friedigung rüstig unter uns Schaffenden nicht berufen und begnügen uns damit, dem Jubilar unsere Grüße mit all den zahlreichen anderen, denen er durch sein Schaffen so wert geworden ist, darzubringen. Dagegen werden wir als getreue Chronisten in der nächsten Nummer berichten, wie die Zeit diesen ihren Sohn feiert, der wie kein anderer ihre Pulsschläge in seinen Werken zum Ausdruck ge­bracht hat.

*

Die Anerkennung und Verehrung, die Friedrich Spielhagen von allen Seiten entgegengebracht wird, kam an seinem siebzigsten Geburtstag (24. Februar 1899) in

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schöner Weise zum Ausdruck. Abgesandte aus den ver­schiedensten Kreisen der Künstler- und Schriftstellerwelt und der Gesellschaft haben an diesem Tage dem Manne ihre Grüße dargebracht. Alt und jung hat sich um ihn versammelt, um ihm zu sagen, was er ihnen bedeutet. Einer Vereinigung von Dichtern und Schriftstellern, die ihm ihre Wünsche durch Ernst Wichert überbrachte, hat Spielhagen in einer kurzen, bedeutsamen Rede von seinen künstlerischen Zielen und Absichten, von seinem Ver­hältnis zu der nachstrebenden Generation gesprochen. Spielhagen kennt wie keiner den Wert der Leistungen Jüngerer; was er aber bei seinen eigenen Schöpfungen nicht aus dem Auge verloren hat, das ist das Bewußtsein, daß Kunst mehr ist als Anhäufung menschlicher Doku­mente. - Und noch etwas ist Spielhagen eigen. Er ist nicht einseitig «Künstler an sich». Er ist ein Mann, der innige Zusammenhänge hat mit dem ganzen Kulturinhalt seiner Zeit, mit dem Streben und ethischen Wollen dieser Zeit. Daß ethische Freiheit nicht ohne politische möglich ist, das ist einer der Glaubenssätze dieses Dichters. Und ihn hat er einer anderen Gruppe von Geburtstagsgästen gegenüber ausgesprochen. - Der Verein Berliner Presse, die Literarische Gesellschaft, die Bonner Burschenschaft Frankonia, die Hamburger Literarische Gesellschaft ge­hörten zu denen, die Vertreter an den Jubilar entsandten.

Daß die Berliner «Freie literarische Gesellschaft» Friedrich Spielhagen in Form der Ernennung zu ihrem Ehrenpräsidenten einen Festgruß dargebracht hat, ist be­reits in der letzten Nummer gesagt worden. Am Geburts­tage übergaben ihm Mitglieder des Vorstandes dieses Ehrenamt. Max Hoffmann, Direktor Felix Lehmann,

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Dr. J. Lehmann, Dr. M. Lorenz und Dr. R. Steiner be­gaben sich zum neuen Ehrenpräsidenten, und letzterer legte in einer kurzen Ansprache die Motive dar, welche die Gesellschaft bewogen haben, Friedrich Spielhagen um Annahme des Ehrenvorsitzes zu ersuchen. Dieser sprach seine innige Freude darüber aus, daß er auch aus diesem Kreise Beweise von Anerkennung erhalte.

Im Verlaufe des Festmahles, das am 26. zu Ehren Spiel­hagens stattgefunden hat, entwickelte in einem längeren Trinkspruch Prof. Erich Schmidt, welche Stellung der Jubilar innerhalb der deutschen Literatur einnehme. Einen weiten Kreis von Verehrern vereinigte dieses Festmahl um den Dichter.

#TI

BALZAC

Zu dessen hundertstem Geburtstag

#TX

In Honoré de Balzac wurde am 20. Mai 1799 Frankreich ein Mann geboren, der als Künstler die Weltanschauung unseres Jahrhunderts mit all den Einseitigkeiten zum Aus­drucke brachte, die sie zunächst nötig hatte, um sich wirk­sam durchzusetzen gegen die Geistesrichtung, die die jahrhundertalte Christologie dem Menschen eingeimpft hat. Soll mit einem Worte diese moderne Weltanschauung charakterisiert werden, so muß man sagen: Sie suchte das Verständnis des Menschen auf dem Grunde naturwissen­schaftlicher Erkenntnisse. Wie wir die Zusammensetzung und die Bewegungen des Weltalls rein naturgesetzlich zu begreifen suchen, so schwebt uns heute vor, auch des

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Menschen Tun und Lassen zu erklären. Wir denken nicht mehr darüber nach, warum Gott das Böse in der Welt zu­läßt, sondern wir suchen die menschliche Organisation zu verstehen, um sagen zu können, wie sie zu solchen Äuße­rungen kommt, die als böse angesehen werden. Diese Geistesströmung hat Balzac übertrieben. Er wollte der Naturforscher der menschlichen Gesellschaft sein. Wie Dante eine «göttliche» Komödie geschrieben hat, so wollte er eine «menschliche» schreiben, denn er dachte: es gibt soziale Arten, wie es zoologische Arten gibt. Wie in der Tierwelt der Unterschied von Löwe und Hund, von Säugetier und Vogel begriffen werden muß, so in der menschlichen Gesellschaft der von Beamten und Kauf­mann, von Finanzmann und Geburtsaristokrat. Eines ist dabei übersehen. Die tierische Art Löwe wird durch das einzelne Individuum so erschöpft, daß uns an diesem nichts weiter im wesentlichen interessieren kann, wenn wir die Eigentümlichkeit seiner Art begriffen haben. Die alte Jungfer mag noch ein besonderes Interesse haben für die individuellen Eigenheiten ihres Schoßhündchens. All­gemeine Aufmerksamkeit können solche Eigentümlich­keiten nicht erregen. Ganz anders liegt die Sache beim Menschen. Jedes Individuum wird uns hler zum Problem. Die Art erschöpft sich nicht in dem Einzelwesen. Jeder Mensch gibt uns für sich ein Rätsel auf. Ein psycholo­gisches Rätsel für den Erklärer; eine künstlerische Auf­gabe für den Darsteller. Das hat Balzac nicht begriffen. Er hat deshalb keine Einzelmenschen, keine Individuen dargestellt. Das Letzte fehlt allen seinen Gestalten. Wir sehen in ihnen Vertreter ihrer sozialen Typen. Die Inter­essen, die Ziele, die Lebensführungen ihres Standes be­herrschen

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sie und schweben über ihren Häuptern wie fixe Ideen. Das soziale Kostüm, das Milieu allein ist gezeichnet. Der Mensch ist nur ein Exemplar. Die Wahrheit der Welt­anschauung Balzacs wird erst enthüllt, wenn auch das Individuelle, über das er hinweggeht, naturwissenschaft­lich klar vor uns steht. So müssen wir heute Balzac ver­stehen. Dann werden wir in ihm den Ahnherrn manches gegenwärtigen Vertreters der neuen Weltanschauung sehen, der im Grunde auch nicht bis zu dem Punkte vor­gedrungen ist, wo das Individuum anfängt. Es ist, um einen der Größten zu nennen, die geistige Tragik Nietz­sches, daß er den Menschen nie bis in die Geheimnisse der Individualität hinein verfolgt hat. Für Nietzsche, den so oft als Individualisten Charakterisierten, existieren auf breiten Gebieten fast nur Gattungsideen. Den Proletarier, den Christen, das Weib, den Gelehrten und viele andere sah Nietzsche nur als Gattungen. Und aus diesem Um­stande erklären sich viele Widersprüche bei Nietzsche. Im Grunde widersprechen sich alle Behauptungen Nietz­sches, die er als Beobachter, als Philosoph macht, mit sei­nen Schlüssen, Urteilen, die er bildet. Was er vom Ein­zelnen hätte sagen sollen, behauptet er als allgemein cha­rakteristische Wahrheiten. Er leidet unter demselben Vor­urteile, unter dem Balzac Romane geschrieben hat. Das Ziehen der letzten Konsequenzen, der wirklich un­befangene Blick auf die Wirklichkeit mangelt beiden. Sie können die an der Hand der Naturwissenschaft gewonne­nen Wahrheiten nicht auf die menschliche Gesellschaft an­wenden. Sie übertragen das dort Gültige einfach hierher. Aber in dieser wörtlichen Übertragung ist es falsch. Wenn wir Heutigen uns durch die lange Reihe der Balzacschen

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Romane durchwinden, dann stehen wir da, wie Hölderlin vor den Menschen seiner Zeit: wir sehen Herren und Diener, Aristokraten und Volk, Bauern und Bürger; aber Menschen sehen wir nicht. Endlich muß die Einsicht ge­wonnen werden, daß wir die großen Propheten der mo­dernen Weltanschauung nur dann verstehen, wenn wir im richtigen Augenblicke über sie hinauszugehen verstehen. Auch Goethe verstehen wir heute nicht dadurch, daß wir zu seinen Ehren Feste veranstalten, daß wir seine Worte nachsprechen und kommentieren, sondern dadurch, daß wir die Schlüsse aus seinen Ansichten ziehen, die er noch nicht ziehen konnte. Die Geschichte geht uns nur insoweit etwas an, als sie unsere eigene Tätigkeit fördert.

#TI

ROSA MAYREDER

#TX

Ellen Key, die feinsinnige Psychologin, hat in ihrem Buche «Essays» (S. Fischer Verlag, Berlin 1899) mit tref­fenden Worten auf den tiefen Sinn hlngewiesen, der sich hlnter dem heute so oft gehörten Schlagwort «Die Freiheit der Persönlichkeit» verbirgt. «Wie viele wissen wirklich, was es kostet, Stunde um Stunde, Tag um Tag, Jahr um Jahr zu trachten, den Inhalt dieser Worte zu verwirk­lichen?» Abseits von den Kreisen, die in Wien neue Aus­hängeschilde und Rangordnungen des geistigen Lebens suchen, lebt dort eine Künstlerin, die für sich allein den Seelenkampf kämpft, auf den Ellen Key deutet: Rosa Mayreder. Als Schriftstellerin und Malerin ist sie in den letzten Jahren hervorgetreten. Vor drei Jahren erschien

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ihre erste Novellensammlung «Aus meiner Jugend», bald darauf die andere, «Übergänge, Novellen» (beides bei Pierson, Dresden 1896 und 1897), vor kurzem «Idole», die «Geschichte einer Liebe» (S. Fischer Verlag, Berlin 1899>. In den psychologischen Skizzen, die in den beiden ersten Bändchen gesammelt sind, werden tiefe Seelen-probleme aufgerollt; in dem letzten Werke bewundert man, je mehr man sich in dasselbe vertieft, eine ent­wickelte Kennerschaft der Menschennatur und eine reife Kunst in der Darstellung dessen, was auf den Gründen und Untergründen des Geistes vorgeht. Wer die kleinen Erzählungen Rosa Mayreders auf den ersten Eindruck hin beurteilt, kann leicht zu der Meinung kommen, daß es sich um eine soziale Kampfdichtung handelt, um ein Auf­lehnen gegen die Vorurteile, mit denen Erziehung und Gesellschaft die freie Entfaltung unseres Seelenlebens zurückhalten. Denn ein großer Teil dieser Erzählungen stellt Persönlichkeiten dar, die auf eine unnatürliche Weise sich darlehen, weil verfehlte Erziehung und gesellschaft­liche Verkehrtheit ganz andere Menschen aus ihnen ge­macht haben, als sie geworden wären, wenn sie in der Luft der Freiheit und Vorurteilslosigkeit sich entwickelt hät­ten. Wer sich aber gründlicher in diese kleinen Kunst­werke versenkt, der wird finden, daß es der Dichterin gar nicht auf diesen Kampf ankommt, sondern auf das Finden künstlerischer Mittel, die Vorgänge der menschlichen Seele in ihrer vollen Wahrheit zur Anschauung zu bringen, gleichgültig, ob diese Vorgänge durch das Leben inner­halb einer verkehrten sozialen Ordnung oder durch die natürlichen Zwiespälte in der menschlichen Natur selbst hervorgebracht sind. Ein tiefgründiger Erkenntnisdrang,

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ein starkes Interesse für gedankliche Vertiefung in das Wesen des Menschen leben in Rosa Mayreder. Und die Liebe zur Befreiung der Persönlichkeit steht im Mittel­punkte ihres Empfindungslebens. Als Künstierin ist es ihr nicht um das Aussprechen ihrer Gedanken als solcher, nicht um Darstellung ihrer Liebe zur Freiheit zu tun. Wer daran nach dem Erscheinen ihrer ersten Novellensamm-lungen noch zweifeln konnte, der muß durch die «Idole» umgestimmt worden sein. In dichterisch-phantasiemäßiger Auffassung ist hier alles verarbeitet, was Rosa Mayreder an Ideen über die Menschennatur aufgegangen ist. Scharfe Beobachtungsergebnisse, tiefe Gedanken sind völlig in die anschaulichen Vorgänge ausgeflossen. Man muß dieses rein künstlerische Ausleben der Dichterin um so mehr bewundern, als sie völlig auf die älteren Mittel der Erzäh­lungskunst verzichtet. Anekdotenhaftes Stilisieren der äußeren Ereignisse ist ihr völlig fremd. Sie hat nicht den Glauben, daß die Kunst über die Natur hinausgehen müsse, um eine höhere Wahrheit, eine besondere «Schön­heit» darzustellen. Sie ist voll des Glaubens, daß innerhalb der Natur allein die Wahrheit zu suchen ist. Aber sie ist zugleich tief durchdrungen von der Erkenntnis, daß die Kunst die Natur nicht kopieren kann, sondern daß ihre Wege, ihre Mittel etwas Selbständiges sind, etwas, das in seiner Eigenart erfaßt werden muß, wenn es die Wahrheit der Natur zur Darstellung bringen soll. Farbe und Form sind für den Maler eine Welt für sich. Aus ihrer Wesenheit heraus muß er etwas erschaffen, was wahr wie die Natur erscheint, trotzdem die Natur das Objekt, das er darstellt, mit noch ganz anderen Mitteln als mit Farbe und Form allein hervorbringt. Das unablässige Vertiefen in die

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künstlerischen Ausdrucksmittel ist charakteristisch für Rosa Mayreders Seelenleben.

Diese ihre Eigenart tritt am schärfsten hervor an ihrem letzten Werke. Gisa liebt den Doktor Lamaris. Sie erzählt, wie diese Liebe heraufgestiegen ist aus den unergründ­lichen Tiefen der Seele, als sie zum ersten Male diesen Mann sah, und wie sie sich ihrer mit Zaubergewalt be­mächtigt hat. «Als dieser Mann eintrat, ja gleich, als ich ihn das erstemal erblickte, kam er mir so sonderbar be­kannt vor, so vertraut, als kennte ich ihn schon längst. Und nachdem er einige Minuten lang mit mir gesprochen hatte, höfliche, nichtssagende Worte, wie jeder junge Mann sie an jedes junge Mädchen richtet, gewann ich auf einmal den Eindruck, daß ich mich ganz köstlich unterhielte, daß die ganze Gesellschaft, die da ziemlich ledern herumstand und herumsaß, animiert wie noch nie war.» Die Liebe befruchtet Gisas Phantasie. Und diese gestaltet ein Bild des Doktor Lamaris aus, zu dem das Mädchen aufblickt wie zu einem Ideal. Und man gewinnt eine Vor­stellung von diesem Bilde, wenn man den Begriff ver­nimmt, den Gisa von dem Mannesideal hat: «Ein Mann mit einem Frauenherzen! Das ist das Höchste, das ist die Vollendung! Ein Mann, der alles hat, was Männer aus­zeichnet, alle Kraft, allen Willen, alles Wissen, und der zugleich voll Hingebung ist, voll Zärtlichkeit, voll gütiger Innigkeit, der alles versteht, weil er es in sich selbst erlebt, der nichts Fremdes, der keinen ungelösten Rest in seinem Herzen hat.» Wie anders zeigt sich Doktor Lamaris, als ihn Gisa in seiner wahren Wesenheit kennenlernt! «Die Vorstellung eines leuchtenden Inneniebens kehrte später oft zurück, aber niemals in seiner Gegenwart. Sie vertrug

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keine Berührung mit der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit starrte von verletzenden Eindrücken, die sich wie Nadelstiche in meine Seele bohrten.» Einen Mann, in dessen Seele die schönsten menschlichen Neigungen sind und dessen Dasein in dem allseitigen Ausleben einer elemen­taren Persönlichkeit besteht, glaubte Gisa in Doktor Lamaris sehen zu können. In Wirklichkeit trat ihr ein Mann entgegen, der das ganze Leben nur nach den Prin­zipien betrachtet wissen wollte, welche die Wissenschaft des Arztes an die Hand gibt. Eine abstrakte medizinische Vorstellung von der Welt, verkörpert in einem Menschenwesen, steht vor Gisa, während sie gemeint hat, ihr Mannesideal vor sich zu haben. Der Doktor hat die An­sicht, ein Mädchen soll fromm sein, weil es dadurch sich dem Leben am besten anpassen kann. Gisa ist der Mei­nung: «Man ist gläubig oder ungläubig aus einem inner­lichen Zustand; aber nicht, weil man soll oder nicht soll. Was heißt das also, ein Mädchen soll fromm sein?» La­maris erwidert: «Das heißt, daß es für eine weibliche Psyche nicht zuträglich ist, auf die Beihilfe zu verzichten, welche die Religion gewährt.» Die leibhaftig gewordene Medizin will «also Religion unter dem Gesichtspunkt der Seelendiät, der psychischen Hygiene» betrachtet wissen. Denn die «Kulturmenschheit wird lernen müssen, wenn sie nicht dem völligen Ruin verfallen soll, das Leben aus­schließlich unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten; sie wird alle Affekte unter diesem Gesichtspunkt bewerten müssen... Auch die Liebe, und zwar die Liebe in aller-erster Linie. Denn da die Liebe es ist, die gewöhnlich über das Wohl und Wehe der künftigen Generation entscheidet, geschieht es nur zu häufig, daß die auf Grund einer Liebesneigung

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geschlossene Verbindung zweier Menschen etwas geradezu Frevelhaftes darstellt. Es ist eine sentimentale Verirrung, die Liebe als die wünschenswerteste Grundlage der Ehe hinzustellen. Der illusionäre Charakter dieses Affektes macht den davon Befallenen ganz unfähig, seine Wahl nach Vernunftgründen, nämlich im Sinne der Ras­senverhesserung, zu treffen.» - Wie Gisa zu Doktor La­maris, so hat auch dieser zu dem Mädchen eine tiefe Nei­gung. Er folgt dieser Wahl nicht. Denn sein medizinischer Gesichtspunkt macht es ihm notwendig, seine Wahl im Sinne der Rassenverbesserung zu treffen. Er ist aus einer Familie, die geistig Umnachtete zu ihren Mitgliedern zählt; er hat einen Beruf, der den Geist auf Kosten des Körpers in Anspruch nimmt. Gisa ist ein Mädchen, das auch zu einem Leben in der geistigen Sphäre neigt. Er heiratet ein Mädchen aus «geschonten Bevölkerungsschichten ».

Zwei Menschen sieht man in dieser «Geschichte einer Liebe» einander gegenüberstehen. Eine reale Gemeinsam­keit zwischen ihnen ist nicht möglich. Denn zwischen ihre Persönlichkeiten schieben sich zwei Idole. Gisa glaubt den Doktor Lamaris zu lieben. Sie liebt ein Idol von ihm, das vor ihre Seele getreten ist, als sie mit ihm in Berührung kam. Der wirkliche Doktor Lamaris kann für ihre Seele nichts Anziehendes haben. Doktor Lamaris liebt Gisa wirklich; aber er stellt als Verstandesidol die medizini­schen Anschauungen zwischen sich und die Geliebte. -Dies ist das gedankliche Element der Erzählung. Es drängt sich nirgends in blasser Verstandesform vor, sondern es ist aufgesogen von der künstlerischen Anschauung. Gisas Charakter und die Art ihrer Erlebnisse bringen es mit sich, daß die Erzählung des Tatsächlichen fortwährend durchsetzt

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wird mit der Mitteilung der Empfindungen und Reflexionen, die sich in der Psyche dieses Mädchens an die Ereignisse knüpfen. Denn diese inneren Vorgänge in einer Mädchenseele sind der eigentliche Inhalt der Erzählung. In ihrer wahren Gestalt, mit allen intimen Nuancen des Denkens und Fühlens, kann sich diese Seele nur enthüllen, wenn sie selbst spricht. Deshalb ist die Form, die Rosa Mayreder gewählt hat, die einzig mögliche für ihre Auf­gabe. Man kann sie die des stilisierten Tagebuchs nennen. Und bei der Charakteranlage Gisas glauben wir es durchaus, daß sie sich in dieser Weise ihre Erlebnisse vor die Seele stellt. Man sieht, wie die Kunstform einem inneren Wahrheitsbedürfnis der Dichterin entspricht.

Je mehr man in die Erzählung eindringt, um so mehr zeigt sich dieses Wahrheitsbedürfnis. Es handelt sich um Dinge von so feiner Wesenheit, daß unsere auf das Gerad­linige, nach scharfen Umrissen strebenden Vorstellungen das Intime der Erlebnisse leicht zerstören können. Rosa Mayreder findet die künstlerischen Mittel, um diese Inti­mität in den Zusammenhängen der Dinge und Persön­lichkeiten darzustellen. Jede scharf begriffliche Hindeu­tung auf die Gründe, warum sich Gisa ihr Idol bildet, könnte die unbewußten Mächte, die da walten, nur in einer vergröberten Gestalt zeigen. Rosa Mayreder läßt in der Charakteristik des Doktor Lamaris eine Vorstellung an­klingen, die gleichsam eine mystisch-symbolische Emp­findung von den feinen Beziehungen erweckt, die hier walten. «Das einzige vollkommen Schöne an ihm waren seine Hände, schlanke, weiße, gepflegte Doktorenhände, die eine außerordentliche Ausdrucksfähigkeit besaßen. -Es lag soviel Seele in ihren Bewegungen, daß man beinahe

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den Eindruck eines Mienenspiels empfing. Sie hatten etwas Ernstes und Liebevolles; sie schienen die verborgensten Eigenschaften, alles, was an einem Menschen am längsten uneingestanden bleibt, zu offenbaren, verschwiegene Wohl-taten, geheime Opfer, zarte Gefühle, jenen scheuen Adel der Empfindung, der sich sorgfältig unter einer Maske wortkarger Zurückhaltung verbirgt.» In Organen, die der Willkür, dem Verstande wenig unterworfen sind, prägt sich die eigentliche Seele dieses Mannes aus, die durch die medizinische Weltanschauung im Gebiete des Bewußten sich völlig untreu geworden zu sein scheint. In vollem Einklange mit dieser Charakteristik der Hände steht ein anderer Zug der Erzählung. Die Frau aus einer «geschon­ten Bevölkerungsschicht», die sich Doktor Lamaris ge­wählt hat: sie hat eine auffallende Ähnlichkeit mit Gisa. «Sie ist wie eine ins Gesunde übersetzte Ausgabe» von Gisa. Die unter der Schwelle seines Bewußtseins tätigen Seelenkräfte haben also doch bei Lamaris einen Weg ein­geschlagen, den ihn sein Verstand nicht gehen ließ. In treffender Weise findet Rosa Mayreder die äußeren Dar­stellungsmittel, die unsere anschauende Phantasie in ein ebensolches Fahrwasser bringen, in denen sich unser Ideenvermögen bewegt, wenn wir den unbewußten Hin­tergründen der bewußten Seelenvorgänge nachsinnen. Man darf sagen: in dieser Dichtung tritt uns das gedank­liche Element vollständig aufgelöst im künstlerischen Stil entgegen. Und die Einheit dieses Stiles ist, das ganze Werk hindurch, gewahrt. Da begegnet uns eine Gestalt, das alte Fräulein Ludmilla. Eine von den Persönlichkeiten, die das Leben immer in die Ecke gedrängt hat, ein scheues, ver­schlossenes, altjüngferliches Wesen. Als Gisa dem alten

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Fräulein bei einem Besuch einmal einen Fliederzweig über­reichte, da nahm ihn dieses und «sog mit einem langen, zitternden Atemzug den Duft ein». Sie flüsterte: «O Gott! o Gott!» und Tränen flossen über ihre Wangen. Gerne hätte Gisa die Vorstellungen gekannt, die durch Tante Ludmillas Seele zogen, wenn ein blühender Fliederzweig vor ihre Augen trat. Sie kam nie dazu, die darauf bezüg­liche Frage zu stellen. «Es war vielleicht der schönste Augenblick ihres Lebens, der einzige Augenblick des Glückes, der Erhebung über das Alltägliche - aber wenn sie ihn mit ihren gesitteten Bemerkungen und spießbürger­lichen Wendungen erzählt hätte, wäre er verdorben ge­wesen für immer. Sie hatte ihn erzählt, als sie still über dem blühenden Zweig weinte.» Diese Art der Erzählung von Ludmillas Lebensgeheimnis ist jedenfalls die von dem Stile geforderte, in dem die «Idole» geschrieben sind.

Den beiden Hauptgestalten der Erzählung, Gisa und Lamaris, stehen andere gegenüber, deren Charaktere durch Kontrastwirkung die Eindrücke, welche die ersteren machen, wesentlich erhöhen. Einen vollen Gegensatz zu dem Geist- und Verstandesmenschen Lamaris bildet der Oberleutnant von Zedlitz, ein geistloser Renommist, der sich überall Liebliind machen will, der allen Mädchen alberne Schmeicheleien sagt. Dadurch, daß sie den Ein­druck schildert, den diese Persönlichkeit auf Lamaris und Gisa macht, verbreitet die Dichterin Licht über Bezie­hungen, die für die Charakterbilder, die sie entwirft, in Betracht kommen. Der Doktor spricht sich über den Oberleutnant mit den Worten aus: «Er ist doch der Typus eines gesunden, gut entwickelten Menschen! ... Seine Physis ist von einer leider schon selten gewordenen Vollkommenheit:

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er muß aus einer sehr gesunden Familie kommen. Keine Spur von erblicher Belastung !» Und Gisa meint: «Diese hanale Muskulatur in ewiger Parade-haltung, diese gedankenlosen Hände -.» Das Gegenbild Gisas ist ihre Freundin Nelly. Sie ist eine von den Naturen, die durch die Oberflächlichkeit ihres Charakters über die Kluft leicht hinweghüpfen, die das Idol von der Wirklich­keit trennt. Auch sie hat ihr Idol von einem Manne: «Es müßte ein Mann sein, ein ganzer Mann, vor dem alle zittern und sich beugen, ein Mann mit starkem Arm, der mich beschützen und schirmen könnte in allen Lagen des Lebens, ein Mann mit einem gewaltigen Willen, der mich zu seiner Sklavin machen könnte durch einen Wink mit seinen Augenbrauen.» - Dieses «Idol» ist in leere Luft verweht, als die Eltern für sie einen Mann bestimmen, der alle diese Eigenschaften nicht hat, der aber eine «gute Partie»ist.

Die psychologischen Probleme sind Rosa Mayreders künstlerisches Gebiet. Als psychologische Studien sind auch die Novellen und Skizzen ihrer beiden ersten Werke zu nehmen. In einer ihrer ersten Erzählungen, «Die Sonderlinge» («Aus meiner Jugend»), tritt dieser Grund-charakter ihres Schaffens sogleich auf. Der Mensch, der nur ein Abdruck ist der sozialen Verhältnisse, aus denen er heraus-, und des Berufes, in den er hineingewachsen ist, steht hier neben dem Menschen, der eigensinnig, rück­sichtslos nur seiner Natur nachleben will. Und dieser letztere wird uns wieder in zwei Schaffierungen gezeigt: in der selbstsüchtigen tyrannischen Persönlichkeit und in dem hingebungsvollen Idealisten.

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Den mannigfaltigen Formen, die das geheimnisvolle Ding annimmt, das wir Menschenseele nennen, geht Rosa Mayreder nach; und überall sucht sie nach den Gründen, warum dieses Wesen von dieser oder jener Art ist, und was ihm das Leben an Leiden und Freuden auferlegt, weil es eine bestimmte Prägung erhalten hat. Wie ein Grundmotiv zieht sich durch eine Reihe ihrer Erzählungen der typische Gegensatz zwischen den Verstandesnaturen und den in­tuitiven Naturen hindurch. Die kalten Seelen, die von der Reflexion beherrscht werden, und die Gefühls- und Phan­tasiemenschen, die aus der Unmittelbarkeit ihres Wesens heraus ihre Impulse holen, werden der Dichterin immer wieder zum Problem. Besonders schroff tritt dieser Gegen­satz in der Skizze «Klub der Übermenschen» hervor (in «Übergänge»). Das Verhältnis zweier Menschen wird hier geschildert, von denen der eine ganz Empfindungs-, der andere ganz Verstandesmensch ist. Besonders anziehend sind die Erzählungen, die den Kampf schildern, in den die Einzelseele dadurch getrieben wird, daß sie in sich den Ausgleich zwischen Reflexion und Empfindung, Vernunft und Leidenschaft nicht finden kann. «Lilith und Adam», «Sein Ideal», in den «Übergängen», sind fesselnde Dar­stellungen dieses Kampfes. Die vielverzweigten Strö­mungen, in welche die Psyche gerissen wird und die das innere Schicksal eines Menschenlebens bestimmen, weiß diese Künstlerin aus einer tiefen Beobachtung heraus zu kennzeichnen. «Das Stammbuch» («Übergänge»> stellt eine solche Strömung in dem Verhältnis eines Mannes zu einer verheirateten Frau dar.

Wer Rosa Mayreder als Malerin kennenlernt, der kann bemerken, wie sie in dieser Kunst die gleichen Wege geht

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wie in der Dichtung. In der letzteren ist es das psycholo­gische, in der Malerei das koloristische Problem, dem sie nachgeht. Den Farben sucht sie das Geheimnis abzulau­schen, durch das sich ausdrücken läßt, was die Natur zu uns spricht. In Cornelius und Kaulbach sieht sie keine Maler im eigentlichen Sinne, denn diese verwendeten bloß Farben und Formen, um ihrer abstrakten Gedankenwelt sichtbaren Ausdruck zu geben. Das Auge allein hat zu urteilen, nicht der Intellekt, wenn es sich um die Welt der Formen und Farben handelt.

Aus einem intensiven Drange, sich in die Zusammen­hänge der Wirklichkeit einzuleben, aus dem Bedürfnis, die Rätsel zu lösen des eigenen Daseins sowohl wie diejenigen der Erscheinungen, die auf unsere Sinne eindringen, ist Rosa Mayreders Kunst geboren. Und ein Zeugnis dafür, aus welchen Seelentiefen dieser Drang kommt, geben die kleinen Erzählungen, in denen sie in Form von Fabeleien den höchsten Erkenntnisftagen Ausdruck gibt. Eine dieser Fabeleien wird in diesem Hefte mitgeteilt. In je höhere Regionen sich der Gedanke erhebt, desto weniger können die Vorgänge, die ihn im äußeren Symbol ausdrücken, ein selbständiges Leben führen. Man wird aber Rosa May­reder das Zugeständnis machen müssen, daß es ihr ge­lungen ist, für die Verkörperung großer Weltanschauungs­fragen solche symbolische Ereignisse zu finden, daß das Ideelle im Bilde restlos aufgeht; und daß dieses Bild nicht wie eine hölzerne Allegorie wirkt, sondern wie ein Sinn­bild, in das sich der Gedanke zwanglos, wie durch seinen eigenen Willen nach Veranschaulichung kleidet. Es ist, wie wenn die Dichterin den Gedanken nicht in das Bild hinein-legt, sondern aus ihm herausgeholt hätte.

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Dieselbe Seite ihres Wesens offenbart uns Rosa May­reder in ihren Sonetten. Man fühlt überall die Notwendig­keit, mit der hier eine Strophenform eine Gedanken-struktur zum Ausdruck bringt. Ein Grundgedanke legt sich in zwei Glieder auseinander, die in einer umfassenden höheren Idee wieder ihren harmonischen Zusammen­schluß finden. Den beiden ersten Gedankengliedern ge­hören die zwei ersten vierzeiligen Strophen, der um-spannenden Idee die letzten beiden dreizeiligen.

Rosa Mayreder zeigt uns auf jeder Seite, die sie ge­schrieben hat, daß sie eine bedeutende Kraft verbraucht hat, um in sich die Organe zu entdecken, die ihr die Welt und das Leben auf eine sie befriedigende Weise zeigen. Dadurch strömt aber auch von allen ihren Leistungen eine eigentümliche Atmosphäre aus, die von dem großen Stile ihrer Auffassung der Dinge Zeugnis ablegt.

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MARIE VON EBNER-ESCHENBACH

Zu ihrem siebzigsten Geburtstag am 13. September 1900

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Sie sieht die Welt, wie sie ist; aber vom Standpunkt des vornehmen österreichischen Salons aus. Jn diesem Satz könnte man kurz die Stärken und Schwächen Marie von Ebner-Eschenbachs zusammenfassen, die am 13. Septem­ber ihren siebzigsten Geburtstag feiert. Die Lebens- und Bildungsverhältnisse der Gesellschaftsklasse tauchen als Hintergrund ihrer Erzählungskunst auf, die einst den Grafen Anton Auersperg zu dem vielgefeierten Dichter Anastasius Grün heranreifen ließen. Er war der Freiheits­dichter, wie er entsteht, wenn nicht der Sohn des Volks,

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sondern der zum Volk herabsteigende, von den allgemei­nen Ideen der Menschenwürde und des Kulturfortschritts erflillte Kavalier zum Sänger wird. Marie von Ebner­Eschenbach ist die adelige Dame mit dem von unendlicher Güte für alles Menschliche erfüllten Herzen, die unbefan­gen die Schattenseiten der vornehmen Kreise wie das Leben der arbeitenden Bevölkerung schildert, aber jene nicht ohne den Anteil, den die Zugehörigkeit gibt, und dieses nicht ohne den Zug von Fremdheit, der erzeugt wird, wenn man mit dem Volke doch nur als die vornehme Schloßfrau zur Dienerschaft in Berührung gekommen ist. Wie innig und warm auch die Schilderung ist, mit der die Dichterin in ihrer Erzählung «Bozena» (1876) ein Kind aus dem Volke mit seinen anspruchslosen Leiden und Freuden hinstellt, man hört nicht jemand sprechen, der mitgelitten und sich mitgefreut hat, sondern die gütige Dame mit der milden Lebensanschauung und Leutselig­keit. Man erkennt klar, worauf hier hingewiesen werden soll, wenn man unmittelbar nach Ebner-Eschenbachs «Dorf- und Schloßgeschichten» (1883 und 1886) eine Dorfgeschichte Peter Roseggers liest. Hier spricht der Mann, der als wandernder Schneidergeselle mit dem Volke zu Tisch gesessen hat, dort das Gutsfräulein, das nie viel weiter gekommen ist, als dem Volke die Hand zu reichen. Man mißverstehe dies nicht. Es ist kein Ton jener «herab­lassenden» Art in den Erzählungen dieser Dichterin, die verletzen muß; aber sie kann nirgends das gräfliche Blut, das in ihren Adern fließt, nirgends die aristokratische Er­ziehung verleugnen, die sie genossen hat, nirgends auch die Empfindungen der Gesellschaftskreise, in denen sich ihr Leben bewegt hat.

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Marie von Ebner-Eschenbach ist auf dem mährischen Schlosse Zdislavic aus einer altadeligen Familie als Gräfin Dubsky geboren. Sie war ein phantasievolles, außer-gewöhnlich eindrucksfähiges Mädchen. Frühzeitig trat bei ihr ein entschiedener Hang auf, ihre Welt- und Menschen­kenntnis nach allen Seiten hin zu erweitern. Von ihrer Lebhaftigkeit und Unternehmungslust wissen diejenigen viel zu erzählen, die sie als Mädchen kannten. Die mähri­schen Adelskreise, aus denen sie herausgewachsen ist, zeichneten sich seit langem durch liberale, fortschritts-freundliche Anschauungen aus. Sie unterscheiden sich da­durch vorteilhaft von dem reaktionären böhmischen Hoch­adel. Die Volksschichten, mit denen die junge Gräfin in Berührung kam, haben in ihrer Lebensweise etwas außer-ordentliches Interessantes. Das Gut Zdislavic liegt nicht weit von der ungarischen Grenze entfernt; man lernt, wenn man in einer solchen Gegend aufwächst, die mannig­faltigsten Sitten und Gewohnheiten kennen, die das Ge­misch der verschiedensten Völkerstämme darbietet. Durch ihre Heirat, im Jahre 1848, mit dem Baron von Ehner wurde die Gräfin Dubsky in die vornehme Wiener Gesell­schaft verpflanzt. Aus den Ideen dieser Gesellschaft heraus ist sie nur ganz zu verstehen. Ein hervorstechender Cha­rakterzug dieser Gesellschaft ist der Kultus des «guten Herzens». Mit diesem guten Herzen glaubt man allein die großen weltbewegenden Fragen der Gegenwart meistern zu können. Es ist bezeichnend, daß ein österreichischer Abgeordneter, der mit seinen Gedanken in dieser Gesell­schaft wurzelt, vor nicht langer Zeit öffentlich gesagt hat: mit gesetzlichen Mitteln könne man nichts zur Aus-gleichung der großen sozialen Gegensätze erreichen; das

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wirksamste Mittel zur Bekämpfung der Leiden des Prole­tariats könne nur die private Mildtätigkeit, das Wohl­wollen der Bessergestellten sein. Liebe und Wohlwollen sind denn auch die Leitmotive, die in fast allen Werken Ebner-Eschenbachs hervortreten. Derselbe Charakterzug hat eine andere niederösterreichische Aristokratin, Berta von Suttner, zur Einleitung der bekannten Friedens­bewegung geführt.

Eine andere Eigenschaft dieser österreichischen vor­nehmen Gesellschaft ist die Vorliebe für das Maßvolle, für eine gewisse Schönheit äußerer Formen. Dieser Vorliebe kam die Erzählungskunst der Dichterin in hohem Maße entgegen. Marie von Ebner-Eschenbachs Darstellung ist nicht ohne Leidenschaft; aber diese Leidenschaft hat etwas Abgeklärtes; sie hält sich innerhalb gewisser Grenzen. Alles Stürmische, alles Radikale fehlt in der ruhig hin­ffießenden Schilderung; den Begierden und Forderungen des Lebens gesellt sich immer die Mahnung zur Ent­sagung.

Das Ruhige, Ausgeglichene in ihrer Weltanschauung, durch das sie in den letzten zwei Jahrzehnten als Erzählerin immer mehr Anerkennung gefunden hat, machte es Marie von Ehner-Eschenbach unmöglich, auf dem Felde Erfolge zu erringen, auf dem sie solche zuerst gesucht hat, als dramatische Dichterin. Obgleich sich die einflußreichsten und einsichtsvollsten Bühnenleiter für ihre Leistungen interessierten, blieben ihre dramatischen Schöpfungen doch ohne Wirkung. In Karlsruhe wurde 1860 ihr Trauerspiel «Maria Stuart in Schottland», im Wiener Burg-theater 1871 ihr Einakter «Doktor Ritter» aufgeführt. Beide machten ebensowenig einen bedeutenden Eindruck

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wie das 1873 im Wiener Stadttheater gespielte Drama «Das Walefräulein», von dem man hätte glauben sollen, daß es schon durch die Schilderung der modernen Wiener Gesell­schaft fesseln müsse. Die dramatische Kraft fehlte dieser Künstlerin; die ruhige Schönheit ihrer Darstellung konnte sich nur in der Erzählung ausleben. Als sie sich, von der Mitte der siebziger Jahre an, fast ausschließlich diesem Gebiete zuwandte, wurde ihr eine volle Würdigung bald zuteil. Am rückhaltlosesten traten für sie die akademisch-literarischen Kreise ein. Was die deutsche Schönheits­wissenschaft als ideale Eigenschaften des Kunstwerks hin-gestellt hat: Ebenmaß und Harmonie, das findet man in den Novellen und Romanen Ebner-Eschenbachs in hohem Grade verwirklicht. Sie sind geradezu eine Illustration zu mancher Universitätsvorlesung über die Forderungen der Schönheit und der Kunst. Es ist charakteristisch, daß die Wiener Universität die Dichterin gelegentlich ihres sieb­zigsten Geburtstages soeben zum Ehrendoktor ernannt hat.

Eine feine Beobachterin spricht sich in den beiden Sammlungen von «Dorf- und Schloßgeschichten» (1883 und 1886) und in dem zweibändigen Roman «Das Gemeindekind» (1887) aus. Aber allen diesen Personen, die da geschildert werden, fehlt doch etwas, um uns inner­halb der Gesellschaftsschicht, der sie angehören, ganz ver­ständlich zu sein. Dazu sind sie zu wenig aus ihrem ureige­nen Empfinden und Vorstellen heraus dargestellt; sie bieten nur ihre Außenseite, nicht die intimen Züge ihres Gemüts dar. Wenn man aber von alledem absieht, so muß man doch eine hinreißende Wirkung verspüren von der tiefen, innigen Art, mit der sich die Erzählerin in fremdes Seelenleben zu versetzen sucht. Vermag sie doch sogar mit

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Wärme das Seelenleben der Tiere zu schildern, wie in der Erzählung « Krambambuli », die in der Sammlung «Neue Dorf- und Schioßgeschichten» sich findet (1886).

Die sozialen Übel und Vorurteile versteht die Dichterin in sympathischer Art künstlerisch darzustellen. Die Milde und Güte ihrer Gesinnung verleiht ihren Schilderungen, wenn sie auf solche Gebiete kommt, eine eindringliche, ergreifende Sprache. Ihr Höchstes nach dieser Richtung hin hat Marie von Ehner-Eschenbach im «Gemeindekind »erreicht. Wie ein gesellschaftlich entwurzelter Mensch sei­ner Umgebung zur Last fällt, wie ein fast Verlorener wie­der auf den rechten Weg gebracht wird: dies wird hier mit innerer Wahrheit und zugleich mit der Herzlichkeit ge­schildert, die für jede menschliche Verirrung Mitleid und Verständnis hat. Die Liebe zu einer breiten Erzählerkunst zeigt sich besonders in diesem Buche. Die Dichterin ver­weilt gern an Stellen, wo es möglich ist, die Gemüter der Menschen nach allen Seiten hin auszuschöpfen, wo man in dem Genuß der dargestellten Personen und Schicksale sich recht vertiefen kann. Weniger gelingt es ihr, eine Handiung zu schürzen und zu Ende zu führen, die einen raschen Gang und starke Gegensätze verlangt. Das zeigt sich in der Erzählung «Unsühnbar» (1890), wo die Ver­irrung der Leidenschaft bei einer Frau, die einen Fehltritt in der Ehe begeht, völlig unbegründet erscheint. Die Handlung fordert hier rasche Entwicklungen, und Ebner­Eschenbach ist nur den ruhigen, gemessenen Schritten des Schicksals und des Menschenherzens gewachsen. Vielleicht am tiefsten aus der eigenen Seele der Dichterin gesprochen sind die Erzählungen, die vor drei Jahren unter dem Titel «Alte Schule» erschienen sind. Hier hat sie Stoffe gewählt,

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die es notwendig machten, jeden starken Ton zu ver­meiden. Eine stille, beschauliche Weisheit waltet da, wie sie die Künstlerin immer geliebt hat, eine andächtige Ruhe, welche den Härten des Lebens zwar nicht aus dem Wege geht, aber sie in eine milde Beleuchtung rücken möchte. Weil dieser Zug in ihr ist, stellt sie in der einen dieser Erzählungen den zur inneren Harmonie und zum stillen Glück gereiften Mann und den Jüngling einander gegen­über, der von dem Sturm seiner Leidenschaften gepeitscht wird; und in der anderen tritt uns der Gegensatz des ent­sagenden, in sich zufriedenen Geistes mit dem in Ehrgeiz sich abhastenden, von seinen Begierden geplagten Men­schen vor Augen.

Als gründliche Kennerin schildert die Erzählerin das Treiben und die Schicksale der aristokratischen Schichten. Hier ist sie ganz in ihrem Element. Da weiß sie die Seelen ohne Rest zu ergründen. Wie die Angehörigen dieser Ge­sellschaftsklasse an der Hohlheit ihrer Vorurteile leiden, wie sie sich heraussehnen aus diesen Vorurteilen und doch mit den stärksten Banden in ihnen gefesselt sind: das steht in voller Lebenswahrheit vor uns, wenn wir Erzählungen wie «Die Freiherrn von Gemperlein» oder «Muschi» lesen. Man darf sagen, daß sich die Dichterin für solche Stoffe einen im höchsten Sinne charakteristischen Stil ge­schaffen hat. Nirgends bei ihr fließt uns dieses öster­reichische Adelsdeutsch, in dem sie schreibt, in so natür­licher Weise aus dem Stoffe als da, wo sie Menschen dar­stellt, die fast ihr ganzes Leben hindurch einen Teil ihrer Umgebung ausgemacht haben. Da kann sie auch scharfe Kritik und Satire üben. Da hat sie es auch mit Menschen und Lebensverhältnissen zu tun, die in der Wirklichkeit

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nichts von den Härten und Unebenheiten zeigen, die sie in ihrer Kunst so wenig liebt. Wenn sie die «vornehmen» Kreise schildert, da scheint sie auch ihr Glaubens­bekenntnis am besten bestätigt zu finden, das wohl darin besteht, daß in der Welt trotz aller Leiden und Entbeh­rungen eine ausgleichende Gerechtigkeit waltet, eine wohltätige Weltordnung, die zu preisen ist.

Dieses Glaubensbekenntnis tritt auch an zahlreichen Stellen ihrer «Aphorismen» hervor, von denen 1880 eine Sammlung erschienen ist, deren abgeklärte Weisheit sol­chen Beifall gefunden hat, daß sie mehrere Auflagen er­lebt hat. Diese Kernsprüche sind ebenso geschmackvoll in der Form wie sinnig dem Inhalt nach. Ein Streben nach Klarheit in den großen und kleinen Fragen des Daseins kommt hier zum Ausdruck. Eine Frau spricht zu uns, die scharf und treu beobachtet, die namentlich Einkehr in sich selbst zu halten versteht und die aus dieser Selbstschau den schönsten Schatz von Lebensweisheit und Lebensmoral zu ziehen gewußt hat. Und wohltuend wirkt in dieser Spruch-weisheit besonders die anspruchslose, bescheidene Form, in der oft große Wahrheiten vorgetragen werden.

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MODERNE DICHTUNG

Marie Eugenie delle Grazie

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Es setzt sich heute jeder, der von modernen Strömungen in der Literatur spricht, der Gefahr aus, der Lächerlichkeit geziehen zu werden. Wieviel Unreifes, Dilettantenhaftes wird heute als modern bezeichnet! Die Kritiker, die oft

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keine Ahnung davon haben, was der Menschengeist im Verlauf seiner Entwicklung bereits aus sich hervorgebracht hat, bezeichnen manches als modern, was dem Einsichtigen nur als Modifikation eines längst Dagewesenen sich dar­stellt. Mit diesen Kritikern möchte ich nicht zusammen­geworfen werden, wenn ich sage, daß sich in unserer Zeit ein radikaler Umschwung des künstlerischen Schaffens nicht weniger wie der wissenschaftlichen Überzeugung vollzieht. Dieser Umschwung ist nicht erst in jüngster Zeit zu bemerken. Goethes Jugenddichtung stand bereits in dem Zeichen desselben. Sein «Prometheus» ist erfüllt von dem Geiste, den ich als modern bezeichnen möchte. Aber Goethe war trotz seiner Tiefe, trotz der Universalität sei­nes Geistes nicht energisch genug, das Gebäude aufzu­führen, zu dem er den Grundstein gelegt hatte. Sein Alter stimmt schlecht zu seiner Jugend. Wir finden nirgends die Erfüllung dessen, was er uns versprochen hat. Man halte doch zusammen die stolzen Verse des Prometheus:

«Hier sitz ich, forme Menschen

Nach meinem Bilde,

Ein Geschlecht, das mir gleich sei,

Zu leiden, zu weinen,

Zu genießen und zu freuen sich,

Und dein nicht zu achten,

Wie ich!»

mit den demutsvollen im zweiten Teile des «Faust»:

«Wer immer strebend sich bemüht,

Den können wir erlösen.

Und hat an ihm die Liebe gar

Von oben teilgenommen,

Begegnet ihm die selige Schar

Mit herzlichem Willkommen.»

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Aus dem «freien Geiste», der den Halt des Lebens in sich selbst findet, ist ein Geist der Ergebenheit geworden, der von der göttlichen Gnade das Heil des Daseins er­wartet. Damit sind die beiden Pole des Goetheschen Schaffens bezeichnet. Langsam und allmählich vollzog sich die Umwandlung. Wäre Goethe auf dem Standpunkt seiner Jugend verblieben: wir hätten keine «Iphigenle» und kei­nen «Tas so», aber wir hätten vielleicht Dichtungen, die wir nun erst von der Zukunft zu erwarten haben. So künstlerisch vollkommen wie «Iphigenie» und «Tasso» wären die Werke Goethes vielleicht nicht geworden, wenn er sich in gerader Linie vom «Prometheus» aus weiter­entwickelt hätte. Aber sie wären die ersten, großen Pro­dukte einer neuen Zeit geworden. Das Schicksal hat es anders gewollt. Goethe hat die Tendenzen seiner Jugend aufgegeben. Er wurde nicht der Messias einer neuen Zeit. Dafür aber brachte er uns die schönste, die reifste Er­füllung einer nunmehr abgestorbenen Epoche. Reif, über­reif sind seine späteren Dichtungen, aber sie sind die letz­ten Produkte einer Entwicklungsreihe. Es ist auch so gut. Die Zeit war noch nicht reif für Probleme, die wir, hun­dert Jahre später, kaum in verschwommenen Umrissen ahnen. Wer ein volles Bewußtsein von diesen Problemen hat, die im Schoße der Gegenwart ihrer Geburt entgegen­sehen, wer weiß, daß wir in einem Zeitalter der Erwartung leben und kein Recht haben, am Vergangenen weiter zu zehren, den nenne ich einen modernen Geist. Ich habe nun dieses Kennzeichen echt modernen Strebens, das in Byron aufdämmerte, bei keinem Zeitgenossen so prägnant, so klar umrissen gefunden wie bei der österreichischen Dich­terin Marie Eugenie delle Grazie Ich habe mir diese Ansicht

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nicht aus ihren Erstlingsschriften «Gedichte», «Die Zigeunerin», «Hermann», «Saul» gebildet, sondern aus ihren in letzter Zeit in verschiedenen Zeitschriften er­schienenen Gedichten. Diese Dichtungen sind das streng gesetzmäßige Spiegelbild der modernen Weltanschauung aus einer tiefen, stark empfindenden, klar sehenden und mit einer großen künstlerischen Gestaltungskraft aus-gestatteten Seele. Was eine gemütvolle und stolze Natur von dieser Anschauung zu leiden hat, das hat delle Grazie in ihren Gedichten zum Ausdruck gebracht. Was ein edler Geist empfindet, wenn er den Zusammenbruch der alten, großen Ideale sieht, wenn er wahrnehmen muß, wie die moderne Naturauffassung diese Ideale als wesenlose Schaumblasen und Dunstgebilde ins Nichtige, Leere zer­stäuben läßt, das vernehmen wir aus den Schöpfungen dieser Dichterin. Es sind Gegenwartsstimmung und Zu­kunftshoffnungslosigkeit, die uns da entgegentreten. Nur wer sich dem Geiste, der unsere Zeit durchdringt, ver­schließt, oder wer flach genug ist, um der Öde ins An­gesicht zu lachen, der kann die tiefe Bedeutung von delle Grazies Dichtungen verkennen. Es ist nichts Kleinliches in den schmerzlichen Tönen, die uns hier erklingen. Delle Grazies Leiden entspringen nicht dem Schicksal, das über dem Alltäglichen waltet; sie haben ihren Grund in den Disharmonien des Kosmos und der geschichtlichen Ent­wicklung der Menschheit. Sie heben sich von einem be­deutenden Hintergrunde ab. Deshalb finden wir auch nir­gends in ihnen Verzagtheit und Kleinmut, sondern stolzes, kühnes Erheben über den Schmerz. Rücksichtslos wird das Schmutzige, Niedrige, Gemeine in seiner Nichtigkeit gezeigt, aber immer erhebt die Künstlerin stolz das Haupt,

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um frei zu sein von dem Verachteten, das sie mit ihrer Geißel trifft. Die tiefe Ironie, die im Menschendasein liegt, hat delle Grazie durchschaut. Sie hält nichts von Er­kenntnis, von Idealen. Das sind ihr Dinge, denen die Menschheit zustrebt, um sich dann um so gründlicher ent­täuscht zu fühlen, wenn sie sich als wert- und wesenloser Schein entpuppen. Aber es lebt ein stolzer Geist in der Dichterin. Sie vermag sich selbst bis zu der Höhe zu er­heben, wo man über die Nichtigkeit des Seins lächeln kann, weil man aufgehört hat, Verlangen nach demselben zu haben.

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Menschen und deren Schicksale so darzustellen, wie sie sind, gilt als Grundsatz des modernen Naturalismus. Mit diesem ästhetischen Gemeinplatz glaubt sich mancher so­genannter Kritiker heute gerechtfertigt, wenn er mit drei­sten Worten unter dem Strich Literaturerzeugnisse an­preist, denen nur die Geschmacksverwilderung unserer Zeit eine vorübergehende Scheingröße zu geben vermag. Gegenwärtig wird in einem großen Theater Berlins ein «Liebes drama» täglich aufgeführt, das nichts weiter ist als einige vortreffliche lyrische Szenen, eingefaßt in eine dra­matische Handlung, die tatsächlich blödsinnig ist und die auch von einem Blödsinnigen getragen wird. «Jugend» heißt das Ding, es könnte auch «Schwachsinn» heißen. Denn ein Schwachsinniger besorgt den Weitergang der fortwährend stockenden Handlung, derselbe Schwach­sinnige führt den Konflikt und die Katastrophe herbei. Das Schicksal selbst ist in diesem Drama blödsinnig geworden,

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denn es wird in der Person eines Blödsinnigen leibhaftige Wirklichkeit. Ich weiß wohl, daß sich «sehr gescheite» Leute finden werden, die mir sagen werden : ich habe eben das Ganze in seiner ergreifenden Tragik, in seinem der Wirklichkeit abgelauschten Charakter nicht verstanden. Ich weiß aber auch, daß heute Leute über den Wirklichkeitscharakter von künstlerischen Gebilden urtei­len, deren Blick für reale Verhältnisse die Länge ihrer Nase kaum um das Zehnfache übertrifft. Jeder Philister, der sich ein paar ästhetische Phrasen angeeignet hat und der in jedem Menschen und jedem Menschenschicksal doch nichts weiter sieht als den Abdruck der Schablone, die sein Dutzendgehirn gedrechselt hat, spricht heute von «der Wirklichkeit abgelauschten Gestalten und Verhält­nissen». Ich habe es oft hören müssen, der alte und der junge Pfarrer in Max Halbes «Jugend» seien ganz dem wahren Leben entsprechend dargestellt. Ich habe nur ein­sehen können, daß Herr Halbe zwei Geistliche geschildert hat, wie sich der Assessor X und der Gymnasiallehrer Y solche darstellen. Deshalb wundere ich mich auch schließ­lich nicht, wenn der Assessor X und der Gymnasiallehrer Y an der «Jugend» ihre Freude haben. Sie haben sie frei­lich nur, wenn sie «Ausnahmemenschen» sind, für die sitt­liche Entrüstung ein reaktionäres Vorurteil ist. Die Über­windung der sittlichen Entrüstung ist auch so ziemlich das einzige, wozu es das moderne naturalistische Philistertum bringen kann. Über dieses Abc kommt die «Moderne» nicht hinaus.

Daß es bewegende Kräfte in der Menschenseele und im Gesellschaftsorganismus gibt, die aus anderen Dingen als aus gekitzelten Nerven ihren Ursprung herleiten, daß es

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eine Wahrheit gibt, die nicht an der Oberfläche des Leibes ihre Regulatoren hat: davon wissen die Herren Bahr und Hartleben usw., usw. herzlich wenig. Mir ist es langweilig, wenn mir ein «Dichter» in drei Akten Menschen vorführt, die mich im Leben nicht einen Augenblick interessieren würden.

Deshalb lebe ich auf, wenn ich mitten unter dem öden Geschwätz moderner Autoren ein Kunstwerk zu Gesicht bekomme, in dem mir ein ganzer Mensch Menschen und Verhältnisse vorstellt, die nur der zu durchschauen ver­mag, dessen Blick nicht durch sklavisches Hängen am All­täglichen umnebelt ist. Und solche Kunstwerke sind die beiden Erzählungen von Marie Eugenie delle Grazie, von denen ich hier sprechen will. Delle Grazie schildert Men­schen nicht wie jemand, der, rund um sie herumgehend, sie abkonterfeit, sondern sie bildet Gestalten so, daß wir die individuellen Seelenkräfte sehen, von denen deren Leben bestimmt wird.

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MARJE EUGENIE DELLE GRAZIE

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In der neunten Auflage seiner «Natürlichen Schöpfungs­geschichte» spricht Ernst Haeckel von den neuen Wegen und weiten Ausblicken, die sich der Kunst von den Ge­sichtspunkten der naturwissenschaftlichen Weltanschau­ung aus eröffnen. Er nennt unter den Werken, die von dem Geist dieser Weltanschauung erfüllt sind, «die vielseitig

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interessanten Dichtungen der genialen Wiener Dich­terin Eugenie delle Grazie, besonders das moderne Epos «Robespierre». Es ist jetzt mehr als fünfzehn Jahre her, da tauchte der Name Marie Eugenie delle Grazie zum ersten Male in einem Kreise auf, der innerhalb des deut­schen Geisteslebens in Österreich stand. Eine kleine Ge­dichtsammlung, eine Erzählung «Die Zigeunerin», ein Epos «Hermann» und ein Drama «Saul» waren damals in rascher Aufeinanderfolge von ihr erschienen. Das waren die Schöpfungen einer noch nicht zwanzigjährigen Dame. Der geistvolle, vornehme österreichische Philosoph Bar­tholomäus Carneri stand nicht allein mit den Empfindun­gen über die Dichterin, die er 1894 in die Sätze zusammen-faßte:« Bei der Großartigkeit des Stoffes und dessen glück­licher Bewältigung (ist ) eine Riesenleistung für ein so jugendliches Alter. Viel des Rühmlichen läßt sich auch bei hervorheben, aber von eigentlicher Genialität möchten wir erst bei der sprechen. Durch ihre Naturschilderungen, lebensvolle Plastik und die zum vollen Durchbruche kommende Leidenschaft wird uns in dieser kleinen Erzählung ein Kabinettstück geboten, dessen wohlklingende Prosa beweist, daß Fräulein delle Grazie naturbegnadet ist auch mit dem, was Friedrich Nietzsche nennt.»

Eine große, einzigartige Persönlichkeit kündigte sich in diesen Dichtungen an. Ein Leben, jung an Jahren, reich an Inhalt, reich vor allem an jenen Leiden, die an die Tore der Erkenntnis mit verlangendem Sinne führen, sprach sich aus. Es war zweifellos, delle Grazie hatte die große Leidenschaft, die aus dem persönlichen Los in die um­fassenden Rätselwege des Weltenschicksals führt und die

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die Weltenfragen als Probleme des eigenen Herzens emp­findet. Zehn Jahre vergingen, bevor die Dichterin weiteres veröffentlichte. Dann erschienen wieder in rascher Auf­einanderfolge eine Sammlung von Gedichten «Italische Vignetten», «Rebell» und «Bozi», zwei Erzählungen, das große Epos «Robespierre» und ein dritter Gedichtband. Die Grundstimmung der ersten Schöpfungen delle Grazies spricht sich wieder aus; ihr Gesichtskreis ist derjenige der modernen Weltanschauung im höchsten Sinne des Wortes geworden. Es gibt wahrscheinlich keine zweite Persön­lichkeit, die so tief, so erschütternd den Schmerz über das Zusammenstürzen einer alten Idealwelt und einer neuen Erkenntniswelt in sich erlebt hat wie Marie Eugenie delle Grazie. Nach zwei Richtungen hin geht ihr Fühlen, und nach beiden Richtungen hin ist es groß. Womit Schiller sich jederzeit tröstete: daß der Mensch flüchten könne aus der gemeinen Wirklichkeit in das hehre Reich der Ideale, dieser Trost ist delle Grazie nicht zuteil geworden. Die neue Naturwissenschaft hat ihre Blicke auf das Wirkliche gelenkt, das ihr als das einzig Vorhandene erscheint. Nicht an eine ewige göttliche Ordnung, die sich der Natur nur bedient, um ein ideales Reich und Ziel zu verwirklichen, kann die Dichterin glauben; sie ist ganz erfüllt von der Erkenntnis, daß wahllos die ewige Gebärerin, die Natur, aus ihrem finsteren Schoße die Geschöpfe hervorzaubert, sich zur Befriedigung der unendlichen Wollust, die sie am Erzeugen hat, und unbekümmert um das Schicksal ihrer Kinder. Was da Schönes, Großes und Erhabenes in der Welt entsteht: es ist nicht um des Schönen, Großen und Erhabenen willen entstanden, es ist geworden, weil die Natur den lüsternen Drang zum Schaffen innehat. Und

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Schwärmer waren sie alle, die Idealisten, die von den großen Zielen des Lebens träumten. Sie verdanken ihr Dasein der List der wollüstigen Natur. Was wäre den Menschen ihr Dasein, wenn nicht von Zeit zu Zeit ein Buddha, ein Sokrates, ein Christus kämen und den Men­schen sagten, daß sie zu Höherem geboren seien. Aber den, der tiefer blickt, kann kein Ideal täuschen. Die Menschheit soll durch ihre Idealisten nur von Zeit zu Zeit auf­gestachelt werden, ein anderes zu glauben, als was die All­macht der Natur wirklich vollbringt. Wollüstig und dämo­nisch zugleich ist die Natur: sich will sie am Gebären der Menschen befriedigen, und den armen Geschöpfen gaukelt sie die Traum- und Schaumgebilde der Ideale vor, damit sie abgelenkt werden von dem wahren Inhalt des Daseins.

Was eine stolze, tief gemütvolle Natur unter solchen Empfindungen zu leiden hat, das spricht aus delle Grazies Dichtungen. Wer die Größe dieser Dichtungen nicht mit­zuempfinden vermag, dem muß eines von den Gefühlen fehlen, die dem Gegenwartsmenschen so tief ins Herz ge­schnitten haben. Entweder hat er nie die große Sehnsucht in sich als persönliches Schicksal empfunden, welche die mächtigen Ideale der Menschheit, den Jenseitsdrang und Götterglauben gezeitigt und immer wieder am Leben er­halten haben, oder die moderne Weltanschauung, die wie ein gewaltigstes Erdbeben über unser Geistesleben herein­gebrochen ist, muß mehr oder weniger spurlos an ihm vorübergegangen sein. Ich zweifle nicht, daß diese mo­derne Weltanschauung Keime in sich birgt zu höheren Geistes sphären, schöner, erhabener als alle alten Ideale; aber ich glaube nicht, daß die Freuden jemals über die Leiden voll triumphieren werden; ich glaube nicht, daß

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die Hoffnung jemals die Entsagung besiegen wird. Mir scheint es, ebenso sicher wie das Licht aus dem Dunkel geboren ist, daß die helle Erkenntnisbefriedigung aus dem tiefsten Schmerze des Daseins hervorgehen muß. Und der große Schmerz am Dasein, das ist der Lebensnerv in delle Grazies Dasein, das ist der Lebensnerv in delle Grazies Kunst. Wir haben dieses Element in unserem Leben, als Gegner des Schlimmsten, was an uns zehren kann: der Oberflächlichkeit. Die Regionen, in denen delle Grazie wandelt, sind es, durch die hindurchgehen muß, der zu den Höhen des Lebens dringen will. Nur die teuer erkaufte Erkenntnis, nur die aus den Abgründen aufgestiegene hat Wert. Delle Grazies Dichtungen zeigen den Preis, den jeder Erkennende einsetzen muß. Gleichviel, wohin wir zuletzt gelangen. Delle Grazies Weg ist ein in den Tiefen der Menschenseele begründeter. Wahr ist es: Gegenwarts-müdigkeit und Zukunftshoffnungslosigkeit strömen ihre Dichtungen aus. Ich möchte aber nicht zu denen gehören, in denen von alledem keine verwandte Saite anklingt.

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II

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In Roms Entwicklung gab es einen Punkt, wo menschliche Größe am engsten zusammenfiel mit menschlicherNichtig­keit. Cäsarenmacht mit Schwäche, Kunsthöhe mit ethischer Fäulnis paarten sich hier. Der Mund, der Völker befeh­ligte, lechzte gierig nach dem Kusse des elendesten Wei­bes; Herrensinn wurde zu Sklavensinn, wenn die Um­armungen hochgestellter Dirnen ihn bändigten. Wie sich das in den Resten alter Zeit heute noch versteinert, aber deutbar dem hellsehenden Blicke kundtut, das sprechen

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die «Italischen Vignetten» Marie Eugenie delle Grazies aus (Verlag Breitkopf & Härtel, Leipzig 1892):

«Götterwürd und Götterrechte

Habt ihr kühn euch angemaßt,

Geist und Tugend wurden Knechte,

Wo die Willkür toll gepraßt.»

singt sie von den römischen Cäsaren. Die Stimmung, die sich ihrer in der Ewigen Stadt bemächtigte, gibt sie wieder mit den Worten:

«Mit elegischem Geflüster

Blickt vom öden Palatin

Eine einzge Pinie düster

Nach dem stillen Forum hin.»

Neben diesen Strophen, die von wahrhaft historischem Geiste erfüllt sind, fehlt es auch an solchen nicht, die Italiens Gegenwart anschaulich uns vor die Seele zaubern. Hier trifft delle Grazie den Ton der Wehmut ebensogut wie den des heiteren Humors, wenn er in der Natur der Sache gegeben ist.

Eine Anzahl von Gedichten sind den Eindrücken ent­spros sen, die Tas sos Spuren in der Dichterin hervorriefen:

«Vor deiner Gruft erstirbt jed eitles Wähnen,

Hier thront dein Ruhm in majestätscher Ruh,

Doch wo der Mensch gelitten, fand ich Tränen,

Und schluchzen, träumen durft ich hier wie du!»

Unter dem Namen «Bilder und Gestalten» teilt uns delle Grazie ihre Empfindungen bei dem Anblicke großer italischer Kunstwerke mit, wie der Sant'Agnese von Guer­cino, Sta. Cecilia von Maderna, Apoll von Belvedere, Zeus von Otricoli, Moses von Michelangelo. - Neapel, Pompeji,

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Sorrent, Capri sind in tiefempfundenen Gedichten von großer Formschönheit besungen. Das Gedicht «Zwei Wahnsinnige» aus dem Zyklus «Sorrent» stellt Tasso und Nietzsche, die beide auf diesem Boden wandelten, einander gegenüber:

«Zwei große Menschen schritten diese Pfade

Und oft stehn beide jäh mir vor dem Sinn:

Tasso, der Dichterfürst von Gottes Gnade,

Und Friedrich Nietasche... gleich war ihr Gewinn,

Und Wahnwitz hieß er...»

Beiden Geistern war eines gemeinsam: in ihrer Brust lebte ein Trieb, der ungezügelt in die Tiefen des Seins strebte; beide vergaßen darüber, daß der Mensch an die Erde gefesselt ist und daß er aufhören muß zu atmen, wenn er sich bis über eine gewisse Höhe erhebt. Wie der Körper, so ist auch der menschliche Geist von dem Medium ab­hängig, in das sein Leben einmal hineingeboren ist. Tasso wie Nietzsche wollten aber ihren Standpunkt außer die­sem Medium nehmen, um von Himmels Höhen auf das Irdische zu schauen. Darob aber verzehrten sie sich selbst.

Delle Grazie hat in Italien all die Herrlichkeit geschaut, die da zu schauen ist:

«Wie alle hast du mich an dich gezogen,

Bezaubert, hingerissen und betört,

Auf Trümmern mir von einem Glück gelogen,

Das du im Sonnenglanze hart zerstört -»

Ihre Weltanschauung spricht deutlich auch aus diesem Buche:

«Doch groll ich nicht..., zur Heimat geht es wieder,

Wenn auch mit schnöd gebrochnem Wanderstab -

Ich bring mit ihm die alten Qualen wieder

Und hier wie dort leg ich ihn auf ein Grab!»-

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« Der Rebell» heißt die erste der beiden 1893 veröffent­lichten Erzählungen. Den Mittelpunkt bildet ein unga­rischer Zigeuner aus der Theißgegend, wo keine west-europäische Kultur die Hirnwindungen der Menschen so starr gemacht hat, daß wir aus Titel und Amt so ziemlich den Charakter erraten können. Der Zigeuner Lajos hat selbstverständlich kein philosophisches Doktordiplom er­worben, dafür aber sind auch die Schule, die Amtsprobe-zeit, die Gesellschaftssimpelei und die Philisterlektüre nicht die Schicksalsmächte, von denen sein Empfinden und Denken bestimmt ist. Und Lajos hat sich empor­gerungen bis zu den Höhen der Menschheit, er hat sich eine Lebensansicht erworben, die geeignet ist, ihn das Da­sein in seiner wahren Gestalt erkennen zu lassen, die ihn zum Weisen unter Toren macht und die ihn die Wahrheit schauen läßt da, wo andere nur die heuchlerischen Masken anbeten. Lajos ist eine Persönlichkeit, die von der Welt um ihr Glück betrogen worden ist, die aber stark genug ist, dieses Glück, das sie nur der Lüge hätte verdanken können, zu entbehren. Lajos liebte ein Mädchen, die natür­liche Tochter eines Grafen. Ein Edelmann macht ihm die Geliebte abspenstig. Diese verläßt den armen Zigeuner um des adeligen Verführers willen. Ein schier ins Unendliche gehendes Rachegefühl gegen den letzteren bemächtigt sich des Zigeuners. Er sucht alle Orte auf, wo er den Räuber seines Glückes vermutet, um ihn zu töten. Lange sucht er vergebens, endlich findet er ihn, schlafend am Wege, die Flinte neben sich. Ein leichtes wäre es, den Gegner mit dessen eigener Waffe zu morden. In dem Augenblicke ver­wandelt sich Lajos' Rache in Verachtung, er findet, daß

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das Leben des Elenden nicht wert ist, von ihm vernichtet zu werden.

Lajos schildert die Empfindungen, die in dem Augen­blicke sich seiner bemächtigen, als das Leben des Gegners in seiner Macht war, mit den Worten: «Er wurde bleich bis in die Lippen, seine Knie schlotterten, als hätt er das Donaufieber bekommen, und auf einmal riß er den Hut herunter und grüßte mich tief... und lächelte dazu wie ein Blöder ... Da wurde mir so wohl, so wohl, sag ich Ihnen, denn nun wußt ich, daß man seinem Feind noch Schlim­meres antun könne als ihn ermorden, und daß meine Qual zu Ende war, weil ich den, der da vor mir stand, nicht mehr hassen konnte! Wie ein Ekel kams mir in die Kehle -ich spuckte aus gegen ihn, warf die Flinte ins Schilf zu-rück, nahm meine Fiedel und ging...» Und dann sagt er von dem, den er also gedemütigt: «Wo er kann, schwärat er mich an bei den Leuten, und am liebsten möchte er mir die Panduren und den Stuhlrichter auf den Hals hetzen, aber er kann nichts Rechtes vorbringen gegen mich, und daß er mir zum Umbringen zu schlecht gewesen ist, will er doch auch nicht sagen! Aber er ist wie Luft für mich; wenn ich die auch einatmen muß, kann ich sie doch immer wieder zurückgeben - da! So gleichgültig ist es mir!» Das Erlebnis mit dem Edelmann wurde für Lajos zum Quell höchster Erkenntnisse. Es wurde ihm klar, wie man ohne Haß und Liebe die Welt betrachtet. «Was ist aus meiner Liebe, was ist aus meinem Haß geworden?» sagt er. «Alles vorüber, und damals glaubt ich, daran sterben zu müssen! Wer so etwas an sich erfahren hat, wird ruhig und kann auch seinem Feind nicht Unrecht tun!» «Wenn ich schlechte Augen hab und mir den Kopf an einen Pfosten

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anstoß - hat der Pfosten die Schuld oder ich? Der Pfosten ist da und hat sein Recht, und ich bin da und hätt auch mein Recht, wenn meine Augen nicht schlecht wären -ich könnt ihm ja ausweichen, nicht? Und wenn ich eine Nichtsnutzige gern haben und einen Schurken hassen konnte, bin ich da nicht gerade so blind gewesen? Sie waren's nicht, und darum mußt ich mir das Herz und den Schädel an ihnen wundstoßen wie an dem Pfosten! Wem aber soll ich noch glauben, wenn ich mich selbst so be­trügen kann, wenn jeder Mensch zweimal ist: so, wie er geboren wurde, und so, wie ich mir denk, daß er ist? Und weiß ich denn, wie ich bin? Viele Menschen weichen mir aus - sie tun mir nichts Böses, möchten mir aber noch weniger etwas Gutes tun! Warum? Hab ich was ver­brochen? Nun, die haben eben auch recht! denk ich mir, denn jeder, der lebt, will nur sich, und selbst wenn er meint, daß er ein anderes gerade so gerne hat!» Das sind Worte der Weisheit, wie sie nur ein Leben gebiert, dem sich das Dasein schleierlos gezeigt hat. Es gibt eine zwei­fache Art, solche Worte zu sprechen. Einmal erscheinen sie uns wie Destillationsprodukte aus der Retorte der Ge­lehrsamkeit: ätherisch, flüchtig, abstrakt, als reine Ge­danken. Ein anderes Mal treten sie an uns heran wie das Schicksal selbst, das sich in der Sprache verkörpert. Dann sind sie nicht bloß ausgesprochene Gedanken, sondern Gewalten, die wie das Leben selbst auf uns wirken. Und dann empfinden wir dem, der sie ausspricht, gegenüber, wie delle Grazie von dem Landstreicher schildert: «Seine schlichte Gestalt wuchs für mich nach und nach ins Un­endliche hinein, und er strich wie ein Schatten desjenigen über meine heimatliche Erde dahin, der vor Jahrtausenden

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im fernen Indien gelehrt, was der Landstreicher nur dun­kel empfunden und unklar ausgesprochen: Die Leute nennen den Laj os einen «Rebellen», weil er sie verachtet. Und der Edelmann sagt von ihm: «Er ist zu allem fähig.» Diese Worte bedeuten aber nichts weiter, als daß der Edelmann unfähig ist, zu erkennen, wie des armen Zigeuners selbständige Seele sich äußern kann. Sie ist ihm ein Element, das von Urkräften bewegt wird, wirksam aus Tiefen herauf, von denen ein Durchschnitts-gehirn nichts ahnt. Das Unbekannte, die dunklen Mächte in Kopf und Herzen des Zigeuners erfüllen den Edelmann mit einem Gefühl des Grauens. Er fühlt sich nur sicher Leuten gegenüber, die ihren Charakter, wie er selber, von den Urvätern ererbt haben, oder solchen, denen die Knute den Sklavensinn eingeprügelt hat. Erfahrungsästhetiker und Tatsachensklaven werden mir das Recht absprechen zu sagen: ich finde diesen Zigeuner mit tiefer psychologi­scher Wahrheit gezeichnet. Denn ich will aufrichtig sein und gestehen, daß ich nie einen Zigeuner von dieser Art kennengelernt habe. Man braucht aber durchaus nicht für jede künstlerische Bildung ein leibhaftiges Original ken­nengelernt zu haben, um sich ein Urteil über die Wahrheit der Darstellung zu bilden. Man muß nur einen Blick haben für das im Leben Mögliche. Lebenswahr, das ist in jedem Zuge möglich, ist der Zigeuner in delle Grazies Erzäh­lung. Die Künstlerin erweist sich gerade in diesem Werke als eine feine Kennerin geheimer Seelenstimmungen. Keine Vorstellung davon, wie der Typus «Zigeuner» beschaffen ist, trübt ihr den Blick, um eine ganz eigenartige, von

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jeder anderen sich unterscheidende Individualität zu cha­rakterisieren. Wer gegenüber dieser Charakteristik die Frage aufwirft: kann ein Zigeuner so sein, der ist unfähig, die Erzählung zu begreifen. Charakterisieren kann nur der­jenige, der hinter das Geheimnis der Individualität gekom­men ist. Es ist eine ganz leere Redensart von Leuten ohhe alle künstlerische Empfindung: der große Dichter stelle nicht Individuen, sondern «Typen» dar. Auch im Leben fängt uns der Mensch erst an zu interessieren, woerauf­hört, Typus zu sein. Ein Mensch, der nur seinen typischen Eigenschaften nach dargestellt wird, ist nicht viel mehr als eine Puppe. Was der wirkliche Künstler schildert, ist immer das Individuum. Nur versagt die Phantasie der meisten Men­schen da, wo das Individuelle in dem anderen sich ihnen entgegenstellt. Deshalb verspüren die Vielzuvielen das «Einzige» echter Phantasieschöpfungen überhaupt nicht.

Zwei andere «Rebellen» stehen dem Zigeuner, dem Rebellen des Gedankens und der Empfindung, in delle Grazies Erzählung gegenüber: Jstvan, der einstige poli­tische Empörer und Freiheitsheld, der aber an der Seite seiner «praktisch» denkenden Susi sich bis zu der ja heute vielbewunderten Höhe des «Realpolitikers» empor-geschwungen hat, und Bandi, dessen Rebellenseele sich in den tollsten Flüchen entlädt, ohne daß ihn aber das revolu­tionäre Feuer in der Brust vorläufig hindert, dem Edel-mann, dem er alle Teufel auf den Leib hetzen möchte, Kutscherdienste zu tun. Die letzten beiden «Empörer­naturen» läßt sich die Gesellschaft der Bequemlinge ge­fallen, denn die Istvans sind unschädlich, wenn ihre Susis Gelegenheit haben, behaglich Fett anzusetzen, und die Bandis schimpfen zwar, aber sie geben brauchbare Lasttiere

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ab. Diese Rebellen fürchtet man nicht, sie gliedern sich ja doch in die Gesellschaft ein, wenn auch widerwillig; aber die Rebellen von der Art der Lajos werden angesehen wie ein Berg, der einmal sich als Vulkan betätigt und dann sich wieder geschlossen hat. Man fürchtet in jedem Augen­blick einen neuen Ausbruch. Daß die nach außen drän­genden Feuermaterialien sich im Innern in edle Stoffe ver­wandelt haben, davon haben die Durchschnittsmenschen keine Ahnung.

Die zweite Erzählung, «Bozi», ist satirisch. Der Stoff ist jener Gegend Ungarns entnommen, wo Menschen, Büffel, Schweine und Stuhlrichter so nahe aneinander hausen, sich ewig im Wege stehen und doch nicht voneinander lassen können; dieses Milieu, das den Fatalismus Halb-asiens wie etwas Selbstverständliches mit den christlichen Glaubenssätzen und eine türkische Rechtspraxis mit den Theorien des Corpus juris und das Tripartium so friedlich und unangefochten in sich vereinigt! «Bozi»ist ein Büffel. Aber ein solcher von ganz besonderer Art. Kein Herden-büffel, sondern ein Herrenbüffel. Er fügt sich nicht den Satzungen, die Gott und die Menschen in seinem Wohnort den Büffeln gegeben; er verläßt, wenn es ihm beliebt, seine Behausung, um unter den Menschen Furcht und Schrek­ken zu verbreiten. Besonders ist es ihm willkommen, wenn er bei feierlichen Anlässen unter einer größeren Menge von Menschen erscheinen und da Verheerungen anrichten kann. Eine solche Unternehmung mußte er aber mit seiner Freiheit bezahlen. Er wurde nach derselben hinter streng verschlossenen Türen gehalten und durfte nur des Nachts, wenn die Menschen schliefen, ins Freie. Damit war die Sache aber noch schlimmer gemacht. Denn hatte er früher

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als Büffel die Menschen mit Entsetzen erfüllt, so jetzt als ... Teufel. Denn wer in nächtlicher Stunde dem Tiere begegnete, hielt es für den leibhaftigen Fürsten der Hölle. Davor hat den «aufgeklärten» Dorfdoktor, der Meyers Konversationslexikon besitzt und darin alles nachsehen kann, seine naturwissenschaftliche Bildung ebensowenig beschützt wie den Herrn du Prel seine philosophische vor dem Spiritismus. Der gute Medikus glaubt so lange, daß es ein « übernatürliches» Wesen war, von dem er des Nachts überfallen worden ist, bis ihm sein Mantel, den er auf der Flucht vor dem Gespenst verloren hat, gebracht und ihm gesagt wird, daß der Büffel die schützende Um­hüllung um seine Hörner gewunden nach Hause gebracht habe. Ein anderes Mal zieht ein Teil der Dorfgemeinde aus mit dem Bürgermeister an der Spitze und dem Kir­chendiener mit dem Weihwasser an der Seite, weil der «Teufel» wieder erschienen und sich sogar einen Bewoh­ner des Dorfes geholt hat. Der Teufel soll bekämpft werden. Die ganze Dorfgemeinde kann nichts ausrichten, weil sie vor Schrecken bebt, als sie an die Stätte kommt, wo der «Böse» wütet. Nur ein Blödsinniger, der auch dabei ist und weder an Gott noch an den Teufel glaubt, sieht das, was wirklich da ist - den Büffel, schlägt auf ihn los und verwundet ihn. Die anderen ziehen mit lan­gen Nasen von dannen.

Die Erzählung ist mit jener Art von Humor geschrie­ben, der nicht nur von einer vollständigen Beherrschung der Kunstmittel, sondern auch von einer in sich gefeste­ten Weltanschauung zeugt. Heuchlerische Religiosität, un­verdaute Auf klärerei, der moderne Aberglaube der «ge­scheiten Leute» wird in der kleinen Erzählung getroffen

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und entlarvt. Wir haben es mit einer Künstlerin zu tun, die mit den Pfeilen des Spottes sicher trifft, weil sie für die Zielpunkte, auf die sie es abgesehen hat, einen siche­ren und scharfen Blick hat.

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III

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Im Jahre 1894 ist das Epos «Robespierre» erschienen. Mehr als in irgendeinem anderen Dichtwerke unserer Zeit hätte man in diesem Epos einen tiefen Ausdruck des Fühlens der Gegenwart erblicken müssen. Aber die ge-strengen Kritiker der «Moderne» gingen ziemlich achtlos daran vorüber. Sie machen es nicht viel besser als die von ihnen vielgeschmähten Professoren der Ästhetik und Lite­raturgeschichte, die ja auch selten eine Empfindung für das wahrhaft Große ihrer eigenen Zeit haben. Einer der gepriesensten Literaturrichter der Gegenwart, Hermann Bahr, hat es nicht unter seiner Würde gefunden, eine kurze Besprechung des «Robespierre» mit den Worten zu beginnen: «Sonst unbescholtene und nette Leute, welche nur gar nichts vom Künstler haben, drängt es plötzlich, die Gebärden der Dichter zu äffen.» Wer so spricht, kennt zwar die Allüren der «Moderne», nicht aber deren tiefere Kräfte. Marie Eugenie delle Grazies Dichtung ist das Spiegelbild der modernen Weltanschauung aus einer tiefen, stark empfindenden, klar sehenden und mit einer großen künstlerischen Gestaltungskraft ausgestatteten Seele. Wie sich einer tief-gemütvollen und stolzen Natur das Bild der französischen Revolution darstellt, so hat es delle Grazie wiedergegeben. Wie Agamerunon, Achill, Odysseus und die anderen Helden des Trojanischen Krieges

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vor unserer Phantasie in lebensvollen Gestalten auf­tauchen, wenn wir Homers «Ilias» auf uns wirken lassen, so Danton, Marat, Robespierre, wenn wir delle Grazies Epos lesen. Nur wer blind ist gegenüber dem Geiste unse­rer Zeit oder nur dessen Pose versteht, kann die Be­deutung dieser Dichtung verkennen. Nichts Kleinliches ist in den schmerzlichen Tönen, die hier angeschlagen wer­den. Wenn delle Grazie Leid und Schmerz schildert, so tut sie es nicht, weil sie auf die Misere des alltäglichen Lebens hindeuten will, sondern weil sie Disharmonien in der großen Menschheitsentwicklung erblickt. Robespierre ist der Held, in dessen Seele alles das lebt, was die Menschheit immer Idealismus genannt hat. Er endet tra­gisch, weil der große Traum von den Idealen der Mensch­heit, den er träumt, notwendig sich mit dem gemeinen Streben niedriger Naturen verbünden muß. Selten hat ein Dichter so tief in eine Menschenseele geblickt wie delle Grazie in die Robespierres.

Eine Persönlichkeit, die nach den Höhen der Mensch­heit klimmt, um da oben zu der furchtbaren Erkenntnis au kommen, daß Lebensideale Trugbilder sind, von der da­seinstrunkenen Natur dem armen Opfer Mensch vorge­gaukelt - als eine solche Persönlichkeit steht Robespierre vor uns. Am Orte des Todes-Genius vernimmt er, der die Menschheit zum Licht führen will, die Worte:

«Wie täuscht sich doch dein blinder Eifer!

... merkst du nicht, daß rings um uns

Des Lebens Giftsaat dicht und ekel wuchert?

Ein Friedhof ists, darauf wir stehen - doch,

Wie rein und froh, weil unbewußt und quallos

Entkeimt der Fäulnis hier das junge Grün!

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Wie überirdsche Heiterkeit umspinnt es

Die morschen Kreuzlein rings und fast beschämt

Zerbröckeln sie - was sollte auch das Zeichen

Der Daseinsnot an diesem selgen Ort?

Nein, wisse: hierher walle ich, um glücklich

Und still von meinem Paradies au träumen:

Dem Paradiese unbewegter Ruh.

Doch wenge Schritte weiter hause ich,

Und, wie du siehst, nicht einsam: Hütt an Hütte

Umgrenzt den Friedhof, und in jeder pocht -

Wie nanntest du's doch gleich? -, der warme Puls-

Des Seins: die Krankheit und das Laster, [schlag

Armut und Leid, der Not hohiwangiges Geripp,

Und alles, alles, was verdammt, bewußt

Und fühiend au verwesen! Sieh, dort ist

Des Kreuaes eigne Stätte, dort erhebt sich

Des Schmerzes ehener Koloß, dort ächat

Verzweiflung, auf die Blut getünchte Folter

Des Seins gespannt umsonst und ungehört

Ihr grausiges: Verlassen?!> Dorthin blick ich, wenn der Trug

Des Seins aufs neue meinen Sinn betören

Und blenden will - und jenes riesge Kreuz,

Das aus der Erde wächst, zum Himmel sehnend

Emporsteigt und zuletzt doch bang und schrill

Mit diesem Ruf sich von der Hoffnung wendet:

Es sagt voll Majestät mir dann aufs neue:

»

Den gewaltigen Stoff, der ihr in der französischen Frei­heitsbewegung vorlag, mit seinem Reichtum an Ideen, an Charakteren, an Schicksalen und Handlungen, hat Marie Eugenie delle Grazie in ihrem « Robespierre » in bewun­dernswerter Weise bewältigt. Sie ist ebenso Meister in der Charakteristik der Menschen wie glänzende Darstellerin

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der Vorgänge. Die ganze Skala des menschlichen Her­zens und Geistes, von den hingehungsvollen Trieben der Güte bis zu den scheußlichsten Instinkten des Tieres im Menschen, von den aus Unterströmungen der Seele tief heraufdringenden Impulsen des dämonisch dahingetriebe­nen Fanatikers bis zu dem abstrakten, in raffinierten Begriffswelten lebenden Theoretiker: alles stellt die Dich­terin hin, in gleicher Weise die tiefen Motive, die ver­borgenen Quellen der menschlichen Charaktere und Tem­peramente wie die kleinen Züge, in denen die Natur so oft das Große andeutet. Zustände, in denen sich sym­bolisch die Schuld und die Verirrungen langer Zeitalter und Generationen zum Ausdrucke bringen, dramatische Situationen, in denen sich ungeheure Verhängnisse vor­bereiten oder dramatisch einer Katastrophe entgegeneilen, sind in plastischer Anschaulichkeit, in tiefdringender Ma­lerei geschildert. Der Hof Ludwigs XVI. mit seinem fäul­nisschwangeren Glanz, mit seiner lautsprechenden Dia­lektik von Schuld und Verhängnis wird in prägnanten Zügen ebenso vor uns hingestellt wie die dumpfr Spe­lunkenluft, in der die gehetzte Menschenkreatur, die aus­gehungerte Armut, der in Haß umschlagende Freiheits­durst sich entladen. Wie die Dichterin der Mannigfaltig­keit in der Menschennatur gewachsen ist, das wird man gewahr, wenn man ihre Charakteristik Ludwigs XVI., der Marie Antoniette, Neckers und der Höflinge in Ver­sailles vergleicht mit derjenigen Marats, Dantons, Mira­beaus, Salnt-Justs, Robespierres. Absterbendes Hofmilieu, die konvulsivischen Zuckungen der Volksseele: alles kommt künstlerisch zu seinem Rechte. Wo sich der Sturm der Freiheitsempfindungen in blutigen Taten äußert, wo

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sich der Geist in Worten kündet, die entweder die Tra­ditionen der Jahrhunderte gezeitigt oder die geheimnis-vollen Gärungen der Menschenseele wie aus dunkler Nacht hervorbrechen lassen: überall ist delle Grazies Schilderungskunst heimisch. Die dumpfen Wohnungen der Kultursklaven, wo sich die geknechtete Menschheit in düstersten Bildern ausspricht, ist ebenso vollendet ge­staltet wie das wogende Getriebe welterschütternder Logik und Rhetorik in der Nationalversammlung, eben­so das furchtbare Gewitter, das sich im Bastillensturm entlädt, wie die hohle Herrlichkeit, das gleißende Vor­urteil, die blinde Schwäche und eitle Größe des Versalller Hofes. Die «Mysterien der Menschheit», die das ewige Sinnen der Weltenlogik spiegeln, treten uns nicht weni­ger klar vor Augen wie die Tagesargumente und in der Hast geborenen Motive des Menschen, der in anderen Zeiten ein tierisch-dumpfes Leben lebte, innerhalb dieser Bewegung aber zum treibenden Motor weithin leuchten­der Entwicklungen wird.

Man sehe, wie in die Aufregungen in «Saint-Antoine» in dem «öden Hungerviertel », wo « die bittre Not aus halb­erloschnen Augen» blickt, Danton eintritt, allseitig klar, mit allen Eigenheiten seiner Persönlichkeit.

«... massig, tiefgebeugten Haupts,

Als fürcht er, Deck und Wänd hier fortzutragen,

Betritt ein neuer Geist den qualmgen Raum.

Entgegenschwänzelt grinsend und ergeben

Der schmutage Wirt der Schenke ihm; und durch

Der überraschten Gäste lange Reihn

Fährts wie ein Blitzstrahl hin und reißt empor sie.

Nicht ein Gruß,

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Ein einziges Aufatmen ist's der Ohnmacht,

Als brächt er Luft und Mannheit ihrem Haß.

Ein breites Lachen um die fleischgen Lippen,

Die lechzend aufgeworfnen, steht Danton

Bewegungslos erst da. Das kleine Aug

Nur blitzt aus seinen tiefgelegnen Höhlen,

Aufblähn, im Augenblicke atmend, weit

Und gierig sich die blatternarbgen Nüstern.

<,5 ist wie ein Schweißgeruch brutaler Kraft

Um ihn, wie eine fremde Atmosphäre,

Die schwanger ist von Tatkraft, wie von Blitzen

Ein Sommerhimmel. Was die Menge liebt

Und achtet - diesem ward es! Züge, laut

Und offen wie die Straße, eine Fahrbahn

Des Lebens und von ihm befleckt wie sie;

Ihr zynisch Lachen, ihr erbittert Grollen

Und würdelos Verzeihn, vom Scheitel bis

Zur Sohl des Pöbelmaßes derbe Linien,

Und kein Gesetz als das der eignen Kraft!»

So versteht es die Dichterin, die Persönlichkeit stim­mungsvoll und tiefwaht in die Situation hineinzustellen. So vermag sie die unausgesprochenen Charaktere, die im gestaltlosen Geiste des Volkes leben, verwachsen zu las­sen mit dem Geiste des einzelnen, die Allgemeinheit mit der Individualität.

Zehn Jahre, die besten ihres Lebens, hat die Dichterin ihrem Werke gewidmet. Vertiefung in die Geschichte der großen französischen Freiheitsbewegung ging während dieser Zeit Hand in Hand bei ihr mit dem Studium mo­derner Wissenschaft. Sie hat sich dabei zu der Höhe menschlichen Daseins erhoben, wo man die tiefe Ironie durchschaut, die in jedem Menschenleben liegt, wo man

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selbst über die Nichtigkeit des Daseins lächeln kann, weil man aufgehört hat, Verlangen nach demselben zu haben.

In dem Gedichtband, den delle Grazie dem « Rohes­pierre» folgen ließ, lesen wir das Bekenntnis schmerz­licher Entsagung, das der Dichterin die Betrachtung von Welt und Leben gebracht. Von der «Natur» sagt sie da:

«... An ihrem Triumphwagen ziehn

Wir alle: keuchend, schweißbetrieft und dennoch

Auch selig: denn als Fata Morgana schaukelt

Die Hoffnung vor uns und das Glück und jegliches

Das uns zum Hohn sie geschaffen, [Blendwerk,

Und wir, das sehnsuchtvergiftete Sklavenheer,

Ideale nennen. - So stürmen in lechzender Eile

Und toller Jagd wir dahin, bis tückisch

Die Kraft uns verläßt, der Odem schwindet und ferner

Denn je unser Ziel auf goldigen Wolken schwebt,

Bis hilflos und keuchend wir

Zusammenbrechen - dann jauchat dämonisch sie auf,

Dann ruft sie ihr grausames und lenkt

Zermalmend über tausend Opfer hinweg

Die ehernen Speichen ihrer Biga. . .»

So vermag aber delle Grazie auch den Übergang, den Einklang zu finden zwischen der stummen, leblosen Natur und den Irr- und Wandelgängen des Menschen-herzens. Die Naturschilderungen der Dichterin tragen ein seltenes künstlerisches Leben, eine eigenartige Größe und Wahrheit in sich.

Will man delle Grazies Persönlichkeit in ihrer vollen Tiefe erkennen, so muß man das Bändchen «Gedichte »lesen, das 1897 bei Breitkopf & Härtel in Leipzig er­schienen ist. Die Leidenschaft und Tiefe des unmittelbarsten

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persönlichen Gefühls offenbart sich hier an den höch­sten, allgemeinsten Menschheitsgedanken, eine Weltan­schauung, die mit kosmischen Rätseln ringt, spricht zu uns als der Pulsschlag des täglichen Lebens. Ton und Ahschauung dieser Lyrik möge ein Hymnus (in dem Zyklus «Um Mitternacht») wiedergeben:

«Im Kreise der Lebenden geht

Und wandelt von Mund zu Mund

Ein schreckgeflüstertes Wörtchen -

Sein eherner Klang, er läßt

Die rosigen Wangen erbleichen,

Die Jubelhymnen des Wahns,

Die schillernden Lügenmärchen

Des Daseins werden von ihm zerrissen, und

Verhallen mit ihm in Ewigkeit.

Die Dornenkrone des Leids,

Die Rosenkränze des Glückes

Und Diademe des Ruhms -

Sie alle, alle umwindet,

Umstrickt und überwuchert

Des bleichen Todes Asphodill !

Wem seine Fittiche rauschen,

Der hebt, und wem seine hohle Stimme ertönt,

Der hat zum letztenmal gelogen. . .

Verwesung und Moder gärt

In unsren Adern, Verwesung leitet uns

Nach ihrem Gesetz, und was da lebt und atmet,

Verwesung hat es geschaffen,

Verwesung zerstört es auch!

Ein schmutziger Wirbel

Voll Rätsel und Wahnsinn kreist

Das Leben, und unser Pygmäengeschlecht, es kreist

Mit ihm: in blinder Schwäche, drolliger Würde

Und Ohnmacht...

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Allsiegend und frei nur herrscht

Der Riese Tod: mit blinkendem Schwerte mäht er

Die gleißende Daseinslüge hinweg

Und spricht, in Ewigkeit

Auf Staub und Verwesung deutend,

Die einzige, ewige Wahrheit:

Soll man im Sinne des bekannten Wortes in des Dichters Lande gehen, um den Dichter zu verstehen, so muß man sich, um Marie Eugenie delle Grazie zu erkennen, ent­schließen, über Gefilde zu wandern, die in den Regionen der höchsten geistigen Interessen der Menschheit liegen. Man wird da geführt über reiche Lebewelten, lebenssaftig und lebenskräftig, mit heißem Wollen erfüllt; aber in die­sem Leben pulsieren giftige Stoffe, es sprossen Blüten, die Verwesung als ihre innerste Bestimmung in sich tragen -die Schönheit prangt, aber sie prangt wie Hohn und ohn­mächtiger Glanz - die Erhabenheit gleißt, aber sie ist die Ironie auf sich selbst. Dem schleierbedeckten Auge er-scheint das Größte; man nehme den Schleier ab, und in Dunst und Nebel, in leeres, schal es Nichts löst sich das «Größte » auf.

Selten wird man auch da, wo man die Empfindungen, die Anschauungen eines Dichters nicht teilt, so bewundern können wie den Schöpfungen delle Grazies gegenüber. Denn auch wo man «Nein » sagen muß, ist man sich be­wußt, daß man zur Größe «Nein » sagt.

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LUDWIG JACOBOWSKI

Gestorben am 2. Dezember 1900

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Wir haben ihn wachsen sehen, in den letzten Jahren, wachsen an Schaffensfreude und Kühnheit immer neuer Pläne, wachsen an künstlerischem Vermögen, an geistiger Kraft und innerer Klarheit. Wir mußten den Schmerz er­leben, dieses Wachstum jäh, grausam - abgeschnitten zu sehen. Am 2. Dezember mußten wir ins leere, öde Nichts all die frohen, stolzen Hoffnungen versenken, die wir an die Persönlichkeit Ludwig Jacobowskis knüpften. Wer in der letzten Zeit mit ihm von seinen Plänen, von seinen Er­wartungen sprechen konnte, der allein hat eine Vorstel­lung davon, was das deutsche Geistesleben an diesem Manne verloren hat. Er war einer von den Menschen, von denen man sagen darf, der Umfang ihrer geistigen Interessen reicht so weit wie das geistige Leben über­haupt. Und es lebte eine Energie in seiner Seele, eine unermüdliche Schaffenslust, die bei seinen Freunden den festen Glauben erzeugte: der kann, was er will. - Er hat schwer mit dem Schicksal ringen müssen. Außer dem Tode ist wohl nicht vieles, was ihm dieses Schicksal ohne schweren Kampf zuteil werden ließ. Und von seiner ganzen Kunst darf man sagen, was er seiner letzten Schöp­fung «Glück», einem «Akt in Versen», voransetzte:

Es war wie Sterben, als ich's lebte!

Es war mir Tröstung als ich's schrieb!

Wer je in gleicher Bängris bebte,

Der nehm' es hin und hab' es lieb!

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Die inneren Kämpfe gehörten zu Jacobowskis Natur. Er fühlte Kräfte in sich, reich und herrlich, aber nur von einer schwer ringenden Seele zum Dasein zu bringen. Die Stunden waren wohl seine bittersten, in denen ihm die Zweifel darüber aufstiegen, ob er denn imstande sein werde, ans Licht zu holen, was tief unten verborgen in seinen Geistesschachten ruhte. Und er hatte nicht wenige solcher Stunden. Aber seine Kraft wuchs am meisten dadurch, daß er sich den Glauben an sich nicht leicht machte. Nach dieser Richtung hin steckte der höchste Idealismus in ihm. Nicht ein Idealismus, der an Träumen hängt, sondern ein solcher, der rastlos nach Erweiterung, Vervollkommnung des Daseins drängt. Kein Idealismus, der zur pessimistischen Entsagung, sondern ein solcher, der zur Arbeit treibt.

Zwei Ereignisse seines Jugendalters nannte Ludwig Jacobowski, wenn er davon sprach, was auf sein Leben einen tiefgehenden Einfluß ausgeübt hat, den Tod eines Schulfreundes und die erste Lektüre von Schillers Wer­ken. Es ist noch nicht fünf Wochen her, da sprach er mir von beiden Ereignissen als von Erinnerungen, die ein ganz hervorragendes Dasein in seiner Seele führten. « Meinem Schulfreunde setze ich noch einmal ein dichterisches Denk­mal», sagte er. In den kurzen Lebensaufzeichnungen, die er im Oktober 1887 aus äußeren Gründen verfaßt hat, findet sich der Satz: «Als ich zwölf Jahre zähite, starb meine Mutter. Diesem harten Schlage sowohl, wie einem schon verstorbenen Freunde, namentlich aber dem Einfluß der Lektüre unserer Literatur hatte ich es zu verdanken, daß ich ein anderer Mensch wurde.» Wer psychologischen Blick hat, sieht es diesem Satze an, daß er aus einer

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Seele stammt, deren Empfindungen ebenso tief, wie ihre Ziele weit sind. Als Neunzehnjähn.ger schrieb Jacobowski diese Zeilen. Er hatte schon damals Zeiten hinter sich, in denen der Ernst des Lebens in seinen schwärzesten Farben an ihn herangetreten war. Aber er hatte ebenso die Stun­den hinter sich, in denen ihm seine starke Energie und der Wille, nur auf die eigene Kraft zu bauen, Trost und Hoffnung gab. Früh suchte er «Tröstung» in dem, was er schrieb. Zwanzig Jahre zähite er, als seine erste Gedicht-sammlung «Aus bewegten Stunden» erschien. In einem der ersten Gedichte des Büchleins lesen wir die für sein Wesen tief bezeichnenden Worte:

Es strebt der Mensch, das Wesenlose zu ergreifen,

Des Weltalls Rätsel sich mit Denkerkraft zu lösen,

Aus dumpfen Nächten kühn zum Licht emporzugreifen,

Hinabzutauchen nach dem Urgrund aller Wesen,

Und über Labyrinthe tief geheimer Fragen

Rollt majestätisch seines Geistes Siegeswagen.

Was Goethe einmal zu Eckermann sagte, das hat Jaco­bowski frühzeitig empfunden: «In der Poesie ist nur das wahrhaft Große und Reine förderlich, das wiederum wie eine zweite Natur dasteht und uns entweder zu sich heraufhebt, oder uns verschmäht.»In seinen «bewegten Stun­den» spielten sich Stimmungen ab, die ihn emporhoben auf den großen Schauplatz, auf dem die höchsten Angelegen­heiten der Menschen zur Entwickelung kommen, und sol­che, die ihn wie einen Verschmähten erscheinen ließen, der nicht Kraft genug hat, mitzutun bei diesen Angele­genheiten. - Er hat sie uns treulich geschildert später, diese zwei Stimmungen, in seinem Roman «Werther, der Jude» (1892) und in dem Drama «Diyab, der Narr»

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(1895). In dem Roman kommt die eine Seite von Jaco­bowskis Wesenheit zur Darstellung, die fein empfindende Seele, die zerquält wird von Widerwärtigkeiten des Da­seins, die herbe Schmerzen ertragen muß, weil sie zart und reizbar ist. In dem Drama schildert sich die Willens-natur des Dichters, die denen sich überlegen fühlt, die ihr Schmerz bereiten, die aus sich holt, was die Außen­welt versagt. Und wie viel diese Natur aus sich zu holen hatte, das trat in bedeutender Kunst vor die Welt in dem Buche «Loki. Roman eines Gottes» (1898). Jacobowski hat mit dieser Schöpfung etwas erreicht, was man nur durch Zusammenwirken dreier Geisteskräfte in der Per­sönlichkeit erreichen kann: durch Kindlichkeit, Künstler­tum und Philosophie. Einfachheit in der Auffassung der Welterscheinungen, Harmonie in der künstlerischen Gestal­tung und Tieft in der denkenden Betrachtung der Natur und des Menschen: in der Durchdringung dieser Dreiheit lag der Wesenskern Jacobowskis. Ich habe durch diese Dreiheit seine Natur charakterisiert, nachdem er uns in seinen «Leuchtenden Tagen» seine letzte Gedichtsamm­lung vorgelegt hatte. Es gehört zu den schönsten Erinne­rungen meines Lebens: wie ich seine Augen leuchten sah, als ich ihm meine Besprechung seiner «Leuchtenden Tage» übergeben konnte, und er die obigen Worte darin las. Er glaubte sich erkannt. Er suchte als Künstler die einfachsten Formen. Und in dem Erreichen der volks­tümlichsten Einfachheit durch die höchsten Mittel sah er wohl das Ziel der Kunst. Aber er wollte diese Einfach­heit nie ohne Tiefe haben. - Alles künstlerische Rafline­ment verschmähte er. Er brauchte keine Seltsamkeiten aufzusuchen, wenn er das Leben in seiner wahren Bedeu­tung

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zeichnen wollte. Ihm trat die Poesie entgegen aus den kleinsten Erscheinungen des alltäglichen Lebens. Er verstand, in großen Linien zu sehen.

Jacobowski war ein Mann, der in seinen einsamen Emp­findungen allen Geheimnissen des Daseins nachging. Die Irrgänge und die Leuchttürme des Daseins hat er in sei­nem «Loki» hingezeichnet. Aus trüben Erfahrungen her­aus hat er sich zu der harmonischen Lebensauffassung seiner « Leuchtenden Tage» durchgerungen. Auf seine bit­teren Erlebnisse fiel zuletzt das Licht, aus dem die Verse stammen:

Ach, unsre leuchtenden Tage

Glänzen wie ewige Sterne.

Ms Trost für künftige Klage

Glüh'n sie aus goldener Ferne.

Nicht weinen, weil sie vorüber!

Lächeln, weil sie gewesen!

Und werden die Tage auch trüber.

Unsere Sterne erlösen!

Und der Mann, der also mit sich rang, war zugleich beseelt von der Begierde, an der Hebung der Geistes-kultur unablässig mitzuarbeiten. Seine Zehnpfennighefte « Lieder fürs Volk» und die Sammlung «Deutsche Dich­ter in Auswahi fürs Volk» (Verlag von G. E. Kitzler, Berlin, zum Preis von 10 Pf.) entsprangen einem tief sozialen Zug in seiner Persönlichkeit. Er hat durch diese Unternehmung eine große Freude erlebt. Er sprach gern von dieser Freude. Dem Geiste des Volkes wollte er dienen; und er hatte noch deutlich sehen können, wie tief das Bedürfnis und die Empfänglichkeit im Volke für geistige Schöpfungen ist. Von allen Seiten her kamen die

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Kundgebungen an ihn heran über den Erfolg seiner Be­strebungen auf diesem Gebiete. Er wollte die Erfahrun­gen, die er in dieser Richtung gemacht hat, in der aller­nächsten Zeit schildern. Wie so viele seiner Pläne, hat auch diesen ein grausames Geschick zerstört.

Unübersehbar sind die Vorarbeiten, die Jacobowski zu einem großen Werke über die Entwicklung der Volksphantasie hinterlassen hat. Das Werden des menschiichen Geistes im Denken und künstlerischen Schaffen hat er der­einst auf umfassender Grundlage darstellen wollen. - Seine Liebe zur Volksdichtung hat das schöne Werk «Aus deut­scher Seele» gezeitigt ein « Buch Volkslieder» (Minden in Westf. 1899). Und während er sich einerseits in die Volks­seele vertiefte, stieg er andrerseits in die einsamen Höhen der romantischen Dichtung hinauf. Mit Oppeln-Broni­kowski zusammen gab er vor kurzem « Die blaue Blume» heraus, eine «Anthologie romantischer Lyrik». (Verlegt bei Eugen Diederichs in Leipzig.)

Jacobowskis Freunde wußten noch von einem Plane, der ein Lebenswerk zeitigen sollte. Eine künstlerische Gestal­tung der kosmischen Geheimnisse strebte er in einer Dich­tung « Erde» an. Es waren die höchsten Anforderungen, die er bei dieser Schöpfung an sich stellte. Er dachte an die größten Anstrengungen, um für dieses Werk reif zu werden.

Man muß das alles sagen, um ermessen zu lassen, wie tief diejenigen seinen Verlust empfinden, die Ludwig Jacobowski nahestanden. Für sie ist es niederdrückend, von solch zerstörten Hoffnungen sprechen zu müssen. Es kann sie über den Schmerz nicht das Bewußtsein hin­wegführen, daß auch durch das, was Jacobowski gelei­stet

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hat, sein Name tief eingegraben sein wird in die Annalen der deutschen Geistesgeschichte. Denn für sie ist dieses Bewußtsein mit dem bitteren Gedanken verknüpft, was dieser Name bedeuten würde, wenn eine Geisteskraft, die für ein langes, überlanges Leben ausgereicht hätte, nicht in der ersten Blüte zerstört worden wäre.

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II

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Von schönen und weitgehenden Plänen hinweg hat der Tod Ludwig Jacobowski im dreiunddreißigsten Lebensjahre gerissen. Ein Leben, das in steter Aufwärtsentwickelung begriffen, das erfüllt war von rastloser Schaffensfreude, hat damit ein jähes Ende gefunden. Es ist noch nicht lange her, da konnte ich den Lesern dieser Zeitschrift, durch eine verhältnismäßig kurze Zeitspanne getrennt, zwei Bil­der von Schöpfungen dieses Dichters entwerfen, von seinem «Loki. Roman eines Gottes» und von seiner letz­ten Gedichtsammlung « Leuchtende Tage». In seinem « Loki» hatte Jacobowski einen vorläufigen Höhepunkt seines Schaffens erreicht. Vorwärts und rückwärts in der Entwickelungsbahn des Dichters weist dies Werk zugleich. Rückwärts auf ein Leben voll äußerer und innerer Kämpfe, auf ein Leben, dem der Daseinskampf nicht leicht gewor­den ist, das aber im Ringen mit den höchsten Mensch­heitsrätseln einen reichen Inhalt sich geschaffen hatte; vorwärts auf eine Zukunft, die großen Hoffnungen Er­füllung zu bringen schien. Man hatte keinen Roman im gewöhnlichen Sinne des Wortes vor sich, sondern die sym­bolische Darstellung ewiger Kämpfe in der menschlichen

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Seele. Was unablässig, als stete Beunruhigung auf dem Menschenherzen lastet, hat Jacobowski in Form eines Kampfes feindlicher Götter dargestellt. Das menschliche Gemüt hängt mit Liebe an allem Geschaffenen; es möchte das Gewordene mit Hingebung hegen und pflegen. Aber dieses Geschaffene muß zu seinem eigenen Heile seinen schlimmsten Feind aus sich selbst gebären; es muß das Gebildete fortwährend umgebildet werden, damit es sich - nach Goethes schönem Worte - nicht zum Starren waffne. So wahr es ist, daß innerhalb des Friedens und der Ord­nung die guten menschlichen Eigenschaften gedeihen, so wahr ist auch, daß das alte Gute von Zeit zu Zeit zer­stört werden muß. Diese zerstörende Kraft des Daseins setzt Jacobowski in der Gestalt Lokis den erhaltenden Göttern, den Asen, entgegen.

Nur einem Dichter, der mit der Gabe tiefer Beschau­lichkeit das Vermögen verbindet, in den einfachsten künstlerischen Formen zu schaffen, ist es möglich, das charakterisierte, bedeutungsschwere Weltproblem dichte­risch zu bezwingen. Und Ludwig Jacobowski war mit den Eigenschaften begabt, die ihn zu einer solchen Auf­gabe befähigten. Nachdem seine « Leuchtenden Tage» er­schienen waren, glaubte ich den Wesenskern seiner Per­sönlichkeit nicht besser kennzeichnen zu können, als in­dem ich ihn als eine Harmonie der drei Formen des Seelenlebens darstellte: der kindlichen, der künstlerischen und der philosophischen. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er diese Charakteristik seiner Vorstellungsart in meiner Besprechung seiner «Leuchtenden Tage» mit freudeerfüll­ten Augen las. Er glaubte sich erkannt. Dem Studium der Volksdichtung war er immer zugetan. In ihrer Ein­fachheit

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glaubte er das Ideal des poetischen Schaffens zu erkennen. Er wetteiferte in seinen eigenen Schöpfun­gen mit dieser Einfachheit. Von allem künstlerischen Raf­finement hielt er nicht viel. Daß man auf der Höhe des Geistes zu der Kindlichkeit des einfachen Seelenlebens zurückkehren müsse, bildete eine Art unbewußter Über-zeugung bei ihm. Er sah wirklich die höchsten Dinge in den einfachsten Linien. Und dieser Einfachheit war die Tiefe eines Weltbetrachters gesellt. Die ihm nahestanden, wissen, wie er in seinem Elemente war, wenn er sich von den großen Erkenntnisproblemen unterhalten konnte, wenn er sinnend den ewigen Menschheitsfragen nach­hängen konnte. Überall in seinen Dichtungen begegnen wir auch diesem Zuge. Aus den alltäglichsten Erlebnis­sen sprangen ihm weite Perspektiven heraus.

Ludwig Jacobowski hatte sich zuletzt zu einer freien, harmonischen Weltanschauung durchgerungen. Sie war es, aus der ihm Verse, wie diese entsprangen:

Ach, unsre leuchtenden Tage

Glänzen wie ewige Sterne.

Als Trost für künftige Klage

Glühn' sie aus goldener Ferne.

Nicht weinen, weil sie vorüber!

Lächeln, weil sie gewesen!

Und werden die Tage auch trüber,

Unsere Sterne erlösen!

Aber das Licht, zu dem er sich also emporgearbeitet hat, ist ein teuer erkauftes. Und mancher seiner Dich­tungen hätte er das gleiche Motto vorsetzen können, wie das vor seiner letzten Schöpfung. dem Einakter in Ver­sen «Glück»:

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Es war wie Sterben, als ich's lebte!

Es war rnir Tröstung, als ich's schrieb!

Wer je in gleicher Bängnis bebte,

Der nehm' es hin und hab' es lieb!

Jacobowski trat früh in die Öffentlichkeit. Er war zwei­undzwanzig Jahre alt, als seine erste Gedichtsammlung «Aus bewegten Stunden» erschien. Die Stimmungen seiner Sekundaner- und Primaner-Zeit hat er in diesen Dichtun­gen festgehalten. Sie stammen aus einem Jugendleben, das sich den Glauben an sich so schwer wie möglich machte. Ein hochstrebender Idealismus lebte in diesem Jüngling, der nur dadurch für das Dasein wert zu sein glaubte, daß er sich die höchsten Aufgaben stellte. Aber zugleich war diese Jünglingsseele von den herbsten Zwei­feln durchzogen. Sie hatte niederdrückende, schwere Stunden, in denen alles Vertrauen in sich selbst verloren schien. Ein reizbarer, grüblerischer Sinn verband sich hier mit einer unerschütterlichen Energie, eine feine Emp­findlichkeit für alle Eindrücke der Welt mit einem un­besieglichen Stolz, niemand etwas zu verdanken, als nur sich selbst. Stimmungen der Ohnmacht und Stimmungen des Trotzes wechselten fortwährend in dem jungen Jaco­bowski. Wir begegnen diesen Stimmungen in zweien sei­ner Dichtungen. In seinem Roman «Werther, der Jude» (1892) ist die eine, in dem Drama «Diyab, der Narr» (1895) die andere dargestellt. Dort der junge Mann, dem die Widerwärtigkeiten des Daseins ein weiches, reizbares, überempfindliches Gemüt grausam zerquälen; hier der Trotzige, der allem Feindlichen tapfer Widerstand leistet und allein aus sich alle Energie holt, um den Lebens­kampf aufzunehmen.

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Man durfte sich noch vieles versprechen von dem Geiste, der mit jeder seiner Schöpfungen so sichtlich gewachsen war. Besonders durften es seine Freunde, die mit seinen reichen Plänen vertraut waren, die gesehen hatten, wie tief er jegliches Erlebnis zu nehmen wußte, und die seine Kraft kannten, die mit immer höheren Auf­gaben zuzunehmen schien. Aus einem niederschmettern­den Erlebnis hatte er den Stoff zu seiner in diesem Herbst entstandenen Dichtung «Glück», einem «Akt in Versen» (J. C. C. Bruns Verlag, Minden 1900), geschöpft. Er hatte auch hier einen schönen Weg gefunden, herbe Bitterkeiten des Daseins in eine ihn tröstende Dichtung von hoher Vollendung umzugießen.

Und wie hoch die Anforderungen waren, die er an sich stellte, das konnte man in vollem Maße beurteilen, wenn man ihn von einet Dichtung sprechen hörte, die in seinem Geiste keimte. In einem kosmischen Kunstwerk «Erde» wollte er seine Art, die Welträtsel anzusehen, dar­stellen. Er sprach von diesem Plane wie von etwas, das ihm selbst geheimnisvoll war, das sich nur schwer von seiner Seele lösen werde. Zunächst wollte er seine Tage damit hinbringen, für diese Aufgabe «reif» zu werden.

Hand in Hand mit seinen künstlerischen Interessen ging bei Jacobowski ein weiter Erkenntnisdrang. Er hat sich viel mit Gedanken und Forschungen über den Ursprung des dichterischen Schaffens getragen. Eine kleine Schrift und zahlreiche Essays zeugen von dieser Seite seiner Tätigkeit. Er arbeitete auf ein großes Werk hin, das den Werdegang der dichterischen Phantasie darstellen sollte. Unablässig hat er dafür gesammelt. In der Poesie niede­rer Kulturvölker forschte er, um die Anfänge des poetischen

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Schaffens kennenzulernen. Seine Vorarbeiten und Sammlungen auf diesem Gebiete sind unübersehbar.

Und während er so bemüht war, energisch selbst am Entwickelungsgang des Geistes mitzuarbeiten und diesen Gang erkennend zu durchdringen, strebte er rastlos nach Mitteln, die Geistesschätze den breitesten Schichten des Volkes zugänglich zu machen. Er hat rasch hintereinan­der in seinen Büchern «Aus deutscher Seele. Ein Buch Volkslieder» und (mit Oppeln-Bronikowski zusammen) in der «Blauen Blume», einer Zusammenstellung der wert­vollsten Schöpfungen deutscher Romantik, dankenswerte Sammlungen geschaffen. Besonders fruchtbar war sein Unternehmen mit billigen Volksausgaben wertvoller Dich­tungen. Seine «Lieder fürs Volk» und seine «Deutschen Dichter in Auswahl fürs Volk» sind Meisterstücke in ihrer Art. Er hat ein Heft der besten zeitgenössischen lyrischen Leistungen herausgegeben, das nur zehn Pfennige kostet. Zu demselben Preise erschienen bis jetzt von ihm je eine Auswahl von Goethes und Heines Schöpfungen. Dieses Unternehmen versprach große Wirkungen. Es gehörte zu seinen schönsten Erlebnissen in den letzten Monaten seines Lebens, von überallher diese Wirkungen zu spüren. Er wollte dem Volk die besten Geistes schätze zuführen; und jeder Tag brachte ihm neue schriftliche und mündliche Zeugnisse dafür, welche Empfänglichkeit in den weitesten Schichten des Volkes für dieses Unternehmen vorhanden ist. Er sagte oft zu mir: Das war ein Versuch. Ich würde ruhig gestehen, der Versuch ist mißlungen, wenn es der Fall wäre. Aber der Versuch war in der überraschend­sten Weise geglückt. Er wollte in der Sammlung «Freie Warte», auch eine Arbeit seiner letzten Jahre, die Erfahrungen

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schildern, die er auf diesem Gebiete gemacht hat*. Auch diesen Plan hat ihm das Schicksal zerstört.

Zu einem reichen, langen Menschenleben lagen die Keime in dieser Persönlichkeit. Nur eine kleine Zahl ist es, die reifen durfte.

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FERDINAND FREILIGRATH

Gestorben am 18. März 1876

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In der württembergischen Stadt Weinsberg wurde 1818 der gemütvolle Dichter und schwärmerische Geisterseher J ustinus Kerner Oberamtsarzt. Seit dieser Zeit wurde das malerisch gelegene Heim des merkwürdigen Mannes von unzähligen Künstlern, Dichtern, Gelehrten und Spiritisten aufgesucht, die ihr Reiseweg durch Süddeutschland führte. Am 7. August 1840 erschien in dem gastlichen Hause ein Mann von biederem Aussehen und schlichtem Auftreten, der sich als der Dichter Ferdinand Freiligrath vorstellte. In Kerner stiegen Zweifel auf, ob er dem Besucher glau­ben dürfe, daß er der Träger des Namens sei, der damals bereits in weitesten Kreisen mit Anerkennung ausgespro­chen wurde. Daß er es mit einem lieben, herrlichen Men­schen zu tun hatte, wußte Kerner nach den ersten Wor­ten; was der Mann in sich barg, trat nur ganz allmäh­lich in die Erscheinung. In dieser Begegnung mit dem schwäbischen Dichter ist das Wesen des großen Freiheits­sängers Freiligrath sinnbildlich ausgesprochen. Er drang selbst langsam zu seiner tieferen Natur vor, zu jener Natur,

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* Es sind drei Hefte dieser Sammlung bei Bruns in Minden erschienen.

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die berufen war, die hinreißendsten Töne für die Freiheitsempfindung des Menschen zu finden. Was sich in Frelligraths Herzen abspielte, als ihm sein wahrer Beruf aufging, davon geben die Worte Zeugnis, die er seiner 1844 erschienenen Gedichtsammlung «Ein Glaubensbe­kenntnis» voranstellte. «Die jüngste Wendung der Dinge in meinem engeren Vaterlande Preußen hat mich, der ich zu den Hoffenden und Vertrauenden gehörte, in viel­facher Weise schmerzlich enttäuscht, und sie ist es vor­nehmlich, welcher die Mehrzahl der in der zweiten Ab­teilung dieses Buches mitgeteilten Gedichte ihre Entste­hung verdankt. Keines derselben, kann ich mit Ruhe ver­sichern, ist gemacht; jedes ist durch Ereignisse geworden, ein ebenso notwendiges und unabweisliches Resultat ihres Zusammenstoßes mit meinem Rechtsgefühl und meiner Überzeugung, als der gleichzeitig gefaßte und zur Aus­führung gebrachte Entschluß, meine vielbesprochene kleine Pension in die Hände des Königs zurückzulegen. Um Neujahr 1842 wurde ich durch ihre Verleihung über­rascht: seit Neujahr 1844 hab' ich aufgehört, sie zu er-heben.» - Der Mann, der noch 1841 sein Bekenntnis in die Worte gefaßt hat: «Der Dichter steht auf einer höhe­ren Warte, als auf den Zinnen der Partei», ließ im Januar 1844 sein Freiheitsgedicht «Guten Morgen » in die Worte ausklingen:

«Guten Morgen denn! - Frei werd' ich stehen

Für das Volk und mit ihm in der Zeit!

Mit dem Volke soll der Dichter gehen -»

Den Freiligrath, der mit seiner feurigen Phantasie in den dreißiger Jahren in der glühenden Farbenpracht ferner

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Länder geschwelgt hatte, der das Leben der üppigen Tropenwelt mit solcher Anschaulichkeit vor die Seelen zu zaubern wußte, der vom Wüstenkönig (im «Löwenritt») und vom traurigen Lose der Auswanderer sang, den konnte man einer königlichen Pension für würdig erachten; der Freiligrath, der in den vierziger Jahren den stürmischen Freiheitsdrang der Zeit als den Grundzug seines eigenen Herzens empfand, der mußte von sich sagen: «Fest und unerschütterlich trete ich auf die Seite derer, die mit Stirn und Brust der Reaktion sich entgegenstemmen! Kein Leben mehr für mich ohne Freiheit!»

Wer Freiligraths Entwickelung verständnisvoll verfolgt, wird nur zu begreiflich finden, daß gerade in seiner Seele die Sehnsucht der Zeit einen so mächtigen Widerhall fand Er hat sich die Freiheit seiner eigenen Persönlichkeii schwer erobern müssen. Er wurde als der Sohn eines Det­molder Schullehrers am 17. Juni 1810 geboren. Der liebens­würdige, idealistisch gesinnte Vater konnte dem Sohne nichts bieten als Güter des Geistes und Herzens. Der junge Freiligrath hatte zur Förderung seiner herrlichen Anlagen innerhalb eines entbehrungsreichen Lebens nichts als dic eigene Kraft und Ausdauer. Nur kurze Zeit konnte ihn der an Glücksgütern arme Vater das Gymnasium besuchen lassen. Mit sechzehn Jahren mußte er Kaufmann werden. Während der hochstrebende Jüngling im Geschäfte seines Oheims in Soest der aufreibendsten geschäftlichen Arbeit oblag, gestalteten sich in seiner Phantasie die aus reichlich verschlungenen Reisebeschreibungen empfangenen Ein­drücke zu üppigen dichterischen Bildern aus. Und als er im Jahre 1831 zu seiner weiteren kaufmännischen Aus­bildung nach Amsterdam kommt, da erhält diese Phan­tasie

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von allen Seiten Nahrung. Der Anblick des Meeres ruft in Freiligrath die tiefsten Empfindungen hervor. Die Vorstellung von der Allmacht der Natur wird in ihm er­weckt, wenn er die ins Unermeßliche sich dehnende Mee­resfläche überschaut. Sein Sinn schweift hinunter in die Tiefen des Wassers, und die Gedanken an die Fülle des Lebens, die sich da unten auf dem Grunde entfaltet, ver­binden sich mit den Vorstellungen an das andere Leben, das fortwährend auf dem gleichen Grunde sein Grab fin­det. Es sind Bilder von Böcklinscher Kraft und Schön­heit, die in seinem Geiste aus solchen Vorstellungen heraus erwachsen.

«Einsam, schauerlich und finster

Ist das ferne, hohe Meer!

Gerne seh' ich Heid und Ginster

Wuchern um die Dünen her.»

Freiligrath sieht die Schiffe kommen und abgehen. Sie erzählen ihm von fernen Ländern und ihren Wunder­werken. Und was er nie gesehen, steigt in herrlicher Pracht in seiner Einbildungskraft auf. Nach Mrika, nach Amerika, nach Asien versetzt sich der Dichter, und ein­dringlich schildert er, was ihm seine Träume von diesen Erdstrichen erzählen.

Im Jahre 1835 wird die Welt zuerst bekannt mit dem, was Freiligrath in seinen Träumen gesehen, was er wäh­rend einer anstrengenden arbeitsreichen Jugend in seinem tiefsten Innern erlebt. In den literarischen Zeitschriften der damaligen Zeit, wie im «Deutschen Musenalmanach», den Chamisso und Schwab herausgaben, und im « Stutt­garter Morgenblatt» erschienen zuerst Freiligraths Dichtungen.

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Bald wurde der Name des Dichters überall da gepriesen, wo man Verständnis für echte Dichtung hatte. Freiligrath, der mittlerweile nach Deutschland zurückge­kehrt und in Barmen eine kaufmännische Beschäftigung gefunden hatte, konnte schon 1838 eine Gedichtsamm­lung erscheinen lassen. Ja, er konnte nunmehr sogar daran denken, sich von seinem aufreibenden Berufe zu­rückz:uziehen und als freier Schriftsteller zu leben. Er ließ sich 1839 als solcher in dem Städtchen Unkel am Rhein nieder. Hier lernte er die Gefährtin kennen, die fortan mit ihm die ihnen noch reichlich beschiedenen Lasten des Lebens gemeinsam tragen sollte. Sie war die Tochter eines weimarischen Seminarlehrers Melos. Sie war von Kindheit an mit Goethes Enkeln befreundet und konnte auf eine Zeit zurückblicken, da noch der alte Goethe selbst sich an ihrem Spiel erfreut und mit ihr gescherzt hatte. Sie hatte dann als Erzieherin in Rußland gewirkt und sich durch Erfahrung und energisches Streben zu einer hohen Lebensanschauung durchgerungen. Freiligraths Zusam­mentreffen mit Kerner geschah auf seiner 1840 unter­nommenen Reise, deren Hauptziel war, die Bekanntschaft des Vaters seiner Braut in Weimar zu machen und sich mit diesem auszusprechen. Es war eine ereignisreiche Fahrt, die der Dichtet über Süddeutschland nach Weimar machte. Außer mancher anderen bedeutenden Persönlich­keit lernte er Ludwig Uhland kennen. Dieser gemütsinnige Dichter wurde ihm ein lieber Freund.

In Muße sich der Dichtung, durch die er sich immer mehr Herzen eroberte, hinzugeben und in Ruhe sich des schönen Ehebündnisses zu erfreuen, das er 1841 geschlos­sen hatte, war Ferdinand Freiligrath nicht gegönnt.

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Schwere Lebenssorgen traten immer wieder an ihn heran. Wie sollte es auch anders sein, da in der Zeit, in wel­cher die Schöpfungen seiner Jugend ihm stetig wachsende Anerkennung brachten, er sich von den Vorstellungen entfernte, die seinen jungen Dichterruhm begründet hat­ten? Die Zeit wies ihm neue Wege. Was für ihn Lebensluft bedeutete, die Freiheit, was er sich in heißen Kämp­fen stets zu erobern gesucht hatte, sie sah er im öffent­lichen Leben bedrängt und geächtet.

«Deutschland ist Hamlet! Ernst und stumm

In seinen Toren jede Nacht

Geht die begrabne Freiheit um,

Und winkt den Männern auf der Wacht.»

So klagt er im April 1844. Er stellt damals die Gedichte zusammen, die in seinem «Glaubensbekenntnis» vereinigt sind, und gibt ihnen als Geleitwort mit auf den Weg:

«Zu Aßmannshausen in der Kron'

Wo mancher Durst'ge schon gezecht,

Da macht' ich gegen eine Kron'

Dies Büchlein für den Druck zurecht!»

Freiligrath liebte die Gegenden am Rhein. Deshalb wohl zog es ihn in den schweren Tagen der inneren Kämpfe, als er den Zusammenschluß mit der ringenden Zeitseele suchte und fand, nach St. Goar, wo er in stiller Zurück­gezogenheit und Einkehr in sich selbst kurze Zeit ver­lebte. Es ist keine Frage, daß es anderen leichter wurde, den Ruf der Zeit zu hören. Freiligraths Empfindungen erscheinen wie ein sprödes Element, das nicht heraus will ans Tageslicht, das aber dann in um so hellerem Glanze erstrahlt, als es den Weg dahin gefunden hat. Herwegh,

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der die revolutionären Töne als einer der ersten ange­schlagen hatte, wirkte zunächst auf Freiligrath abstoßend. Ja, er hat gegen Herwegh sogar herbe Worte des Tadeis gerichtet, als dieser sich höhnisch über den einst als Dem­agogen abgesetzten, dann von Friedrich Wilhelm IV. zurückberufenen Ernst Moritz Arndt ausgesprochen hatte. Und was wir in den von Herwegh in Zürich herausge­gebenen «Einundz:wanzig Bogen» über Freiligrath lesen, zeigt uns, daß im Anfang der vierziger Jahre die Frei­heitssänger mit wenig Achtung über den «Pensionär» des Königs von Preußen dachten. Seit dem Erscheinen des «Glaubensbekenntnisses» konnte niemand mehr im Zwei­fel sein, wie es in dem tiefsten Innern des Dichters aussah, den man bis dahin auf einer «höheren Warte» als auf den Zinnen der Partei erblickt hatte. Den Herwegh noch vor kurzem mit Geibel zu dem «Duett der Pen­sionierten» höhnisch gezähit hatte, der mußte nunmehr daran denken, Deutschiand zu verlassen, um den Ver­folgern der Freiheitsfreunde zu entgehen. Freiligrath suchte in Brüssel ein Asyl. Mit Recht hat man gesagt, daß in Freiligrath der Freiheitsdrang sich bis zur religiösen Inbrunst steigerte. Wie hat er die Stimmung des Geknech­teten gegenüber dem Mächtigen verstanden, wie hat er ihr Flammenworte zu geben vermocht! Mit einer Kühnheit ohnegleichen hat er seine Stimme an die Herzen derer gerichtet, denen die Freiheit nur solange entzogen werden kann, als sie sich nicht bewußt sind, daß das Macht-gebäude, das sie erdrückt, von ihnen selbst fortwährend, Stein nach Stein, zusammengetragen wird. Diese Stim­mung findet in seiner «Phantasie an den Rheindampfer» Worte, wie sie nicht oft in der Weltliteratur ange­troffen

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werden. Die Gedichtsammlung von I 846, der auch das genannte Gedicht angehört, ist ein einziger großer Hymnus auf die Freiheit. Und die im Jahr 1849 erschie­nenen «Neueren politischen und sozialen Gedichte» liest man mit der Empfindung, als ob der grelle Schmerzens­schrei der ganzen Volksseele nach Freiheit und einem lebenswerten Dasein sich aus einem Dichterherzen hören ließe, auf welches alle Leiden der Zeit sich geladen haben.

In Deutschland gab es seit der Mitte der vierziger Jahre für Freiligrath nicht die Möglichkeit, ein Heim zu finden. Der revolutionäre Dichter konnte jeden Tag seine Freiheit verlieren, der schwer mit dem Leben kämpfende Mann konnte nicht die Mittel für seine materielle Exi­stenz finden. 1846 übersiedelte er nach London, wo er wieder eine kaufmännische Stellung gefunden hatte. Immer von neuem zog es ihn nach Deutschland. Im Mai 1848 zieht er ins Hauptquartier der deutschen Demokra­tie, in Düsseldorf, ein. Hier arbeitete er mit Marx und Engels zusammen an der «Neuen Rheinischen Zeitung» im Dienste der Freiheit. Eine Anklage, die er sich wegen des Gedichtes «Die Toten an die Lebenden » zugezogen hatte, zeigte, wie tief seine Töne dem Volke ins Herz gedrungen waren. Die herrschenden Gewalten hätten es wohl gerne gesehen, wenn gegen den kühnen Dichter ein Hauptschlag hätte geführt werden können. Hatte er doch in dem genannten Gedichte die für die Freiheit gefalle­nen Toten sprechen lassen, die die Lebenden auffordern, sich ihrer toten Vorkämpfer würdig zu erweisen. Freili­graths Gattin war auf das Schlimmste gefaßt. Man konnte selbst eine Verurteilung zum Tode fürchten. Die Geschwo­renen

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fällten einen Freispruch. Ein Jubel ohnegleichen tönte dem Freigesprochenen entgegen, als er aus dem Ge­richtsgebäude in die nach Tausenden zählende Volks-menge trat. Ein dauerndes Verbleiben in Deutschland war für Freiligrath undenkbar. Er mußte sich dazu ent­schließen, für die nächste Zeit im Exil sein Fortkommen zu suchen. So ist er denn 1851 wieder in London. Er mußte als Kaufmann vom frühen Morgen bis zum späten Abend hart arbeiten. Sein Haus wurde ein von den poli­tischen Flüchtlingen aus allen Ländern aufgesuchter Zu-fluchtsort. Für jeden, der sich an Freiligrath wandte, hatte dieser Rat und Hilfe. Er ließ nichts unversucht, um denen ihr Los zu erleichtern, die um ihrer Gesinnun-gen willen die Weltstadt aufsuchen mußten, in der solchen Persönlichkeiten damals das Leben wahrlich auch nicht leicht wurde. Die dichterische Kraft erlahmte allerdings nun in Freiligrath. Die Schwierigkeiten, die er im Leben gefunden, und die großen Aufgaben, die ihm gestellt waren, hatten wohl verursacht, daß im späteren Lebens­alter der Quell, aus dem so Gewaltiges geflossen war, all­mählich versiegte. Auch war Freiligrath eine Persönlich­keit, die nur sprach, wenn sie Bedeutsames zu sagen hatte. Wenn sich aber ein solch bedeutsamer Anlaß bot, dann fand er auch Worte, denen an Tiefe des Gefühls und Schönheit der Darstellung weniges an die Seite zu stellen ist. Wie gehen doch die Worte zu Herzen, in denen er beim Tode der Frau Gottfried Kinkels den Schmerz zum Ausdruck brachte, den die «versprengten Männer» empfanden, als sie «schweigend in den fremden Sand die deutsche Frau begruben».

Im Jahre 1867 wurde Freiligrath die Rückkehr nach

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Deutschland möglich. Das Genfer Bankhaus, das er in London vertrat, war dem Ruin verfallen. Der Greis sah wieder die Möglichkeit vor sich, noch einmal den bitter­sten Kampf ums Leben aufnehmen zu müssen. Seine Freunde und Bewunderer in Deutschland rafften sich auf, ihm das zu ersparen. Eine Sammlung für eine Ehren­gabe, die dem Dichter für den Rest seines Lebens alle Sorgen abnehmen konnte, hatte den günstigsten Erfolg. Freiligrath verlebte in Cannstatt bei Stuttgart seinen Lebensabend. Wohn er fortan in Deutschland kam, sah er den Widerhall seines Ruhmes. Er widmete sich nun der Übersetzung amerikanischer und englischer Dichter, Longfellows, Burns' u. a. Er war ja immer, neben seiner eigenen schöpferischen Tätigkeit, bemüht, fremde Dich­tungen, denen sein Sinn zugetan war, seinem Volke zu vermitteln.

Aus dem Umstande, daß Freiligrath wertvolle Beiträge zur Kriegslyrik des Jahres 1870 lieferte, hat man sich in einigen Kreisen berechtigt geglaubt zu behaupten, daß sich der große Freiheitssänger im Alter von den Idealen seiner Jugend mehr oder weniger abgewandt und sich mit den neuen politischen Verhältnissen ausgesöhnt habe. Treitschke fand sogar die Worte: «Als nach Jahren alle seine republikanischen Ideale zertrümmert am Boden lagen, der Traum seiner Jugend durch monarchische Gewalten in Erfüllung ging, da jubelte er dankbar, ohne Kleinsinn, der neuen Größe Deutschlands zu, und sein heller Dichter-gruß antwortete der Trompete von Gravelotte.» Wer sol­ches sagt, der sollte auch nicht vergessen zu erwähnen, daß Freiligrath einen mecklenburgischen Orden, der ihm übersandt worden ist, postwendend zurücksandte und daß

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er es ausschlug, den durch Fritz Reuters Tod erledigten Maximilian-Orden anzunehmen. Er hat die Entwickelung der «Neuen politischen Verhältnisse» nur bis 1876 ver­folgen können. Am 18. März dieses Jahres starb er. Es ist kaum anzunehmen, daß die Anhänger Treitschkes auch zu jubeln hätten, wenn Freiligrath die weitere Entwicke­lung noch miterlebt und darüber geurteilt hätte. Wie dem aber auch immer sein mag: wenn der Freiheits sänger im späteren Leben einmal von seinen Dichtungen sagte: «Diese Sachen sind historisch geworden und sollen nicht mehr agitieren», so hat er sich selbst wohl unrecht getan. Seinen Freiheitsgesängen wohnt eine Kraft inne, die noch lange nicht dem Schicksal verfallen kann, bloß «geschicht­lich» zu sein.

#TI

DEUTSCHE DICHTUNGEN DER GEGENWART

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Was uns Deutschen in der hartbedrängten Lage, in der wir uns gegenwärtig befinden, am meisten zum Troste gereichen mag, ist das Bewußtsein, daß unser Volkstum auf Grundfesten steht, die nie durch irgendeine äußere Macht beschädigt werden können. Das deutsche Volk ist ein solches, das in seiner Entwickelung nicht auf physische Machtmittel allein angewiesen ist. Die «starken Wurzeln unserer Kraft» ruhen in den Tiefen der Volksseele, die keinem Gegner zugänglich ist. Und so erleben wir denn die Freude, daß, während uns die äußeren Macht- und

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Lebensverhältnisse entschieden ungünstig sind, mitten un­ter uns die deutsche Poesie Blüten treibt, wie wir sie seit der klassischen Zeit selten erlebt haben. Die Deutschen Österreichs haben das Glück, eine dichterische Erschei­nung zu besitzen, deren Poesie die höchste Stufe der Kunst erreicht und zugleich als der wunderbarste Aus­fluß des deutschen Volksgeistes gelten muß.

Daß wir es hier mit einer Dichterin zu tun haben, kommt gar nicht weiter in Betracht. Wer es von vorn­herein nicht weiß, dem geht es einfach so wie fast allen Kritikern: er hält Marle Eugenie delle Grazie - dies der Name unserer Dichterin - für ein Pseudonym, und es fällt ihm gar nicht ein, daran zu denken, daß die kräftigen germanischen Gestalten des Epos «Hermann» - das die bedeutendste Leistung der genialischen Dichterin ist -, daß diese gewaltige Sprache nicht von einem im besten Mannesalter stehenden Dichter herrühren sollen. Wir haben es hier mit einer gewaltigen Erscheinung zu tun. Delle Grazie ist so originell, wie es nur ein Geist sein kann, der aus dem nie versiegenden Quell deutschen Wesens her­ausgebildet ist, sie ist so kräftig und tief in der Charak­teristik, wie es nur dem deutschen Geiste mit seiner liebe­vollen Vertiefung in das menschliche Herz und Gemüt möglich ist. Sie schildert mit einer solchen Bitterkeit die der edlen deutschen Gesittung gegenüberstehende römi­sche Verderbtheit, wie es nur der vornehm denkende Deutsche imstande ist, der auf seiner moralischen Höhe keine Schonung für das Unlautere, für das Schiechte, sondern nur Verachtung kennt. Es ist der Dichterin ge­lungen, im «Hermann» Gestalten zu schaffen, so recht aus dem Fleische und Blute unseres Volkes. Das ganze Gedicht

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ist getragen von der Hoheit deutscher Gesinnung, von dem schönsten Idealismus.

«Die süße Hoffnung aller deutschen Söhne

Vereinte sich zu diesem Heldenlied;

Jch habs mit kühner Jugendkraft geschrieben -

Ihr kennt den heißen allgewaltgen Drang,

Mein tiefstes Sehnen und mein tiefstes Lieben,

Mein eignes Fühlen ruht in diesem Sang!»

So bevorwortet die Dichterin ihr Werk. Dieses ihr tiefstes Sehnen und Fühien will sie in alle deutschen Lande sen­den:

«Zieh hin, mein Lied, und gleite kühn entschlossen

Durch alle Fluten, die im Meere blaun,

Begrüße hold auch jene deutschen Sprossen,

Die fern im Urwald ihre Hütte baun.

Verkünde ihnen, daß im Heimatlande

Die letzte Kette schwach und machtlos reißt -

Vom Alpengipfel bis zum Nordseestrande

Erwacht der deutsche Mut, der deutsche Geist!»

Es ist der Zusammenbruch der römischen Herrschaft durch die jugendliche Kraft des deutschen Volkes, den uns das Epos schildert. Verrat und Tücke kämpfen ge­gen deutschen Edelmut und deutsche Mannestugend. Kampf und Sieg sind mit einer poetischen Kraft geschil­dert, die nur dem Genie eigen ist. Für jede Lage findet die Dichterin den rechten Ton. Für die Szenen der Schlacht nicht weniger wie für die wunderbaren Natur­schilderungen, die, an der gehörigen Stelle eingeschaltet, der Dichtung zum größten Vorteil gereichen. Sie wird dadurch zum Spiegelbild des germanischen Volkslebens, das sich ja auch im innigen Bunde mit der Natur ent­faltete.

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Die Krone der Dichtung aber ist der letzte Ge­sang: Friede. Hermann wurde uns bis hierher als der Held vorgeführt mit den höchsten kriegerischen Tugenden. Hier im letzten Gesange lernen wir die andere Seite des deutschen Mannes kennen. Er legt sogleich alle Rauheit des Helden ab, wenn sich selbstlose Liebe in sein Herz gießt. Nach dem glänzenden Siege vollzieht sich Her-manns Verbindung mit Thusnelda.

«Der Priester hebt die fromm verklärten Blicke

Und segnet jetzt das wonnetrunkne Paar...

Doch heute schmückt Dich Freias Rosenkranz !»>

Umgeben von seinen Kriegern feiert der Held seine Ver­mählung.

«Im Kampfe stritt er wie ein grimmer Recke,

Doch jetzt verklärt die Liebe sein Gesicht -

Er blickt zur stembesäten Himmelsdecke,

Er hebt das blankgeschliffne Schwert und spricht:

Sein heilger Schimmer nähre unsre Glut.

Die Freiheit schwebe über diese Lande

Und lenke unsre Blicke himmelwärts,

Der Geist der Ahnen knüpfe alle Bande

Und feie unser blutges Waffenerz!

Die Liebe rege ihre goldne Schwinge,

Die Treue mehre ihren Götterhort

Und siegreich durch die weiten Gaue klinge

Das deutsche Lied, das freie deutsche Wort!»>

Das schöne Lied schließt sinnvoll mit einem Traume Hermanns: Germania, «die stolze, leuchtende Germania», erscheint unserem Helden und enthüllt ihm die Zukunft. Hier zeigt sich so recht die genialische Phantasie der

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Dichterin in der wunderbaren Ergänzung und Deutung, die sie der Baldersage gibt. Unsere Ahnen hatten in Bal­der eine erhebende Göttergestalt geschaffen. Balder ist der Gott der Liebe, des Friedens, der im Kampfe gegen das Schiechte untergegangen ist. Germania verkündet Her-mann, daß dieser Balder wieder erscheinen werde:

«Der Gott des Friedens wird vom Tod erstehn!

Er kommt mit seinem ätherhellen Schilde,

Wenn alle Himmeisfürsten untergehn!»

Sie läßt vor seinen Augen «im grünen Sagenhain des Orientes» Balder, unseren liebsten Gott, wieder erwachen.

Christus also ist der einst von dem Bösen überwun­dene Balder, nach dessen Wiederkommen sich das deut­sche Volk sehnte, weil es ihn ja schon kannte, weil es durch seine eigene Göttersage auf ihn vorbereitet war. Kann man in schönerer Weise den Gedanken ausdrücken, daß es gerade das deutsche Volk war, das für das reine unverfälschte Christentum am empfänglichsten war, daß diese edelste aller Kulturschöpfungen in der verderbten Welt des Südens nie Wurzeln fassen konnte, weil man dort einfach nicht empfänglich war. Das durch das ger­manische Wesen verklärte Christentum erscheint dann Hermann als der Vorkämpfer einer neuen Kultur, die mit der «schönen Form der Griechen vereint die deutsche Liebe und den deutschen Geist». Die Göttin sagt ihm dann prophetisch voraus:

«Solang die Eichen ihre Kronen heben,

Die Lerchen singen und die Rosen blühn -

Solange wandelt ihr auf lichten Bahnen,

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Umspielt von einem goldnen Himmelsstrahl,

Solange lebt die Freiheit der Germanen,

Solange siegt das deutsche Ideal!»

Delle Grazie ist die Sängerin jener Liebe, wie sie sich am reinsten in dem selbstlosen Wesen des Deutschen aus­spricht. Darzustellen, wie die reine menschliche Liebe die Quelle alles Großen ist, darzustellen, wie alles Edle und Gute zuletzt auf die siegende Gewalt dieser Liebe zurück­zuführen ist, das gerade ist ihre poetische Sendung. Was dem Stoffe nach so weit auseinanderliegt, wie «Hermann» und der alttestamentarische Stoff «Saul», den sie zu einer Tragödie verarbeitet hat, vereint dieser Grundzug ihres Dichtens. Man hat viel gegen «Saul» eingewendet. Das Wichtigste aber wurde wenig bemerkt. Es ist der tragische Zug ganz eigener Art, den delle Grazie in die Gestalt Sauls zu legen wußte. Mitten in einem Volke, dessen Religion keine Freiheit des Geistes kennt, will Saul das Banner der Liebe entfalten. Er will dem finsteren Jehova, dem Gott der Rache und der Knechtschaft, der sein Volk nicht liebt, sondern nur straft, daher von diesem nicht geliebt, sondern nur gefürchtet wird, den Gott des edleren Menschentums entgegensetzen. Saul ahnt das Christentum, er ahnt den Grundzug desselben, der später sein Symbol in dem Erlöser, dem «Bilde des liebverkiärten Menschen­tums» gefunden hat. Daran muß der Held zugrunde gehen. «Hermann» und «Saul» ergänzen einander; sie zeigen, wie die reine Liebe sich in verschiedenen Zeiten entfaltet. Das ist das Bedeutsame an unserer Dichterin, das ist das echt Künstlerische, daß es tief in das Welt-getriebe eingreifende Probleme sind, die sie in diesen ihren zwei bedeutendsten Dichtungen zu lösen sucht. An die

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letzteren schließt sich ein Bändchen «Gedichte» an. Da­von sind als meisterhaft zu betrachten «Der Nil», «Adam und Eva», «Durst», «Haschisch». Es ist immer ein Zei­chen ursprünglicher Dichterkraft, wenn die Phantasie in so mächtiger Weise wirksam ist, wie dies bei delle Grazie der Fall ist. Das bloße Betrachten einer Photographie der antiken Kolossalstatue «Der Nil» im Vatikan läßt vor dem Geiste der Dichterin in den herrlichsten poetischen Bildern die ganze Geschichte Ägyptens vorüberziehen. «Adam und Eva» ist ein herrlicher Mythus, der uns die Sehnsucht der Geschiechter zueinander und die Wonne der ersten Begegnung von Mann und Weib schildert und der schließlich in einem Gedanken von weittragen­der Bedeutung gipfelt. Den ersten Menschen, die sich ge­funden und sich inmitten der herrlichsten Schöpfung se­hen, ertönt die Stimme Gottes:

«Ich rief dieses wundermächtge Werde,

Ich schuf die schöne Welt, das weite Meer.

Ich hob den dunkeln Erdball aus der Tiefr,

Ich gab der Sonne ihren goldnen Schein,

Ohn mich läg alles leblos da und schliefe,

Ohn mich müßt alles öd und finster sein,

Allüberall sind meine selgen Triebe,

Allüberall ist meiner Güte Spur.

Ich bin die reine immerwährende Liebe,

Ich bin der hehre Geist der Natur!

Doch wenn auch schön und herrlich meine Werke,

Nur Ihr allein zeigt meine ganze Macht:

In Eurer Brust wohnt meine ganze Stärke,

In Euch hab ich den heilgen Geist entfacht.»

Ebenso großartig ist die Anschauung, die in dem Ge­dichte «Durst» zum Ausdruck kommt. Es wird eine Fahrt

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durch die Wüste geschildert. Kaufherren in Begleitung von Sklaven ziehen über die weite sandige Fläche dahin. Sie sehnen eine Oase herbei. Lange schon hat kein Trop­fen Wassers ihre Zunge berührt.

«Voll Kummer und Todesangst

Blicken die reichen Kauf herrn zur Erde.»

Es wird nun die ganze schreckliche Lage der Leute geschildert.

«

So rufen sie unwillkürlich, denn schon

Sehn sie im Geist ihre bleichen Gerippe

Den glühenden Boden der Wüste schmücken.

Was seid ihr im Angesichte des Todes?>

Ists doch hier oben im Reiche des goldnen Lichts,

Du aber mußt hinab

Ins kalte, schaurige Dunkel.»>

So die reichen Kauf herren. Aber es gibt Wesen im Zuge, die den Tod nicht fürchten, die ihn als Erlösung emp­finden. Es sind die Sklaven. Sie hängen nicht an dem ir­dischen Leben, denn: «Was ist für sie das Leben ohne die Freiheit?» Sie fühlen anderen «Durst» als ihre Herren, sie dürsten nach Freiheit.

«Willkommen ist ihnen der bleiche Tod,

Sie fürchten ihn nicht, O nein,

Sie jubeln und jauchzen ihm zu!

Vielleicht, daß drüben in seinem Reich

Die schöne Freiheit für sie auch blüht.»

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Wahrhaft alle Eigenschaften höchster poetischer Kraft schließt das letzte der in der Sammlung enthaltenen Ge­dichte, «Haschisch», in sich. Es stellt uns dar, wie die Dichterin am Throne Gottes selbst die poetische Weihe erhält. Das Ganze ist ein Traum, der sie durch den un­endlichen Weltraum unmittelbar zum Sitze der Göttlichen führt. Die poetische Begabung gibt sich vor allem kund, wenn es der Dichterin gelingt, uns wirkliche Gegenstände in Bilder von außerordentlicher Schönheit zu verwandeln. So, wenn sie den Mond, zu dem sie auf ihrer Fahrt ge­langt, anredet:

«Schon sind wir in deiner Nähe, freundlicher Mond,

Und wunderbar, ganz anders erscheinst du mir jetzt

Als sonst von ragender Warte aus betrachtet

Und wissenschaftlich beschrieben in manchem Buch!

Haha, du bist ja nur eine kleine Gondel,

Die schimmernd durch den unendlichen Weltraum zieht,

Und alle schwärmerischen, verliebten Poeten

Ins schöne Reich der göttlichen Träume führt!»

Der Leser wird aus dem Angeführten ersehen haben, worin das Bedeutende delle Grazies liegt: in der Groß­artigkeit der Anschauung, in dem deutschen Idealismus und in einer reichen Phantasie, die sich vornehmlich in den Regionen des Geistigen bewegt. Wir haben nur noch eines vierten Werkes der Dichterin Erwähnung zu tun, «Die Zigeunerin», eine Novelle. Es fällt uns gar nicht ein, die Mangelhaftigkeit der Form und das Unwahrschein­liche der Situationen dieses Werkchens verteidigen zu wollen. Der Sohn eines Gutsbesitzers wird bei einem Feste, bei dem Musik und Tanz eine Zigeunerbande be­sorgt, von der Schönheit eines Mädchens dieser Bande

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berückt. Dieses Mädchen, eine Walse, ist selbst nach An­sicht ihrer Genossen keine echte Zigeunerin. Sie wissen nicht recht, wie sie eigentlich in die Bande gekommen. Eine seltene Erscheinung innerhalb einer Zigeunergesell-schaft: ein durchaus edles, der schönsten Gefühle zugäng­liches Mädchen, das jenen Gutsbesitzersprößling seit der Begegnung leidenschaftlich liebt. Nach einiger Zeit sehen sie sich wieder. Das Verhältnis wird fortgesetzt, das Mäd­chen verführt und dann verlassen. Der Treulose vermählt sich mit Etelka, der Tochter eines Stuhlrichters. Als das Paar von dem Priester gesegnet wird, erscheint wahn­sinnig die Zigeunerin, die Rechte ihres Herzens geltend zu machen. Sie wird ins Gefängnis geworfen. Ein alter Zigeuner, auf dessen väterlichen Rat sie sonst stets ge­hört, nur nicht, als der Verführer nahte, befreit sie. Die Wahnsinnige ergreift den Dolch des Greises, eilt in das Haus des Treulosen und ermordet ihn. Sie und ihr Befreier fliehen, von den Leuten des Gutsherrn verfolgt. Der Alte fällt durch einen nachgeworfenen Stein, das Mädchen stößt sich selbst den Dolch ins Herz.

Bei allem Mangel dieses Werkchens wird man aber auch hier, wenn man unbefangen sein will, die herzinnigen Töne finden, mit denen die Dichterin menschliche Ver­hältnisse und die Konflikte, die sie im Gefolge haben, darzustellen weiß, selbst dann, wenn sie sich innerhalb einer verachteten, verwahrlosten Menschenklasse abspie­len.

Wenn wir erwägen, daß die Schöpferin von all dem erst am Anfange der Zwanzigerjahre steht, so wird wohl keine Voraussetzung zu kühn sein, die wir hegen über das Herrliche, das sie unserem Volke noch schenken wird.

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Jedenfalls ist es Pflicht jedes Deutschen, der für die Bil­dung seines Volkes Herz und Sinn hat, die Entwickelung dieses Geistes zu verfolgen. Ein Volk, das solche Blüten treibt, hat nichts zu fürchten. Nicht von der Gegenwart, nicht von der Zukunft. Wenn uns von mancher Seite gesagt wird: das deutsche Volk hat seine Rolle aus­gespielt, jetzt kommen jüngere Völker an die Reihe, so erwidern wir: wir haben noch nichts Greisenhaftes, so­lange sich solch jugendliches Leben in unserer Mitte ent­wickelt.

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ZWEI NATIONALE DICHTER

ÖSTERREICHS

Fercher von Steinwand und Marie Eugenie delle Grazie

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Das Totschweigen ist eines der wirksamsten Mittel, wel­cher sich unsere Journalistik bedient, um nur diejenigen literarischen Erscheinungen zur Geltung kommen zu las­sen, die ihr bequem sind. Die Pflicht des I(ritikers, be­deutenden Talenten den Weg zum Publikum zu ebnen, kennen unsere Zeitungsmenschen gar nicht mehr. Man braucht nur die dem wahren Deutschen eigene Vornehm­heit zu besitzen, die es verschmäht, durch etwas anderes denn durch sein Schaffen zu wirken, so wird man ver­gebens auf den gebührenden Einfluß in der Literatur hoffen. Wir erinnern uns, daß ein einflußreicher Wiener Kritiker in einer Zeit, wo Hamerling auf der Höhe seines Schaffens stand, von einem «gewissen Herrn Hamerling in

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Graz» sprach, daß journalistische Unverschämtheit es so­gar noch beim Erscheinen des «Homunkulus» wagte, von einem unserer größten deutschen Geister die Worte nie­derzuschreiben: «Ein in der Provinz nicht unbekannter Dichter.» So behandelt man die Größten, die sich nach jahrzehntelangem Ringen Anerkennung endlich erzwun­gen haben. Das sind eben Früchte des von Schablonen-liberalismus herangezogenen Zeitungswesens. Zu diesen Früchten gehört es, daß das deutsche Volk in Öster­reich so gut wie nicht weiß, daß am 22. März in Wien ein Dichter seinen zweiundsechzigsten Geburtstag gefeiert hat, der zu den nationalsten im edelsten Sinne des Wortes gehört. Wer Hamerlings «Blätter im Winde» kennt, wird darinnen ein kleines Gedicht finden, das an Fercher von Steinwand gerichtet ist und dessen herrlicher Schöpfung «Gräfin Seelenbrand» den verdienten Tribut der Aner­kennung zuerteilt.

Wer ist Fercher von Steinwand? Wir sagen es frei und offen: einer der begabtesten und eigenartigsten deutschen Dichter, der sein Leben lang unbeachtet geblieben ist, weil ev sich die Freundschaft der Soldschreiber nicht zu gewin­nen wußte. Johann Kleinfercher - dies sein wahrer Name -ist am 22. März 1828 zu Steinwand in Kärnten geboren. Er widmete sich in Wien naturwissenschaftlichen und phi­losophischen Studien unter den größten Entbehrungen. Seine große Begabung wurde von einsichtigen Menschen gerade in dem Augenblicke erkannt, als Fercher nahe daran war, in der materiellen Not des Lebens zugrunde zu gehen. Nicht hoch genug zu schätzende Einsicht eines Wiener Gelehrten verschaffte Fercher eine sorgenfreie Lebenslage. Seit dieser Zeit lebte der Dichter ganz seinen

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literarischen Neigungen. Veröffentlicht hat er wegen der Ungunst der Verhältnisse wenig. «Dankmar», ein Trauer­spiel (1867), «Gräfin Seelenbrand», eine Dichtung (1874), und «Deutsche Kiänge aus Österreich» (1881) sind alles, was wir in Buchform von ihm besitzen. Einzelne Dich­tungen, die in Zeitschriften erschienen sind, wie zum Beispiel der in der «Deutschen Wochenschrift» veröffent­lichte «Chor der Urtriebe», reihen sich würdig an die größeren Werke an. Fercher ist eine deutsche Individuali­tät. In ihm erscheint das Volkstum zur wahrhaft künst­lerischen Geistigkeit verklärt. In seinen «Deutschen Klän­gen» sind Gedichte zu finden, die unbedingt zu den schönsten der deutschen Literatur zählen. Tiefe des Ge­fühis und geistige Höhe der Anschauung vereinigen sich hier mit einer bewunderungswürdigen Handhabung der Form. Dabei spricht uns namentlich der hohe germani­sche Ernst dieser Schöpfungen an. Oft erhebt sich Fercher zu einer Höhe, die wir nur in Schillers «Spaziergang» oder Goethes «Weltseele» wiederfinden, wie zum Beispiel in dem erwähnten «Chor der Urtriebe». Wir können na­türlich nicht daran denken, hier eine erschöpfende Cha­rakteristik unseres heimischen Dichters zu geben; wir wollten nur darauf hindeuten, welche literarische Gewis­senlosigkeit unsere Zeit beherrscht. Fercher hat gewiß noch Schätze in seinem Schreibpult; aber er kann bei der Verwahrlosung unserer literarischen Verhältnisse auf kein Verständnis hoffen; und deshalb unterläßt er wohl lieber die Veröffentlichung.

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Ein zweites Talent, auf das wir hier hinweisen wollen, ist Marie Eugenie delle Grazie Zwar die deutsch-nationale

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Provinzpresse hat hier ihre Schuldigkeit getan, aber die Wiener Presse scheint sich delle Grazie gegenüber nicht anders benehmen zu wollen wie bei Fercher. Wir haben es hier mit einer Persönlichkeit zu tun, von der wir das Größte hoffen können. Die bisherigen Werke «Gedichte», «Die Zigeunerin», «Hermann», ein episches Gedicht, und «Saul», ein Drama, sind wahrhaft mehr, als was man von einem Talente bis zum 21. Jahre nur irgend zu erwarten berechtigt ist. «Hermann» ist ein deutsches Epos, das ganz durchtränkt ist von dem edlen Idealismus unseres Volkes. Wir legen einen besonderen Wert darauf, daß hier die welthistorische Mission der Deutschen uns mit solcher Klarheit vor die Seele ge­führt wird. «Saul» und «Hermann» ergänzen sich in die­ser Beziehung. In «Saul» tritt uns inmitten des jüdischen Volkes eine Persönlichkeit entgegen, die diesem Volke den Gott der Liebe predigen will. Aber das Volk Jeho­vas hat kein Verständnis dafür. Darinnen liegt die Tra­gik Sauls. Volles Verständnis für die Religion der Liebe konnte nur ein Volk haben, das ganz unegoistisch dem Ideale lebt. Das ist bei den Deutschen der Fall. Das soll aber in delle Grazies «Hermann» gezeigt werden. Auch hier begegnen wir wieder deutschem Hochsinne in mei­sterhafter Form. Wenn wir nun schon in den vier an­geführten Werken delle Grazies vieles Bewundernswerte finden, nach den in verschiedenen Zeitschriften jüngst erschienenen Gedichten finden wir, daß dieses Talent seine eigentliche Richtung erst jetzt gefunden hat, daß uns in zukünftigen Schöpfungen desselben das bevorsteht, was wir als die künstlerische Konsequenz der gegenwärtigen Weltauffassung ansehen müssen. Es kommt natürlich dabei

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gar nicht darauf an, wie man sich zu dieser Welt­anschauung selbst verhält. Man kann, wie zum Beispiel der Schreiber dieser Zeilen, ein entschiedener Gegner der­selben sein; aber man hat die Pflicht, jenes Talent als solches zu bezeichnen, in welchem diese Anschauung ihre künstlerische Verklärung findet. Und es erscheint uns notwendig zu betonen, daß diese Verklärung notwendig aus deutschem Geiste hervorgehen mußte. Die mecha­nisch-naturalistische Auffassung des Daseins bedingt einen Gemütszustand, der nur in einem kerndeutschen Gemüte jenen tiefen Schmerz hervorbringen konnte, den delle Grazies jüngste Gedichte uns vorführen. Man muß die Tiefe deutschen Fühlens besitzen, um jenen Schmerz in voller Würde darzustellen. Und es hat etwas furchtbar Erschütterndes, wenn wir folgender Stimmung gegen­überstehen: «Du Gaukelspiel seelenloser Atome, das aus rein mechanischer Ursächlichkeit uns Ideale vorzaubert, die großartig, schön und erhaben sind. Du kannst mir das Dasein nur wertlos erscheinen lassen. Ohne Halt schwebe ich da, inmitten Deines Possenspiels. Ich er­kenne es als Possenspiel, aber ich kann nicht heraus aus Deinem Kreise. Du führst mir Deinen wertlosen Dunst als Inhalt meines Lebens vor. Du erzeugst Bilder des Schönen, aber in Körpern, in denen Verwesung frißt.» Wer diesen Schmerz nicht versteht, der hat kein Herz gegenüber der Öde unserer gegenwärtigen Anschauun­gen. Delle Grazies neueste Dichtungen sind der Wider­schein des modernen Geistes aus dem deutschen Herzen. Welche Stellung wir dazu einnehmen, das ist eine ganz andere Frage; daß wir an ihnen, als an einer bedeu­tungsvollen Erscheinung, nicht vorübergehen dürfen, erscheint

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mir ein Gebot des ästhetischen Gewissens. Es gibt Dinge, mit denen sich jeder Gebildete eben auseinander­setzen muß. Mit allen wahrhaften «Naturen» hat es delle Grazie gemein, Fragen an das Schicksal zu stellen, uns ein «Menschengeschick-Bezwingendes» vorzuführen. Da­für gibt es heute freilich wenig Verständnis, wo wir nur mehr dramatisierten Blödsinn aus der Feder seichtester journalistischer Borniertheit in den Theatern zu hören bekommen.

Es gereicht jedem, der ein Herz und einen Sinn hat für sein Volk, wahrhaft zum Trost, daß es noch Er­scheinungen wie Fercher und delle Grazie gibt, in einer Zeit, in welcher Leute unsere Literatur beherrschen, de­nen alles zu einer solchen Herrschaft fehlt. « Saul» von delle Grazie wurde von Laube als zur dramatischen Auf­führung vollkommen geeignet gefunden; im deutschen Wien führt man aber lieber wieder ein Stück von dem Verfasser der «Wilddiebe» auf, wie uns jüngst angekün­digt wurde. Wollten wir die Schande, die dem deutschen Volke und seiner Kunst damit angetan wird, beschrei­ben, wir müßten in einen zu scharfen Ton verfallen. Darum lieber nicht...

GOETHE UND DIE LIEBE UND GOETHES DRAMEN *

#G032-1971-SE131 - Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884 - 1902

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II

G032-SE133

GOETHE UND DIE LIEBE UND GOETHES DRAMEN *

Von A.bis Z.

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Was für Homer der heidnische Götterglaube, was für Klopstock die Vorstellungen des Christentums: ein Element, durch das sich ihre Dichtungen über ein gewöhn­liches Abbild der alltäglichen Wirklichkeit erheben und von einer idealen Welt durchtränkt, beseelt erscheinen, das ist für Goethe seine Auffassung der Liebe im weitesten Sinne.

Das Kapitel «Goethe und die Liebe» hat schon viel­fache Bearbeitung gefunden; das Verdienst, gezeigt zu haben, daß für Goethe die Liebe nicht eine Eigenschaft seines Wesens ist neben anderen, sondern der Grundzug seines ganzen Dichtens und Denkens, daß sie seine Reli­gion ist, daß alle seine Schöpfungen erst dann die richtige Würdigung erfahren, wenn man sie von diesem Gesichts­punkte aus betrachtet, gebührt den eingangs erwähnten Schriften Schröers.

Zeigt sich der Charakter von Goethes Anschauung von der Liebe naturgemäß vor allem in seinen Verhältnissen zur Frauenwelt, so geht sie doch immer mehr in jene spi­nozistische Weltliebe über, bei der sich das Individuum selbst vergißt und im Aufgehen in das All seine Seligkeit findet.

Es ist nichts leichter, als Goethes Verhältnisse zu den Frauen in ein falsches Licht zu rücken. Es muß ja auch

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* «Goethe WLd die Liebe.» Zwei Vorträge von K. J. Schröer, Heilbronn, 1884. - Goethe's Dramen erster und zweiter Band in Kürschner's «Deut­scher National-Literatur». Herausgegeben von K. J. Schröer.

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besonders die Frauenwelt beunruhigen, wenn man hört, Goethe habe in seinem Leben zehnmal leidenschaftlich ge­liebt. Erwägt man aber den Kern aller dieser Liebesver­hältnisse, so kommt man alsbald von jeder Anklage zu­rück. Von einer frivolen, die Frau erniedrigenden Auf­fassung der Liebe kann bei Goethe durchaus nicht die Rede sein. Er sucht in der Frau diejenigen Seiten des menschlichen Geistes, die dem Manne abgehen: natür­liche Anmut, immerwährende Frische und Kindlichkeit. Das ist für ihn das «Göttliche im Weibe», das «Ewigweib­liche», zu dem er verehrungsvoll emporblickt und in die­ser Verehrung des geliebten Wesens, sein eigenes Selbst vergessend, aufgeht. Die Geliebte verklärt sich in seiner Phantasie zu einem Traumwesen, das dann freilich nur in seinem Innern lebt und über die Wirklichkeit weit hinaus­geht. Die letztere reichte auch nicht aus, seinen gewalti­gen Geist zu befriedigen. Er suchte nach Vertiefung aller Empfindung, nach aufregenden, den ganzen Menschen in Anspruch nehmenden Erlebnissen. Er mußte selbst schaf­fen, was der Wirklichkeit dazu fehlte. Ein Liebesverhältnis mußte erst die Gestalt einer poetischen Fiktion annehmen, damit es geeignet war, der ganzen Menschheit Glück und Weh auf seinen Busen zu häufen. Dichtung und Wahrheit verschmilzt ihm in solchen Momenten in Eins, die Liebe übergießt ihm das Tatsächliche mit einem poetischen Zau­ber, er lebt sich in eine ideale Situation hinein, in einen poetischen Traum und - eine dichterische Schöpfung ent­steht naturgemäß in seinem Geiste.

In den angeführten Schriften führt uns Schröer in den Geist einer Reihe Goethescher Dichtungen an der Hand der dargelegten Anschauungen ein. Die Schrift «Goethe

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und die Liebe» (Seite 1 bis 26) zeigt uns zuerst, wie eines der bedeutsamsten Verhältnisse des Dichters, das zu Lili, ihm Veranlassung zur «Stella» gab. Dieses Verhältnis führte sogar bis zur Verlobung. Aber gerade dieser Ernst der Situation weckte Goethe aus seinen Träumen, er wird die Wirklichkeit gewahr - und erkennt die Notwendigkeit, sich von Lili zu trennen. Bei Betrachtung seines neuen Liebesglückes mochte wohl der Gedanke an sein Los­reißen von der als Straßburger Student von ihm geliebten Friederike in Sesenheim besonders lebhaft vor seiner Seele aufgetaucht sein. Damit war das Problem gegeben, das «Stella»lösen sollte: zwei Frauen sind von einem Manne angezogen, jede hat den Anspruch, ganz sein zu sein. Ein Seitenstück zu Werther, wo zwei Männer einer Frau gegenüberstehen.

In dem zweiten Teil der Schrift: «Goethe und Marianne Willemer»(Seite 27 bis 63) sehen wir, wie ein Verhältnis der zartesten Natur noch im Alter den Dichter zu einem der größten und schönsten Werke unserer Literatur, zu seinem «Westöstlichen Diwan» begeisterte.

Von «Goethes Dramen» enthält der erste Band die klei­nen Jugenddichtungen Goethes. Eine durchgreifend neue Anordnung der Dramen fällt hier in die Augen, bei der alles zusammengestellt erscheint, was aus einem gleichen Bedürfnisse des Dichters hervorgegangen ist, so daß wir ein Gesamtbild Goetheschen Wirkens und Lebens erhal­ten, in dem jede kleinste Schöpfung an ihrer gehörigen, in Goethes ganzer Natur begründeten Stelle erscheint. Der erste Band umfaßt Bekenntnisse, Puppenspiele, Fastnacht­spiele und Satiren. Bekenntnisse sind poetische Beichten Goethes, die für ihn die Bestimmung hatten, sein bedrängtes

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Inneres zu befreien, wenn es aus einem aufregenden, erschütternden Erlebnisse gedrückt und oft wohl auch schuldbewußt hervorging. Die Laune des Verliebten ist ein Bekenntnis, in dem er Buße tut für die Torheit, die er als Leipziger Student gegenüber Käthchen Schönkopf be­gangen; er hatte sie erst leidenschaftlich geliebt, dann aber ohne Not gequält, ja aus dieser Quälerei der Geliebten so­gar eme Unterhaltung gemacht. In welchem Sinne «Stella» ein Bekenntnis ist, haben wir gesehen. Aber auch die «Geschwister» gehören in diese Reihe. Dieses kleine, seelenvolle Stück ist eine Verklärung seines edlen Ver­hältnisses zu der Besänftigerin seines Herzens, zu Frau v. Stein, an deren ruhigem, resignierendem Wesen sich sein «Sturm und Drang», seine Leidenschaftlichkeit be­ruhigte, die er nach Weimar mitbrachte.

Der übrige Teil dieses Bandes («Das neu eröffnete Pup­penspiel», «Satyros», «Hans-Wursts Hochzeit», «Prolog zu Bahrdt», «Götter, Helden und Wieland», «Triumph der Empfindsamkeit», «Die Vögel») zeigt uns Goethes selbstloses Wesen, das in der Natur, in der Wirklichkeit stets das Echte, Ursprüngliche sucht im Kampfe gegen Verf>älschung der Natürlichkeit durch Mode, Pedanterie, engherzige Anschauung usw. Die Naturschwärmerei, die in Charlatanismus ausartet, der aufdringliche Parasitismus, der sich an hervorragende Persönlichkeiten herandrängt, in alle Herzensangelegenheiten mischt, um seinen niedri­gen Zwecken zu dienen, werden im « Satyros», beziehungs-weise im « Pater Brey» gegeißelt. Die Empfindsamkeit, die eine Krankheit der Zeit (das Siegwartfieber) bildete, findet im «Triumph der Empfindsamkeit» ihre Abfertigung. Klopstocks moralisierendes Pathos wird im sittenrichterlichen

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Schuhu in den «Vögeln» verspottet. Wieland wird in «Götter, Helden und Wieland» der Text gelesen, weil er dem deutschen Publikum in seiner «Alceste» und im «Teutschen Merkur» eine Karikatur der alten Götter und Helden vorgeführt. Ein Gesamtbild der literarischen Zu­stände des damaligen Deutschlands bieten: «Das Jahr­marktsfest von Plundersweilen» und «Das Neueste aus Plundersweilen».

Der zweite soeben erschienene Band dieser Dramenausgabe enthält Goethes Operntexte mit vorangestellter Abhandlung über Goethes Verhältnis zur Musik. Der große Lyriker, der leidenschaftliche Goethe, in dem es stets sang und klang, konnte nicht ohne Berührungspunkte mit dieser Kunst bleiben. Es ist rührend, zu sehen, wie er, ohne eigentliche Begabung für Musik, dieser Kunst Aufgaben stellte, die keiner der vielen mit ihm in näherer Beziehung stehenden Musiker zu lösen vermochte. «Seine intensive Teilnahme an der Entwicklung dieser Kunst tritt so mächtig hervor in seinem Leben, daß der unmusikalische Goethe oft wie der einzlge Musiker in der Wüste erscheint, auch in dieser Hinsicht hinausgehend über seine Um­gebung.» Er wußte der Musik Texte zu liefern von der Art, daß Beethoven sagen konnte, « es läßt sich keiner so gut komponieren wie er».

Sowohl die im ersten Bande enthaltenen kleineren Schöpfungen als auch diese Singspiele («Erwin und Elmire», «Claudine», «Lila», «Jery und Bätely», «Die Fischerin», « Scherz, List und Rache», « Die ungleichen Hausgenossen», der « Zauberflöte» zweiter Teil) fanden bisher beim gebildeten Publikum wenig Beachtung. Sie traten neben den größeren Schöpfungen des Dichters in

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den Hintergrund. Die Goethe-Forscher haben sie bisher zu nichts anderem als zu Betrachtungsgegenständen für den Literarhistoriker zu machen gewußt. In dieser Aus­gabe werden sie durch die liebevolle Hingebung des Herausgebers an den großen Dichter für die Gebildeten erst gewonnen. Alles erscheint im Zusammenhange, verbunden durch die Anschauung des gewaltigen Wesens Goethes.

Eine Gesamtdarstellung des Lebens und der Schriften Goethes, von dem Geiste durchdrungen, der diese Aus­gabe auszeichnet, wäre ein nationales Gut, das mächtig fördernd auf das deutsche Volk wirken müßte.

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FAUST NACH GOETHES EIGENER

METHODE ERLÄUTERT

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Besprechung von: Faust von Goethe, mit Einleitung und fortlaufender Erklärung herausgegeben von Karl Julius Schröer. Zweite, durchaus revidierte Auflage. Hellbronn 1888.

Bei dem großen Umfange, den die Goethe-Literatur heute gewonnen hat, läuft man Gefahr, das wahrhaft Bedeu­tende, das innerhalb derselben auftritt, zu verkennen oder wohl gar zu übersehen. Wir möchten wünschen, daß das nicht der Fall sei bei Schröers Arbeiten über Goethe, die eine durchaus eigenartige Erscheinung innerhalb dieser Literatur sind. Es sei uns hier gestattet, im Anschlusse an die soeben erschienene zweite Auflage des Schröerschen Faust-Kommentars auf diese Eigenart hinzuweisen. Die Betrachtungsweise, mit der Schröer an Goethe herantritt,

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ist, um es kurz zu sagen, jene, die am meisten von der durch Goethe erreichten Bildung selbst befruchtet ist. Für Schröer sind des Dichters Schriften nicht einfach das Ob­jekt, an das er sich mit dem gewöhnlichen Interesse des Philologen oder Literarhistorikers macht, um es nach der üblichen Methode der Forschung zu zergliedern. Schröer suchte vor allem seine eigene Methode an Goethe selbst heranzubilden, um den Schlüssel zum Verständnisse des Dichters in diesem selbst zu finden, nach dem Grund-satze: Bezeichnet Goethe wirklich den Höhepunkt deut­scher Bildung, dann kann er nur mit seinem eigenen Maße gemessen werden. Der große Geist wird für uns am frucht-barsten, wenn wir von ihm erst lernen, bevor wir kritisch an ihn herantreten.

Was uns Goethe so groß erscheinen läßt, ist der große Stil, von dem all sein Wirken durchzogen ist; das ist seine Weltanschauung und die ursprüngliche Kraft, die in ihm lag und die noch größer ist als alle seine Werke. Er konnte sich nie erschöpfen, weil sein Wesen, schier unendlicher Formen fähig, nach jeder Schöpfung sich zu neuem Wir­ken verjüngte. Deshalb werden wir von seinen Werken immer wieder auf sein Leben, auf seine Persönlichkeit ge­wiesen. Deshalb ist es uns gerade bei ihm so wichtig zu wissen, wie seine Schöpfungen entstanden sind. Darauf geht Schröers Forschung aus. Obwohl auch er das philo­logische Moment nie vergißt, macht er es doch nie zum Selbstzweck, sondern behandelt es stets nur als Mittel, tie­fer in das Getriebe des Goetheschen Geistes einzudringen. Schröer verwendet das Tatsächliche, die Einzelheiten, wor­auf die anderen Goethe-Forscher so hohen Wert legen, immer im Dienste der Idee. Goethe sagt von seinem Schaffen

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selbst: «Ich raste nicht, bis ich einen prägnanten Punkt in den Erscheinungen finde, von dem sich vieles ableiten läßt, oder vielmehr, der vieles freiwillig aus sich hervorbringt und mir entgegenträgt.»

Diesen prägnanten Punkt müssen wir wieder finden, wenn wir den Dichter verstehen wollen. Und uns bis dahin zu führen, das ist die Absicht Schröers. In bezug auf den ersten Teil zeigt nun der Erklärer, wie Goethe von der Faust-Idee ergriffen wird und wie sie sich dann in des­sen Geist umgestaltet. Die Faustsage in der ursprünglichen Gestalt des sechzehnten Jahrhunderts ist protestantisch orthodox. Faust ist da im Gegensatz zu Luther gedacht. Beide Männer haben mit der bestehenden Kirche gebro­chen, sind aus den historisch überkommenen Formen der Religion herausgetreten. Aber in völlig entgegengesetzter Weise. Luther tut es mit der Bibel in der Hand, hinwei-send auf das geschriebene Wort Gottes. Er wirft dem Teu­fel, das ist nach damaliger Ansicht die weltliche Gelehr­samkeit, das Tintenfaß an den Kopf Anders Faust. Er sagt sich nicht nur von der Kirche, sondern auch von der Theologie selbst los, «wolte sich hernacher keinen Theo­logum mehr nennen lassen, ward ein Weltmensch, nante sich ein D. Medicinae, der die Heilige Schrift ein weil hin der die Thür und unter die Bank gelegt hat». Das heißt denn doch nichts anderes als: Faust hat die von höhern Mächten vorgezeichneten Bahnen des Denkens verlassen und will als wahrhaft freier Mensch sich selbst Ziel und Richtung bestimmen. Deshalb verfällt er nach der An­schauung des sechzehnten Jahrhunderts den höllischen Mächten. Goethe machte daraus nun den Faust seiner Zeit, der nicht zugrunde gehen darf weil er ein «Weltmensch»

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geworden, dem die himmlische Schar mit herz­lichem Willkommen begegnet, weil er sich «immer stre­bend bemüht», wenn auch nach dem echt protestantischen Prinzipe stets auf die eigene Arbeitskraft bauend. Aus einer protestantisch-orthodoxen machte Goethe die Faust-Idee zu einer protestantisch-freien. Auf diesen protestan­tischen Charakter der Faustsage hat zuerst Schröer hin­gewiesen, und er hat damit in die Erklärung von Goethes Faust einen großen Zug gebracht, er hat sich ein bedeu­tendes Ziel gestellt, indem er alle Einzelheiten dazu ver­wertet, diesem hiemit klargestellten Grundcharakter der Dichtung in das rechte Licht zu setzen. Zu zeigen, wie die einzelnen Bilder, aus denen die Dichtung besteht, in Goethes Geist entstanden sind und wie sie sich nach und nach jenem leitenden Grundgedanken gemäß zu einem Ganzen zusammengefügt haben, das ist Schröers zweite Aufgabe. Denn man darf sich, trotzdem Goethe stets von hohen ideellen Motiven geleitet war, nicht denken, daß er nach Verkörperung abstrakter Ideen strebte. Die Ideen erfüllen ihn, seine Natur, sein Schaffen; was er uns aber in seinen Werken bietet, sind konkrete Bilder. Er mußte immer von irgendeiner Anschauung mächtig ergriffen werden, dann suchte er dieser eine poetische Gestalt zu geben. Deshalb ist auch Faust bei all seiner Tiefe so lebens-voll, so lebensfrisch. Alles trägt den Charakter des Indivi­duellen, nirgend ist trockene, abstrakte Allgemeinheit zu finden. Es ist Schröer in vielen Fällen gelungen, den Ur­sprung solcher Bilder, ja oft den Ursprung der Stimmun­gen nachzuweisen, die im Faust zum Ausdruck gekommen sind. Damit hat er wohl mehr zum Verständnisse des­selben getan, als durch den Nachweis, wann die erste

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Niederschrift dieser oder jener Szene erfolgt ist, je getan werden kann. Wir wollen nur einzelnes herausheben. Wenn Goethe im sechsten Auftritt des dritten Aufzuges der «Mitschuldigen» Söller die Worte sagen läßt: «0, wie mir Armem graust, es wird mir siedend heiß. So war's dem Doktor Faust nicht halb zu Mut. Nicht halb war's so Richard dem Dritten !» so können wir daraus schließen, daß er schon beim Niederschreiben dieser Zeilen, das ist 1769, die Gestalt Fausts in vollem tragischen Ernst ins Auge gefaßt hat. Dazu nimmt Schröer die andere Tatsache, daß Goethe, nachdem er 1768 kränklich von Leipzig nach Frankfurt zurückgekehrt war, sich mit den Ansichten des Theophrastus Paracelsus befaßte und sich freut, daß ihm hier die Natur, wenn auch vielleicht in phantastischer Weise in der « Goldenen Kette des Homer» (der aurea catena Homeri der Alchemisten), in einer schönen Ver­knüpfung dargestellt wird, die uns doch ganz deutlich hin­weist auf die Verse 447 ff. des Faust:

Wie Alles sich zum Ganzen webt,

Eins in dem Andern wirkt und lebt!

Wie Fimmelskräfte auf und nieder steigen

Und sich die goldnen Eimer reichen!

Im Zusammenhange damit lesen wir in einem Briefe vom 13. Februar 1769 an Friederike Oeser: «Ich habe Sie so selten gesehen - als ein nachforschender Magus einen AI­raun pfeifen hört.» Darinnen liegt der Ursprung des ersten Faustmonologes. So führt uns Schröer an der Hand der psychologischen Entstehung der einzelnen Teile des Faust zum vollen Verständnisse desselben. In dem oben An­geführten sehen wir doch deutlich, wie schon 1769 in

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Goethes Geist die Gestalt Fausts auftaucht und welche Bedeutung sie hat. Ein anderes Beispiel ist das folgende. Beim ersten Akt des zweiten Teils, wo so voll überlege­nen Humors das Treiben am Kaiserhofe dargestellt wird, werden wir auf Goethes Lektüre des Hans Sachs verwie­sen. Die beiden Gedichte Sachsens «geschicht kalser Maxi­rniliani löblicher gedechtnus mit dem alchemisten» und « wunderlich geschicht kaiser Maximiliani löblicher ge­dechtnus von einem nigromanten», die Goethe 1775 las, machten auf den Dichter einen lebendigen Eindruck, hier fand er einen prägnanten Punkt, aus dem sich vieles ab­leiten läßt. Wir erkennen diesen lebendigen Eindruck in der Schilderung des Treibens am Kaiserhofe und in der Beschwörungsszene der Helena wieder. In ähnlicher Weise entstand das großartige Bild am Schluß des zweiten Teiles, wo die guten und bösen Geister um Fausts Seele kämpfen. Wir sehen in einem Briefe Goethes an den Maler Fr. Mül­ler vom 21. Juni 1781 den Gedanken in der Einbildungs-kraft des Dichters lebendig werden, indem er über ein Bild spricht, das den Streit des Erzengels Michael mit dem Teufel « über dem Leichnam Mosis» darstellt. Er sagt da: «Wenn man dieses Sujet behandeln wollte, so konnte es, dünkt mich, nicht anders geschehen, als daß der Heilige, noch voll von dem anmutigen Gesichte des gelobten Lan­des, entzückt verscheidet und Engel ihn in einer Glorie wegzuheben beschäftigt sind. Denn das Wort: , läßt uns zu den schönsten Aussichten Raum, und hier könnte Satan höchstens nur in einer Ecke des Vorgrundes mit seinen schwarzen Schultern kontrastieren und, ohne Hand an den Gesalbten des Herrn zu legen, sich höchstens nur umsehen, ob nicht auch für ihn etwas

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hier zu erwerben sein möchte.» Dazu bemerkt Schröer : «Moses scheidet beim Anblick des gelobten Landes, wie Faust im Hinblick auf Vollendung seines Werkes. In einer Glorie von oben rechts kommt die himmlische Heerschar, um Faust wegzutragen, und da die Engel ihn erheben, sehen wir Mephistopheles sich umsehend, wörtlich wie in dem Brief an Müller den Satan.» Gerade hier möchte man am ehesten glauben, Goethe sei von einer abstrakten Idee ausgegangen, und es ist interessant zu sehen, wie auch da ein konkretes Bild zugrunde liegt.

Goethes Faust bedaif eines Kommentars. Die Natur-frische des ersten Teiles und die hohe Kultur des zweiten, die uns die Dichtung so anziehend erscheinen lassen, bie­ten zugleich dem Verständnisse Schwierigkeiten ganz eige­ner Art. Erst wenn wir den Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen des Goetheschen Geistes erkennen, drin­gen wir ganz ein. Diese Erkenntnis sucht Schröer zu ver­mitteln. Sie ist insbesondere für den zweiten Teil notwen­dig, der so vielfach mißverstanden und verkannt worden ist. Wir hoffen, gerade dieser Kommentar werde viel dazu beitragen, daß die Ansicht allgemein werde, die Schröer mit den Worten ausspricht : «Ein Werk nachlassender Dichterkraft ist es bei alledem keineswegs; es ist voll des Lebens, bewundernswert im Einzelnen und als Ganzes.»

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ROBERT HAMERLING : «HOMUNKULU S »

Modernes Epos in 10 Gesängen

Homburg und Leipzig 1888

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Hamerlings Eigenart liegt in einem glücklichen Zusam­menwirken einer reichen Phantasie mit einem den Sachen auf den Grund gehenden Tiefsinn. Dadurch scheint er der berufenste poetische Darsteller jener geschichtlichen Epochen zu sein, in welche die Wendepunkte der Mensch­heitsentwickelung fallen. Sein Tiefsinn läßt ihn überall die treibenden Kräfte, die springenden Punkte in der Ge­schichte finden, und seine herrliche Phantasie verkörpert dieselben in einer Fülle von Gestalten, in denen sich der ganze Inhalt ihrer Zeit spiegelt und die dabei doch voll individuellen Lebens sind. Hamerling schildert zumeist Zeiten, in denen eine hohe Kulturstufe sich auf ein sin­kendes Geschlecht vererbt, das den Aufgaben, die ihm auf der von den Vorfahren erreichten Bildungshöhe ge­stellt werden, nicht mehr gewachsen ist. In solchen Zeiten ist der Mensch nicht imstande, die Fülle des Geistes zu fassen, der er gegenübersteht, und sie wird deshalb in ihm zum Zerrbilde: die auf dem Höhepunkte angelangte Kul­tur verkehrt sich in ihr Gegenteil und verzehrt sich selbst. Dies zeigt der Dichter in «Ahasver» für die römi­sche, in der «Aspasia» für die griechische Kultur; im «König von Sion» und in « Danton und Robespierre» ist seine Grundidee ganz die gleiche. Von derselben Idee ist nun auch sein neuestes Epos « Homunkulus» getra­gen. Es stellt jene Karikatur dar, zu der unsere moderne Kultur wird, wenn man sich vorstellt, daß sie auf den

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von ihr eingeschlagenen Pfaden bis zu den letzten Konse­quenzen kommt. Homunkulus ist der Repräsentant des modernen Menschen. Nichts anderes ist ja für diesen so bezeichnend als der gänzliche Mangel dessen, was man In­dividualität nennt. Jener Quell immer frischen Lebens, der uns stets Neues aus unserem Inneren schöpfen läßt, so daß unser Gemüt und unser Geist mit einer gewissen in sich selbst gegründeten Tiefe ausgestattet erscheint, die sich nie ganz ausgibt, der kommt dem modernen Men­schen ganz abhanden. Eine ausgesprochene Individualität ist nichts Überschaubares, denn wenn wir noch so viele Lebensäußerungen derselben kennengelernt haben, so ist es uns nicht möglich, daraus ein solches Bild von ihr zu­sammenzufügen, daß wir die Summe ihrer weiteren Betä­tigung voraussehen könnten. Jedes folgende Tun erhält eben immer einen neuen Impuls aus der Tiefe des Wesens, der uns neue Seiten desselben zeigt. Das unterscheidet die Individualität vom Mechanismus, der nur das Ergeb­nis des Zusammenwirkens seiner Bestandstücke darstellt. Kennen wir diese, so sind uns auch die Grenzen klar, innerhalb welcher sein Wirken eingeschlossen ist. Das Leben des modernen Menschen wird nun immer maschi­nenhafter. Die Erziehung, die Gesellschaftsformen, das Berufsleben, alles wirkt dahin, das aus dem Menschen zu treiben, was man individuelles Leben, Seele nennen möchte. Er wird immer mehr ein Produkt der Verhält­nisse, die auf ihn einwirken. Dieser seelenlose, unindi­viduelle Mensch bis zur Karikatur gesteigert, ist Hamer­lings Homunkulus. Auf chemische Weise, in der Retorte erzeugt, fehlt ihm jede Möglichkeit einer Weiterentwicke­lung über die Grenzen hinaus, die ihm der Meister der

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Wissenschaft durch die der Mischung zugesetzten Stoffe bestimmt hat. Dieser menschliche Mechanismus durch­läuft alle Stadien modernen Lebens. Bei ihm erscheinen alle Verkehrtheiten desselben auf die Spitze getrieben und dadurch in ihrer inneren Hohlheit. Er unternimmt alles mögliche. Sein Streben ist aber nie darauf gerichtet, wirk­lich Positives zu schaffen, sondern nur die Erzeugnisse der Natur und des Menschengeistes zu seinen in sich ganz nichtigen Unternehmungen zu benützen, um so zu Ehren und Ansehen und zur Herrschaft zu kommen. Erst ver­sucht er es durch die Gründung einer großen Zeitung modernen Stils. Indem er da alle Ausschreitungen der heutigen Journalistik bis zum äußersten steigert, scheint er am besten seinen Zweck zu erreichen. Doch genügt ihm der Beruf nicht mehr, als er eine neue Ära «volks-wirtschaftlichen hohen Aufschwungs» herankommen sieht. Er wird Gründer und dadurch Billionär. Mit über­legenem Humor bringt hier der Dichter zur Anschau­ung, wie die ganze Welt im Staube liegt vor der niedri­gen Geldgröße und ihr huldigt. Ein großer Krach wirft Munkel von der erklommenen Höhe herunter, und er ist gezwungen, einen neuen abenteuerlichen Lebensweg zu suchen. Es gelingt ihm die Hebung des Nibelungenschatzes, die nur einem vaterlosen Menschen möglich ist, und die Verbindung mit Lurlei, der Nixe, die als seelenloses Weib, als Typus echter, moderner weiblicher Unnatur, sich dem seelenlosen Manne gesellt. Sie gründen ein Reich der Unnatur, ein Eldorado. Da werden alle Begriffe des Natürlichen auf den Kopf gestellt. Die groß­artige Schilderung des Parteilebens in dieser Staatsrniß-geburt wird jeder mit Genuß lesen. Nachdem auch diese

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«Gründung» mißglückt, wirft sich Munkel darauf, jene Affen, die bei der Menschwerdung dieses Geschlechtes noch auf der Affenstufe stehengeblieben sind und die, nach seiner Ansicht, viel unverdorbener sein müssen als ihre ent­arteten Sprossen, auch noch zu Menschen zu erziehen und einen neuen Staat mit ihnen zu schaffen. Auch dieses Reich krankt an dem Fehler wie alle anderen Unterneh­mungen des Homunkulus. Es ist der Affe zwar äußer­lich Mensch geworden, er lebt sogar in den Formen des Staates, aber es fehlt wieder die Seele. Die Affen sind Mechanismen, ihr Staat ebenfalls. Alles muß sich deshalb schließlich in seiner Unmöglichkeit zeigen. Bald sehnt sich Munkel nach einer neuen Befriedigung seines Tatendran­ges. Er sucht sie, indem er den Juden die Auswanderung nach Palästina und die Gründung eines neuen Juden-reiches predigt. Er stellt sich an die Spitze des Zuges und wird in Jerusalem König der Juden. Aber die Juden brau­chen Europa, und Europa braucht die Juden. Und so kehren sie, nachdem sie sich völlig unfähig zur Führung eines eigenen Reiches erwiesen, nach Europa zurück. Homunkulus, ihren König, schlagen sie zuvor ans Kreuz. In diesem Gesang steht Hamerling mit der überlegenen Objektivitat eines Weisen sowohl den Juden wie den Anti­semiten gegenüber. Man hat hier freilich am ehesten Ge­legenheit, diese Objektivität zu verkennen. Die größte Kurzsichtigkeit besteht jedoch darinnen, wenn, wie so viel-fach geschehen ist, von überempfindlichen Juden die un­befangene Beurteilung der Verhältnisse schon als ein Feh­ler angesehen wird. Man hat aber kein Recht, jenen, der nicht ausdrücklich seine Parteinahme für die Juden be­tont, sogleich der Stellungnahme gegen sie zu beschuldigen.

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Homunkulus, der schmählich Verlassene, wird mit Hilfe Ahasvers gerettet und erscheint wieder in Europa, um die theoretischen Ansichten des Pessimismus zur Tat werden zu lassen. Es wird ein Kongreß einberufen, der den Zweck hat, alle Wesen zu bewegen, an einem Tag durch einmütigen Entschluß dem Dasein ein Ende zu machen. Die Einigung wird erzielt, und das höchste Ideal der Pessimisten scheint durch Munkels Genialität seiner Verwirklichung nahe. Der 1. April soll der Tag des Endes sein, alles geht gut. Da hört man im entscheidenden Augenblicke den Kuß eines Liebespaares, und alles ist wieder vereitelt. Da sieht denn Homunkulus endlich ein, daß mit diesem verderbten Geschlechte nichts mehr anzu­fangen ist, er baut ein Luftschiff und fährt hinaus in den unendlichen Weltenraum. Ein Blitz schlägt in das Fahr­zeug, und so schwebt denn Homunkulus, an den Resten desselben hängend, mit Lurlei, die er, nachdem sie ihm wiederholt durchgegangen, stets wiedergefunden, im un­endlichen Weltenraum, ein Spiel der kosmischen Kräfte, bald von diesem, bald von jenem Weltkörper angezogen und abgestoßen. Er kann nicht sterben, er wird ein Spiel der Elemente, aus denen er maschinenartig zusammen­gesetzt ist. Der seelenlose Mensch kann nicht glücklich werden. Nur aus dem eigenen Selbst kommt unser Glück. Ein tiefes, gehaltvolles Inneres allein vermag Befriedigung zu geben. Wer ein solches nicht hat, ist im höheren menschlichen Sinne nicht wahrhaft entstanden. Wo dieser Urquell fehlt, erscheint das Leben als eine Irrfahrt ohne Ziel und Zweck. Was einen Anfang in jenem charakteri­sierten höheren Sinn genommen hat, kann ruhig wieder abtreten, wenn seine Aufgabe erfüllt ist. Homunkulus

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aber kann nicht sterben, er ist ja nie wahrhaft geboren. Ein bloßer Mechanismus kennt nicht Geburt noch Tod. Deshalb wird er ewig im Weltenraume schweben.

Man sieht, Hamerlings Tiefsinn ist es in herrlicher Weise gelungen, der Zeit ihre Verirrungen vorzuhalten. Wie die Grundidee groß und bedeutend, so ist auch das ein­zelne lebensvoll. Hamerling ist auch hier der idealistische Dichter geblieben. Dieser hat ja die Aufgabe, die Konse­quenzen der Wirklichkeit zu ziehen, über das Zufällige hinweg auf das Tiefere zu schauen. So wie das wahrhaft Große und Würdige im Ideal nur noch gesteigerter, würdevoller erscheint, so wird das Schlechte, Verkehrte beim idealistischen Dichter zur Karikatur. Viele werden sich an diesen Zerrbildern stoßen; sie sollten die Schuld nur nicht beim Dichter, sondern bei der Welt, aus der er geschöpft hat, suchen. Unsere Kritik freilich ist am weitesten von dieser objektiven Beurteilung des Werkes entfernt, sie hat es in den Streit der Parteien hinabgezerrt und in der unglaublichsten Weise dem Publikum gegenüber das Bild desselben zu entstellen gesucht. Wir wollen in einem weiteren Artikel von diesem Ver­halten der Kritik zum «Homunkulus» sprechen.

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An dem Verhalten unserer Kritik dem «Homunkulus» gegenüber hat sich wieder einmal so recht gezeigt, daß sie alles Strebens nach Objektivität bar ist. Ob sie den Kernpunkt eines Werkes findet, ob sie die Sache in das rechte Licht setzt, das ist ihr gleichgültig; ihr kommt es nur darauf an, eine Reihe von «geistreichen» Phrasen zu

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drechseln, um ihr Publikum zu «amüsieren». Das letztere fragt dann zumeist auch nicht, ob der Kritiker treffend geurteilt hat oder nicht, ob er imstande ist, sich selbstlos in ein Werk zu vertiefen; es fragt nur nach jener witzeln-den Geistreichtuerei, die der Feind aller positiven Kritik ist. Diese Kritik bedenkt nie, daß sie völlig unfruchtbar ist, wenn sie sich nicht die ernste Aufgabe stellt, dem Publikum in dem Verständnisse der Zeit und ihrer Er­scheinungen voranzugehen. Der Kritiker will nur die pro­duktive geistige Arbeit des wahren Schriftstellers oder Künstlers zum Fußschemel benützen, um seine eigene un­fruchtbare Persönlichkeit weithin bemerkbar zu machen. Überall ist es der mangelnde Ernst in der Auffassung ihres Berufes, den man der zeitgenössischen Kritik entschieden zum Vorwurfe machen muß. Musterhafte Kritik haben zum Beispiel die beiden Schlegel geübt, bei denen immer große Kunstprinzipien, eine bedeutende Weltanschauung im Hintergrunde standen, wenn sie urteilten. Jetzt über­läßt man sich aber ganz der subjektiven Willkür. Nur die­sem Umstande ist es zuzuschreiben, daß ein Kritiker heute Dinge vorbringt, die mit dem vor wenigen Monaten von ihm Behaupteten im krassen Widerspruche stehen. Wo eine ernste Kunst- und Weltauffassung die Einzelurteile trägt, da ist solches Schwanken nicht denkbar. Von einer Verant­wortung vor dem Forum der Weltgeschichte hat die zeit­genössische Kritik zumeist nicht das geringste Bewußt­sein. Hamerling hat in dem Gesange « Literarische Wal­purgisnacht» die unerqulcklichen Zustände unserer heuti­gen Literatur treffend dargestellt, freilich immer der Auf­gabe des Dichters getreu bleibend, dessen Darstellung un­beeinflußt bleiben muß von den Tendenzen und Schlagworten

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der Parteien. Was aber hat die Kritik aus diesem «Homunkulus» gemacht? Sie hat ihn herabgezerrt in den Streit der Parteien, und zwar in die widerlichste Form desselben, in den Rassenkampf. Es ist gewiß nicht zu leugnen, daß heute das Judentum noch immer als ge­schiossenes Ganzes auftritt und als solches in die Ent­wickelung unserer gegenwärtigen Zustände vielfach ein­gegriffen hat, und das in einer Weise, die den abend-ländischen Kulturideen nichts weniger als günstig war. Das Judentum als solches hat sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völker-lebens, und daß es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte, dessen Folgen nicht ausbleiben konnten. Wir meinen hier nicht die Formen der jüdi­schen Religion allein, wir meinen vorzüglich den Geist des Judentums, die jüdische Denkweise. Der Unbefangene hätte nun glauben sollen, daß die besten Beurteiler jener dichterischen Gestalt, die Hamerling der eben berührten Tatsache gegeben hat, Juden seien. Juden, die sich in den abendländischen Kulturprozeß eingelebt haben, soll­ten doch am besten die Fehler einsehen, die ein aus dem grauen Altertum in die Neuzeit hereinverpflanztes und hier ganz unbrauchbares sittliches Ideal hat. Den Juden selbst muß ja zuallererst die Erkenntnis aufleuchten, daß alle ihre Sonderbestrebungen aufgesogen werden müssen durch den Geist der modernen Zeit. Statt dessen hat man Ha­merlings Werk einfach so hingestellt, als wenn es das Glaubensbekenntnis eines Parteigängers des Antisemitis­mus wäre.

Man hat dem Dichter einen Standpunkt unterschoben, den er vermöge der geistigen Höhe, auf der er steht,

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nicht einnehmen kann. Wir begreifen es nun ganz gut, daß jemand, dessen Name im «Homunkulus» in wenig schmeichelhaftem Zusammenhange genannt erscheint, zu einer objektiven Würdigung des Buches nicht kommen kann. Wenn aber ein großes Blatt wie die «Neue Freie Presse» über den «Homunkulus» nicht mehr zu sagen hat als die in fade Späße gekleideten Wutausbrüche eines notwendig Befangenen, dann weiß man wirklich nicht, ob man sich über solche Leichtfertigkeit ärgern oder über die Unverfrorenheit lachen soll. Muß denn da nicht ein­fach die Absicht bestehen, in der objektiven Darlegung des Geistes des Judentums schon Antisemitismus zu wit­tern? Für die Form des Antisemitismus, die, wenn man das entbehrliche Wort schon gebrauchen will, Hamerling eignet, gibt es eine ganz bestimmte Formel : Er nimmt -wie jeder unbefangene, von Parteifanatismus freie Mensch-dem Judentum gegenüber den Standpunkt ein, den jeder von den Vorurteilen seines Stammes und einer Konfes­sion unabhängige Jude teilen kann. Man verlange nur nicht mehr von einem Geiste, der so ganz mit den abendländischen Idealen verwachsen ist wie Hamerling. Ist das Gebaren der «Neuen Freien Presse» und ähnlicher Blätter dem «Homunkulus» gegenüber im höchsten Grade verwerflich, so ist es nicht minder unverzeihlich, wenn antisemitische Zeitungen Hamerling als einen Gesinnungs­genossen jener Partei hinstellen, die neben der Eignung zum Toben und Lärmen nichts Charakteristisches hat als den gänzlichen Mangel jedes Gedankens. Die Anhänger dieser Partei haben in ihren Blättern einfach Abschnitte aus dem Zusammenhange gerissen, um sie in ihrem Sinne umzudeuten, was ja bekanntlich das Hauptkunststück des

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Journalismus ist. Hamerling hat sich gegen solche Ent­stellungen seines neuesten Werkes entschieden verwahrt, erst in einem Brief, der in der « Grazer Tagespost» und in der «Deutschen Zeitung» gedruckt ist, dann in einem Gedichte in der «Schönen blauen Donau». Wir waren hier bemüht, seinen Standpunkt den absichtlich falschen Auslegungen seiner Zeitgenossen gegenüberzustellen.

Wir können nicht umhin, noch der Stellungnahme eini­ger anderer Kritiker zu gedenken, die auf einer gänzlichen Verkennung des Verhältnisses von Dichter und Dichtung beruht. Man fragt da: Wie muß doch ein Mensch mit sich und der Welt zerfallen sein, der sich zur Schöp­fung von solch häßlichen Bildern hinreißen läßt; wie krankhaft muß das Gemüt dessen sein, der seiner Zeit ein solches Spiegelbild entgegenhält? Demgegenüber möchten wir eine andere Frage aufwerfen : Wie muß eine Kritik mit den Prinzipien aller Ästhetik zerfallen sein, die die Beurteilung eines Werkes als solchem auf das subjektive Empfinden des Dichters ablenkt? Es war ein großes Wort, das Schiller einmal Goethe gegenüber aussprach, als dieser sich beklagte, man werfe ihm das Unmoralische mancher seiner Gestalten vor : Kann man Ihnen nachweisen, daß die unsittlichen Handlungen aus Ihrer Denkweise fließen und nicht aus Ihren Personen, so könnte Ihnen das zum Vorwurf gemacht werden, nicht aber weil Sie vor dem christlichen, sondern weil Sie vor dem ästhetischen Forum gefehlt haben. Man sollte glauben, daß solche Grund­sätze, die unumstößlich sind, unseren Kritikern längst in Fleisch und Blut übergegangen seien. Wäre das der Fall, dann aber hätten sie gefunden, daß die Zeitgestalten, die Hamerling geschaffen, nicht anders aussehen können, als

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wie sie eben sind, denn sie haben mit seiner Denkweise über die Zeit nichts zu tun. Das ist aber einer der Haupt­fehler unserer Kritik, daß sie nicht, nach dem Vorbilde der Wissenschaft, die Grundsätze in sich aufnehmen will, die einmal als bleibende Axiome da sind. Sie ist da ganz in dem Falle der Gelehrten, die die bereits vorhandenen Grundsätze ihrer Wissenschaft nicht kennen. Wir haben eben keine Kritik, die vollkommen auf der Höhe ihrer Zeit steht, denn was sich dermalen so nennt, ist zu­meist nichts als kritischer Dilettantismus.

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EMIL MARRIOT: «DIE UNZUFRIEDENEN»

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Der Gegenwart fehit der Mut der Anerkennung des Zeit­genössischen. Entschieden eintreten für ein ursprüngliches Streben, das unter uns auftritt, wagt man entweder nicht oder will nicht. Farbe bekennen, bestimmte Stellung neh­men hat ja so viel des Unangenehmen im Gefolge. Nie­mand braucht sich zu fürchten, von irgend jemandem zur Rede gestellt zu werden, wenn er in einer Weise über ein Buch spricht, die mit «nicht kalt und nicht warm» be­zeichnet werden muß. Darunter leiden natürlich die Ta­lente, die in unserer Mitte erstehen. Sie ringen sich nur schwer durch.

Als Emil Marriots Roman «Der geistliche Tod» und seine Novellen «Mit der Tonsur» erschienen, konnte man diese Wahrnehmung ganz deutlich machen. Jedermann sprach von der entschiedenen Begabung des Verfassers. Jedermann mußte das Fesselnde der Erzählung zugeben,

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aber worinnen das Ursprüngliche, das durchaus Originelle dieser Priestergeschichten besteht, wußte niemand zu sa­gen. Priesterliebe hat ja eine vielfache Behandlung er­fahren; zumeist aber empfindet es der Priester als Fessel seines Berufes, dem Drange seines Herzens nicht folgen zu können. Die Liebe, die in seinem Herzen wohnt, läßt ihn das Zölibat als unberechtigt erscheinen. Bei Mar-riot erscheint dem Priester für sich die Liebe zum Weibe durchaus unberechtigt, und die notwendige priesterliche Enthaltsamkeit steht ihm immer höher als sein Gefühl. Welche Kämpfe dieser dem Dogma treubleibende, unan­tastbare Priester in seiner Seele durchzumachen hat, das schildert Marriot in allen Phasen. Die Novelle «Askese» ist geradezu ein Meisterwerk an psychologischer Ent­wickelungskunst. Die Aufgaben, die hier gestellt werden, sind ebenso feinsinnig wie in ihrer Ausführung spannend im höheren Sinne. Deswegen sind diese Schriften auch für den ernsten Menschen, der gewohnt ist, diszipliniert zu denken, lesbar. Der größte Teil unserer Erzählungs­literatur mit dem verlumpten, feuilletonistisch-leichtferti-gen, geistreichelnden Stil ist ja für Leute, die denken können, ohnedies nicht mehr zu genießen. Dabei besitzt Emil Marriot in ganz hervorragender Weise die Gabe des Charakterzeichnens. Mit wenigen Strichen zeichnet er einen Charakter hin; ja, das ist sogar seine stärkste Seite. Diese ist auch in dem Romane «Die Unzufriedenen», der der Entstehung nach den oben erwähnten Werken vor­ausgegangen - er ist nämlich vor Jahren schon in einer Wiener Zeitung erschienen und jetzt zum ersten Male in Buchform ausgegeben - nicht zu verkennen. Das inner­lich gut veraniagte Mädchen in einer verlotterten, mora­lisch

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verkommenen Familie mit all ihren Fehitritten und den Irrwegen, die sie macht, ist trefflich dargestellt. Die freilich vielfach von moralischem Schmutz verunstaltete Gutheit Mignons tritt in scharfen Kontrast zur Laster­haftigkeit ihrer Schwester Laura. Obgleich von ihrer Um­gebung in das schlechteste Licht gestellt, dadurch von dem Manne, dessen Herz bereits ihr gehörte, verlassen, findet Mignon diesen letzteren wieder und weiß ihm ihre Unschuld zu beweisen. In der Charakteristik bedeutend, mit vielen großen Zügen, zeigt dieser Roman wohl noch einige Zerfahrenheit in der Komposition.

Es war eine Torheit, Emil Marriot, um ihn in die viel-beliebten ästhetischen Kategorien einzureihen, einen Rea­listen zu nennen. In der Gabe, die Kernpunkte eines Charakters zu finden, um ihn in ein paar Sätzen lebens möglich hinzustellen, liegt auch ein Idealismus, ja ein viel mehr berechtigter als in dem Erfinden phantastischer Per­sonen, die keinen Schritt in der Wirklichkeit machen könnten.

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W. HEINZELMANN:

«GOETHES IPHIGENIF»

Ein Vortrag. Erfurt 1891

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Der Versuch, Goethe nach einem untergelegten Maßstabe zu messen, muß immer zu fehlerhaften Resultaten führen. So wenig derjenige für die Erkenntnis Goethes in wissen­schaftlicher Beziehung etwas Positives leisten wird, der sich einfach fragt : inwieweit stimmen Goethes wissen­schaftliche Ansichten überein mit denen des Darwinismus

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oder der unserer Zeit überhaupt, ebensowenig kann der zu einem richtigen Urteil über den ethischen und religiö­sen Gehalt von Goethes Dichtungen kommen, der sie auf ihre Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der Lehre des Christentums prüft, wie es der Verfasser dieses Vortrages macht. Goethe kann nur aus sich selbst, aus der innersten Natur seines ureigenen Wesens erklärt werden. Jede Brille, durch die seine Leistungen gesehen werden, verändert deren ursprüngliche Gestalt. Deshalb sind die Schlüsse, zu denen Heinzelmann kommt, auch durchaus einseitig und schief. Und wenn derselbe die Aus­legung der «Iphigenie» für den Schulgebrauch in seinem Sinne empfiehlt, so möchten wir dagegen doch sagen, daß uns für diesen Zweck die reine, unbefangene Betrachtung des Kunstwerkes dienlicher erscheint, weil sie allein den Schüler dahinbringt, Goethe ohne vorgefaßte Meinung rein aus sich heraus zu verstehen.

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HERMANN BAHR: «RUSSISCHE REISEN»

Dresden 1891

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Hermann Bahrs Bücher sind immer interessant. Lebemän­nische Erfahrung, absonderliche Ansichten, aus aller Her­ren Länder zusammengetragene Beobachtungen sind in grotesker Weise zu schriftstellerischen Gebilden geformt, die den Leser durch alle möglichen widerspruchsvollen Empfindungen und Gedanken jagen. Dennoch kommt man ganz ungeschädigt heim von dieser Jagd. Denn nichts von jenem schweren Ernste, der das Lesen so manchen

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deutschen Buches zu einer harten Arbeit macht, ist Her­mann Bahrs Schriften eigen. Ich lese sie am liebsten dann, wenn ich mich nach behaglicher Ruhe sehne, auf dem Sofa liegend, Zigaretten rauchend. Dann glaube ich in den auf­steigenden Rauchwolken die Gefühls- und Gedankenfor­men Hermann Bahrs verkörpert zu sehen. Wie eine Rauch-masse sich bildet, schnell sich auflöst und von einer an­dern abgelöst wird, so treten jene Formen vor meinem geistigen Horizonte auf, zerstieben, und schnell können wieder andere an ihre Stelle treten. Das kommt wohl auch davon, daß Hermann Bahr selten etwas völlig ernst nimmt. Selbst mit dem Idealismus, in dem der Deutsche sonst keinen Spaß versteht, spielt er nur. In dem vor­liegenden Buche konstruiert er sich z. B. die Idee einer höchst verfeinerten Sinnlichkeit heraus, die an der Befrie­digung der gewöhnlichen sinnlichen Leidenschaften kei­nen Gefallen mehr findet, sondern die höchste Wollust schon bei der dunklen Empfindung von der sinnlichen Beziehung erlebt. Diese Beziehung selbst wird gar nicht gesucht. Gleich im Augenblicke darauf fragt sich Bahr : ja, aber ist das doch etwas anderes als Gymnasiastenliebe. So wird immer in einem Momente die Stimmung des vorigen sogleich überwunden. Deshalb nennt sich Bahr einen «Stimmungsakrobaten». Sein Leben bezeichnet er als «nervöse Gymnastik». Diesem Charakter wird bald jede Umgebung langweilig; seine Sucht, recht tolle Ge­fühlsverrenkungen zu machen, braucht immer neue Le­benslagen; die Nerven können nicht lange einen und den­selben Eindruck vertragen, sie brauchen immer neues Futter. Deshalb reist Hermann Bahr viel. Und seine Reisebeschreibungen unterscheiden sich von anderen dadurch,

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daß er uns vor allen Dingen die Eindrücke der von ihm besuchten Stätten auf seine Nerven schildert, daß er uns darstellt, durch welche ihm bisher unbekannte Empfindungsnuancen sein Leben bereichert wurde. Aber dadurch werden vor dem Leser die Gegenden, die uns Bahr beschreibt, erst recht lebendig. Und vor meinem Geiste stand selten so klar die Jämmerlichkeit des russl­schen Lebens, die sklavische Gesinnung der Hauptmasse des Volkes, die Gedankenleerheit, die Sinnlichkeit der russischen Weiber u. dgl., als während des Lesens dieser «russischen Reise». Zu gewinnen war für Bahrs Gefühis­Seiltänzerei in Rußland wenig, wie er selbst zugibt. Dar­an waren aber nicht allein Land und Leute schuld - die allerdings eher zur Verzweiflung über ihre geistige Öde als zu einer Mannigfaltigkeit von Eindrücken führen zu können scheinen -, sondern der Umstand, daß Bahr sich schon auf der Hinreise in ein «kleines Fräulein», Mit­glied einer Schauspielergesellschaft, gegen alle Regeln sei­nes lebemännischen Wesens verliebte und in idealistischer Weise manche Stunde verschwärmte. Die Schilderung die­ses «kleinen Fräuleins » ist so vortreiflich, daß sie sogar für den Leser gefährlich wird, denn man möchte sich ver­lieben in das reizende Wesen.

Wir wünschen dem Buch, dem wir selbst viel gescheiten und viel verrückten Genuß verdanken, zahlreiche Leser, auch außer den wohiwollenden Freunden Bahrs, von de­nen er am Schluß sagt : «Es ist manche gute Seele unter ihnen, und für ihre Dummheit können sie nicht.» Die eingeflochtene Charakteristik der italienischen, in Peters­burg während Bahrs Anwesenheit gastierenden Schauspie­lerin

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Duse ist formell - den Inhalt kann ich nicht beur­teilen, weil ich die Duse nie gesehen habe - meister­haft.

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ERNSTE ZEICHEN DER ZEIT

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Gans Edler Herr zu Putlitz ist zum Intendanten des Stutt­garter Hoftheaters ernannt worden. Als die Nachricht von dieser Ernennung durch die Zeitungen ging, wird wohl so mancher Freund der Kunst verwundert gewesen sein; denn von Vorbedingungen, die dieser Herr zu einem solchen Posten mitbringt, ist niemandem etwas bekannt. Ja der Neuernannte hat beim Amtsantritte rait rührender Naivität selbst gestanden, er sei sich dessen sehr wohl be­wußt, daß er solche Vorbedingungen nicht habe und daß er seine hohe Stellung einzig und allein den Verdiensten seines Vaters zu verdanken habe. Diese Zeilen haben nicht im mindesten die Absicht, die unleugbaren Verdienste dieses Vaters herabzusetzen. Dieselben können und dürfen nicht vergessen werden. Aber gegenüber solchen Tat­sachen drängt sich die Frage energisch auf: sind wir denn auf den bösen Wegen der Reaktion wirklich schon so weit gekommen, daß man dem Sohne einen hohen, verantwor­tungsvollen Posten deshalb gibt, weil der Vater sich in einer gleichen hohen Stellung befunden hat? Wohin sol­len wir kommen, wenn wir wichtige Stellen nicht mehr mit Leuten besetzen, die die persönliche Eignung hierzu besitzen, sondern die Qualifikation von Geburt und Ab­stammung abhängig machen! Besonders schmerzlich muß es berühren, daß dieser Fall sich gerade im Gebiete der

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Kunst ereignen konnte. Es zeugt das von einem Verken­nen des inneren Wesens und der Würde derselben. In den Zehen, in denen die Kunst ein Nebending war zum Aus-füllen müßiger Stunden, in denen man keine Ahnung hatte von dem hohen Wert derselben, da konnte ja die Meinung eine Berechtigung haben, daß jeder beliebige Kavalier an die Spitze eines einschlägigen Instituts treten könne. Seit aber die Nation sich zu der Erkenntnis durchgerungen hat, daß die Kunst einer der mächtigsten Hebel aller Kul­tur ist, seit jener Zeit sollten endlich auch die maßgeben­den Kreise zu der Einsicht gelangt sein, daß nur der be­rufen ist, eine leitende Stellung eines I(unstinstituts ein-zunehmen, der tiefinnerlich verwachsen ist mit den Be­strebungen und dem Treiben der Kunst. Wie herabwürdi­gend ist es doch für den darstellenden Künstler, wenn er den Dilettanten als Richter und Leiter über sich gestellt sehen muß! Und wahrhaft kläglich ist der Einwand, der gegen Erwägungen dieser Art oft gemacht wird: es gäbe in Deutschland nicht die rechten Männer für eine solche Stellung. Wenn doch die Deutschen sich einmal die un­selige Verkennung der Verdienste ihrer Zeitgenossen ab­gewöhnen möchten! Als ob jeder Mensch wirklich erst fünfzig Jahre im Grabe ruhen müßte, bis ihm die An­erkennung seiner Verdienste werden dürfte. Wir zweifeln nicht daran, daß zünftige Literarhistotiker der Zukunft Bulthaupt als einen großen Dramaturgen feiern wer­den, dem von seinen Mitlebenden unrecht getan wor­den ist. Warum aber treten Leute, die etwas von solchen Dingen zu verstehen vorgeben, nicht dann, wenn eine Stelle zu besetzen ist, auf und sagen mit Energie: dies ist der würdigste Mann für diesen Platz? Dem einstimmigen

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und kraftvollen Bekenntnis urteilsfähiger Kreise, das zur öffentlichen Meinung werden müßte, könnte auf die Dauer auch an maßgebender Stelle nicht Widerstand geleistet werden. Aber von einem energischen Eintreten für eine Überzeugung ist bei unseren Rittern vom Geiste nie die Rede. Sie betrachten «maßvolle Zurückhaltung» als den echten Charakterzug wahrhafter Geistesaristokratie. Daß wir dadurch immer unglaublichere Rückgänge unseres Kulturlebens erfahren, daß uns dadurch in Sachen der Kunst eine wahrhafte öffentliche Meinung fehlt, ja, daß wir in finstere Verhältnisse abgelebter Kulturperioden zu­rückgeführt werden: darum bekümmert man sich nicht. Wenn die Dinge sich in der angebrochenen Art weiter­entwickeln, dann kommen wir wohl schließlich noch dazu, daß ein Mann zum Lehrer der Staatswissenschaften oder der Philosophie an einer Universität angestellt wird, weil sein Vater sich um die entsprechenden Disziplinen Ver­dienste erworben hat, oder weil er einer sozial bevorrech­teten Familie angehört, und ohne daß man weitere Zeug­nisse über seine persönliche Befähigung fordert. Wir wer­den es zwar erleben, daß optimistische Menschen kom­men und sagen: der Mann wird sich einleben in sein Amt, er wird lernen. Derlei Urteile haben wir - und zwar von sonst ganz tüchtigen Männern - gehört, als in Wien Burckhard aus einer rein bureaukratischen Stellung her­aus Knall und Fall an die Spitze des Burgtheaters gestellt wurde. Solche Leute müssen uns gestatten, es natürlich zu finden, wenn irgend jemand einen Lalen als Arzt anstellt. Denn - er wird die Obliegenheiten seines Berufs schon lernen, und er wird sich einleben. Ein Lale als Theater-intendant kann freilich keinen Kranken zum Tode kurieren.

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Aber er kann den guten Geschmack ertöten. Doch das fällt weniger au£ Die Leute zu «amüsieren», wird er ja noch zusammenbringen.

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Erwiderung auf die Entgegnung zu vorstehendem Aufsatz

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Der Vergleich mit einem nicht gelesenen Buch scheint mir durchaus unzulässig: Herr zu Putlitz ist kein ver­schlossenes Buch, sondern ein ungeschriebenes. Wogegen sich unser Artikel wandte, war die Tatsache der Ernennung. Zu derselben lag nicht der allergeringste Grund vor. Warum besetzt man den Posten eines Theaterintendanten mit einem Manne, der nichts geleistet hat, was seine Befähi­gung dazu vor der Öffentlichkeit erwiese, während man doch in Deutschland Männer genug hat, von denen man ganz bestimmt wissen kann, daß sie diese Stelle auszufül­len vermögen? Selbst zugegeben: Herr zu Putlitz werde sich einleben. Die Stelle eines Theaterintendanten ist keine solche, die man mit einem Manne besetzt, der sich in der Kunst nicht auf irgendeine Weise eingelebt hat. Man rech­net in so ernsten Dingen nicht mit Möglichkeiten. Es kann sein, daß er sich einieben wird; es kann aber auch sein, daß es nicht der Fall sein wird. Von Herrn zu Putlitz ist gar nicht die Rede. Der hat, nachdem er einmal berufen ist, seine Aufgabe so gut zu erfüllen, wie er kann. Unser Artikel richtete sich gar nicht gegen ihn, sondern gegen die Anschauungen, von denen jene ausgingen, die ihn be­rufrn haben.

Auch der Einwand, daß nach den Forderungen unseres Artikels der Intendant Universalgenie sein müsse, und

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gleich erfahren im Schauspiel, wie in Musik, Gesang, Bal­lettkunst, trifft nicht zu. Wir verlangen ja gar nicht, daß sich der Intendant in jeder einzelnen Kunstgattung als Meister erwiesen, sondern nur, daß er sich zur Kunst in ein lebendiges Verhältnis gestellt habe. Nicht zu allen Kunst-gebieten braucht er eine Beziehung zu haben, aber von irgendeiner Seite muß er in die Kunst sich eingelebt haben. Ob Musiker, ob Dramatiker, ob Kritiker und so weiter: das kommt weniger in Betracht. Aber irgend et­was von alledem.

Was der Verfasser der Entgegnung vom Prinzip des Einiebens sagt, könnte allenfalls noch für ein Mitglied der Bühne gelten. Der einzelne Sänger oder Schauspieler wird bei gehöriger Begabung mit Recht verwendet werden kön­nen, auch bevor er fertig ist. Aber eine Bildungsstätte für Intendanten darf schließlich doch das Theater nicht sein. Der oberste Leiter muß durchaus bestimmte Ziele, eine klare, in sich geschlossene Kunstanschauung mitbringen. Es ist ja ganz gut möglich, daß Herr zu Putlitz sehr viel kann und weiß. Aber das kann doch nichts bedeuten dem Umstande gegenüber, daß es in Deutschland Männer gibt, die durch ihre publizistischen Leistungen bewiesen haben, daß sich jedes Theater unter ihrer Direktion einen künst­lerischen Aufschwung zu versprechen hat. Wo das der Fall ist, ist doch gar keine Notwendigkeit vorhanden, je­mand sich erst einleben zu lassen. Es berührt schmerzlich, wenn man so viel geistige Kraft sieht, von der im öffent­lichen Leben kein Gebrauch gemacht wird, und daneben Wichtiges von Personen vollbracht wird, die wenig be­rufen erscheinen.

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MAX STIRNER UND

FRIEDRICH NIETZSCHE

Erscheinungen des modernen Geistes und das Wesen

des Menschen. Von Robert Schellwien.

Leipzig 1892, G. E. M. Pftffer

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Wenige Erscheinungen der gegenwärtigen philosophi­schen Literatur können sich an Tiefsinn, scharfgeprägter Begriffsgestaltung und wissenschaftlicher Gründiichkeit mit diesem Buche messen. Wir haben es mit einer sehr bedeutenden Publikation zu tun. Der Verfasser hat das­jenige, was heute so vielen fehlt: den Mut des Gedan­kens, der sich an die zentralen Weltprobleme heranwagt, und auch das notwendige Vertrauen in unsere mensch­liche Denkkraft, das zur Lösung der höchsten Aufgaben gehört. Schellwien ist Idealist. Er hält die erfahrungs­mäßig gegebenen Erscheinungen für einen durch das «Ich» des Menschen aus dem dunklen Meere des Un­bewußten in die Sphäre des Bewußten heraufgehobenen Inhalt. Das «Ich» ist zwar nur Nachschöpfer, aber inso­fern die in demselben lebende und wirkende Kraft iden­tisch ist mit der Urkraft des Universums, ist es zu­gleich der Schöpfer des uns gegebenen Weltinhalts. Den letzteren als eine Geburt aus dem Unbewußten, die durch das «Ich» zustande kommt, zu begreifen, ist für Schell­wien die eigentliche Aufgabe der Philosophie. Die Gesetze, welche die Welt konstituieren, sind für Schellwien nur die Gesetze des eigenen «Ich», die uns als Objekt gegen-übertreten. Treffend führt der Verfasser aus, wie die me­chanische Naturerklärung daraus entspringt, daß der

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Mensch im Objekte wohl die Gesetzlichkeit wahrnimmt, aber sich dessen nicht bewußt ist, daß diese Gesetze im letzten Grunde die seines eigenen geistigen Organismus sind. Auf diese Weise kommt er zu der Ansicht, in jeder Erscheinung der Welt ein zweifaches anzuerkennen: die gegebene, objektive Seite, und die subjektive, den Be­griff oder die Idee der Sache. Beide zusammen sind ihm gleich wichtig für das Erfassen der vollen Wirklichkeit. Damit nähert er sich der Auffassung, die der Schreiber dieser Zeilen selbst vertritt und wiederholt ausgesprochen hat. Zuletzt in seiner Schrift: «Wahrheit und Wissenschaft» S. 34 mit den Worten: «Das Erkennen beruht also darauf, daß uns der Welt-inhalt ursprünglich in einer Form gegeben ist, die ihn nicht ganz enthüllt, sondern die außer dem, was sie unmittelbar darbietet, noch eine zweite wesentliche Seite hat. Diese zweite, ursprünglich nicht gegebene Seite des Weltinhaltes wird durch die Erkenntnis enthüllt. Was uns im Denken abgesondert erscheint, sind also nicht leere Formen, son­dern eine Summe von Bestimmungen (Kategorien), die aber für den Weltinhalt Form sind. Erst die durch die Erkenntnis gewonnene Gestalt des Weltinhalts, in der beide aufgezeigte Seiten desselben vereinigt sind, kann Wirklichkeit genannt werden.» Auch Scheliwien glaubt nicht an die öde Philisteransicht, daß die Weltgesetzlich­keit nur in Raum und in der Zeit vorhanden sei, und daß der Menschengeist als ein leeres Gefäß in eine Ecke geworfen ist, um da zu stehen, bis ihm irgendein Trop­fen erfahrungsmäßiger Erkenntnis zufällig hineinfallt. Er denkt sich den Geist nicht so weltvergessen, sondern in­haltvoll, so daß etwas herauskommt, wenn er die in seinen

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Tiefen liegenden Schätze an die Oberfläche schafft. Der Verfasser will der Erfahrung ihre Bedeutung durch-aus nicht absprechen: aber er weiß, daß wir über das eigentliche Wesen der Welt uns nur dadurch aufklären können, daß wir die Lösung des eigentlichen Rätsels in dem wackeren Entrollen des eigenen «Ich» suchen. Schell-wien schreibt diese Entwickelung unseres Geistesinhaltes diesem Willen zu. Hierin können wir ihm nicht zustim­men. Dieser Wille ist überflüssig. Der Geistesinhalt ist die Kraft in sich, die sich aus sich selbst entfaltet. Der Ver­fasser hat sich in diesem Punkte von dem Schopenhaue­rianismus, von dem er offenbar ausgegangen ist, noch nicht genügend freigemacht. Erst wenn er diese Krücke völlig ablegen wird, kann er das ursprüngliche Licht des absoluten, auf seinen eigenen Inhalt gestützten Geistes klar erkennen. Er wird dann einsehen, daß die Idee nicht die Beihllfe des Willens braucht, um zu sein, sondern daß die Willensphänomene selbst in ihren Tiefen auf die Idee zurückführen. Schellwien zeigt sich im ganzen als ein Philosoph, der den Inhalt seiner Wissenschaft aus dem Wesen der menschlichen Individualität schöpfen will. Aber nicht das Ich als einzelnes, willkürliches ist sein Untergrund, sondern das Konkret-Persöniiche, welches vor allen andern Weltwesenheiten den Vorzug hat, daß es das Allgemeine, Abstrakte als Konkretes, Inhaltvolles ent­hält. Er erhebt sich dadurch über Stirner und Nietzsche, von denen er in den beiden ersten Kapiteln seines Bu­ches eine vortreffliche Charakterisierung gibt.

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R. M. SAITSCHICK:

«ZUR PSYCHOLOGIE UNSERER ZEIT»

Bern 1892

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Bücher, in denen sich eine volle, ganze Persönlichkeit aus­spricht, sind nicht oft zu finden. Hier ist eines. Saltschlck versteht es meisterhaft, einige charakteristische Eigentüm­lichkeiten unserer Zeit in scharfem Gepräge darzustellen. Von jeder Seite des Buches schimmert uns eine tempe­ramentvolle, zielbewußte Individualität entgegen. Ein scharfes Auge sieht hier in die Schwächen der Gegenwart. Das nervöse, hastige, sehnsuchtsvolle und zielunbewußte, aber auch das maschinenmäßige, ideenlose Treiben unse­rer Epoche finde ich in richtigen Strichen gezeichnet. Jeder Satz ist ein solcher Strich. Nur ein paar Beispiele sollen angeführt werden: «Wir sehen nicht, wohin uns die Zeit mit sich führt, ein schauerliches Dunkel verhüllt die Zu­kunft unserer Kultur, desto mächtiger und ausgeprägter wurde unser Gehör.» «Schon an der Schwelle unseres Jahrhunderts ertönte der Weltschmerz, um später zu einem philosophischen System des Pessimismus erhoben zu wer­den. Die Zweiheit der Wirklichkeit und des Ideals mußte zu einem Dualismus im Denken und Fühlen führen.» «Das Kapital hat den Menschen zur Maschine gemacht; unsere Wissenschaft, die dem Kapitale dient und von ihm beein­flußt wird, hat den Gelehrten zur wissenschaftlichen Ma­schine herabgedrückt.» «Unsere Gesellschaft besitzt schon keine ganzen Menschen mehr, die in sich eine geschlos­sene Einheit erblicken, welche zu der ganzen Natur in einem bestimmten und festen Verhältnisse steht; unsere Gesellschaft hat keine Weltanschauung mehr.» (S. 7f.)

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Und nicht bloß aufgezählt sind die einzelnen Kennzeichen der Gegenwart, sondern die Erscheinungen sind folge­recht in ihrem Zusammenhange dargestellt, die eine durch die andere beleuchtet und begründet, so daß uns der Titel des Buches «Zur Psychologie unserer Zeit» vollauf be­rechtigt erscheint.

Mich hat es besonders sympathisch berührt, daß der Verfasser einen Grundfehler unserer Zeit richtig zu be­urteilen weiß: die Feigheit in Dingen des Denkens. Nie­mand vermag nämlich die Wahrheit zu erkennen, der nicht den philosophischen Mut hat, in die Tiefen der Probleme zu dringen. Wir müssen unsere geistigen Fühler kühn, ihrer ganzen Länge nach, ausstrecken, wenn sie von den Dingen in der rechten Weise berührt werden sollen. Wer sie bei dem geringsten Widerstande sogleich einzieht, der kann niemals die Wirklichkeit erreichen. Die Stumpfheit unseres Denkens ist unser Grundübel. Statt keck sich in die Welt eim:ubohren, schrecken wir vor jeder Schwierig­keit zurück und wittern überall Erkenntnisgrenzen.

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R. SAITSCHICK:

«DIE WELTANSCHAUUNG DOSTOJEWSKIS

UND TOLSTOIS»

Neuwied 1893

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Vor kurzem habe ich in dieser Zeitschrift über Sait­schicks Schriftchen «Zur Psychologie der Gegenwart» be­richtet. Ich bezeichnete den Verfasser als einen Mann, der für die sozialpsychologischen Kräfte, von denen unsere

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Gegenwart beherrscht wird, eine feine Beobachtungs-gabe hat. In dieser mir eben vorliegenden Schrift lerne ich nun auch einen feinsinnigen Beobachter der Indivi­dualseele kennen. Zwei Persönlichkeiten, die in ihren An­lagen und in ihren Schöpfungen sich als vollkommene Gegensätze darstellen, werden in einer Weise charakteri­siert, die uns lehrt, daß es in einer Zeit, die kein orien­tierendes Werk über Psychologie hervorzubringen ver­mag, doch echte Psychologen gibt. Ein solcher nur kann über Dostojewski die Worte finden: «Dostojewski ist der echte christliche Barbar. Die hellenische Lebensauf­fassung mit ihrer harmonischen Oberflächlichkeit ist ihm im Grunde seines Herzens verhaßt, sie ist ihm ein längst überwundener Standpunkt, ein kindliches Gebaren, ein unbewußtes Spiel der Jugend.» «Dostojewski liebt nicht die Oberfläche des menschlichen Geistes, auf der das Gedankenlicht in schillernden Farben schimmert; in die Tiefen läßt er sich herunter, wohin kein Strahl des heilen Sonnenlichtes dringt, dort formt er seine Anschauungen über Natur und Leben, dort wähnt er das Zentrum sei­ner Gedankenwelt gefunden zu haben, von dort her kommt er dem Menschen zu verkünden, daß er zum Lei­den geboren sei.» Daß Dostojewskis Talent nicht da wur­zelt, wo die Gesetze der Logik herrschen, sondern in den dämonischen Regionen des Gefühls, daß aus einem dunklen Seelenchaos das Licht seiner Schilderungen her­vorbricht, stellt Saitschlck ganz treffend dar. «Das Wissen ist das Produkt des Denkens, das heißt der verkörperte Schatten des Absoluten; Dostojewski begnügt sich nicht mit dem Schatten, er will ganze Wahrheit in Fleisch und Blut gehüllt.» Welcher Art denn die Mystik ist und sein

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mußte, die sich bei Dostojewski aus dieser seiner Natur bildete, ist in Saitschicks Schrift ehenso tief wie über­zeugend entwickelt. Nicht weniger wird uns die politische Phantastik Dostojewskis begreiflich gemacht.

Die wahre Kunst wissenschaftlicher Betrachtungsweise besteht nicht in dem Aufstellen allgemeiner Sätze, aber auch nicht in dem geistlosen Auflesen einzelner Beobach­tungstatsachen. Sie liegt in der Fähigkeit, mit Hilfe der Ideen, die eine tiefere Bildung verleiht, sich in das Indi­viduelle zu versenken, und so im einzelsten das All-gemeine, den Geist zu finden. Wie man das Individuum zu erfassen hat, ohne sich in alltäglichen Nichtigkeiten zu verlieren, das kann man aus Saitschicks Ausführungen lernen. Es gelingt ihm das Persönlich-Eigentümliche Tol­stois ebenso auszuschöpfen wie das Dostojewskis. Sait-schick verläßt nie den Standpunkt der großen Perspektive, aber was er sieht, sind nicht nebellose unklare Gebilde, sondern lebendige Naturwesen. Von Tolstoi sagt er: «Er sieht tief in das Herz unserer kranken Gesellschaft, er kennt jeden ihrer fieberhaften Pulsschläge. Tolstoi ist kein kalter gesellschaftiicher Physiologe wie Balzac und Flau-bert, ein tieflebender Mensch spricht aus den Werken Tolstois, der vor der Wahrheit nicht zurückschrickt, der wohl zu geißeln, aber dabei auch aufrichtig zu lieben ver­steht.» «Die Mystik Tolstois ist nicht so stürmisch wie diejenige Dostojewskis. Eine plas tische Mystik ist die My­stik Tolstois. Der Mystizismus Dostojewskis ist ein schwe­rer Traum von platonischen Ideen; jenseits der Zeit und des Raumes, ein schöner seliger Traum ist die Weltan­schauung Tolstois. Dostojewski liebt so das Leiden, daß er auch im Schlafe leidet, Tolstoi hingegen hat genug

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am Tage gelitten und will nun ausruhen. Die Welt, die er sich errichtet, ist eine ruhige; heiliger Ernst herrscht in ihr, und tiefe Liebe zur Menschheit ist das mystische Fundament, auf welchem Tolstoi seine Weltanschauung erhebt.» Die ganze Charakteristik Tolstois verläuft in gleich lapidaren Sätzen, die immer die Sache in ihrem Zentrum erfassen, und die unbedingt zu der Behauptung berechtigen, daß wir in Saitschick einen der besten Essay­isten sich entwickeln sehen.

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EIN NEUES BUCH ÜBER

GOETHES «FAUST»*

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Wer im gegenwärtigen Zeitpunkte mit einer Betrachtung von Goethes Faust-Dichtung hervortritt, begegnet schwie­rigen Verhältnissen. Gelehrte und Schriftsteller haben dies Nationaldrama der Deutschen von den denkbar verschie­densten Gesichtspunkten aus betrachtet und eine unüber­sehbare Literatur darüber geschaffen. Man braucht nur einen Teil dieser Literatur zu kennen, um zu wissen, daß manche Schwierigkeiten, die sich dem Verständnis des Gedichtes in den Weg stellen sollen, erst von Ästhetikern, Philosophen und Philologen künstlich geschaffen worden sind, daß manches Rätsel, das man in dem Werke zu finden glaubt, nicht wirklich vorhanden, sondern nur erträumt ist. Man muß sich mutig einen großen Teil der Fragen, die an «Faust» geknüpft worden sind, vom Halse schaffen,

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* Goethes Faust-Dichtung in ihrer künstlerischen Einheit, dargestellt von Veit Valentin, Berlin. Verlag von Emil Felber 1894.

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wenn man ihn in unbefangener Weise als Kunstwerk be­trachten und genießen will. Nur wer sich diese Tatsache vor Augen hält, wird das Buch, dem diese Zeilen gewid­met sind, richtig beurteilen und es dann aber auch mit wahrer Freude lesen.

In bezug auf die Betrachtungsarten von Kunstwerken der Poesie hat gegenwärtig die entwicklungsgeschichtliche die Oberhand. Sie verfolgt die allmähliche Entstehung eines Werkes und sucht darzustellen, wie die Teile im Laufe der Zeit durch den Künstler zusammengefügt wor­den sind. Man braucht kein Feind dieser Betrachtungs­weise zu sein, um einzusehen, daß uns durch sie der Genuß und das Verständnis eines Werkes als eines künstlerischen Ganzen leicht verlorengehen kann. Zu diesem Verständ­nis führt nicht zerpflückende Gelehrsamkeit, sondern die nachschaffende Phantasie des Genießenden und Betrach­tenden, die die künstlerische Einheit eines Werkes zu er­fassen und das Verhältnis der Teile zu dieser Einheit zu beurteilen und zu empfinden im Stande ist. Für diese von der nachschaffenden Phantasie ausgehende Betrachtungs­weise ist unter unseren Zeitgenossen Herman Grimm vor­bildiich, der in seinem Buche über Goethe ein Muster von ihr geliefert hat.*

Auf den Boden dieser Betrachtungsart stellt sich Veit Valentin in seinem Buche über «Faust». Er beruft sich dabei auf Goethe selbst, der sein Werk in diesem Sinne aufgefaßt haben will. Im «Vorspiel auf dem Theater» läßt Goethe die verschiedenen Stimmungen, die einem Kunst­werk entgegentreten, zum Ausdruck kommen. Der Theaterdirektor,

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* Von diesem im Jahre 1876 erschienenen Buche kommt in den nächsten Tagen bereits die 5. Auflage zur Ausgabe.

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der praktische Ziele verfolgt und die schau­lustige Menge kennt, verlangt von dem Dichter effektvolle Einzelheiten und will dann gerne auf die Einheit des Gan­zen verzichten. «Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken!... Was hilft's, wenn Ihr ein Ganzes dargebracht? Das Publikum wird es Euch doch zerpflücken.» Der Dich­ter weist das mit Entrüstung zurück: «Ist es der Einklang nicht, der aus dem Busen dringt und in sein Herz die Welt zurückeschlingt ?» «Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe, wo es in herrlichen Akkorden schlägt?... Des Menschen Kraft, im Dichter offenbart !»

Valentin behauptet mit vollem Recht: In der Zeit, in der Goethe das «Vorspiel auf dem Theater» schrieb (1797), stellte er sich die Aufgabe, «die genial hingeworfenen Scenen des , die noch keinen über die tiefergrei­fende unmittelbar packende poetische Wirkung der Einzel-schicksale hinausgehenden Plan erkennen lassen, zu Glie­dern eines solchen Planes» zu machen. «Die schwanken­den Gestalten, die aus dem Dunst und Nebel früher Jugendtage wieder aufsteigen, gewinnen jetzt Festigkeit und Klarheit als Glieder eines weitausgreifenden Planes, in dem sie zu erhöhter Bedeutung gelangen müssen.» Valentins Buch soll nun den ausführlichen Beweis liefern, daß es dem Dichter auch gelungen ist, dieses Ziel zu er­reichen. Der Verfasser verfällt dabei aber nicht in den Fehler, den viele philosophische Fausterklärer machen. Sie haben die Sache so dargestellt, als wenn die Dichtung bloß die Verkörperung eines abstrakten Begriffes, einer Ver­nunftidee sei. Solche Erklärer begreifen nicht, daß sie da­durch statt auf die lebensvollen Bilder und Charaktere, auf die es in der Kunst ankommt, den Blick auf tote Ideengerippe

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lenken, die das Kunstwerk zwar stützen, aber sei­nen Inhalt nimmer erschöpfen. Valentins Erklärungsart zeigt, warum an einer bestimmten Stelle des «Faust» ge­rade eine bestimmte Begebenheit, eine bestimmte Äuße­rung eines Charakters steht. Er geht dabei so vor, wie uns der Ästhetiker die strenge Einheit und innere Harmonie einer Raphaelschen Komposition auseinandersetzt. Und man muß sagen, daß unter diesem Gesichtspunkt die innere Gesetzmäßigkeit und durchgängige Symmetrie der Dichtung in einem ganz neuen Lichte erscheint.

In geistvoller Weise zeigt Valentin, warum an die eigent­liche dramatisch-menschliche Entwickelung sich im An­fange und am Ende eine vorbereitende und abschließende Handlung im Himmel gliedert; dann legt der Verfasser dar, wie innerhalb des sich auf der Erde abspielenden Dramas der Dichter in folgerichtiger Entwickelung erst des Mephistopheles' Einfluß auf Faust stets wachsen, und dann mehr und mehr Fausts Selbständigkeit hervortreten läßt, bis zuletzt Mephistopheles nur noch als Diener für Fausts ureigene Pläne in Betracht kommt. Auf Einzelnes kann hier nicht eingegangen werden, wohl aber möchte ich darauf hinweisen, daß manche Partien des ersten Tei­les, die bisher wie willkürliche Einschiebungen erschienen, von Valentins Gesichtspunkt aus wie ein notwendiges Glied in der Entwickelung des Ganzen dastehen. Von grundlegender Bedeutung aber ist die uns hier entgegen­tretende Auffassung der «Klassischen Walpurgisnacht» und des Erscheinens der Helena sowie des Homunkulus. Bis zu den Ereignissen am Kalserhofe hat Faust nur Ge-nüsse erlebt, die die Gegenwart zu bieten vermag. Seine höhere Natur zeigt sich dadurch, daß er in diesem Genußleben

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nicht untergeht. Aber ist diese Gegenwart für Faust nicht rein zufällig? Bleibt nicht die Frage offen: Wie wäre es, wenn Faust in einer anderen Zeit gelebt hätte? Hätte er da nicht Verhältnisse vorfinden können, die seiner Sehn­sucht nach Genuß entsprochen hätten? Es muß gezeigt werden, daß das endliche Leben Fausts Streben in keinem Falle befriedigen kann, weil er in die Geheimnisse des Un­endlichen dringen will. Deshalb muß er auch in die Ver­hältnisse vergangener Zeiten eingeführt werden. Als Typus der Vergangenheit galt Goethe das alte Griechentum. Die Schatten der griechischen Welt müssen wieder erweckt werden, um zu Faust in ein lebendiges Verhältnis treten zu können. Diesem Zweck dient die klassische Walpurgis­nacht. Die Wirklichkeit schaffenden Urgewalten der Natur müssen entfesselt werden, um die entschwundenen und nur in der Idee fortlebenden Gestalten der Vorwelt zu neuer Gegenwart zu beleben. Deshalb erscheinen die materiellen Schöpfungskräfte in der klassischen Walpur­gisnacht. Um das Urbild weiblicher Schönheit, die Helena selbst, wieder zu realem Leben zu erwecken, bedarf es aber nicht nur physischer und geologischer Kräfte, sondern eines organischen Lebenskeimes, der sich in das rein mate­rielle Geschehen mischen muß. Das ist der Homunkulus, der am Muschelthron der Galatea zerschellt, um die mate­riellen Elemente zu beleben, damit sie reif werden, der Idee der Helena Körperhaftigkeit zu verleihen.

Es mag sein, daß Valentin mit mancher seiner Ausfüh­rungen noch nicht das Richtige getroffen hat. Seine Be­trachtungsweise aber erscheint mir als eine solche, die ge­eignet ist, die Fehler, die sie im ersten Anlauf mit sich bringt, im Laufe der Zeit selbst zu verbessern.

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MARIE EUGENIE DELLE GRAZIE*

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Viel wird heute von «neuer Kunst», von dem «Geist der Moderne» gesprochen. Man hat zuweilen den Eindruck, als ob bereits die ganze jüngere Generation erfüllt wäre von diesem Geiste. Da kommt aber bisweilen etwas, das an der Wahrheit dieses Eindrucks stark zweifeln läßt. Vor einem Jahr ist ein Epos «Robespierre» von M. E. delle Grazie erschienen. Mehr als in irgendeinem andern Dich­terwerke der Gegenwart hätte man in diesem Epos die Morgenröte einer neuen Zeit erblicken müssen. Aber die gestrengen Kritiker der «Moderne» scheinen achtlos vor­übergehen zu wollen. Sie machen es nicht viel besser, als die von ihnen vielgeschmähten Professoren der Ästhetik und Literaturgeschichte, die ja auch selten eine Empfin­dung für das wahrhaft Große ihrer eigenen Zeit haben. Einer der gepriesensten Literaturrichter der Gegenwart, Hermann Bahr, hat es nicht unter seiner Würde gefunden, eine kurze Besprechung des «Robespierre» mit den Wor­ten zu beginnen: «Sonst unbescholtene und nette Leute, welche nur gar nichts vom Künstler haben, drängt es oft plötzlich, die Gebärden der Dichter zu äffen.» Wer so spricht, kennt zwar die Allüren der «Moderne», nicht aber deren tiefere Kräfte. M. E. delle Grazies Dichtung ist das Spiegelbild der modernen Weltanschauung aus einer tie­fen, stark empfindenden, klar sehenden und mit einer gro­ßen künstlerischen Gestaltungskraft ausgestatteten Seele. Wie sich einer tief-gemütvollen und stolzen Natur das Bild

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* Diese kurze Charakteristik bringen wir im Hinblick auf den nächsten Rezitationsabend des Herrn Hofschauspielers, Neuffer, der u. a. auch Ge­dichte von M. E. delle Grszie zum Vortrag bringen wird.

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der französischen Revolution darstellt, so hat es delle Gra­zie wiedergegeben. Wie Agamerunon, Achill, Odysseus und die andern Helden des Trojanischen Krieges vor unse­rer Phantasie in lebensvollen Gestalten auftauchen, wenn wir Homers Ilias auf uns wirken lassen, so Danton, Marat, Robespierre, wenn wir delle Grazies Epos lesen. Nur wer blind ist gegenüber dem Geiste unserer Zeit, oder nur des­sen Pose versteht, kann die Bedeutung dieser Dichtung verkennen. Nichts Kleinliches ist in den schmerzlichen Tönen, die hier angeschlagen werden. Wenn delle Grazie Leid und Schmerz schildert, so tut sie es nicht, weil sie auf die Misere des alltäglichen Lebens hindeuten will, sondern weil sie Disharmonien in der großen Menschheitsentwick­lung erblickt. Robespierre ist der Held, in dessen Seele alles das lebt, was die Menschheit immer Idealismus ge­nannt hat. Er endet tragisch, weil der große Traum von den Idealen der Menschheit, den er träumt, notwendig sich mit dem gemeinen Streben niedriger Naturen ver­bünden muß. Selten hat ein Dichter so tief in eine Men­schenseele geblickt, wie delle Grazie in die Robespierres. Zehn Jahre, die besten ihres Lebens, hat die Dichtetin ihrem Werke gewidmet. Vertiefung in die Geschichte der großen französischen Freiheitsbewegung ging während dieser Zeit Hand in Hand bei ihr mit dem Studium der modernen Wissenschaft. Sie hat sich dabei zu der Höhe menschlichen Daseins erhoben, wo man die tiefe Ironie durchschaut, die in jedem Menschenleben liegt; wo man selbst über die Nichtigkeit des Daseins lächeln kann, weil man aufgehört hat, Verlangen nach demselben zu haben. Den Weg, der sie auf diese Höhe geführt hat, können wir in den Dichtungen verfolgen, die sie vor dem « Robes­pierre»

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veröffentlicht hat. Vor fünfzehn Jahren erschien von ihr das erste Bändchen «Gedichte», rasch folgten nach das Epos «Hermann», das Drama «Saul», die Novelle «Die Zigeunerin». Der hinreißende rhetorische Schwung, die Gestaltungskraft und die Gedankentiefe, die im «Ro­bespierre» zu ihrem vorläufigen Höhepunkt gekommen sind, beleben schon die ersten Erzeugnisse. Gedichte, aus denen wir die Natur selbst tönen zu hören glauben, sind in dem erwähnten ersten Bändchen enthalten. Während die Dichterin am «Robespierre» arbeitete, sendete sie dann noch eine Sammlung von Gedichten, «Italische Vignet­ten», und zwei Erzählungen, «Der Rebell» und «Bozi», in die Welt. Die «Italischen Vignetten» sind aus der Stim­mung heraus erwachsen, die sie überkam, als sie bei einer Romreise sah, wie menschliche Größe eng zusammen sein kann mit menschlicher Nichtigkeit, Cäsarenmacht mit ethi­scher Fäulnis, Herrensinn mit Sklavensinn. Das hat sie mit ihrem hellsehenden Blick in den steinernen Resten einer großen Zeit erschaut und in ihren «Vignetten» ausgespro­chen. Im «Rebell» schildert sie einen Zigeuner aus der ungarischen Theißgegend, der sich trotz seines Zigeuner-lebens emporgerungen hat bis zu den Höhen der Mensch­heit, der das Leben in seiner Tiefe durchschaut, so daß er als Weiser unter Toren lebt und dort Wahrheit erkennt, wo andere nur heuchlerische Masken anbeten. Diesen Charakter so auszugestalten, daß er in überzeugender Wahrheit vor uns steht, wie es delle Grazie getan hat, dazu gehört ein tiefer Blick in die Welt und eine vollendete künstlerische Gestaltungskraft. Und daß sie außer den Tönen erhabenen Ernstes auch die des wahren Humors anzuschlagen versteht, hat sie in der Erzählung «Bozi»

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bewiesen. «Bozi» ist ein Büffel, aber kein gewöhnlicher Herdenbüffel, sondern ein Herrenbüffel, ein Überbüffel. Er fügt sich nicht den Satzungen, die in der «ewigen Welt-ordnung» für Büffel gegeben sind, und äfft dadurch die ganze hochweise Honoratiorenschaft seines Wohnorts.

Viel ist zu erwarten von einem Geiste, der so begonnen. Sache derer, die von «moderner Bildung» sprechen, müßte es sein, das Schaffen dieses Genius zu verfolgen.

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DAS MÄDCHEN VON OBERKIRCH

Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen von Goethe

Einleitung

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In der Weimarischen Goethe-Ausgabe ist zum erstenmale das Dramenfragment «Das Mädchen von Oberkirch» ge­druckt. Nur der erste Auftritt, den wir hier vorlegen, ist ausgeführt. Der zweite bricht mitten in einem Satze ab. Zu den beiden Personen des ersten Auftrittes tritt der Geistliche Manner. Wir erfahren, daß der Baron sowohl wie Manner ehedem sich der revolutionären Bewegung angeschlossen hatten, aber zurückgeschreckt worden sind durch die Greuel der Schreckensmänner. Im Laufe des Gespräches zeigt sich, daß auch Manner Marie liebt. Der Baron erklärt, daß er das Mädchen schon früher, in den «Zeiten des blühenden Glückes» «unter Bedingungen» zu der Seinigen habe machen wollen. Jetzt stützt er sich in erster Linie auf den Vorteil, den ihm und seiner Familie

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die Verbindung mit einer der edelsten Töchter des Volkes bringen würde. Er glaubt mit diesem Vernunftgrunde eher bei der Gräfin durchzudringen, als wenn er bloß seine Liebe, den eigentlichen Beweggrund, sprechen ließe. Man­ner findet, daß der Pöbel sich durch die Verbindung kei­neswegs gewinnen lassen werde, ebenso wenig wie durch das Benehmen des Prinzen, der sich den Namen der «Gleichheit» gab. «Die fürchterlichen Jakobiner sind nicht zu betrügen, sie wittern die Spur jedes rechtlichen Men­schen und dürsten nach dem Blute eines jeden.» Als Man­ner sieht, daß sein Nebenbuhler durch diese Vorstellungen nicht wankend zu machen ist, fragt er diesen noch, ob er denn mit Marie einig sei. Der Baron muß bekennen, daß er noch nicht einmal daran gedacht habe, sich dieser Ein­willigung zu vergewissern. Das Fragment bricht ab in dem Augenblicke, wo die Gräfin sich geneigt erklärt, mit dem Baron zu beraten, was in der gefährlichen Lage, in der sich die Familie befindet, das nützlichste sei.

Für die Fortsetzung liegt nur ein ganz ärmliches Schema vor.

A. 1. Baroneß (so wird die Gräfin in dem Schema ge­nannt), Baron. 2. Baroneß, Baron. 3. Baroneß, Baron, Manner. 4. Baroneß, Baron, die Sansculotten. B. 1. Baro­neß, Marie 2. Baroneß, Marie, Manner. 3. Municipalität.

C. 1. Baroneß, Baron. 2. Baroneß, Marie 3. Marie 4. Marie, Manner. 5. Marie. D. l. Marie (mit dem Blatt).

2. Die Municipalität. 3. Das Münster. 4. Menge, Zug.

5. Anrede als Vernunft. 6. Anbetung. 7. Angeboten, Ge­mahl. 8. Umwendung. 9. Gefangennehmung. 5. Marie, Baron, Manner (,)eratschlagen sie zu retten), Sansculotten dazu.

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Gustav Roethe, der Herausgeber des Drameufragmentes in der Weimarischen Ausgabe, hat in den «Nachrichten der K. Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen» (Phllologisch-historische Klasse 1895, Heft 4) eine Ab­handlung veröffentlicht, in der er seine Ansichten über die Entstehungszeit und den Inhalt des «Mädchens von Ober­kirch», wie er Goethe vorgeschwebt hat, veröffentlicht. Die Entstehungszeit hat Roethe zweifellos richtig be­stimmt. In dem Stücke ist von dem unglücklichen Fürsten Philipp Egalité die Rede, der am 6. November 1793 hin­gerichtet worden ist; ferner von dem Vernunftkult, der am 10. November 1793 in Paris zum erstenmale gefeiert und noch in demselben Monate in Straßburg nachgeäfft worden ist. Die Idee zu dem Drama ist also nach dieser Zeit entstanden. Die andere Zeitgrenze ergibt sich aus der Erwägung, daß das «Mädchen von Oberkirch» vor der «Natürlichen Tochter» entstanden sein muß. Beide Dich­tungen sind Spiegelungen der Revolutionsereignisse in Goethes Geist. Aber die «Natürliche Tochter» stellt eine reifere Stufe dar. Goethe behandelt nicht mehr die Äuße­rungen der revolutionären Bewegung in einer außerhalb des Ursprungsortes der Revolution gelegenen Gegend; er sucht die sozialen Strömungen, die der großen Umwäl­zung zugrunde liegen, in Paris selbst auf An der «Natür­lichen Tochter» fing Goethe im Dezember 1799 an zu arbeiten. Zwischen 1794 und 1799 ist also der Plan zum «Mädchen von Oberkireh» entstanden. Bis hierher hat Roethe gewiß Recht. Die Tagebücher Goethes geben keinen Aufschluß über die Entstehung des Fragmentes. Roethe geht noch weiter und möchte aus Untersuchungen über den Prosastil Goethes, aus der Vergleichung der

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Figuren in den «Aufgeregten» (1793 oder 94) und in den «Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter» (1794-95) mit denen im «Mädchen von Oberkirch» schließen, daß das Fragment den erstgenannten Dramen nahestehe und bald nach ihnen entstanden sei. Auch meint er, die Auf­fassung der Revolution sei in «Hermann und Dorothea» geklärter als im «Mädchen von Oberkirch». «Hermann und Dorothea» ist vor dem 9. September 1796 konzipiert. Daher soli das Dramenfragment 1795 oder 96 niederge­schrieben sein. Erwägungen darüber, ob ein Dichter be­stimmte Stilwendungen gebraucht oder nicht, ob eine Figur in einem Werke reifer erscheint oder nicht, rühren aber von einer zu mechanischen Auffassung von dem Ent­wicklungsgange her, wenn es sich nur um einen Zeitraum von 7 Jahren handelt.

Für die hypothetische Bestimmung des Fortgangs der Handlung zieht Roethe die Geschichte von Straßburg her­an, ohne auf diesem Wege zu einem Resultate zu gelangen. Auch der Umstand, daß die Handlung der «Göttin der Vernunft» von Heyse mit der des Goetheschen Stückes im wesentlichen übereinstimmt, ergibt nichts. Denn Heyse hat auf eine Anfrage Roethes (siehe die genannte Abhandlung S.510) geantwortet, daß es ihm bei seinen Quellenstudien «mehr um die Stimmung der Zeit, als um genauere histo­rische Fakta» zu tun war, und daß sein Drama auf freier Erfindung beruhe. So sieht sich denn Roethe genötigt, die mutmaßliche Handlung dadurch zu konstruieren, daß er das Schema interpretiert. Solche Interpretation hat aber immer etwas Bedenkliches. Nichts spricht dafür, daß Goethe das hingeworfene Gedankenschema bei der Aus­arbeitung nicht in wichtigen Punkten umgestoßen hätte.

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Wer da nachkonstruiert, setzt sich der Gefahr aus, etwas zu konstruieren, was in der vermeintlichen Form nie zum Dasein gekommen wäre. Und wollte er sagen: aber für den Augenblick der Abfassung ist die Konstruktion rich­tig, so ist darauf zu erwidern: niemand kann wissen, wie viele Möglichkeiten, einen der hlngeworfrnen Punkte aus­zugestalten, dem Dichter mehr oder weniger klar durch den Kopf gegangen sind. Wer versuchen will, das Dramen­fragment nach dem Plane zu Ende zu denken oder zu dichten, mag es tun. Er muß sich nur klar darüber sein, daß er es nicht mit Goethes, sondern mit seinem eigenen Werke zu tun hat.

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BIN WIENER DICHTER

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Vor einigen Wochen fiel mir in Wien das damals eben erschienene Buch «Ashantee» von Peter Altenberg in die Hände. Ich kannte das erste Werk dieses Dichters, «Wie ich es sehe». Als es erschienen war, ging unter den jungen Wiener Literaten ein Jubel los, wie wenn der Dichtung nun ein neues Land erobert worden wäre. Wie wenn aus den Tiefen der Seele Töne herauf klängen, die bisher noch von keinem Ohre gehört worden sind. Ich konnte den Jubel nicht recht begreifen. Das ist mir in den letzten Jahren oft so gegangen, wenn ich hörte, da oder dort sei wieder ein gewaltiges Genie erstanden. Alte bekannte Weisen fand ich oft, wo die unbedingteste Originalität verkündet wurde. Auch mit Peter Altenberg war es nicht anders. Ich fand

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in «Wie ich es sehe» eine wirkliche Dichtung. Etwa vier Fünftel des Buches waren für mich unverdaulich; aber der Rest führte mich in Seelentiefen, die mir zwar nicht neu waren, in die ich dem Künstler aber mit sehnsüchtiger Liebe folgte. Er sprach von vielem Alltäglichen; aber er wußte ihm einen seltenen Glanz zu leihen; das Gemeine wird vornehm, wenn es aus seinem Munde kommt. Einen wahren Dichter, aber keinen von den großen, glaubte ich in Peter Altenberg zu erkennen. Von den Tiefrn der Natur, von den Abgründen, den großen Leiden und Freuden der Menschenseele weiß Peter Altenberg nicht zu singen. Was den Menschen, der sich in die ewige Weltharmonie ver­tieft, am meisten interessiert, scheint ihm fremd zu sein. Das Kleinliche, das Unbedeutende, was an der Oberfläche der Dinge lebt, verklärt er dichterisch. Für philosophische Naturen ist er ungenießbar. Er hat ihnen nichts zu sagen. Für sie ist gar nicht vorhanden, wovon er spricht. Es ist ihnen das Zufällige, das Wertlose, das sie nichts angeht. Von den «ewigen Ideen» dringt kein Licht in Altenbergs Augen. Aber das nicht Ewige, das Zufällige leuchtet in seiner Hand wie in der Platos die «ewigen Ideen». Man muß eine gute Stunde haben, wenn man an Altenberg Gefallen finden soll. Man muß in der Stimmung sein zu tändeln, wollüstig in dem Kleinlichsten, dem Unbedeu­tendsten zu schwelgen. Wenn man nichts Rechtes mit sei­ner Zeit anzufangen weiß, dann greift man am besten zu seinen Büchern. In einer solchen Stimmung nahm ich auch sein neuestes Werk «Ashantee» vor. Und fand wieder den kleinen Dichter, den ich in «Wie ich es sehe» gefunden hatte. Ich schwelgte wieder in den wollüstigen Empfin­dungen, die das Unbedeutende, die Oberfläche der Dinge

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erregen. Nicht ganz aufrichtig aber schienen mir diese Empfindungen zu sein. Altenberg macht sich zuweilen etwas vor. Wenn ein ganz Kleines doch kein Gefühl in ihm erregen will, dann wird er zum Komödianten der Seele. Er spielt sich Empfindungen vor, die er nicht hat. Denn Altenberg ist sehr kokett. Und nicht nur die Koket­terie erinnert bei ihm an die Empfindungswelt der ent­arteten Frauennatur. Er hat einen ausgesprochen weibi­schen Zug. Ja, ich finde einen noch größeren Mangel bei ihm. Ihm fehlt das Knochengerüste des Geistes. Wie ein Kind, das mit verkrüppelten Knochen zur Welt kommt, wirkt er auf mich. Er scheint zu glauben, daß auch nur der kleinste Gedanke den Dichter schändet.

Bald nachdem ich Altenbergs Buch gelesen hatte, fand ich in der Wiener Wochenschrift «Die Zeit» einen inter­essanten Aufsatz von Hermann Bahr über die Dichtung. Ich kann nichts dafür, aber mir ist alles interessant, was Bahr schreibt. Er ist kein Kritiker wie andere. Er geht nicht um die Schöpfungen herum, über die er spricht. Er kann mit einer beneidenswerten Behendigkeit in ihr Inne­res kriechen. Und wenn er dann drinnen ist, dann sagt er oft Dinge, die so aufklärend über die Kunstwerke sind wie Keplers Gesetze über die Natur der Planeten. Ich dachte mir, auch über Peter Altenberg wird Hermann Bahr etwas Lichtbringendes sagen können. Als ich seinen Aufsatz zu lesen anfing, war ich ganz beschämt. Solch einen Erfolg wie Peter Altenberg wünscht sich Bahr. «Gleich der Liebling der Kenner und bei den Leuten des bloßen Verstandes so verhaßt zu sein. Selig wandelt er, vielgeliebt, so dahin und lacht die dumme Menge der aus, die ihn nicht begreifen dürfen, die ihn hassen

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müssen; denn er ist der reine Künstler, der nirgends die Region des bloßen Verstandes streift; diesem fehlen die Organe für ihn...» Nun wußte ich, wie es mit mir steht. Zwar hasse ich Peter Altenberg nicht. Aber ich bekam doch die Empfindung, daß mich sein Kritiker zu der dum­men Menge der «Gescheiten» rechnen wird, die Altenberg «nicht begreifen dürfen». Hermann Bahr will nun in sei­nem Aufsatz zu den dummen «Gescheiten» oder den «Barbaren, wie Barrés sie genannt hat, über Herrn Peter» sprechen. Und was erzählt der Kritiker den Barbaren? Daß jeder Mensch in seiner Jugend von Posa und Max ge-schwärmt und später im Leben gefunden hat, daß es in Wirklichkeit, auf der Straße, im Kaffeehause keinen Posa und keinen Max gibt. Und daß ein Drama, dessen Per­sonen naturwahr geschildert sind, uns nicht befriedigt. Daß wir nicht zufrieden sind, wenn wir die Wäscherin und den Kellner, die wir aus dem Leben kennen, auch auf der Bühne antreffen. Die Wirklichkeit will doch idealisiert sein, wenn sie künstlerisch wirken soll, so lehrt Hermann Bahr. Aber was müssen wir tun, so fragt er, da wir doch in der Wirklichkeit keine Idealfiguren wie Götz oder Posa an­treffen? Was die «dummen Gescheiten» tun sollen, um die Kunst zu entdecken, das hat Hermann Bahr mit wenigen Worten gesagt: «Nun, da weiß ich ihnen einen Lehrer. Da brauchen sie bloß zu unserm Herrn Peter zu gehen. Er hat das Glück, die Menschen zu liehen. Er sieht jeden Kommis mit seiner Liebe an, und so kann er den Max und den Posa in jedem Kaffeehause finden. Er hat den großen Blick der ewigen Liebe. Jch hätte ihnen das eigentlich kürzer sagen können, ich hätte hloß sagen sollen: er ist ein Dichter.»

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Als ich das gelesen hatte, da fühlte ich mich doch wieder nicht so ganz als Barbar. Im Gegenteil. Hermann Bahr muß die elementarsten Wahrheiten, die trivialsten Dinge sagen, um die «Barbaren» zu Herrn Peter emporzuheben. Wie Bahr über Herrn Peter könnte man über die unbe­deutendsten Dichterlinge sprechen. Aber am Schlusse des Aufsatzes kommt Bahrs wahre Empfindung zum Durch­bruch. «Aber er ist nicht der naive Dichter, der nicht Ge­meines sagen kann, weil es doch unter seinem Blick immer gleich zum Edlen verwandelt wird. Nein, unser Peter hat das Gemeine oft erblickt. Dann scheint der Dichter in ihm zu schlafen, er hört die nichtigen Reden der Leute und schaut ihre irdischen Gebrechen an. Es sind Pausen in seiner Liebe. Wird sie endlich wach, dann schreit er auf so selig, als ob nun auf einmal alle mesquinen Dinge unter dem Strahl seiner Güte verklärt wären, und in ihrer Ver­klärung muß er sich immer verwundert erinnern, wie arm sie doch eben noch gewesen sind. Er hat die Eigeriheit, es dem Gretchen niemals zu vergessen, daß sie eben noch, bevor seine Liebe erwachte, eine dumme kleine Wäsche­rin war. Er ist ein Dichter, der fortwährend darüber staunt, daß er ein Dichter ist. Dies macht ihn uns lieb wie ein gutes Kind.» Das ist ja dieselbe Meinung, die ich mir auch über Herrn Peter gebildet habe. Der Dichter erwacht in ihm, wenn er die mesquinen Dinge in einem schönen Lichte schimmern sieht, das von ihrer Oberfläche ausgeht. Aber diese Schönheit ist eine zufällige. Man geht einen Schritt weiter, und dasselbe Ding, das erst noch wie ein Kristall gestrahlt hat, erscheint in seiner matten Gemein­heit. Könnte Herr Peter das wahrhaft Ewige in der dum-men kleinen Wäscherin sehen und erschiene sie ihm dann

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als Gretchen: er müßte die dumme kleine Wäscherin völlig vergessen. Was mich von Hermann Bahr unterscheidet, ist also nur, daß ich bei dem «reinen Künstler», dem Herrn Peter, nicht übersehen kann, daß er für das Ewige in den Dingen, für das Rückgrat des Lebens keinen Sinn hat. Ich kann einmal den Glauben nicht aufgeben, daß man ganz «gescheit» sein kann und doch künstlerisch empfinden, ja sogar künstlerisch schaffen kann. Warum sitzt denn die «dumme Menge der Gescheiten» andächtig im Theater, während Gerhart Hauptmanns «Versunkene Glocke» ge­spielt wird?

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RUDOLF STRAUSS:

«NOVELLEN-PREMIEREN»

Wien 1897

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Vieles Beachtenswerte sagt ein Wiener Schriftsteller, Ru­dolf Strauß, in einer eben erschienenen kleinen Schrift «Novellen-Premieren». Nichts erheblich Neues. Zum Teil Dinge, die in Gesellschaften von Literaten jeden Abend am Biertische besprochen werden. Wie oft wird geklagt über die reichen Dilettanten, die sich nur gedruckt sehen wollen und deshalb für ihre wertlosen Bücher von den Verlegern nicht nur kein Honorar verlangen, sondern für die Ehre, auf den Büchermarkt zu kommen, erhebliche Geldopfer bringen! «Sie drücken durch ihr massenhaftes Angebot die Honorare tief herab, und die Begabten sehen sich genötigt, des täglichen Brotes wegen eilige Bücher zu machen, die hinter ihrem tatsächlichen Können sehr

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weit zurückzustehen pflegen», bemerkt Strauß. Und nicht weniger absprechend leuchtet er den Kritikern dieser Lite­raturzerstörer heim. «Und das Traurige an der Sache ist, daß diese Dilettanten allerseits gefördert werden, daß man gedanken-, oft gewissenlos sie unverdient begünstigt. Meist führen ganz junge Leute das kritische Zepter, die gerne selber erst empor möchten und von den gut Be­sprochenen Gewinn und Vorteil sich verheißen. Es ist ganz merkwürdig, von welchen Gesichtspunkten solch junge Leute die Werke oft betrachten. Da hat selbst einer von ihnen einen ganz dilettantischen Roman geschrieben, den er gerne irgendwo unterbrächte, und nun führt er um die Bücher des von ihm gewünschten Verlages einen wah­ren Eiertanz auf, preist sie, erhebt sie, weiß gar nicht ge­nug des Guten. Dort wieder bilden sie eine festgefügte Clique und folgen dem Prinzip des gegenseitigen Auf­lobens. In mächtigen Fanfarenstößen rufen sie die Gläu­bigen zur Andacht für den Dichter, und das Publikum läßt sich wohl einmal, zweimal, dreimal täuschen, aber am Ende sieht es doch ein, daß es betrogen, daß es zum Göt­zendienst verleitet ward, verliert alles Zutrauen, alle Lust und geht über die Bücher hinweg wie über die Kritiken.» Und die Redakteure? Sie geben jungen Leuten, denen alle Reife zum Kritiker fehlt, die Bücher zum Rezensieren. Sie tun dies nur darum, weil «die Bezahlung mit der Mühe in gar keinem Verhältnisse steht und weil sich höchstens Anfänger mit diesen kargen Pfennigen begnügen, Leute, die sich noch eine Ehre daraus machen, wenn sie nur ge­druckt sind, und die nur außerdem ein kleines Neben-geschäft noch erhoffen. Bedeutendere Literaten geben sich zu diesen kurzen, zehn Zeilen langen Buchkritiken gewiß

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selten her. Die Arbeit, die es kostet, die vielen, oft so widerlichen Neuerscheinungen zu lesen, ist ja so riesig groß, daß jeder halbwegs nur Begabte sie lieber wohl eige­nen Sachen zuwenden wird. ... Die traurige Folge dieser Verhältnisse ist die völlige Apathie, die im Publikum all­mählich gegen alles Geschriebene herrschend geworden ist, eine Apathie, die nur vor dem Theater haltmacht. ... Meisterwerke der Novellistik und des Romans gehen spur­los unter, und erst wenn ein Drama den Autor bekannt gemacht hat, kehrt man sich manchmal seinen längst er­schienenen und früher nicht beachteten Erzählerwerken zu.» Strauß macht wieder auf die ebenfalls oft besprochene Tatsache aufmerksam, daß Sudermann mehrere seiner glänzenden Geschichten, darunter «Das schimmernde Be­kenntnis», «Frau Sorge», längst geschrieben hatte, als sein Name durch den Theatererfolg der «Ehre» erst bekannt wurde. Aus dieser Tatsache der völligen Indifferenz des Publikums erklärt sich auch der seltsame Zug nach der Bühne, der wie eine fixe Idee sich aller Schriftsteller be­mächtigt hat; jener wunderliche Zug, der geborene Novel­listen und Erzähler auf die so glatten und schlüpfrigen Pfade der Dramatik weist. So alltäglich diese Wahrheiten heute sind: ich möchte doch auf das Büchlein von Strauß hinweisen, denn hier spricht einer, dessen Entrüstung neu ist, der sich noch nicht bis zur Resignation gegenüber die­sen Erscheinungen « durchgerungen» hat und der noch an die Möglichkeit glaubt, Wandel in diesen Dingen zu schaf­fen, ja, der sogar Vorschläge zur Besserung macht. Er fordert die Rezitatoren auf, sich der neuerscheinenden Werke der Erzählerkunst anzunehmen und «Novellen-Premieren» zu veranstalten. Einem größeren Publikum

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sollen die guten Werke der Novellistik vorgefühtt werden wie im Theater die Schauspiele. Und durch diese Art der Veröffentlichung soll die Presse, die Kritik veranlaßt wer­den, neuerschienene Werke der Erzählerkunst mit dem­selben Ernste zu behandeln wie neue Dramen. Die Rezi­tationskunst kann, nach Straußens Ansicht, dadurch nur gewinnen. Denn weder das Drama noch die Lyrik ist ihr hold. Jenes fordert eine Verkörperung, die durch das Organ der Sprache allein nicht zu leisten ist, sondern die Gesamtheit der Bühnenmittel verlangt; diese geht aus zu intimen Regungen hervor, um einer vielköpfigen Menge vorgeführt zu werden, die von den verschiedenartigsten Stimmungen während des Vortrags beherrscht wird. Voll Hoffnung spricht Strauß von seinem Vorschlage. «All die Erzählerkräfte, die das Drama bisher in seinen Bann ge­zogen, sie können sich nun befreit und mit siegsicherer Zuversicht ihrem natürlichen Schaffenskreis wieder zu-kehren. Denn aller Glanz und aller Ruhm, den die Bühne ihnen bot, er zeigt sich ihnen lockend und golden auch bei der Novelle. Ja, selbst die stolze, bebende Freude über den Jubel einer begeisterten Menge - ein jeder Novellist kann sie bei diesen Premieren finden.» Ob wenigstens ein kleiner Teil dieser Hoffnung sich erfüllen wird? Wünschen möchte man es. Und deshalb sei die Schrift allen denen empfohlen, die mit ebensoviel frischer Entrüstung und ebenso großer Zuversicht erfüllt sind wie Strauß.

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THEOSOPHEN

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Vor kurzem ist eine Übersetzung des tiefsinnigen indischen Gedichtes «Bhagavad-Gita» von Franz Hartmann erschie­nen. Das Gedicht enthüllt die tiefsten Erlebnisse, die die Auserwählten, die Priesternaturen eines sinnigen Volkes in besonderen Zuständen hatten. Wie im Traume gingen diesen Priesternaturen die Lösungen derjenigen Lebens-fragen auf, deren Beantwortung sie ihrer Veranlagung nach bedurften. Nicht durch abstraktes Denken, auf das wir Abendiänder nun einmal angewiesen sind, sondern durch mystisches Schauen, durch Intuition suchten diese orientalischen Wahrheitssucher zu ihren Zielen zu ge­langen. Es wäre vergebens, wenn wir Abendländer es ihnen nachmachen wollten. Unsere Natur ist von der ihri­gen verschleden; und deshalb muß auch der Weg ein ande­rer sein, auf dem wir zum Gipfel der Erkenntnis und zur Höhe einer freien Lebensführung gelangen. Nicht so den­ken die Theosophen Sie sehen mit Achselzucken auf die ganze europäische Wissenschaft; lächeln über deren Ver­standes- und Vernunftmäßigkeit und verehren die morgen­ländische Art des Wahrheitssuchens als die einzige. 0, es ist köstlich, die überlegen sein wollende Miene zu beob­achten, wenn man mit einem Theosophen in ein Gespräch kommt über den Wert abendländischer Erkenntnisse. «Das ist alles Außenwerk»; die «Vernunftgelehrten gehen nur um eine Sache herum und bes chauen ihre Oberfläche»; «wir hingegen leben in der Sache drinnen; wir leben sogar in Gott selbst drinnen; wir erleben die Gottheit in uns». So etwa sind die Redensarten, die man zu hören bekommt. Und man wird kaum davonkommen, ohne daß einem der

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Stempel eines «beschränkten Verstandesmenschen» auf­gedrückt worden ist, wenn man nur mit wenigen Wotten verrät, daß man von der Minderwertigkeit der abendlän­dischen Wissenschaft doch nicht in gleicher Weise denken kann. Aber man tut nicht gut, ein solches Bekenntnis so bald abzulegen. Ich rate vielmehr jedem, der mit einem Theosophen zusammenkommt, sich zunächst vollständig gläubig zu stellen und zu versuchen, etwas von den Offen­barungen zu hören, die ein solcher von morgenländischer Weisheit vollzogener Erleuchteter in «seinem Inneren» er­lebt. Man hört nämlich nichts; nichts als Redensarten, die den morgenländischen Schriften entlehnt sind, ohne eine Spur von Inhalt. Die inneren Erlebnisse sind nichts als Heuchelei. Es ist billig, Phrasen aus einer immerhin tief­sinnigen Literatur aufzunehmen und mit ihnen die ganze abendländische Erkenntnisarbeit wertlos zu erklären. Wel­che Tiefe, welche Innerlichkeit in der angeblich dem ober­flächlichen Verstande, dem äußerlichen Begriffe angehö­rigen Wissenschaft des Abendlandes steckt, davon haben die Theosophen keine Ahnung. Aber die Art, wie sie von den höchsten Erkenntnissen sprechen, die sie nicht haben, die mystische Weise, in der sie unverstandene fremde Weisheit vorbringen, wirkt verführend auf nicht wenige Zeitgenossen. Und die Theosophische Gesellschaft ist über ganz Europa verbreitet, hat in allen größeren Städten ihre Anhänger; und die Zahl derer, die sich lieber dem dunk­len Gerede vom Erleben der Gottheit im Innern zuwen­den als der klaren, lichten, begrifflichen Erkenntnis des Abendlandes ist nicht gering. Dabei kommt den Theosophen zugute, daß sie in der Lage sind, gute Beziehungen zu den Spiritisten und ähnlichen sonderbaren Geistern zu

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halten. Sie sagen zwar auch von den Spiritisten, diese be­handeln die Erscheinungen der Geisterwelt äußerlich; während sie selbst sie nur innerlich, ganz geistig erleben wollen. Aber sie lehnen es nicht ah, mit den Spiritisten Hand in Hand zu gehen, wenn es gilt, die freie, auf Ver­nunft und Beobachtung allein sich stützende freie Wissen­schaft der Neuzeit zu bekämpfen.

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WIEDER EIN GEIST AUS DEM VOLKE

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Karl Weiß-Schrattenthal, dem vor drei Jahren die Ent­deckung der Johanna Ambrosius geglückt ist, hat eben wieder einen «Dichter und Denker aus dem Volke» an das Licht der Öffentlichkeit gebracht. Diesmal ist der Entdeckte ein bayrischer Schuhmacher, Franz Wörther. Wer für die Dichtung der Ambrosius ein aufrichtiges Interesse gehabt hat, der sollte ein solches auch für diesen Schuster empfinden. Ich habe mir gelegentlich der Ambrosiushetze meine Meinung über die Ursachen eines derartigen Inter­esses gebildet. Damals ging der Dichter und Literar­historiker Karl Busse wie ein Stier auf diejenigen los, wel­che warme Worte für die ostpreußische Dichterin hatten. Ich glaube, der Grund seines Verhaltens ist darin zu fin­den, daß Busse nicht den richtigen Gesichtspunkt hat fin­den können, von dem aus die Lober der Ambrosius ge­urteilt haben. Busse hat sich auf einen naiven Standpunkt gestellt und hat die Gedichte als solche unmittelbar auf sich wirken lassen. Das haben die Loher nicht getan. Sie

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haben diese Schöpfungen angesehen, wie man frohe Er­innerungen aus der Kinderzeit neben den Erlebnissen des Tages ansieht.

Wer in dem geistigen Leben der Gegenwart drinnen­steht, der kann an den Dichtungen der einfachen Frau nur ein solches Interesse nehmen. Niemand, der naiv Dehmels oder Hartlebens Gedichte genießt, kann in gleicher Un­mittelbarkeit von der Ambrosius gefesselt werden. Aber so wie der ernste Mann gerne sich der Kindheit erinnert, so genießt der modern Gebildete oder Überbildete auch die Natuttöne der Volksdichterin. Wir freuen uns der Er­innerungen aus der Kindheit, auch wenn sie von unver­ständigen und dummen Sachen erzählen. Wir fragen nicht nach ihrer Vernünftigkeit. Ebenso fragen wir bei so wah­ren Naturempfindungen, wie die der Ambrosius sind, nicht nach der ästhetischen Form, in der sie uns entgegen­treten.

Aus dem gleichen Grunde wirken Dichter wie z. B. Rosegger ungleich bedeutender auf die Gebildeten als auf das Volk. Das Volk lebt in den Empfindungen, die ihm solche Dichter schildern, vom Morgen bis zum Abend; der Gebildete ist ihnen entwachsen; er versetzt sich aber gerne in sie, denn das Andenken an sie ist ihm heilig.

Als der dreizehnjährige Franz Wörther 1843 seinen Vater verloren hatte, stand er allein in der Welt, ohne Freund, ohne Gönner. Er konnte nun nicht daran denken, Bau­meister zu werden, wie der Vater gewollt; er mußte mit seinem Idealismus im Kopfe die Schusterei erlernen. Nach der Lernzeit durchwanderte er Nord- und Mitteldeutsch­land. Dann war er fünf Jahre Soldat. Nach Beendigung der Dienstzeit ging es wieder an das Schuhmacherhand­werk.

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Wörther hat seine Seelenkampfe durchgemacht. Manchmal wollte der Denker und Dichter verzweifeln, wenn der Schuhmacher für sich und seine sieben Kinder das Brot besorgen mußte. Doch bat sich der «Mann aus dem Volke» mit wahrhaft philosophischer Gelassenheit in sein Schicksal gefunden. Er hat sich gesagt: «Die mir ver­liehene dichterische Gabe betrachte ich als ein Geschenk des Himmels für mein mir geraubtes Lebensglück. Nicht mehr bemächtigte sich meiner der finstere Trotz von frü­her; an der Musen Rosenband tändelte ich sozusagen hei­ter und ruhig durch die Klippen des Lebens.» In seiner Art hat dieser Naturdichter Kraft und Mut zum Leben aus der eigenen Seele geschöpft. Und ist sein Dichten auch oft nur ein Stammeln, so stammelt er Laute, die aus der Brust eines ganzen Mannes kommen. Spricht Wörther auch nicht in den vollendeten Formen des Künstlers; was er spricht, ist ansprechend und fesselnd wie die Erzeug­nisse der Natur. Daß er Formen der Kunst sucht, die er nicht beherrscht, ist störend, ja verleitet ihn gar oft, eine wahre Empfindung unwahr auszudrücken: doch der echte Urquell ist immer zu entdecken.

Aber die Dichtungen sind nicht das Bedeutendste des kleinen Büchelchens, das Schrattenthal herausgegeben hat. Ein weitaus größeres Interesse erregen die Weisheits-sprüche. Ein wahrer Natur-Nietzsche tritt in Wörther an uns heran. Zwar hat es der Naturdenker nicht bis zur Um-wertung der von ihm vererbten Wertbegriffe gebracht; auch hat er keinerlei antichristliche Empfindungen gehegt, sondern ist «fromm» geblieben bis zum heutigen Tage. Aber er hat die angestammten Begriffe für sich neu ge­prägt; er hat ihnen eine individuelle Form gegeben. Ein

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Mann, der folgende Gedanken über die «Freiheit» ge­schrieben hat, verdient unsere größte Aufmerksamkeit.

«Die Freiheit ist der Wecker der Leidenschaft und die bewegende Kraft der Ausführung. Sie ist der Hexenkessel aller Ungebundenheit und Ausgelassenheit. - Sie ist das Traumbild der Eingesperrten und das Schreckbild der Ge­fängniswärter. - Die Freiheit ist das höchste Wonnegefühl für die Eckensteher und Bummler und die politische Leim­rute für die sozialen Rotkehlchen und Blutfinken.» Ein klares, verständiges Urteil in durchsichtiger, einfacher Form gibt Wörther über den Begriff der «Gleichheit»: «Gleichheit ist die Sehnsucht der Häßlichen und der Schrecken der Schönen. Sie ist die buntschillernde Seifen­blase aller sozialdemokratischen Phrasen und die notwen­dige Aus schmückung der Agitationsreden. - Gleichheit ist die Auflösung der Zivilisation und die Zurückführung der Menschheit zu ihrem Urzustand der Steinzeit und der Pfahlbauten mit der einheitlichen Modetracht Adams und Evas. Sie ist demnach der Anfang vom Ende aller Schnei­der. - Gleichheit ist das Tischleindeckdich für die Aschen­brödel des Schicksals.» Eine feine Empfindung spiegelt sich in dem Satze: «Neid gibt selbst schon dem Kinde den Schmutz in die Hand, das seinem Gespielen den bunten Fetzen, den ihm die Eltern in affenartiger Liebe um die Schultern hängen, heimlich bewerfen will.»

Und daß vornehme Gesinnung auch auf des Schusters Stuhl gedeihen kann, verrät der Ausspruch: «Ein Herz ohne Dankbarkeit gleichet einem verblühten Rosenstrauch, welcher dem Wanderer nur Dornen entgegenhält.» Auch der Stolz einer selbständigen, auf die eigene Kraft und Würde gebauten Persönlichkeit ist unserem Schuhmacher

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eigen. Er findet: es «nennt feige Kriecherei des Reichen Hochmut Standesbewußtsein, dessen Geiz ökonomische Berechnung, Verschwendung dagegen nennt des Mensch­leins niederer Sinn weltmännische Noblesse, Charakter­losigkeit eines Reichen bezeichnet elende Kriecherei als diplomatische Staatsweisheit».

Franz Wörther lebt gegenwärtig in seinem Geburtsort Kleinheubach am Main. Er hat durch seine Schuhmacher-kunst seine sieben Söhne versorgt. Er war ein wackerer Handwerker. Daß er noch mehr war, hat Schrattenthal durch die verdienstliche Herausgabe seiner Geistespro­dukte gezeigt. Wer bloß ästhetisch genießen kann, der wird das Büchlein bald aus der Hand legen; wer Sinn hat für die Betrachtung einer in sich geschlossenen, in ihrer Art vollendeten Persönlichkeit, der wird es von Anfang bis zum Ende durchlesen. Die derbe Natürlichkeit wird einen solchen Genießer erfrischen, und die Ungeschick­lichkeit im Künstlerischen wird ihn wenig stören.

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DER ERSTE VORTRAGSABEND

DER BERLINER

«FREIEN LITERARISCHEN GESELLSCHAFT»

Referat über einen Vortrag z'on Georg Fuchs über «Neuen Stil»

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Der erste Vortragsabend der Berliner «Freien Literarischen Gesellschaft» war einer energischen, feinsinnigen Ver­teidigungsrede des «Neuen Stils»gewidmet, die der Kunst-schriftsteller Georg Fuchs hielt. Er fand schöne, bedeutsame

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Worte, um das in jüngster Zeit hervortretende Stre­ben zu charakterisieren, von dem «Bakel des Professors» loszukommen, der bis vor kurzem der deutschen Kunst einen fremden, dem eigenen Bedürfnis und Empfinden unpassenden Stil aufgezwungen hat. «Wenn man bisher im Deutschen Reiche nach dem Stil des vornehmen Hau­ses, des Palastes und des Tempels frug, so wurde ein mäch­tiger Atlas aufgetan. Im Stile des Empire, des Rokoko, des Barock, der deutschen und der italienischen Renais­sance; gotisch, romanisch, norwegisch, byzantinisch, mau­risch, ägyptisch, persisch, indisch und assyrisch - so baute der wohlhabende Deutsche vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Mit großer Gelehrsamkeit erforschte er die Baukunst und die angewandte Kunst aller Zeiten und Völ­ker, mit unerschütterlicher Gewissenhaftigkeit ahmte er sie nach.» Nichts nützte es, daß die Deutschen in der Male­rei einen hohen Rang unter den Kulturnationen einneh­men, daß der größte bildende Künstler Arnold Böcklin ein Deutscher ist. Die Werke unserer Meister fanden kei­nen Eingang im deutschen Hause. Man häufte sie in Gale­rien und Ausstellungen. Sie konnten deshalb keine Werke liefern, welche dem Deutschen sein Heim so schmücken, daß der Schmuck der Ausdruck des Bedürfnisses und Emp­findens derjenigen ist, die in dem geschmückten Raume wohnen. Nur die Harmonie zwischen dem Zweck, den man mit einem Raume verbindet, und der künstlerischen Ausgestaltung desselben kann zu einem eigenen Stile füh­ren. «Das Künstlerischste soll zugleich das Praktischste sein, so daß wir die Schönheit gewissermaßen gebrauchen, ihrer bedürfen.» Mit mächtigen Worten treten hervor-ragende Kunstkenner für solche Forderungen ein: Bode,

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Lessing, Lichtwark, Jessen, Brinckmann. Und Künstler fangen an, solche Forderungen zu erfüllen. Was H. E. v. Berlepsch, Eckmann, Obrist, Schwindrazheim, Werle, Köpping, Melchior Lechter u. a. in dieser Richtung ge­schaffen haben, schilderte Fuchs in anziehender Art. Die Bedeutung der Zeitschrift «Deutsche Kunst und Dekora­tion», die Alexander Koch in Darmstadt herausgibt, hebt er hervor. Sie hat sich in den Dienst des «Neuen Stiles» gestellt. Fuchs sieht das Heil nicht in dem künstlerischen Individualismus, der darin besteht, daß der Künstler seine Individualität in seinem Schaffen auslebt. «Unsere Maler hatten keinen Zweck, man beauftragte sie nicht, da oder dort innerhalb eines gegebenen Ganzen zu gestalten, so sahen denn die Künstler in ihrer Kunst nichts mehr als ein Mittel, ihre Individualität auszudrücken. Das tat jeder auf seine Art, so eigenartig wie nur immer möglich, ja eigenartig bis zur Unmöglichkeit.» Aber nicht dieses Aus-leben der Individualität ist das Ideal der Kunst, sondern die Schöpfung des nationalen Stils. «Der Gebrauchszweck des Gegenstandes bestimmt seine Konstruktion, die Kon­struktion bestimmt seine Form, und die Auszierung ist nichts als gewissermaßen ein der konstruktiven Form.... Alle die großen, noch unberechen­baren Kräfte des Volkes, welche seit langer, langer Zeit ferngehalten wurden von der lebendigen Kunst, von der Kunst des Empfindens, sie regen sich und wollen eingehen in den großen Strom der Entwicklung, welcher zu dem hinführt, das uns not tut: zum neuen Stile!» Ein Urteil darüber, welche Berechtigung Individualismus und Natio­nalismus in der Kunst haben, steht mir hier, wo ich nur zu referieren habe, nicht zu.

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Eine Reihe interessanter Vortrags- und Rezitations­abende sind für den kommenden Winter in Aussicht ge­nommen. Außerdem hat der Vorstand beschlossen, in der «Freien Literarischen Gesellschaft» einen Sammelpunkt für Meinungsaustausch auf dem Gebiete der Literatur und des Geisteslebens zu schaffen. Zu diesem Zwecke sollen Zyklen von Vorträgen mit anschließender Diskussion ver­anstaltet werden. Zunächst werden der Unterzeichnete und Herr Dr. Flaischlen solche Vorträge halten. Der Unter­zeichnete beginnt mit einer Reihe von sieben Vorträgen über «Die Hauptströmungen der deutschen Literatur von der Mitte des Jahrhunderts bis zur Gegenwart». Die Vor­träge werden in Zeitabständen von vierzehn Tagen immer an einem Dienstag gehalten.

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DIE «LITERARISCHE GESELLSCHAFT»

IN LEIPZIG

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Am 19. Dezember sprach ich in der Leipziger « Literari­schen Gesellschaft» über das Thema «Goethes Welt­anschauung und die Gegenwart». Es kam mir darauf an zu zeigen, welche von den treibenden Ideen unserer Zeit schon in der Vorstellungswelt Goethes lebten, und welches das Verhältnis der Anschauungen Goethes zu denen seiner Zeitgenossen war.

Nach meinem Vortrag las Otto Julius Bierbaum eigene Dichtungen vor: Gedichte und ein Kapitel aus seinem neuesten Roman «Stilpe». Er erntete einen wohlverdien­ten reichen Beifall. Ein ausführlicher Bericht über diesen

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Abend der Gesellschaft, deren Leiter mit Energie und Ein­sicht so vieles zur geistigen Entwickelung Leipzigs bei­tragen, muß für die nächste Nummer dieser Zeitschrift aufgespart werden.

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GOETHES WELTANSCHAUUNG

UND DIE GEGENWART

Referat eines Vortrages, gehalten am 19. Dezember 1897

in der «Literarischen Gesellschaft» in Leipzig

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Über «Goethes Weltanschauung und die Gegenwart» sprach Herr Dr. Rudolf Steiner in der «Literarischen Ge­sellschaft». Das Thema ist nicht neu. Zahlreiche Philoso­phen und Literarhistoriker haben sich mit ihm beschäf­tigt. Aber man sieht, wie unerschöpflich Goethe ist, denn immer neue Seiten lassen sich auch diesem Thema abge­winnen, und der Vortrag Dr. Steiners im großen Saale des «Hôtel de Pologne» bot ein interessantes Bild des gei­stigen Lebens des Weimarer Dichterfürsten. Redner knüpfte an die Stellung Goethes zu dem Streit zwischen dem konservativen Cuvier und dem revolutionären Geoff­roi de St-Hilaire an. Goethe ahnte, daß sich aus diesem Streit eine ganze Umwälzung der Anschauungen der Men­schen ergeben werde. Die alte Denkweise, nach welcher der Mensch ein von Gott und der Natur abhängiges Wesen war, fiel, und er wurde der Herr der Schöpfung, der alleins war mit allem, was um ihn lebt und webt. Diese Welt­anschauung hatte Goethe schon in früher Zeit sich an­geeignet, aber nur von wenigen wurde er verstanden.

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Unsere Weltanschauung reicht zurück bis auf Parmenides. Ihm folgte Plato, dessen Lehre vom Diesseits und Jenseits das Christentum weiter ausbildete. Diese Lehre beherrscht auch die Philosophie der Gegenwart noch, selbst revolu­tionäre Geister wir Baco von Verulam, Descartes und Kant, die von der Notwendigkeit des Glaubens überzeugt sind. Ihnen allen gegenüber steht Goethe auf einsamer Höhe. Er betont die Einheit der geistigen und der sinn­lichen Welt. Von der Pflanze durch die Tierwelt geht der Weg der Natur zum Menschen. Der Mensch ist mit nichts Überirdischem begabt, er ist nur das höchstorganisierte Naturprodukt. Er ist tatsächlich der Herr der Schöpfung. Im Alter freilich kehrte Goethe zu der alten Weltanschau­ung zurück, wie uns der II. Teil des «Faust» zeigt. Die Goethesche Anschauung wurde aber aufgenommen und ausgebaut. Ludwig Feuerbach, der alles zerstörte, was bis­lang gegolten hatte, dem dann Max Stirner folgte. Die großen Naturforscher der Neuzeit, namentlich Darwin, waren es dann, die aus den Trümmern wieder etwas Neues aufbauten und die Weltanschauung der Gegenwart schu­fen. Redner schloß sich in seinem prachtvollen Vortrag an ein von ihm herausgegebenes Buch an, das den gleichen Stoff behandelt.

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DIE LACHENDE DAME

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In meinem Vortrage «Über die literarische Revolution um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts», der am 8. De­zember [1897] in der Berliner «Freien Literarischen Ge­selischaft»

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stattgefunden hat, sprach ich die folgenden Sätze aus: «In diesem Jahrhundert hat sich eine radikale Anderung der Welt- und Lebensanschauung vollzogen; das ganze religiöse Empfindungslehen ist bei einem Teile der europäischen Menschheit ein anderes geworden, als es das der verflossenen Jahrhunderte war. Ein solch inten­siver Umschwung der Anschauungen ist seit langem in der weitgeschichtlichen Entwickelung nicht dagewesen. An die Stelle der Weltanschauung der Demut, die erfüllt ist von dem Abhängigkeitsgefühl gegenüber höheren, überirdischen Gewalten, ist die Weltanschauung des Stol­zes getreten, die von dem Bewußtsein ausgeht, daß der Mensch ein freies, unabhängiges Wesen ist, daß er Herr seines eigenen Schicksals sein soll. Ludwig Feuerbach hat es mit klaren, scharfen Worten ausgesprochen, daß alle Ideen von höheren Mächten Gedankenerzeugnisse des Menschen sind, daß die Offenbarung Gottes nichts ande­res ist als die Offenbarung, die Selbstentfaltung des mensch­lichen Wesens. Der selbstbewußte Mensch stellt sich da-mit an die Spitze der Schöpfung; er weiß nunmehr, daß er sich nur selbst lenken kann und daß er in früheren Epo­chen der Weltgeschichte die Gedanken seiner eigenen Seele, nach denen er sich richtet, als höhere Mächte über sich gesetzt hat. Diejenigen Menschen, in deren Empfin­dungsleben solche Gedanken übergegangen sind, stehen den Menschen der ersten Hälfte des Jahrhunderts, selbst solchen, die zu den Größten gehören, fremd gegenüber. Der Gefühlston in den Schriften solcher Größten wirkt auf sie wie der Ton einer fremden Sprache. Es gibt aber auch heute nur wenige, die von den neuen Empfindungen durchdrungen sind. Ihnen steht die große Masse und auch

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eine Menge bedeutender Geister gegenüber, deren Seelen­leben noch von den alten Gefühlen beherrscht wird. Wir Gegenwartsmenschen - sagte ich - können uns mit diesen Menschen der kaum mehr verständigen. Die Worte aus ihrem Munde haben eine ganz andere Be­deutung als aus dem unsrigen.»

Eine Bestätigung meiner Behauptungen lieferte mir am nächsten Tage ein Bericht der «Frankfurter Zeitung» über den Prozeß gegen Bruno Wille, den bekannten Vertreter einer modernen freiheitlichen Weltanschauung, der in Wien und Graz Reden über die «Religion der Freude» gehalten hat und deshalb wegen Störung bestehender Religionen angeklagt worden ist. Wille stellte in seiner Weise, die ich durchaus nicht genau zu der meinigen machen möchte, die « Religion der Trübsal» der «Religion der Freude» gegenüber. Die Religion der Trübsal macht das Diesseits zu einer minderwertigen Welt, zu einem Jammertal. Die Religion der Freude bietet dem Menschen die Möglich­keit, aus dem Diesseits das Glück, das Heil zu schöpfen und auf den Ausblick auf ein Jenseits verzichten zu kön­nen. Auf den Gegensatz in den Empfindungen kommt es an, wenn man von der alten und der neuen Weltanschau­ung spricht. Wie man sich mit den Dogmen abfindet, das ist nur eine Folge des Empfindungsgegensatzes.

Nur wer im Sinne des alten Dogmas empfindet, kann das alte Dogma anerkennen. Das Dogma ist nur dazu da, den Empfindungsgehalt in Gedanken, in Worte zu fassen.

Zwei Menschen standen in dem Grazer Prozeß gegen Bruno Wille einander gegenüber. Ein Mann mit den alten Empfindungen, der Richter, und ein junger Mann, ein

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Student, der Zeuge Schmauz, der in den neuen Empfin­dungen groß geworden ist.

Es fand folgendes Zwiegespräch statt:

Vorsitzender: Hat Wille den Gottesbegriff negiert?

Zeuge: Das ist wiederholt von katholischen Theologen kritisiert worden. Selbst der heilige Thomas, den Papst Leo XIII. als großen Philosophen der katholischen Kirche hingestellt hat, hat weitläufige Forschungen über diese Materie angestellt.

Vorsitzender: Und wenn zehntausend Leute Forschun­gen angestellt haben, darf an dem Dogma nicht gerüttelt werden.

Zeuge: Das Dogma steht fest, aber es ist einer steten Weiterentwicklung und Forschung unterworfen. Es kann nichts vorgeschrieben werden, was der Vernunft wider­spricht...

Vorsitzender: Es kann alles vorgeschrieben werden! Halten Sie die Lehren Willes für Unglauben?

Zeuge: Jeder Katholik hat sich an die Wissenschaft zu halten!

Vorsitzender (zum Schriftführer): Ich bitte diese Äuße­rung zu protokollieren. (Zum Gerichtshof): Ich konsta­tiere, daß ich und der Zeuge uns nicht verstehen, und ich gebe das Verhör deshalb auf.

Diese Äußerung des Grazer Gerichtspräsidenten ist symptomatisch für unsere Zeit. Zwei Empfindungswelten stehen einander gegenüber, die sich nicht verstehen kön­nen. Arrogant, wie ich bin, will ich übrigens doch nicht mit den Vorstellungen spielen. Das Nichtverstehen beruht nämlich gar nicht auf Gegenseitigkeit. Wir verstehen die andern schon. Wir können uns in sie hineindenken, wie

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wir uns in Platos und Aristoteles' Zeitgenossen hineindenken können. Wir verstehen die Reaktionäre. Aber sie verstehen uns nicht. Und wir sind sogar arrogant genug zu glauben, daß der Fortschritt darauf beruht, daß sie uns allmählich verstehen lernen. Wir sind sogar viel toleranter als sie. Man versuche es nur einmal, ob wir so wenig Respekt vor persönlichen Meinungen haben, daß wir dar­an denken, jemand deswegen, weil er katholisch oder pro­testantisch orthodox ist, ins Gefängnis zu stecken. Wir rechnen das Gefängnis nicht zu den Hilfsmitteln der Logik.

Aber eines möge man uns verzeihen. Manchmal zwingt uns das Aufeinanderprallen der alten und der neuen Welt­anschauung ein Lächeln ab. Das ist zuweilen die einzige Art, wie wir uns äußern können. Deswegen ist mir die «lachende Dame» in dem Grazer Prozesse eine Persön­lichkeit, die ich ernst nehmen möchte.

Ich führe Sätze nach der «Frankfurter Zeitung» an: « Der Vorsitzende erklärte sodann, aus den Angaben Willes gehe hervor, daß er überhaupt an keine Hölle, aber auch an keinen Gott glaube, der strafen kann. Hierauf fragte der Verteidiger den Hauptbelastungszeugen, den Polizeikom­missär Papez, wie sich dieser die Hölle vorstelle.

Präsident: Darauf braucht der Zeuge nicht zu antwor­ten, denn das ist jedenfalls eine ganz subjektive Anschau­ung.

Polizeikommissär Papez weist darauf hin, was bezüglich der Hölle der Katechismus und die Bibel lehren. Hier unterbricht ihn der Präsident mit folgenden Worten: «Ich bemerke im Publikum eine Dame, die fortwährend zu lachen beliebt; dies stört jedenfalls und ist auch unpas­send; ich muß bitten, dies zu unterlassen; wir haben hier

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eine sehr ernste Verhandlung und gar nicht den Zweck, uns zu unterhalten.»

Die Theorie des Komischen ist noch nicht ganz abge­schlossen. Man weiß nicht recht, wie die Gegensätze be­schaffen sein müssen, die unbedingt das Zucken der menschlichen Lachmuskeln auslösen. Das Lachen der Dame kann so oder so taxiert werden. Vielleicht waren es Nebensächlichkeiten, welche die Lachmuskeln der Dame erregten. Oder sollte die Dame eine symbolische Bedeu­tung haben? Nietzsche sagt: Die Wahrheit ist ein Weib. Die «lachende Philosophie» auf der Galerie. Das wäre gar kein schlechter Titel für ein Buch, das ein ernster Witz­bold schreiben könnte. Die Weltgeschichte könnte die Marotte haben, sich just durch eine Dame aussprechen zu wollen, wenn sie einmal lachen will. Die Weltgeschichte soll nämlich noch immer das Weltgericht sein. Klug ist aber doch die Weltgeschichte. Sie weiß, daß sie uns, ernste Männer, nicht brauchen kann, wenn sie einmal lachen will. Wir sind ihr zu pathetisch. Da müssen schon die Damen herhalten. Denen sitzt das Lachen leichter. Hat mir doch auch eine Dame nach meinem Vortrage gesagt: «Wozu sich denn so ereifern über Dinge, die heute jeder vernünf­tige Mensch so denkt wie Sie?» Ja, solche Damen leben auf den « glückseligen Inseln», wo man nicht weiß, wie schwer uns der Kampf um die neue Weltanschauung wird.

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ROBERT SAITSCHICK:

«GOETHES CHARAKTER»

Stuttgart 1898

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Wer heute ein Buch über Goethe schreibt, muß sich wohl vorsehen, nichts Unnützes zu tun. Wir wissen entschieden zu viel über Goethe. Aber wenig wissen wir doch über die Tiefen seines Wesens. Denn Goethe war eine Natur, deren Empfindungen und Leidenschaften in einem in­timen Verhältnis zu seiner Weltanschauung standen. Goethe konnte nur insofern glücklich sein, als sich ihm die tiefsten Weltgeheimnisse offenbarten. Wer das nicht versteht, sollte nie die Feder ergreifen, um ein Wort über Goethe zu schreiben. Robert Saitschick hat es doch getan, ohne auch nur eine Ahnung von dem Zusammenhang von Goethes Weltanschauung mit seiner Natur zu haben. Des­halb ist auch sein Buch « Goethes Charakter» das kläg­lichste, elendeste Machwerk, das es in der Goetheliteratur gibt. Solchen Goetheanschauern muß man zurufen: « Hand weg» von einem Objekte, das euch so fremd ist, als euch nur irgend etwas sein kann. Mich hat dies Buch wegen seiner tollen Phrasenhaftigkeit und der Prätention, mit der es auftritt, empört.

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MAX STIRNER

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«Die Deutschen haben ihren kühnsten und konsequente­sten Denker so lange und gänzlich vergessen, daß sie jedes Anrecht auf das Geschenk seines Lebens verloren haben.»

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Der tapfere Dichter derjenigen Weltanschauung, die von dem Geiste dieses kühnen Denkers durchdrungen ist, John Henry Mackqy spricht diese Worte auf der ersten Seite des Buches aus, indem er Max Stirners Leben beschreibt. Ich glaube, es wird heute nicht viele geben, die die Bitterkeit dieser Worte als gerecht empfinden. Aber einige Menschen gibt es in der Gegenwart, die ein gleiches Gefühl des Schmerzes haben müssen, wenn sie daran denken, daß Max Stirners Hauptschrift « Der Einzige und sein Eigen­tum», die im Jahre 1845 erschienen ist, durch Jahrzehnte in Deutschland der völligen Vergessenheit anheimgefallen war, bis sie dem Stirner kongenialen Mackay im Jahre 1888 im Britischen Museum in London in die Hände fiel und durch dessen rastiose Arbeit eine Auferstehung er­lebte. Dieses Gefühl des Schmerzes muß in denjenigen vorhanden sein, die in der Zeit, in der Stirners Buch ver­gessen war, ihre Jugend verlebt haben. Denn es ist nicht einerlei, in welchem Lebensalter man ein Buch auf sich wirken läßt. Die Wirkung, die ein Werk in der Mitte der zwanziger Jahre auf uns macht, kann es in uns in einem späteren Alter nicht erregen. Und so werden es manche von uns als einen großen Verlust empfinden, daß ihnen der sogenannte Zeitgeist den « Einzigen und sein Eigen­tum» zur rechten Zeit entzogen hat. Einer der Großen der Gegenwart würde dieses Gefühl haben, wenn nicht eine tückische Krankheit gerade in dem Augenblicke sei­nem Schaffen ein jähes Ende bereitet hätte, als er ausholte, eine geistige Tat zu vollbringen, die in würdigster Weise sich Stirners Lebenswerk angeschlossen hätte. Ich meine Friedrich Nietzsche. Seine «Umwertung aller Werte» hätte er aus der Vorstellungsart heraus geschrieben, aus der

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Stirners «Einziger» geflossen ist. Und Friedrich Nietzsche hat wahrscheinlich nie eine Zeile von Stirner gelesen. Meiner Meinung nach hätte sich Nietzsche in Stirners Ge­dankenwelt wie in einem Elemente gefühlt, das seine gei­stige Organisation zum freudigen, frischen Leben brauchte. Statt dessen mußte er sich durch die Anschauungsweise Schopenhauers durchbewegen, die ihn erst nach schmerz­lichen Enttäuschungen zu denjenigen Ideen kommen ließ, in denen er allein leben konnte. Das hat der Geist der Zeit verschuldet, in der er seine Jugendjahre verlebt hat, der Geist, der Schopenhauers würdelose Lehre von der Ertötung des Willens zum Leben gierig einsog, und der nichts ahnte von dem stolzen Denker, der die Freude am Leben lehrte, weil er erkannt hatte, daß das Leben des « Einzigen» das wertvollste auf der Welt und daß es eitel Aberglaube ist, wenn der Mensch nicht um seiner selbst, sondern um eines andern willen leben will. Aber wie viele solche andere Wesenheiten hat der Mensch im Laufe der Jahrhunderte erschaffen, für die er sich opfern will! Für Gott, für das Volk, für die ganze Menschheit will der Einzelne sich « opfern», und die höchste sittliche Voll­kommenheit sieht er darin, daß er « selbstlos» allen Eigen-willen ertötet und hingebungsvoll sein Leben in den Dienst eines übergeordneten Wesens, einer Gesamtheit oder einer Idee stellt. Diesen opferwilligen Menschen entgegnet Stir­ner: «Was soll nicht alles meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Mensch­heit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Ge­rechtigkeit; ferner die Sache meines Volkes, meines Für­sten, meines Vaterlandes; endlich gar die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur meine Sache soll niemals

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meine Sache sein.. Sehen wir denn zu, wie diejenigen es mit ihrer Sache machen, für deren Sache wir arbeiten, uns hingeben und begeistern sollen...» Greifen wir nur eines heraus: Die Sache der Menschheit. «Wie steht es» - sagt Stirner - « mit der Menschheit, deren Sache wir zu der unsrigen machen sollen? Ist ihre Sache etwa die eines ande­ren und dient die Menschheit einer höheren Sache? Nein, die Menschheit sieht nur auf sich, die Menschheit will nur die Menschheit fördern, die Menschheit ist sich selber ihre Sache. Damit sie sich entwickle, läßt sie Völker und Indi­viduen in ihrem Dienste sich abquälen, und wenn diese geleistet haben, was die Menschheit braucht, werden sie von ihr aus Dankbarkeit auf den Mist der Geschichte ge­worfen. Ist die Sache der Menschheit nicht eine - rein egoistische Sache? » Aus dieser Einsicht zieht Stirner die Lehre: ... . statt emem anderen Egoisten, den ich über mich stelle, zu dienen, will ich lieber selber der Egoist sein. Ich will so leben, wie diejenigen leben, denen die Menschen in ihrem demütigen Wahnglauben zu dienen bestrebt sind», sagt sich Stirner. «Warum sollte es böse sein, wenn ich dasjenige tue, was die tun, die ich über mich zu Herren mache?»

Die wertvollste Idee, welche der Mensch sich bilden konnte, ist gewiß die von einem Wesen, das genug Gehalt in sich hat, um sich alles in allem zu sein, das sich ein Ziel aus sich selbst setzen und nur diesem seinem eigenen Ziel in vollkommener Selbstgenügsamkeit folgen kann. Diese Idee ist eine alte. Die Menschen haben sie immer gehabt. Aber sie haben nicht daran gedacht, daß sie, wenn sie alles aus sich herausholen, was in ihnen ist, selbst Wesen sind, die dieser Idee entsprechen. Sie haben sich für unwürdig,

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für zu schwach gehalten, solche Wesen zu sein. Deshalb haben sie andere Wesen sich erdacht, die würdiger sind, einen dieser Idee gemäßen Charakter zu tragen. Stirner fordert die Menschen auf, jeden einzelnen von ihnen, sich selbst zu betrachten, um zu sehen, daß die Wesenheit in ihm selber liegt, die er über sich wähnt. « Hat Gott, hat die Menschheit, wie ihr versichert, Gehalt genug in sich, um sich alles in allem zu sein, so spüre ich, daß es mir noch weit weniger daran fehlen wird, und daß ich über meine keine Kiagen zu führen haben werde. Ich bin nicht nichts im Sinne der Leerheit, sondern das schöpfe­rische Nichts, das Nichts, aus welchem ich selbst als Schöp­fer alles schaffe.» Stirner will, daß die Menschen erkennen: sie seien selbst das und stellen es im Leben dar, was sie nur verehren und anbeten zu müssen glauben.

Die Weltanschauung des stolzen, sich selbst genug samen Menschen vertritt Stirner. Mackay faßt sie in die Sätze zusammen: « Nicht mehr und nicht weniger als die Souveränitätserklärung des Individuums, seine Unvergleichlichkeit und seine Einzigkeit ist es, was Stirner ver­kündet. Bisher war nur von seinen Rechten und Pflichten, und wo beide beginnen und enden, gesprochen; er aber spricht es dieser ledig und jener mächtig. Wir haben uns zu entscheiden. Und da wir nicht in die Nacht zurück kön­nen, müssen wir hinein in den Tag.» Und Mackay blickt in die Zukunft dieses Tages und sagt: «An die Stelle unse­res müden, zerquälten, sich selbst zermarternden Ge­schlechtes tritt jenes stolze, freie der , dem die Zukunft gehört.»

Wie war das Lehen des Mannes, der das Evangelium des stolzen, seines vollen Wertes bewußten Menschen geschrieben

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hat? Diese Frage beantwortet Mackay in seinem Buche «Max Stirner». Es war nicht leicht, dieses Lehen zu beschreiben. Denn wie sie sein Werk vergessen hat, hat die Nachwelt auch um die Geschichte Max Stirners sich nicht im geringsten gekümmert. Mit Aufwendung un­endlicher Mühe mußte Mackay Zug um Zug herausholen aus dem Dunkel, in das dieses wertvolle Leben gehüllt war. Jeden Menschen befragte der Biograph, von dem er an-nehmen konnte, daß er von dem Verschollenen etwas wisse. Alles, was aus der Zeit, in der Stirner gelebt hat, an Dokumenten noch erhalten ist, mußte sorgfältig ge­prüft werden. Zehn Jahre emsiger Arbeit hat Mackay an die Biographie gewendet, einer Arbeit, die nur aus dem intensivsten Erkenntnisdrange hervorgehen kann.

Max Stirner lebte, wie der Verkünder der Souveränität des Individuums zu einer Zeit leben mußte, in der alle Einrichtungen auf Ansichten beruhten, die den seinigen entgegengesetzt waren. Abseits von dem Treiben seiner Zeitgenossen, ging er seine eigenen Wege. Seine Unab­hängigkeit konnte er sich nur dadurch wahren, daß er dar­auf verzichtete, seine Arbeitskraft und seinen Geist in irgendeiner ofliziellen Stellung zu verwerten. Als echter Kultur-Zigeuner lebte er; und er konnte sich seine Frei­heit nur damit erkaufen, daß er entbehrte, was er sich hätte reichlich erwerben können, wenn er seine Fähigkeiten in den Dienst seiner Zeit gestellt hätte. Er konnte sich in kein Ganzes eingliedern.

Alles, was wir über Stirner erfahren, zeigt uns ihn als einen Menschen, dem jede Beschränkung seiner Freiheit wie ein furchtbares Gift vorkommt. Mit Recht hat Mackay den Kreis ausführlich beschrieben, der Stirner in den vierziger

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Jahren zu seinen Mitgliedern zählte. Er bestand aus Männern, die, jeder in seiner Art, davon überzeugt waren, daß die menschlichen Ansichten und Einrichtungen einer gründlichen Verbesserung bedürftig seien, und die in rücksichtsloser Weise an dem Bestehenden Kritik übten. Sie nannten sich die « Freien» und hielten ihre zwanglosen Zusammenkünfte in der Hippelschen Weinstube in der Friedrichstraße ab. Bruno Bauer und seine Brüder, Ludwig Buhl und eine große Zahl anderer, die an der geistigen Bewegung jener Zeit lebhaft mitarbeiteten, waren all­abendlich bei Hippei zu finden. Von diesem Kreise sagt Mackay: «Kaum jemals in der Geschichte eines Volkes -es sei denn zur Zeit der französischen Enzyklopädisten -hat sich ein Kreis von Männern zusammengefunden, so bedeutend, so eigenartig, so interessant, so radikal und so unbekümmert um jedes Urteil, wie die bei Hippel ihn in dem fünften Jahrzehnt des Jahrhunderts in Berlin gebildet haben. Es war ein Kreis, vielleicht nicht wert, aber auch nicht unwürdig des Mannes, der eines seiner treuesten Mitglieder und seine größte Zierde gewesen ist, eines Mannes, durch den er für die Nachwelt eine Be­deutung und ein Interesse gewonnen hat, die den Namen der mit dem seinen hinübertragen werden in das Gedächtnis der Zukunft.» Mitgesprochen scheint Stirner hier allerdings wenig zu haben. Auch diese «Freien» waren noch nicht durchgedrungen bis zu der Idee des freien In­dividuums, wie sie Stirner in sich ausgebildet hat; aber er fand hier wenigstens Gegner, deren Ansichten wert waren, daß der radikalste Denker seiner Zeit sich mit ihnen aus­einandersetzte.

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In diesem Kreise hat Stirner auch die Frau gefunden, mit der er einige Jahre eine Ehe führen konnte, die seinen Ansichten entsprach: Marje Dähnhardt. Diese Ehe war das Zusammenleben zweier Menschen, die sich so weit för­derten, als es der Eigenart eines jeden entsprach, und die im übrigen jeder seine eigenen Wege gingen. Und als nach zwei Jahren ein Zusammenleben den Empfindungen der Gatten widersprach, da trennten sie sich ohne Groll. In die Jahre dieser Ehe fällt die Ausarbeitung des einzigen Werkes, das Stirner uns geschenkt hat, des «Einzigen und sein Eigentum». Darin hat er seine ganze Gedankenwelt niedergelegt. Was er sonst veröffentlicht hat, sind kleinere Aufsätze, die seinem Hauptwerk vorausgingen, und Ent­gegnungen auf die Angriffe, die dieses erfahren hat. Diese Arbeiten hat Mackay eben in einem kleinen Bändchen «Max Stirners kleinere Schriften » (Berlin 1898 bei Schuster & Loeffler) zusammengestellt. Ich werde von ihnen dem­nächst in dieser Zeitschrift sprechen. Dabei wird sich auch die Gelegenheit bieten, über den Entwickelungsgang des Mannes das Nötige zu sagen. Die «Geschichte der Re­aktion» und das Werk: «Die National-Ökonomen der Franzosen und Engländer» sind nur zum kleinsten Teile Stirners eigene Arbeit und bereichern unsere Anschauung über sein Wesen nicht.

Nach der Veröffentlichung seines Hauptwerkes führte Stirner ein Leben in völliger Zurückgezogenheit, fort­während mit der bittersten Not kämpfend; aber ein Leben, das er mit Würde und Zufriedenheit trug, denn er wußte, daß so leben muß, wer sich nicht bequemen will, ein Bür­ger seiner Zeit zu sein.

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VOILA UN HOMME

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Was sich in Max Stirners Seele abgespielt hat, bevor er sein Lebenswerk der Welt vorgelegt hat, davon ahnen die zahlreichen Menschen nichts, die seine Schöpfung die eines kalten, nüchternen Verstandesmenschen nennen. Ich habe oft Menschen getroffen, die ihn so genannt haben. Dann stand ich immer ratlos da. Denn ich wußte mit sol­chen Menschen nicht recht zu sprechen. Als ich Stirners Buch las, da empfand ich einen Nachkiang von Leiden und Freuden, von Leidenschaften und Sehnsuchten, die Jahrhunderte lang die Herzen der Menschheit durchzuckt haben, in deren Banden heute noch immer fast unser gan­zes Geschlecht lebt. Und ich hatte eine Empfindung von der Seligkeit, welche die Brust des Mannes durchdrang, der da sagen konnte: «Alle Wahrheiten unter mir sind mir lieb; eine Wahrheit über mir, eine Wahrheit, nach der ich mich richten müßte, kenne ich nicht.» Auch Fichte war eine stolze, eine kraftvolle Persönlichkeit. Aber was sagt er? «Ich bin ein Priester der Wahrheit; ich bin in ihrem Solde; ich habe mich verbindlich gemacht, alles für sie zu tun und zu wagen und zu leiden.» Ein Eroberer ohnegleichen ist Max Stirner, denn er steht nicht mehr im Solde der Wahrheit; sie steht in dem seinen. «Der Eigner» - so sagt Stirner - «kann alle Gedanken, die seinem Herzen lieb waren und seinen Eifrr entzündeten, von sich werfen und wird gleichfalls , weil er, ihr Schöpfer, bleibt.» Wer es in seiner Seele durchleben kann, was dazu gehört, sich nicht nur der Sklavenketten zu entäußern, die uns Gott, die Menschheit, die Humani­tät, die Gerechtigkeit, der Staat auferlegen, sondern auch

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derjenigen, die uns von der «ewigen Wahrheit» geschmie­det sind, der wird Stirners Buch, das uns erzählt, wie sein Verfasser diese Ketten zerrissen hat, mit Gefühlen lesen, die weit hinausgehen an Wärme über alles, was wir sonst bei den erhabensten Schöpfungen und Leistungen der Menschen empfinden.

Und wie wenig hat Max Stirner verraten von den Lei­denschaften, die sein Inneres durchwühlt haben bis zu der Zeit, in der er sein stolzes Buch niedergeschrieben hat! Fünf kurze Arbeiten hat John Henry Mackay in seinem Büchlein «Max Stirners kleinere Schriften»(Berlin 1898, Schuster & Loeffler) über diesen Entwickelungsweg Stir­ners der Vergessenheit entrissen. Man möchte wünschen, daß unsere in allen Dingen, die sich auf Weltanschauung und die höchsten Interessen der Menschheit beziehen, so feigen Zeitgenossen das dünne Büchlein lesen und immer wieder lesen. Wenn sie nur die Scham darüber verwinden können, wie klein sich ihre Gedankenzwerge gegenüber den Ideenriesen dieses Großen ausnehmen, dann können sie viel Nutzen durch das Buch haben.

Ich möchte hier nichts über den Inhalt des Büchleins sagen. Denn wer solche Dinge nicht liest, verdient gar nicht, daß er über ihren Inhalt aus zweiter Hand etwas erfährt. Ich möchte aber sagen, wie das Büchlein auf mich gewirkt hat.

In seinem «Einzigen und sein Eigentum» trat mir Stir­ner als ein Vollendeter entgegen. Wie ist der Mann auf­gestiegen zu dieser Höhe? Ich sehe ihn nun wachsen, in­dem ich die fünf Aufsätze lese, die Mackay veröffentlicht hat.

Ich sehe Max Stirners leidenschaftliches Ringen.

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« Das unwahre Prinzip unserer Erziehung, oder der Humanismus und Realismus» ist der erste der Aufsätze. Er ist von Stirner in der «Rheinischen Zeitung » im April 1842 veröffentlicht worden. Ein Stück Seelenleben des Mannes hat in diesem Aufsatze Worte gefunden. Ich will nicht davon sprechen, daß unsere weisen Erziehungs- und Unterrichts-Reformatoren sich ein paar Stunden hinsetzen sollten - sie würden wahrscheinlich doch viel länger brau­chen - und den Aufsatz studieren. Denn sie könnten dar­aus mehr lernen, als aus den impotenten Verhandlungen, die unsere Schulmänner heute mit der Aufwendung aller ihrer Geisteskraft führen. Aber ich will davon sprechen, daß dieser Aufsatz Stirners ganze Weltstellung in einziger Weise charakterisiert.

Ein unpersönliches Wissen wollten die Philosophen zu allen Zeiten. Ein Wissen, das ihnen verrät, welche Mächte die Welt im Innersten zusammenhalten. Brünstig verlang­ten sie nach solcher «Wissenschaft». Die Welt ist da, so sagten sie. Sie ist gesetzmäßig. Uns drangt es, die Gesetze, nach denen sie eine objektive Macht geformt hat, zu er­forschen. Und wenn sie dann «redlich» erforscht hatten, was «die Welt im Innersten zusammenhält», dann fühlten sich die Philosophen so selig, wie wenn dem Bräutigam die Geliebte das Jawort gegeben hat. Denn - wie sagt doch Nietzsche? - die Wahrheit ist ein Weib. Stirner ist kein Freier; er ist Eroberer. Er überwindet die Wahrheit. Er verdaut sie. Und sie wird hei ihm nicht Weltanschauung, nicht Philosophie, von der er uns Mitteilung macht. Sie wird Persönlichkeit. Das Wissen soll nun nicht mehr etwas sein, was die Menschen leidend von außen empfangen; es wird in ihnen Fleisch und Blut. Sie nehmen nicht mehr

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bloß die Gesetzmäßigkeit der Welt wahr: sie stellen sie selbst dar. Sie wollen jetzt, was ihre Vorläufer hloß gewußt haben. Der Aufsatz, der das verkündet, klingt in die Worte aus: «So ließe sich der notwendige Untergang der willen­losen Wissenschaft und der Aufgang des selbstbewußten Willens, welcher sich im Sonnenglanz der freien Persön­lichkeit vollendet, etwa folgendermaßen fassen: Das Wis­sen muß sterben, um als Wille wieder aufzuerstehen, und als freie Person sich täglich neu zu schaffen.»

Wie das Wissen persönlich werden kann, wie dasjenige, was man denkend erkennt, in die Kraft des persönlichen Willens übergehen kann, das hat sich Stirner in diesem Aufsatze beantwortet. Wie man aus dem Welterkenner der Weltherrscher, aus dem Priester der Wahrheit der Herr der Wahrheit werden kann, das ist die Frage für ihn gewesen.

Noch weniger will ich auf die anderen Aufsätze Stirners eingehen. Ich will bloß den fingerfertigen Wochenschrift­Artiklern, die meisterlich die Feder führen, weniger aber die Vernunft in ihrer Gewalt haben, raten, bevor sie über Stirner im schönen Bunde mit Bismarck und den Agra­riern ihre grenzenios lächerlichen Sätze hinschreiben, erst einmal ein paar Seiten des Büchleins zu lesen, das jetzt Mackay veröffentlicht hat. Der «Einzige und sein Eigen­tum» ist für solche Handlanger des Bundes der Land­wirte, auch wenn sie es bis zur fragwürdigen Kollision mit Majestätsbeleidigungsparagraphen bringen, doch etwas zu schwer. Aber die Vorstufen, die Stirner allmählich zu sei­nem Lebenswerk führten, die könnten sie vielleicht noch erklimmen. Und wenn sie dann das bißchen Nervenkraft, das sie noch haben, ökonomisch zusammenhalten, dann könnten sie vielleicht sich ebenso mannhaft gegen ihre

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Ankläger verteidigen, wie es Stirner in den eben auch von Mackay veröffentlichten «Entgegnungen» gegen sein Hauptwerk getan hat und brauchten nicht «die greisen, in den Ruhestand verabschiedeten Offiziere», den Fürsten Bismarck, den Herrn von Stumm, Herrn Bronsart von Schellendorf und die «gekrönten Vettern» etc. zu Kron­zeugen ihrer unbeträchtlichen Behauptungen aufzurufen. Aber ich bin doch ein Tor, daß ich mich bei Betrachtungen über Stirner deutscher Leitartikler von Wochenschriften erinnere. Mein Gesinnungsverwandter Mackay wird mir das verzeihen. Was kann ich dafür, wenn draußen ein hei­serer Hahn kräht, während Konrad Ansorge mir die er­habenste Klavierkomposition vorspielt.

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«LITERARISCHE BILDUNG»

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Der alte Literaturhofrat in Leipzig, Rudolf von Gottschall, leitet mit einem Aufsatze, der obigen Titel trägt, eine neu­erscheinende Halbmonatschrift «Das literarische Echo» ein. Es ist wahrhaftig nicht meine Absicht, dem neuen Unternehmen das Leben sauer zu machen, trotzdem sein genannter Vorredner recht geschmackvoll den Artikel mit einem Ausfall auf die bestehenden literarischen Zeitschrif­ten schli eßt. Er rechnet das «Magazin für Literatur» wahr­scheinlich unter diejenigen Literaturblätter, die er als «ein Sammelsurium von Meinungen und Maßstäben», «einen Tummelplatz für eine Kritik, die nach allen Richtungen der Windrose auseinanderstrebt», bezeichnet.

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Es ist nicht gerade leicht, aus des Herrn von Gottschalls Artikel zu erkennen, was er will. Er klagt darüber, daß die allgemeine, humanistische Bildung im Abnehmen be­griffen sei. Er klagt sogar darüber, daß «der lateinische Aufsatz aus den Schülerarbeiten der höheren Gymnasial­klassen gestrichen worden ist». Ich kann aus dem Aufsatz des Herrn von Gottschall nur das eine herauslesen: Er beklagt das Aussterben der literarischen Schönredner von der Art des salbungsvollen Moriz Carriere und des - Herrn von Gottschall selbst, die den Gipfel der Weisheit erklom­men haben durch Aneignung einiger Brocken der Hegel­schen Philosophie und Ästhetik, und welche die große Revolutionierung der Geister nicht mitgemacht haben, die sich durch die naturwissenschaftliche Denkweise in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts vollzogen hat. Recht charakteristisch für Herrn von Gottschall ist, daß er sagt: «Im ganzen bleibt als Hauptträgerin der literarischen Bil­dung die Frauenwelt übrig.» Er hat natürlich die Frauen-bildung im Sinne, welche sich die charakterisierte ästhe­tische Schönrednerei angeeignet hat, und von der sich die Frauen abwenden, die den Geist der Gegenwart verstehen, Redigierte Herr von Gottschall heute eine literarische Zeitschrifr, so fände man darinnen nur Meinungen, die im Jahre 1832 ganz gut hätten geschrieben werden können. Ebenso wie man in den ermüdenden vier Bänden «Deur­sche Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert» nur solche Meinungen findet.

Die auf Grund der naturwissenschaftlichen Errungen­schaften des Jahrhunderts mögliche Denk- und Empfin­dungsweise ist für Herrn von Gottschall nicht da. Er hat keinen Sinn dafür, die Jugend in dieser Denkweise zu erziehen,

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er möchte vielmehr, daß der lateinische Aufsatz in die Schülerarbeiten der höheren Gymnasialklassen wieder eingeführt werde.

Herr von Gottschall gehört zu jenen Glücklichen, die alles wissen. Sie können genau unterscheiden, was künst­lerisch wertvoll ist und was nicht. Sie wissen zu klassifi­zieren. Sie werden also eine Zeitschrift redigieren wie folgt: Ich nehme alles an, was meinem ästhetischen Urteile ent­spricht. Denn ich habe recht, und alle andern haben un­recht. Meine Zeitschrift muß ein einheitliches Gepräge tragen.

Wir andern sind nicht so glücklich wie Herr von Gott­schall. Wir haben unsere Anschauungen und Empfindun­gen unter dem Einflusse der naturwissenschaftlichen Fort­schritte gebildet. Daß durch Darwin alle durch die Jahr­hunderte großgezogenen Empfindungen und Vorstellun­gen umgestaltet worden sind: davon sind wir nicht un­berührt geblieben wie Herr von Gottschall. Aber wir wis­sen zugleich, daß die neue Weltanschauung in den einzel­nen Köpfen verschiedene Formen annehmen kann. Wir haben keine schablonenhaften Ansichten wie Herr von Gottschall. Wir lassen auch den andern gelten. Wir wissen, daß es einen Kampf ums Dasein der Meinungen gibt.

Deshalb müssen wir eine Zeitschrift anders redigieren, als Herr von Gottschall will. Der Herausgeber vertritt seine Ansicht mit aller Kraft, deren er fähig ist. Aber er läßt auch andere Meinungen zu Worte kommen. Er ist sogar stolz darauf, seinen Lesern einen «Tummelplatz für eine Kritik zu bieten, die nach allen Richtungen der Windrose auseinanderstrebt». Er will, daß jede auf genügenden Vor­aussetzungen gebildete Anschauung vertreten wird. Was

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in Herrn Gottschalls Augen ein Nachteil ist, das nehme ich zum Beispiel als einen Vorzug in Anspruch.

Ich liebe die Freiheit. Ich liebe sie nicht nur auf politi­schem Gebiete in dem Sinne, wie ich es in meiner Ant­wort auf J. H. Mackays Brief an mich in Nummer 39 aus­gesprochen habe, ich liebe sie auch auf dem Felde des geistigen Verkehrs, den eine Zeitschrift zu vermitteln hat. Und wie ich das Vertrauen habe, daß die Menschen in ökonomischer und ethischer Beziehung am besten in der Sonne der Freiheit gedeihen können, so habe ich auch den Glauben, daß das geistige Leben am besten fährt, wenn die Meinungen und Ansichten in freier Entwickelung mit­einander kämpfen.

So habe ich es gehalten, seit ich das «Magazin für Lite­ratur» redigiere, und so werde ich es halten, auch wenn Herr von Gottschall diese Zeitschrift verächtlich einreihen sollte in die Schar derer, die ein «Tummelplatz» sind «für eine Kritik, die nach allen Richtungen der Windrose aus­einanderstrebt».

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FRANZ SERVAES: «GÄRUNGEN»

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Der Roman «Gärungen» rührt von einem Autor her, den ich als typischen Literaten unserer Zeit ansehen muß. Ich möchte zu diesem Typus diejenigen zählen, welche die literarhistorischen, ästhetischen, kunstgeschichtlichen und historischen Wissenschaften in der Gestalt in sich auf­genommen und verarbeitet haben, die ihnen von Gelehr­ten mit rein humanistischer Bildung gegeben worden ist.

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Die eigentliche Seele unserer Zeitbildung müßte eine durch die großen naturwissenschaftlichen Errungenschaften des Jahrhunderts befruchtete philosophische Weltanschauung sein. Wer aber sich in den Hörsälen der Universitäten um­sieht, wird finden, daß die Vertreter der obengenannten Wissenschaften sich zumeist sehr wenig von einer solchen Weltanschauung haben befruchten lassen. Und die Folge davon ist, daß die Literatur der Gegenwart, in denen der Inhalt dieser Wissenschaften niedergelegt ist, uns ein Antlitz zeigt, in dessen Physiognomie unsere größten Zeit-ideen nicht zum Ausdrucke kommen.

Statt dieser Zeitideen spuken aber in dieser Literatur allerlei Lieblingsvorstellungen, die demjenigen, der die wahre Zeitbildung sich angeeignet hat, einen gewissen un­reifen Eindruck machen. Und in der Welt dieser Lieblings-vorstellungen leben die typischen Literaten unserer Zeit. Ich möchte nur mit ein paar Worten auf diese Lieblings-vorstellungen hinweisen. Zu ihnen gehört das sogenannte « Unbewußte». Man verachtet gerne, was durch das helle, vernünftige Denken entstanden ist und mißt dem einen höheren Wert bei, was aus den dunklen Tiefen der Seele stammt. Als das Beste gelten unbestimmte Sehnsüchte, unmittelbare Gedanken; weniger schätzt man dasjenige, woran die klare Vernunft ihre Arbeit getan hat. Worüber am wenigsten gedacht worden ist, gilt als edelste Wahrheit. Man braucht auch für dieses «Unbewußte» mit Vorliebe die Bezeichnung des «Instinktiven». In die Reihe dieser Vorstellungen gehört auch der Kultus, der gegenwärtig mit dem «Naiven» getrieben wird. Naiv soll dasjenige sein, was auf dem unmittelbaren, ursprünglichen Ein-drucke beruht, und was nicht durch gewisse Begriffe, die

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aus unserer vorgeschrittenen Geisteskultur stammen, ge­trübt ist.

Nun tritt bei den typischen Literaten eine eigentüm­liche Erscheinung zutage. Sie gehen nicht aus einem ur­sprünglichen Trieb, aus ihrer inneren Natur heraus auf das Unbewußte und Naive los. Sie streben dieser vielmehr aus dem Grunde zu, weil sie theoretisch auf sie geführt worden sind. Deshalb fördern sie auch nicht Vorstellungen zutage, zu denen der noch nicht durch die Schule der Vernunft gegangene naive Mensch gelangt, sondern solche, welche sie nach gewissen doktrinären Prinzipien als unbewußt und naiv bezeichnen.

Ihre Beobachtung ergibt nicht dasjenige, was das un­befangene, naive Auge sieht, sondern dasjenige, was die­ses Auge sieht, nachdem man ihm eine gewisse Brille vor­gesetzt hat: die Brille, die geformt ist aus der Theorie über Unbewußtheit und Naivität. Sie beobachten nicht einfach darauf los, sondern sie fragen sich bei jedem Blicke in die Wirklichkeit: wie muß ich sehen, damit ich das Unbewußte und Naive sehe.

Ein Ergebnis aus solch doktrinärer Beobachtung ist der Roman, von dem ich hier sprechen will. Keine einzige der Gestalten ist aus wirklich unbefangener Beobachtung ge­schöpft. Man merkt es jeder Zeile an, daß der Autor sich fortwährend zwingt, in einer bestimmten Weise zu sehen. Nicht wie der auf die Sachen unmittelbar schauende Künst­ler schafft Servaes, sondern wie einer, der sich gewisse Vorstellungen über die Sachen durch seine Bildung an­geeignet hat; und der diese Vorstellungen wieder zurück­übersetzen will in die Gestalt, in der sie der wirkliche Künstler unmittelbar sieht.

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Es fällt auf, daß auf den 472 Seiten des Romans fast alle theoretischen Vorstellungen aufgezeichnet sind, die zu dem Inventar eines Gegenwartsliteraten gehören. Und die Personen werden nur das Mittel, diese Vorstellungen aus­zusprechen. Deshalb mangelt den Gestalten jegliche Pla­stik. Die Hauptgestalt, ein Privatdozent der Psychologie, erscheint wie ein Mensch, der die tiefste Sehnsucht hat, alles, was die Natur in ihn gelegt hat, aus sich heraus zu entwickeln. Er tut dies aber in der Weise, daß er nicht sich zur Geltung bringt, sondern die Vorstellung von einem Menschen, die ihm auf Grund seiner Studien als die richtige erscheint. Er verliebt sich hintereinander in drei Frauen, zu denen die Elemente ihrer Gestaltung nicht aus dem Leben, sondern aus der Pseudopsychologie der typi­schen Literatur genommen sind. Und die Freunde, mit denen der gute Privatdozent bummelt und zecht, erschei­nen dem durch die naturwissenschaftliche Zeitbildung ge­schärften Blicke des wahren Psychologen wie in Kleider gesteckte Ideen Nietzsches, Paul Scheerbarts, Peter Hilles und anderer.

Es ist in der breitangelegten Erzählung alles unnaiv, alles durch Reflexion zurechtgeschnitten. Fast nichts wird uns geschenkt, worüber der Verfasser nachgedacht hat. Von Humes Philosophie, Nietzsches Übermenschentum bis zu dem Duft, den ein frisch gebadeter Frauenieib ver­breitet, erfahren wir alles.

In anderem Sinne als Servaes gemeint hat, möchte ich deshalb seinen Roman als « aus dem Leben unserer Zeit» herrührend bezeichnen. Er ist aus der ganz kleinen Welt der Gegenwart, in der ein typischer Literat unserer Zeit lebt. Und diese Welt ist aus Vorurteilen gezimmert. Die

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philosophisch-naturwissenschaftliche Zeitbildung führt uns trotz ihrer Vernünftigkeit auf die wahre, unmittelbare Gestalt der Außenwelt. Diese Literatenpsychologie hat aber gewisse Schablonen von Menschen geschaffen, die sich von Buch zu Buch fortschleppen. Die Lucie, die Servaes als erste Geliebte unseres Psychologen zeichnet, verhält sich zu einem wirklich künstlerisch gestalteten Wesen so wie der auf Tradition beruhende Franz Moor der gewöhnlichen Charakterdarsteller zu der Schöpfung eines Schauspielers, der aus dem Leben schöpft.

Bei alledem ist der Roman eine interessante Erschei­nung. Man liest ihn wegen der Fülle der aufgespeicherten Gedanken, wegen der reizvollen, wenn auch naiven Natur-und Menschenschilderungen mit Vergnügen. Aber er ist nicht das Werk eines Künstlers, sondern das Werk eines hochgebildeten Literaten.

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MAETERLINCK, DER «FREIE GEIST»

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Maurice Maeterlinck ist eines der hervorragendsten Er­lebnisse der modernen Seele. Diejenigen, deren Sympa­thien sie zu den Aposteln der Weltverehrung, zu Darwin und Haeckel weisen, empfinden eine tiefr Befriedigung, wenn ihnen der Genter «Mystiker» erzählt: «Alle unsere Organe sind die mystischen Mitschuldigen eines höheren Wesens, und wir haben nie einen Menschen, sondern stets eine Seele kennengelernt.» Und nichts hindert die, welche im Innersten den Reden Zarathustras, des Gottöters, zu­jubeln, geheime Wollust zu empfinden, wenn Maeterlinck

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von den Tiefen des Göttlichen mit religiöser Andacht spricht. Zarathustra sagt: « Kranke und Absterbende waren es, die verachteten Leib und Erde und erfanden das Himm­lische und die erlösenden Blutstropfen: aber auch noch diese süßen und düstern Gifte nahmen sie von Leib und Erde!» Man kann diese Worte wie eine Erlösung von tausendjährigen religiösen Vorurteilen empfinden und den­noch mit zustimmender Befriedigung hinhorchen, wenn Maeterlinck spricht: « Die Götter, von denen wir stam­men, geben sich uns auf tausendfache Weise kund; aber diese geheime Güte, die man nicht bemerkt hat und von der keiner unmittelbar genug gesprochen hat, ist vielleicht das reinste Zeichen ihres ewigen Lebens. Man weiß nicht, woher sie kommt. Sie ist einfach da und lächelt auf der Schwelle unserer Seelen; und die, in denen sie am tiefsten und häufigsten lächelt, werden uns Tag und Nacht leiden machen, wenn sie es wollen, ohne daß es uns möglich wäre, sie nicht mehr zu lieben.»

Ein Rätsel schien bis vor kurzem Maurice Maeterlinck. Den Tonfall der christlichen Mystiker glaubte man in sei­nen Reden zu vernehmen; und die gottlosen Menschen der modernen naturwissenschaftlichen Weltanschauung konnten den Lockungen dieser Reden nicht widerstehen. Die Macht des Gedankens, daß der Mensch sich nach durchaus ungöttlichen, rein natürlichen Gesetzen aus nie­deren Organismen entwickelt hat und daß nur diese Erde> kein jenseitiger Himmel der Quell unserer Freuden sein kann, schützte nicht vor dem Zauberklang der Worte Maeterlincks: « Fürwahr, wir handeln schon wie Götter, und all unser ganzes Leben verläuft unter unendlichen Gewißheiten und Untrüglichkeiten. Aber wir sind Blinde,

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die längs der Straßen mit Juwelen spielen; und jeder Mensch, der an meine Türe klopft, gibt im Augenblicke, wo er mich begrüßt, ebenso wunderbare geistige Schätze aus, wie der Fürst, den ich dem Tode entrissen hätte.»

Seit Maeterlinck - im Oktober des vorigen Jahres - sein neuestes Werk: « La sagesse et la destinée»(Paris, Librairie Charpentier) veröffentlicht hat, ist es nicht mehr schwie­rig, den oben bezeichneten Widerspruch zu lösen. In die­sem Buche tritt uns eine moderne Seele entgegen, die aus den Eierschalen des Mystizismus sich gelöst hat. Wir glau­ben Zarathustras mutwillige Weisheit zu vernehmen, wenn Maeterlinck zu uns spricht: « Intellekt und Willen sollen sich daran gewöhnen, wie siegreiche Soldaten von dem zu leben, was ihnen den Krieg macht.» Und das Bekenntnis des verlästerten Max Stirner scheint von neuem zu spre­chen aus Sätzen wie diesen: «Aber man sagt uns: liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Aber wenn man sich sel­ber auf eine engherzige und unfruchtbare Weise liebt, wird man seinen Nächsten auf dieselbe Weise lieben. Man lerne doch weitherzig, gesund, weise und vollkommen sich selbst lieben; das ist weniger leicht, als man glaubt. Die Selbstsucht einer starken und hellsichtigen Seele ist von viel wohltätigerer Wirkung als alle Hingebung einer blin­den und schwachen Seele. Ehe man für die andern da ist, hat man für sich selber da zu sein; und ehe man sich weggibt, muß man sich sein Selbst sichern. Sei versichert, daß die Erwerbung eines Bruchteils deines Selbstbewußtseins im tiefsten Grunde mehr wert ist, als die Hingabe deiner gesamten Unbewußtheit.»

Und Stirner, der dem Egoismus das hohe Lied «Der Einzige und sein Eigentum» gesungen hat, müßte bewundernd

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stehen vor dem Abgott der modernen Mystiker, wenn dieser spricht: « Nicht durch Aufopferung wird die Seele größer, sondern im Größerwerden verliert sie die Aufopferung aus den Augen, wie der Wanderer, wenn er höher steigt, die Blumen des Tales aus den Blicken ver­liert. Aufopferung ist ein schönes Zeichen vom inneren Mitleiden; aber man sollte nie das Mitleiden um seiner selbst willen pflegen.» Oder: « Die Kraft, die in unserm Herzen leuchtet, soll vor allem für sich selber leuchten. Nur um diesen Preis wird sie auch den andern leuchten; und so klein auch die Lampe sein mag, gebe keiner von dem Öle, das sie nährt, er gebe von dem Lichte, das sie krönt!»

Vor zwei Jahren, als Maeterlincks «Trésor des Hum­bles» erschien, konnten die modernen Heiden den Mysti­kern nichts erwidern, die den verzückten Belgier einen der Ihrigen nannten. Heute nach der Herausgabe von « La sagesse et la destinée» wird der Jubel der Mystiker ge­ringer sein.

Auf diese eigentümliche Entwickelung Maeterlincks soll hier hingewiesen werden in Anknüpfung an die treffliche deutsche Ausgabe des «Trésor des Humbles», die eben (bei Eugen Diederich, Leipzig und Florenz) erschienen ist, unter dem Titel: «Der Schatz der Armen. Von Maurice Maeterlinck. In die deutsche Sprache übertragen durch Friedrich von Oppeln-Bronikowski.»

Heute lesen die modernen freien Geister jeden Satz die­ses Buchs anders als vor zwei Jahren nach seinem Erscheinen. Damals haben sie nur ein dunkles Gefühl gehabt, daß aus diesem Buche ihnen eine Luft entgegenströmt, die

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trotz mancher widrigen Ingredienzien einen frischen Tan­nengeruch brachte.

Und gerade ihre seltene Befriedigung beim Anhören dieses stammelnden Weisen begreifen die freien Geister heute. Denn man verwechselt diese freien Geister oft mit den flachen rationalistischen Köpfrn, zu denen die Stimme des Herzens nicht spricht. Die nur den Verstand und die Vernunft in sich wirken lassen und denen deshalb die freieren Regungen der menschlichen Seele, die instinktiven Impulse unbekannt bleiben.

Etwas Trockenes und Verstandesmäßiges wirft man den freien Geistern vor Und sie selber haben fortwährend eine gewisse Angst davor, daß das Nüchtern-Logische die wert­vollsten Kräfte töten könnte, die unbewußt in der Men­schenseele walten.

Aber diese Angst ist ein unrechtes Gefühl des mensch­lichen Seelenlebens. Zwar ist es richtig, daß die Sprache des Verstandes auch diejenige gemeiner und banaler Men­schen ist. Aber diese Sprache ist darum nicht weniger die­jenige der tiefsten Geheimnisse des Weltendaseins. Und die Worte, welche jetzt die alltäglichen Ergebnisse einer Börsenspekulation zum Ausdrucke bringen, können im nächsten Augenblicke die Interpreten tiefer Wahrheiten sein.

Und noch ein anderes. Man nennt die Freunde des modernen naturwissenschaftlichen Bekenntnisses gerne Materialisten und spricht ihnen das Gefühl für das Gött­liche ab. Man findet es entsetzlich, wenn sie von dem Men­schen, dem doch ein Gott vom Himmel her das Dasein gegeben haben soll, nichts sehen als daß er «zu drei Viertel eine Was sersäule sei und anorganische Salze in sich habe»,

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die über sein Dasein mehr vermögen als alle erträumten geistigen Kräfte.

Nietzsche, der Evangelist des Diesseits, der Verächter alles Jenseits-Göttlichen sagt: « Das Unorganische bedingt uns ganz und gar: Wasser, Luft, Boden, Bodengestalt, Elektrizität und so weiter. Wir sind Pflanzen unter solchen Bedingungen.»

In uns allen liegt noch etwas von dem Glauben, daß wir die Welt zu etwas Niedrigem, Gemeinem herabwürdi­gen, wenn wir sie des Göttlichen entkleiden und in ihr nichts sehen, als was wir wirklich in ihr mit unseren Sin­nen und unserem Geiste wahrnehmen. Wir vermeinen den Menschen zu einem nahezu ekelhaften Wesen zu machen, wenn wir uns eingestehen, daß er aus den Stoffen dieser Welt besteht, und daß diese Stoffe auch den Naturgesetzen dieser Welt gehorchen.

Aber das Natürliche, das Irdisch-Ungöttliche, ist nicht verächtlich: nur der verirrte Menschengeist hat es zu einem Verächtlichen gemacht, weil er sich durch eine lange Er­ziehung daran gewöhnt hat, immer nur bei der Vorstel­lung eines Jenseitigen in eine andächtige Stimmung zu geraten. Unsere besten Geister kranken daran, daß sie an das Göttliche im Jenseits nicht mehr glauben können und dennoch das Irdisch-Wirkliche nicht als einen Ersatz des verlorenen Göttlichen empfinden können.

Nietzsche verkündete in seinem « Zarathustra» die Hei­ligkeit und Göttlichkeit des Diesseits. Und Maeterlinck tat dasselbe in seinem «Trésor des Humbles». Im Grunde sagen beide Geister dasselbe. Nur betont Nietzsche: All das Anbetung swürdige, all das Heilige: es ist kein Himmel und kein Jenseits; es ist eine Erde und ein Diesseits. Und

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der Mensch soll nicht hinschielen nach seinem überirdi­schen Paradies der Seligkeit; sondern er soll sein der Sinn der Erde. Und Maeterlinck sagt: Das Gewöhnliche, All­tägliche allein ist das Wirkliche, aber dieses Wirkliche ist ein Göttliches. « Hier ist Johann, der seine Bäume beschneidet, dort Peter, der sein Haus baut, du, der mir von der Ernte spricht, ich, der dir die Hand gibt - aber wir sind auf einen Punkt gebracht, wo wir die Götter berüh­ren, und wir erstaunen über das, was wir tun.»

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LOKI

I

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Es gibt dichterische Aufgaben, denen gegenüber jeder Naturalismus versagen muß. Es sind diejenigen, die sich auf den Kampf der ewigen Mächte in der menschlichen Seele beziehen. Dieser Kampf stellt das menschliche Innen­leben in seiner ganzen Entwickelung dar, von der Geburt bis zum Tode. Nicht in einzelnen Handlungen, Stimmun­gen oder Ereignissen erschöpft sich dieser Kampf. Mögen die einzelnen Ereignisse, die das Leben dem Menschen bringt, diesen oder jenen, tragischen oder freudigen Aus­gang finden: der Grundkampf, den das Ewige in der Men­schenbrust kämpft, erhebt sich stets von neuem. Nur die einzelnen in sich abgeschlossenen Kampfeskreise kann die naturalistische Kunst schildern. Denn nur sie allein ge­hören der Welt des Wirklichen an. Um die Urkämpfe dar­zustellen, muß die Phantasie über dies Wirkliche hinausgehen.

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Sie muß in einer höheren idealen Sphäre als ab­geschlossen darstellen, was die Wirklichkeit nie zum Ab­schluß bringt. Der Philosoph kann das in der Idee, der Künstler im Bilde. Die dichtende Phantasie auf einer ge­wissen Kulturstufe stellt diese Kämpfe des Ewigen in der Seele in Form der Götter- und Sagenwelt dar. Nichts ande­res ist diese göttliche oder sagenhafte Welt als ein Bild dessen, was auf dem Grunde des menschlichen Geistes vorgeht. Will der Dichter das Walten des Ewigen darstel­len, so löst er es los von den Zufälligkeiten des mensch­lichen Lebens, von den Leiden und Freuden des Alltags. Seine Gestalten werden dann zwar noch Menschen sein, aber Menschen, die des Zufälligen entkleidet sind.

Eine solche höchste künstlerische Aufgabe hat sich Ludwig Jacobowski in seinem neuesten Werke: « Loki. Roman eines Gottes » (Bruns Verlag, Minden i W. 1899) gestellt. Zwei Mächte kämpfen stets in jeder Menschenbrust einen heißen, schweren, einen Kampf auf Leben und Tod miteinander. Die eine birgt in sich: Güte, Liebe, Ge­duld, Freundlichkeit, Schönheit; die andere: Haß, Feind-schaft, Jähzorn, Feindlichkeit und das Element, das über der Stärke die weichen Formen der Schönheit stets ver­gessen wird. Der dichtende Geist auf einer früheren Kul­turstufe hat die beiden Mächte in den nordischen Gott­heiten, des Balder und des Loki> einander gegenüberge­stellt. Ludwig Jacobowsl:i hat sie in seinem Roman wie­der dargestellt. Die alten nordischen Gottheiten haben ihm als Modelle für seine Gestalten gedient. Aber die Charaktere, die die nordische Sage in diese Gottheiten ge­legt, bilden für Jacobowski nicht mehr als den Ausgangs­punkt. Denn anders kämpfen die Mächte in der modernen

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Seele als in derjenigen des vorzeitlichen Menschen. Der moderne Mensch führt ein vertiefteres Leben als derjenige der Vorzeit. Der Mensch einer früheren Zeit stellte die Kräfte, die in seinem eigenen Innern walten, ähnlich den Naturkräften vor, die er mit seinen Sinnen in der Außen­welt wahrnimmt. Für den Modernen nehmen diese Kräfte einen geistigeren Inhalt an. Diesem veränderten Bewußt­sein des Menschen über sich selbst entspricht die Um­wandlung, die Jacobowskis Phantasie mit den Gestalten der Sage vollzogen hat. Wie ein Naturprozeß, erfunden von der aus der sinnlichen Wirklichkeit sich nährenden Phantasie, erscheint Lokis Kampf gegen die Götter in der nordischen Sage. Wie eine Personifikation dessen, was die moderne Menschenseele bewegt, erscheint er bei Jaco­bowski. Der Dichter hat dadurch die Sage vertieft. Einen Kampf, der aus der Liebe entspringt, hat er geschildert. Balder und Loki lieben Nanna. Aber Balder liebt, wie die Liebe selbst; er liebt mit einer Leidenschaft, die frei ist von Selbstsucht. Mit derjenigen Liebe, die Goethe im Auge hat, wenn er sagt: « Kein Eigennutz, kein Eigen­wille dauert, I Vor ihrem Kommen sind sie weggeschauert. -Wir heißen's: fromm sein!» Loki liebt wie der Eigennutz liebt, der in der Liebe das Fest des höchsten Selbstgenusses feiert. Den ewigen Kampf des Egoismus und der Selbst-losigkeit stellt der moderne Dichter dar. Es ist der Kampf, den die moderne Seele in seiner ganzen Tiefe auskämpft; der Kampf, welcher den Inhalt der streitenden Welt­anschauungen der Gegenwart bildet. Mit der Ruhe, die aus der objektiv wirkenden Phantasie des wahren Dich­ters stammt, sieht Jacobowski auf diesen Kampf. Und aus dieser Objektivität ist ihm eine philosophische Dichtung

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ersten Ranges entsprungen. Er hat damit für das moderne Seelenleben einen höheren Ausdruck gefunden, als seine ewig tastenden und experimentierenden dichtenden Zeit­genossen finden können.

Ich konnte mich, als ich seinen Roman immer wieder und wieder auf mich wirken ließ, des Gefühles nicht ent­schlagen, daß hier erreicht ist, wonach ein Geist wie Mae­terlinck immer strebt. Maeterlinck hat ein schönes Wort gesprochen. Der Mensch sei in allen seinen Teilen ein mystischer Mitschuldiger höherer göttlicher Wesen, meint der belgische Dichterphilosoph. Und wenn Maeterlinck als Dichter das Göttliche darstellen will, dessen Mitschul­diger der Mensch ist, dann versagen seine Kräfte. Er läßt es uns bloß ahnen. Jacobowski schildert mit plastischer Phantasie dieses Göttliche. Wenn wir den Dichtungen Maeterlincks folgen, müssen wir etwas vom Philosophen in uns haben. Eine große Idee schwebt hinter seinen Dich­tungen. Wir ahnen sie. Und wenn wir philosophischen Sinn genug haben, so ergänzen wir uns diese Idee. Aber sie bleibt philosophisch. Sie wird in dem Dichter selbst nicht zum Bilde. Das ist bei Jacobowskl der Fall. Das Göttliche, dessen mystischer Mitschuldiger der Mensch ist, stellt er in individuellen Gestalten dar. Und aus dieser Phantasie, die mit dem Ewigen schaltet, ffießt ihr eine lyrische Kraft, die dem Symbolischen, das er darstellt, das individuelle Blut gibt. Dieses lyrische Element ist wie eine Atmosphäre, in welcher diese ewigen Gestalten atmen und leben müssen. Sie steht über der sozialen Atmosphäre der Wirklichkeit, wie des Dichters Gestalten über der Wirk­lichkeit stehen. Hamerling sagt von seinem «Ahasver»: «Übergreifend, überragend, geheimnisvoll spornend und

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treibend, die Krisen beschleunigend, als die Verkörperung des ausgleichenden allgemeinen Lebens hinter den stre­benden und ringenden Individuen stehend - so dachte ich mir die Gestalt des Ahasver.» Und so dachte sich Jaco­bowski die Gestalt seines Loki.

Die menschliche Natur ist ein Ganzes. Sie hat in sich ebenso das Element der selbstlosen Hingabe wie der rück­haltlosen Selbstsucht. Das Gute und das Böse sind in ihr. Das eine findet an dem andern seine natürliche Ausglei­chung. Erscheint das Gute, so tritt sogleich das Böse auf den Plan als Ergänzung. Nur scheinbar kann das eine über den Menschen die Herrschaft gewinnen. Das Werden selbst ruft die Zerstörung hervor. Balder, die alles umschlin­gende Liebe, die Sonne des Daseins, kann nicht entstehen ohne Loki, die Selbstsucht, die Finsternis, wider sich wach zu rufen. Das Leben spinnt sich in ewigen Gegensätzen ab.

Eine Dichtung auf dem Grunde einer philosophischen Lebensauffassung ist « Loki, der Roman eines Gottes». Und so wenig die philosophische Vertiefung dem Leben schadet, so wenig schadet die philosophische Grundlage der Dichtung Jacobowskis. Denn dieser ist ein wahrer Dichter. Und daß er philosophischer Vertiefung fähig ist, erhöht den Wert seiner Dichtung. Daß seine Phantasie stets plastisch, gestaltend, individuell wirkt, bedingt den künstlerischen Charakter seines Werkes.

Dem modernen Bewußtsein hat dieser Dichter eine Form gefunden, in der er sich auszusprechen vermag, ohne irgend etwas von den höchsten ideellen Kunstforde­rungen und Weltideen einzubüßen. In freier Weise waltet er über der Sage, denn sie ist bei ihm künstlerisches Mittel geworden.

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II

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In einer Nacht werden die Asen durch ein böses Traum-gesicht in Schrecken versetzt. Am Himmel spielen sich noch nie gesehene Dinge ab. Ein jeglicher Gott wird aus dem Schlafe aufgestört. Und ein jeglicher sieht das Lager der Asin neben sich verlassen. Aus der Lagerstatt aber steigt schwarzer Nebel auf. Und als der Ase sich erhebt, um nach der Gattin zu sehen, da liegt sie mit Schweiß-tropfen an der Stirn und mit schwerem Atem, als ob sie eben von einer weiten Reise heimgekehrt wäre. Die Asen teilen sich am Morgen das Sonderbare mit. Nur Urd, die Schicksalsgöttin, kann wissen, was das Geheimnisvolle bedeutet. Die aber können sie nicht befragen, denn ihr Mund spricht nur ungefragt. Urds Bote, der schwarze Bergfalke, kündet, daß in dieser Nacht ein Asenkind ge­boren wurde. Eine Asin sei seine Mutter. Welche, wisse auch Urd nicht. Auch wer der Vater ist, sei ihr unbekannt. Die Asinnen sollten das Kind abwechselnd nähren. Es sollte « Loki» heißen. So ist in die Götterwelt ein Wesen hineinversetzt, aus ihr selbst entsprossen, aber als Kind der Sünde, der Göttersünde.

Hoch im Norden, fern von Walhall wächst das Sünden-kind heran. Frigg, Odins Weib, hat ihm in einer Hütte ein Lager zurecht gemacht. Und jeden Tag muß eine Asin nach der fernen Hütte ziehen, den kieinen Gott zu pflegen. Als Odins Weib zum erstenmale bei ihm war, da lächelte das Kind holdselig. Aber die Göttin schlägt den Knaben und darüber verlernt er das Lachen. Und alle Asinnen mißhandeln das Kind. Mit Gletschermilch, Wolfsschaum und Uhufleisch nähren sie es. Daß es sündigen Ursprungs

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ist, solle es büßen. Zum Feinde der ganzen Götterwelt hat es dieser Ursprung gemacht; zum Feinde der Götterwelt erziehen es auch die Asinnen.

Bald bekümmerten sie sich um den Knaben nicht mehr. Eine elbische Alte, Sigyn, pflegt ihn mütterlich weiter. Unter ihrem Schutze wächst er heran. Er wird ein starkes, ernstes Wesen. Die Heiterkeit haben ihm die Asinnen aus­getrieben. Hart muß er arbeiten, um der Erde die Nahrung abzugewinnen. Das ist ihm rätselhaft, und er frägt Sigyn, ob denn alle Wesen im Schweiße ihres Angesichts das Brot des Lebens schaffen müssen. Der Alten Antwort schließt die Empfindungen aller Mühseligen und Belade­nen ein, jene bange Frage, die sich die Enterbten alle Zeit stellen: «0 weise Welt der Asen! Über Luft und Sonne gehen die einen, greifen rechts und links in die lieblichen Lüfte und fassen feste Früchte und segensebwere Halme. Und die anderen kriechen mühsam über Kluft und Klippe; und zerren die Hände an der rauhen Erde, leer sind sie und feucht nur von eigenem Schweiß.» Der Gott der Ent-erbten ist Loki, und seine Empfindungen den anderen Asen gegenüber sind diejenigen des mühsalbeladenen freudiosen Lebens gegenüber dem mühelosen, freude-erzeugenden Glücks.

Loki zieht aus, um diejenigen seinesgleichen kennenzu­lernen, die in der Sonne des Glücks leben. Und als er in ihren Kreis tritt, da wird es klar, daß er etwas besitzt, was sie alle entbehren müssen, was der Schmerzbeladene vor­aus hat vor dem, der unverdientes Glück genießt: die Weisheit. Loki kennt die Zukunft der andern Götter. In ewiger Gegenwart lebt der Glückliche. Er genießt den Augenblick und kümmert sich nicht um die Triebräder,

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welche die Welt bewegen. Nur derjenige, dem diese Räder bei ihrem Gange wehe tun, der fragt nach ihrem Gange; und aus dieser Frage wird ihm das Wissen des Welten­laufes. So wird aus dem Schmerz die Weisheit geboren. Und die Weisheit macht stark gegenüber der sorglosen Dumpfheit. Aber weil der Weg zur Weisheit durch den Schmerz führt, raubt er dem Wandelnden die selbstlose Liebe. Sie wird aus der Schmerzlosigkeit erzeugt. Wer sein Geschick sich selbst nicht verdient hat, kann sich auch selbstlos hingeben. Wer sich aber das Seinige unter Schmer­zen erworben hat, der verlangt für sich sein ihm zukom­mend Teil und will das sauer Verdiente nicht aus Selbst-losigkeit hingeben. Die selbstlose Liebe wohnt nur in-mitten der Welt des Glückes. Balder stellt diese Liebe innerhalb des Götterfreudenreiches dar. Und diese Liebe ist das Einzige, was dem Schmerzenkenner aus dem Reiche des Glückes heraus unheimliche Gefühle erweckt. Er muß den Wert reiner, edler Liebe anerkennen. Er bebt vor die­ser Liebe. Loki muß Balder feindlich entgegentreten; aber er muß es mit dem bitteren Gefühl, daß er ein Hohes haßt, weil er seine Hoheit entbehren muß. Die Weisheit, die aus dem Schmerze stammt, muß neuen Schmerz gebären.

Warum muß der wissende Loki den unwissenden, aber Lieb-erfüllten Balder hassen? Vor dieser Frage endet Lokis Weisheit. Denn diese Frage stammt aus seinem eigenen Schicksal. Und das ist ihm unbekannt. Was aus allen ande­ren Göttern werden soll, liegt vor seinem Seherblicke offen. Was die dunklen Mächte mit ihm selbst vorhaben, davon hat er keine Kenntnis.

Das ist das Schicksal des Wissens: daß es aus dem Leid stammt und auch nie Freude bringen kann. Und deshalb

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glauben die Glücklichen, daß das Wissen aus der Sünde stamme.

Genuß und Entbehrung sind die Kräfte, die sich in unse­rer Seele ewig bekämpfen. Zur Liebe, zur Güte, zur Schön­heit führt uns der Genuß; zum Egoismus, zur Härte, zur Macht führt uns die Entbehrung. Das Leben eines jeden ist erfüllt von dem Widerstreben dieser beiden Kräfte. Balder und Loki kämpfen immerwährend in unserer Seele. Wir könnten restlos glücklich sein, wenn wir bloß Ge­nießende wären. Aber wir wüßten nichts von diesem Glücke. Ein freudiges Leben hätten wir; aber ein Leben, das gleich einem Traume wäre. Erst die Entbehrung klärt uns auf über unser Glück; aber sie zerstört zugleich ewig dieses Glück.

Es ist ein tiefer Zug in Jacobowskis Dichtung, daß nur zwei Wesen Loki lieben: Balder, der Quell aller Liebe, und Sigyn, die elbische Alte. Balder, weil er den Haß nicht kennt, Sigyn, weil sie keine Gegenliebe verlangt. In der Göttersage ist Sigyn die liebende Gattin, die natürlich wieder geliebt werden muß. In Jacobowskis Dichtung ist sie ein Wesen, das mit Ironie auf die Welt und ihr Glück blickt. Haß und Liebe liegen Sigyn fern. Aber daß das unverdiente Glück nicht übermächtig werde, daran liegt ihr. Deshalb hegt und pflegt sie den Anwalt der Enterbten.

Der Kampf für ein bloßes Prinzip würde uns nicht mit fortreißen. Es hätte etwas Frostiges, wenn Loki der Geg­ner der Götter wäre, nur weil innerhalb des Weltenplanes die verneinenden Gewalten ihre Vertretung haben müssen. Lokis Kampf gegen die Asen ist keiner für eine Sache im allgemeinen; Loki kämpft für seine Sache. Balder entreißt Loki das Liebste, das angebetete Weib. Und gerade aus

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dem persörlichen Unglück Lokis entspringt das Glück der Götter. Daß Nanna nicht Lokis, sondern Balders Weib wird, darauf beruht dieses Glück. - « Nanna und Balder... Diese beiden Namen machten die Götter Walhalls vor tie­fem Entzücken beben. Licht kam zu Licht, Sonne zu Sonne, und die Liebe beider schirmte die herrliche Welt der Götter gegen die Unholde der Finsternis und die Rie­sen im eisigen Jötumheim besser, als ungeheure Mauern aus Erz und Fels. Ihr Name war wie schimmernde Brünne und klangtiefer Schild. Unheil schlug dagegen an, aber die Brünne schimmerte weiter, und der Schild klang tief, als wäre der Schlag mit leichtem Weidenstabe geschlagen.»

Nicht allein ihr unverdientes Glück genießen die Götter, auch Lokis Glück haben sie ihm geraubt. Das gibt seiner Feindschaft die persönliche Farbe und das persörliche Recht. Die Schwächen im Leben und den Charakteren der Götter, die Unvollkommenheiten in der Welt, die von ihnen gelenkt wird: alles benutzt Loki, um den Asen das Leben schwer zu machen und ihr Ende herbeizuführen. « Lokis Streiche» schildern den Vernichtungskrieg, den der Götterfrind führt. Odins und Thors Lebensführung wird durch diese Streiche durchkreuzt, so daß göttliche Allmacht und Stärke vor dem Hohn, den die List über sie ausgießt, zurückweichen müssen. Die Einrichtungen im Menschenreiche, auf welche die Götter mit Wohlgefallen blicken, ja von denen sie leben: Loki zerstört sie. Er macht die Geknechteten zu seinen Schützlingen; er rüttelt die Sklaven aus ihrer Dumpfheit auf, damit die «heiligen», die göttlichen Ordnungen zerstört werden. Die Macht der Götter über die Erdenkinder zerstiebt vor der Klugheit Lokis. Das Götterreich selbst gibt Loki der Schmach und

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der Schande preis. Freya, die Schönste der Asinnen, liebt den Asenfeind. Gerade diese Liebe benutzt Loki, um den bittersten Spott über Walhall zu bringen. Er wird zum Teufel; er benützt Freyas Liebesbrunst, um sie von den häßlichen Zwergen entehren zu lassen.

Das wildeste von Lokis Werken ist die Vernichtung Balders und jenes Reiches, in dem nur Menschen leben, die nach Balders Herzen sind. Nach Balders Untergang lebte noch dieses Volk, sein Volk, « unter dem nie sich eine Faust gegen ein fremdes Haupt erhob, nie ein unzüchtiges Wort sich an Mädchenspuren heftete, wie schmutziger Sand an nasse Fersen, nie ein roter Goldreif oder eine bräunliche Bernsteinkette unreines Begehren weckte. Dort schossen die Halme frei in die Luft, und Wolken und Winde, Regen und Sonne drängten sich zur Gnade, über Balders Land ihre Segensfülle ausstreuen zu können. In durchleuchteter Luft schritten die Edelinge dahin, das stattliche Haupt stolz emporgeworfen, daß die goldenen Locken über die breiten Schultern rieselten; und ihre Frauen wandelten nebenher, klar und still die Stirnen und Sanftmut im holden Geleuchte des Blickes.» Diesem Lande bringt Loki den Untergang. Denn alles, was an Balder und sein Wesen erinnert, soll zu Grunde gehen. Die Men­schen aus dem Lande, in dem der Hunger herrscht, führt Loki gegen die Edelinge ins Feld. Die Baldersöhne fallen unter den mächtigen Hieben der Hungernden; und auf Balders Thron wird ein Hund gesetzt. « Die Edeln neigen den Kopf tief vor dem zähnefletschenden Tiere, einer nach dem anderen, das Gesicht weiß wie Linnen auf dem Felde, wenn die Frühsonne darüber leckt. Dann nahen die Frauen. Von den runden Köpfen fällt das leuchtende Goldhaar

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und türmt sich neben dem Throne auf, dann wieder Kin-der, jammernd und weinend über die Schmach, und sie reiben sich die Stirne am Boden blutig vor Scham.»

Damit hat Loki seine Aufgabe erfüllt. Balder und die Seinen sind überwunden. Auch die anderen Asen sind ja Balder ins Totenreich gefolgt. - Aber Loki bleibt nicht Sieger. Aus der Mitte der dem Tiere huldigenden Balder­söhne erscheint ein Jüngling. Und das Tier schiebt sich vom Thron herab, gleitet zur Erde und leckt dem Jüng­ling den Fuß. Loki muß bekennen: « .... Weit drau­ßen warf er sich ins Feld, daß sein Haupt an Steine stieß. Aber er achtete nicht darauf. Unaufhörlich schrie er:

In das große Weltgeheimnis klingt das Buch aus: Ewig ist das Schaffende. Und ewig erzeugt das Schaffende seinen Widerpart: die Vernichtung. Wir Menschen sind in die­sem Weltenlauf eingesponnen. Wir leben ihn. Recht hat das Schaffen und recht hat die Vernichtung. Denn das Schaf­fen nimmt sich sein Recht. Es ist der notwendige Usur­pator. Aber sein Schicksal ist es, daß es ewig das Böse mit sich, aus sich erzeugen muß. Und das Verneinende wird immer ein erworbenes Recht haben. Es wird kraft dieses erworbenen Rechtes den Usurpator vernichten. -Und dann beginnt ein neuer Tag des Glückes und des Rechtes.

Daß nur auf dem Grunde der großen Weltanschauungs-fragen die großen Dichtungen erwachsen: das wird eine

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ewige Wahrheit bleiben. Und Jacobowski hat auf diesem Grunde gebaut.

Daß er eine große Weltanschauungsdichtung schaffen wollte, das drängte ihn, das Menschlich-Alltägliche zum Sagenhaft-Mythischen zu erheben. In diese Sphäre wird sich der tiefere Geist begeben, wenn er nicht den Umkreis unbedeutender Einzelheiten darstellen, sondern den gro­ßen Werdefluß der Dinge gestalten will. Auch Friedrich Nietzsche hat etwas dem Mythus Ähnliches geschaffen: als er die großen Aufgaben des weltfreudigen Menschen, des Daseinsbejahers, Zarathustra, darstellen wollte. Den Zug der Größe erhält die Dichtung, welche das Alltäg­liche zum Gleichnis und das Ewige-Bedeutende zum Er­eignis macht.

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IDOLE UND BEICHTEN

I

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Zu den interessantesten Erscheinungen in der geistigen Entwickelung der letzten Jahrzehnte gehört unstreitig der Umschwung, der sich in unserer Abschätzung der «Ideale» vollzogen hat. Die bedingungsloseste Verehrung ist dem Zweifel gewichen. Wir empfinden diese Verehrung heute als Vorurteil und fragen nach den Bedingungen in der menschlichen Organisation, die bewirken, daß wir unsere Gefühle einem Gebiete zuwenden, dem in der Wirklich­keit nichts entspricht. Auch die höchste der Idealvorstel­lungen,

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der Gottesgedanke, ist uns fragwürdig geworden. Lou Andreas-Salomé hat in ihrem die tiefsten Aufgaben der Zeitkultur berührenden Roman «Im Kampf um Gott» das Wort ausgesprochen: « Das Höchste der menschlichen Schöpferkraft ist das, daß sie, emporschauend, über sich selbst hinaus zu schaffen vermag.» Die Erziehung der ver­flossenen Jahrhunderte hat energisch daran gearbeitet, das Bewußtsein nicht aufkommen zu lassen, daß die Welt des Idealen ein Geschöpf des Menschen ist. Neben und über der natürlichen Wirklichkeit sollte diese Welt ein unan­tastbares Dasein haben, und die Geisteskämpfe stellten sich als das Streben der Menschheit dar, den Einklang zu finden zwischen Ideal und Wirklichkeit. Ja, wenn sich ein Zwiespalt zwischen diesen beiden Reichen herausstellte, so gab man dem Ideale unbedingt recht und forderte von der Wirklichkeit, daß sie ihm immer ähnlicher werde. Empfand doch Schiller das höchste Glück in der Flucht aus der gemeinen Wirklichkeit in das hehre, reine Reich der Ideale. Das ist nun anders geworden. Die Wirklich­keit hat sich in unserem Bewußtsein als Siegerin erwiesen. Das Ideale findet bei uns nur insofern Verständnis, als wir seine Wurzeln in dem Rein-Natürlichen finden können. Sind solche Wurzeln nicht nachzuweisen, dann erscheint das Ideale uns als Daseinslüge oder als Idol, die der Men­schengeist erfindet, weil er den Hang hat, eine Befriedi­gung, die er im unmittelbaren Leben nicht finden kann, sich in der Sphäre des Illusorischen zu suchen. Die Wahr­heit geht uns heute über alles. Wir wollen sie rückhaltlos enthüllen, wenn uns auch darob Güter zerstört werden sollten, die jahrhundertelang dem Menschen als heilig ge­golten haben.

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Vieles tragen zu dieser Enthüllung in unserer Zeit die Frauen bei. Sie haben am längsten ihre Sinne abwenden müssen von der wahren Gestalt des Lebens und ihre Emp­findungen an Güter hängen müssen, die der unbefangenen Betrachtung gegenüber sich als Schein kundgeben. Zwei Bücher, die eben erschienen sind, sind ein Beweis dafür, daß die Frauen uns aus den Tiefen ihres Wesens heraus Offenbarungen zu machen haben: Rosa Mayreders « Jdole» (Berlin 1899) und Adele Gerhards «Beichte» (Berlin 1899). Wer in diese beiden Bücher sich vertieft, dem drängt sich vor allen Dingen das Gefühl auf, hier werden uns wich­tige Dinge gesagt, weil der Mut vorhanden ist, in rück­haltloser Weise auszusprechen, was auf dem Grund der Frauenseele vorgeht. Und das zweite, was wir empfinden, ist der Einblick, den wir von diesen Werken aus in vornehme Frauenindividualitäten gewinnen, die einen harten, ehrlichen und energischen Kampf im Leben führen. Rosa Mayreder hat uns in ihren früheren Novellensammlungen «Aus meiner Jugend» und « Übergänge» von diesem Kampfe erzählt. Man wird, was da zum Ausdruck kommt, wohl nur mit dem rechten Worte bezeichnen, wenn man sagt, das Heroische tritt uns entgegen in der besonderen Art, die es in dem hochsinnigen Weibe der Gegenwart annehmen muß. In den «Idolen» wird das Wesen der Liebe enthüllt, mit der Klarheit der Psychologin und mit der Aufrichtigkeit des kühnen Wahrheitsuchers. Rosa Mayreder hat die Gabe, die Weltzusammenhänge im Lichte der Größe zu sehen. Ihre Darstellung wirkt wie eine psy­chologische Entdeckung. Man verfolgt alles, was sie aus­spricht, mit offenem Ohre, weil man bald gewahr wird, daß, was sie sagt, nur sie uns sagen kann. Anders geartet

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ist Adele Gerhard. Große Offenbarungen hat sie uns nicht zu machen. Wer sich im Leben umgesehen hat, wird un­zählige Male erfahren haben, wovon sie spricht. Aber wir haben wohl in diese Dinge nie mit demselben Grade der Aufmerksamkeit gesehen, wie diese Frau das tut. Uns interessiert weniger, was sie sieht, sondern wie sie hin-blickt. Viel interessanter als diese kleinen Geschichten, die uns überall begegnet sind, denen gegenüber - wir können es nicht leugnen - wir etwas an Blasiertheit leiden, ist uns die Stellung des Autors gegenüber den Dingen. Wir ver­meinen die Augen der Autorin zu sehen, die ganz anders in die Welt blicken als unsere eigenen. Eine freie Seele, der es schwer wird, frei zu sein, steht vor uns. Für Rosa Mayreder scheint es eine Erlösung zu sein, die Wahrheit zu sagen, für Adele Gerhard ein Martyrium.

Wie die Psychologie der modernen Frauenseele in den beiden Büchern sich offenbart, möchte ich in einem zwei­ten Artikel andeuten.

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II

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Rosa Mayreders «Idole» sind derjenigen Empfindung ent­sprungen, die ein alter Satz ausdrückt: Des Menschen vor­züglichstes Studium ist der Mensch. Der Wert dieses Buches liegt darin, daß es das Seelenieben des Weibes unter dem Gesichtspunkt darstellt, unter dem der Philo­soph am liebsten die ganze Welt ansehen möchte. Man hat diese Anschauungsweise oft mit den Worten ausgedrückt: «unter dem Gesichtspunkt des Ewigen». Man wird aber besser tun zu sagen: « unter dem Gesichtspunkt des Be­deutungsvollen». Rosa Mayreders eigenes Leben ist ihr

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die Quelle tiefer Rätselfragen. Und die Antworten, die sie versucht, eröffnen Perspektiven in die Abgründe der Menschennatur. Auf jeder Seite enthüllt es sich, daß hier eine Frau schildert, die eine bedeutende Kraft gebraucht hat, um mit den eigenen Erlebnissen fertig zu werden. Die aber diese Kraft auch besitzt. Dadurch strömt von dem Werke eine eigentümliche ethische Atmosphäre aus, die von dem Ernst und der Würde des Lebens Zeugnis ablegt.

Das Geheimnis, welches in dem Geschlechtsverhältnisse liegt, steht im Mittelpunkt. Es ist jenes Verhältnis, das demjenigen so rätselhaft wird, der über die Beziehung der Individualität zur Gesamtheit nachsinnt. Was ist es in dem anderen Geschiechte, das uns zu demselben hinzieht, um in ihm die Ergänzung des eigenen Wesens zu suchen? Rosa Mayreder stellt den Zug zu dem anderen Geschlechte in seiner ganzen Macht dar; aber sie zeigt zugleich das Element, das sich zwischen die Seelen des Mannes und des Weibes einschiebt. Im Grunde kann die Individualität nicht über sich hinaus. Dem Einleben in die fremde Seele stellt sich etwas entgegen. Es ist das Bild, das in unserer eigenen Wesenheit von dem andern auflebt. Was ergibt sich, wenn der kühle, nüchterne Weltbeobachter seine Vor­stellung des von einem Weibe geliebten Mannes vergleicht mit dem Bilde, das sich in der weiblichen Psyche selbst als Grund ihrer Liebe darbietet? Diese Liebe erwacht bei einem Manne, und sie regt sich nicht bei unzähligen ande­ren. Jener kühle Beobachter weiß nichts von der Ursache dieser Liebe. Und er kann nichts davon wissen. Denn was das Weib liebt, das ist kein Gegenstand der kühlen Be­obachtung, das ist ein Wesen, das aus ihrer Liebe heraus

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geboren wird, das ist nicht der fremde Mann, das ist das Idol, das Bild von diesem Manne. Gisa liebt den Doktor Lamaris. «Als dieser Mann eintrat, ja gleich, als ich ihn das erstemal erblickte, kam er mir so sonderbar bekannt vor, so vertraut, als kennte ich ihn schon längst. Und nach­dem er einige Minuten lang mit mir gesprochen hatte, höfliche, nichtssagende Worte, wie jeder junge Mann sie an jedes junge Mädchen richtet, gewann ich auf einmal den Eindruck, daß ich mich ganz köstlich unterhielte, daß die ganze Gesellschaft, die da ziemlich ledern herumstand und herumsaß, animiert wie noch nie war.» Und wie ver­schieden ist der wirkliche Doktor Lamaris von dem Idol Gisas! Welcher Gegensatz trat zutage zwischen den bei­den Naturen in all den Augenblicken, in denen sie sich begegneten! Die «Vorstellung» eines leuchtenden Innen-lebens kehrte später oft zurück, aber niemals in seiner Gegenwart. Sie vertrug keine Berührung mit der Wirk­lichkeit. Die Wirklichkeit starrte von verletzenden Ein­drücken, « die sich wie Nadelstiche in meine Seele bohr­ten».

Gisas ganze Empfindungswelt wurzelt in der Anschau­ung, daß der rechte Mensch sich zur Welt in ein Verhält­nis setze, welches den elementarsten Neigungen seiner Natur entspricht. Der Doktor dagegen rückt alle Verhält­nisse unter einen anderen Gesichtspunkt. Ein Mädchen soll fromm sein, weil es dadurch sich dem Leben am besten anpassen kann. Gisa sagt: «Man ist gläubig oder ungläu­big aus einem innerlichen Zustand; aber nicht, weil man soll oder nicht soll. Was heißt das also: Ein Mädchen soll fromm sein?» Der Doktor aber meint: « Das heißt, daß es für eine weibliche Psyche nicht zuträglich ist, auf die

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Behelfe zu verzichten, welche die Religion gewährt.» «Al­so Religion unter dem Gesichtspunkt der Seelendiät, der psychischen Hygiene?» erwidert das Mädchen. Dieser Ge­sichtspunkt ist ihr verhaßt. « Er ernüchtert alles, er macht alles flach und philiströs!» Lamaris weiß nur das eine: «Dennoch wird die Kulturmenschheit lernen müssen, wenn sie nicht dem völligen Ruin verfallen soll, das Leben ausschließlich unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten; sie wird alle Affekte unter diesem Gesichtspunkte neu be­werten müssen. ... Auch die Liebe, und zwar die Liebe in allererster Linie, denn da die Liebe es ist, die gewöhn­lich über das Wohl und Wehe der künftigen Generation entscheidet, geschieht es nur zu häufig, daß die auf Grund einer Liebesneigung geschlossene Verbindung zweier Men­schen etwas geradezu Frevelhaftes darstellt. Es ist eine sentimentale Verirrung, die Liebe als die wünschenswer­teste Grundlage der Ehe hinzustellen. Der illusionäre Cha­rakter dieses Affektes macht den davon Befallenen ganz unfähig, seine Wahl nach Vernunügründen, nämlich im Sinne der Rassenverbesserung zu treffen.» Man sieht ein zweites Idol. Das Weib, dessen Geschlechtsinstinkte sich zur Liebesphantasie vergeistigen, stellt sein Phantasiebild zwischen sich und den Mann, den es sucht. Der Mann mit der Verstandeskultur setzt an dieselbe Stelle eine abstrakte Kulturidee. Der weitere Verlauf der Erzählung zeigt, daß auch in Lamaris eine tiefe Neigung für Gisa lebt. Er folgt aber dieser Neigung nicht, denn er ist aus einer Familie, die geistig Umnachtete zu ihren Mitgliedern zählt, und er selbst hat einen Beruf, der seinen Geist besonders in An­spruch nimmt. Der Geist, der in seinem Organismus lebt, darf sich nicht mit dem eines Mädchens verbinden, das

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ebenfalls der Vergeistigung zustrebt. Deshalb heiratet er ein gesundes Mädchen mit geringer Bildung. Es ist eben seine prinzipielle Anschauung, « daß Männer, die stark auf Kosten des Gehirnes leben, Frauen aus geschonten Be­völkerungsschichten heiraten sollen -von wegen der Nach­kommenschaft». Wie sich dieses Idol zu seinem wirklichen Gefühlsleben verhält, sehen wir am besten daraus, daß seine Frau eine - auffallende Ähnlichkeit mit Gisa hat. Sein Geist hat also Gisa gesucht; sein Verstand bestimmt sein Leben.

Der Zauber in Rosa Mayreders Buch liegt in der Art, wie die Dichterin die menschlichen Erlebnisse in den gro­ßen Weltzusammenhang hineinzustellen weiß. Ihre künst­lerische Intuition führt sie stets dahin, eine Einzelheit innerhalb eines Ganzen in der Beleuchtung zu sehen, die uns die Tiefen des Lebens wahrnehmen läßt. Darin muß die wahrhaft vornehme Seele erkannt werden. Damit möchte ich rechtfertigen, daß ich sagte, Rosa Mayreder sieht die Dinge mit Größe. Die Art, wie sie das Liebes-problem erfaßt, scheint mir unterschieden zu sein von der anderer Dichter. Gewöhnlich werden uns die äußeren Er­scheinungsformen der Liebe dargestellt; Rosa Mayreder geht auf das Wesen der Liebe, man möchte sagen, auf deren «Ding an sich» los. Die Aufklärung, die sie sich über das eigene Herz gegeben hat, hat ihren Blick für das Menschliche als solches geschärft. Man wird in der Ent­wicklungsgeschichte des Geistes an der Form, welche diese Künstlerin den menschlichen Erlebnissen gegeben hat, nicht mehr vorübergehen können.

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III

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Anders sind die Aufgaben, die sich Adele Gerhard stellt. Die vier Skizzen «Beichte», «Gönnt mir goldene Tages helle », «Ebbe» und «Du Ring an meinem Finger» zeigen, daß ihr Interesse nicht an dem Farbenreichtum des Lebens, sondern an den Konturen haftet. Wie Kohlezeichnungen wirken diese kleinen Novellen. Und das intellektuelle Ge­wissen des Weibes hat sie geboren. Die Tragik der weib­lichen Liebe spricht sich in ihnen aus. Sie geht aus dem Widerspruch hervor zwischen der Lage, in welche das Weib durch seine Natur gesetzt wird, und den Anforde­rungen, welche die Lebenserfahrungen in ihm erwecken. Die Liebe zieht das Weib zu dem Manne; es bindet sich. Sie legt ihm Pflichten auf, die seine Jndividualität unter­graben. Die Frau, die in der letzten Erzählung geschildert wird, ist für diesen Gesichtspunkt am bedeutsamsten. «Ich suche beständig nach einem Ausweg, aber ich finde ihn nicht. Die Nächte quälen mich mit ihren schweren, auf­regenden Träumen. Der Ring an der Hand beginnt mich zu drücken. Ich sehe mein Kind an, es faßt meine Hand: Mama bleibt bei Johanne. Ich küsse es. Aber ich bin auch da, ruft etwas drängend in mir, und ich will mein Recht -mein Recht, das du Unrecht nennst.» - Frauen, die eben­so notwendig in ein Verhältnis sich begeben mußten, wie sie sich hinaussehnen müssen, nachdem sie es kennen­gelernt haben, werden hier dargestellt. Die Verfasserin ist eine Frau, die den Beruf des Weibes anerkennt, sich aus­zuleben, und welche die Schranken fortwährend empfin­det, die diesen Beruf begrenzen. Hier scheint die Natur dem Menschen als feindseliger Dämon entgegen zu sein.

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Das Ergreifende aus diesem Gedanken ergibt sich aus dem Umstande, daß eine Möglichkeit nicht abzusehen ist, den gekennzeichneten Widerspruch zu lösen. Hat die Natur der Frau die Rolle einer ewigen Märtyrerin zugeteilt? Ich sehe, daß in diesen Novellen dieser Widerspruch so furcht­bar, so tragisch wie möglich erscheint; ich sehe aber nicht eine Andeutung, die eine Lösung erhoffen ließe. Schopen-bauers Philosophie, auf das Bewußtsein der Frau angewen­det, lebt sich in dem Büchlein dar. Rosa Mayreder sucht das Wesen der Liebe zu enthüllen; Adele Gerhard stellt die Katastrophen des Liebesidols dar. Daß beide Bücher fast zu gleicher Zeit erschienen sind, ist charakteristisch für die Zeitkultur. Die «Idole» wirken wie eine Erklärung der «Beichte». Ist es denn zu verwundern, daß die «Vor­stellung des leuchtenden Innenlebens» keine Berührung ruit der Wirklichkeit verträgt und daß die «verletzenden Eindrücke» dieser Wirklichkeit sich «wie Nadelstiche» in die Seele bohren? Der Doktor Lamaris findet: «Denn da die Liebe es ist, die gewöhnlich über das Wohl und Wehe der künftigen Generation entscheidet, geschieht es nur zu häufig, daß die auf Grund einer Liebesneigung geschlos­sene Verbindung zweier Menschen etwas geradezu Frevel­haftes darstellt.» Adele Gerhard geht von dem Gesichts-punkte aus, daß solche prinzipielle Anschauungen dem Weibe flach und philiströs erscheinen, solange es vor der Verbindung steht, weil es da ganz beherrscht ist von seinem Idole. Nach der Verbindung drängt die Wirklichkeit das Idol in doppelter Weise zurück. Das Idol, an das sich die weibliche Persönlichkeit ganz verloren hat, wird zerstört, und das Recht der eigenen Individualität macht sich wie­der geltend; und der Ausblick auf die folgende Generation,

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der vorher nur Verstandessache sein kann, wird dann, wenn diese Generation ins Leben tritt, zur Herzens­sache. Die Pflichten gegen die Nachkommenschaft werden nunmehr nicht nur von der Vernunft gefordert, sondern von dem Herzen empfunden. Und das Weib steht vor der Notwendigkeit, seine Individualität neuerdings fremder Wesenheit zu opfern.

Laura Marholm hat behauptet, die Frauenfrage sei im wesentlichen eine Männerfrage. Die Frau suche naturnot­wendig zur Ausfüllung ihrer Wesenheit den Mann. Rosa Mayreder zeigt, daß dieses Suchen durch ein Idol beein­flußt wird und weist damit die «Männerfrage» in ihre Schranken. Adele Gerhard spricht von der Tragik, zu wel­cher das Idol der Liebe führt; und damit wäre klar, daß der Mann eine unbefriedigende Lösung der Frauenfrage ist.

#TI

JOHN HENRY MACKAYS ENTWICKELUNG

I

#TX

Seit dem Erscheinen seiner Gedichte «Sturm» im Jahre 1888 wird John Henry Mackay der «erste Sänger der An­archie» genannt. Er hat in dem großangelegten Buch, das wie kein anderes die sozialen Strömungen des ausgehen­den Jahrhunderts in durchsichtig klarer, umfassender und aus einer tiefen Kenntnis der Kulturfaktoren unserer Zeit entspringenden Art schildert, in seinen «Anarchisten», 1891 betont, daß er auf diesen Namen stolz sei. Und er darf es sein. Denn durch ihn hat die Weltanschauung ihren

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dichterischen Ausdruck gefunden, die von allem Erdenk­baren, soviel wir sehen können, allein fähig ist, den Men­schen aus den Fesseln zu erlösen, die ihm jahrtausendelang Vorurteil und Gewalt auferlegt haben. Was es bedeutet, daß er seine Dichterkraft in den Dienst dieser Weltanschau­ung gestellt hat, das geht aus den Worten hervor, mit denen er sein «Kulturgemälde aus dem Ende des Jahr­hunderts: Die Anarchisten» einleitet. «Auf keinem Ge­biete des sozialen Lebens herrscht heute eine heillosere Verworrenheit, eine naivere Oberflächlichkeit, eine gefahr­drohendere Unkenntnis als auf dem des Anarchismus. Die Aussprache des Wortes schon ist wie das Schwenken eines roten Tuches - in blinder Wut stürzen die meisten auf dasselbe los, ohne sich Zeit zu ruhiger Prüfung und Über­legung zu lassen.» Nichts anderes ist ja des Anarchisten Überzeugung, als daß ein Mensch nicht über Denken, Wollen und Fühlen des anderen herrschen kann, daß nur ein Zustand des Gemeinschaftslebens fruchtbar sein kann, in dem sich jeder selbst Richtung und Ziel seines Wirkens vorzuzeichnen in der Lage ist. Bisher glaubte jeder zu wissen, was allen Menschen in gleicher Weise frommt. Und das Gemeinschaftsleben wollte man so einrichten, daß das #SE032-260

er dem Kunz die Möglichkeit nimmt, selbst für sein Glück zu sorgen. Nichts anderes aber will der An­archismus, als dem Hinz begreiflich machen, daß er für den Kunz am besten sorgt, wenn er ihn nicht nach Hin­zens, sondern nach Kunzens Art am besten selig werden läßt.

Einen schönen Ausdruck hat J. H. Mackay dieser An­schauung in dem (auf S.444 seiner «Gesammelten Dich tungen» stehenden) Gedichte «Anarchie» gegeben:

Immer geschmäht, verflucht - verstanden nie,

Bist du das Schreckbild dieser Zeit geworden..

Auflösung aller Ordnung, rufen sie,

Seist du und Kampf und nimmerendend Morden.

O laß sie schrei'n! - Ihnen, die nie begehrt,

Die Wahrheit hinter einem Wort zu finden,

Ist auch des Wortes rechter Sinn verwehrt.

Sie werden Blinde bleiben unter Blinden.

Du aber, Wort, so klar, so stark, so rein,

Das alles sagt, wonach ich ruhlos trachte,

Ich gebe dich der Zukunft! - Sie ist dein,

Wenn jeder endlich zu sich selbst erwachte.

Kommt sie im Sonnenblick? - Im Sturmgebrüll?

Ich weiß es nicht ... doch sie erscheint auf Erden! -

«Ich bin ein Anarchist!» - «Warum?» - «Ich will

Nicht herrschen, aber auch beherrscht nicht werden!» -

Es ist traurig, daß es geschehen muß: Aber es ist nötig, es immer wieder und wieder zu sagen, daß der wahre An­archismus nichts zu tun hat mit dem lächerlichen Gebaren jener unglückseligen und unklaren Gesellen, welche die gegenwärtigen Gesellschaftsordnungen mit Gewalt zu überwinden trachten. Nein, dieser «Anarchismus »ist nichts

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weiter als der gelehrige Schüler dieser selben Gesellschafts­einrichtungen, die zu allen Zeiten ihre Ideale «Religion, Nationalität, Staat, Patriotismus, Gesetz, Pflicht, Recht usw.» den Menschen durch Inquisition, Kanone und Zuchthaus begreiflich zu machen gesucht haben. Der wahre Anarchist ist Gegner aller Gewaltmaßregeln, auch derjenigen, die sich frech den Titel «Anarchismus» anmaßen.

Gleiche Möglichkeit für die freie Enifaltung der Per­sönlichkeit will der wahre Anarchismus. Und es gibt keine größere Einschränkung der Persönlichkeit, als ihr mit Ge­walt beibringen wollen, was sie sein soll.

Die Einwände all der gescheiten Leute zu widerlegen, welche dieses Bekenntnis der Anarchisten als einen «from­men Glauben» hinstellen und darauf hinweisen, daß die ganze nationalökonomische Wissenschaft die Widerlegung dieses Glaubens dartue, ist hier nicht meine Sache. Der Anarchismus hat eine umfangreiche Literatur, die sein nationalökonomisches Fundament jedenfalls besser baut als die Bekenner des Staats- und irgendwelchen anderen Sozialismus dies für das ihrige vermögen. Man braucht bloß Tuckers ausgezeichnete Schriften zu lesen, um sich davon zu überzeugen.

Aber nicht auf die Begründung des wahren Anarchis­mus kommt es mir hier an, sondern auf die Stellung J. H. Mackays innerhalb desselben.

Es ist ein Glückszufall allerersten Ranges, daß diese an­archistische Weltanschauung in Mackay einen Sänger ge­funden hat. Künftigen Zeitaltern mag es überlassen bleiben zu beurteilen, was die begeisterten und begeisternden Dich­tungen dieses Mannes zu der Weltanschauung der Zukunft

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beigetragen haben. Uns aber geziemt es zu sagen, daß die­ser Mann, der schwere, seltene Kämpfe durchgemacht hat, um sich zum anarchistischen Bekenntnisse zu erheben, nicht einseitig als «Dichter» genommen sein darf. John Henry Mackay ist ein Kulturfaktor innerhalb der gegen­wärtigen Entwickelung des europäischen Geisteslebens. Und er hat ein volles Recht darauf, von dem hier bespro­chenen Bande seiner Dichtungen zu sagen: «Mehr als ein­mal hat mir eine Sentimentalität, eine Selbsttäuschung, eine Überschwenglichkeit ein Lächeln entlockt, wenn der Stift die Seiten durchging, um hie und da ein Wort - ab­sichtlich indessen immer nur ein einzelnes - in ein anderes zu wandeln. Aber dieser Band bedeutet eben eine Ent­wicklung, und gerade darum durften nicht nachträgliche willkürliche Lücken in ihren selbständig entstandenen Bau gerissen werden, ganz abgesehen davon, daß es der Wunsch, ein vollständiges Bild dieser Entwicklung zu geben, war, dem überhaupt diese Ausgabe ihr Entstehen verdankt. Mag daher das Stärkere das Schwache zu halten versuchen oder das eine fallen mit dem andern - jedenfalls sollte der Anspruch dem Einsichtigen gerecht erscheinen: daß ein ganzer Mensch verlangen darf, ganz genommen zu werden.»

Inwiefern dieser Ausspruch gerade bei J. H. Mackay berechtigt ist, wird mir obliegen, in einem nächsten Auf­satz zu zeigen.

#TI

II

#TX

Es ist das energische Ringen einer starken Persönlichkeit, das sich in J. H. Mackays «Gesammelten Dichtungen» ausspricht.

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Das vornehme Empfinden eines Menschen tritt uns ent­gegen, der nur zufrieden sein kann, wenn er die Höhe menschlichen Daseins erreicht hat, auf der er den eigenen Wert so deutlich als möglich fühlen kann. Der höchste Adel der menschlichen Seele liegt nicht in der demütigen, in der hingebungsvollen Gesinnung. Er liegt in dem stol­zen Bewußtsein, daß man sich selbst nicht hoch genug stellen kann. Menschen mit solchem Bewußtsein fühlen die große Verantwortung, die die Persönlichkeit sich selbst gegenüber hat. Sie wollen nichts unterlassen, was geeignet ist, allen Reichtum ihrer Anlagen zur Entfaltung zu brin­gen. Für sie besteht die menschliche Würde darin, daß sich der Mensch selbst seinen Wert, seine Bedeutung geben muß. Demütige, hingebungsvolle Naturen suchen nach einem Ideale, nach einer Gottheit, die sie verehren, an­beten können. Denn sie fühlen sich, ihrem Wesen nach, klein und wollen, daß ihnen Größe von außen gegeben werde. Sie empfinden nicht, daß der Mensch nur dann der Gipfel der Natur ist, wenn er sich selbst dazu macht. Ihre Schätzung der Welt ist nicht die höchste. Wer sich einen Helden wählt, «dem er die Wege zum Olymp hinauf sich nacharbeitet», der bewertet im Grunde das Dasein doch gering. Wer die Verpflichtung fühlt, aus sich soviel als möglich zu machen, damit sein Wesen zum allgemeinen Werte der Welt beitrage, der schätzt es höher. Aus der Verpflichtung entspringt die Selbstachtung vornehmer Naturen. Und aus ihr geht auch ihre Empfindlichkeit gegen jeden fremden Eingriff in das eigene Selbst hervor. Ihr eigenes Ich will eine Welt für sich sein, damit es ungehin­dert aus sich heraus sich entwickeln könne. Nur aus dieser Heilighaltung der eigenen Persönlichkeit kann auch die

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Schätzung des fremden Ich entspringen. Wer für sich die Möglichkeit freier Entfaltung will, kann gar nicht daran denken, in die Welt der fremden Persönlichkeit einzugrei­fen. Und damit haben wir den Anarchismus der vorneh­men Naturen gegeben. Sie streben aus innerer, seelischer Notwendigkeit nach dieser Weltanschauung.

Den Weg einer solchen Natur verfolgen wir in J. H. Mackays Dichtungen. Nur Menschen mit tiefrm Gemüt, mit feinen Empfindungen gehen diesen Weg. Es ist ihnen eigen, jedes Ding in seiner wahren Größe zu sehen. Dar-um dürfen sie auch die Größe des eigenen Ich suchen. Es ist wahr, daß die stolzen Naturen zumeist aus einer senti­mentalen Jugendstimmung herauswachsen. Daß sie über­schwenglich werden, wenn sie ihre Gefühle gegenüber den Dingen aussprechen. Und diese Sentimentalität, diese Überschwenglichkeit ist Mackays Jugenddichtungen im reichen Maße eigen. Aber schlimm stände es um eine Jugend, welche nicht sentimental, nicht überschwenglich sein könnte. Denn in solcher Gemütsanlage kündigt sich an, daß der Mensch in seiner späteren Entwickelung die wahre Bedeutung der Dinge erkennen werde. Wer in sei­ner Jugend die Dinge nicht im romantischen Glanze sieht, der wird sie später ganz gewiß nicht in ihrer Wahrheit sehen. Das Große in der Welt wird uns nur dann nicht entgehen, wenn unser Seelenauge auf seine Größe ein­gestellt ist. Durch solche Anlage ist aber der Mensch in seiner Jugend dazu verleitet, die Dinge in einem idealeren Glanze zu sehen als in dem, den sie wirklich ausstrahlen. Und wenn wir mit Mackay empfinden können, wenn er sagt: «Ich liebe sie nicht, diese Jugend. Dazu war sie nicht heiter, nicht unbefangen, nicht frei genug», so fühlen

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wir nicht minder seine anderen Worte nach: «Aber ich habe Achtung vor ihr, vor ihrem unermüdlichen Ringen, ihrem schweigsamen Selbstvertrauen und ihrem einsamen Kampfr.» Gerade der Überschwang der Jugend gibt ihm das Recht, heute sich selbst genug zu fühlen. Ein Selbst­bewußtsein, das nicht aus solcher Anlage hervorgeht, flößt uns wenig Vertrauen ein. Nur wer das Bedürfnis hat, die Welt als ein Hohes, Verehrungswürdiges zu empfinden, wird die Kraft besitzen, das Wertvolle auch in sich zu suchen. Aus einer nüchternen Jugend wird eine Reife her­vorgehen, welche die Dinge unterschätzt; aus einer über­schwenglichen Jugend entwickelt sich eine wahre Wert­schätzung der ganzen Welt.

So kündigt sich die spätere, selbstbefreite Natur Mackays in seinen Jugenddichtungen an. Seine Naturschilderungen zeigen seinen Hang, die Dinge im Lichte der Größe zu sehen. Wie eine Forderung des späteren Lebensideals klingt es uns, wenn er von Schottlands Bergen in seiner ersten Dichtung «Kinder des Hochiands» singt:

«Wie eine Jungfrau unberührt,

Die nie von Liebe ward verführt,

Sich einem Manne hin zu eigen

Zu geben und ihr Haupt zu neigen,

So stolz und starr, so kraftvoll stark,

Die hehren Glieder voller Mark,

Und wankend nie in ihrem Mut

In stiller Pracht Mull Eiland ruht.»

Aus wahrer Frömmigkeit, die das Bedürfnis hat, der Welt alles zu sein, was sie kann, scheint uns ein Gedicht zu stammen wie das «Über allen Wipfeln», das der Dichter bei einem Besuch in Ilmenau schreibt in der Erinnerung

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an die Empfindungen, die an demselben Orte durch Goethes Seele zogen:

«Sind dies die Wege? Und du darfst sie gehen -

Ist das nicht großes, unnennhares Glück?

Und fühist du nicht, wie dieser Lüfte Wehen

In jene ferne Zeit dich trägt zurück?

- Du sinnst - und wandelst still die alten Gleise;

Auf deinen Lippen schwebt ein Lied - ein Lied! -

Du fühist die Wehmut, wie sie leise, leise

Ihn einst umzog - und nun auch dich umzieht.»

Wer so das Große, das Schöne der Welt empfinden kann, dem kommt auch das volle Recht zu, in späteren Jahren die Worte zu sprechen, denen wir in Mackays «Sturm» (1888) begegnen:

«Ich hebe mich empor! - Über die Andern

Erhebt sich hoch und frei mein stolzes Ich!

Wie lange hat es - nach wie langem Wandern ?

Gewährt, bis endlich ich gefunden - Mich!

Nun wandere ich allein. Anders erscheint mir

Die Welt, seit ich mich ihr nicht gehe hin:

Kein Lachen lacht mir, und kein Weinen weint mir,

Ich bin kein «Einer» mehr - nur Ich ich hin!

Nichts weiß ich heute mehr von jenem Wahne,

Dem letzten, der mich einzwang in sein Joch:

Der nicht mehr müden Hand entsank die Fahne,

Die Liebe heißt. - Ihr lacht? Zermalmt mich doch!»

Wer die Welt zu schätzen vermocht hat, wird auch das Stück Welt achten, an dessen Dasein er selbst arbeiten darf, wenn es schätzenswert ist: das eigene Ich.

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Wie tief Mackay mit jeder menschlichen Persönlichkeit zu fühlen vermag, das beweist die tief ergreifende Dich­tung «Helene». Die Liebe eines Mannes zu einem gefalle­nen Mädchen wird hier geschildert. Wenn man das mensch­liche Ich in solche Abgründe verfolgt, dann gewinnt man auch die Sicherheit, es auf den Höhen zu finden.

An dem Gottesglauben ist das einzig Berechtigte: das in ihm steckende menschliche Gefühl, das nach einem Heiligen strebt. Nur ein Mensch, der das Bedürfnis hat nach heiligen, frommen Gefühlen, hat auch das Recht zum Atheismus. Wer nur deshalb Gott leugnet, weil er nicht den Drang nach dem Heiligen hat, dessen Atheismus er­scheint schal und oberflächlich. Man muß, seiner Gemüts-anlage nach, fähig sein zum Frommsein: dann darf man sich mit der entgöttlichten Welt zufrieden geben. Denn man hat mit dem Göttlichen nicht zugleich die Größe der Welt ausgetilgt.

Welche große religiöse Stimmung liegt in Mackays Ge­dicht «Atheismus».

«Vielleicht, wenn einst die müden Augen brechen,

Wenn niedersinkt des Todes finstere Nacht,

Daß ein Gebet dann meine Lippen sprechen,

Das nie im Leben der Verstand gedacht.

Vielleicht, daß ich mit einer Lüge scheide

Von einem Sein, das Wahrheit nur gekannt,

Wenn ich des Lebens letzte Schmerzen leide

In Angst und Nacht und Irrsinn festgebannt.

Dann unterlag mein Geist; dann brach mein Wille!

Dann floh Vernunft! - Doch wenn ich es vermag,

Dann künde noch der letzte Schrei, der schrille,

Dann künde noch des Herzens letzter Schlag:

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«Ich glaubte nie an einen Gott da droben,

Den Lügner oder Toren nur uns gehen.

Ich sterbe - und ich wüßte nichts zu lobcn -

Vielleicht nur Eins: daß wir nur einmal leben!»>

Wir werden in eine Welt hineingeboren, die uns mit sich fortreißen möchte in ihrem ewigen Wellengange. Die Ge­danken, der Wille derer, die vor uns waren, leben fort in unserem Blute. Die Ideen, die Macht derer, die um uns sind, üben unzählige Einflüsse auf uns aus. Mitten in all dem Treiben um und mit uns werden wir unser eige­nes Selbst gewahr. Je mehr wir dahin gelangen, das Steuer­ruder unseres Lebensschiffes in die eigene Hand zu be­kommen, desto freier sind wir. Nach solcher Selbst-befreiung strebte der Mann, der uns hier seine Dichtungen vorlegt. Und als sein Glück empfindet er es, daß er sich selbst gefunden hat:

«O Welt, wie bist du weit!

Mich zieht es über deine Berge.

Mich aber hält die Zeit, der Scherge.

O Mensch, wie bist du klein!

Groß kannst du dich empor erst heben,

Wenn du gelernt, nur dir allein zu leben.

O Wahn, wie bist du groß!

Ich gab mich niemals dir zu eigen,

Und ich bezwang das Los, zu schweigen.

Mein Ich, du hebst dein Haupt!

Du warst ein Kind und wardst ein Krieger.

Wer stets an sich geglaubt, bleibt Sieger!»

Dieses Gedicht aus dem letzten Teile der «Gesammelten Dichtungen» aus dem «Starken Jahr» spricht die Gesin­nung einer Persönlichkeit aus, die sich selbst gefunden hat.

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Aus solchen Empfindungen heraus erwächst der tiefe Groll gegen eine Gesellschaftsordnung, die das Heil der Welt in der Aufrichtung aller möglichen Schranken um den Menschen her sucht. Mit einer solchen Ordnung führt der Dichter Mackay den Krieg, jenen edelsten, unblutig­sten Krieg, der nur mit der einen Waffe kämpft, die Men­schen zur Anerkennung ihres wahren Wesens zu bringen. Denn ein solcher Krieg nährt sich von dem Glauben, daß die Menschen sich in dem Maße selbst befreien, in dem sie das Bedürfnis nach ihrer Freiheit empfinden.

« Ein Hund ist der, der einen Herren kennt!

Doch wir sind Herren nicht und sind nicht Knechte!

Schamlose Frechheit wagt es noch und nennt

Knecht einen Anderen, dem die gleichen Rechte

Wie ihm gelegt einst in des Lebens Wiege!

- Ein Jeder sehe, ob er gehen kann,

Doch keiner sei so hündisch, daß er biege

Sein Knie in Furcht vor einem andern Mann.

Gleich hoch sei jede Menschenstirn gehoben,

Ob sie nun arm sei oder schätzereich!

Ich will mein Recht, du magst das deine loben:

Für mich, für dich, für alle ist es gleich...»

Mackay mag ruhig sein, wenn andere ihn einen Tendenz-dichter nennen, weil er als Künstler eine Weltanschauung zum Ausdruck bringt. Mit wessen ganzer Persönlichkeit diese Weltanschauung so verwachsen ist wie mit der sei­nigen, der spricht sie aus wie ein anderer das Gefühl der Liebe, das er empfindet. Denn wer sich eine Weltanschau­ung erkämpft hat, der drückt sie aus als sein eigenes Sein. Und wahrlich, es ist nicht weniger wert, der Menschheit tiefstes Denken und Fühlen auszudrücken als die Neigung

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zum Weibe oder die Freude am grünen Wald und am Vogelgesang.

Den Schöpfrr des großen Kulturgemäldes « Die An­archisten» sehen wir in dem uns vorliegenden Bande wach­sen. Wer ihn kennenlernen will, wie er sich durchgerungen hat zu den Ideen, in deren Verwirklichung er der Mensch-heit Befreiung sieht, der greife zu diesen « Gesammelten Dichtungen». Er wird empfinden, daß die Klarheit aus Leiden und Enttäuschungen geboren wird. Aber er wird auch den großen Befreiungsweg sehen, der dem Menschen allein jene Selbstbefriedigung bringt, die sein Glück begründen kann.

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#TI

DEUTSCHE LITERATUR

UND GESELLSCHAFT

IM NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERT

I

#TX

Bis jetzt mußte, wer ein Buch suchte über die literarische Entwickelung Deutschlands in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, trotz mancher trefflicher Leistungen ande­rer doch zu Georg Brandes «Hauptströmungen der Literatur im neunzehnten Jahrhundert» greifen. Denn nur hier war der Zusammenhang der literarischen Erscheinun­gen mit dem Ganzen des Geisteslebens von einer starken Persönlichkeit dargestellt, die ein Verhältnis hatte zu den Ideen der Zeit, zu den bewegenden psychologischen und ethischen Kräften. Man darf nun ruhig behaupten, daß durch S. Lublinskis Schrift «Literatur und Gesellschaft im neunzehnten Jahrhundert» sich diese Tatsache ändert. Wir meinen, daß dies in Zukunft das Buch werden wird, das alle diejenigen befriedigen kann, die bisher nur bei Brandes ihre Wünsche erfüllt fanden.

Es hatte in zweifacher Beziehung etwas Mißliches, daß das Werk von Brandes in dem bezeichneten Sinne aus­schlaggebend war. Wenn sich der dänische Literaturhisto­riker auch in seltener Weise in das Geistesleben Deutsch­lands versetzt hat: er nimmt seinen Gesichtspunkt doch außerhalb desselben. Er schildert zuletzt doch, wie ein Däne schildern muß. Dazu kommt ein anderes, wichtige­res. Brandes ist ein feiner Psychologe. Aber ein Psychologe, an dem die Erkenntnisse der modernen naturwissenschaft­lichen Betrachtungsweise spurlos vorübergegangen sind. Bei ihm ist der Geist doch noch ein Wesen für sich. Die

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Seele hat bei ihm etwas Fleischloses. Das Stück Physiologie, das die neue Naturwissenschaft der Psychologie einverleibt hat, fehlt bei ihm. Er schildert die führenden Köpfe, als wenn sie rein geistige Wesen wären. Er hat zum Beispiel in unvergleichlicher Weise die Psychologie der Romantik gegeben. Aber die Romantiker haben etwas Schemenhaf­tes, Ätherisches. Alles wird durch das Geistige an sich motiviert. Das ist heute nicht mehr möglich. Unsere psy­chologische Einsicht hat durch die Naturwissenschaft Kon­sistenz gewonnen. Manches erscheint uns daher in Bran­des' Psychologie wie ein willkürliches Aperçu. Der Aus­blick auf die «ewigen, ehernen Gesetze», nach denen auch der Geist seines Daseins Kreise vollenden muß, fehlt.

Samuel Lublinski ist ein modern gebildeter Kopft Er rechnet mit den Einsichten, die Naturwissenschaft und Soziologie geliefert haben. Überall tritt zu Tage, daß er als Geist des scheidenden Jahrhunderts darstellt. Zwar möchte man ein Mehr an naturwissenschaftlichen Erkennt­nissen wünschen. Das Bildungselement, das sich aus der gediegenen deutschen Kulturentwickelung der ersten Jahr­hunderthälfte ergeben hat, tritt uns in dem Buche ent­gegen, die Betrachtungsweise, die man aus einem ver­ständnisvollen Vertiefen in die deutsche Philosophie ge­winnt. Solche war ja aber auch bei Geistern wie Friedrich Theodor Vischer, Carriére, Hettner vorhanden. Bei ihnen fehlte nur der Einschlag, den Natur- und Gesellschafts­wissenschaft heute geben können. Lublinski hat diesen Einschlag in seine Betrachtungsweise aufgenommen. Wir möchten das allerdings in noch höherem Grade wünschen. Aus manchen Anführungen, die dem Gebiet der Natur­erkenntnis entnommen sind, geht hervor, daß unser Autor

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in der Denkart der modernen Weltbetrachtung noch nicht voll heimisch ist. Doch ist das unwesentlich in Anbetracht des Umstandes, daß er überhaupt Naturanschauung in moderner Art im Leibe hat.

Dazu kommt, daß sich in dem Buche durchaus ein Mann ausspricht, der persönlich über die Dinge etwas zu sagen hat, über die er spricht. Der Verfasser des Buches inter­essiert uns neben dem Inhalt des Werkes. Dadurch ist Lublinskis Darstellung eine moderne Schöpfung ge­worden.

Das besondere Kapitel «Literatur und Gesellschaft» wächst aus dem Ganzen des Kulturlebens heraus. Nichts fehlt, was herangezogen werden muß, um die Tätigkeit der führenden Geister auf der einen Seite, die Physiogno­mie des Geschmackes auf der anderen Seite zu erklären. Mit feinem Takt werden Wissenschaft, Philosophie, Poli­tik, Gesellschaftsleben herbeigerufen, um dem Gesamt­bild die äußeren Farben zu geben. In der Heranziehung von erklärenden Beispielen ist Lublinski Meister. In der Anführung von Tatsachen, die zum Beleg der Wahrheiten dienen, die er ausspricht, scheint er uns besonders glück­lich. Wie anschaulich wird zum Beispiel das deutsche Publikum charakterisiert durch die Stellung, die es Kotze­bue gegenüber einnahm! Wie frin wird auf Heines Eigen­art hingewiesen durch eine Äußerung, die dieser Dichter Adolf Stahr gegenüber gemacht hat. Und dabei treten nir­gends, wie das bei vielen Literarhistorikern der Fall ist, die Vorarbeiten des Verfassers in aufdringlicher Weise uns entgegen. Lublinski hat die Ergebnisse dieser Vorarbeiten erst ausreifen, Frucht werden lassen, bevor er sie uns auf­getischt hat.

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Gegenüber dem geistreichen Brandes dürfen wir hier wohl das Prädikat geistvoll anwenden. Ein Zug von Ge­diegenheit geht durch das Werk. Der Standpunkt ist hoch genommen, und dennoch liest sich alles wie eine einfache Erzählung. Solche Bücher sind ein Beweis dafür, daß wir jene Stufe der Darstellungskunst wieder erreicht haben, die Gutzkows literarhistorische Schriften so entzückend macht.

Einen feinsinnigen Betrachter und einen mutigen Be­urteiler haben wir vor uns. Es ist keineswegs häufig, daß sich diese Eigenschaften vereinigt finden. Das eigene Ur­teil wird nur zu oft durch die hingebungsvolle Betrach­tung getrübt. Oder es leidet die Betrachtung durch den Eigensinn eines oft recht willkürlichen ästhetischen Stand­punktes. Die Bearbeiter der Literaturgeschichte haben ja gerade in unserer Zeit nach diesen beiden Richtungen das Unglaublichste geleistet. Bei Lublinski entspringt das Ur­teil aus der ruhigen Betrachtung, und keine Voreingenom­menheit kann seine Versenkung in die Tatsachen stören.

Die Größe der dargestellten Persönlichkeiten erdrückt bei Lublinski nirgends die eigene Individualität. Er stellt Kleist dar als den ersten großen, vielleicht größten «Dich­ter, den das neunzehnte Jahrhundert in Deutschland her­vorbrachte», aber das hindert ihn nicht, diesem Dichter seine Fehler vorzurechnen. Wie tief in Kleists Wesen läßt eine Bemerkung blicken wie diese: «Kleist ist zweifellos der erste Gipfelpunkt der Romantik gewesen. Er erfüllte fast alle Forderungen der Schule: er entfes seite die dun­kelsten, die geheimnisvollsten Gewalten der menschlichen Natur, die er zugleich mit gewaltiger Willenskraft dem starren Zwang einer knappen, gemeißelten Kunstform

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unterjocht. Er stand auf der Höhe der Bildung seines Zeit­alters, er beherrschte die griechische wie die christliche Mythologie, die hellenische wie die moderne Kunstform und wußte in seinen höchsten Leistungen diese grund-verschiedenen Elemente zu neuer Ganzheit umzuschmel­zen. Allerdings gab es auf diesem Wege gewisse Grenzen, und die Risse und Klüfte und Widersprüche, die manch­mal grell hervortraten, konnten selbst durch die Mystik und zeitweiliges Zerstören der Kunstform nicht ganz ver­schleiert werden, weil er sich auch als Mystiker und Zer­störer völlig fernhielt von dem Phrasennebel eines Zacha­rias Werner oder dem witzigen, höhnischen, spielerischen Übermut der andern Romantiker. Er war eben nicht aus Schwäche Romantiker geworden, aus einem femininen Ge­lüst der Selbstironie, sondern weil furchtbar schmerzliche Erfahrungen ihn gelehrt hatten, an das Geheimnisvolle und an die chaotische Verwirrung zu glauben.»

Der Verfasser versucht den Einfluß, den die philoso­phische Bewegung im Beginne und im ersten Drittel des Jahrhunderts auf das Literaturleben gehabt hat, dadurch zu kennzeichnen, daß er gewissermaßen populäre Extrakte aus den Anschauungen der Philosophen gibt. Unzweifel­haft hat er auch dadurch der Gesamttendenz seines Buches gedient. Dennoch kann sich der Kenner der Weltanschau­ungsgeschichte mit diesen Extrakten nicht einverstanden erklären. Ich glaube, in diesen Dingen Erfahrung zu haben. Ich weiß, daß es keine philosophische Wahrheit gibt, die nicht in populärer Form, kurz und bündig, mit einer nicht so großen Zahl von Sätzen sich darstellen ließe. Die Ex­trakte Lublinskis scheinen mir aber fast in keinem Falle die Gedankengänge der Philosophen richtig wiederzugeben.

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Bei Kant zum Beispiel legt er den Hauptwert dar­auf, daß dieser Denker das menschliche Erkennen auf die Erfahrung verwiesen hat. Der Königsberger Weise soll die Unerkennbarkeit des Dinges an sich nur deswegen gelehrt haben, damit der Mensch sich mit der Unter­suchung des Diesseits zufrieden gebe und sich um das Jenseits nicht weiter wissenschaftlich kümmere. Es scheint mir aber ganz gewiß zu sein, daß Kant sein Hauptziel mit den Worten verraten habe: ich suchte das Wissen einzu­schränken, um für den Glauben Platz zu bekommen. Er wollte dem Menschen den Glauben an Gott und Unsterb­lichkeit erhalten; deshalb suchte er zu beweisen, daß das Wissen bis zu dem Gebiet nicht hinanreicht, aus dem diese jenseitigen Elemente stammen. Ebensowenig ist die große Denkweise Fichtes mit den Sätzen Lublinskis charakteri­siert. Ich gebe zu, daß die Romantiker Fichte in der hier wiedergegebenen Form verstanden haben. Er selbst hätte sich aber zweifellos verwahrt gegen diese Aus deutung. Das Fichtesche Ich mußte von den Romantikern erst mißver­standen werden, um Grundlage der sogenannten Ironie zu bilden. Eine gleiche Anmerkung hätte ich gegenüber der Darstellung Hegels von seiten Lublinskis zu machen. Es ist mir doch fraglich, ob es gestattet ist, die Anschau­ungen eines Denkers in der Form zu geben, in der sie sich bei unklar sehenden Zeitgenossen spiegeln. Denn gerade die Weise, wie die echte Form in ein falsches Bild sich verwandeln und als solches wirken kann, ist inter­essant und kulturgeschichtlich wichtig. Diese Weise kann man aber nur verstehen, wenn man die echte Form kennt.

Nicht unerwähnt möchte ich auch lassen, daß Goethe in dem Buche zu wenig zur Geltung kommt. Dadurch erscheint

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die Romantik wie aus der Pistole geschossen. Sie ist aber nichts anderes als die Ausgestaltung eines Ele­mentes der Goetheschen Weltbetrachtung. Die Wirklich­keitsferne, in die sich Goethe nach seiner italienischen Reise versetzt hat, wirkte faszinierend auf einzelne Zeit­genossen. Goethe wollte in einer höheren Welt, über der alltäglichen, leben. Er drang auf das Typische, weil ihm die gemeine Wirklichkeit mit ihren Individualitäten nicht die tiefere Wahrheit der Natur zu geben schien. Was er anstrebte, nachdem er durch den vollen Erfahrungsgehalt der Wirklichkeit hindurchgegangen war, das wollte die Romantik ohne solche Voraussetzung, durch ihre auf blo­ßer Willkür beruhende Ironie erreichen. In der höheren Gesetzmäßigkeit wollte sich Goethe heimisch machen, weil ihm die alltägliche Notwendigkeit nicht genügte. Die Ge­setzlosigkeit verwechselten die Romantiker mit der höhe­ren Gesetzmäßigkeit. Die ganze Romantik ist im Grunde doch der mißverstandene Satz Schillers, den dieser an Goethe in Anknüpfung an «Wilhelm Meister» schrieb: «Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt; und er spielt nur da, wo er im höchsten Sinne des Wortes Mensch ist.» Die Romantiker haben sich nur an den ersten Teil dieses Satzes gehalten. Erst aber muß der Mensch sich durch die höchste Kultur zu einer Bildungsstufe erheben, die sein Spiel als höchsten Ernst erscheinen läßt. Er muß die Notwendigkeit in sich fühlen, in sich verwirklicht haben, dann wird er sie mit Freiheit spielend wiedergebären.

Goethes Stellung innerhalb des literarischen Lebens im ersten Drittel des Jahrhunderts ist eine solch überragende, daß er allerdings einen breiteren Raum einnehmen muß, als ihm Lublinski einräumt.

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Diese Ausstellungen sollen aber nicht dazu dienen, den Wert des Buches gering erscheinen zu lassen. Wenn es dem Verfasser gelingen wird, seine Aufgabe in derselben Weise, wie er sie begonnen hat, zu Ende zu führen, das heißt, wenn er uns die zwei letzten Drittel des Jahrhunderts in so befriedigender Weise darstellen wird, wie ihm dies bezüglich des ersten gelungen ist: dann wird er ein Werk geschaffen haben, das weitesten Kreisen in der denkbar besten Weise dienen kann.

Ohne Zweifel darf man aber den bisher vorliegenden Teil als eine wesentliche Bereicherung der Literatur­geschichte ansehen, sowohl was die Beherrschung des Stoffes wie auch seine Behandlung anbetrifft.

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II

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Man streitet heute viel über wissenschaftliche Methoden. Man glaubt vielfach, ein fruchtbares wissenschaftliches Arbeiten sei nur möglich, wenn die Methoden festgestellt sind. Wem es wirklich um die Sache auf irgendeinem Ge­biete des Natur- oder Geisteslebens zu tun ist, der kann aus allen Streitigkeiten über Methoden ungemein wenig gewinnen. Wirklich fruchtbar kann doch nur eine neue Beobachtung, ein neuer Gedanke sein, der die Dinge in einem bis zu seinem Auftreten unbeachteten Zusammen-hange sieht. Ich habe noch jedesmal, wenn ich auf eine Arbeit gestoßen bin, die einem Gegenstande bemerkens­werte Seiten abgewinnt, beobachtet, wie sich der Arbeiter herzlich wenig um den Streit über die Methoden küm­mert. Aber ich habe auch immer beobachtet, wie herzlich unbedeutend Arbeiten sind, deren Urheber sich in die

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spanischen Stiefel einer bestimmten wissenschaftlichen Methode einschnüren. Was aber unbedingt erforderlich ist, um ein Gebiet des Natur- oder Geisteslebens fruchtbar zu behandeln, das ist ein freier, unbefangener Sinn, der die Dinge unbeeinflußt durch hergebrachte Urteile - ich sage absichdich nicht Vorurteile - sieht, und eine eigene Lebens­anschauung. Nur wer eine solche Lebensauffassung hat, der vermag mir über ein Ding etwas zu sagen, was ich anzuhören oder zu lesen der Mühe wert halte, wenn mir die Dinge selbst zugänglich sind. Eine Reisebeschreibung eines mir unbekannten Landes lasse ich mir auch von einer Persönlichkeit gefallen, die unbedeutend ist, ebenso den Bericht über eine geologische Exkursion, die ich nicht selbst machen kann. Wer mir aber die Entwicklung der Literatur und Gesellschaft im neunzehnten Jahrhundert darstellt, von dem verlange ich, daß er mich als eigen­artige Persönlichkeit durch den Besitz einer Welt- und Lebensanschauung interessiert. Mit solch einer Gesinnung trete ich an ein Buch wie das von 5amuel Lublinski «Lite­ratur und Gesellschaft im neunzehnten Jahrhundert» her­an, dessen ersten und zweiten Teil ich in dieser Zeitschrift bereits besprochen habe, über dessen dritten und vierten Teil ich hier meine Meinung mitteilen will. Ich habe wenige literaturgeschichtliche Bücher mit solcher Befrie­digung aus der Hand gelegt wie dieses. Ein feinsinniger Beobachter geistiger Ereignisse und eine originelle Den­kerphysiognomie spricht zu mir.

Gerade diese beiden Eigenschaften befähigen Lublinski, mit sicherem Gefühl an jeder Stelle sowohl den großen, unpersönlichen Zeitströmungen, die die Individualitäten in sich aufnehmen und mit sich fortreißen, gleichzeitig

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aber auch diesen Individualitäten selbst den rechten An­teil an der fortschreitenden geschichtlichen Entwicklung zuzuweisen. Wie kiar tritt dies in diesem Buche bei der Behandiung Börnes, Gutzkows, Treitschkes und anderer zu Tage. Nirgends wird durch Voreingenommenheit für das Recht des Individuums der historische Hintergrund, aus dem es herauswächst, übersehen; nirgends aber auch aus Vorliebe für den notwendigen historischen Gang der Ereignisse die Eigenartigkeit der Persönlichkeiten aus dem Auge verloren. Dieser Unbefangenheit verdankt Lublinski das Beste, was er uns durch sein Buch zu bringen in der Lage ist.

Sogleich das erste Kapitel des dritten Bändchens «Men­zel, Börne und Goethe» ist ein vollständiger Beweis für das Gesagte. Mit wenigen, aber umsomehr charakteristi­schen Strichen wird Wolfgang Menzel hingezeichnet. «Menzel war der erste, der an die deutsche Geistes­geschichte den Maßstab der Burschenschaft legte. Zugleich der erste aus der neuen Generation, der dem alten Ge­schlecht in entschlossener klarer Kämpferstellung gegen­übertrat.» In glänzender Weise wird die in diesen Sätzen skizzierte Stellung Menzels charakterisiert. Geradezu zu­rechtgerückt werden die hergebrachten Urteile über Lud­wig Börne. Man hat bisher die kritisch-ästhetische An­schauung Börnes als einen Ausfluß seiner politischen An­sichten hingestellt. Lublinski zeigt, daß der energische, kampffreudige Frankfurter als ļbetiker ein Gegner Goe­thes ist, daß er der Begründer einer neuen Ästhetik ist. Von diesem Gesichtspunkte aus erscheint Börnes Verhält­nis zu Jean Paul in einem neuen Lichte. «Es ist eine fable convenue der Literaturgeschichte geworden. Börnes Begeisterung

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für Jean Paul ganz auf die leidige Politik zu schieben. Nichts kann falscher oder zum mindesten ein­seitiger sein.» Nein, es ist die «intime Kunst», als dessen «Künder und Offenbarer» Börne Jean Paul ansah.

Ich bin hier Lublinski gegenüber in einer besonderen Lage. Ich bin sachlich mit ihm gar nicht einverstanden. Ich glaube, daß man in dem politischen Impetus doch wohl die Grundlage zu Börnes ganzem Wirken suchen muß. Nur muß «das Politische» wesentlich weiter gefaßt wer­den, als man das gewöhnlich tut. Lublinski sagt selbst: «Börne war, ganz im Gegensatz zu Heine, eine durch und durch soziale Natur, der geborene Publizist, nicht aber der geborene Schriftsteller oder gar Dichter. Er fühlte sich nur wohl im Volksgewühl und liebte es durchaus nicht, die Massenseele zu zergliedern und zu erforschen, weil er ja alsdann einen überlegenen Standpunkt zu ihr hätte ein­nehmen müssen.» Ein Geist, von dem man solches sagen kann, ist ein durchaus politischer. Dennoch gewinnt Lub­linski ein durchaus neues und berechtigtes Urteil über Börne dadurch, daß er das Nicht-Politische betont. Es ist ihm dadurch möglich, das Engherzig-Politische, das man in Börnes Gesinnung in den Vordergrund rückte, zurück-zuweisen. Ich möchte gerade auf diesen Punkt näher ein­gehen, weil er mir zeigt, wie die Gedanken eines anderen für mich auch dann bedeutsam werden können, wenn ich sie anders fassen möchte, vorausgesetzt, daß dieser andere eben von wirklich inhaltsvollen Gedanken aus seinen Gegenstand betrachtet.

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III

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Die Urteile, die Börne über Schillers «Teil» und über den König Claudius in Shakespeares «Hamlet» abgegeben hat, führt Lublinski in treffender Weise an. Er behauptet mit vollem Recht, daß hinter Börnes Verurteilung der Schillerschen Dichtung tiefere Motive stecken, als dieser selbst angeführt hat. Nicht die Unredlichkeit TeIls gegen­über dem Landvogt, nicht Meuchelmord und Hinterlist können Börne zu seinem harten Absprechen bestimmen; dazu brachte ihn vielmehr der Umstand, daß Schiller im Teil dem Schweizer Volk einen Helden schuf, der nicht die Schicksale dieses Volkes zu seinen eigenen und zur Triebfeder seines Handelns macht, sondern der im Grunde doch nur seine ganz persönlichen Interessen vertritt. «Wer freilich nur soviel Kraft hat, gerade mit sich selbst fertig zu werden, der ist am stärksten allein, wem aber nach der Selbstbeherrschung noch ein Überschuß davon bleibt, der wird auch andere beherrschen und mächtiger werden durch Verbindung.» Der gleiche Grund, der Schiller ver­aniaßte, in Teil nicht eine Gestalt zu schaffen, aus der heraus der Geist des schweizerischen Volkes wirkte, sondern ganz allgemein menschliche Interessen, derselbe Grund wirkte bei Börne, diesen Charakter zu verurteilen; denn Börnes politisches Pathos verlangte an dieser Stelle keine indivi­duell-private Persönlichkeit, sondern eine öffentlich-poli-tische. Und von diesem Gesichtspunkte aus war ihm auch Hamlet antipathisch. Dieser Mensch schien ihm durch seine ganze Gesinnung wurzellos innerhalb der sozialen Verhältnisse, die ihn umgeben, zu sein. Er scheint nicht rechts und nicht links zu sehen, sondern nur die Antriebe

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der eigenen Seele zu kennen. Da war Börne selbst der Bösewicht Claudius lieber, der «nicht schlimm für eigene Rechnung allein» ist, der zu der Sorte Shakespearscher Bösewichter gehört, die Börne so schildert: «Sie bilden Gattung, sie tragen das Kainszeichen auf ihrer Stirn, das Titelblatt von dem Sündenbuche der Menschheit, das nicht verantwortlich ist für den Inhalt, den es anzeigt.» Das All-gemein-Menschliche, das Goethe suchte, als er die Stufe der Klassizität zu erreichen suchte, worin ihm Schiller folgte: dafür hatte Börne keine Sympathie. Goethe und Schiller empfanden es zuletzt wie eine Verfälschung der allgemeinen Menschennatur, wenn dieser etwas anhaftet von den «zufälligen» Einflüssen der unmittelbaren Um­gebung, in die sie hineingeboren ist. Sie suchen daher ihre Charaktere aus dieser Zufälligkeit herauszuheben. Börne scheint diesen Drang nach einer höheren Natur im Men­schen als eine Teilnahmslosigkeit gegenüber den tatsäch­lichen Leiden und Freuden empfunden zu haben, denen der Mensch wirklich auf Schritt und Tritt begegnet. Und diese Empfindung stammt wohl aus seinem politischen Pathos, wie das Goethe-Schillersche Ideal des Allgemein­Menschlichen aus einem unpolitischen, rein ästhetisieren-den Pathos stammt. Es ist doch ein großer Unterschied zwischen der Gesinnung Goethes, dem der Ausbruch der Pariser Julirevolution ein uninteressantes Ereignis ist neben dem ihn tief bewegenden gleichzeitigen Streit zweier fran­zösischer Naturforscher über die tierische Organisation, und derjenigen Börnes, der fieberhaft-gierig jede Nach­richt verschlang, die 1830 von dem Pariser Aufstand ein­traf. Demgegenüber möchte ich Lublinskis Satz nicht unterschreiben: «So trifft es sich sonderbar, daß Börne,

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dieser Goethehasser, zugleich in deutschen Landen der erste Goethe-, oder was dasselbe ist, der erste Humanitäts­philister gewesen ist.»

Trotzdem sich Lublinski den Gesichtspunkt zur Be­urteilung Börnes etwas verrückt, ist die Gesamtcharakteri­stik dieser Persönlichkeit doch klar, scharf und zutreffend. Mit noch größeren Sympathien bin ich seiner Charakteri­stik des Jungen Deutschlands und Gutzkows gefolgt. Hier hat man das Gefühl, daß Lublinski eine Geistesströmung schildert, in der er nicht allein gründlich zu Hause, son­dern intim heimisch ist. Gutzkows ureigenste individuelle Wesenheit wird in ebenso charakteristischen Strichen wie sein Verhältnis zu Hegel, Goethe und den politischen und sozialen Bewegungen seiner Zeit geschildert. Ein vor­zügliches Licht wird über den Ästhetiker des Jungen Deutschland, über Ludolf Wienbarg, ein ebensolches über Heinrich Laube geworfen.

Ilier zeigt sich Lublinski als Historiker von einem un­gewöhnlich feinen Takt. Das Thema, das er sich gestellt hat, «Literatur und Gesellschaft», verlangt von ihm ein bisweilen recht subtiles dynamisches Abwägen der Wir­kungen damaliger Zeitströmungen in den einzelnen Per­sönlichkeiten. Es ist ihm nun gelungen, in taktvollster Weise zu kennzeichnen, wie das Hegeltum, das Goethe­tum, der Historismus, die Romantik und andere Zeitströ­mungen im zweiten Drittel des Jahrhunderts von den füh­renden Geistern empfunden wurden.

Um nur ein Beispiel anzuführen, sei darauf hingewiesen, wie Lublinski den Einfluß des Hegeltums auf das Junge Deutschland schildert. «Was den jungen Leuten am Hegel­schen System so schrecklich schien, das war der steinerne

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Turmbau des Meisters, diese mächtige Kolossalpyramide, zu der er nicht gewöhnliche Steine verwertete, sondern historische Zeitalter, alle Völker und Menschen des Erd­balls. Da wurde so einem jungen Menschen entgegen­gehalten: du gehörst dem neunzehnten Jahrhundert an, der letzten Stufe der Pyramide... Luther lebte im sech­zehnten Jahrhundert, also machte er die Reformation. Das geheimnisvolle metaphysische Gesetz, das den Turm mauerte, hatte den Reformator eben beim Kragen, und es lag gar nicht in seiner Wahl, war gar nicht seine persön­liche Gewissenssache, Reformation oder nicht Reforma­tion zu machen.» Es kommt für Lublinskis Aufgabe nicht darauf an, daß damit eine ganz mißverständliche Auffas­sung der Hegeischen Weltanschauung gegeben ist, son­dern darauf, daß damit richtig das Spiegelbild dieser Auf­fassung in den Köpfen des Jungen Deutschland gegeben ist. Denn nur weil dieses Bild in seinem Geiste lebte, konnte Gutzkow im Hinblick auf Hegels Ideenrichtung sagen: «Starb in Cato ein Begriff oder eine große, edle, hochherzige Seele? War Philipp II., war Robespierre ohne moralische Zurechnung? Ist der Weltgeist der Souffleur aller großen Worte gewesen, die von Menschen gespro­chen wurden? Der Souffleur des non dolet der Arria, der sancta simplicitas Hussens und selbst jenes wehmütig her­ben Spruches, womit ein Gladiator den Kaiser grüßte: ? Dieser philosophische Sche­matismus betrügt die Menschheit um ihre Erhebungen.» Mag Gutzkow mit solchen Worten Hegel gründlich un­richtig charakterisieren: er tut es, weil in ihm der Schöpfer des «Zeitromans» sich heraufarbeitet, der nach Menschen verlangt, die den Geist ihrer Zeit als ihr Temperament,

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als ihre Leidenschaften, als ihr Ethos in sich tragen, die aus diesem Zeitgeiste heraus gestaltet, nicht aus der gro­ßen Weltidee heraus begriffen sein wollten. Die sozialen Faktoren, das gesellschaftliche Milieu finden wir in den Wirkungen, wenn wir die Einzelseele der Persönlichkeit studieren. Was sich auf dem Grunde der individuellen Seele abspielt, das ist in hohem Grade ein Ergebnis der Machtfaktoren in der Umgebung, in den politischen Ver­hältnissen des betreffenden Individuums. Den Menschen aus den volksethlschen, volksreligiösen und sozialen Fak­toren zu begreifen und zu gestalten: das war die Tendenz, die sich in Gutzkow heraufarbeitete. Wir erkennen diese Tendenz bereits in dem Erstlingsroman «Maha Guru»; wir finden sie auch in seinen «Charakteristiken». Lublinski sagt in bezug auf die letzteren von Gutzkow: «Er wählte mit Vorliebe entweder seltsame und abnorme oder wenig­stens in seltsamen Verhältnissen lebende Charaktere, die er in ihrem innersten Wesen treu, gewissenhaft und dich­terisch zu erfassen suchte. Dieses Wesentliche ging in sei­nen Stil über, der außerdem von beweisender und erklä­render Art war und da und dort die Pfauenfeder farbiger Pointen aufsetzte .. Nirgends formte er einen Witz um des Witzes willen oder in der Absicht, zu bekämpfen und zu vernichten; sondern die Hauptsache war immer, einen seltsamen Charakter rein sachlich zu erklären und zu er­hellen.» An einer anderen Stelle führt Lublinski weitere Gründe an, warum die Jungdeutschen besonderes Glück mit der Charakterskizze hatten. «Natürlich kam ihnen die anerzogene Hegelsche Dialektik, diese Gymnastik des Geistes, die sich in psychologischen Scharfblick verwan­delt hatte, dabei zu Hilfe. Und da sie öffentliche Charaktere

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schilderten, so ergab sich ganz von selbst das Prinzip der Wechselwirkung zwischen den sozialen Zuständen und dem Charakter der einzelnen Persönlichkeit.»

Ganz im Stile dieser zugleich scharfsinnigen und zu­gleich fein nuancierten Charakterisierungskunst schreitet Lublinski in der Ausmalung der vierziger, fünfziger und sechziger Jahre fort. Den mehr ästhetisch veranlagten Lesern wird des Darstellers flüchtiges Vorübereilen an rein künstlerischen und ästhetischen Fragen auffallen. Lublinski berücksichtigt den Gehalt der künstlerischen Er­scheinungen durchaus mehr als die Form. Was fest in der ganzen Zeitkultur wurzelt, was der Ausdruck einer cha­rakteristischen Stufe des Zeitgeistes ist, das verfolgt dieser Historiker bis in die feinsten Verzweigungen; das rein Künstlerische kommt dabei zuweilen etwas zu kurz. Ich möchte das nicht als Tadel, sondern gewissermaßen sogar als einen Vorzug des Buches bezeichnen. Es erscheint mir durchaus besser, wenn einer das macht, was er seinen ganz individuellen Fähigkeiten nach vortrefflich machen kann, als wenn er sich irgendeiner sogenannten «objektiven» Methodologie fügt. Es wird gewiß manchem sonderbar erscheinen, was Lublinski in dem Vorwort zum vierten Band sagt: «Ein Ernst von Wildenbruch konnte hier, wo es sich um Wechselwirkung zwischen Literatur und Ge­sellschaft handelt, übergangen werden, nachdem ich schon den prägnantesten literarischen Vertreter des neupreu­ßischen Teutonentums erwähnt hatte: Heinrich von Treitschke.» Ich finde es durchaus gerechtfertigt, daß Lublinski eine solche subjektive Maxime geltend macht. Was er zu sagen hatte, konnte er an Treitschke besser als an Wildenbruch veranschaulichen.

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Ein Meisterstück ist auch das Kapitel, das Lublinski überschreibt: «Das silberne Zeitalter der deutschen Lite­ratur.» Er gebraucht diese Bezeichnung vornehmlich für die Zeit Hebbeis, Otto Ludwigs, Kellers. Bei LJebbel fällt ganz besonders auf, wie Lublinski diesem Dichter in die grandiose Dialektik seiner Phantasie zu folgen vermag, wie er die «hohe Tragödie», die «große Form» dieses mächtig ringenden Geistes zu charakterisieren imstande ist. Ich möchte nur eine treffliche Stelle aus dieser Charak­teristik anführen: «Hebbel war gleichsam als ein erster Entdecker und Gesetzgeber aus dem Urwald zur Kultur und zur Moral gekommen. Noch fühlte er kochende Natur­kräfte in seinem Organismus, während sein Auge mit Ent­zücken und Schreck auf einer steinernen Tafel flammende Gesetzesworte las, hinter denen der grüblerische Gedanke Kulturgüter ahnte, wie sie im Urwald nicht zu finden sind Das war das Starre und Elementare, wenn man will, das Nordisch-Atavistische in seiner Natur. Denn es erging ihm, wie den Nordgermanen überhaupt, als sie in alten Zeiten das Sittengesetz als Christentum überliefert erhiel­ten. Auch Hebbel nahm das Gesetz ganz in sein innerstes Wesen auf, welches sich zu spalten begann, indem das junge Kulturelement mit uralten Rasseninstinkten in hef­tigen Kampf geriet. Die Folgen solcher Kämpfe kennt man ja: Mystik, Gewissensangst, haarspaltende Kasuistik, unermüdliches Bohren und Grübeln, dämonisches Ringen um eine Lösung des Welträtsels.»

In haarscharfen Linien werden die Gestalten Gustav Freytags, Julian Schmidts, Paul Heyses, Friedrich Spiel­hagens aus den Bedingungen ihrer Zeit heraus erklärt; zugleich wird mit sicherer Empfindung ihre Bedeutung

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abgewogen. Als guter Beobachter erweist sich Lublinski auch, wo er den Einfluß der Entstehung des «neuen Rei­ches» und des Überhandhehmens der sozialistischen Pro­paganda auf die Entwicklung von Literatur und Gesell­schaft darstellt.

Zurückhaltender und skizzenhafter wird der Verfasser in seiner Schilderung der jüngst vergangenen und der gegenwärtig noch fortwirkenden literarischen Strömun­gen. Er hat ein Gefühl für das Unsichere und Unfertige, das in diesen Strömungen zum Ausdruck kommt. Das bewahrt ihn vor Überschätzung einzelner Erscheinungen, denen gegenüber das Urteil anderer Zeitgenossen erheb­lich ins Bedenkliche gerät. «Bisher ist es nicht gelungen> Werke der Höhenkunst, Monumental-Dichtungen hervor­zubringen, welche der Weltliteratur angehören oder auch nur in ihrer Art den besten Schöpfungen der engeren deutschen Literatur, wie sie in der klassischen Zeit oder in den fünfziger Jahren hervorgebracht wurden, entfernt gleichkämen.» Damit sagt Lublinski seine Meinung über die Gegenwart der Literatur. Ob er damit recht hat oder nicht: darüber enthalte ich mich eines Urteils. Es wäre nutzlos, sich darüber auszulassen, ob der Verfasser dieses Buches der Gegenwart gegenüber die für den Darsteller notwendige Distanz hat, die ihm gegenüber den älteren Erscheinungen zweifellos zuzusprechen ist.

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Zweite Besprechung

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Der Verfasser dieses Buches hat sich eine bedeutende Auf­gabe gestellt. Er will die literarischen Erscheinungen des neunzehnten Jahrhunderts in ihrem Zusammenhange mit

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dem gesellschaftlichen Leben darstellen. Für eine solchc Aufgabe gibt es wenig Vorarbeiten. Die Literarhistoriker betrachteten bisher die Literatur als eine Welt für sich. Sie suchten nach Methoden, um in dieser Welt wissen­schaftlich Ordnung zu schaffen. Daß aber diese Welt mit dem ganzen sozialen Leben zusammenhängt: das berück­sichtigten sie nicht. Lublinski ist tief durchdrungen von der Überzeugung, daß nur derjenige versteht, was in der Welt der Dichtung vorgeht, der ein Auge hat für das ganze Leben. Bis in die wirtschaftlichen Erscheinungen auf der einen Seite und bis in die philosophischen Ge­dankenströmungen auf der anderen Seite verfolgt er die Fäden, welche die Literatur mit dem Leben verbinden. Man muß zugestehen, daß der Versuch, den Lublinski macht, das Kapitel «Literatur und Gesellschaft» als einen Teil der Kulturgeschichte zu behandeln, in überraschend guter Weise gelungen ist. Was bei den Werken dieser Art meist störend wirkt, ist, daß ihre Verfasser nur über das eine oder das andere etwas Individuelles zu sagen haben und daß sie uns im übrigen über weite Gebiete führen, auf denen wir nur die Geschicklichkeit bewun­dern dürfen, mit der sie ihre «Methode» auf einen ihnen gleichgültigen Gegenstand anwenden. Man kann Georg Brandes, den geistreichen Darsteller der literarischen «Hauptströmungen des neunzehnten Jahrhunderts», von diesem Fehler nicht freisprechen. Er hat zum Beispiel über die deutsche Romantik Dinge vorgebracht, die nur er in dieser Weise sagen konnte. Aber er hat die Me­thode, durch welche die Psychologie der Romantik in prächtiger Weise bloßgelegt wird, auch auf das «Junge Deutschland» angewandt. Da versagt sie. Lublinski kann

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ein solcher Vorwurf nicht gemacht werden. Er hat eine solche einseitige Allerwelts-Methode nicht. Weil er die Literatur nur als ein Glied der ganzen Kultur betrachtet, findet er innerhalb des ganzen Umkreises des Lebens immer den Punkt, von dem aus eine literarische Erschei­nung zu betrachten ist. Man darf von ihm sagen: er hat für jede Erscheinung eine eigene Methode. Er wird zum Beispiel der einzelnen Persönlichkeit vollkommen gerecht, wenn diese wirklich das treibende Element vor­züglich in sich selbst und in ihrer individuellen Ent­wickelung hat; und er läßt auf das «Milieu» dann das rechte Licht fallen, wenn die Persönlichkeit nur der Aus­druck gewisser Zeitströmungen ist. Besonders gelungen sind die Charakteristiken von Heinrich von Kleist, Heine, Friedrich Hebbel und die Milieudarstellungen in den Ka­piteln: «Geistige Struktur Deutschlands um 1800», «Das Publikum», «Tendenzen des Jungen Deutschland», «Das silberne Zeitalter der deutschen Literatur», «Das Bürger­tum». Ein Glanzpunkt des ganzen Werkes ist die Schilde­rung Gutzkows. Es ist nicht zu leugnen, daß viele litera­rische Erscheinungen in ihrem rechten Lichte nur erschei­nen können, wenn man die Linien weiter verfolgt, die Lublinski vorläufig angedeutet hat. Es liegt in der Natur der Sache, daß man gegen vieles in dem Buche Einwen­dungen machen kann. Man hat oft das Gefühl, daß ein Weg gerade erst begonnen ist, und daß noch eine erheb­liche Strecke zurückgelegt werden müßte, wenn ein eini­germaßen sicheres Ergebnis dastehen sollte, wo wir jetzt eine bloße Vermutung antreffen. Allein das kann nicht an­ders sein. Lublinski hat sich eine Aufgabe gestellt, die man wahrscheinlich nicht einmal dann vollkommen lösen

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kann, wenn man drei bis vier Jahrzehnte zu ihrer Bewäl­tigung verwendet. Dankenswert ist es deshalb doch, daß er geleistet hat, was vorliegt. Wir brauchen solche Bü­cher, die zwar nicht abschließend, dafür aber im höchsten Grade anregend sind. Es gibt gewiß manchen Literarhisto­riker in Deutschland, der ausgebreitetere Kenntnisse bat als Lublinski; es gibt aber wenige, die eine solch um­fassende Bildung haben wie er; und es gibt bis jetzt keinen, der alle Zweige der soziologischen Struktur im Sinne der modern naturwissenschaftlichen Denkungsweise so zu verbinden wüßte wie er. Man stelle neben Lublinskis Buch das eines bloßen Schöngeistes, wie Rudolf von Gottschalls «Die deutsche Nationalliteratur des neun­zehnten Jahrhunderts». Auch Gottschali macht seine Streif­züge über das Gebiet der schönen Literatur hinaus. Aber ihn interessieren doch nur die philosophischen und etwa noch die politischen Strömungen; auch sie interessieren ihn jedoch nur soweit, als der Schöngeist von ihnen spricht. Das ästhetische Urteil wird im Geistesorganismus solcher Persönlichkeiten souverän. Bei Lublinski ist die ästhetische Beurteilung nur ein Teil seiner Gesamtwer­tung der Dinge. Ihn geht nicht nur an, ob ein Kunstwerk bedeutend oder unbedeutend ist. Für ihn beginnt das eigentliche Problem erst in dem Augenblicke, in dem er mit dem ästhetischen Werturteile fertig ist. Dann fragt er sich: warum konnte in einer bestimmten Zeit und von einer gewissen Persönlichkeit ein bedeutendes Werk ge­schaffen werden? Man wird nicht fehl gehen, wenn man behauptet, daß Lublinski durch seine Fragestellung die literarhistorischen Probleme wesentlich vertieft hat.

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LUDWIG JACOBOWSKIS

«LEUCHTENDE TAGE»

I

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Vor kurzem hat uns Ludwig Jacobowski mit seinem « Loki» eine erzählende Dichtung geschenkt, die in sym­bolischen Handlungen schwere, heiße Kämpfe darstellt, wie sie sich auf dem Grunde jeder menschlichen Seele abspielen, die nicht im Alltagstreiben aufgeht, sondern ein tieferes Leben führt. Wer sich in diesen «Roman eines Gottes» versenkt, der wird gefesselt von der hohen Ein­sicht des Dichters in das Walten der seelischen Mächte und von seiner kräftigen Empfindung für alles, was das Menschenherz erschüttert, erhebt und in Abgründe stürzt.

Nun hat Jacobowski dieser Schöpfung seine «Neuen Gedichte» folgen lassen. Durch sie können wir auf den Grund seiner eigenen Seele blicken, auf die Erlebnisse seines Innern, auf alles das, was ihn hinaufgehoben hat auf die hohe Warte, von der er im «Loki» die Welt mit ihren Rätseln überschaut. Tief in des Dichters Natur ist die große, freie Weltanschauung gegründet, die uns in dem Roman entgegentritt. Zwei Charakterzüge sind dieser Na­tur eigen, die in ihrem harmonischen Zusammenwirken immer die bedeutende Persönlichkeit bedingen: feine, empfängliche Sinne für alle einzelnen Dinge, die uns im Leben entgegentreten, und ein Geist, der die großen Zu­sammenhänge der Einzelheiten in ihrer wahren Bedeutung erfaßt. Dem empfänglichen Sinnen verdanken wir die fri­schen, satten Farben, die uns aus Jacobowskis Gedichten entgegenleuchten; und der Geist ist es, durch den uns der Dichter immer auf das hinweist, was «die Welt im

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Innersten zusammenhält». Nirgends vermissen wir in den «Leuchtenden Tagen» den großen Ausblick auf das We­senhafte der Welt, das hinter dem ewigen Fluß der Er­scheinungen steht. Vielmehr lenken diese Dichtungen fort­während unser Empfinden und unsere Phantasie nach die­sem Wesenhaften hin. Man hat stets das Gefühl, daß die­ser Dichter aus dem ewigen Quell schöpft, aus dem uns des Lebens bester Inhalt fließt.

Wessen Geist eine solche Richtung hat, dem wird das Leben nicht leicht. Denn jeder Schritt bedeutet für ihn eine Prüfung. Ihm hat die Welt viele Geheimnisse zu ver­raten. Aber die Natur gibt nichts freiwillig her. Sie läßt sich alles im hatten Kampfe abringen. Den Weg zu jeg­lichem Ziel pflastert sie mit Leiden und Entbehrungen. Das Wesenhafte aber, zu dem sie uns zuletzt doch immer führt, ist dasjenige, was Herz und Geist befriedigt. Die Nebel des Daseins lösen sich auf; und die Sonne des Lebens lächelt uns an. Der wahre Künstler zeigt uns diese Sonne. Weil sie es ja doch ist, die als geistiges Band den Zusammenhang der Dinge bewirkt. Alle echte Kunst ist deshalb «heiter». Und eine sonnige Heiterkeit, ein Froh­sinn, der aus dem schweren Lebenskampfe heraus gebo­ren ist: sie sind es, die von Jacobowskis Gedichten auf uns einströmen.

Ach, unsre leuchtenden Tage

Glänzen wie ewige Sterne.

Als Trost für künftige Klage

Glüh'n sie aus goldner Ferne.

Nicht weinen, weil sie vorüber !

Lächeln, weil sie gewesen!

Und werden die Tage auch trüber,

Unsere Sterne erlösen!

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Wie mit einem künstlerischen Evangelium leitet Jaco­bowski die Sammlung mit diesem Gedicht ein, und aus­klingen läßt er sie in das Bekenntnis:

Sinkende Arme,

Gefaltet die Hand,

Um mich das warme,

Beleuchtete Land;

Wimpern geschlossen

Im schmeichelnden Licht,

Goldhell umfiossen

Das braune Gesicht.

Steh' so in Sonne,

Daß ich vergeh' ...

Wehmut wird Wonne,

Und Wonne wird Weh! -

Hätt' ich doch Gnaden

Und Güte und Lust,

Im Glanze zu baden

Die dunkelste Brust! ..

Leuchtende Tage,

Nun sinkt ihr gemach!

Ach, ohne Klage

Schau' ich euch nach.

Heimlicher Schimmer,

Der so mich umhellt,

Beglänzt ja für immer

Die blühende Welt !

Der befreiende Grundton, der aus dem ganzen Buche herausklingt, ist mit diesen Versen ausgesprochen. So kräftig auch die einzelnen Erlebnisse den Dichter befruch­ten, stets drängt ihn sein Gemüt nach den Höhen des

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Daseins, in jene lichten Regionen, für die das Vergäng­liche des Alltags nur ein Gleichnis ist. Wie dem Philo­sophen jede individuelle Erfahrung ein Symbol für die ewigen Ideen des Weitgeschehens wird, so wird für den wahren Lyriker jedes einzelne Gefühl, jede besondere Stimmung zum Sinnbild des gesamten Seelenschicksals. Und Jacobowski ist in diesem höchsten Sinn ein echter Lyriker. Man sehe, wie in folgenden Versen eine Einzel-empfindung lebensvoll in einer universellen ausklingt.

Aus weißer Vase ragen braune Zweige

Und schleppen schwer an dichtgefülltem Flieder.

Hellgrüne Blätter drängen immer wieder

Die schlanken Spitzen durch die braunen Zweige.

Verwehter Wind umstreift die Blüten leise,

Ein Düften läuft verzitternd auf und nieder.

Das ganze Zimmer trinkt sich satt an Flieder,

Und selbst die Seele spürt die Blüten leise.

Einst konnt' ich überselig im Gemüte

Aus Fliederstengeln Süßigkeiten saugen. -

So tu' ich's wieder und mach' Kinderaugen

Und spür' der Jugend nach im Saft der Blüte !

Dieses Ablenken des Einzelerlehnisses ins Allgemeine ist ein Grundzug von Jacobowskis Persönlichkeit. Es wirkt in ihm wie ein natürlicher Lebensvorgang im mensch­lichen Organismus. Er sucht nirgends die Tiefe, er strebt nicht hinaus über das Einzelne. Dieses lebt in seiner Seele in unmittelbarer Weise, wie die einzelne Pflanze als Reprä­sentant ihrer ganzen Gattung vor uns erscheint. Man braucht seine Lyrik nur mit der Richard Dehmels zu vergleichen,

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um die ganze Unmittelbarkeit seiner universel­len Empfindungen zu begreifen. Bei Dehmel führt der Weg von dem Einzelerlehnis zu den großen Weltzusam­menhängen immer über die Idee, über die Abstraktion. Bei Jacobowski hat sie das nicht nötig. Denn er emp­findet universell. Er braucht die Vorstellungswelt nicht, um sich zu den Urtatsachen des Seelenlebens zu erheben; jede Seelenerfahrung hat bei ihm ursprünglich den Charak­ter des Ewig-Bedeutungsvollen.

Dieser Charakterzug bei Jacobowski steht im Wechsel-verhältnis mit einem andern, ohne den Größe in der menschlichen Seele nicht möglich ist. Es ist dies die Emp­findung für die großen, einfachen Linien im Weltenzu­sammenhange. Alles Große in der Welt ist einfach; und wenn jemand die schlichte Größe des Einfachen nicht empfindet, sondern das Bedeutende in dem Seltsamen, in den sogenannten Heimlichkeiten des Daseins sucht, so beweist das nur, daß ihm der Sinn entschwunden ist für das Große, das uns in jedem Augenblick des Lebens begegnet. Die Sünden mancher modernen Lyriker, die in zufälligen, entlegenen Stimmungen das Heil suchen, weil ihnen die Empfindung für das Schlichte, für das «Ein­fältige» fehlt, liegen Jacobowski ganz fern. Wie im Volks-lied der alltägliche Vorgang eine gigantische Stärke der Empfindungen auslöst, so wird bei Jacobowski ein schlich­ter Vorgang groß, weil er ihn in die Sphäre seines Gemütes versetzt. Es ist die einfachste Sache der Welt; und es ist zugleich eines der tieftten Erlebnisse, die dem Menschen begegnen können, was in dem Gedicht «Die alte Frau» dargestellt ist:

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I

Ich hab' da eine alte Frau,

Die wohnt zu allernächst dem Himmel,

Denn neunzig Stufen sind's genau,

Und Kinder drauf, ein Mordsgewimmel.

In ihrem Stübchen, blank und rein,

Vertost der laute Hall der Gassen.

Und mählich sinkt die Nacht herein

Verfinsternd auf die Häusermassen.

Der Vollmond klettert über Dach,

Die Sterne leuchten rings im Reigen,

Die Wanduhr tickt nur noch gemach...

Wir sitzen reglos da und schweigen.

II

Was hab' ich wohl an der alten Frau?

Das weiß ich selber nicht so genau.

Ihr Kaffee kann es doch nicht sein,

Sie gießt mir zuviel Milch hinein,

Nur ihre Bratäpfel lieb' ich sehr,

Die pflegt sie für mich in der Ofenröhr'.

Was ich wohl an der Alten hab'?

Das macht weit draußen ein schmales Grab.

Dort legte sie ihre Hoffnung hinein,

Ein schiankes, blondes Mägdelein.

Das ging durchs Leben still für sich,

Und dachte an einen und der war ich.

Und ward sonst niemandem offenbar,

Daß sie meines Lebens Süße war.

Fühi' ich das Leben wirr und rauh,

Dann steig' ich empor zu der alten Frau.

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Denn ihr bescheidenes Kämmerlein

Schließt meiner Seele Blüte ein.

Und komm' ich zu ihr, ist mir weh'.

Und wohl nur, wenn ich von ihr geh' !

Den hervorragenden Platz, den Jacobowski unter den Lyrikern der Gegenwart einnimmt, zu schildern und das Gepräge seiner lyrischen Schöpfungen im einzelnen dar­zustellen, wird die Aufgabe der folgenden Zeilen sein.

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II

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Wer rückblickend die «Leuchtenden Tage», nach dem Genuß der einzelnen Dichtungen, als Ganzes überschaut, vor dessen Seele steht ein einheitliches, in sich geschlos­senes Kunstwerk. Die sämtlichen lyrischen Schöpfungen bilden eine stilvolle Harmonie. Der Umkreis des mensch­lichen Seelenlebens zieht an uns vorüber. Die Empfin­dungen, die in uns erregt werden durch die Erhabenheit und Vollkommenheit des Weltganzen, das Verhältnis der Seele zur Welt, die menschliche Natur in verschiedenen Gestalten, die Leiden und Freuden der Liebe, die Schmer­zen und das Glück der Erkenntnis, die gesellschaftlichen Zustände und ihr Rückschlag auf das menschliche Gemüt, die rätselvollen Wege des Schicksals: alle diese Glieder des Lebensorganismus finden ihren Ausdruck. Der Per­sönlichkeit, die sich in diesem Buche darlebt, ist nichts fremd; sie ist heimisch auf den Höhen und in den Tiefen des Daseins. Und man hat das Gefühl, daß in dieser Per­sönlichkeit jeder Empfindung das rechte Maß, der richtige Grad zugeteilt ist. Keine drängt sich auf Kosten der an­dern vor. Eine harmonische Allseitigkeit, durchstrahlt von

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den zentralen Lebensinteressen, ist Jacobowskis Wesen­heit. Und nach diesen Lebensinteressen drängt sein Gefühl mit einer Wärme und Kraft, die im schönsten Sinne des Wortes persönlich, unmittelbar wirken. Was die ganze Menschheit bewegt, das wird in echt lyrischer Art bei diesem Dichtet zu einer eigenen Sache. Wir brauchen uns, um seine Schöpfungen zu verstehen, nicht in die Seelen-weit eines Vereinzelten zu versetzen; wir werden durch ihn auf unser eigenes Innere hingelenkt. Er spricht auf seine Weise aus, was uns alle bewegt. Er hat den Zau­berstab, um überall aus dem Leben die poetischen Funken zu schlagen, und braucht deshalb nicht nach Absonder­lichkeiten zu suchen. Empfindungsduselei ist ihm ebenso fremd, wie ihm feine Empfindlichkeit eigen ist; er ist kein Träumer, sondern ein kraftvoller Zugreifer. Ein sel­tenes Vertrauen in seine Seelenrichtung, ein sicheres, festes Gefühl von der Fruchtbarkeit seines Strebens spricht aus seinen Dichtungen. Es liegt etwas Kernhaftes und Zartes zugleich in seiner Natur; er ist wie ein Baum, der starken Stürmen ausgesetzt ist, aber fest im Boden wurzelt. Er weiß, daß er sich dem Leben, dem Alltäg­lichen überlassen darf, weil er überall, auch auf den aus­getretensten Wegen, Schätze findet.

Man vergleiche Jacobowski mit zeitgenössischen Lyri-kern von Bedeutung. Wie viele glauben das Wertvolle nur zu finden, wenn sie nach den Muscheln suchen, und ihnen seltene kostbare Perlen entnehmen. Jacobowski sucht nicht nach glänzenden Perlen; das Saatkorn, nach dem er die Hand ausstreckt, die gemeine Blume am Wie­senrande sind ihm genug. Will man Lyriker der Ge­genwart nennen, die jetzt, nachdem er uns mit seinen

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«Leuchtenden Tagen» erfreut hat, mit ihm in der vor­dersten Reihe stehen, so werden sich wohl nur zwei Namen auf die Lippen drängen: Detlev von Liliencron und Otto Erich Hartleben. Die Unterschiede der drei Dichter sind allerdings groß. Und die Bewertung wird uns bei Zeitgenossen, die noch mitten im rüstigen Schaffen ste­hen, die noch täglich bei uns neue Empfindungen auf-regen, schwer. Wir können nur ein vorläufiges und ganz subjektiv gefärbtes Urteil geben. Otto Erich Hartleben, der Lyriker, wirkt auf mich, wie Goethe im «Winckel-mann» den Künstler schildert. Mit seinem bewunderns­werten Geschmack und seinem Schönheitskult teilt er uns etwas mit, das wie antike Kunst auf uns einströmt. Er steht in dieser Beziehung so sehr als Einzelner da, daß wir ihn lieber isolieren als vergleichen wollen. Detlev von Liliencron ist der lyrische Meister in der Einzelheit. Sein Auge sieht ein jegliches Ding im Lichte des Ewigen. Aber sein Geist weiß nichts von diesem Ewigen; deshalb sagt er uns auch nichts davon. Es ist bei Liliencron, wie wenn wir noch einen zweiten hören müßten, wenn uns das Zusammenhaltende in seinen Augenblicksbildern auf­gehen soll. Eine Art zweites Gesicht müssen wir bei die­sem Dichter haben: dann sehen wir, was er uns gibt, im Lichte des Ewig-Bedeutungsvollen. Jacobowski hat die­ses zweite Gesicht selbst. Und damit erreicht er etwas, was nur Dichter erreichen, die aus einer Weltanschau­ung heraus schaffen, und was ich als das Kennzeichen des wahren Dichters ansehen muß: daß der Philosoph ihn als «Bruder Dichter» bezeichnen muß und zugleich, daß das schlichteste Gemüt sich selbst in ihm wiederfindet. Die

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einfachste Natur und der höchste Geist, der aus dieser Natur gezogen werden kann, sind ein und dasselbe.

Jacobowskis Dichtung wird die höchste Probe bestehen, die es für den Dichter gibt: gleich anziehend zu sein für den Mann, der morgens an die körperliche Arbeit geht und nur sonntags die Feieraugenblicke verwenden kann, um das heitere Reich der Kunst auf sich wirken zu lassen, und den wahren Philosophen, der mit den ewigen Rätseln des Seins auf du und du steht. Wie der Philo­soph ein Weltdenker, ist Jacobowski ein Weltempfinder. Man sehe, wie er den großen Gedanken der indischen Weisheit, daß alles in der Welt nur eitel Schein ist und uns deshalb nicht zu berühren braucht, in eine ganz indi­viduelle Empfindung umsetzt:

«Es ist ja nichts ! Geh' an der Welt vorüber!»

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Dies fremde Wort, es macht mein Herz nicht frei. -

Wie gerne ging ich an der Welt vorüber,

Doch, ach, die Welt geht nicht an mir vorbei !

Denn steh' ich auch gleich Kindern im Verstecke,

Dem Tanz der Tage angstvoll abgewandt, -

Sie reißen mit gewaltsam aus der Ecke,

Und jeder drückt mir Schmerzen in die Hand.

In einem solchen Gedichte wirkt die höchste Weisheit wie holdeste Naivität; die drei monumentalsten Formen des Seelenlebens zeigen ihre innerste Verwandtschaft: die kindliche, die künstlerische und die philosophische.

Weil Jacobowski diese drei Formen in ursprünglichster Weise in sich vereinigt, glaube ich, daß er als Dichter seinen Zeitgenossen Dehmel überragt. Er ist ein ganzer Dichter; Dehmel ist halb Dichter und halb Denker. Und

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zwei solche Hälften geben so wenig ein Ganzes wie eine halbe Linse und eine halbe Bohne. Bei Dehmel wird man vergebens nach einem Gedichtchen von der Einfachheit des folgenden suchen, das geradezu als Motto vor vielen der größten philosophischen Schöpfungen stehen könnte:

Seele, sag', was ringst du so in Pein?

«Bin von Erde, möcht' von Himmel sein!»

Seele, du erringst nur Nacht und Tod?

«Über Nächte glüht ein Morgenrot!»

Die geistvolle Lou Andreas-Salomé hat in einer schönen psychologischen Studie im «Pan» (1898, 3. und 4. Heft) einen großen Teil der gegenwärtigen Lyrik getroffen, wenn sie sagte: «In heutiger Zeit wenden sich viele, und nicht die schlechtesten, vom ganzen äußeren Lebens-getriebe ab und verschmähen es sogar als bloßen Anlaß, um sich daran persönlich zu betätigen und auszuleben, weil sie sich durch die gesamten Kulturverhältnisse, in denen wir leben, im besten ihres individuellen Daseins bedrängt und beraubt fühlen. Es ist ein Suchen und Lan­gen nach Einsamkeit in den vorgeschrittensten Menschen, in allen, die etwas in sich tragen, was nicht auf dem Markt geboren werden kann, in allen, die in sich Hoff­nung und Zukunft tragen und heimlich fürchten, daß ihnen diese entheiligt werden könnten. Sie wissen wohl, daß aus dem vollen Kontakt und der ganzen Breite und Tiefe des wirklichen Lebens die großen Werke entsprin­gen, die mit ehernen Siegerschritten und klingendem Spiel über die Erde gehen, Jahrhundert um Jahrhundert, aber bis dahin - das wissen sie auch - müssen noch viele andere, stillere Werke ihnen voranschreiten in weißen

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Gewändern, schüchterne Knospen im Haar, und davon zeugen, daß es Menschenseelen gibt, die festlich angetan sind und willig und bereit zu einer neuen Schönheit ihres Lebens.» Man darf demgegenüber wohl kühnlich sagen, daß für die Zukunft die Leute mit den weißen Gewän­dern und den schüchternen Knospen im Haar interessante Symptome vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts sein werden, Leute, mit denen man sich ihrer Absonderlich­keit halber beschäftigt, daß aber die eigenüiche Signatur dieses Zeitraums die Geister sein werden mit den gesun­den Sinnen, mit den entwickelten Blüten im Haar, die die frischen Farben und nicht das fahle, kranke Weiß lieben. Zu ihnen zählen wir Jacobowski.

Unser gesundes Denken hat in der zweiten Jahrhun­derthälfte den Darwinismus mit allen seinen Konsequen­zen großgezogen; auf den Wegen, auf denen dieses ge­sunde Denken und gesunde Fühlen wandelt, treffen wir auch Lyriker wie Jacobowski. Weltenfremdet, in ästhe­tische und philosophisch-mystische Schrullen verrannt, be­gegnen uns die Dichter mit den weißen Gewändern und den schüchternen Knospen im Haar. Erkünstelte poetische Formen haben ebensowenig Wert, wie bizarre, erklügelte Ideen. Beide entstehen allerdings immer in Zeiten mäch­tigen geistigen Ringens. Sie treten aber niemals bei den starken, originellen, unabhängigen Geistern auf, sondern bei den schwachen, abhängigen, denen kein ursprüng­licher Inhalt aus der Seele sprudelt, die alles mit Zangen und Pumpen aus sich holen müssen, die aber doch auch mittun möchten. Solche Geister sind den Forderungen, den Aufgaben der Zeit nicht gewachsen. Sie wissen keine einfachen, geraden Antworten auf die Fragen, die um uns

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herumschwirren. Deshalb suchen sie das Abstruse, das Ausgetiftelte. Der tiefsinnige Kenner der Naturwirksamkeiten, Galilei, hat die weisen Worte gesprochen, daß das Wahre nicht hart und schwierig, sondern einfach und leicht sei, und daß sich die Natur in allen ihren Werken der nächsten, einfachsten und leichtesten Mittel bedient. Nur derjenige Geist lebt wirklich mit der Natur im Bunde, der sich, ebenso wie sie, der nächsten, einfachsten und leichtesten Mittel zu bedienen weiß. Als ein solcher Geist erscheint Jacobowski inmitten der Schar gegenwärtiger Lyriker. Dehmels verkünstelte Formen und verkünstelte Empfindungen erscheinen wie ein Abfall von der natür­lichen Einfalt.

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III

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Welch ein Irrtum es ist, wenn einzelne Zeitgenossen in der Formlosigkeit das Heil der Dichtung suchen und glau­ben, daß die «alten» Formen abgebraucht seien, das zeigt sich am besten, wenn den Schöpfungen dieser Enthusia­sten der Formlosigkeit Dichtungen wie diejenigen Jaco­bowskis gegenübergestellt werden. Der Phliosoph Simmel hat einen interessanten Essay über einen Anhänger der Formlosigkeit, über Paul Ernst, geschrieben. Nach der Ansicht Simmels soll in dieser Formlosigkeit insofern ein Fortschritt liegen, als der Künstler nicht mehr in einer Verkünstelung, in einer Bearbeitung der unmittelbaren natürlichen Erscheinungen das Höhere, das Göttliche in der Kunst sucht, sondern mit einer Art von Pantheismus in jedem vor unseren Sinnen sich abspielenden Erlebnis ein göttlich Bedeutungsvolles erblickt, das verdient, in

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dieser Unmittelbarkeit festgehalten zu werden. Auf Grund solcher Anschauungen werden heute Dichtungen für «mo­dern» gehalten, die nichts weiter sind, als versartig ab­geteilte Prosa. Wer einer solchen Ansicht huldigt, der lebt in dem irrtümlichen Glauben, daß die «alten» For­men etwas sind, was der Künstler willkürlich aus seiner subjektiven Wesenheit heraus zu den Erscheinungen der Natur hinzubringt. Er sieht nicht ein, was Goethe wie­derholt in lichtvollster Art ausgeführt hat, daß der äußere Ablauf der Erscheinungen nur die eine Seite des natür­lichen Daseins bildet, die Oberfläche, und daß sich für den, der tiefer blickt, in der Natur selbst höhere Formgesetze ausdrücken, denen er in seinen künsüerischen Formen nachschafft. Es gibt eine «höhere Natur» in der Natur. Was Goethe im «Faust» den Engeln durch den HERRN sagen läßt: «Doch ihr, die echten Göttetsöhne, erfreut euch der lebendig reichen Schöne ! Das Werdende, das ewig wirkt und lebt, umfaß' euch mit der Liebe hol­den Schranken, und was in schwankender Erscheinung schwebt, befestiget mit dauernden Gedanken», das drückt die Mission des Künstlers aus. Nur die «schwankende Erscheinung» stellt sich in Formlosigkeit dar, das ewig Werdende ist ein formvolles; es ist innerlich, durch seine Wesenheit, gebunden an die Form. Das Ablehnen der Form ist nichts anderes als der Ausdruck des Unver­mögens, die «höhere Natur» in der Natur zu sehen, für deren innerlichste Harmonie den subjektiven stilvollen Ausdruck zu finden. Allen solchen Verirrungen der Zeit gegenüber geht Jacobowski, aus einer inneren Notwen­digkeit seines Kunstempfindens heraus, den sicheren Weg des Künstlers. Man sehe, was er mit den bewährten

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«alten» Formen erreicht, in einer Dichtung wie «Die vier Räuber», die den Schluß der «Leuchtenden Tage »bildet. In dieser Legende vereinigt sich schlichte Ein­fachheit mit symbolischer Hindeutung auf tiefe Zusam­menhänge des Weitgeschehens und mit edler, geschlos­sener Form. Was ich im Eingang dieser Ausführungen über Jacobowskis Lyrik gesagt habe, daß dieser Dichter aus dem ewigen Quell schöpft, aus dem des Lebens bester Inhalt stammt, das ist der Grund, warum er sich als eine so erfreuende, erfrischende Dichtergestalt von an­dern Mitstrebenden abhebt. Diese andern kennen im Grunde doch nur abgeleitete Quellen. In ihnen wirkt ein Lebensinhalt, der den Menschen nicht auszufüllen ver­mag. Sie sehen höchstens Zweige und Sprossen, aber sie vermögen nicht zu den fruchtbaren, aufbauenden Elementen des Lebensorganismus zu dringen. Nur wer den Blick auf diese fruchtbaren Wesenheiten richtet, für den erhält das Leben seine höhere Rechtfertigung. Wenn so oft gesagt wird, daß geistige Größe zur Einsamkeit führe, so muß man erwidern, daß die stolze, notwendige Einsamkeit, die aus dem Empfinden des Ewigen in der Welt entsteht, nichts zu tun hat mit der zufälligen Ein­samkeit, die daraus entspringt, daß sich jemand in irgend­einen einzelnen Winkel des Daseins zurückzieht. Wenn er in diesem Winkel nichts sieht als «was in schwankender Erscheinung lebt», dann kann uns sein Bericht nicht fes­seln, trotzdem er von Dingen spricht, die dem Alltags-auge entzogen sind. Der Kulturirhalt der Welt wird nicht dadurch bereichert, daß man abseits liegende Erschei­nungen zu dem alten Bestande hinzufügt, sondern da­durch, daß man das Ewig-Werdende auf ein neues Ent­wickelungsstadium

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führt. Wie ein Künstler, der solches vermag, sich zu Lebenserscheinungen verhält, die in sei­ner Zeit als neue «moderne» erscheinen, das tritt in dem Teil der «Leuchtenden Tage» hervor, der «Großstadt» überschrieben ist. Hier spricht ein Geist vom sozialen Leben unserer Tage, der dieses nicht in der Perspektive des Augenblicks sieht, sondern in derjenigen, die aus der Betrachtung der großen Weltgesetze sich ergibt. Die Sänger der sozialen Leidenschaften und Konflikte sehen ja oft nur wenige Schritte weit. Das Licht, das auf die Zeiterscheinungen fällt, wenn man sie hineinsteilt in den Zusammenhang einer Weltauffassung, gibt unseren Emp­findungen über diese Erscheinungen erst die rechte Nuance. Eine solche erhält das moderne Großstadtleben zum Beispiel in Jacobowskis Gedicht «Sommerabend»:

Sommerabend. -Weich und warm die Luft;

Fern von Gärten ein verirrter Duft,

Matthell noch die weiten Himmelsfluren,

Hie und da von Sternen blasse Spuren;

Auf der Straße Peitschenknall und Lärmen,

Knaben, die um junge Mädchen schwärmen;

Vor den Türen spielen Kinder Reifen,

Kutscher klopfen ihre Tabakspfeifen;

Stahlroßritter, die auf Liebe sinnen,

Mühen redlich sich um Radlerinnen,...

Und um alle weiche, warme Luft,

Und von Gärten ein verirrter Duft.

Der Dichter erlebt eine «moderne» Situation; er stellt sie dar auf dem Grunde des ganzen Weitzusammenhanges. Wir erblicken die Stadtszene nicht isoliert, sondern so,

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daß die übrige Welt in sie hereinspielt. In diesem Sinne eine echt moderne Schöpfung ist «Der Soldat, Szenen aus der Großstadt», in der das Schicksal eines vom Lande nach der Großstadt verpflanzten Menschen geschildert wird. Ergreifende Bilder ziehen da vor unserer Seele vor­über, und aus ihnen heraus blickt uns der Leidensgang eines Menschen an, den das ewige, gigantische Schicksal mit dem Teil Unvernunft, der nun einmal in der Welt ist, in seine Schlingen faßt und zermalmt. Welcher Vertiefung aus einer Gesinnung heraus, wie sie bei Jacobowski vor­handen ist, die Empfindung gegenüber dem modernen Leben fähig ist, das lehrt ein Gedicht wie dieses:

Die Mutter schleppte einst Gemüse,

Und wenn die Kirschenernte kam,

Dann stahl für mich die liebe Liese,

Soviel die kleine Schürze nahm. -

Wie schmausten wir in Feld und Wiese !

Die Mutter hockt vor ihren Körben;

Jetzt ist sie alt, doch froh im Sinn,

Drum prahlt sie vor der Nachbarin:

«Mein Mädel kann ja nicht verderben,

Denn sie versteht sich aufs Erwerben

Und legt noch was für später hin!»

Ich hab' sie gestern erst gesehen

Und hab' ihr Antlitz gleich erkannt.

Stumm blieb ich in der Menge stehen,

Bis ihrer Rembrandtfedern Wehen

im Straßentrubel langsam schwand.

Und konnt' nicht von der Stelle gehen,

So hat ihr Dirnenblick gebrannt.

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#TI

IV

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Jacobowskis Fähigkeit, in dem einzelnen Erlebnis die tieferen Zusammenhänge des Daseins zu sehen, macht es ihm möglich auch das poetisch zu gestalten, was sich uns im Leben als Zufall, als blinde Notwendigkeit offenbart. Jn solcher poetischen Schöpfung erscheint dann das sinn­lose Ungefähr als der Ausdruck einer sinnvollen Führung in den Weltereignissen. Man pflegt heute die Dichtungs­art, die aus einer solchen Anschauung hervorgeht, die symbolistische zu nennen. Eine vielseitig wirkende Natur wie diejenige Jacobowskis wird stets zur symbolischen Gestaltung gewisser Erlebnisse drängen. Das ernste Spiel der Phantasie wird die ewige Gesetzmäßigkeit auch dort suchen, wo sie sich in der Wirklichkeit nicht von selbst aufdrängt. Aber gerade diese Allseitigkeit wird es auch sein, welche verhindert, daß der Symbolismus in einsei­tiger Weise übertrieben wird. Denn die harmonische Per­sönlichkeit empfindet immer mehr oder weniger, was Goethe beim Anblick der griechischen Kunstwerke in Italien empfunden hat: daß der wahre Künstler nach eben denselben Gesetzen verfährt, nach denen die Natur selbst bei Erzeugung ihrer Geschöpfe verfährt. Wenn dann die Phantasie eines solchen Dichters symbolisierend wirkt, dann geschieht es nicht in der aufdringlichen Weise, mit der manche Symbolisten der Gegenwart uns ihre subjek­tiv-willkürlichen Einfälle für Offenbarungen aufdrängen möchten, sondern mit jener geistigen Keuschheit, die auch im Sinnbild die Natur selbst sprechen läßt, ohne die innere Wahrheit ihrer Äußerungen zu verbiegen und zu ver­renken.

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In diesem schönen Sinne ist Jacobowskis «Frau Sorge» ein symbolisierendes Gedicht:

Durch die Abendhelle geht ein Pärchen hin,

Er ein Schmiedsgeselle, sie ist Nähterin.

«Rosel, wenn wir beide einen Karren zieh'n,

Ist es doppelt Freude und ein halbes Müh'n!»

Und sie lehnt sich müde an den Liebsten an;

Unterm Augenlide zuckt es dann und wann.

«Rosel, laß das Weinen um das täglich' Brot;

War's genug für einen, langt's für zwei zur Not!»

Nahm sie in die Arme, fragte länger nicht,

Streichelte das warme, glühende Gesicht...

Mählich wich die Helle und sie gingen weit -

Auf dieselbe Stelle setzt ein Weib sich breit,

Sah mit grauem Blicke, hob die welke Hand,

Drohte mit der Krücke, murmelte und schwand...

Kam das Paar geschritten in die Stadt hinein,

Saß Frau Sorge mitten schon im Kämmerlein.

In demselben Sinne symbolisierend wirkt Jacobowskis Phantasie den Erscheinungen der Natur gegenüber. Das tritt auch in seinen Prosaerzählungen überall hervor. Das erscheint in seinem «Loki» so hinreißend. Das Geistige wächst bei ihm gleichsam aus dem Natürlichen hervor; es wirft seine beseelende Kraft auf die Natur zurück und empfängt von dieser eine feste Wirklichkeitsgrundlage. In den «Leuchtenden Tagen» kommt dieser Charakterzug besonders in der Abteilung «Sonne» zum Vorschein. Ich führe das Gedicht «Leuchten» an:

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Eben jetzt, wo die Sonne scheint,

Geht mein Schatz übers Feld;

Geht ein Leuchten über das Feld,

Fängt sich, als wär' es für sie gemeint,

Blitzend im blonden Haar.

Eben jetzt, wo die Liebste läuft

Über das blühende Feld,

Wo ihr Lachen herniederfällt,

Glitzern die Halme wie taubeträuft,

Glitzern die Blumen im Gras.

Eben jetzt, wo die goldige Spur

Hell mir erglüht im Blick,

Schau ich nur Segen, nur Liebe, nur Glück,

Schau ich ein einziges Leuchten nur

Über der blühenden Welt.

Und wie ein Bund, den in der Phantasie Natur und Seele schließen - im besten Sinne eine symbolische Naturbesee­lung - erscheint mir das Gedicht «Maienblüten»:

Duld' es still, wenn von den Zweigen,

Von den überfüllten Zweigen,

Blüten weh'n ins fromme Haar,

Und sich sacht herüberneigen,

So im Durst herüberneigen,

Lippen sich auf Lippenpaar.

Sieh, ein Beben süß und wunderlich

Rinnt durch übersonnte Blätterreihen,

Alle Blüten, die sie niederstreuen,

Segen streuen sie auf dich und mich.

Wenn wir die verschiedenen Strömungen der modernen Lyrik an uns vorüberziehen lassen, so treffen wir gewiß auf manche herrliche Blüte. Aber wir sehen nur zu oft,

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daß Schönheit im einzelnen mit Einseitigkeit bezahlt wer­den muß. Die harmonische Allseitigkeit ist das, was Jaco­bowski bedeutend macht. Er kennt kein poetisches Dog­rna; er kennt das Leben, und seine Interessen hören da auf, wo das Leben aufhört.

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LUDWIG JACOBOWSKI

Geleitwort zu Grimms Märchen

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Mit einem schmerzlichen Geleitwort muß dieses Heft in die Welt gehen. Ludwig Jacobowski, der das schöne Unternehmen «Deutsche Dichter in Auswahl fürs Volk» ins Leben gerufen hat, ist nicht mehr. Von seinen ver­heißungsvollen Plänen hat ihn am 2. Dezember 1900 der Tod hinweggerafft. Dieses Heft ist eines seiner Vermächt­nisse. Die Herausgabe der «Märchen» gehört zu seinen letzten Arbeiten. Der Name des Dichters Ludwig Jaco­bowski, des Schöpfers der Romane «Werther, der Jude» und «Loki», der Gedichte «Leuchtende Tage» wird stets einen ehrenvollen Platz in der deutschen Literaturge­schichte haben. Aber diese Schöpfungen sind nur ein Teil von Jacobowskis Leistungen. Seine Liebe zum Volk, sein Eifer, für die geistigen Bedürfnisse breiter Schichten zu sorgen, haben ihn zu Arbeiten geführt, die einzig daste­hen. Seit seiner frühesten Jugend gehörte es zu seinen liebsten Beschäftigungen, sich in den Volksgeist zu ver­tiefen. Wie das Volk denkt und dichtet, darüber sann und forschte er unaufhörlich nach. Hand in Hand mit dieser

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Beschäftigung ging sein Streben, dem Volke die großen Schätze der Dichtung zugänglich zu machen. Er hat die besten Dichtungen der Gegenwart gesammelt und in einem Heftchen «Neue Lieder der besten neueren Dich­ter fürs Volk» herausgegeben. Er ist dann darangegangen, die deutschen Dichter dem Volke zu schenken. Ein Heft «Goethe», ein zweites «Heine» sind bereits herausgege­ben. Dieses Märchenheft ist das Dritte. Vieles Herrliche sollte noch folgen. Das Volk brachte dem mühevollen Un­ternehmen den schönsten Lohn entgegen. Überall wurden die Zehnpfennighefte verbreitet. Und von allen Seiten er­hielt Ludwig Jacobowski Zeichen dankbarster Anerken­nung. Er hat die große Freude erlebt, volles Verständ­nis für seine Tat zu finden. Die Briefe, die ihm aus-drückten, welche Wohltat er denen erwiesen hat, deren Mittel nicht große Ausgaben für Bücher gestatten, liefen täglich bei ihm ein. Mehr als er gehofft, hat er erreicht. Er hat auf die ideale Gesinnung des Volkes gebaut; und es hat sich gezeigt, daß er einen sicheren Grund gefun­den hat. - Das Unternehmen wird in seinem Sinne fort­gesetzt werden.

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BEMERKUNGEN ZU DER SAMMLUNG:

«AUS DEUTSCHER SEELE»

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Es wäre zweifellos interessant, jetzt an der Wende zweier Jahrhunderte eine Untersuchung darüber anzustellen, wie­viel die einzelnen Gebiete geistiger Arbeit zu der Un­summe von Torheit beigetragen haben, die im eben abgelaufenen

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Säculum hervorgebracht worden ist. Es ist ja auf dasjenige der Aufklärung gefolgt. Eines scheint gewiß, in einer solchen Statistik der Torheit käme das Denken über Kunst und Dichtung mit einer hohen Prozentzahl weit oben zu stehen. Man brauchte nicht einmal den ge­druckten Unsinn, den Zeitungen und Zeitschriften wö­chentlich und täglich in dieser Richtung hervorbringen, zu berücksichtigen. Wenn man sich auf das beschränkte, was in Büchern und Broschüren auf diesem Felde geleistet wird: man müßte auch da schon zu einer märchenhaft hohen Zahl gelangen. Wenn man ästhetische und kriti­sche Arbeiten der Gegenwart liest, dann hat man in den meisten Fällen das Gefühl, als ob der Begriff der Kunst und Poesie überhaupt verlorengegangen sei. Welche merk­würdigen Sachen treten einem da unter die Augen...! Die Vorstellungen: naives Schaffen, unbewußtes Hervorbrin­gen, Individualität, Intuition und wie sie alle heißen, be­gegnen uns in einer Weise, die weiter nichts zeigt, als daß diejenigen, die sie hinschreiben, sie auf irgendeine Art auf-geschnappt haben und sie nun wie Kinder die Steine in einem Kaleidoskop hin- und herwerfen. Gelehrte Abhand­lungen über Kunst und Poesie machen von dieser all­gemeinen Regel durchaus keine Ausnahme. Brave Philo­logen, Professoren der Literaturgeschichte und anderer Geisteswissenschaften, die es als den Gipfel des Dilettan­tismus betrachteten, wenn man bei dem Nachweis, aus wel­chem Einfall Wielands ein Einfall Goethes stammt, «un­wissenschaftlich» zu Werke ginge-: sie beweisen, wenn sie anfangen, über Goethes «naive» Art zu schaffen, in ihrer Weise zu faseln, nichts weiter als ihre eigene - Naivität. Man braucht nur fünf Zeilen der meisten ästhetischen

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Abhandlungen und Bücher zu lesen, und man wird klar darüber sein, daß ihre Verfasser nicht zu den Elementen derjenigen Erkenntnisse vorgedrungen sind, die Auf­schluß geben können über das Wesen des menschlichen Hervorbringens, über Phantasie, über Jntuition und der­gleichen mehr. Wenn durch einen Zufall 98 Prozent von alledem verlorenginge, was im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte über Ibsen, Hauptmann und andere geschrie­ben worden ist: nichts, rein gar nichts wäre der Nachwelt entzogen, was einen wirklichen Wert hat. Trotzdem allerorten heute von «Psychologie» gesprochen wird: die Erkenntnis der menschlichen Seele gehört gegenwärtig zu den unbekanntesten Dingen der Welt. Kaum über ir­gendeine Sache herrscht eine so grenzenlose Unkenntnis wie zum Beispiel über das Wesen der Phantasie.

Wo soll unter solchen Umständen ein Urteil über den künstlerischen, über den poetischen Wert der neueren Schöpfungen herkommen? Jst es nicht natürlich, daß auf diese Weise der Begriff der Kunst, der Poesie, geradezu verlorengehen mußte?

In Jacobowskis Sammlung «Aus deutscher Seele» ist für alle diejenigen, die es benutzen wollen, ein Mittel gege­ben, ihn wiederzufinden. Der Herausgeber hat sich in sei­ner «Vorrede», aus der wir im Vorhergehenden die wich­tigsten Stellen mitgeteilt haben, selbst über die Aufgaben ausgesprochen, die er sich mit seiner Sammlung gestellt hat. Wenn es gelänge, die «Bazarware der Gassenhauer» nur einigermaßen zu verdrängen, so wäre damit für die Volkskultur Unsagbares getan. Der Tag, an dem man feststellen könnte, daß das Büchlein «Aus deutscher Seele» dem Apollotheater, Wintergarten und so weiter eine in

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Betracht kommende Konkurrenz macht, müßte unter die größten Festtage des eben beginnenden Jahrhunderts ge­zählt werden. Und nicht minder der Tag, an dem des Herausgebers «Nebenabsicht» in ihrer Verwirklichung aufgezeigt werden könnte. Denn darüber sollte kein Zwei­fel herrschen, ein Gedicht, wie das oben mitgeteilte «Die schöne Hannele», birgt mehr Poesie in sich, als die Mehr-zahl der Bände, die mit sogenannter «moderner Lyrik» angefüllt sind.

Der Herausgeber bringt alles mit, was ihn zu seiner Aufgabe befähigt. In erster Linie kommt in Betracht, daß er unter den Dichtern der Gegenwart in erster Reihe steht. Er hat es in seinen «Leuchtenden Tagen» bewie­sen, daß in ihm der Quell zu wahren dichteri schen Schöpfungen vorhanden ist. Er ist dazu ein vorzüglicher Kenner der Ursprünge der Dichtung. In einer Reihe fes-selnder Studien hat er das gezeigt. Woraus die Volks-phantasie entspringt, welches Verhältnis sie zum Leben, zu den übrigen Kräften der Volksseele einnimmt, darauf ist sein Forschen und Nachsinnen gerichtet. Aufsätze wie der, den er jüngst in der «Gesellschaft» über die Anfänge der Erzählungskunst veröffentlicht hat, sind mustergültig. Wie die Phantasie sich entwickelt, darauf geht sein Den­ken aus. Seine Art des Forschens gibt ganz andere Per­spektiven als die kleinlichen Ergebnisse philologischer Haarspalter, die gern ihre Miniatur-Phantasien als Resul­tate exakten wissenschaftlichen Forschens hinstellen.

Es wird oft nicht leicht, lyrische Sammlungen in einem Zuge zu lesen. Hier wird es zum Genuß. Das kommt davon, daß Jacobowski ein kompositorisches Vermögen ersten Ranges für die Zusammenstellung geistiger Einzelschöpfungen

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besitzt. Die «Allgemeine Inhaltsübersicht», die der Sammlung vorangedruckt ist, zeigt, daß künst­lerischer Sinn in der Zusammenstellung gewaltet hat. Nichts folgt willkürlich aufeinander, alles steht in not­wendigem Zusammenhange. Die Totalität der Volksseele, die Summe menschlichen Empfindens in allen Lebensver­hältnissen kommen zur Anschauung. Und sie kommen so zur Anschauung, daß die innere Harmonie des Volks-lebens ihren Ausdruck findet. Mit den Gesängen, die der höchsten, freudigsten Lebensbejahung ihren Ursprung verdanken, wird die Reihe eröffnet, mit den Empfindun­gen über den Tod schließt sie. Der ganze Inhalt des Volksgemütes liegt dazwischen. Die einzelnen Kapitel sind: Glückliche Liebe, Meiden und Scheiden, Unglück­liche Liebe, Ehe, Aus frommer Seele, Festtagsverse, Rätsel und Reimscherze, Balladen, Historische und kulturhisto­rische Lieder, Soldatenlieder, Stände- und Stammeslieder, Jagd- und Tierleben, Naturleben, Volksweisheit, Trunk-poesie, Humor, Vom Sterben, Vom Tode. Man kann An­fang und Ende einer solchen Sammlung nicht überzeugen­der machen, als indem man an jenen die von Lebens-drang ganz getragenen Verse setzt:

Wollt' Gott, ich wär' ein weißer Schwan!

Ich wollt' rnich schwingen über Berg und tiefe Tal,

Wohi über die wilde See,

So wüßten all' meine Freunde nicht,

Wo ich hinkommen wär'!

und an dieses den Spruch stellt, der mit tiefster Weis­heit die «Ewigkeit» in der naiven Empfindung widerspie­gelt:

O ewich is so lanck.

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Wie nimmt sich der künstlich konstruierte Begriff von «Individualität» aus, hinter dem die Weisheit unserer Zeit­genossen gigerlhaft einhertrippelt, wenn man ihn in dem Lichte betrachtet, das von solcher Poesie ausstrahlt, wie sie in diesem Buche mitgeteilt wird. Spricht etwa in dem Gedicht «Das schöne Hannele» weniger eine Individuali­tät sich aus als in den mancherlei poetischen Purzelbäu­men unserer Kunstdichter? Die heute immer von «Indivi­dualität» reden, sollten doch bedenken, daß noch jeder, der sich in die tiefsten Tiefen seines Individuums ver­tieft hat, dort ein Gemeinsames mit allen Menschen ge­funden hat. Was heißt denn einen Künstler verstehen? Es heißt nichts anderes, als dessen Individualität in uns selbst finden. Wodurch verstehen wir Shakespeare? Allein da­durch, daß wir alle einen heimlichen Shakespeare in uns haben. Shakespeare verstehen heißt, den heimlichen Sha­kespeare in sich entdecken. In unserer Individualität ist Shakespeares Individualität. Daß einer ein Eigener ist, schließt nicht aus, daß sich ihm das Allgemeine offenbart. Das Leben ist wie das Hinansteigen auf einen Berg. Un­sere Wege können verschieden sein. Oben auf dem Gip­fel aber treffen wir uns; und wir genießen zuletzt alle den gleichen Ausblick auf die gemeinsame, einheitliche Wel­tenharmonie. Man braucht sich nicht zum Anhänger der­jenigen zu machen, die den banalen Durchschnittsmen­schen predigen. Aber diejenigen, die da glauben, ein jeglicher von uns sei in sein eigenes individuelles Schneckenhäuschen eingesperrt, und sie müssen sich ihre Eigenart wahren, die wissen eben nicht, daß es doch nur Eine Welt gibt für alle, die aus dem Schneckenhäus­chen

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heraussehen. Es ist weise eingerichtet in der Natur, daß man sich auf unzähligen Wegen dem Gipfel nahen kann, auf dem uns die Herrlichkeiten der Welt offenbar werden; aber es ist ebenso weise, daß es nur Einen sol­chen Gipfel gibt.

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VON DER «MODERNEN SEELE»

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Von einem geistvollen Schriftsteller habe ich jüngst den Ausspruch gehört: Wenn heute ein 13uch eines der Neue­sten erscheint, dann lese ich, um mich darüber zu trösten, eines aus den guten alten Zeiten. So etwas mag zunächst paradox klingen; es mag eingegeben sein von einem Vor­urteil gegen alles Neue. Dennoch gibt es mancherlei, was auch demjenigen, der dem Neuen mit Sympathie gegen­übersteht, eine Praxis nahelegt, die mit obigem Satze nicht unzutreffend bezeichnet wird. Da sind in den letzten Monaten drei Bücher erschienen, charakteristische Sym­ptome unserer Gegenwart: «Der neue Gott», ein Aus­blick auf das kommende Jahrhundert von Julius Hart, «Die moderne Seele» von Max Messer und « Die Revo­lution der Lyrik» von Arno Holz. Es darf die Behauptung gewagt werden, daß es für den Beurteiler dieser drei Geistesleistungen von Vorteil ist, wenn er nach jeder der­selben sich in ein älteres Werk desselben Gebietes vertieft. Nach Harts « Neuem Gott» sollte man etwa Friedrich Theodor Vischers «Kritische Gänge», nach Messers « Moderner Seele» könnte man Moriz Carriéres noch nicht einmal sehr alte Abhandlung über Christus im Lichte der modernen Wissenschaft lesen, und nach Arno Holz' küh­nen Ausführungen möchte das Kapitel über Lyrik in Max Schaslers «Ästhetik» nicht schlecht bekommen. Man wird durch Vergleiche, die einem solche Praxis aufdrängt, zu manchem überraschenden Gefühle kommen.

In Julius Hart lebt zweifellos ein echter Philosophen-geist. Wer sich in sein Buch hineinliest, hat mehr Gewinn davon, als wenn er ein Dutzend dicker Werke emsig

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durchstudiert, die von den offiziellen Vertretern der philo­sophischen Wissenschaft auf den Kathedern gegenwärtig geschrieben werden. Und er hat dazu noch die Freude, bedeutsame Einsichten mit hinreißender lyrischer Diktion überliefert zu erhalten. An Vischers großen monumentalen Gedankengängen gemessen, nehmen sich aber Harts Vor­stellungen doch wie rechte Miniaturphilosopheme aus. Und dazu kommt noch eins. Bei Hart stört fast auf jeder Seite die Betonung der Bedeutung seiner Ideen. « Kurz gesagt, mein Werk ist ein Versuch, eine neue Welt­anschauung aufzustellen», das hat Hart in Hans Lands «Neuem Jahrhundert» selbst gesagt. Und dergleichen läßt er uns durch sein ganzes Buch hindurch merken. Vischer hat so etwas nie gesagt. Und doch, welche größere Per­spektiven, welche Tiefe hat der ältere Denker gegenüber dem neueren! Bei Vischer hat man das Gefühl: hier spricht sich ein Riese an Geist aus, der in jeder seiner Arbeiten aus einer ungeheuren Fülle heraus ein paar gewaltige Brocken gibt. Wir ahnen etwas Unerschöpfliches in der Persönlich­keit, die sich darlebt. Bei Hart hat man die Empfindung eines ganz respektablen Denkers, aber man vermutet nicht viel mehr, als er sagt. Ja, er reckt und dehnt die paar Ge­danken, die er hat, in die Länge und in die Breite, schreibt sie nicht bloß hin, sondern schreibt sie nochmals hin, dann nochmals wieder in etwas anderer Form, und dann faßt er das Gänze zusammen und unterstreicht es dreimal. In dem Folgenden soll das noch bewiesen werden.

Max Messer ist eine religiös fühlende Natur. Eine von denen, die gezwungen sind, sich selbst einen Weg in die Tiefen der Erkenntnis zu suchen. Man müßte ein Herz von Stein haben, wenn man nicht weich würde bei der

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Lektüre seiner «Modernen Seele». Rührend ist die darin herrschende intellektuelle Unschuld, rührend die naive Unbeholfenheit. Man hat oft das Gefühi: hier spielt ein Kind mit den zerbrechlichsten Erkenntnisaufgaben; und man sorgt sich, daß ihm die zierlichen Gedankenge£äße, die es zitternd in den Händen hält, nicht entgleiten. Man möchte dem jungen Autor das genannte Carriéresche Buch freundschaftlich in die Hand drücken, damit etwas Kraft in seinen Geist komme. Und bei all der Jugend, die sich in solchen Werken ausspricht: es liegt zugleich etwas in ihnen, das an altgewordene Geister erinnert. Es ist zuviel Kritisches, Abweisendes in den Geistesleistungen der Gegenwart. Hart sucht die alten Ideen: Idealismus und Materialismus, Geist und Materie, Gut und Böse usw. abzuweisen; Messer spricht davon, daß der Friede in den Geist nur wieder einziehen könne, wenn die Vernunft, die alles rationalisiert habe, in ihre Grenzen gewiesen werde. Es lag doch etwas Froheres, Jugendlicheres in den Gei­stern, die mit den Gegensätzen Geist und Materie, Gut und Böse frisch darauf los arbeiteten, um zu sehen, wie weit sie damit kommen, und auch in denen, die sich ihrer Vernunft lieber bedienten, als an ihr Kritik übten.

Mit Arno Holz geht es einem nun gar eigentümlich. Was er in seiner Schrift « Revolution der Lyrik» sagt, das ist so unanfechtbar wie die Wahrheiten der Elementargeometrie. Ich habe verfolgt, was von verschiedenen Seiten gegen ihn eingewendet worden ist. Ich habe immer das Gefühl ge­habt, daß seine Gegner ungefähr auf dem Standpunkte stehen, auf dem jemand steht, der einen Kampf führt gegen einen solchen, der den pythagoreischen Lehrsatz in einer neuen Formel zur Sprache bringt. Um es gleich zu sagen:

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Holz' Logik ist so fest geschürzt, so klar, daß hundert Professoren und dreihundert Privatdozenten fünfzig Kon­gresse abhalten könnten, und sie würden vergeblich nach einem Trugschiuss fahnden. Und dennoch: es ist in diesen Ausführungen etwas Ärgerliches, etwas, das einem die Schulmeistergedanken des alten Schasler angenehmer macht als diese schneidende Logik. Holz beruft sich gerne auf Lessing, ja er sagt in dem «Vorwort» seiner Schrift : « Seit Lessing hat Deutschland keinen Kritiker mehr. Es besaß keinen Taine und besitzt keinen Brandes. Die Herren heute sind nur Rezensenten.» Es ist wirklich etwas von Lessingschem Geist in Holz' Darlegungen. Wer Lessing heute einmal wirklich vornimmt, wird vielleicht über den Laokoon nicht weniger ärgerlich sein als über Holz' « Revolution der Lyrik». Hier soll auf die drei symptoma-tischen Bücher näher eingegangen werden.

Julius Hart ist der Ansicht, daß das eben abgelaufene Jahrhundert das große Sterbejahrhundert der Renaissancekultur sei, die einst an die Stelle der mittelalterlichen trat, und die unruhig hin- und herschwankte zwischen allen möglichen Gegensätzen, ohne zu einer befriedigenden Weltanschauung zu gelangen. « Seit Anbruch der Neuzeit, im ganzen Verlaufe der Renaissancekultur treten wohl in keinem Jahrhundert deutlicher als in diesem letzten die Gegensätze des Werdens und Vergehens nebeneinander hervor. Schroff prallen sie aufeinander, und wenn sich im Geistesleben des sechzehnten, siebzehnten und achtzehn­ten Jahrhunderts immer letzte große Einheiten enthüllen, so wird das unserer Zeit gerade durch seine Zersplitterung und Uneinigkeit gekennzeichnet. Alle Kräfte sondern sich und streben auseinander. Und dadurch erweist sich dieses

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Jahrhundert als echtes Jahrhundert eines großen Um­schwungs; es vollzieht sich wieder ein entscheidender Bruch zwischen zwei Welten, wie zuletzt zwischen der Welt des christlichen Mittelalters und der Wiedergeburt des griechisch-römischen Altertums. Wie damals der ganze Anschauungs-, Gedanken- und Gefühisinhalt des rein theo­logischen und theokratischen Menschen vor dem neuen Sehen zerfiel, so löst sich auch vor unseren Augen mehr und mehr die Geisteswelt der Renaissance auf. Wir er­kennen allerhand Halbheiten und Unfertigkeiten, wir sehen Widersprüche, an denen sie zugrunde geht.» Un­befriedigt fühlt sich also Hart bei einem Rückblick auf das Jahrhundert. Er sieht lauter Götzen, welche die Men­schen irreführten. « Die altruistische Sittlichkeit gipfelt in dem Satze : Unterdrücke nicht, vergewaltige niemanden, herrsche nicht! Der Stirnersche Egoist sagt : Laß dich nicht beherrschen, laß dich nicht unterdrücken und nicht vergewaltigen. Ob ihr dem einen oder dem andern Rat folgt ... es kommt dabei für euch und für die Welt genau dasselbe heraus. Laßt die toten Worte und blickt auf die Sache.» Wie aber, verehrtester Herr Hart, wenn die Worte, von denen Sie sprechen, doch auf Sachen deuteten, und es nur an Ihnen läge, daß Sie die Sachen nicht sehen, folglich die Worte für Sie tot sind. Sie machen sich die Sache etwas leicht. Sie erklären, zwar nicht kurz und bündig, aber des­halb doch nicht mit sehr inhaltvollen Worten : «Altrui­stische und egoistische Sittlichkeit stehen in voller Kampf-bereitschaft einander gegenüber. Jede möchte die andere mit Stumpf und Stiel ausrotten. Die Philosophie des Egoismus belehrt uns mit aufgehobenem Finger, daß jede altruistische Handlung nur dem Scheine nach um des

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Anderen willen, in Wahrheit aber allein zur Befriedigung des eigenen Ich geschieht. Gewiß - gewiß! Mit genau demselben Rechte läßt sich aber auch jede Tat des Egois­mus als eine altruistische Handlung deuten und erkennen! Das sollte euch doch klar genug das wahre Verhältnis ent­hüllen. Es liegen da überhaupt keine Gegensätze vor. Egoismus ist Altruismus, Altruismus ist Egoismus.» Aber merken Sie denn gar nicht, verehrtester Herr Hart, welche schlimme Philosophie Sie da treiben? Ich will Ihnen ein­mal Ihre Art zu denken auf einem anderen Gebiete zeigen, und Sie werden sehen, wie Sie sich versündigen. Denken Sie sich : jemand sagte, Bienen und Fliegen stammen beide von einem gemeinsamen Ur-Insekt ab, das sich nur in dem einen Fall so, in dem andern anders ausgebildet hat. Sieht man von den speziellen Eigenschaften der Biene und von denen der Fliege ab, so sind beide dasselbe; sie sind Insek­ten : die Biene ist eine Fliege; die Fliege ist eine Biene. Nein, mein Herr Kritiker des modernen Menschen, das geht doch nicht, daß Sie alles in einer unterschiedslosen grauen Sauce auflösen und dann dekretieren : «All die großen und ewigen Gegensätze, die euer Denken, Meinen und Fühlen zerrissen und zersplittert haben -, alle - alle sind in Wahrheit nichts als große und ewige Identitäten.» Die fortschreitende Kultur hat die Dinge und Erscheinun­gen voneinander unterschieden; sie hat klare Begriffe herausgearbeitet, durch die sie zu dem Verständnisse der Vor­gänge und Wesen kommen will. Man hat das selbstlose Handeln psychologisch analysiert, und auch das egoistische, und hat Unterschiede festgestellt. Und da alle Dinge in einem notwendigen Zusammenhange stehen, hat man auch das Verhältnis von Egoismus und Selbstlosigkeit untersucht.

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Man hat in der selbstlosesten Handlung einen Rest von Egoismus und in der egoistischsten einen Rest von Selbstlosigkeit gefunden; wie man in der Biene etwas von der Fliege und in der Fliege etwas von der Biene findet. Es ist ganz gewiß, daß man mit dem Unterscheiden, mit der Aufstellung von Gegensätzen allein nicht fortkommt; man muß das Verwandte in den Erscheinungen suchen. Aber erst muß man die Einzelheiten in klaren Umrissen vor sich haben, dann kann man auf ihr Gemeinsames los­gehen. Es ist eben notwendig, daß man in alles mit dem Lichte der Erkenntnis hineinleuchtet. Das Tageslicht ist das Element des Erkennens. Sie, Herr Hart, breiten ein nächtliches Dunkel über alle Gegensätze. Wissen Sie denn nicht, daß in der Nacht alle Kühe schwarz sind? Sie sagen : «Welt und Ich. Es sind ja nur zwei verschiedene Worte für ein und dasselbe Wesen.» Nein, mein Lieber, es sind zwei Worte für zwei ganz verschiedene Wesen, von denen man jedes einzelne für sich betrachten und dann ihre Verwandt­schaft, ihr reales Verhältnis suchen muß. Sie aber denken sich nichts Rechtes bei den Worten, und deshalb ver­schwimmt Ihnen alles in einen unbestimmten Urbrei. Nein, Sie huschen zu rasch hinweg über die inhaltsvollen Ideen, die die Jahrhunderte gezeugt haben; Sie lassen sich den Inhalt entschiüpfen und behalten die leeren Worthülsen in der Hand, und dann stellen Sie sich hin und erklären : «Nichts ist unfruchtbarer als ein Kampf um die Begriffe.» Allerdings, wenn die Begriffe die weseniosen Dinge wären, die Sie darunter verstehen, dann hätten Sie recht. Wer in «Welt und Ich» nichts weiter sieht als Sie, der mag sie immer zusammenwerfen. Aber es gibt noch andere, die sehen hinaus in die Welt der Mannigfaltigkeiten die vor

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den Sinnen ausgebreitet liegt, und die wir denkend zu be­greifen suchen; dann blicken sie in sich und nehmen etwas wahr, zu dem sie «Ich» sagen; und dann kommt ihnen die große Frage vor die Seele : welches Verhältnis besteht zwischen diesem «Ich» und jener Welt? Sie, Herr Hart, machen sich das allerdings recht bequem. « Ihr seht ein und dieselbe Sache ewig nur von zwei entgegengesetzten Seiten an.» 0 nein : wir sehen zwei Sachen : eine Welt, die uns umgibt, und ein Ich. Und wir wollen nicht mit Rede­reien den Unterschied zwischen beiden hinwegdogmatisie-ren, sondern wir wollen uns in beide Sachen vertiefen, um die reale, die wirkliche Einheit in denselben zu finden. Selbstloses und egoistisches Handeln sind nicht dasselbe. Sie beruhen auf ganz verschiedenen Gefühlsgrundlagen der Seele. Es gibt zwischen ihnen gewiß eine höhere Ein­heit, wie es zwischen Biene und Fliege eine höhere Ein­heit gibt. Ich möchte Ihnen ein Wort Hegels anführen, verehrtester Herr Hart, das Ihnen nicht bekannt zu sein scheint. Dieser Mann nennt ein Denken, nach dem «alles ein und dasselbe, auch Gut und Böse gleich sei -», ein Denken nach der schlechtesten Weise, von welchem unter Erkennenden nicht die Rede sein sollte, sondern von dem «nur ein noch barbarisches Denken bei Ideen Gebrauch machen kann». Hegel hat die Ideen von Freiheit, Recht, Pflicht, Schönheit, Wahrheit usw. klar herauszuarbeiten gesucht, so, daß eine jede von ihnen plastisch, inhaltvoll vor uns steht. Er suchte sie vor unser geistiges Auge zu stellen, wie die Blumen und die Tiere vor unserem leib­lichen Auge stehen. Und dann suchte er die ganze Mannig­faltigkeit der Ideen unseres Geistes in ein Ganzes zu bringen - die Gedanken zu gliedern, so daß sie uns wie

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eine große Harmonie erscheinen, in der jedes Einzelne auf seinem Platz seine volle Geltung hat. So stehen auch die einzelnen Blumen, die einzelnen Tiere der Wirklichkeit nebeneinander, sich selbst zur harmonischen Gänzheit und Allheit gliedernd. Was tut Julius Hart? Er erklärt von uns Menschen des neunzehnten Jahrhunderts : «Wie haben wir uns berauschen lassen vom Klange hoher Worte, wie Freiheit, Gleichheit, Schönheit, Wahrheit, von lauter Be­griffen, die in Nebel und Rauch auseinanderfließen, wenn man sie fassen und greifen, in Sinnlichkeiten und Taten umsetzen und das Leben nach ihnen ordnen will?» Nein, Vetehrtester, das liegt an Ihnen. Sie hätten es nicht nötig gehabt, sich vom Kiange der hohen Worte berauschen zu lassen. Sie hätten sich lieber in den differenzierten Inhalt, den die Denker des neunzehnten Jahrhunderts diesen Worten gegeben haben, vertiefen sollen. Es tut einem weh, sehen zu müssen, wie jemand uns die Geistesgrößen des Jahrhunderts erst zu Miniaturbildchen seiner eigenen Phantasie macht und dann ein furchtbares Gericht abhält über dieses Jahrhundert.

Welchen Geistesknirps macht Julius Hart aus Max Stirner! Dieser hat mit einer hellen Fackel in ein Gebiet geleuchtet, von dem dieser Ausleger keine Ahnung zu haben scheint. In ein Gebiet, wohin weder unsere Sinne noch unser abstraktes Denken dringen können. Er hat in ein Gebiet geleuchtet, wo wir das Höchste, das es für den Menschen gibt, nicht bloß sinniich wahrnehmen, nicht bloß begrifflich denken, wo wir es unmittelbar individuell erleben. In der Welt unseres Ich geht uns das Wesen der Dinge auf, weil wir hier in einer Sache darinnen stehen. Auch Schopenhauer hat so etwas geahnt. Deshalb hat er

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nicht in der sinnlichen Anschauung, nicht in dem Denken nach dem Ich der Dinge gesucht, sondern in dem, was wir in uns erleben. Er hat allerdings gleich beim nächsten Schritte einen Fehler gemacht. Er hat dieses Wesen durch ein Abstraktum, durch ein Allgemeines auszudrücken ge­sucht. Er hat gesagt, dieses Wesen sei der Wille. Wieviel höher steht Stirners Denken dem «Ich» gegenüber? Er wußte, daß dieses Wesen durch kein Denken zu erreichen, durch keinen Namen auszudrücken ist. Er wußte, daß es nur erlebt werden kann. Alles Denken führt nur bis zu dem Punkt, wo das Erleben des Innern anfangen muß. Es deutet auf das Ich; aber es drückt es nicht aus. Julius Hart weiß davon nichts, denn er kanzelt Stirner ab mit Worten wie : «Das Ich, welches er im Sinne hatte, ist zuletzt auch noch immer das jämmerliche, im dunkelsten Erkenntnis-wahn eingehüllte Ich des plump-naiven Realismus, das in der Übermenschphilosophie als Kaliban umherläuft, als Kaliban, lüstern nach Prosperos Zaubermantel; aber hinter ihm erhebt sich eine allerdings mehr geahnte als klar er­kannte Synthese aus dem rein idealen, absoluten Ich Fichtes und dem realen Ein-Ich des Buddha und Christus. Stirner durchschaut das wahre Wesen des Ich noch immer nicht vollständig, aber doch ahnt er seine Größe, und er schüttelt deshalb eine reiche Fülle tiefster und mächtigster Wahr­heiten über seine Leser aus. Aber dieser muß mit sehr kla­rem Kopfe durch die durcheinanderwogende Nebelwelt des gehen und selber die Scheidung der Be-griffe vornehmen, welche Stirner nicht gegeben hat. Ob­wohl auf jeder Seite das Wort Ich ein paarmal vorkommt, so geht Stirner doch niemals an eine feste und deutliche Untersuchung der Vorstellung heran und verwechselt deshalb

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öfter die Bilder, aus denen sie sich zusammensetzt.» So ist die Sache nicht. Hart verlangt eine deutliche Unter­suchung der Vorstellung «Ich» und beweist damit, daß er gar nicht ahnt, um was es sich bei Stirner handelt. Kein Name nennt das «Ich», keine Vorstellung kann es wieder­geben, kein Bild kann es abbilden; alles kann nur darauf hindeuten. Und wenn Stirner «auf jeder Seite» das Wort Ich ein paarmal gebraucht, so hat er immer ein inneres Erlebnis. Hart kann ihm das nicht nachleben und möchte eine Idee, einen Begriff, eine Vorstellung. Merkwürdig: an so vielen Stellen seines Buches mahnt uns Julius Hart, die Worte, die Begriffe doch nicht zu überschätzen, son­dern uns an die Dinge zu halten. Und bei Stirner hat er einmal Gelegenheit, Worte zu finden, die nur hindeuten sollen auf eine Sache. Und hier will er Worte, Begriffe. Aber Hart will ja gar nichts wissen von dem konkreten, geschauten, erlebten Ich in eines jeden Innern; er träumt von einem abstrakten «Welt-Ich», das ist von dem ideellen Abklatsch des menschlichen Einzel-Ichs. Er kann deshalb Stirner nicht verstehen, wie er Hegel nicht verstehen kann, weil er von einer grauen, inhaltlosen Einheit träumt, wäh­rend Hegel eine inhaltvolle Mannigfaltigkeit anstrebt. Julius Hart glaubt, das Jahrhundert zu kritisieren. Er kri­tisiert nichts weiter als den Menschen, den das Jahrhun­dert aus Julius Hart gemacht hat. Dafür kann das Jahr­hundert nichts, daß in Julius Hart so wenig von seinem Inhalte einfließen konnte.

Ich wende mich nun zu dem Nachweise, daß die «neue Weltanschauung», die Julius Hart «begründen» will, nichts, rein gar nichts enthält, als Elemente aus den von ihm als abgetan bezeichneten Weltanschauungen der Vergangenheit

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- keine neue Idee, keine neue Empfindungs-nuance, kein neues Phantasiebild.

Wir treffen in dem «Neuen Gott» lauter recht alte, gut bekannte Götter und schlagen immerwährend die Augen auf vor Verwunderung, daß Julius Hart das längst Ent­deckte so spät wieder entdeckt.

Die Empfindungen, aus denen heraus Julius Harts «Neuer Gott» geschrieben ist, erinnern an das Seelenleben Friedrich Heinrich Jacobis, von dessen Weltanschauung sich Goethe ebenso abgestoßen, wie er sich von seiner Persönlichkeit angezogen fühlte. Was aber bei Jacobi aus der Geistesverfassung seines Zeitalters heraus zu erklären ist, das ist bei Julius Hart lediglich auf einen Mangel sei­ner philosophischen Phantasie zurückzuführen. Jacobi sah die Dinge, die er seinem Gefühle nach für die höchsten, die wertvollsten halten mußte, durch die Fortschritte der Verstandeserkenntnis zerstört. Die göttlichen Wahrheiten, die religiösen Vorstellungen konnten nicht bestehen vor der Verstandesbildung, die im Zeitalter der Aufklärung in einer solchen Weise auftrat, daß an ihren Ergebnissen nicht gezweifelt werden konnte. Als das Werk einer kal­ten, nüchternen, mathematischen Notwendigkeit erschien dem Verstande alles Weltgeschehen. Was man früher für das Werk eines persönlichen, göttlichen Willens gehalten hatte, zeigte sich ganz beherrscht von ewigen, ehernen Gesetzen, an denen, nach Goethes Ausspruch, auch eine Gottheit nichts ändern könnte. Früher hatte man nach­geforscht : was wollte die unendliche Weisheit, die schaf­fende Gottheit, wenn man ein einzelnes Ding, eine ein­zelne Naturtatsache erklären wollte. Zu Jacohis Zeit be­trachtete der Verstand die Welterscheinungen wie eine

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Rechenaufgabe. Alles hängt, dieser Verstandesansicht ge-mäß, wie die Glieder einer solchen Aufgabe notwendig zusammen. Jacobi wußte nichts gegen diese Verstandes-bildung einzuwenden. Ihm war klar : das Nachdenken kann zu einer andern Ansicht über die Dinge nicht kommen. Sein Gefühl aber ließ ihm keine Ruhe. Dieses brauchte den alten Gott und die von diesem eingesetzte Weltord­nung. Deshalb erklärt er : solange wir die Welt betrachten, hat der Verstand sein gutes Recht, nach ewigen, ehernen Gesetzen zu forschen; vor den Grundwahrheiten, vor der Erkenntnis des Göttlichen muß dieser Verstand aber halt­machen; hier tritt das Gefühl, der Glaube in seine Rechte. Die Naturerkenntnis gewinnen wir durch den Verstand. Und es gibt über die Natur keine andere Ansicht als die aus der Verstandeserkenntnis ges chöpfte. Aber auf diesem Wege ist zwar eine richtige Naturerkenntnis zu erlangen, aber es ist auf ihm nimmermehr zu den höchsten, den göttlichen Wahrheiten zu gelangen. Dieser Grundsatz Jacobis war es, dem Goethe mit der größten Antipathie entgegentrat. Er hatte in der besten Zeit seines Lebens auf allen Glauben verzichtet; er hat Naturerkenntnis für die einzige Quelle der Wahrheit anerkannt; aber er war be­strebt, gerade aus dieser Erkenntnis heraus zu den höch­sten Wahrheiten vorzudringen. Für ihn war es klar, daß alles das, was eine abgelebte Zeit durch übernatürliche Offenbarung, was Jacobi auf dem Wege des Glaubens ge­winnen wollte, einzig und allein aus der Vertiefung in das ewige Leben der Natur sich ergeben müsse. Er hat seinen Gegensatz zu Jacobi treffend in einem Brief an diesen charakterisiert : «Gott hat dich mit der Metaphysik gestraft und dir einen Pfahl ins Fleisch gesetzt, mich dagegen mit

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der Physik gesegnet... Ich halte mich fest und fester an die Gottesverehrung des Atheisten (Spinoza) und über­lasse euch alles, was ihr Religion heißt und heißen müßt. Wenn du sagst, man könne an Gott nur glauben, so sage ich dir, ich halte viel aufs Schauen...» Der solches aus­gesprochen hat, fühlte das Vermögen in sich, aus der An­schauung der Natur heraus zu Wahrheiten, zu Vorstellun­gen zu gelangen, die das menschliche Erkenntnisvermögen ebenso befriedigen, wie dieses ehedem durch die gött­lichen Offenbarungswahrheiten befriedigt worden ist. Allerdings gehörte zur Gewinnung solcher Wahrheiten etwas, das Jacobi vollständig abging. Es gehörte dazu die Gäbe, über die Dinge und Erscheinungen der Natur lebensfrische, farbenvolle Vorstellungen sich bilden zu können. Wer dann, wenn er über die Natur nachdachte, nur inhaltsarme, dürre, blutleere Abstraktionen gewinnen konnte, der mußte sich von seiner Naturerkenntnis un­befriedigt fühien, und damit er aus dieser Unbefriedigung herauskam, zu dem alten Glauben wieder seine Zuflucht nehmen. In diesem Falle war Jacobi. Goethe aber hatte die Fähigkeit, sich eine Naturerkenntnis zu bilden, die an Inhaltsfülle mit den Glaubensvorstellungen konkurrieren konnte. Als er über das Wesen der Pflanzen nachdachte, da fand er dieses Wesen in der Urpflanze. Diese ist kein inhaltsleerer, abstrakter Begriff. Sie ist, wie Goethe selbst sich ausdrückte, ein sinnlich-übersinnliches Bild. Das ist voll Leben, voll Farbe, wie jedes einzelne sinnlich-wahr­nehmbare Einzelding. In Goethes Nachsinnen über die Natur waltete eben nicht bloß der abstrahierende Ver­stand, das blutleere Denken, sondern die Phantasie. Des­halb konnte Heinroth in seiner Anthropologie von Goe­thes

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Denken die Ansicht aussprechen, dies sei ein «gegen­ständliches Denken». Damit wollte er darauf hinweisen, daß dieses Denken von den Gegenständen sich nicht son­dere : daß die Gegenstände, die Anschauungen in inniger Durchdringung mit dem Denken stehen, daß Goethes Denken ein Anschauen, sein Anschauen ein Denken sei. Mit einem solchen Denken war der Gegensatz von ab­straktem Wissen und sinnlicher Wahrnehmung, von Glaube und Idee, von Wissenschaft und Kunst überwun­den. Diese Weltanschauung und das naturwissenschaft­liche Denken des neunzehnten Jahrhunderts gehören zu­sammen. Und der Forscher, der zweifellos das beste Urteil über die Aufgaben der Naturwissenschaften, über das Wesen des naturwissenschaftlichen Zeitalters hat, Ernst Haeckel, betont immer wieder scharf, daß wir in Goethe einen der Mitbegründer der modernen Weltanschauung zu verehren haben. Die Goethesche Weltanschauung ist in ihrer wahren Gestalt für Julius Hart einfach nicht vor­handen. Und er klagt das neunzehnte Jahrhundert, an des­sen Anfang diese Goethesche Anschauung gestellt ist, an, daß es nur kritische Geister hervorbrachte, die zerlegten und zerfetzten, die niederrissen; und er erwartet von dem zukünftigen, daß es Schaffende, glaubensvoile Seelen, Auf­bauende hervorbringe. Und diese aufbauende Welt­anschauung will er mit seinem «Neuen Gott» «begrün­den». Wer sich nur ein klein wenig vertieft in die Goethe­sche Vorsteliungsweise, der wird alles groß, bedeutend finden, was Julius Hart klein und unbedeutend darstellt Das neunzehnte Jahrhundert enthält eine im eminentesten Sinne aufbauende Kultur; es hat zu diesem Aufbau viel, sehr viel zusammengebracht. Julius Hart nimmt den Mund

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voll und sagt uns, daß wir ein rein Alexandrinisches Jahr­hundert, ein Jahrhundert des abstrakten Wissens, der Ge­lehrsamkeit hinter uns haben. Und dann nimmt er den Mund ebenso voll und verkündet einige allgemeine Sätze, die eine Grundlage bilden sollen für die Kultur des kom­menden Jahrhunderts, für den «Neuen Gott». Verstünde Hart nur ein wenig Goethe, verstünde er die naturwissen­schaftliche Weltanschauung, so müßte er seine allgemeinen Sätze unendlich trivial finden, als Wahrheiten, die im Lichte der Goetheschen Weltanschauung sich wie Selbst­verständlichkeiten ausnehmen. Nein, verehrtester Herr Hart, was Sie wollen, ist gar nichts Neues, es ist etwas, was erreicht werden wird, wenn der beste Inhalt der Kul­tur des neunzehnten Jahrhunderts eine naturgemäße Fort­setzung erfährt. Für die kleinen Geister, die freilich in der Mehrzahl sind, und die « Ignorabimus» nachplappern, weil sie nicht wissen, wie durch die Erkenntniswege des neun­zehnten Jahrhunderts zur Befriedigung zu kommen ist, hat Goethe und haben diejenigen, die gedacht haben wie er in seiner Jugend, vergebens nachgesonnen. Aber wenn jemand nur diese kleinen Geister sehen kann, dann darf er sich nicht hinstellen und sich als den Begründer einer neuen Weltanschauung ausposaunen, die längst begründet ist. Was Julius Hart von der «neuen Weltanschauung» weiß, das reicht gerade hin, daß er sich nun hinsetzen könnte, um die Goethesche Weltanschauung zu studieren. Er ist vorbereitet genug, um bei einem solchen Studium einige Erfolge zu erringen. Aber in solchem Vorberei­tungs stadium - eine neue Weltanschauung «begründen»! Man muß Ihnen sagen, Herr Hart, so Weltanschauungen begründen, wie Sie sie begründen, das könnte noch mancher;

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es hindert ihn aber nur der Umstand, daß er etwas mehr gelernt hat als Sie und deshalb weiß, daß Ihre Welt­anschauung längst begründet ist.

Julius Harts Seelenleben ist organisiert wie dasjenige Jacobis. Nur in einem Punkte unterscheidet sich der gegen­wärtige Denker von dem Zeitgenossen Goethes. Hart hat eine entschiedene Sehnsucht nach der Weltanschauung, die durch das in Goethe ausgebildete gegenständliche Denken zum Ausdruck gekommen ist. Er hat nur nicht das Ver­mögen, nicht die Denkerphantasie, um einen einzigen Schritt in diese Weltanschauung selbst hineinzutun. Er weiß nur von abstrakten, blutleeren Verstandesvorstellun­gen, nicht von inhaltvollen, sinnlich-übersinnlichen Ur-bildern der Dinge. Er steht mit seinen Empfindungen der abstrakten Verstandeswelt genau so gegenüber wie Jacobi. Es ist in diesen Empfindungen keine neue Nuance. Und weil er sich nach der Welt des Schauens, von der Goethe spricht, nur sehnt, in ihr nicht schaffen kann, bringt er auch zu den alten Ideen, durch die die Menschheit bisher die Welt begriffen hat, keine neue hinzu. Eine Denkphan­tasie ist in ihm nicht vorhanden. Wir suchen deshalb in seinem Buche vergebens nach so etwas, wie Goethes Phantasiebilder sind : die Urpflanze, das Urtier, das Urphänomen.

Das Schlußkapitel «Der letzte Gott» ist die unklare Auseinandersetzung eines Menschen, der eine Ahnung hat von dem, was « gegenständliches Denken» ist, dem aber jede klare Vorstellung davon fehlt, und dem vor allen Dingen vollständig das Bewußtsein abgeht, daß in Goethes Denken dasjenige in die Erscheinung tritt, was er ver­gebens sucht. Den « letzten Gott» möchte Julius Hart überwinden.

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Er versteht unter diesem Gotte die Idee von Ur­sache und Wirkung. «Warum? Das Wort mit seinem Frage­zeichen ist der große Stolz unseres menschlichen Geistes. Der Hunger nach dem Warum hat uns seit Jahrtausenden von Sieg zu Sieg, von Entdeckung zu Entdeckung, von Erfindung zu Erfindung, von Erkenntnis zu Erkenntnis geführt. Alle Götter haben wir aus ihren Wolken und Nebeln herabgerissen; in ewigen Fragen nach dem War­um sind sie so bleich und hinfallig geworden, daß sie nur noch wie Schatten durch die lebendige Welt dahinschlei­chen. Nur der Gott des Warum blieb ewig jung und neu, er trank das Blut der andern und ward immer gewaltiger und kräftiger, bis er sich in unserer Zeit als Alleinherr­scher auf den Thron setzte... Auf jedes Warum erklingt leicht, rasch und sofort ein Darum, und vor allem andern muß daher die große Kausalität als die große Lenkerin des Weltalls erscheinen. Sie gibt uns die Waffen in die Hand, durch die wir uns zu Herren über die andern Men­schen machen, indem wir ihnen beweisen, daß wir im Rechte sind, ... kraft der Gründe.»

Dieser Schilderung des Ursachenprinzipes liegt eine richtige Sehnsucht zugrunde. Das «gegenständliche Den­ken», das «Schauen» vertieft sich in den Zusammenhang der Erscheinungswelt und sucht diesen durch die Sinne und durch die Gedankenphantasie zu erkennen. Dieses Schauen bleibt innerhalb der Erscheinungswelt stehen, denn wenn es die Dinge in ihrem richtigen Verhältnisse betrachtet, so findet es in diesen selbst ihr Wesen, alles, was es sucht. Die Frage nach dem «Warum»ist noch ein Rest jener alten Weltanschauung, die das Wesen der Er­scheinungen aus etwas herleiten wollte, was hinter diesen

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Erscheinungen steckt. Der Grund soll ein Ding nach sei­ner Herkunft erklären, wie die Welt, ihrer Herkunft nach, aus Gott erklärt werden sollte. Wer die alte Weltanschau­ung des Verstandes wirklich überwunden hat, sieht daher nicht in der Zurückführung aller Fragen auf das «Warum?» die letzte Weisheit, sondern er sieht die Dinge und ihre Verhältnisse so an, wie sie sich vor seinen Sinnen und sei­ner Gedankenphantasie darstellen. Eine Ahnung davon liegt in den Worten Julius Harts : «Nur schauen könnt ihr eure Welt und sie nicht beweisen. Nichts - nichts könnt ihr beweisen. Alles Wissen ist nur ein Schauen, unmittel­bar. Und Verstand und Vernunft sind nur der Inbegriff eurer Sinnesorgane. Ihre Erkenntnis reicht nicht weiter als eure Sinne reichen. Da liegen die Grenzen eurer Mensch­lichkeit.» Alles das, was Hart dunkel ahnt, hat Goethe klar vorgestellt, als er den Satz aussprach : «Das Höchste wäre, zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Farbenerscheinungen. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.» Goethe hat seine Farbenlehre, die sich an das Faktische, das schon Theorie ist, hält, der Newtonschen entgegengestellt, die mit dem mißverstandenen Begriffe der Ursachlichkeit hantiert; und Goethe hat seine Anschauung von der Urpflanze der Lin­néschen Verstandesansicht gegenübergestellt. Goethe hat die Welt von dem Gesichtspunkte aus betrachtet, auf den Julius Hart stammelnd hinweist. Julius Hart träumt von einer Weltanschauung, in der «Ich und Welt» sich nicht mehr getrennt gegenüberstehen, sondern in einer höheren Einheit erscheinen. Goethe hat die Welt der Farbenvor­gänge vom Standpunkte einer solchen Weltanschauung

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aus behandelt. Julius Hart vergilt ihm das mit den Wor­ten: «Die Überzeugung Goethes und alter gesunden Men­schen nimmt sich unter den Strahlen des Kantsehen Auges als eine Indianervorstellung aus und ist nichts aTs die fre­che, kritiklose Behauptung eines ganz naiven rohen Re­alismus, der etwas behauptet, was sich gar nicht nachwei­sen läßt.» Ungern tue ich es, aber ich muß mit Ihren eige­nen Worten sprechen, verehrtester Herr Hart. Ihre Über­zeugung ist gegenüber der Goetheschen Weltanschauung eine «freche, kritiklose Behauptung eines ganz naiven Menschen», der ein paar Schritte in eine Weltanschauung hineingetan hat und der den Genius, der diese zu einer gewissen Vollkommenheit ausgebildet hat, heruntermacht, weil er ihn nicht versteht.

Könnte Julius Hart Goethe verstehen, so müßte er gegenüber diesem einen ähnlichen Standpunkt einnehmen, wie ich ihn in meinem Buche «Goethes Weltanschauung» einnehme. Ich habe in diesem Buche nachgewiesen, daß Goethe die Weltanschauung «begründet» hat, zu deren überflüssigem Begründer sich nunmehr Julius Hart machen will. Wer Goethe versteht, kann das Buch Harts nur als eine bodenlose Anmaßung, hervorgehend aus Unkenntnis des bisher in den großen Weltanschauungsfragen Geleiste­ten, ansehen.

Selten, vielleicht nie habe ich eine Kn.tik mit so schwe­rem Herzen geschrieben wie diese. Ich schätze Julius Hart als einen der hervorragendsten Lyriker unserer Zeit. Der Lyriker tritt auch im «Neuen Gott» zutage. Das Buch ist in bezug auf Darstellung, auf Stil, eine Musterleistung. Ich habe Julius Hart persönlich sehr lieb. Ich darf wohl gestehen, daß ich froh gewesen wäre, und zwar nicht aus

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einem Grunde, wenn ich über dieses Buch eine in jeder Beziehung zustimmende und anerkennende Besprechung hätte liefern können. Aber ich muß leider das Buch für schädlich halten. Es kann nur diejenigen in eine eitle Selbst­zufriedenheit einhüllen, welche nicht die Fähigkeit haben, sich in jene Höhen des Gedankens zu begeben, wo die Fragen, die hier in Betracht kommen, erörtert werden dür­fen. Es kann sie nur in dem Gefühle bestärken, daß mit so leichtgeschürzten Gedankenketten, wie die Hartschen es sind, wirklich etwas anzufangen ist. Zum Bedauern aller derjenigen, die Julius Hart schätzen, muß gesagt werden, daß er die Grenzen seines Vermögens leider gar nicht kennt. Ich halte meine Behauptung durchaus aufrecht, daß in Julius Hart ein echter Philosophengeist lebt. Aber er hat diesen Geist nicht so weit zur Ausbildung gebracht, daß er gegenwärtig wirklich an dem Aufbau einer Welt­anschauung mitarbeiten könnte. Es geht einmal nicht an, daß man sich zum Kritiker von Dingen aufwirft, die man nicht kennt. Julius Hart versündigt sich gegen seine eige­nen Behauptungen. Er sagt doch selbst : «Eine Wahrheit war das Ptolemäische System, eine richtige Verbindung vieler richtiger Anschauungen. Der menschliche Geist ge­wann aber noch reichere und andere Vorstellungen, und die Wahrheit des Ptolemäus verwandelte sich in die des Kopernikus. Glaubt Ihr, diese Kopernikanische Wahrheit wäre nun die letzte, die endgültige? Nur die Wahrheit von heute ist's, und die Astronomie besitzt heute schon Er­kenntnisse, die sich mit ihr nicht in Einklang bringen las­sen und einer neuen Zukunftswahrheit entgegenweisen.» Im Sinne dieses Satzes dachte ich über den «Neuen Gott», bevor ich ihn gelesen habe. Ich glaubte : alte Wahrheiten

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würden durch Julius Hart überwunden und reichere, andere an deren Stelle gesetzt. Statt dessen finde ich eine Kritik alter, reicherer und dann - alte, ärmere an deren Stelle gesetzt.

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Mit einem Gefühl des Unbehagens habe ich das Buch des jungen Max Messer «Die moderne Seele» aus der Hand gelegt. Es scheint mir, daß sich hier ein Mensch ausspricht, dessen Herz von semem Kopfe und dessen Kopf von sei­nem Herzen nicht verstanden wird. Viele Menschen be­gegnen uns in der Gegenwart, bei denen dieses der Fall ist. Es ist schwer, sich mit ihnen zu verständigen. Denn sie sind unfähig, dasjenige in sich aufzunehmen und geistig zu verarbeiten, was den inneren Einklang ihrer Seelen-kräfte wiederherstellen könnte. Was sie beklagen, ist, daß unsere Kultur in hohem Maße eine Kultur des Kopfes, des hellen, klaren, bewußten Denkens ist. Sie werden nicht müde, die Schattenseiten der Kopf kultur, der bewußten Vernünftigkeit hervorzuheben und immer wieder auf die Vorzüge des Unbewußten, der elementaren Instinkte hin­zuweisen. Der klare Denker, der durch Vernunft zur Er­kenntnis der Daseinsgeheimnisse kommen will, ist ihnen eine Verfallserscheinung, Dekadenz. Sie preisen die See­lenkräfte, die dunkel, instinktiv wirken. Wenn ihnen eine Persönlichkeit entgegentritt, die nicht im Elemente der kristallklaren Ideen wandelt, sondern die dunkle und viel­deutige Gedanken, womöglich in ein mystisches Gewand gehüllt, hervorbringt, dann schließen sie sich gerne an. Fast die ganze Anhängerschaft Nietzsches erblicke ich in

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der Schar moderner Seelen, die ich schildere. Könnte diese Anhängerschaft sich Nietzsches Gedanken, die sie nicht versteht, klar vor die Seele stellen : sie ergriffe stürmisch die Flucht vor dem Propheten, dem sie in ihrem Unverstande Hymnen singt.

Es ist einmal eine unumstößliche Tatsache, daß in dem allmählichen Fortschreiten von den unbewußten, instink­tiven Seelenzuständen zu den bewußten die Entwicklung des menschlichen Geistes besteht. Und nicht ärmer, son­dern reicher wird der Mensch, der seine Triebe, seine In­stinkte mit der Fackel des Bewußtseins zu beleuchten ver­mag. Saget es immerzu : gegenüber dem Instinkte, gegen­über dem inhaltvollen Unbewußten nehme sich der bloße, blutleere, farblose Gedanke leer, arm aus. Ihr habet un­recht. Denn es liegt an euch, daß ihr den Reichtum der Ideenwelt nicht sehen könnt. In dem Gedanken, der im hellen Bewußtsein erscheint, liegt ein Inhalt, reicher, far­benvoller als in allen instinktiven, unbewußten Elemen­ten. Ihr müßt diesen Inhalt nur sehen. Euch friert, wenn die Naturforscher euch die abstrakten Gesetze der Steine, der Pflanzen, der Tiere vorführen. Euch erstarrt das Blut, wenn der Philosoph euch seine reinen Vernunftideen über die Weltgeheimnisse mitteilt. Ihr fühlt euch dagegen wohl, wenn ihr in einem unbewußten Gefühi, in einem mysti­schen Träumen schwelgen könnt. Ihr mögt nicht heraus aus eurer Gefühlsschwelgerei. «Die schweigende Musik ist die Musik des Seienden, des Unbewußten, die Seele der Dinge. Dem Bewußten ertönt sie nicht. Sie wird vom Herzen gehört, nicht vom Verstande. Den Kindern und den Frauen ertönen alle ihre himmiischen Melodien und Stimmen, sowie den christlichen Männern, als Menschen,

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welche die Bewußtheit überwunden haben und un­bewußt geworden sind!...»

Vor mir steht die Büste eines Mannes, der ganz gelebt hat im Reiche der bewußten Idee. Aus seinen Zügen spricht zu mir das selige Entzücken des Geistes, der im Lichte waltete. Der alle Dinge in ihren vollen, frischen Farben sah, weil er das Licht der Idee auf sie fallenließ. Er lächelte nur über die Gefühlsduselei, die da glaubt, den Enthusiasmus, die Wärme für die Welterscheinungen ver­lieren zu müssen, wenn sie sich zur hellen Erkenntnis er­hebt. Er lächelte über die Schwächlinge des Geistes, die das Dunkel brauchen, um mit der Allseele der Welt füh­len zu können. Vor mir steht die Büste Hegels.

Nein, die Denker sind nicht kältere, nüchternere Natu­ren als die mystischen Schwärmer. Sie sind nur tapferer, stärker. Sie haben den Mut, bei hellem Tageslicht dem Welträtsel sich gegenüberzustellen.

Sie haben eure Furcht nicht, die euch hindert, ins Be­wußtsein heraufzuheben, was in euren Instinkten, in eurem Unbewußten lebt. Ihr kennt die Wärme nicht, die der Ge­danke ausstrahlt, weil ihr nicht den Mut, nicht die Kraft habt, euch ihm mit offenen Augen gegenüberzu stellen. Ihr seid zu feige, um in der Welt des Bewußtseins glücklich sein zu können. Oder zu kindlich, um männlich die Tages-helle zu ertragen. Ein unmännliches Buch ist Max Messers «Moderne Seele». Die Furcht vor der Klarheit hat es ge­schaffen. Aus der Unklarheit ist des Menschen Geist ge­boren. Zur Klarheit hat er sich emporgerungen. Aber wie­der soll er den Weg zurückfinden zur Unklarheit. Das ist sein Inhalt. «Allen Menschen den Leidensweg zu zeigen, zu erleichtern, alle Menschen durch die Bewußtheit wieder

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zum unbewußten Sein zu leiten, ist die Absicht Christi gewesen und derer, die da vom Übermenschen predigen.»

Diesen Weg wird die Menschheit nicht gehen. Sie wird sich nicht aufhalten lassen in dem Fortschreiten zu immer bewußteren Zuständen. Aber sie wird immer mehr die Kraft gewinnen, aus dem Bewußtsein dieselbe Befriedi­gung gewinnen zu können, die der Unentwickelte aus dem Unbewußten schöpft.

Zitternd, mit schlotternden Beinen, steht Max Messer vor dem Weltbilde, das sich im Lichte der Erkenntnis vor ihm ausbreitet. Er möchte, daß die ihm wohltuende Däm­merung sich über dasselbe breite. Besser aber wäre es, er übte geistige Turnkunst, er stärkte seine Nerven, damit er nicht mehr zittere, damit er tapfer aufrecht stehen lerne im hellen Lichte des Tages.

Dann wird er mich auch verstehen lernen, wenn ich ihm sage : besser ist die redende Musik als die schweigende; und die Natur läßt den Jüngling nicht zum Manne reifen, damit dieser trauernd zurückblicke auf die Ideale verlore­ner Jugend.

Bücher der Tageshelle sind vor allem schätzenswert. Aber man kann auch über Bücher aus der Morgendämme­rung seine Freude haben. Unsere Zeitgenossen schreiten aber gerne in die Abenddämmerung, nachdem sie den Tag über so hingeduselt haben. Unsere gegenwärtige Natur­erkenntnis ist der Tag. Max Messer duselt so hin durch sie; er schließt halb die Augen vor ihr. Er erträgt sie nicht. Man möchte ihm zurufen : Wach auf! Dann schreibe wei­ter, ebenso ehrlich wie jetzt als Duselnder.

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Arno Holz' «Revolution der Lyrik» nannte ich ein ärger­liches Buch, obgleich ich alle von dem Verfasser darin vor­gebrachten Behauptungen für so unanfechtbar halte wie die Sätze der Elementargeometrie. Ich muß von vorn­herein betonen, daß ich die neueste Phase der Holzschen Lyrik in meiner Beurteilung vollständig trenne von dem, was Holz theoretisch über die Lyrik auseinandersetzt. Auf mich machen - nicht alle, aber doch viele - der neuesten lyrischen Schöpfungen Holz' einen starken Eindruck. Und ich muß gestehen, daß ich einer dichterischen Kraft meine Bewunderung entgegenbringen muß, die auf hergebrachte bedeutsame Mittel der Form verzichtet, die alles ver­schmäht, außer dem «letzten, tiefuntersten Formprinzip» der Lyrik, und die innerhalb dieses schlichten, letzten Formprinzips solche Größe bekundet. Ich finde es durch­aus begreiflich, daß eine Persönlichkeit von so starkem Seelenleben sich angewidert fühlen kann von den sich immer wiederholenden alten Formen.

Holz' Theorie aber erscheint wie spanische Stiefel, in die seine eigene Lyrik eingeschnürt ist, und in die er im Grunde alle Lyrik einschnüren will. Er ist mit dieser spa­nischen Stiefeltheorie hervorgetreten. Darauf haben die verehrlichen deutschen Kritiker in ihrem außerordent­lichen Kunstverstand zu zeigen versucht, daß die spani­schen Stiefel schlecht sind. Holz hatte nun ein leichtes Spiel. Er hat seine «Revolution der Lyrik» geschrieben und zeigt seinen Angreifern, daß seine spanischen Stiefel tadel­los sind, daß die Ausstellungen der Kritiker töricht sind, daß sie überhaupt nichts von Stiefeln verstehen. Es ist traurig, zu sehen, welche Unsumme von Torheiten auf­gefahren worden ist, um Holz' Theorie zu widerlegen.

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Aber er hat tadellose spanische Stiefel gemacht; und an diesen ist nichts auszusetzen. Sehen wir uns die Holzsche Theorie etwas näher an. Unsere alte Lyrik bringt Emp-findungen und Vorstellungen zum Ausdruck. Dieser Aus­druck hat gewisse Formen. Diese Formen kommen zu dem Ausgedrückten hinzu; sie haben nichts mit diesem zu tun. Wenn ich ausdrücken will, daß ich im Walde stehe, rings herum Ruhe herrscht, die Vögel schweigen, und ich auch bald zur Ruhe gehen werde, so kann ich das so, wie es Goethe in dem berühmten Gedicht «Über allen Gipfeln ist Ruh» getan hat. Es ist aber kein Zweifel, daß der Rhythmus und Strophenbau etwas außer dem ausgedrück­ten Inhalt sind. Etwas, das auch anders sein könnte. Diese Form kann also nicht wesentlich für die lyrische Schöp­fung sein. Das Wesentliche ist nicht diese Außenform, sondern der innere Rhythmus dessen, was zum Ausdruck kommt. Schält man von der Lyrik alles ab, was sie im Laufe der Zeit zu dem hinzugefügt hat, was ihr wesent­lich ist, so bleibt Holz' Definition einer Urlyrik übrig : «die auf jede Musik durch Worte als Selbstzweck verzich­tet und die, rein formal, lediglich durch einen Rhythmus getragen wird, der nur durch das lebt, was durch ihn zum Ausdruck ringt.» Wer gegen diese Definition Einwände macht, weiß eben nicht, was an der Lyrik ursprünglich und was an ihr abgeleitet ist. Wenn ein Dichter bei dieser Urform der Lyrik stehenbleibt, so ist das seine Sache. Der Kritiker hat ihn nur zu begreifen, aber nicht zu schulmeistern.

So richtig aber auch die Urform der Lyrik von Holz definiert sein mag, sie darf der Wirklichkeit nicht als spa­nischer Stiefel umgeschnürt werden. Die Formen der bisherigen

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Lyrik sind ihr unwesentlich. Jawohl. Also ist es ein Unsinn, wenn man verlangt, daß sie als etwas Bleiben­des, aller Lyrik Wesentliches anerkannt werden. Was folgt daraus? Daß sie durch neue Formen ersetzt werden kön­nen. Nicht aber, daß sie abgestreift werden sollen und durch gar nichts zu ersetzen sind. Mein Rock ist mir un­wesentlich. Ich kann ihn ausziehen. So weit hat Holz zwei­fellos recht. Und es war dumm von seinen Kritikern, daß sie ihm verbieten wollten, einen alten Rock auszuziehen. Aber muß darum Holz gleich ganz splitternackt herumgehen? Ich denke, wenn man einen alten Rock ablegt, zieht man einen neuen an. So wird es mit der Entwicklung der Lyrik sein. Die alten Formen werden fallen und neue werden an ihre Stelle treten. Holz hat der alten Lyrik ihr I<1eid ausgezogen. Er läßt die Ärmste ohne Hülle herumspazieren. Die Kritiker kommen und erklären : Diese nackte Lyrik ist eine falsche. Er hat natürlich leichtes Spiel. Denn es ist einfach Unsinn, das Nackte falsch zu nennen. Aber es ist doch ein Mangel, daß Holz für die alten keine neuen Kleider finden kann. In der Wirklichkeit stellen sich die Dinge eben nicht rein mit ihrem Wesentlichen bloß; sie umkleiden sich mit allerlei Unwesentlichem. Holz hat nur die halbe Arbeit getan. Er hat das Unwesentliche von dem Wesentlichen gesondert; aber er hat nicht vermocht, ein neues Unwesentliches zu finden. Die neue Lyrik wird neben dem Wesentlichen auch Unwesentliches, neue For­men enthalten. Es hieße, sie in spanische Stiefel einschnü­ren, wenn man sie auf das Wesentliche beschränken wollte.

Als die Natur über das Affengeschlecht in weiterer Ent­wicklung zum Menschengeschlecht schritt, schuf sie eine neue Säugetierform. Der Mensch hat manches, was ihm

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als Säugetier nicht wesentlich ist. Aber die Natur ging nicht vom Affen auf das Ursäugetier zurück, um weiter­zuentwickeln. Holz tut dies Naturwidrige. Er will die Lyrik entwickeln. Das ist sein gutes Recht. Aber er geht auf die Urform der Lyrik zurück. So etwas würde die Natur nie machen. Deshalb ist seine Auffassung der Ent­wicklung eine mißverständliche. Und seine Theorie ist, trotz ihrer Unanfechtbarkeit, eine ärgerliche. Alle Theo­rie ist ärgerlich, die, zwar richtig, unanfechtbar ist, die aber, borniert, sich gegen jede Erweiterung sträubt. Sie kann nicht widerlegt werden, weil sie wahr ist. Aber es gibt neben ihrer Wahrheit noch eine weitere Wahrheit. Und das Ärgerliche besteht in dem Leugnen dieser Er­weiterung der Wahrheit. Holz mußte seine Definition der Urlyrik, die, rein formal, durch einen Rhythmus getragen wird, der nur durch das lebt, was durch ihn zum Ausdruck kommt, erweitern zu der : die neue Lyrik wird von der alten nur den Rhythmus beibehalten, der im Ausgedrück­ten liegt, dazu aber eine neue unwesentliche Form suchen, die wieder, wie die alten Formen, neben dem Ausdruck eine gewisse Musik durch Worte als Selbstzweck darstellt.

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Als Symptome für gewisse geistige Strömungen unserer Zeit habe ich die drei besprochenen Bücher bezeichnet. Diese Strömungen kann man dadurch charakterisieren, daß man ihre Träger als überflüssige Reformatoren und Revolutionäre bezeichnet. Das, was sie tun, beruht darauf, daß sie sich in das, was die Geisteskultur bisher geleistet hat, nicht genügend eingelebt haben. Hätte sich Julius

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Hart in die Weltanschauung der Guethezeit eingelebt, so hätte er seine Weltanschauung nicht «gegründet». Er hätte gewiß den Mund nicht so vuli genommen über den Sturz des Gottes der «Ursächlichkeit», wenn er in Erwägung gezogen hätte, daß viel vollkommener, ais aus seiner Welt­anschauung dies möglich ist, Schiller durch Betrachtung der Goetheschen Gesichtspunkte zu dem Satze gekommen ist: «Der Relation nach ist es das ewige Bestreben des Rationalismus, nach der Kausalität der Erscheinungen zu fragen, und alles qua Ursache und Wirkung zu verbinden; wiederum sehr löblich und nötig zur Wissenschaft, aber durch Einseitigkeit gleichfalls höchst verderblich. Ich be-ziehe mich hier auf Ihren Aufsatz selbst, der vorzüglich diesen Mißbrauch, den die Kausalbestimmung der Phäno­mene veranlaßt, rügt.» Diese Ansicht spricht Schiller am 19. Januar 1798 aus. Julius Hart spricht sie ein Jahrhun­dert später viel unvollkommener aus. Und will sich nun den Anschein geben, als reformiere er die Weltanschau­ung.

Max Messer hat noch nicht die Zeit gehabt, sich in die Gedankenwelt des neunzehnten Jahrhunderts einzuleben. Er weiß daher nichts davon, welche Befriedigung der modernen Seele aus einem solchen Einleben fließen kann. Er müßte sich sagen : vor mir liegt die Gedankenwelt; ich muß sehen, was sie dem Menschen bieten kann. Das ist ihm zu schwierig. Er kann nicht recht mit. Er möchte, daß es heute ebenso leicht sei, sich in den Bildungsgchalt der Zeit einzuleben, wie das in früheren primitiven Kul­turperioden möglich war. Aus seinem persönlichen Un­vermögen zaubert er eine Theorie hervor und - schreibt ein Buch darüber. Die Zeit hat zu viele bewußte Gedankenelemente

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in sich. Sie muß wieder mehr unbewußt wer­den. Wäre Max Messer in die Geisteswelt des Bewußtseins eingetreten, hätte er sich mehr in dieselbe versenkt, so hätte er ein anderes Buch geschrieben. Er hätte sich nicht gefragt : wie sollen wir aus dem Bewußtsein hinauskom­men, um zur Befriedigung zu gelangen? Sondern : wie ist es möglich, innerhalb der Welt des Bewußtseins diese Be­friedigung zu erreichen?

Arno Holz hat den Gedanken, daß auch das geistige Leben dem Gesetze der Entwicklung unterliegt, ergriffen und auf die Evolution der Lyrik angewendet. Er hat ihn aber zu flüchtig ergriffen. Der Idee der Evolution nach ist die Entwicklung der Säugetiere über die Affen hinaus zu den Menschen fortgeschritten. Holz tut so, als ob an die Stelle der Affen nicht Menschen getreten wären, son­dern Ur-Säugetiere. Die Lyrik wird gewiß die bisherigen Formen abstrcifen und sich auf höherer Entwicklungsstufe in neuen Formen zeigen. Aber sie kann nicht im Laufe der Entwicklung zur Urlyrik werden.

Das habe ich gegen Arno Holz' Theorie einzuwenden. Ich bekämpfe sie nicht. Ich sehe nur die Notwendigkeit ein, sie zu erweitern. Anders betrachte ich Holz, den Lyri­ker von heute. Das biogenetische Grundgesetz der Ent­wicklung sagt, daß jede höhere Organismenart im Em­bryonalzustande aufeinanderfolgend die Stadien in ver­kürzter Form durchläuft, die seine Vorfahren im Laufe langer Zeiträume als Arten durchgemacht haben. Die Lyrik entwickelt sich gewiß zu einer höheren Form. Sie durch­läuft vor ihrer Geburt in einer neuen Gestalt die früheren Gestalten in einer Art Embryonalentwicklung. Holz' Lyrik ist ein Lyrik-Embryo auf einer sehr frühen Stufe. Er soll

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sich und uns nicht einreden, daß sie ein vollentwickeltes Kind ist. Er soll zugestehen, daß sein Embryo sich weiter entwickeln muß.

Dann verstehen wir ihn und - können warten. Will er uns aber seinen Embryo als ausgetragenes Lebewesen aufschwatzen, dann müßten die Hebammen der Kritik - die Herren verachtet er als «Rezensenten» - ihn aufmerksam machen, daß er es mit einer Fehlgeburt zu tun hat.

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EIN UNBEKANNTER AUFSATZ

VON MAX STIRNER

Vorbemerkungen

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Es ist John Henry Mackays Verdienst, Max Stirner der Ver­gessenheit entrissen zu haben, in die Gedankenfaulheit und Gedankenfeigheit diesen kühnen und freien Geist fast ein halbes Jahrhundert lang haben versinken lassen. John Henry Mackays Lebensbild Stirners «Max Stirner. Sein Leben und sein Werk» (Berlin 1898, Schuster & Loeffler) und dessen Ausgabe «Max Stirners Kleinere Schriften» (ebenda) sind in dieser Zeitschrift eingehend gewürdigt worden. Mackay hat einen Teil des eigenen Lebens darauf verwendet, der Mit- und Nachwelt eine Vorstellung zu geben von der Persönlichkeit, deren Größe er zuerst er­kannt hat. Wer von der Mühe, die der Veröffentlichung Mackays vorangehen mußte, einen Begriff haben will, lese die Einleitung seines Stirner-Buches, in der er die Ge-schichte seiner zehnjährigen Arbeit (1888 - 1897) erzählt. Philosophische und unphilosophische Vielschreiber haben, seit er auf den großen Denker hingewiesen hat, die Früchte seiner Arbeit ausgebeutet, meist ohne daß sie gezeigt hät­ten, woher ihnen ihre Weisheit gekommen ist.

Ich freue mich, John Henry Mackqy die folgenden Spal­ten überreichen zu können, die einen Aufsatz Max Stirners wiedergeben, der ihm trotz aller aufgewendeten Mühe entgangen ist, und den Dr. Heinrich H. Houben gelegent­lich seiner Vorarbeiten zu einer umfassenden Arbeit über Gutzkow aufgefunden hat. Der Wieder-Abdruck sei hiermit dem Wieder-Entdecker Stirners zugeeignet.

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Der Aufsatz ist in dem von Karl Gutzkow redigierten «Telegraphfür Deutschland» Nr. 6-8 vom Januar 1842 ent­halten. Er erscheint als ein für den Entwickelungsgang dieses Denkers höchst wertvolles Dokument. Er ist eine frühere Arbeit Stirners als die von John Henry Mackay in seiner Ausgabe der «Kleineren Schriften» wiederab­gedruckten Aufsätze. Die erste Arbeit Stirners, die Mackay in diese Ausgabe aufgenommen hat, handelt über «Das unwahre Prinzip in unserer Erziehung, oder der Humanis­mus und Realismus». Sie ist in den Nummern vom 10., 12.,14. und 19.April 1842 der «Rheinischen Zeitung» erschienen. Die hier vorliegende Besprechung über Bruno Bauers «Posaune des jüngsten Gerichts» ist somit etwa drei Monate vor der ersten der von Mackay aufgefunde­nen Stirnerschen Arbeiten gedruckt. Sie kann auch nicht viel länger vorher geschrieben sein, denn Bruno Bauers anonymes Buch, auf das sie sich bezieht, die «Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel den Atheisten und Antichristen» ist 1841 erschienen. Wenn man beide Auf­sätze nacheinander liest, bemerkt man, wie rasch Stirner gerade in diesen Monaten auf seinem Gedankenwege vor­wärts geschritten ist. In dem Januar-Aufsatz zeigt sich Stirner als ein Philosoph, der noch tief in Hegelschen Ideen steckt; in der Arbeit vom April treten uns in jedem Satze die selbständigen Anschauungen entgegen, die 1844 im «Einzigen und sein Eigentum» ihre vollendete Aus­gestaltung gewonnen haben. Aus der Hegelschen Philo­sophie, die in der allgemeinen Weltvernunft den Urgrund alles Seins sieht, und das «Ich» des Einzelmenschen nur insoweit gelten läßt, als es teilnimmt und aufgeht in dieser ewigen Vernunft, muß also in diesem Zeitraum Stirner vorgeschritten

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sein zu seiner Ansicht von der Souveränität des «Ich», deren Ausbildung drei Jahre später sein Lebens­werk brachte. Aus einigen Sätzen des hier mitgeteilten Aufsatzes spricht bereits Stirners eigenste Ideenrichtung, wie aus den: «Aber die Sicherheit gegen Gott war ihnen verlorengegangen in dem Verluste ihrer selbst, und die Gottesfurcht nistete sich in den zerknirschten Gemütern ein. Sie haben sich selbst wiedergefunden und die Schauer der Furcht bezwungen; denn sie haben das Wort gefun­den, das hinfort nicht mehr zu vertilgen, das ewig ist, wie auch sie selbst noch dagegen ringen und kämpfen mö­gen, bis ein jeder es inne wird. Ein wahrhaft deutscher Mann - securus adversus deum - hat es ausgesprochen, das befreiende Wort, das Selbstgenügen, die Autarkie des freien Menschen»-; oder: «Der Deutsche erst und er allein bekundet den weltgeschichtlichen Beruf des Radikalismus> nur er allein ist radikal und er allein ist es - ohne Unrecht. So unerbittlich und rücksichtslos wie er ist keiner; denn er stürzt nicht allein die bestehende Welt, um selber stehen zu bleiben; er stürzt - sich selbst... Bei dem Deutschen ist das Vernichten Schaffen und das Zermalmen des Zeit­lichen - seine Ewigkeit.» Durch solche Sätze ist Stirners Autorschaft verbürgt, die übrigens auch dadurch feststeht, daß der Aufsatz ebenso wie die vier von Mackay wieder veröffentlichten: «Über das unwahre Prinzip unserer Er­ziehung», «Kunst und Religion», « Königsberger Skizzen von Karl Rosenkranz», «Einiges Vorläufige vom Liebes-staat» mit «Stirner» unterzeichnet ist. Der Aufsatz läßt er­kennen, daß Stirner durch die Kritik des Hegelschen All-geistes die Idee des Einzel-Ichs gewonnen hat, indem er erkannte, daß nur dem letzteren zukommen kann, was

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Hegel dem ersteren zugeschrieben hat. Wenn man dic Hegelsche Weltvernunft zum menschlichen Jch werden läßt, so wird aus der Ideenwelt Hegels diejenige Stir­ners. Diese Umwandiung hat Stirner offenbar in den er­sten Monaten des Jahres 1842 vollzogen. Der wieder­gegebene Aufsatz berechtigt dazu, diese Monate für die wichtigste Epoche in Stirners Werdegang anzusehen.

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MAX STIRNER ÜBER B. BAUERS

«POSAUNE DES JÜNGSTEN GERJCHTS»

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Was soll sich nicht alles miteinander vertragen, ausgleichen, versöhnen! An dieser Verträglichkeit und Milde haben wir lange genug gelitten, haben uns bis zum Überdruß eingebildet, daß wir im Innersten so uneinig gar nicht wären und uns nur zu verständigen brauchten, und haben die edle Zeit mit un-nützen Einigungsversuchen und Konkordaten verbracht. Aber der Fanatiker hat recht: «Wie verträgt sich Belial und Chri­stus?» Keinen Augenblick ließ der fromme Eiferer nach im rüstigen Kampfe gegen den gewitterschwangeren Geist der neuen Zeit, und kannte kein anderes Ziel als seine «Aus­rottung». Wie der Kaiser des himmlischen Reichs nur an «Vertilgung» seiner Feinde, der Engländer, denkt, so wollte auch jener von keinem anderen Kampfe wissen, als einem entscheidenden auf Leben und Tod. Wir pflegten ihn toben und wüten zu lassen und sahen in ihm nichts weiter als den -lächerlichen Fanatiker. Taten wir recht daran? Sofern der Pol­terer immer vor dem gesunden Sinn des Volkes seine Sache verliert, wenn auch der Vernünftige ihn nicht noch besonders zurechtweist, konnten wir getrost jenem Sinne das Urteil über die Bannschleuderer überlassen und folgten dieser Zuversicht auch im allgemeinen. Allein unsere Langmut wiegte uns unversehens

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in einen gefährlichen Schlummer. Das Poltern tat uns freilich nichts, hinter dem Polterer steckte aber der Gläu­bige und mit ihm die ganze Schar der Gottesfürchtigen, und - was das Schlimmste und Wunderlichste war - wir selber steckten auch dahinter. Wir waren allerdings sehr freisinhige Philosophen und ließen auf das Denken nichts kommen: das Denken war alles in allem. Wie stand es jedoch mit dem Glauben? Sollte der etwa dem Denken weichen? Bewahre! Die sonstige Freiheit des Denkens und Wissens in allen Ehren, so durfte ja doch keine Feindschaft angenommen werden zwi­schen dem Glauben und Wissen! Der Inhalt des Glaubens und der des Wissens ist der eine und selbige Inhalt, und wer den Glauben verletzte, der verstände sich selbst nicht und wäre kein wahrer Philosoph! Machte es denn nicht Hegel selbst zum «Zweck seiner religiös -philosophischen Vorlesungen, die Vernunft mit der Religion zu versöhnen» (Phil. d. Rel. II, 355); und wir, seine Jünger, sollten dem Glauben etwas ent­ziehen wollen? Das sei ferne von uns! Wisset, ihr gläubigen Herzen, daß wir ganz einverstanden sind mit euch in dem Inhalte des Glaubens, und daß wir uns nur noch die schöne Aufgabe gestellt haben, euren so verkannten und angefoch­tenen Glauben zu verteidigen. Oder zweifelt ihr etwa noch daran? Sehet zu, wie wir uns vor euch rechtfertigen, leset unsere versöhnlichen Schriften über «Glauben und Wissen» und über die «Pietät der Philosophie gegen die christliche Religion» und ein Dutzend ähnlicher, und ihr werdet kein Arg mehr haben gegen eure besten Freunde!

So stürzte sich der gutherzige, friedliche Philosoph in die Arme des Glaubens. Wer ist so rein von dieser Sünde, daß er den ersten Stein aufheben könnte gegen den armen philoso­phischen Sünder? Die somnamhule Schiafperiode voll Selbst­betrug und Täuschung war so allgemein, der Zug und Drang nach Versöhnlichkeit so durchgängig, daß nur wenige sich davon frei erhielten, und diese wenigen vielleicht ohne die wahre Berechtigung. Es war dies die Friedenszeit der Diplo­matie. Nirgends wirkliche Feindschaft und doch überall ein

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Bezwacken und Übervorteilen, ein Aufreizen und Wiederaus-gleichen, ein Aus- und Einreden, eine zuckersüße Friedlichkeit und ein freundschaftliches Mißtrauen, wie die Diplomatie die­ser Zeit, diese sinnige Kunst den Ernst des Willens durch ober­flächliche Schwänke wegzugaukeln, solche Phänomene des Selbsthetrugs und der Täuschung tausendfach in aflen Gebieten aufzutreiben verstanden hat. «Friede um jeden Preis» oder besser «Ausgleichung und Verträglichkeit um jeden Preis», das war das kümmerliche Herzenshedürfnis dieser Diplomaten. Es wäre hier der Ort, ein Liedlein zu singen von dieser Diplomatie, die unser ganzes Leben so energielos gemacht hat, daß wir noch immer im schlaftrunkenen Vertrauen um jene kunstfertigen Magnetiseure, welche unsere und ihre eigene Vernunft einlullten, herumtaumeln, wenn es nicht eben - ver­boten wäre.

Überdem aber kümmert uns hier auch nur diejenige Diplo­matie, welcher ein Buch, dessen Anzeige durch obige Be­merkungen eingeleitet werden sollte, den letzten Stoß zu ver­setzen bestimmt scheint.

«Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel den Athe­isten und Antichristen. Ein Ultimatum.»

Unter diesem Titel erscheint soeben bei Wiegand ein Schriftchen von elf Bogen, dessen Verfasser für denjenigen nicht schwer zu ermitteln ist, welcher seine letzten literari­schen Leistungen und eben daraus seinen wissenschaftlichen Standpunkt kennt.* Eine köstliche Mystifikation dieses Buch! Ein Mann der gläubigsten Gottesfurcht, dessen Herz von Groll erfüllt ist gegen die verruchte Rotte der jungen He­gellaner, geht auf den Ursprung derselben, auf Hegel selbst und dessen Lehrer zurück, und findet - 0 Schrecken! - die ganze revolutionäre Bosheit, die jetzt aus seinen lasterhaften

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* Was er in der Anrede an «seine Brüder in Christo» so motiviert: «Wir werden noch in Verborgenheit bleiben, damit es nicht scheint, als trach­teten wir nach einer andern Ehre als nach der himmlischen Krone. Wenn der Kampf, den wir bald zu beendigen hoffen, zu Ende ist, wenn die Lüge ihre Strafe erhalten bat, dann werden wir sie auch persönlich hegrüflen und auf dem Wahlplatz heiß umarmen.»

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Schülern hervorsprudelt, in dem verstockten, scheinheiligen Sünder schon vor, welcher lange für einen Hort und Schirm des Glaubens gegolten. Voll gerechten Zornes reißt er ihm die bisherigen Priestergewänder vom Leibe, setzt ihm, wie die Pfaffen zu Costnitz dem Huss, eine mit Teufeln und Flammen bemalte Papiermütze aufs kahlgeschorene Haupt und jagt den «Erzketzer» durch die Gassen der erstaunten Welt. So un­verzagt und allseitig hat noch keiner den philosophischen Jakobiner enthüllt. Es ist dies unverkennbar ein vortrefflicher Griff des Verfassers, daß er einem entschiedenen Knechte Got­tes den radikalen Angriff auf Hegel in den Mund legt. Diese Knechte haben das Verdienst, daß sie sich nie blenden ließen, sondern aus richtigem Instinkt in Hegel ihren Erzfrind und den Antichristen ihres Christus witterten. Nicht wie jene «Wohlgesinnten», die es weder mit ihrem Glauben, noch mit ihrem Wissen verderben mochten, gaben sie sich zu einem leichtgläubigen Vertrauen her, sondern in inquisitorischer Strenge behielten sie stets den Ketzer im Auge, bis sie ihn fingen. Sie ließen sich nicht täuschen, - wie denn die Dümmsten gewöhnlich die Pfiffigsten sind - und können deshalb mit Recht fordern, als die besten Kenner der «gefähr­lichen Seiten» des Hegelschen Systems gepriesen zu werden. «Du kennst den Schützen, suche keinen andern!» Das wilde Tier weiß sehr genau, daß es sich vor dem Menschen am meisten zu fürchten hat.

Hegel, der den Menschengeist zum allmächtigen Geiste er­heben wollte und erhoben hat, und seinen Schülern die Lehre eindringlich machte, daß niemand außer und über sich das Heil zu suchen habe, sondern sein eigener Heiland und Er­retter sei, machte es nie zu seinem besonderen Berufe, den Egoismus, welcher in tausendfältigen Gestalten der Befreiung des Einzelnen widerstand, aus jedem seiner Verhacke heraus­zuhauen und einen sogenannten «kleinen Krieg» zu führen. Man hat ihm diese Unterlassung auch unter der Form zum Vorwurf gemacht, daß man sein System des Mangels an aller Moral bezichtigte, womit man wohl eigentlich sagen wollte,

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es fehle ihm jene wohltuende Paränese und pädagogische Väterlichkeit, durch welche die reinen Jugendhelden gebildet werden. Der Mann, dem die Aufgabe geworden, eine ganze Welt zu stürzen durch den Aufbau einer neuen, welche der alten keinen Raum mehr läßt, soll schulmeisterlich den Jungen auf allen Schleichwegen ihrer Tücke nachlaufen und Moral predigen oder zornig an den morschen Hütten und Palästen rütteln, die ja ohnehin versinken müssen, sobald er den ganzen Himmel samt allen wohlgenährten Olympiern auf sie nieder-wirft! Das kann die kleinliche Angst der Kreatur nur wün­schen, weil es ihr selbst an dem Mute fehlt, den Wust des Lebens von sich abzuschütteln, nicht der mutige Mensch, der nur eines Wortes bedarf, des Logos, und in ihm alles hat und alles aus ihm erschafft. Weil aber der gewaltige Schöpfer des Wortes, weil der Meister sich über die Einzelheiten der Welt, deren Gesamtheit er stürzte, nur gelegentlich ausgelassen hat, weil er im göttlichen Zorn über das Ganze den Zorn über dieses und jenes weniger verriet und weniger empfand, weil er den Gott von seinem Throne schleuderte, unbekümmert darum, ob nun auch gleich die ganze Schar der Posaunen-Engel ins Nichts zerflattern werde: darum haben Einzelheiten und dieses und jenes sich wieder erhoben, und die unbeach­teten Engel stoßen aus Leibeskräften in die «Posaune des jüngsten Gerichts». So erwachte nun nach dem Tode des «Königs» eine Geschäftigkeit unter den «Kärrnern». Waren denn nicht die lieben Engelein übriggeblieben? «Die Racker sind doch gar zu appetitlich!» Einen Vergleich mit ihnen zu schließen, wäre doch gar zu herrlich. Wenn sie sich nur etwas weltlicher machen, etwas begriffsmäßiger zustutzen ließen!

Ihr schwanket hin und her, so senkt euch nieder,

Ein bißchen weltlicher bewegt die holden Glieder;

Fürwahr der Ernst steht euch recht schön.

Doch möcht' ich euch nur einmal lächeln sehn;

Das wäre mir ein ewiges Entzücken.

Ich meine so, wie wenn Verliebte blicken,

Ein Heiner Zug am Mund so ist's getan.

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Dich, langer Bursche, dich mag ich am liebsten leiden.

Die Pfaffenmiene will dich gar nicht Heiden,

So sieh mich doch ein wenig lüstern an!

Auch könntet ihr anständig - nackter gehen,

Das lange Faltenhemd ist übersittlich -

Sie wenden sich - von hinten anzusehn! -

Die Racker sind doch gar zu appetitlich! -

Das Gelüste nach dem Positiven bemächtigte sich derer, an welche das Gebot des Weltgeistes erging, Hegels Werk im einzelnen fortzusetzen, wozu dieser selbst sie ermahnte, zum Beispiel am Schlusse seiner Geschichte der Philosophie: «Ich wünsche, daß diese Geschichte der Philosophie eine Auffor­derung für sie enthalten möge, den Geist der Zeit, der in uns natürlich ist, zu ergreifen und aus seiner Natürlichkeit, das heißt Verschlossenheit, Leblosigkeit hervor an den Tag zu ziehen, und - jeder an seinem Orte - mit Bewußtsein an den Tag zu bringen.» Für sein Teil dagegen, für sich, als den Philosophen, lehnte er es ab, der Welt aus ihrer zeitlichen Not zu helfen. «Wie sich die zeitliche, empirische Gegenwart aus ihrem Zwiespalt herausfinde, wie sie sich gestalte, ist ihr zu überlassen, und ist nicht die unmittelbar praktische Sache und Angelegenheit der Philosophie.» (Philosophie der Religion II. S.356.> Er breitete den Himmel der Freiheit über ihr aus und durfte es ihr selbst nun wohl «überlassen», ob sie den trägen Blick aufwärtsrichten und so das Ihrige dazu tun wolle. An­ders verhielt es sich mit seinen Jüngern. Sie gehörten schon mit zu dieser «empirischen Gegenwart, die sich aus ihrem Zwie­spalt herauszufinden hat», und mußten ihr, die zuerst Erleuch­teten, helfen. Aber sie «quängelten» und wurden Diplomaten und Friedensvermittler. Was Hegel im großen und ganzen niedergerissen, das dachten sie im einzelnen wieder aufzubauen; denn er selbst hatte sich ja gegen das Einzelne nicht überall erklärt und war im Detail oft so dunkel wie Christus. Im Dunkeln ist gut munkeln: da läßt sich viel hineininterpre­tieren.

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Wohl uns, das finstere Jahrzehnt der diplomatischen Bar­barei ist vorüber. Es hatte sein Gutes und war - unver­meidlich. Wir mußten uns selbst erst abklären und die ganze Schwäche des Alten in uns aufnehmen, um es so als unser Eigentum und unser eigenes Selbst recht energisch - ver­achten zu lernen. Aus dem Schlammbade der Erniedrigung, worin wir mit der Unreinigkeit der Stabilität jeder Art besu­delt werden, steigen wir gestärkt hervor und rufen neu-belebt: Zerrissen sei das Band zwischen euch und uns! Krieg auf Tod und Leben! - Wer jetzt noch diplomatisch vermitteln, wer noch immer den «Frieden um jeden Preis» will, der sehe sich vor, daß er nicht zwischen die Schwerter der Fechtenden gerate und ein blutiges Opfer seiner «wohlmeinenden» Halb­heit werde. Die Zeit der Aussöhnung und der Sophistik gegen andere und uns selbst ist vorüber.

Der Posaunist stößt den vollen Schlachtruf in seine Posaune des jüngsten Gerichts. Er wird noch an so manches schläfrige Ohr schlagen, worin er gellt, aber nicht weckt; es wird noch mancher meinen, er könne hinter der Front bleiben; noch mancher wird wähnen, es werde nur unnützer Lärm gemacht, und man gebe für Kriegsruf aus, was ein Friedenswort sei: aber es hilft nichts mehr. Wenn die Welt in Waffen steht gegen Gott, und der brüllende Donner der Schlacht gegen den Olympier selbst und seine Heerscharen losbricht: dann können nur die Toten schlafen; die Lebendigen ergreifen Partei. Wir wollen keine Vermittlung, keine Ausgleichung, kein diploma­tisches «Quängeln» mehr, wollen die Gottlosen sein Stirn ge­gen Stirn solchen Gottesfürchtigen, wollen wissen lassen, wie wir miteinander daran sind. Und hierin, ich wiederhole es, in dieser Entschiedenheit der Feindschaft gebührt den gottes­fürchtigen Zeloten der Vorrang; sie haben aus richtigem In­stinkte nie Freundschaft geschlossen. Unter einer geschickteren und zugleich gerechteren Form konnte daher die Enthüllung der Erzketzerei Hegels nicht eingeleitet werden, als es der Ver­fasser getan hat, indem er im gläubigen Zelotismus die Po­saune des Weltgerichts ertönen läßt. Sie wollen keinen Vergleich

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«der Biiligkeit», sie wollen den «Vernichtungskrieg». Dies Recht soll ihnen werden.

Was können aber - und mit dieser Frage gedenken wir in das Buch selbst hineinzukommen - die Gottesfürchtigen an Hegel Arges finden? Die Gottesfürchtigen? Wer droht ihnen mehr den Untergang, als der Vernichter der Furcht? Ja, Hegel ist der wahre Verkünder und Schöpfer der Tapferkeit, vor der die feigen Herzen erzittern. Securi adversus homines, securi adversus Deos, so schildert Tacitus die alten Deutschen. Aber die Sicherheit gegen Gott war ihnen verlorengegangen in dem Verluste ihrer selbst, und die Gottesfurcht nistete sich in den zerknirschten Gemütern ein. Sie haben endlich sich selbst wie­dergefunden und die Schauer der Furcht bezwungen; denn sie haben das Wort gefunden, das hinfort nicht mehr zu vertilgen, das ewig ist, wie auch sie selbst noch dagegen ringen und kämpfen mögen, bis ein jeder es inne wird. Ein wahrhaft deutscher Mann - securus adversus Deum - hat es ausgespro­chen, das befreiende Wort, das Selbstgenügen, die Autarkie des freien Menschen. Von vielen Arten der Furcht und des Respektes sind wir bereits durch die Franzosen, die zuerst die Idee der Freiheit mit weltgeschichtlichem Nachdruck verkün­deten, erlöst worden, und haben sie in das Nichts der Lächer­lichkeit hinabsinken sehen. Sind sie aber nicht von neuem wie­der aufgetaucht mit den scheußlichen Schlangenhäuptern, und verdüstert nicht hundertfache Angst noch stets das kühne Selbstvertrauen? Das Heil, welches uns die Franzosen brach­ten, war so wenig gründlich und unerschütterlich, als das­jenige, welches einst aus Böhmen her im Hussitischen Sturme die Flammenzeichen der späteren deutschen Reformation gab. Der Deutsche erst und er allein bekundet den weltgeschicht-liehen Beruf des Radikalismus; nur er allein ist radikal, und er allein ist es - ohne Unrecht. So unerbittlich und rück­sichtslos wie er ist keiner; denn er stürzt nicht allein die bestehende Welt, um selber stehen zu bleiben; er stürzt - sich selbst. Wo der Deutsche umreißt, da muß ein Gott fallen und eine Welt vergehen. Bei dem Deutschen ist das Vernichten -

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Schaffen und das Zermalmen des Zeitlichen - seine Ewigkeit. Hier ist allein keine Furcht und kein Verzagen mehr: er ver­scheucht nicht bloß die Gespensterfurcht und diese und jene Art der Ehrfurcht, er rottet alle und jede Furcht aus, die Ehr­furcht selber und die Gottesfurcht. Flüchtet euch nur, ihr ängst­lichen Seelen, aus der Gottesfurcht in die Gottesliebe, wofür ihr in eurer Sprache und folglich auch in eurem Volksbewußt­sein nicht eintnal ein rechtes Wort habt: er leidet auf eure Bitte nicht mehr, denn er macht euren Gott zur Leiche, und eure Liebe verwandelt er dadurch in Abscheu.

In diesem Sinne schmettert dann auch die «Posaune» und enthält unter alttestamentlichen Formeln und Stoßseufzern die wahre Tendenz des Hegeischen Systems, damit «die modernen Bedenken, Transaktionen und ängstlichen Kreuz- und Quer-züge, die immer noch auf der Voraussetzung beruhen, daß der Irrtum und die Wahrheit vermittelt werden können, ein Ende nehmen.» «Hinweg», rief der gegen alles Denken zorn-erfüllte Posaunist, «hinweg mit dieser Vermittlungswut, mit dieser sentimentalen Gallerte, mit dieser Schelm- und Lügen-welt: nur das eine ist wahr, und wenn das eine und das andere zusammengestellt werden, so fällt das andere von selbst ins Nichts. Kommt uns nicht mit dieser ängstlichen, weltklugen Zaghaftigkeit der Schleiermacherschen Schule und der posi­tiven Philosophie; hinweg mit dieser Blödigkeit, die nur des­halb vermitteln will, weil sie den Irrtum noch innerlich liebt und nicht den Mut hat, ihn aus dem Herzen zu reißen. Reißt sie euch aus und werft sie hinweg, diese doppelgespaltene, hin- und herfahrende, schmeichelnde und vermittelnde Schlan­genzunge; aufrichtig und eines und lauter sei euer Mund, euer Herz und Gemüt und so weiter.» Hinweg also mit der zähen und geistlähmenden, wenn auch geistreichen Diplomatie!

Der Posaunist, ein rechter Knecht Gottes, wie er sein soll, verschmäht seines bewegungslosen Gottes so gewiß, wie der Türke seines Allah, jeden Beistand gegen den Gotteslästerer Hegel, außerdem der Frommen. Dieser Abweichung ist die Vorrede gewidmet, in der zuerst die «älteren Hegelianer »

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mit den Worten begrüßt werden: «sie hätten imHer das Wort der Versöhnung im Munde gehabt, aber Otterngift war unter ihren Lippen». Nun soll ihnen «der Spiegel des Systems vor­gehalten werden, und sie werden, ein Goschel, Henning, Gabler, Rosenkranz und so weiter verpflichtet, zu antworten, weil sie es ihrer - Regierung schuldig sind. Es ist die Zeit gekommen, da ferneres Schweigen ein Verbrechen ist». Auch «eine philo­sophische Schule» hat sich gebildet, welche eine «christliche und positive Philosophie» schaffen und Hegel philosophisch widerlegen wollte, allein sie hat auch nur das eigene Ich lieb gehabt, sie hat sich selbst gegen die Grundlagen der christ­lichen Wahrheit vergangen, und außerdem hat sie unter den Gläubigen so wenig als unter den Ungläubigen Erfolg und Wirkung gehabt. Wenn wir jammern und die Regierungen sich nach dem Arzte umsehen, hat sich da einer der Positiven als Arzt gefunden, haben die Regierungen einem von ihnen die Kur anvertraut? Nein! Anderer Männer bedarf es! Ein Krum-macher, ein Hävernick, Hengstenberg, ein Harleß haben sich vor den Riß stellen müssen! Eine dritte Klasse von Gegnern der Hegelschen Philosophie, die Schleiermacherianer, werden endlich gleichfalls desavouiert. «Sie sind selbst noch den Lockungen des Bösen ausgesetzt, da sie es lieben, den Schein hervorzubringen, als seien sie selbst Philosophen. Und doch können sie nicht einmal den weltlichen Neidern Ptoben dieser Bilder vorhalten. Ihnen gilt das Wort: ich weiß deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist. Ach, daß du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien mit meinem Munde.» Ihr Eifer für «kirchliches Leben» wird vom Posaunisten zwar anerkannt, er ist ihm aber doch nicht «ernst, gründlich, umfassend und eifrig genug», und sie haben auch Bruno Bauer (die evangel. Lan­deskirche Preußens und die Wissenschaft) nichts entgegen-gestellt, was seine lästernden Behauptungen umstoßen konnte (S. 30). Schließlich wird Leos, des Mannes gedacht, «der zuerst den Mut hatte, gegen diese gottlose Philosophie aufzutreten, sie förmlich anzuklagen und die christlich gesinnten Regierun­gen

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auf die dringende Gefahr aufmerksam zu machen, welche von dieser Philosophie aus dem Staat, der Kirche und aller Sittlichkeit droht». Aber auch er wird getadelt, weil er nicht unnachsichtig genug verfuhr, und weil auch seine Werke noch mit «einigem weltlichen Sauerteig durchdrungen sind», was ihm mit vieler Spitzfindigkeit nachgewiesen wird. Den Schluß machen, wie billig, psalmodische Bannflüche gegen die Gott­losen.

Der «Eingang» eröffnet uns nun die eigentliche Absicht des grimmigen Mannes. «Die Stunde hat geschlagen, daß der ärgste, der stolzeste, der letzte Feind des Herrn zu Boden ge­stürzt wird. Dieser Feind aber ist auch der gefährlichste. Die Weischen - jenes Volk des Antichrists - hatten mit scham­loser Öffentlichkeit, bei hellem Tage, auf dem Markte, an­gesichts der Sonne, die nie einen solchen Frevel gesehen hat, und vor den Augen des christlichen Europa den Herrn der Ewigkeit zum Nichtsein herabgestoflen, wie sie den Gesalbten Gottes mordeten, sie hatten mit der Metze, der Vernunft, abgöttischen Ehebruch getrieben; aber Europa, voll von hei­ligem Eifer, erwürgte den Greuel und verband sich zu einem heiligen Bunde, um den Antichristen in Fesseln zu schlagen und dem wahren Herrn seine ewigen Altäre wieder aufzurich­ten. Da kam - nein! - da berief, da hegte und pflegte, da beschützte, da ehrte und besoldete man den Feind, den man draußen besiegt hatte, in einem Manne, welcher stärker war als das französische Volk, einem Manne, welcher die Dekrete jenes höllischen Konvents wieder zur Gesetzeskraft erhob, ihnen neue, festere Grundlagen gab und unter dem ein­schmeichelnden, besonders für die deutsche Jugend verfüh­rerischen Titel der Philosophie Eingang verschaffte. Man he-rief Hegel und machte ihn zum Mittelpunkt der Universität Berlin. - Man glaubte nun nicht, daß die Rotte, mit welcher der christliche Staat in unseren Tagen zu kämpfen hat, ein anderes Prinzip verfolgt und andere Lehren bekennt, als der Meister des Trugs aufgestellt hat. Es ist wahr, die jüngere Schule ist von der älteren, welche der Meister gesammelt hat,

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bedeutend unterschieden: sie hat Scham und allen göttlichen Gehalt weggeworfen, sie bekämpft offen und ohne Rückhalt Staat und Kirche, das Zeichen des Kreuzes wirft sie um, wie sie den Thron erschüttern will - alles Gesinnungen und Höllen-taten, deren die ältere Schule nicht fähig schien. Allein es scheint nur so, oder es war vielleicht nur zufällige Befangen­heit und Beschränktheit, wenn die früheren Schüler sich bis zu dieser teuflischen Energie nicht erhoben: im Grunde und in der Sache, das heißt wenn wir auf das Prinzip und die eigent­liche Lehre des Meisters zurückgehen, haben die Späteren nichts neues aufgestellt, sie haben vielmehr nur den durch­sichtigen Schleier, in welchen der Meister zuweilen seine Be­hauptungen hüllte, hinweggenommen und die Blöße des Sy­stems - schamlos genug! - aufgedeckt.»

Es läge uns nun ob, auf die Anklage des Hegelschen Systems, den eigentlichen Inhalt des Buches, näher einzugehen. Indes­sen ist dieser gerade so beschaffen, daß er dem Leser unver-kümmert und nicht in eine Rezension verzettelt, vor Augen kommen muß, und überdem wissen wir daran nichts weiter auszusetzen, als daß dem Gedächtnis des Verfassers nicht alle brauchbaren Stellen der Hegelschen Werke zu Gebote gestan­den zu haben scheinen. Da inzwischen, wie Seite 163 ange­kündigt wird, dieser Schrift noch eine zweite Abteilung folgt, die zeigen soll, «wie Hegel von vornherein aus der inneren Dialektik und Entwickelung des Selbstbewußtseins die Reli­gion als ein besonderes Phänomen desselben entstehen läßt» und in welcher zugleich «Hegeis Haß gegen die religiöse und christliche Kunst und seine Auflösung aller positiven Staats-gesetze dargestellt werden wird»: so ist ja die Gelegenheit noch völlig offen, das etwa Versäumte nachzuholen. So möge sich der Leser - und wer an den Fragen der Zeit ein leben­diges Interesse nimmt, der darf dieses Buch nicht unbeachtet lassen - damit begnügen, eine Übersicht der 13 Kapitel zu er­halten. 1. Das religiöse Verhältnis als Substantialitäts-Verhält­nis. Der Posaunist behauptet nämlich, Hegel habe «über sein Werk der Zerstörung eine zweifache Hülle gezogen», deren

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eine darin bestehe, daß er unzähligemal von Gott spreche und es fast immer scheine, als verstehe er unter Gott jenen leben­digen Gott, der da war, ehe die Welt war und so weiter, durch eine zweite Hülle errege er den Schein, daß die Religion in der Form des Substantialitäts-Verhältnisses und als die Dialektik gefaßt wird, in welcher sich der individuelle Geist dem All­gemeinen, welches als Substanz oder - wie es noch öfter heißt -als absolute Idee über ihn Gewalt hat, hingibt, aufopfert, ihm seine besondere Einzelheit preisgibt und sich so mit ihm in Einheit setzt. Diesem gefährlicheren Scheine haben sich die kräf­tigeren Geister (Strauß und so weiter) gefangen gegeben. «Aber», heißt es endlich, «gefährlicher als dieser Schein ist die Sache selbst, die jedem kundigen und offenen Auge, wenn es sich nur einigermaßen anstrengt, sogleich entgegentritt: die­jenige Auffassung der Religion, nach welcher das religiöse Ver­hältnis nichts als ein inneres Verhältnis des Selbstbewußtseins zu sich selber ist, und alle jene Mächte, die als Substanz oder als absolute Idee von dem Selbstbewußtsein noch unterschie­den zu sein scheinen, nichts als die eigenen in der religiösen Vorstellung nur objektivierten Momente desselben sind». Hier­nach ist der Inhalt des ersten Kapitels evident. - 2. Das Ge­spenst des Weltgeistes. 3. Haß gegen Gott. 4. Haß gegen das Bestehende. 5. Bewunderung der Franzosen und Verachtung gegen die Deutschen. Dies widerspricht dem Lobe nicht, das wir oben den Deutschen erteilten, so wenig als etwa die von dem Verfasser übersehene Stelle, Geschichte der Philosophie III, S.328. 6. Zerstörung der Religion. 7. Haß gegen das Judentum. 8. Vorliebe für die Griechen. 9. Haß gegen die Kirche. 10. Verachtung der heiligen Schrift und der heiligen Geschichte. 11. Die Religion als Produkt des Selbstbewußt­seins. 12. Auflösung des Christentums. - Haß gegen gründ­liche Gelehrsamkeit und das Lateinschreiben. (Eine, wie der Posaunist meint, komische Beigabe.)

Die angekündigte zweite Abteilung, für welche dem Ver­fasser ganz besonders die Hilfe eines umfangreichen Gedächt­nisses zu wünschen ist, da es ihm an der sonstigen Begabung

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nicht fehlt, soli nach ihrem Erscheinen sogleich besprochen und dann vielleicht auch einiges aus der vorliegenden nach­getragen werden.

Warum wir, dies kann schließlich noch gefragt werden, dieses Buch so getrost für eine Mummerei nehmen? Darum, weil nie ein Gottesfürchtiger so frei und intemgent sein kann, wie der Verfasser es ist. «Wer sich nicht selbst zum besten haben kann, ist wahrscheinlich keiner von den Besten!»

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ERNST GEORGY: «DIE ERLÖSERIN»

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Vor einiger Zeit brachte ich in diesen Blättern eine Be­sprechung des bedeutenden Buches «Idole» aus der Feder det Wiener Schriftstellerin Rosa Mayreder. Jn diesem Kunstwerk wird die abstoßende Wirkung geschildert, wel­che ein junges Mädchen durch eine Weltanschauung er-fährt, die das Verhältnis von Mann und Weib nicht nach den Leidenschaften der Seele, sondern nach dem ver­standesmäßigen, nüchternen Prinzip der Rassenverbesse­rung bestimmen will. Die künftige Generation soll, nach einer solchen Ansicht, maßgebend sein für die Verbin­dung der Geschlechter. Der Doktor Lamaris in den «Idolen» will, daß ein Mann nur mit einem solchen Weibe die Ehe eingehe, das ihm eine gesunde, starke Nach­kommenschaft verspricht. Das Mädchen, das im Mittel­punkt der Mayrederschen Erzählung steht, verabscheut eine solche Lebensauffassung, die alle Bedürfnisse der menschlichen Seele unter den Gesichtspunkt der Rassen-hygiene rückt.

Es ist nun interessant, daß fast gleichzeitig mit dieser Erzählung eine andere mit ähnlichem Thema erschienen ist. In ihr wird zur Hauptperson ein Weib gemacht, das durch seine Lebenserfahrung zu dem Gesichtspunkte ge­kommen ist, den jener Doktor Lamaris aus seinen wissen­schaftlichen Überzeugungen heraus gebildet hat. Man hat also ganz das Gegenbild des Weibes, das Rosa Mayreder geschildert hat.

Helene hat sich in einen Komponisten verliebt und ihn geheiratet, weil der Sturm der Leidenschaft sie dazu ge­trieben hat. Sie hat ihm ein Kind geboren, ein krankes,

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zum Leben untaugliches, idiotisches Kind. Der Mann ist der Frau bald mit einer russischen Gräfin untreu ge­worden. Er endet die zerrütteten Verhältnisse, in die ihn sein Leben gebracht hat, mit Selbstmord. Die junge Witwe lebt zunächst in völliger Zurückgezogenheit. Alle Vor­stellungskreise, die sich in ihr ausbilden, stehen unter der Wirkung, die die unglückliche Ehe und das Dasein des idiotischen Kindes auf sie machen. Immer mehr bildet sich bei ihr die Überzeugung aus, daß ein sozialer Zustand, der solch idiotische Wesen aufpäppelt, ein verwerflicher sei. Solange sie glauben kann, daß die medizinische Kunst noch imstande sein werde, das Kind zu Verstand zu brin­gen, hat die Witwe noch einige Hoffnung. Immer mehr aber wird diese Hoffnung zerstört. Und als sie nach eini­ger Zeit den wiederfindet, der sie einst geliebt und den sie um des Komponisten willen aufgegeben hat, da tritt zugleich die grausige Gewißheit vor ihre Seele, daß das Kind unheilbar ist, daß nie ein Funke von Menschlich­keit aus dessen blöden, tierischen Augen hervorleuchten werde. Der Mann, den sie verlassen, hat ihr die Liebe bewahrt. Sie steht vor der zweiten Heirat. Seine Gesin­nung und Weltauffas sung können ihr Bürgschaft sein, daß sie in einem neuen Lebenskreise ein Glück finden werde. Da wird sie zur Mörderin ihres Kindes. Sie muß den Mord ihres Kindes als Pflicht betrachten. Denn es kann nur eine gute Handlung sein, durch die ein Geschöpf aus der Welt befördert wird, das nicht verdient, ein Mensch genannt zu werden. Dem liebenden Manne aber wird die Ehe mit einer Frau von solcher Lebensführung zur Un­möglichkeit. Er verläßt die Geliebte und sucht Vergessen im fernen Japan, wo sich ihm ein Wirkungskreis bietet -

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weit weg von dem Orte, an dem er es erlebt hat, daß ein Weib, an das ihn so viele Bande der Seele fesseln, zu solch für ihn verabscheuungswürdiger Tat fähig ist.

Noch ein anderer Mann wird dieser jungen Witwe ge­genübergestellt. Auch er fühlt sich stark zu ihr hinge­zogen. Aber auch er reißt alle Brücken zwischen sich und dem von ihm verehrten Weibe ab, als er von ihrer Tat Kenntnis erhält. Sein Verstand muß sogar diese Tat billi­gen. Aber sein Herz läßt es nicht zu, mit ihr zusammen durch das Leben zu gehen.

Wenn man Ernst Georgys Erzählung mit den allerdings künstierisch ungleich reiferen «Idolen» Rosa Mayreders zusammenhält, so enthüllt sich uns in beiden Kunstwer­ken ein charakteristisches Symptom unserer Zeit. Es ist merkwürdig, daß in beiden Fällen ein Arzt den so un­gleich gearteten Frauen gegenübersteht. Das eine Mal ist die Weltanschauung, welche die Pflicht gegen die Nach­kommenschaft zum Prinzip der Lebensführung macht, durch den Mann vertreten, und bei diesem ein Ergebnis seiner wissenschaftlichen Grundanschauungen. Das an­dere Mal tritt uns dieselbe Anschauung durch ein Weib re­präsentiert entgegen, das durch ihre Erlebnisse auf sie geführt worden ist.

Es ist etwas in den sittlichen Grundtrieben unserer Zeit, das mächtig zu einer solchen Lebensführung hin­drängt. Zweifellos aber gibt es Elemente in der Men­schennatur, die ihr deutliches «Nein» zu solchen An­schauungen sagen. Der Arzt, der sich durch seinen Bil­dungsgrad am intimsten mit den physischen Zusammen­hängen des Lebens zu befassen hat, wird am leichtesten zu diesem Gesichtspunkt gebracht. Das Weib, das die

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Leitmotive des Lebens in den Tiefen des Gemütsiebens sucht, wird am leichtesten von ihm abgestoßen werden. Das Leben muß grausam mit der Frau umgehen, wenn es sie doch zu ihm führt. Ernst Georgy schildert ein solch grausames Leben. Und der Autor macht zugleich aus dem Charakter des dargestellten Weibes heraus dessen Hand­lungsweise in hohem Grade glaubhaft. Durch eine un­barmherzige Logik der Tatsachen, aber auch durch eine scharf ausgebildete Neigung zu allem Wohlgebildeten, Ge­sunden, zu allen Vollkommenheiten, wird Helene zur Kindesmörderin. Welche Mächte in der menschlichen Seele den ethischen Anschauungen widersprechen, die sich bei ihr ausgebildet haben, das zeigt uns Georgy gerade an dem Arzte, dessen humaner Charakter sich von diesem Weibe abwenden muß. Es sind dieselben Mächte, die in dem Mädchen der «Idole» wirksam sind, und die es von Doktor Lamaris' Grundsätzen zurückprallen läßt.

Es ist deutlich sichtbar, wie in unserer Zeit sich die Augen aller für das Anschauen des Lebens wirklich öffnen. Denn Hand in Hand mit einem solchen unbe­fangenen Anschauen muß die Wahrnehmung der Gegen­sätze des Daseins gehen. Ein Verhältnis zur Welt, wie zum Beispiel das christliche, wird eine künstliche Aus-gleichung dieser Gegensätze suchen. Es erbaut ein ideales Reich der Harmonie über dem realen Reich der Gegen­sätze. Aber nicht in der Harmonie, sondern in diesen Gegensätzen selbst spielt sich das Leben ab. Und wer eine ein für allemal gültige harmonische Idealwelt als Oberbau des Lebens errichten will, der hüllt die Menschheit in einen täuschenden Nebel ein. Denn das Leben kann seine Gegensätze nicht auf einmal überwinden; es ist vielmehr

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selbst ein fortdauetnder, nie endender Überwindungsver-such, und die Gegensätze treten sogleich immer wieder auf, wenn sie scheinbar überwunden sind.

Ernst Georgys Erzählung ist in diesem Sinne ein Er­gebnis der neuen Weltauffassung. Christentum und Huma­nitätsideal treten der auf Erlösung der Welt von allem Lebensunfähigen gerichteten Anschauung einer Frau ge­genüber. Wer diesem Kampfe zweier Lebensgegensätze, die tief im Wesen der modernen Seele wurzeln, Jnteresse abgewinnen kann, wird das Buch mit Spannung lesen.

#TI

ZU CARL HAUPTMANNS <(TAGEBUCH»

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Aus einer Protesrversammlung gegen die «Lex Heinze» war ich gekommen. Ich hatte eine Reihe von Reden ge­hört - vortreffliche Reden - gegen diese wüsteste Aus-geburt einer reaktionären Gesinnung. Es ist ein äußerst peinliches Gefühl, das der Mensch, der wirklich in den Fragen und Zweifeln der Gegenwart lebt, aus solchen Versammlungen heimbringt. Die Urteile, die da aus­gesprochen werden, sind für solche Gegenwartsmenschen etwas so selbstverständliches, daß man immer die Emp­findung hat: die Männer, die da sprechen, steigen tief herab, indem sie solches aussprechen. Die intellektuelle Erbärmlichkeit der Persönlichkeiten, die diese Urteile herausfordern, ist so groß, daß man seine Seele mit Schmutz zu beladen glaubt, wenn man sie ernsthaft wider­legt. Nach dem Besuche einer solchen Versammlung also

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war's, als ich das «Tagebuch» Gar! Hauptmanns zur Hand nahm. Mir trat da so recht vor die Seele, wie ungeheuer die Kluft ist zwischen dem Kampf, den eine widerwärtige Zeitströmung uns aufdrängt, und den Ideen und Emp­findungen, die unsere Besten beschäftigen, wenn sie mit sich allein sind. Denn von solchen Ideen und Empfindun­gen gibt uns dies Buch Kunde. Einer von denen ist Carl Hauptmann, die den großen Problemen nachgehen, an denen sich Friedrich Nietzsches edle Seele verblutet hat. Ein Buch, das die Höhenluft der Gegenwartskultur aus­strömt. Nichts erscheint mir verkehrter, als eine «Rezen­sion» im gewöhnlichen Sinne des Wortes über ein solches Buch zu schreiben. Jedes Urteil über Einzelnes, ja auch über das Ganze muß aufhören, wenn die Persönlichkeit aus solchen Tiefen ihrer Seele sich uns gibt. Man kann nur sagen, was eine solche Persönlichkeit in der eigenen Seele des Lesers auslöst. Ich sage daher nichts über das Buch. Ich möchte aber ein paar Gedanken hierhersetzen, die mir oft durch den Kopf gehen, und an die ich nach der Lektüre dieses «Tagebuches» besonders lebhaft wieder erinnert werde.

Eine Elite der Gebildeten arbeitet heute an einer Neu­gestaltung unserer Lebensanschauung, sowohl in bezug auf Wissenschaft, wie auf Religion und Kunst. Jeder tut das Seine dazu. Was dabei herauskommt, das wird be­stimmend für unser Handeln werden. Die Pflege des Wis­sens, der Wahrheit, der künstlerischen Anschauungen kann der Inhalt gemeinsamer Bestrebungen sein. Sie wird dann von selbst eine in vielen Dingen gemeinsame Ethik zur Folge haben. Lege jeder offen dar, was er weiß, bringe er auf den öffentlichen Plan das, was er geleistet hat; kurz,

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lebe er sich nach jeder Richtung hin aus: dann wird er der Gesamtheit mehr sein, als wenn er mit der Prätention vor sie hintritt, ihr sagen zu können, wie sie sich verhalten soll. Viele unserer Zeitgenossen haben das Gerede über das, was wir tun und lassen sollen, endlich satt. Sie verlangen nach Einsicht in das Weltgetriebe. Wenn sie die haben, dann wissen sie auch, wie sie sich in der von ihnen er­kannten Welt zu verhalten haben. Und wer diese Einsicht nicht hat und dennoch mit seinen guten Lehren für unser Handeln an sie herantritt, der gilt ihnen als Moralsophist. Unsere Aufgabe innerhalb der Menschheit ergibt sich ein­fach aus unserer Erkenntnis des Wesens desjenigen Teiles derselben, zu dem wir gehören. Für denjenigen, der die Wahrheit dieser Sätze erkennt, für den gelten Bestrebun­gen, die auf eine gemeinsame Ethik abzielen, als unmodern und rückständig. Wir haben ganz andere Dinge zu tun, als darüber nach­zudenken, wie wir uns zu den alten Religionen verhalten sollen. Unser ganzes Leben ist aus diesem Grunde in einer Übergangsperiode, weil unsere alten Anschauungen dem modernen Bewußtsein nicht mehr genügen. Wir kranken wieder an den großen Erkenntnisfragen und an den höch­sten Kunstproblemen. Das Alte ist morsch geworden. Und wenn sie gefunden sein wird, die große Lösung, an die viele Menschen für einige Zeit werden glauben können, wenn es da sein wird, das neue Evangelium, dann wird, wie immer in diesem Falle, auch die neue Sitte als not­wendige Konsequenz von selbst entstehen. Neue Welt­anschauungen zeitigen ganz von selbst neue Sittenlehren. Eine neue Wahrheit ist immer auch die Schöpferin einer neuen Moral. Volkspädagogen, die viel für unser Herz,

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nichts aber für unseren Kopf haben, können wir nicht brauchen. Das Herz folgt dem Kopfe, wenn der letztere nur eine bestimmte Richtung hat.

In unserer Zeit mit den vorwiegend praktischen, mate­riellen Tendenzen ist eine gewisse Schlaffheit in bezug auf Erkenntnisfragen eingerissen. Das lebhafte Interesse für Fragen des Erkennens und der Wahrheit ist bei vielen er­storben. Es ist ihnen daher bequem, auf dem Ruhebett einer allgemein menschlichen Sittenlehre es sich bequem machen zu können. Woran sie denken, darin hemmt sie die schablonenhafte Moral nicht. Sie kennen nicht die Qualen des Denkers, nicht die des Künstlers. Wenigstens die nicht, welche heute so gern an der Verbesserung unserer ethischen Kultur mitarbeiten möchten. Wer ideelles Leben in sich hat, wer im Geistigen vorwärts will, für den muß die Bahn frei und offen liegen, nicht verlegt sein durch sittliche Vorschriften und volkserzieherische Maßnahmen. Es muß, um ein oft gebrauchtes Wort zu wiederholen, jeder nach seiner Façon selig werden können. Nicht allein die aus reaktionären Köpfen entspringenden Versittli­chungsideen sind uns heute im Wege, sondern auch die Moralbestrebungen der sogenannten «Liberalen».

Goethe sagte, er wolle von liberalen Ideen nichts wissen, nur Gesinnungen und Empfindungen könnten liberal sein. Ein eingeschworener Liberaler war, als ich ihm einmal diese Anschauung des großen Dichters zitierte, bald mit seinem Urteile fertig: sie sei eben eine der mancherlei Schwachheiten, die Goethe an sich gehabt habe. Mir kommt sie aber vor wie eine der vielen Ansichten, die Goethe mit allen auf geistigem Gebiete energisch sich be­tätigenden Menschen gemein hat: das tücksichtslose Eintreten

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für das als wahr Erkannte und Durchschaute, das sich zugleich verbindet mit der höchsten Achtung der fremden Individualität. Nur wer selbst etwas ist, kann auch den andern erkennen, der gleichfalls etwas bedeutet. Der Durchschnittsmensch, der alles und deshalb nichts sein will, verlangt ebensolche Nichtse neben seinem eige­nen. Wer selbst nach der Schablone lebt, möchte auch die andern danach gestalten. Deshalb haben alle Menschen, die etwas zu sagen haben, auch Interesse für die andern. Die aber, die eigentiich gar nichts zu sagen haben, die sprechen von Toleranz und Liberalismus. Sie meinen da­mit aber nichts weiter, als daß ein allgemeines Heim für alles Unbedeutende und Flache geschaffen werden soll. Sie sollen dabei nur nicht auf die rechnen, die Aufgaben in der Welt haben. Für diese ist es verletzend, wenn man ihnen zumutet, sich unter das Joch irgendeiner Allgemeinheit zu beugen; sei es das einer allgemeinen Kunstnorm oder das einer allgemeinen Sittlichkeit. Sie wollen frei sein, freie Bewegung ihrer Individualität haben. In der Ab­lehnung jeglicher Norm besteht geradezu der Hauptgrund-zug des modernen Bewußtseins. Kants Grundsatz: Lehe so, daß die Maxime deines Handelns allgemein-geltend werden kann, ist abgetan. An seine Stelle muß der treten: Lebe so, wie es deinem innern Wesen am besten ent­spricht; lebe dich ganz, restlos aus. Gerade dann, wenn ein jeder der Gesamtheit das gibt, was ihr kein anderer, sondern nur er geben kann, dann leistet er das meiste für sie. Kants Grundsatz aber fordert die Leistung dessen, was alle gleichmäßig können. Wer ein rechter Mensch ist, den interessiert das jedoch nicht. Für einen «freien Kopf» der Gegenwart, der in diesem Sinne denkt, ist ein Buch wie das

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von Carl Hauptmann eine reizvolle Lektüre, ein Buch, an das er nicht glauben soll, sondern durch das er eine Persönlichkeit anschauen soll.

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ANSELM HEINE: «AUF DER SCHWELLE»

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«Sei dir selbst treu» ist eine oft erhobene sittliche Forde­rung. Es scheint sich mit ihr zu verhalten wie mit vielen anderen sittlichen Forderungen. Sie können nicht bestehen vor dem prüfenden Blicke des Psychologen. Die Men­schenseele geht ihre Wege, gelenkt von den großen ewigen Gesetzen des natürlichen Alls, wie die Blume wächst, ohne sich um Ethik oder moralische Ideen zu kümmern. Der eine bleibt «sich treu». Man nennt ihn gerne einen Men­schen von Charakter, von Grundsätzen. Der Seelenkenner lächelt darüber. Er weiß, daß die Starrheit unabänderlicher Gesetze, nicht freier Wille es ist, was den Menschen an der Schwelle umkehren läßt, wo er vom alten zu einem neuen Lebensweg gelangen könnte. Ein anderer wird von den Moralisten charakterlos, wankelmütig, ohne «inneren Halt» gescholten. Wieder lächelt der Psychologe. Ihn interessiert nicht die nackte Tatsache der Wandlung, ihm genügt es nicht, zu wissen, daß «dieser Mensch seiner Natur untreu geworden ist». Er forscht nach den Grün­den, die den Wandel bewirkt haben.

Bei solchem Forschen erscheint uns zumeist das, was man «Einheit des Bewußtseins» nennt, als ein sehr frag­würdiges Ding. Viel öfter als man vermuten möchte, be­wahrheitet sich der Faustsche Ausspruch: Zwei Seelen

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wohnen ach in meiner Brust! Und gar nicht selten sind die Augenblicke im Leben, in denen diese zwei Seelen ihre bedeutungsvollen Kämpfe führen, jene Kämpfe, die dem menschlichen Dasein seine geheimnisvolle Signatur auf­drücken. Was wir sind, ist meist das Ergebnis eines solchen Kampfes. Wenn ich einem Menschen begegne und sein Gesicht zu mir sprechen lasse, dann glaube ich zumeist ein Doppelantlitz zu sehen. Das eine trägt die Züge des Daseins, das der Mensch wirklich lebt, und verborgen lugen aus diesen Zügen andere hervor: eine zweite Phy­siognomie. Sie spricht von einem anderen Ich. Von einem, das dem Menschen im Kampfe des Lebens verlorengegan-gen ist, das er niedergekämpft hat auf den Schwellen, an denen sich die wichtigen Daseinsschlachten abspielen. Oder auch von einem solchen, das unterdrückt geblieben ist, das nur wie eine leise Erinnerung an das spricht, was der Mensch auch hätte werden können.

Gering nur ist oft der Überschuß, den eine der beiden Kräfte über die andere erlangt, auf jener Schwelle, wo die eine Macht uns vorwärtsdrängt in neue Gebiete oder zu­rückstößt in die alte Lebenssphäre. Hart stößt an diesem Punkte der Zufall mit der ewigen Notwendigkeit zusam­men. In diesem Zusammenstoß aber liegt das Leben. Ein ewiger Widerspruch. Es hat so kommen müssen, sagt der Anhänger der unbedingten Notwendigkeit. Und wer dürfte ihm Unrecht geben? Und wenn es doch anders gekommen wäre, dann käme dieser Anhänger der unbedingten Not­wendigkeit und zeigte ebenso, daß es so hat kommen müssen. Alles muß kommen, wie es kommt. Alles kann auch anders kommen, als es kommt. Das Rätsel des Lebens läßt sich begreifen, aber das Dasein gibt um seiner Begreif­lichkeit

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willen seine Freiheit nicht auf. Wenn der Mensch «auf der Schwelle» steht, da tritt der ewige Gegensatz an ihn heran: der Zufall, der Notwendigkeit, die Notwen­digkeit, die Zufall ist. Diese Weisheit steht mir höher, die den «Zufall» verehrt, als diejenige, die einer ewigen Vor­sehung nachsinnt. Eine ewige Vorsehung könnten wir zur Not bei jedem einzelnen ihrer Schritte begreifen. Der Zu­fall läßt etwas zu unserer Verwunderung übrig. Er allein verleiht dem Leben sein Geheimnisvolles.

Von den Geheimnissen «auf der Schwelle» des Lebens erzählen die Skizzen von Anselm Heine. Vielgestaltig ist das Problem, das in allen diesen Erzählungen zu uns spricht. Das Mädchen, dem die modernen Anschauungen die soziale Freiheit geben, sich selbst seinen Lebensweg zu suchen, und das in Zwiespalt kommt mit den vererbten Empfindungen, die die gesellschaftiiche Gebundenheit in es gelegt hat, wird uns geschildert. Von dem Manne wird uns gesprochen, der glücklich mit dem Weibe werden könnte, das er liebt, wenn er das Vorurteil überwinden könnte, daß nicht das Weib die Persönlichkeit sein dürfe, die durch ihren Erwerb die materielle Basis des Lebens liefert. Einen Mann lernen wir kennen, der von übereifri­gen Freunden seinem Lebens kreise entzogen, in die Künst­lerlaufbahn hineingezogen werden soll, der aber «auf der Schwelle» umkehrt, weil seine ursprüngliche Natur durch-schlägt. Zehn Erzählungen mit diesem Problem treten vor uns. Anselm Heine suchte mit feinstem psychologischem Takt die dünnen Fäden, an denen «auf der Schwelle» die wichtigen Entscheidungen hängen. Wie trifft doch die Stelle ins Schwarze, wo das Schicksal der Mädchen ge­schildert wird, denen die neuen sozialen Anschauungen

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die Freiheit gegeben haben, und die eine alte Erbschaft noch mit dem Gefühl des Abhängigsein-Müssens behaftet hat? « Schutzlos stehen sie dann im ungewohnten Anhauch des Lebens, bis sich die bescheidene Schönheit ihres We­sens verkrümmt und verhärtet zur Unform. Sehnsüchtig schleichen sie an den Außenmauern ihres Gefängnisses vor­bei, ob einer Mitleid härte, sie wieder hineinließe in die alte Anspruchslosigkeit, aber umsonst, denn es gibt für sie einen Zwang zur Freiheit - in dem neuen Gewissen der andern. - Man hat ihnen die Türen geöffnet - nun sind sie zur Freiheit verurteilt. - Jawohl, hinaus. Unerbittlich hinausgestoßen, auch die Zärtlichen, die zu ihrem Wohle der Abhängigkeit bedürfen.»

Tief ergreifend ist die Erzählung «Fräulein Bertha». Hier ist es nicht ein zweites Ich, das dem ersten den Über­gang über «die Schwelle» unmöglich macht; hier ist es die physische Natur, die der geistigen den Übergang ver­rammelt. Bertha ist eine im echtesten Sinne geborene Schauspielerin. Ein häßlicher Buckel zwingt sie, ihr für die Kunst der Bühne geschaffenes Genie an ein trostloses Dasein als dramatische Lehrerin zu vergeuden. Die unter romantischen Umständen erfolgte flüchtige Bekanntschaft mit einem bedeutenden Schauspieler läßt sie für einen kur­zen Augenblick ein unnennbares Glück empfinden, ein Glück, das sie das ganze Dasein hindurch begleiten müßte, wenn ihre schöne Seele in einem schönen Körper wohnte. Aus ihrem Munde hören wir den Ausdruck für ihre heiß­verlangende und zugleich resignierte Glücksempfindung: «Grau und eintönig wären mir meine Tage versickert, wie die von tausend anderen! Da aber kam die Sehnsucht -und dann kam die Liebe - dann kam der Schmerz - und

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das alles zusammen ist Glück!» - Sie ist eine Märtyrerin des Talentes, eine «Heldin der Entsagung».

In Anselm Heines Stil lebt sich voll das Bedeutungsvolle der Probleme aus. Eine vielsagende Einfachheit zeichnet diesen Stil aus und eine Ruhe, die zeigt, daß der Autor mit seinen Fragen und Zweifeln fertig geworden ist. Er steht ihnen mit der sicheren Empfindung des Besitzers gegenüber, der die Stadien des Aneignens lange hinter sich hat. Ich möchte nur eine kleine Probe dieses Stils geben. Franziska Grothus, die dadurch über «die Schwelle» geschritten ist, daß ihr Musiklehrer die Liebesleidenschaft bis zur Raserei geweckt, wird in ihrem Sein vor dem in­haltsschweren Augenblick geschildert: «Sie ist die Toch­ter eines Regierungsbeamten. Ihre Eltern machten in der Provinz ein Haus, in dem Juristen, Offiziere und hier und da ein weltmännischerer Gelehrter verkehrten, so daß sich für die heranwachsenden Töchter leicht im nächsten Kreise der passende Lebensgefährte fand. Mitten in dieser nor­malen Welt nun hatte sich etwas Unnormales entwickelt, nämlich Franziskas Gesangsstimme, die in ihrer Schönheit und Fülle ein Phänomen darstellte. Die Eltern, denen alles Außergewöhnliche ein Greuel war, konnten sich lange nicht entschließen, den Verpffichtungen nachzukommen, die das unerbetene Feengeschenk ihnen auferlegte. Erst als Franziska zwanzig Jahre alt geworden war, ohne sich verlobt zu haben, brachte man sie nach der Hauptstadt; denn nun sollte sie ausgebildet werden, richtig ausgebildet von einer Kapazität, wie sie am eigenen Orte nicht zu haben war. Ob die Tochter später wirklich heraustrete, konnte man ja immer noch entscheiden. Jedenfalls wurde sie einem achtbaren Familienpensionat anvertraut und fuhr

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täglich zum Unterricht hinaus nach der idyllischen Cot­tage, die Meister Felix Viktor Grell mit seiner kleinen Familie bewohnte.»

Völlig süß vor Reife: dies ist das Wort, das ich auf die­sen Stil wie überhaupt auf Anselm Heines ganze Erzäh­lungskunst anwenden möchte. Man hat es mit einer vor­nehmen Künstiernatur zu tun, die uns den Sturm des Lebens nur in der abgeklärten Ruhe der dichterischen Kontemplation schauen läßt.

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CLARA VIEBIG: «DAS WEJBERDORF»

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Was man in den beiden letzten Romanen von Glara Viebig «Dilettanten des Lebens» und «Es lebe die Kunst» ver­missen mußte, namentiich nachdem man sie in ihren bei­den vortrefflichen Dramen «Barbara Holzer» und «Pha­risäer» in hohem Maße bei ihr schätzen gelernt hatte: die Kunst eindringlicher Charakteristik - in der neuesten Er­zählung «Das Weiberdorf» tritt sie wieder prächtig zu­tage. Ein Auge, das die derben Linien der Wirklichkeit scharf aus den Dingen herausfindet und sie mit einer ge­wissen behaglichen Breite zu einer wenig ausgearbeiteten, aber doch das Wesentliche festhaltenden Zeichnung ver­wender. Es scheint hier eine Kunst vorzuliegen, die zur Erfassung der Charaktere differenzierter Menschen zu derb ist, die aber gerade den undifferenzierten Wesen die Grund­eigenschaften ihres Wesens abzusehen vermag. Jn der Ge­meinde Eifelschmitt sind die Weiber fast das ganze Jahr hindurch allein. Nur zu Weihnachten und um das Peter-

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und Paul-Fest herum kommen die Männer heim aus den Rheinischen Fabrikstädten, wo sie den Erwerb suchen, den sie in der armen Heimat nicht finden können. Außer ein paar alten Männern, unreifen Jungen und dem Pastor ist von der männlichen Hälfte der Menschheit nur noch Peter Miffert, das «Pittchen», im Ort vorhanden. Peter will nicht hinausziehen in die Welt, denn «wozu» sich schinden und plagen. Er will sein Pläsiet haben in dieser Welt, denn auf das Vertrösten mit einer anderen, bessern läßt er sich nicht ein. Soviele Weiber und ein Mann! Da ist denn genug Möglichkeit vorhanden zum Hervorbre­chen natürlichster Instinkte, da tobt und würet das un-differenzierte Triebleben. Der Leser selbst lebt sich wie der arme Peter Miffert durch eine dicke Atmosphäre schwüler Sinnlichkeit hindurch. Es gibt da Szenen, in denen die Darstellung des Anschaulichen wahre Triumphe feiert. «Pittchen» muß zum Falschmünzer werden, um sich in dem seltsamen Amazonenstaat zu halten. Ein Stück menschlicher Wildheit tritt vor unseren Augen auf. Unter­halb von Gut und Böse führen hier die Leidenschaften einen natürlichen Kampf auf. Und mit edier Naivität, in unschuldiger Nacktheit werden sie geschildert, die stür­mischen Leidenschaften, mit einer Kraft, die mit jedem Ausgreifen eine plastische Gestalt hinstellt.

Wackere Laura Marholm! Du kannst lachen! Jedes der wilden Weiber in Eifelschmitt ist ein lebendiger Beweis für deine viel angefeindete Theorie: des Weibes Inhalt ist der Mann. Durch das Experiment, dieses Zaubermittel der modernen Weltanschauung, ist deine Theorie bewiesen. Und Clara Viebig ist eine meisterliche Schilderin dieses

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Experimentes, das die Kulturentwicklung der Gegenwart selbst angestellt hat.

Während der arme Peter von dem Büttel hinweg­geschleppt wird, damit er büße für seine Falschmünzerei, zu der ihn das Weib getrieben, kommt es aus sämtlichen Weiberkehlen: « Sie sein doo!» Die Mannsleut nämlich kehren wieder heim. «Das waren nicht der Weiber viele mehr, das war nur ein Weib noch - das Weib. Jählings wandte es sich, alles vergessend, und stürzte in rasendem Lauf dem Mann entgegen!»

Aber ich will damit dem interessanten Buche nicht die geringste Tendenzmacherei nachsagen. Nein, wahrlich nicht. Aus einer Theorie heraus ist diese naive Erzählung nicht geschrieben. Aus der reinen, herzlichen Freude an der Natur und den Menschen ist es hervorgegangen. Und dem Leser teilt sich auf jeder Seite diese anspruchslose Freude mit. Ein offenes Auge und ein heiterer Sinn, keine raffinierte Künstierschaft, sprechen da zu uns. Es erzählt jemand, den die Höhenluft des Geistes nicht stört, die uns stündlich so gründliche Atembeschwerden macht.

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LUDWIG JACOBOWSKI

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Eine der merkwürdigsten Schilderungen der eigenen Seele hat der im Jahre 1887 gestorbene englische Dichter Richard Jefferies in seinem Buche «The story of my heart» geliefert. Wie kann ich alle Eindrücke, alle Erfah­rungen so in mir verarbeiten, daß die Kräfte meiner Seele

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in einem fortwährenden Wachstum begriffen sind? Wie kann ich alle Schmerzen, alle Freuden des Daseins in meinem Innern so umsetzen, daß das Leben meines Gei­stes ein immer reicheres wird? Unter dem Eindruck die­ser Fragen hat Jefferies den größten Teil seines Lebens verbracht. Wer Ludwig Jacobowskis Dichterlauf bahn ver­folgt, wird finden, daß in ihr ein ähnlicher Grundtrieb zu bemerken ist. Von seinem ersten Auftreten an, mit der Gedichtsammlung «Aus bewegten Stunden» (1889) bis zu seinen letzten Werken, «Loki. Roman eines Gottes» (1898) und «Leuchtende Tage, Neue Gedichte» (1900), ist in der Entwickelung ein leidenschaftliches Ringen nach Steigerung seiner Seelenkräfte, nach Wachstum sei­nes inneren Lebens wahrzunehmen. Goethe sagte einmal zu Eckermann: «In der Poesie ist nur das wahrhaft Große und Reine förderlich, was wiederum wie eine zweite Natur dasteht und uns entweder zu sich herauf-hebt oder uns verschmäht.» Bald heraufgehoben, bald ver­schmäht fühlte sich Jacobowski, als er in seinem zwanzig­sten Lebensjahre die ersten Gedichte veröffentlichte. «Kontraste» heißt der Untertitel dieser Sammlung. Miß­klänge tönen aus dem Grunde seiner Seele herauf; ängst­lich mißt er seine Kraft an den erträumten Idealen. Er ist keine von den Persönlichkeiten, welche als bloße Be­trachter die Weltereignisse auf sich wirken lassen> wie wenn sie selbst nicht daran beteiligt wären. Von seinem ureigensten persönlichen Schicksal aus stellt sich ihm das­jenige der ganzen Menschheit dar. Die Erlebnisse seines Gemütes werden ihm zu Symbolen der großen Kämpfe, welche die Menschheit kämpft, um die Gegensätze des Lebens auszugleichen.

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Aus den Schinetzen und Entbehrungen seiner Gefühls-weit erwuchs Jacobowski die Tapferkeit des Willens, die ihn dazu führte, in der Überwindung einen besonderen Genuß des Lebens zu empfinden. Rechte Stiefkinder des Daseins stellt uns der Dichter in seinem Roman «Werther der Jude» (1892) und in seinem Drama «Diyab, der Narr» (1895) dar. In ähnlichen Lebensiagen sind Leo Wolff, der jüdische Student, welcher im Mittelpunkt der Romanhandiung steht, und Diyab, der Sohn des Scheikhs; verschieden aber sind die Stärken der Willenskräfte, mit denen die Natur sie ausgestattet hat. Bei Wolff steht einem zartempfindenden Herzen ein schwacher, bei Diyab ein energischer Wille gegenüber. Das macht jenen zum Unter­liegenden, diesen zum Sieger. Man wird die psycholo­gische Beobachtungskunst Ludwig Jacobowskis nur dann richtig würdigen, wenn man beobachtet, daß es ihm dar­auf ankommt, zu zeigen, welchen Einfluß das Leben auf die Willensaniagen des Menschen macht. Wolff weiß der Welt nur sein idealistisches Empfinden, sein hochsinniges Gemüt gegenüberzustellen; er wird von ihrem Räderwerk zermalmt. Diyab ist Willensmensch. Jn dem Maße, in dem sein Herz verletzt wird, gewinnt sein Wille an Kraft.

Unter den ethischen Anschauungen des Vaters und un­ter den Vorurteilen, die sich gegen den jungen Juden richten, leidet Wolff. Des Vaters Geldspekulationen brin­gen den Lehrer des Sohnes, den dieser innig verehrt, um sein Vermögen. Die Leidenschaft, die ihn zu der Frau dieses Lehrers erfaßt, macht Wolff zum Betrüger an dem väterlichen Freunde. Zugleich wirkt sie zerstörend auf sein schönes Liebesverhältnis zu dem Kinde aus dem Volke, das im freiwilligen Tod Erlösung sucht von den Qualen,

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die ihr die Neigung zu dem Studenten gebracht hat. Die Willenskraft des jungen Mannes ist nicht stark genug, um ihm einen Weg zu weisen durch die gegensätzlichen Strömungen, in die ihn das Leben versetzt, durch die Wirrungen, in die ihn seine Leidenschaften geworfen haben. Ein echt humaner Geist entfremdet ihn den Men­schen, an die natürliche Bande ihn fesseln; zugleich lasten diese natürlichen Bande wie ein Bleigewicht an seinem Leben. Durch Abstammung und Geistesrichtung ist er von der Welt zurückgestoßen und auf sich selbst gewie­sen; aber in der Vereinsamung seiner Seele findet er nicht die Energie, sein Verhältnis zum Leben von sich aus zu gestalten.

Was ein starker Wille in dieser Richtung vermag, das hat Jacobowski in «Diyab, der Narr» dargestellt. Der Sohn des Scheikhs ist ein Ausgestoßener, weil eine weiße Mutter ihn geboren hat. Er ist dem Hohn seiner ganzen Umge­bung preisgegeben. Ihn aber trifft dieser Spott nicht. Denn er ist denen überlegen, die ihn verspotten. Sie wissen nichts von seinem innersten Selbst. Das verbirgt er ihnen und spielt den Narren. In dieser Maske mögen sie ihn verhöhnen. Sein eigenes Selbst aber wächst draußen in der Einsamkeit, wo die Palmen stehen. Da liegt er zwischen Gräsern tief im Walde, nur sich selbst lebend. Da drau­ßen pflegt er seine Kräfte zu der Stärke, durch die er spä­ter der Retter des ganzen Stammes wird, als diejenigen vor der Feindesmacht zurückschrecken, die ihn beschimpften. Der Willensstarke setzte die Narrenmaske auf um Herr seines Geschickes zu sein. Hinter dieser Narrenmaske aber reifte die Persönlichkeit heran, die Rache nimmt für die schmachvolle Behandlung, die ihr und ihrer Mutter zuteil

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geworden ist, die sich durch Kühnheit und Kraft den Thron des Scheikias und die Geliebte erobert.

Diesem Ideengang der beiden Werke ist die künstleri­sche Ausführung durchaus ebenbürtig. Ein offenes Augc und einen umfassenden Sinn hat Ludwig Jacobowski für die großen Fragen des Daseins. Er weiß nicht allein die individuellen Schicksale des Einzelwesens zu gestalten, sondern auch die großen Zusammenhänge der Kulturent­wickelung künstlerisch darzustellen. In «Werther, der Jude» drückt das Erlebnis des jungen Juden zugleich symbolisch eine große geschichtliche Entwickelungsphase eines Volkes aus. Der Einzelne ist der Repräsentant des sich ve4üngenden Judentums, das sich aus den Vorurtei­len und ererbten Gewohnheiten eines Stammes zu einer allgemeinmenschlichen Weltauffassung durchkämpft.

Diese symbolisierende Kunst Jacobowskis tritt uns be­sonders in einzelnen Erzählungen der Sammlung «Satan lachte und andere Geschichten» (1898) entgegen. Die erste Skizze «Satan lachte» stellt dar, wie Gott dem Teufel da­durch die Herrschaft über die Erde nimmt, daß er den Menschen, seinen Knecht, erschafft, wie aber der Teufel sich doch seinen Einfluß sichert. Er fängt das Weib in seine Netze ein. In wenigen charakteristischen Strichen wird hier symbolisch angedeutet, welche dämonischen Mächte in dem Geschlechtsleben des Menschen verbor­gen liegen. An den kleinen Erzählungen dieser Sammlung kann man gewahr werden, wie sprechend ein Künstler das Leben mit wenigen Linien darstellen kann, wenn diese Linien die charakteristischen sind.

Seinen Höhepunkt hat dieser symbolische Stil Jaco­bowskis in seinem Buche «Loki. Roman eines Gottes»

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erreicht. Die beiden Mächte, die in jeder Menschenbrust einen unaufhörlichen Kampf führen, personifiziert der Dichter hier in den kämpfrnden Göttern. Güte, Liebe, Geduld, Milde und Schönheit stehen auf der einen Seite; Haß, Trotz auf der andern. Maeterlinck hat das schöne Wort ausgesprochen, der Mensch sei in allen seinen Teilen ein mystischer Mitschuldiger höherer, göttlicher Wesen. Diese Wesen sucht Jacobowski in den Gefühlstiefen der menschlichen Natur auf und schildert den Kampf, den sie ewig miteinander führen und dessen Schauplatz unsre Seele ist. Der Mensch hat eine Macht in sich, die ihn nicht zur Ruhe kommen läßt. Wenn er den Frieden ge­funden zu haben glaubt, wenn er Ordnung in sein Dasein gebracht zu haben meint, dann erscheint diese Macht plötzlich und stört Frieden und Ordnung, um Neues an die Stelle des Alten zu setzen und zu erinnern, daß nur in immerwährendem Werden das wahre Wesen der Welt bestehen kann. Es ist wahr, daß innerhalb des Friedens und der Ordnung die guten menschlichen Eigenschaften gedeihen; es ist aber ebenso wahr, daß das alte Gute von Zeit zu Zeit zerstört werden muß. So erscheint die eigent­lich vorwärtstreibende Kraft der Welt wie das Böse, wel­ches das Gute aus seinem Besitze verdrängt. Das Schöp­ferische erscheint dadurch als ein unwillkommener Ein­dringling in das Dasein. Jacobowski hat es in der Gestalt Lokis den Asen gegenübergestellt. Fern von Walhall hat eine Asin diesen Gott geboren. Schreckliche Erscheinun­gen künden den andern Göttern seinen Eintritt in die Welt an. Man kennt die Mutter nicht und auch nicht den Vater. Er ist ein Kind der Göttersünde. Dieses Kind wächst unter Schmerzen und Entbehrungen heran. Die

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Asinnen milihandeln es und geben ihm Gletschermilch, Wolfsschaum und Uhufleisch zur Nahrung. Dieses in einer Sphäre des Leidens erwachsene Wesen hat vor allen an­dern Göttern eines voraus: die Weisheit. Loki schaut die Zukunft der anderen Götter. In diesem Zuge des «Götter-romans» ist in symbolischer Weise die Zusammengehönrig­keit des Leidens mit der Erkenntnis ausgesprochen. Die Asen leben im Glücke, sie kümmern sich nicht um die Triebkräfte des Weitzusammenhanges. Auf sie blickt nur derjenige, dem diese Triebkräfte Schmerzen verursachen. Er denkt an die Gründe dieser Schmerzen. Das öffnet ihm das geistige Auge. Loki wird der Zerstörer des Götterreiches. Schonungslos vernichtet er Balder, die Per­sonifikation der Liebe. Er muß ihn hassen, denn das Werden muß stets der Feind des Beharrenden, des sorg­losen Augenblicksgenusses sein. Und aus dem Schutt des alten Balderreiches erhebt sich ein neues, das nicht Loki, das ein neuer Gott der Liebe, Balders Sohn, beherrscht. Die denkbar tiefste Tragik liegt in der Figur Lokis. Er ist der ewige Vernichter, der notwendig ist, damit die guten Elemente sich immer erneuern, der Dämon des Unglücks, den das Glück braucht, damit es sein kann. Der Schöpfer, der nie die Früchte seines Schaffens genießen darf, der Haß, der zum Dasein der Liebe unentbehrlich ist: das ist Loki.

Das ewige Weltgeschehen in seiner Zwiespältigkeit hat Jacobowski in diesem «Roman eines Gottes» dichterisch dargestellt. Alle unsre Weisheit kann diesen Zwiespalt nicht lösen. Denn gerade er erhält das Leben. Wir sind mit unserem ganzen Sein in ihn verstrickt. Wir erkennen, daß er da ist, und müssen uns beugen vor der Tatsache.

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Auch das hat Jacobowski in der Gestalt des Loki zum Ausdruck gebracht. Dieser kennt das Schicksal aller ande­ren Götter; nur sein eigenes ist ihm unbekannt. Die Weis­heit mag die ganze Weit erkennen; sich selbst kann sie nicht durchschauen; sich selbst kann sie nur darleben, so wie sie von ihren Dämonen getrieben wird.

Kurz nach diesem Roman ist Jacobowskis letzte Ge­dichtsammlung erschienen, seine «Leuchtenden Tage». Zwischen diesem Werke und «Bewegten Stunden » liegen noch zwei Bändchen Lyrik: «Funken» (1890) und «Aus Tag und Traum» (1895). Diese Sammlungen sind ein Spie­gelbild all der Kämpfe, die den Dichter hinaufgeführt haben auf die hohe Warte, von der aus er im «Loki» die ewigen Weltgeheimnisse besang.

In der Lyrik Jacobowskis offenbart sich uns ein schönes Verhältnis dieses Dichters zur Natur. Er hat das Ver­mögen, überall in den einfachsten Dingen und Vorgän­gen das Poetisch-Bedeutungsvolle zu finden. Er glaubt nicht, wie so viele zeitgenössische Lyriker, das Wertvolle nur in dem Seltenen, in den abgelegenen Reizen des Da­seins suchen zu müssen. Er wird es bei jedem seiner Schritte durch das Leben gewahr. Das Alltäglichste ge­winnt bei ihm eine dichterische Gestalt.

Die große Weltperspektive, die Jacobowski eigen ist, gibt ihm den richtigen Blick für die dichterische Darstel­lung der sozialen Verhältnisse. Die Dichter, die ihre Stoffe auf diesem Gebiete suchen, sehen oft nur wenige Schritte weit. Jacobowskis Schilderungen des Großstadtlebens und der modernen sozialen Erscheinungen wachsen aus dem Untergrunde einer umfassenderen Weltanschauung heraus. In diesem Sinne eine echt moderne Schöpfung ist «Der

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Soldat, Szenen aus der Großstadt», in welchen die Erleb­nisse eines Menschen geschildert werden, der vom Lande in die Großstadt verpflanzt und dort von dem Schicksal vernichtet wird. Eine Legende, «Die vier Räu­ber», bringt einen bedeutenden moralischen Inhalt in ein­facher Form zum Ausdruck. Diese Dichtung spricht für Jacobowskis gesunde Phantasie, die überall hinweist auf die idealen Gewalten, weiche «die Welt im Jnnersten» zusammenhalten, und die doch niemals das Reich der frischen, unmittelbaren Natürlichkeit verläßt.

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FRANZ FERDINAND HEITMÜLLER:

«DER SCHATZ IM HIMMEL»

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In dem vor einiger Zeit erschienenen Novellenbande Franz Ferdinand Heitmüller «Tampete» ist eine künstlerische Perle enthalten. Es ist die Novelle «Tampete», die dem Bändchen den Namen gegeben hat. Ein Stimmungsdichter von großer Kraft der Erzählung und Charakteristik hat dieses kleine Kunstwerk geschaffen. «Tampete», dieser niedersächsische Bauerntanz, diese deutsche Tarantella, lebt nach in dem temperamentvollen Stile; die Gestalten stehen vor uns mit vertiefter Leidenschaft, wie Menschen, die nicht sich allein darleben, sondern eine dämonische Gewalt, von der sie besessen sind.

Auch in seinem vor kurzem erschienenen Bande hat uns Heitmüller wieder eine solche Perle geschenkt: die No­velle «Als der Sommer kam». Diesmal ist es aber nicht, wie wenn eine wilde Natur aus der Menschenseele spräche ;

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diesmal ist es eine Seele selbst, die mit ihrem ureigensten Schicksal, in einsamen Kämpfen, vor uns hingestellt wird: eine Seele, die aus der Entfremdung, in die sie die Welt gebracht hat, zu sich selbst zurückkehrt, die aus der Klein­heit zur Größe wächst. In fremder Leute Händen in Eugeniens Kind herangewachsen. Sie selbst aber muß in ihrer sozialen Umgebung als das jungfräuliche Mädchen gelten. Denn nur so kann daran gedacht werden, daß Arthur, ihr Bräutigam, der als Staatsanwalt «Verpffichtun­gen gegen die Gesellschaft» hat, sie heiraten werde. So lebt Eugenie in der Stadt ein Leben des Scheines, in der Hoffnung, dereinst an der Seite Arthurs ein Leben - des Scheines weiterzuleben. Ihr Kind aber, das sie kaum ge­sehen hat, lebt fern von ihr, dazu verurteilt, von der Mutter im ganzen Leben verleugnet zu werden. Eine Krankheit dieses Kindes ruft die Mutter zu ihm. Sie hofft - eine tödliche Krankheit, denn mit dem Kinde wäre beseitigt, was Arthur immer und immer wieder be­denklich macht. Eine von der Gewalt der sozialen Ver­hältnisse ganz unterjochte Mutterseele kommt zu ihrem Kinde, das ihr so fremd ist, daß sie es im ersten Augen­blicke mit einem fremden verwechselt. Und diese Mutter-seele findet an dem Krankenbette ganz die Mutterliebe, und mit dieser findet sie sich, als eine Befreite, als Über­winderin und Siegerin. Sie schildert diesen ihren Sieg dem Arzt des Landortes, mit dem sie während der Krankheit des Kindes befreundet geworden ist; sie spricht davon, wie sie in der ländlichen Einsamkeit frei geworden ist, und wie sie jetzt diese Freiheit in die Stadt tragen will, dahin, wo die Menschen solches niemals verstehen können, wie sie aber dem Unverständnis trotzen will. «Daß ich

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mich hier unter Menschen, denen ich mehr oder weniger gleichgültig bin und die auch mich weiter nichts angehen, daß ich mich hier, in fremdem Milieu sozusagen, zu meinem Kinde bekenne, ist schließlich so schlimm nicht. Aber dort, in meiner gewohnten Sphäre, die nicht mehr die meinige sein soll, bedeutet es schon etwas. Glauben Sie, ich will mich hier verstecken und Heimlichkeiten treiben mit meinem Glück? Nein, laut will ich's ver­künden, hinausschreien, daß alle es hören : Seht, das bin ich - so ganz Ich-, und wenn sie mich dann anspeien und ich doch in dem ruhigen Gleichgewicht der stolzen Liebe bleibe, sehen Sie, dann erst habe ich ein Recht auf mich selbst und auf das Kind, dessen Mutter ich sein will. Ich will frei werden von den Menschen und ihren Sat­zungen - deshalb muß ich zu ihnen zurück.»

Die vollkommene Wandiung eines Menschengeistes stellt Ileitmüller dar. Und er tut das auf zweiundfünfzig nicht allzureichlich bedruckten Seiten. Aber dennoch mit voller innerer Wahrheit. Der Dichter ist hier ganz offen­bar auf ein Problem getroffen, das ihm in seltener Weise zu Herzen spricht. Er hat die ganze Psychologie dieses Problemes bewältigt. Und diese Psychologie ist aus einer mit ihr voll zusammentönenden Stimmung herausgearbei­tet. Heitmüller versteht es, den Befreiungsprozeß des Mädchens mit dessen Leben in der Natur stilvoll zu ver­weben. « Sie hatte ein paar Zimmer gemietet, weit drau­ßen in einem etwas verfallenen Landhaus am Berge. Sie hatte es immer mit seinen weiß gestrichenen Wänden von weit her leuchten sehen. Wie eine Hoffnung. Als sie eines Tages auch noch eine glasgeschützte Veranda, die auf einen geräumigen Garten mit alten schattigen Bäumen

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ging, an der Hinterfront entdeckte, war sie schnell mit der Besitzerin einig geworden. - Da lebten sie nun ihr stilles regelmäßiges Leben... Und ganz langsam, wie in ihr die Keime und sprossenden Knospen sich regten und reckten, traumhaft, unbewußt, vielfältig, jeden Tag, jede Stunde immer kräftiger, schwellender, ein trunkenes Durcheinander, bis ihre weiße Seele in tausend leuchten­den Blüten stand : - ganz langsam und zögernd fing da auch der Grund der Kinderseele an zu grünen und sich mit ersten schüchternen bunten Blumen zu bedecken. -Und auf diesem weichen Grund ging ihre träumende Liebe umher, zog überall das Unkraut auf oder brach sich eine Blume, die über Nacht sich aufgefaltet, und sog gierig den schwachen Duft ein - scheu, zitternd, benom­men. Hie und da bog sie und schnitt das überhängende Gezweig zurück, sie vertrieb den Schatten und ließ das Licht ein, damit auch die andern vielen Knospen, die über­all hervorguckten aus dem lichtgrünen Rasen, sich gleich herrlich entwickeln und in voller Kraft entfalten könnten.

- Und das Licht kam von überall, denn die Liebe hat hundert geschäftige Hände, die nicht müde werden, Blatt um Blatt beiseite zu biegen, auf daß die Sonne hindurch kann...» So schildert jemand, der die feinste Empfindung davon hat, welche wunderbare Harmonie besteht zwischen dem Leben der Natur und der ringenden Menschenseele. Der ein lebhaftes Gefühl dafür hat, wie tief symbolisch der Freiheitsdrang des Menschengemütes sich stumm an-deutet in den Schöpfungen der Außenwelt, und wie in dem menschlichen Herzen das Wachsen und Blühen, das Keimen und Knospen der Natur in die Rede des Geistes sich umsetzt.

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Weniger befriedigt mich die erste Novelle des Buches : «Der Schatz im Himmel». Was Heitmüller in «Als der Sommer kam» so vollkommen gelungen ist, den Stil für seinen Gegenstand zu finden : darin hat er sich in dieser Novelle wohl vergriffen. Dieser Bauer, der von der Resi, der Bauerndirne, in so plump-drolliger Weise hintergan­gen wird, ist zwar eine prächtige Figur, aber er müßte mit scharfem Humor gezeichnet sein, und wir dürften nicht den Eindruck haben, daß uns die Linien, die als Karikaturen uns sehr wohl gefallen könnten, mit vollem Ernst geboten werden. Zwar macht der Dichter überall Ansätze zu einem humoristischen Stil. Es scheint mir aber, daß sich der Ton des Humors nicht recht hervorwagt. Und so müssen wir denn hinnehmen, daß die Resi dem Galsdorffer-Bauer vorschwindelt, seine verstorbene Toch­ter schreibe ihm aus dem Himmel Pumpbriefe, daß der Bauer das glaubt und wirklich sein Geld hergibt, um seiner Tochter im Himmel zu ihrem Bräutigam zu ver­helfen. Die brave Resi aber will mit dem Gelde sich einen ganz irdischen Bräutigam, den Wastl, erwerben. Das «fromme Madi» kriegt es sogar fertig, dem Bauern einzureden, ihr und Wastls kleiner Sprößling sei eigent­lich des Gaisdorffer-Bauern Enkelkind. Die Kreszenz, die verstorbene und im Tode noch so geldbedürftige Toch­ter, habe ihr das Kind gebracht. Der Bauer heiratet zu­letzt das «fromme Madi» mit dem vom Himmel gefalle­nen Kind. Der Wastl geht in die weite Welt, verliebt sich in eine andere, nicht ohne daß er zunächst mit dem Gelde durchgeht, das die Resi dem Bauern für himm­lische Zwecke abgeschwindelt hat.

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Wie stark Heitmüller die Kunst eignet, einfache undif­ferenzierte Menschen zu zeichnen, die uns von «Tampete» her bekannt ist, das zeigt sich auch hier. Keiner dieser Charaktere außer dem Gaisdorffer-Bauern selbst hat unter dem Vergreifen des Stiles gelitten.

Viel höher stelle ich wieder die letzte Novelle der Sammlung «Abt David». Hier lebt sich Heitmüller, der sympathische Dichter der Stimmung, voll aus. Des­halb sehen wir gerne darüber hinweg, daß die Idee der Erzählung zu blaß, zu abstrakt bleibt. David von Win­kelsheim ist ein rechter Abt von der Wende des fünf­zehnten und sechzehnten Jahrhunderts. Mit einer Priester-gesinnung, in der die katholischen Prinzipien ganz in Gewohnheit umgeschlagen haben, verbindet er einen fei­nen Kunstsinn. Mit Schätzen der Schönheit stattet er sein Kloster aus, in dem Beten und Messelesen nur aus alter Tradition, aber genau und pflichtgemäß getrieben werden. Mit feiner Empfindung stellt der Dichter dar, wie sich eine allgemeine Zeitströmung in einem kleinen Winkel der Welt im Abglanz zeigt. In seinem Abt spiegelt sich die Gesin­nung vieler katholischer Priester der Zeit, in der die Novelle spielt. Die weltlichen Triebe, die weltlichen Lei­denschaften, die in der Priesterseele verstummen müssen, nehmen bei David die Form künstlerischer Sehnsucht an. Und in sinnvollem Kontrast zum Abt steht dessen Bruder, der Weltmann der damaligen Zeit, der jenem die aben­teuerliche Johanna, die Künstlerin in Männerkleidern, zu­führt, damit sie ihm das Kloster mit Kunstwerken schmücke. Der Abt sieht in Johanna nur den Künstler, der Bruder aber liebt in ihr das Weib. Und als dieses in den Fluten des Rheines den Tod gefunden, da enthüllt

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sich der volle Gegensatz in den Naturen beider Brüder. Wolf von Winkelsheim - so heißt Davids Bruder - schil­dert diesen Gegensatz: «Damals, als sie so plötzlich den Vater verlor in Florenz, als sie nun allein zurück mußte in die Heimat, mag ihr wohi die abenteuerliche Idee ge­kommen sein. Als Mann verkleidet konnte sie sich besser vor den Gefahren der Straßen und der Mannsleute schützen. Aber in so was kenn' ich mich aus, und den Morgen, als wir hier eindrangen, war mir freilich längst klar, daß da ein Frauenzimmer in den Hosen drinsteckte. Aber ich ging auf den frommen Betrug ein - natürlich! Um endlich mein Versprechen mit den Gemälden loszu­werden. Der Bruder ist ja auch auf seine Rechnung ge­kommen, er hat seine Bilder, und sein lebt mit ihm weiter und kann ihm nie sterben. Aber mir ist gestorben - ich hab die Bilder zu teuer bezahit.» Der Dichter macht diese Anekdote in solcher Form in uns lebendig, daß er sie darstellt, wie sie in ihm selbst, während eines Aufenthaltes in dem alten Kloster, das um 1529 säkularisiert worden ist, lebendig wird, während er in dem Archiv kramt. In der Zeich­nung des Klosters und der Natur, in die es hineingestellt ist, tritt uns wieder Heitmüllers schöne Stimmungsmale­rei entgegen. - Mit inniger Freude wird derjenige, der Sinn für echte dichterische Novellistik hat, Heitmüllers Erzählungen folgen.

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EIN GOTTSCHED-DENKMAL

Den Manen Gottscheds errichtet von Eugen Reichel

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Ein Buch zum Aufrütteln der Geister liegt vor uns. Fugen Reichel hat es unternommen, das Bild seines Ostpreußischen Landsmannes Gottsched neu zu zeichnen. Er hält dasjenige, das die Welt sich bisher von diesem Manne gemacht hat, für ein Zerrbild. «Die Deutschen glauben Gottsched zu kennen; sie wähnen, ihn erschöpfend zu beurteilen, wenn sie seinen Gegnern und deren kurzsich­tigen oder leichtfertigen Epigonen nachsprechen und sa­gen : daß er ein das Gute zwar vielleicht mit unzu­länglichen Kräften anstrebender, jedoch arg bornierter, dünkelhafter, dem Leben, der Kunst, der Poesie ganz fernstehender Schulmeister gewesen sei, der redselig über Literatur zu schwätzen wußte, als wir noch keine Litera­tur besaßen.» Mit kühnstem Denkermute stellt Reichel diesem Urteile sein eigenes gegenüber, daß Gottsched «nicht nur kein bornierter Schulmeister, sondern vielmehr ein auf der Höhe des Lebens stehender, seiner tief unter ihm in Ohnmacht und geistiger Beschränktheit herum-taumelnden Zeitgenossenschaft weit vorauseilender Den­ker und Dichter war; ein Revolutionär auf allen Gebie­ten geistigen Lebens, ein murvoller, mit den schärfsten Geisteswaffen ausgerüsteter Kämpfer gegen das starre, tote Formenwesen, das um ihn herum in Kunst und Litera­tur, auf den Kanzeln und Kathedern, in den Schulen und Gerichts stuben herrschte; ein kühner, weitschauender Vertreter des freien Gedankens, der freien Forschung und

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des freien Wortes». Man sieht: es handelt sich um eine Umwertung in großem Stile!

Gestützt auf das von ihm in vollem Umfange durch-forschte Lebenswerk Gottscheds, ging Reichel an seine Aufgabe. Wenn es literarische Pflichten gibt, so scheint mir, daß für alle, die in Dingen des deutschen Geistes­lebens künftig werden mitreden wollen, die Pflicht be­stehen wird, sich mit diesem «Gottsched-Denkmal» zu beschäftigen. Es ist für solches Ziel geradezu das Ideal eines Buches. Ein kühner Pfadfinder im Reiche des Ge­dankens führt den Leser auf den Weg; ein Mann von scharf ausgeprägter, geistiger Physiognomie sagt seine energischen Anschauungen über den Mann, den er seinen Zeitgenossen und der ferneren Nachwelt nahebringen will, auf 104 Seiten, und dann läßt er auf 188 Seiten Gott­sched für sich selbst sprechen. Entscheidende, blitzartig den Mann beleuchtende Proben aus Gottscheds Werken bringen die Kapitel : Gottscheds Selbstbildnis, der Deut­sche, der Richter seiner Zeit, der Sittenschilderer, der Satiriker, der Frauenanwalt und Frauenkenner, der Gegner des Zweikampfes und des Krieges, der Politiker, der Lehrer und Erzieher, der Aufklärer, der Freund der Na­turwissenschaft und der Natur, der Sprachforscher, der Geschmacksreiniger, der Bühnenreformator, der Dramati­ker, der Dichter, der Redner, der Kritiker, der Ästheti­ker, der Weise. Ein Kapitel « Gotts ched im Urteil seiner Schüler und Verehrer» beschließt das Buch.

Jedem ist die Möglichkeit geboten, sich selbst ein Urteil zu bilden. Es wird wenige geben, die nicht verwundert sein werden, wenn sie das Buch aus der Hand legen -verwundert darüber, wie wenig geeignet das ist, über

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Gottsched ein Urteil zu gewinnen, was uns unsere Lite­raturhistorien über ihn zu sagen haben. Und die wenigen, die eine solche Verwunderung nicht haben werden - nun, das sind eben die Unverbesserlichen. Ihnen ist nicht zu helfen. Wie hoch bei dem einen oder dem anderen die Einschätzung des Mannes sich gestaltet, von dem ihm hier ein erneutes Bild überliefert wird, darauf kommt es zunächst gar nicht an. Dasjenige, was ein jeder hat, wird er zu korrigieren haben. Er wird daran genug Korrektur-bedürftiges finden.

Soviel für heute. Alles weitere Eingehen auf den Inhalt verspare ich mir für die nächste Nummer. Ich bin naiv genug zu glauben, daß ich dann schon zu recht vielen Besitzern des Buches sprechen werde.

*

« Eine der hauptsächlichsten Tendenzen meiner Lebens-arbeit bildet seit etwa zehn Jahren der Kampf für Gottsched.» Damit leitet Eugen Reichel sein « Gottsched­Denkmal» ein. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen des deutschen Geisteslebens konnte nur ein Mann an diesen Kampf denken, ja überhaupt auf einen solchen verfallen, der auf der Hochwacht des freiesten Urteils steht. Rei­chel ist dieser Mann. Er ist einer von denen, die lächeln dürfen, wenn sich so viele andere «freie Geister» nen­nen. Denn er kann nur in der Luft des selbsterworbenen Urteils geistig atmen. Was das heißt, begreift nur der, der den Ekel an denen genügend empfunden hat, die sich ohne Ende mitzuteilen die Welt überreden möchten und

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die doch nichts vermögen, als wiederzugeben, was diese Welt ihnen eingeimpft hat. Lest sie doch, die edlen Geschichtsschreiber des geistigen Lebens! Lest die aus den neunziger Jahren! Was schreiben sie zumeist? Etwas ver­änderte Auflagen der Schriften, die aus den achtziger Jahren auf sie gekommen. Und was haben die Bes chreiber des geistigen Lebens in den achtziger Jahren getan? Sie haben die Auflagen derer aus den siebziger Jahren «ver­bessert». Nur selten kommt dann einer, der es wagt, ein Kapitel der Vergangenheit wirklich neu zu schreiben. Und wenn er es wagt, so setzt er zunächst nicht wenig aufs Spiel. Er wird zumeist von denen, die auf der «Höhe der Forschung» stehen, als Dilettant gebrandmarkt. Er wird als Querkopf verschrien, der erst lernen sollte, wor­über die Akten «längst geschlossen» sind, dem die «ele­mentarsten Vorkommnisse seines Faches fehlen». Es gibt ein noch wirksameres Mittel. Das ist die Methode des Totschweigens.

Auch über Gottsched sind die «Akten längst geschlos­sen». Aber sie sind seit langer Zeit niemals richtig revi­diert worden. Und sie sind zu einer für Gottsched un­günstigsten Zeit angelegt worden. Sie sind von Menschen angefertigt, die nur dann erreichen zu können glaubten, was sie wollten, wenn sie den Grund zu völlig Neuem legten, wenn sie mit aller Überlieferung brachen. Wir verdanken heute unser ganzes geistiges Leben der Strö­mung, die in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit Gottsched brechen zu müssen für notwendig hielt. Gegen Gottsched ungerecht zu werden, war für diese Strömung wohl eine Notwendigkeit. Man kann eine solche Ungerechtigkeit durchaus begreifen. Aber welche Veran­lassung

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besteht, die Urteile, die damals über Gottsched ge­wonnen sind, nunmehr ewig weiter zu schleppen.

Mit eindringlichen Worten schildert Reichel den Kampf zwischen Gottsched und seinen Gegnern. « Es wirkt selt­sam, wenn selbst ein Gottsched verhältnismäßig wohi­wollend gesinnter Mann wie Danzel meint : Gottsched hätte im den Feind erblickt, der ihm völlige Vernichtung drohte, den er deshalb auf das schärfste be­kämpfen mußte...» « Gottsched hatte » - sagt Reichel -«als der erste vom Dichter Kenntnis des Menschen, treue Beobachtung der Natur gefordert : Jetzt aber zog ein die Blicke des unreifen Publikums auf sich, der wohl . Hier drohte also eine viel ernstere Gefahr, der zu be­gegnen Gottsched als Theoretiker sowohi wie als Künst­ler sich vor allen anderen in Deutschland verpffichtet fühlen durfte.

Diesen künstlerischen Bedenken gesellten sich aber zwei andere, die zweifellos für die Stellung, welche Gottsched dem gegenüber einnahm, ausschiaggebend wur­den : Er hatte ein Menschenalter hindurch nicht nur für die Befreiung der Wissenschaft und vor allem der Philo­sophie von der Herrschaft des Pfaffentums, sondern auch für eine von aller christlichen Dogmatik rein zu haltende Poesie gekämpft - im aber feierte der ortho­doxe Glaube seine zügellosesten Orgien. Er hatte ferner planvoll eine nationale Poesie vorzubereiten versucht -

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im aber wurde die deutsche Poesie plötzlich wieder zu einem vaterlandslosen in der schwülsten christ-lichen Luft schwebenden Unding. Gottsched sah sich also, wenn er es ernst und ehrlich nicht nur mit seiner Lebens­aufgabe, sondern auch mit der geistig-ästhetischen und weltlich-nationalen Kultur seines Volkes meinte, gezwun­gen, den Kampf nach zwei Seiten hin zu führen, und es gereicht ihm zur unverwelkilehen Ehre, daß er den Mut fand, in diesen fürs erste aussichtslosen Kampf einzutreten.»

Als Gottsched seine Lehrjahre antrat, war das geistige Leben in Deutschland ein Chaos. Er brachte Harmonie in dieses Chaos. Auf fast allen, jedenfalls auf den bedeutungsvollsten Gebieten des künstlerischen und wis­senschaftlichen Lebens wurde er der richtunggebende Geist. Und er wurde das als universale Persönlichkeit. Er vereinigte zerstreute Kenntnisse zu großen Ideen-gebäuden, er gab Gesichtspunkte, von denen aus sich die Erfahrungen und Beobachtungen, die als regellose Masse durcheinander lagen, fruchtbar überschauen lassen. Und es waren überall die höchsten Maßstäbe, die er an die Dinge anlegte. Er ist der Reformator der deutschen Schaubühne. Er ist es, weil er einer niedrigen Betäti­gungsart das höhere Leben der Kunst einzuimpfen ver­stand. Und derartig war seine reformatorische Tätigkeit in dem denkbar größten Umkreise.

Wir führen heute vieles in unserem geistigen Leben auf Lessing zurück, was Lessing nimmer hätte vollbrin­gen können, wenn er nicht bei Gottsched in die Schule gegangen wäre. Wir dürfen heute - und wir dürfen es umsomehr nach Reichels Arbeit - fragen, ob wir denn nicht durch unsere blinde Lessing-Anbeterei in eine böse

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Sackgasse getrieben worden sind. Man hat Lessing den ersten deutschen Journalisten genannt. Vielleicht hat man damit mehr Recht, als man glaubt. Aber vielleicht ist durch Lessing unsere ganze Bildung überhaupt zu journa­listisch geworden. Lessing fehlte etwas, das aller Bildung erst den rechten Schwerpunkt gibt : das Zentrum einer in sich gefestigten Weltanschauung. Man hat lange gestritten, ob Lessing Leibnizianer oder Spinozist gewesen ist. Das ist bezeichnend. Seine Ideen schwankten fortwährend hin und her, bald zu Spinoza, bald zu Leibniz. Er war beides und keines. Einen ähnlichen Zug hat durch Lessing unsere gesamte Allgemeinbildung erhalten. Es fehlt ihr die rechte Vertiefung. Gottsched wollte ihr gerade diese Vertiefung geben. Philosophisch ist sein ganzes Wirken. Nicht philo­sophisch im Sinne einer müßigen Spekulation, sondern philosophisch in dem Sinne, daß er überall nach Vertie­fung des Urteils strebt, nach Harmonisierung der Vor­stellungswelt.

Hätte Gottsched seinen Einfluß nicht verloren, hätte sich unsere Allgemeinbildung kontinuierlich in der Richtung entwickelt, in die er sie gebracht hat : wir wären weni­ger journalistisch, aber darum eben gediegener geworden.

Man hat Gottsched vorgeworfen, daß er altes Beobach­tungsmaterial verarbeitet habe. Ja, man nennt ihn des­wegen einen bloßen Kompilator. Nun wohl : nennt alle die tonangebenden Geister Kompilatoren, die längst be­kannte Beobachtungen von einem neuen Gesichtspunkte aus betrachten, also, daß neue Naturgesetze aus ihren Kompilationen werden. Sagt es doch, wenn ihr konse­quent sein wollt : Julius Robert Mayer hat nichts getan als längst bekannte physikalische Beobachtungen zusam­mengestellt.

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So hat sich nämlich der brave Herausgeber des physikalischen Journals gesagt und hat Mayer seinen zusammenstellenden Aufsatz zurückgeschickt. Jetzt sagt freilich jeder Durchschnittsphysiker, daß in dieser Zusam­menstellung die größte Entdeckung der theoretischen Physik im neunzehnten Jahrhundert steckte.

Es wird einem sonderbar zumute, wenn man heure die Leute über den «alten Pedanten» Gottsched lächeln sieht. Wer sind es, die so lächeln? Pedanten auf der einen Seite - und Wirrköpfe auf der anderen. Was würde wohl Gottsched zu der « Methode» so manches Literarhistori­kers sagen, der heute ihn als Pedanten abkanzelt. Und den andern, die über die « alte Perücke» zur Tagesordnung übergehen, könnte ein wenig von dem Disziplinierenden des Gottschedschen Urteils wahrhaft nicht schaden.

*

Mit einem treffenden Worte weist Eugen Reichel auf die Kurzsichtigkeit hin, die den meisten der landläufigen Ur­teile über Gottsched zugrunde liegt. «Auf Gottsched mit Geringschätzung hinabzusehen, weil er noch keinen , keinen , keinen und kei­nen geschaffen, hätte gerade soviel Sinn, als wenn man Gutenberg belächeln wollte, weil er nicht gleich auch die Schnellpresse erfand.» (Gottsched-Denkmal 5.55.) Man kann in einer großen Zahl von Darstellungen der Geistesgeschichte des vorigen Jahrhunderts sehen, wie Gottsched die Kreise stört, die man sich nun einmal kon­struiert hat, um dieses Geistesleben zu begreifen. In Max Dessoirs «Geschichte der neuern deutschen Psychologie»

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(1. Band. Von Leibniz bis Kant. Berlin 1894) liest man in einer Anmerkung : «Gottscheds Einfluß auch auf die Ent­wickelung der Philosophie ist nicht gering gewesen. Sein Handbuch : , erfuhr sogar nach seinem Tode eine achte Auflage. Diese Zahl ist von entzücken­der Beredsamkeit.» Das meine ich allerdings auch. Aber mir scheint, daß wenig Neigung dazu vorhanden ist, die Beredsamkeit auch in der rechten Weise zu verdauen. Mir scheint sogar, daß ein Satz wie der Max Dessoirs (auf S. 62f. seiner genannten Schrift) der historischen Be­trachtung in bezug auf Gottsched eine bis jetzt verab­säumte Pflicht auferlegt. Ich führe diesen Satz hier an, weil er beweist, wie innig das Geistesleben des vorigen Jahr­hunderts mit Gottscheds Wirken verflochten ist. Er heißt : «Nichts ist bezeichnender für die tief religiöse Eigenart des deutschen Volkes als der theologische Ursprung des Pietismus und der Freigeisterei. In dem Kampf gegen die starre Äußerlichkeit und Engbrüstigkeit der herrschenden Theologie sind beide in sich so verschiedenen Richtungen erwachsen; während die eine das individuelle Denken be­freite, hat die andere dem empfindenden Herzen Befriedi­gung verschafft. Wolff hat ein Inventarium des auf­gestellt, und Gottsched hat eine begriffsmäßige Poetik ge-schaffen, der die Dichtkunst als eine erhöhte Redekunst erscheint.»

Man sehe nur einmal, worin die Literarhistoriker den Unterschied zwischen Gottsched und seinem Gegner Bodmer

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sehen. Max Koch spricht sich darüber in der « Geschichte der deutschen Literatur von den ältesten Zei­ten bis zur Gegenwart» (von Prof. Dr. Fr. Vogt und Pro£ Dr. Max Koch) so aus (S.419): «Der Gegensatz zwischen Gottsched und Bodmer, denn er, nicht der zu­rückhaltende Breitinger, ist der Anstachler und Rufer in dem jetzt ausbrechenden großen literarischen Kriege, ist in der Verschiedenheit der Personen, nicht bloß in den Ab­weichungen ihrer künstlerischen Überzeugungen, gegrün­det. Auf ihren Streit läßt sich das Gleichnis anwenden, das die englische Literaturgeschichte von dem freund­lichen Witzkampfe zweier ganz anders gearteter Männer überliefert hat : der schwerfällige große Ostpreuße, wie die Galeonen gebaut, an Gelehrsamkeit überragend, fest, aber langsam in seinen Bewegungen - der kleine, leb­hafte Schweizer, niederer im Bau, aber flinker im Segeln, fähig, von allen Winden Vorteil zu ziehen, vermöge der Schnelligkeit seines Witzes und seiner Einbildungskraft.» Ja, wir finden in diesem Buche sogar ein höchst merk­würdiges Geständnis (S.422): «Die Leipziger und die Zürcher kritische hätten demnach wohl nebeneinander bestehen können, und schon bald nach dem großen Literaturkriege wußte man nicht mehr so recht, worüber man denn eigentlich gestritten habe.»

Alle Oppositionen, die von der Art sind, wie sie Bod-met und seine Nachfolger gegen Gottsched gemacht haben, tragen für denjenigen, der sich in die Struktur des menschlichen Geisteslebens vertieft hat, etwas im höchsten Grade Unverständiges an sich. Ich möchte mich darüber durch ein groteskes Gleichnis aussprechen. Ich stelle mir einen kampflustigen Gesellen vor, der sich hinstellt und

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die Natur zurechtweisen will, weil sie pedantisch genug ist, Löwen, Bären, Pferde, Schweine und Affen zu schaf­fen, während es doch dem Reichtum ihrer Schaffenskraft viel angemessener wäre, keine bestimmten Formen fest­zuhalten, sondern aus der Löwenmutter ein kleines Untier, halb Schwein, halb Kamel, hervorgehen zu lassen. Statt sich so die Freiheit in ganzem Umfange vorzubehalten, zwängt sich die Natur in regelmäßige Bildungen. Ich bin gewiß nicht dazu geeignet, irgendwie in den Geruch eines Goethe-Verächters zu kommen. Deshalb darf ich es mir wohl leisten, zu sagen, daß mir wie dieser die Natur meisternde Geselle doch auch Goethe vorkommt, wenn er von Gottsched sagt, von ihm sei das « Fächerwerk, welches eigentlich den inneren Begriff von Poesie zu­grunde richtet, in seiner kritischen Dichtkunst ziemlich vollständig zusammengezimmert». Was Goethe hier be­rührt, war der Wahn, von dem alle die befangen waren, die glaubten, gegen Gottsched zu Felde ziehen zu müssen. Sie wollten in die innersten Gründe des Schönen und Künstlerischen hineinleuchten und deren Ursprung in der innersten Natur des Menschen entdecken. Von Gottsched aber glaubten sie, daß er in ein- für allemal feststehende pedantische Regeln die Dichtung zwängen wolle. Aber läßt sich denn die Natur die Freiheit je nehmen, ihre Formeln beständig zu wandeln, trotzdem sie scharfumgrenzte For­men schafft? Nahm Gottsched dem dichterischen Genie die Möglichkeit, die Gesetze zu metamorphosieren, da er die in der bestehenden Dichtung sich aussprechenden zu ent­decken und in ihrem naturgesetzlichen Zusammenhang dar­zulegen suchte? Nicht der kommt den Geheimnissen des Natur- und Geistesschaffens nahe, der alles in einen Ur­brei

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verschwimmen läßt und dann von den unerschöpf-lichen, mystischen Quellen des Daseins schwärmt, sondern derjenige, der dem menschlichen Geiste die Fähigkeit zu­erkennt, in klaren, scharfumrissenen Ideen die Geheim­nisse des Daseins zu enthüllen. Nur wer in seinem eige­nen Denken nicht weiterkommt als bis zu farblosen blut-leeren Begriffsschablonen, der vermag zu wettern gegen die Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit. Wer aber den Geist erhebt zu lebensvollen und lebensfrischen Ideen, der weiß, daß er mit seinen Ideen in den wesenhaften Kern der Welt trifft. Daß Klarheit Seichtheit nach sich ziehe : das ist eine Überzeugung, die leider nur allzu weite Verbrei­tung in diesem Jahrhundert gefunden hat. Man wird nicht fehigehen, wenn man die Gegnerschaft gegen Gottsched vielfach auf diese Überzeugung zurückführt. Schade nur, daß die Beurteiler nur gar zu sehr ihre eigene Seichtig­keit zu einem Merkmal der Klarheit machen, die sie gar nicht kennen.

Einen Mann wie Gottsched können eben alle die nicht verstehen, denen die Worte : « Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum» ein Evan­gelium sind. Sie beachten nie, daß der Geist solches redet, der vorher gesagt hat : «Verachte nur, Vernunft und Wis­senschaft, des Menschen allerhöchste Kraft! Laß nur in Blend- und Zauberwerken dich von dem Lügengeist be­stärken, so hab ich dich schon unbedingt.» - Diejenigen, die da glauben, daß alles geistige Interesse sich im ein­seitigen ästhetisch-literarischen Elemente erschöpfen lasse : sie können niemals zu der Erkenntnis des Wertes einer Persönlichkeit kommen, deren starke Wurzeln in Dingen zu suchen sind, die allem Ästhetisch-Literarischen zugrunde

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liegen müssen, wenn dieses nicht in der Luft hän­gen soll. Scharf betont Eugen Reichel diesen Punkt : «Auch dadurch wurde die Möglichkeit einer gerechten Würdigung der Lebensarbeit Gottscheds erschwert», daß in der auf Gottsched folgenden Periode die ästhetische Tendenz « über Gebühr» betont wurde, denn dieser hatte «bei aller kraftvollen Förderung des ästhetischen Sinnes doch nie vergessen», daß «ein gesundes, starkes Volk noch andere Aufgaben zu erfüllen habe als nur ästhetisch-literarische.» Die Betonung des Ästhetischen in der Zeit unseres klassischen Geisteslebens hat uns die Empfindung davon gebracht, daß die Kunst nicht bloß eine an­genehme Beigabe für das Leben ist, sondern eine Not­wendigkeit für jedes menschenwürdige Dasein. Aber schlimm ist es, wenn eine große Wahrheit von kleinen Geistern verzerrt wird. Solche Kleingeister haben sich nun aufs hohe Roß gesetzt - für die Sehenden ist dies hohe Roß allerdings nur ein Knaben-Steckenpferd - und verkünden alle Tage, wie unendlich nichtig alles « trok­kene», «nüchterne» Ideenwesen ist gegenüber dem «intui­tiven», dem «phantasieerfüllten» Geistesleben, das sich auf sein « Gefühl» verläßt. Schwarmgeister, die nie wirklich einen Schritt unternommen haben ins Reich der Ideen, sondern höchstens in einem der gebräuchlichen Weltan­schauungs-Baedeker geschnüffelt oder sich nach Knaben-art mit einem philosophischen Robinson-Roman befaßt haben, reden gegenwärtig in großen Weltanschauungs­fragen mit, sie erzählen uns, was sie befriedigt, oder was sie nicht befriedigt.

Ein Werk wie Eugen Reichels « Gottsched-Denkmal» scheint mir besonders geeignet, den Weltanschauungs-Robinsonaden

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ihren Kredit zu nehmen bei denen, die sich noch Gesundheit des Urteils und das Vermögen bewahrt haben, zu inhaltvollen Ideen aufzusteigen. Niemand ist mehr berufen, dem großen Mann des vorigen Jahrhun­derts dieses Denkmal zu setzen, wie Eugen Reichel Fr ist es gerade deswegen, weil er die reine Klarheit der Ideen verbindet mit der dichterischen Phantasie. Die das große Wort heute führen, haben bisher allerdings auch Reichels Stimme überhört. Sie haben eben eine instink­tive Antipathie gegen Stimmen, die aus einer höheren Sphäre kommen als aus der Gefühlsduselei echter Welt­anschauungs-Robinson-Schwärmer. Sie lösen alles in einen unklaren Geistes-Urbrei auf. Sie lieben eben doch die Be­quemlichkeit, die sich behaglich tut bei ihrem «Grau, teurer Freund...» - Wir andern, die noch etwas Hohes kennen außer dem uns entzückenden Vogelsang und dem Sternenhimmel und der « ewigen Liebe», wir haben den Optimismus, daß den Knaben-Unterhaltungsbüchern in Weltanschauungsfragen doch nicht die Welt gehört. Uns wird es sogar höchst angenehm sein, wenn die Schwarm-geister sich fernhalten von reifen Unternehmungen, wie Reicheis Buch eines ist. Aber dieses Buch muß doch den Widerstand der stumpfen Welt besiegen. Man nehme den auch äußerlich sich kunstvoll präsentierenden Band vor sich : man wird sich in Ausführungen Gottscheds hineinlesen, die zu uns sprechen, als wären sie heute ge­schrieben. Und wenn einer oder der andere zu den Ka­piteln über das Drama kommt, dann wird er sich vielleicht etwas schämen darüber, daß er sich von den dilettan­tischen Revolutionären der Kunstauffassung in den ver­flossenen Jahrzehnten wie neue Wahrheiten hat sagen

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lassen, was aus dem Bronnen einer überragenden Welt­anschauung hundertundfünfzig Jahre vorher der große «Pedant» Gottsched schon gesagt hat. Dieser Gottsched, der wahrlich über der Gelehrsamkeit das Leben nicht ver­gessen hat. Man lese bei ihm : «Die andere Gattung der schlechten Schreibart ist die pedantische, deren sich Leute, die nur nach der altväterischen Art studiert haben, im Schulstaube erwachsen sind und die Lebensart der Welt gar nicht kennen, zu bedienen pflegen. Diese messen alles nach ihren Schulleisten. Und ob sie gleich die besten Schriften der Lateiner und Griechen täglich in den Hän­den haben, so ahmen sie doch die Artigkeit derselben im Schreiben nicht nach, sondern bleiben immer bei ihrem Schul schlendrian.» Den Schwarmgeistern, die vom « höch­sten Wissen» reden und vom « Leben im Lichte» träumen wollen, muß man aber mit Gottsched sagen : «Träume sind Träume : das ist unordentliche Vorstellungen unserer Gemüter, welche entstehen : wenn die Phantasie sich im Schlafe an keine Regeln der Vernunft bindet. Nichts ist so ungereimt, was uns nicht zuweilen träumen könnte.»

Ein Buch für Wachende hat Eugen Reichel geliefert.

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LUDWIG JACOBOWSKI IM LICHTE

DES LEBENS: «LOKI»

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Ein tiefer Blick in die Menschennatur hat Ludwig Feuer­bach den bedeutsamen Ausspruch eingegeben : « Gott ist das offenbar Innere, das ausgesprochene Selbst des Men­schen, das Eingeständnis seiner innersten Gedanken, das

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öffentliche Bekenntnis seiner Liebesbekenntnisse». Es ist der mit diesem Satz bezeichnete Zug in der menschlichen Seele, der Ludwig Jacobowski dazu führte, den «Roman eines Gottes» zu schreiben, als er die dunklen Mächte darstellen wollte, die auf dem Grunde des Gemütes wal­ten. Er hat sich damit eine Aufgabe gestellt, der gegen­über eine naturalistische Kunst versagen muß. Alle einzel­nen Handlungen, Stimmungen und Gedanken des Men­schen scheinen auf einen Kampf in seiner Seele hinzu­weisen, der ihn begleitet von der Stunde, in der sein Bewußtsein erwacht, bis zu seinem Tode. Mögen die ein­zelnen Ereignisse, die dem Menschen das Leben bringt, diesen oder jenen Verlauf nehmen : der Grundkampf er­hebt sich stets von neuem. Es ist unmöglich, diesen Kampf in seiner ganzen Größe, in seinem überwältigen­den Umfange darzustellen, wenn man sich auf Wieder­gabe wirklicher Tatsachen und wirklicher Menschencharak­tere beschränkt. Man würde dann immer nur Symptome dieses Kampfes vor Augen führen können. Eine Persön­lichkeit wie Ludwig Jacobowski mußte so empfinden. Denn ihm war es darum zu tun, sein Seelenleben unab­lässig zu vertiefen. Er wollte in die tiefsten Schächte des eigenen Innern heruntersteigen. Da mußte er sie denn immer antreffen, die zwei Grundkräfte des Gemütes, die den Menschen hin- und herziehen und auf geheimnisvolle Art sein Schicksal bestimmen. Die eine Kraft birgt in sich : Güte, Liebe, Geduid, Wohlwollen, Schönheit, die andere : Haß, Feindseligkeit, Wildheit, Häßlichkeit, Mißgunst. Wer aufrichtig gegen sich selbst ist, muß sich gestehen, daß von all diesen Elementen etwas in seinem Innern ist. Und der Verlauf der Weltgeschichte zeigt einen dämonischen

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Krieg, den diese Kräfte führen, indem sie austreten aus der Brust des Einzelnen und die Geschicke der Menschen und Völker leiten. Die Phantasie des Dichters muß über das Wirkliche hinausgehen, wenn sie den ewigen Kampf dieser Mächte darstellen will. Aus der nordischen Götter­weit hat Ludwig Jacobowski die übermenschlichen Ge­stalten genommen, die er brauchte, um die Urdämonen der Menschenseele darzustellen. Aber die Charaktere, wel­che die nordische Sage in ihre Gottheiten gelegt, bilden für ihn nicht mehr als den Ausgangspunkt. Er gestaltete sie frei so aus, daß er sagen konnte, wie der moderne Mensch den angedeuteten Urkampf empfindet.

Balder> die gottgewordene Milde und Schönheit, und Loki, der Freund der Zerstörung, sind die mythologi­schen Figuren, durch die Jacobowski seine Gedanken dichterisch zum Ausdruck bringen konnte. Ihre Schicksale innerhalb der nordischen Götterwelt wurden in seinem Roman zu dem «offenbar Innern», zu dem «ausgespro­chenen Selbst des Menschen». Man muß auf zwei Haupt-eigenschaften des Menschen Jacobowsl<:i hinweisen, wenn man begreiflich machen will, warum ihm in seinem «Loki» als Dichter zweierlei so vorzüglich gelungen ist : das eine, die Kraft plastischer Gestaltung, und das andere, ein hin­reißender lyrischer Schwung. In hohem Maße hat der Dich­ter die Aufgabe gelöst, bloße Seelenkräfte zu gestalten, so daß sie nicht als schemenhafte Allegorien, sondern wie lebensvolle Persönlichkeiten auf uns wirken. Man ver­steht diese Tatsache, wenn man weiß, daß sich diese Seelenkräfte wahrhaftig wie selbständige Persönlichkeiten, wie dämonische Wesenheiten von seinem Innern loslösten und ihn stets begleiteten. Sie spielten eine solche Rolle in

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seinem Leben, daß er sie wie Gestalten empfand, die ihn führten, mit denen er Zwiesprache hielt, ja, mit denen er kämpfte. Und dieser Kampf war ein so heftiger, daß er alle seine Gefühle durcheinandertrieb, daß durch ihn alle seine Leidenschaften aufgerüttelt wurden. Aus dem letzte-ren Umstand ergibt sich der subjektive Anteil, mit dem er schildert und der naturgemäß eine lyrische Ausdrucks­form suchte.

Die menschliche Natur hat in sich ebenso das Element der selbstlosen Hingabe wie der rücksichtslosen Selbst­sucht. Die Liebe, von der Goethe sagt : «Kein Eigen­nutz, kein Eigenwille dauert, / Vor ihrem Kommen sind sie weggeschauert. - Wir heißen's : fromm sein !», diese Liebe hat ihren schweren Kampf zu führen gegen die Selbst­sucht, die sich auch die Liebe aneignet, gemäß den Wor­ten Max Stirners : «Ich liebe die Menschen, weil die Liebe mich glücklich macht.» Ich liebe, weil ich mich durch das Lieben wohl befinde. Dem Guten folgt im Menschenleben wie eine notwendige Ergänzung das Böse. Balder, die alles umschlingende Liebe, die Sonne des Daseins, kann nicht sein, ohne Loki, die Selbstsucht, die Finsternis. Das Leben muß in Gegensätzen verlaufen.

Loki als sympathische Gestalt darzustellen, scheint nicht leicht. Kann man Sympathie fühlen mit der Selbstsucht, mit der Zerstörungslust? Jacobowski vermochte es, den Charakter Lokis in einem sympathischen Lichte zu zeigen, denn er wußte, daß das Gute nicht nur gut, sondern auch endlich, begrenzt in seiner Güte ist. Der Quell der Welt birgt aber unendliche Möglichkeiten in sich. Ein Balder darf nicht die Herrschaft an sich reißen. Er

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mag eine unermeßliche Fülle des Guten ausstreuen; er darf sich nicht bleibend festsetzen. Er muß einem nach­folgenden Balder weichen, der neues Gute bringt. Man mag jammern über den Untergang des Guten, denn man muß diesen Untergang als ein Unrecht empfinden. Aber dieses Unrecht muß geschehen. Es ist eine Macht notwen­dig, welche das Gute zerstört, damit neues Gute entstehe. Das neue Gute braucht zu seinem Entstehen den Zer­störer. Balder braucht Loki. Und Loki kann ebenso wie der beste Gott jammern, daß er Balder töten müsse; er tötet ihn doch notwendig und bereitet dadurch dem Sohne Balders den Weg. Das ist das tief Tragische, das Jacobowski aus der Lokifigur herausgeholt hat. Es ist Lokis Schicksal, schlecht zu sein, damit immer neues Gute in die Welt eintreten könne.

So ist Jacobowskis «Loki» auf dem Grunde einer phi­losophischen Lebensauffassung erwachsen. Und so wenig eine philosophische Erfassung des Lebens dem Menschen in seiner vollen, allseitigen Wirksamkeit schaden kann, so wenig wird der «Roman eines Gottes » in seinem dichte­rischen Werte dadurch beeinträchtigt, daß er in eine philo­sophische Ideenwelt getaucht ist. Robert Hamerling hat von seinem «Ahasver» gesagt : «Übergreifend, überragend, geheimnisvoll spornend und treibend, die Krisen be­schleunigend, als die Verkörperung des ausgleichenden allgemeinen Lebens hinter den strebenden und ringenden Individuen stehend - so dachte ich mir die Gestalt des Ahasver.» Und so dachte sich Jacobowski die Gestalt seines Loki. Das Übergreifende, Überragende der philosophischen Grundvorstellungen gibt den stets plastischen Gestalten

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und den lebensvoll geschilderten Vorgängen der Dichtung den Charakter einer höheren Wirklichkeit, ohne ihnen die gewöhnliche zu rauben.

*

So klingt der «Roman eines Gottes» in das große Weltgeheimnis aus, das rätselvoll Dasein und Werden umschließt. Ewig ist das Schaffende. Und ewig erzeugt das Schaffende seinen Widerpart: die Vernichtung. Wir Men­schen sind in diesen Weltenlauf eingesponnen. Wir leben das Weltenrätsel. Recht hat ewig das Schaffen, und Recht hat auch die Vernichtung. Baldet und Loki gehören zu­sammen wie Schaffen und Vernichten. Das Schaffen ist ein Usurpator. Aber es ist sein Schicksal, daß es die Ver­nichtung neben sich haben muß. Balder braucht Loki; und Loki muß böse sein, damit immer neue Balders im ewigen Weltenspiele entstehen können.

Jacobowski hat seine Dichtung auf dem Grunde großer Weltanschauungsfragen erbaut. Er hat durch sie gezeigt, wie tief ihn selbst die ewigen Rätselfragen des Daseins ergriffen haben. Man muß den drohenden Abgrund des Lebens furchtbar vor sich gesehen haben, wenn man einen Rettungsversuch wie den «Roman eines Gottes» vollbracht hat.

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INKORREKT

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Die Leidensgeschichte des jungen Mädchens, das aller ge­sunden Natur zuwider sich innerhalb eines «korrekten» Familienlebens entwickeln muß, hat Gabriele Reuter in

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ihrem weit bekannten Roman «Aus guter Familie» mit vollendeter psychologischer Kunst dargestellt. Welcher Vertiefung dieses Problem fähig ist, davon muß in dem Leser dieses Romans ein lebhaftes Gefühl erregt werden. Man empfindet aber auch, daß die hier aufgeworfene moderne Schicksalsfrage in mehr als einer Art gestellt werden kann. Emma Böhmer hat in ihrem soeben erschie­nenen Roman «Inkorrekt» diese Frage in einer Weise ge­stellt, die im höchsten Grade das Interesse des Beobach­ters moderner Gesellschaftsverhältnisse in Anspruch nimmt. Wir lernen in der Verfasserin eine ernst strebende Künstlerin und eine feine Beobachterin kennen. Sie schil­dert mit einer gewissen lyrischen Wärme, die in jedem Satze den Anteil erkennen läßt, mit der sie die Gestalten ihrer Phantasie umfaßt. Es ist viel Kompositionstalent in der Art zu erkennen, wie Emma Böhmer die Charaktere einander gegenüberstellt. Zwei Schwestern entwickeln sich aus einer «guten Familie» heraus. Die eine wird so, wie es nach den Lebensanschauungen dieser Familie sein soll. Sie kommt den Menschen entgegen, wie es die Sitten ihres Standes fordern; sie strebt danach, den Männern zu ge­fallen, aber sie tut es nur in der korrekten Maske der wohlanständigen Zurückhaltung; sie weiß vor den Leuten nur von Vorstellungen «gut erzogener» Tochter, denn sie liest anrüchige Romane nur im geheimen und vergißt nie, dieselben unter sicheren Verschluß zu bringen, wenn sie die Lektüre unterbricht. Sie verheiratet sich, wie vor­nehme Töchter sich verheiraten, so daß in dem heuchle­rischen Verhältnisse zwischen Braut und Bräutigam nichts von einer Wahrheit des inneren Lebens mitzusprechen braucht. Ihre Ehe muß eine solche sein, die zwei Seiten

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hat, eine öde und leere im Hause, und eine korrekte nach außen hin, der Gesellschaft gegenüber. Die andere Schwe­ster, die Hauptfigur des Romans, setzt die innere Wahr­heit ihres Wesens durch, so viel sie auch gezwungen wird, diese innerhalb des Kreises ihrer korrekten Familie immer wieder und wieder zu verbergen. Sie sucht sich Wege, um ihre künstlerischen Antriebe zur Entfaltung zu brin­gen. Sie muß alles, was sie nach dieser Richtung hin tut, hinter dem Rücken ihrer Eltern tun, weil diese in alle dem nur Verkehrtheiten des wahren Mädchencharakters erblicken können. Sie findet den Mann, der den Neigun­gen ihrer Seele das rechte Verständnis entgegenbringt. Wären ihr die Verhältnisse günstig, so würde dieser Mann sich eine gesicherte Lebensstellung erringen und dann, trotzdem er als Literat die vollen Sympathien der Eltern niemals finden könnte, doch wohl wenigstens vor diesen «Gnade» finden. Und selbst, wenn dies nicht der Fall wäre, würden die beiden Menschen sich ein Leben er­zwingen, das ihren Bedürfnissen entsprechend ist. Da aber ein Unfall den plötzlichen Tod des Mannes herbei­führt, nimmt die Sache eine Wendung, welche zwar die Unnatur, innerhalb der sich das Mädchen entwickelt hat, blitzartig erleuchtet, aber ihre nach Selbständigkeit rin­gende Persönlichkeit zur völligen Befreiung nötigt. Sie wird bei dem eben gestorbenen Geliebten gefunden. Das bedeutet für alle ihre «korrekten» Angehörigen einen Skandal. Sie verläßt Haus und Familie und sucht auf «einsamer Fahrt» nach einem Leben in Freiheit. Wie auch schon im Verlaufe der vorhergehenden Tatsachen, so treten aber besonders die Charaktereigentümlichkeiten der einzelnen Glieder der «guten Familie» am Schlusse

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hervor, als sich ereignet, was in deren Augen eben nur als «Skandal» gelten kann. Ebenso sinnvoll wie die beiden Schwestern, bilden die Persönlichkeiten der Eltern Kont­rastfiguren, fein unterschieden durch die Art, wie sich die durch eine schablonenhafte Lebensführung entstellte Cha­rakteranlage in beiden äußert. Interessant ist besonders der Vater gezeichnet, in dessen Innerem die Vorstellungsart des Bureaukraten mit einem guten Herzen so kämpft, daß auch im Leser ein heftiger Streit der Gefühle entsteht zwischen der Sympathie mit einem im Grunde milden und edlen und der Abneigung gegenüber einer in Standes-fesseln ganz gefangenen, innerlich doch durchaus unfreien Persönlichkeit.

Ich glaube nicht, daß jemand den Roman aus der Hand legen wird ohne die Überzeugung, daß ihm die Verfasse­rin Gelegenheit gegeben hat, sich auf anregende Art in ein paar Menschenseelen zu vertiefen, die des Interesses wahr­haft wert sind. Dabei ist die Darstellung von künstleri­scher Knappheit. Nichts wird gesagt, was nicht durch die Natur der gestellten Aufgabe gefordert wäre. Alles Eigen­schaften, die man gute Vorzeichen für die künftige Lauf­bahn der Verfasserin nennen darf.

GEGEN DEN STROM

#G032-1971-SE425 - Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884 - 1902

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III

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GEGEN DEN STROM

Flugschriften einer literarisch-künstlerischen Gesellschaft

XVII. Pikante Lektüre. XVIII. Moderne Wohltäter

Wien 1888

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Diese literarisch künstlerische Gesellschaft hat sich im gan­zen und großen eine bedeutsame und zeitgemäße Aufgabe gestellt, und ihre Veröffentlichungen, von denen uns hier das XVII. und XVIII. Heft vorliegt, haben oft rnitten ins Schwarze getroffen, wenn sie ihre Pfeile gegen die literarischen und gesellschaftlichen Mißstände unserer Zeit abschossen. «Wien war eine Theaterstadt», «Die gebildete Welt», «Die Lektüre des Volkes» sind mei­sterhaft in ihrer Art; das letztere Heft hat in weiteren Kreisen die lebhafteste Diskussion hervorgerufen. Das soll uns aber nicht abhalten zu sagen, daß inmitten des vielen Guten sehr Schwaches gebracht wurde. Die Ten­denz ist zwar immer eine gute, aber die Art, wie man kämpft, trägt zuweilen alle Fehler der Gegner an sich. Man wendet sich gegen die jede positive Arbeit zer­setzende, kritisierende Verstandesrichtung der Gegenwart, und dies in einer Weise, die die berührte Verkehrtheit in erhöhtem Maße, ja bis zur Karikatur verzerrt, zeigt. Wahre Zerrbilder des alles zersetzenden Verstandes sind: «Der Roman, bei dem man sich langweilt», «Nach der Schablone», «Das Vorrecht der Frau», «Der Leiffaden der Reklame». In der letzten Zeit ist bis auf Nr. XVI, «Größenwahn», die allerdings zu den bedeutendsten der ganzen Sammlung gehört, überdies eine erhebliche Ab­nahme an Wert bei diesen Publikationen eingetreten. Und

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auch die beiden uns eben vorliegenden Hefte sind, auch wieder bei anzuerkennender guter Tendenz, ziemlich schwach. «Pikante Lektüre» zieht gegen die durch gewis­senlose Buchhändler in die Gesellschaft eingeschmuggelte Zoterliteratur zu Felde und führt uns, wobei allerdings auch etwas stark in Pikanterie gemacht wird, in einen wahren literarischen Morast. Es wird eine reiche Literatur angeführt über Dinge, die zu den scheußlichsten und ekel­haftesten Auswüchsen des Menschenlebens gehören. Diese Schandbücher werden aber von Leuten verschlungen, denen die Broschüren «Gegen den Strom» nicht in die Hand kommen. Gegen diese gibt es aber überhaupt kein literarisches Ankämpfen. Da hilft nur polizeiliches Ein-schreiten gegen die betreffenden Buchhändler. Jedenfalls hätte der Veffasser nicht nötig gehabt, das ganze Inhalts-verzeichnis möglicher geschiechtlicher Ausschreitungen der Menschheit in aller Breite vorzuführen. Muß man denn just pikant sein, wenn man gegen die Pikanterie schreibt? «Moderne Wohitäter» geißelt jene Art von Hilfsbereitschaft, die nicht gibt, um dem Mangel, dem Elend abzuhelfen, sondern um zu glänzen. «Man erweist die Wohitaten nicht mehr, man inszeniert sie.» Die Freude am Geben ist selten geworden, dagegen um so häufiger die, seinen Namen in Verknüpfung mit einem Wohl­tätigkeitsakte in der Zeitung zu sehen. Die Barmherzig­keit ist zumeist nur ein Mittel, um Reklame für sich zu machen, wie das bei Schauspielern, Sängern usw. der Fall ist, die Wohltätigkeitsvorstellungen veranstalten. Nicht im stillen Geben findet man Befriedigung, sondern möglichst geräuschvoll muß alles gemacht werden, man ruft deshalb Wohitätigkeitsvereine ins Leben, bietet dem

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Publikum Matineen, Konzerte, Akademien usw. Eine klaffende Wunde unserer Gesellschaft ist damit berührt, und das ist immerhin ein Verdienst. Auch in der Form ist dieses Heft viel ansprechender als das vorige, bei dem eben die Darstellungsgabe des Verfassers und die Art, wie er sich zu seiner Aufgabe stellt, viel zu wünschen übrig läßt.

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VINCENZ KNAUER:

«DIE LIEDER DES ANAKREON»

In sinngetreuer Nachdichtung

Berlin, Wien, Leipzig 1888

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Dieses Büchlein war uns eine höchst erfreuliche Über­raschung des auf dem Gebiete philosophischer Forschung sehr bedeutenden Verfassers. Wohl selten gelingt es einem Übersetzer, die Frische und Ursprünglichkeit der Empfindung so in die andere Sprache hinüberzuretten, wie das hier der Fall ist. Dazu gehört wahrhafte poetische Anlage, denn es handelt sich um mehr als ein wort-getreues Übersetzen, es handelt sich um ein Nachdichten, das aber wieder so in das Empfinden des Volkes, dem diese Lieder entstammen, sich hineingelebt hat, daß es voll in demselben aufgeht. Niemand wird diese Über-setzung aus der Hand legen, ohne von dem wahren Geiste griechischen Fühlens und Denkens, den es wie­dergibt, ergriffen worden zu sein, und dabei wird ihm nirgends ein Verstoß gegen den Geist seiner eigenen

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Sprache begegnen. Der Verfasser hat nun den Liedern eine Vorrede vorausgeschickt, die eine feinsinnige ästhe­tische Auseinandersetzung mit dem Geiste des Griechen­tums ist und die Berechtigung der Anakreonta glänzend darlegt. Wie das Griechentum ganz im Gegensatz zum modernen Menschentum und seiner Weltflucht, das den Geist des Bösen darinnen sieht, wenn es zum Augenblicke sagt: «Verweile doch, du bist so schön», - das unmittel­bare Wirkliche ergreift und aus dem Augenblicke das Göttliche zieht, das hat der Verfasser wieder mit jenem Feinsinn dargelegt, den wir stets an seinem schriftstelle­rischen Wirken bewundert haben.

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PIERERS KONVERSATIONS-LEXIKON

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Selten vereinigt sich ideales Streben mit jenem praktischen Sinn, der die Einführung desselben in die Wirklichkeit, in das Leben ermöglicht. Ja, zumeist verachtet der Idealismus die Praxis und muß es dann damit büßen, daß ihn die letztere als für sie unbrauchbar, einfach unberücksichtigt läßt. Ein schönes Zusammenwirken bei­der Richtungen erblicken wir in den literarischen Unter­nehmungen Kürschners. Dieser Mann ist Idealist, und seine mannigfaltige schriftstellerische und redaktionelle Tätig­keit steht durchaus auf der vollen Bildungshöhe der Zeit; dabei fehlt ihm nicht die Gabe, die Produkte des Geistes volkstümlich, praktisch brauchbar zu machen. Kürschners «Deutsche Nationalliteratur» ist ein innerlich durchaus

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gediegenes Werk, eine Sammlung von bleibendem Werte. Dabei in jeder Hinsicht durchaus ansprechend, für die Be­dürfnisse der Gebildeten - nicht bloß der Gelehrten -geschaffen. Nun liegen vor uns die ersten Hefte der von Kürschner besorgten Neuauflage des alten «Pierer». Die gründliche Umarbeitung, die der Herausgeber dem Werke angedeihen läßt, bewegt sich durchaus in der Richtung, den inneren sachlichen Wert des Buches zu erhöhen. Es soll in jeder Richtung den Anforderungen der Zeit ent­sprechen, soll die neuesten Errungenschaften auf allen Ge­bieten verwerten. Dabei geschieht dies in einer Weise, die alle gelehrte Pedanterie ausschließt. Überall auf der Höhe der Wissenschaft stehen und dabei doch niemals «dozie­ren», sondern stets dem Streben, sich über Fragen aller Art zu «informieren», gerecht zu werden, das ist der deutlich wahrnehmbare Hauptgrundzug bei Abfassung des Werkes. Ist das Bestreben Kürscbners durchaus darauf gerichtet, ein für jedermann brauchbares Konversations­Lexikon zu schaffen, so wird es durch die jedenfalls will­kommene Beigabe eines Universal-Sprachen-Lexikons in seinem Werte um ein Beträchtliches erhöht. Der Besitzer kann sich im Augenblicke informieren, wie irgendein Aus­druck in zwölf Sprachen heißt (böhmisch, dänisch, eng­lisch, französisch, griechisch, holländisch, italienisch, latei­nisch, russisch, schwedisch, spanisch, ungarisch) oder wie ein diesen entlehnter Ausdruck im Deutschen lautet. Es ist eine bekannte Tatsache, wie oft man eine solche Information nötig hat.

Die große Zahl der Mitarbeiter - über hundertsechzig - sichert dem Werke wohl die sachliche Gediegenheit. Sie werden aus dem alten «Pierer» ein in jeder Hinsicht durchaus

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neues Buch machen. Wir wünschen, daß es ein Haus­und Familienbuch werde, als das es ursprünglich von Kürschner gedacht ist. Der Verleger bat die Ausstattung zu einer sehr vorteilhaften gemacht, so daß nichts ver­säumt wurde, jenen Zweck zu erreichen. Vom Einzelnen kann immer nach dem Erscheinen der einzelnen Bände ge­sprochen werden, für diesmal sei nur auf Tendenz und Aufgabe des Buches hingewiesen.

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WOLFGANG ARTHUR JORDAN: «PSALMEN»

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Die Übersetzung eines Literaturwerkes, das einer der unsrigen so fremden Sprache angehört, ist eine Aufgabe von ungeheurer Schwierigkeit. Stellt man sich nicht die leichtere Aufgabe, eine für den Gelehrten taugliche Übersetzung zu liefern, die bloß eine möglichst treue Wieder­gabe des Originales sein soll, sondern will man, wie W. A. Jordan es für die Psalmen unternommen hat, eine Übertragung für jene Zahireichen unserer Zeit liefern, die das Bedürfnis haben, sich an den herrlichen Dichtungeti einer längst verflossenen Epoche zu erbauen, so hat man die Aufgabe, einen Text zu liefern, der, so wie er in der Übersetzung dasteht, den Eindruck voller Ursprünglich­keit macht. Man darf nicht merken, daß die Sache ur­sprünglich in einer anderen Sprache gedacht und empfun­den ist. Um das zu erreichen, dazu gehört nicht mecha­nisches Übersetzungstalent, dazu gehört eigene Dichter-gabe, die es vermag, das Original in fremdem Gewande

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neu zu beleben. Der Übersetzer muß das Fremde wie ein Ursprüngliches empfinden und wiederdichten. Ob die Übersetzung im gewöhnlichen Sinne des Wortes in allen Stücken korrekt ist, darauf kommt es dabei viel weniger an. Ich fühle mich nicht berufen, darüber zu entschei­den, kann auch über diesen Teil der Aufgabe kein Wort verlieren, da ich nicht Philologe bin. Mir kommt es dar­auf an, hier zu sagen, daß Jordan etwas geleistet hat, was seinem Zwecke vollauf genügt. Der hohe Sinn und Ge­halt der Dichtung ist in einer würdigen Form wieder­gegeben. Der Leser kann den Eindruck von diesem Sinn und Gehalt lebensvoll erhalten. Wir sind in dem ganzen Buche auf nur wenige, kaum in Betracht kommende, künstlerische Härten gestoßen, kaum auf einige Stellen, bei denen wir das Gefühl hatten: hier hat es der Über­setzer nicht ganz bis zum freien Nachdichter gebracht. Im ganzen müssen wir sagen, der bebende Genuß, den die Psalmen bringen sollen, kann durch das Buch erreicht werden. Es ist Jordan gelungen, die innerhalb des er­habenen Grundtones der Dichtung doch wechselnden Stimmungen dichterisch wiederzugeben, so daß auch in der äußeren Form dem Gehalt in jeder Beziehung Rech­nung getragen ist. Aus diesem Grunde ist die Überset­zung allen jenen zu empfehlen, denen das Lesen der Psalmen ein religiöses oder ein ästhetisches Bedürfnis ist.

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DIE WIEDERGEBURT DES MENSCHEN:

Abhandlung über die sieben letzten Paragraphen

von Lessings Erziehung des Menschengeschlechts.

Abgefaßt von Gustav Hauffe

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Lessings «Erziehung des Menschengeschlechts» ist eine Fundstätte tiefsinniger Gedanken. Am besten hat das aus­einandergesetzt Gideon Spiker in seinem Buche über Lessings Weltanschauung. Die sieben letzten Paragraphen der «Erziehung» handeln nun bekanntlich von der Me­tempsychose, das ist dem Auftreten der menschlichen Seelenindividualität in fortschreitenden Entwicklungs-formen auf immer höherer Stufe. Dieser Idee ist das uns vorliegende Buch gewidmet. Die ersten Seiten (1-27) ent­halten eine brauchbare Auseinandersetzung des Hauptge­dankens, wie er sich bei Lessing findet. Von der durch­sichtigen Klarheit dieser «Vorbemerkungen» wird wohl jeder Leser befriedigt sein. Weniger gut ist es dem Schrei­ber dieser Zeilen mit dem folgenden Inhalt gelungen, der eigene Gedanken Hauffes über Metempsychose mit Aussprüchen bedeutender Denker und Künstler aller Zei­ten darüber zusammenwebt, und dem Übersichtlichkeit und Klarheit ganz fehien. Eine Folge davon sind die unzähligen Wiederholungen eines und desselben Gedan­kens in den verschiedensten Wendungen. Der Inhalt müßte auf ein Drittel des Raumes beschränkt werden und die Disposition sich auf die verschiedenen Seiten stützen, von denen aus die Sache im Laufe der Zeiten aufgefaßt worden ist. In diesem Falle müßten selbst die Bekenner ganz entgegengesetzter Anschauungen, zu denen ich mich

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zähle, für das Buch dankbar sein. Ein moderner Denker wird natürlich die Sätze wie zum Beispiel den folgenden nicht verstehen: «Wenn schon im gegenwärtigen Dasein ein Abbilden unseres Innern in leiblicher Erscheinung stattfindet, warum sollte uns dies künftig entzogen sein, da wir doch keine der wesentlichen innern Bedingungen verlieren, und die äußeren Mittel dafür wohl auch sich finden werden, der künftigen Daseins stufe gemäß?» In Urteilswendungen wie: «warum sollte nicht?» zu denken, hat sich die gebildete Menschheit längst abgewöhnt. Man könnte mit demselben Recht wie obigen Satz auch den niederschreiben: Wenn die Pflanze Wachstum und Er­nährungsfähigkeit hat, warum sollte sie nicht auch eine Seele haben? Das sind durchaus vage Gedanken. Un­genauigkeiten wie die in der Anmerkung (S.183) sollten nicht vorkommen: «Auch Goethe - nach einem alten Philosophen - sagt:  Mit Verlaub: dies sagt nicht Goethe, sondern er zitiert den Satz als einen philisterhaften, auf den er «zwanzig Jahre flucht» (vgl. den Aufsatz: Freundlicher Zuruf. Weimarer Ausgabe, II. Abt., 6. Bd., S. 244ff). Wer den Ausspruch für einen Goetheschen hält, der hat für Goethes Weltanschauung kein Verständnis. Auch an anderen Orten sind Stellen aus philosophischen Schriftstellern zitiert, die mit der Metempsychose nicht das geringste zu tun haben, und die nicht verstanden und aus dem Zusammenhange gerissen sind.

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DER NEUE «KÜRSCHNER»

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Der neue «Kürschner» ist diesmal mit großer Verspätung eingetroffen. Immer ungeduldiger wurde, je weiter es ins neue Jahr hineinging, die Frage all der Tausende, denen Kürschners «Literatur-Kalender» längst das unentbehr­lichste, weil täglich in allen möglichen literarischen Angelegenheiten um Rat zu fragende Nachschlagebuch ge­worden ist, ob der «neue Kürschner» denn immer noch nicht komme, und weshalb er nur so lange ausbleiben möge. Wenn das Jahr zu Ende geht, mag man der Zu­verlässigkeit des alten Kalenders nicht mehr recht trauen, die Literatur ist wie ein rasch fließender Strom, jede Welle bringt Neues; und die Literaten selbst sind ein gar wandelhaftes Volk. Da veraltet in Jahresfrist viel, und nach dem fälligen neuen Jahrgang des Kalenders, der sich's zur Aufgabe gestellt hat, die etwa fünfzehntausend in deutscher Zunge dichtenden und schreibenden Männ­lein und Weiblein nach Wohnsitz und Wirken nachzu­weisen, wird die Frage mit jedem Tage, den er aus­bleibt, eine brennendere. Und nun erst, mit dem herein­brechenden Frühling, stellte er sich endlich ein. Weil er fortan ein Frühhngsbote sein will, mußten wir an die arge, unfaßbare Verspätung glauben. Es ist vielleicht ganz richtig, daß der «Kürschner» nunmehr zum April statt zu Jahresbeginn erscheinen wird. Denn da es vor allen Dingen ein zuverlässiges Adreßbuch sein soll und die mei­sten Wohnungsveränderungen auch unter den Männern der Feder mit dem bürgerlichen Ziehtermin zusammen­fallen, so erscheint die Verlegung des Erscheinens von Kürschners Literaturkalender vom Jahres- auf den Frühlingsanfang

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durchaus gerechtfertigt. - Vollständiger und reichhaltiger wiederum als der frühere Jahrgang stellt sich der heutige dar, trotzdem, wie das Vorwort seines Her­ausgebers sagt, eine Reihe von «Xen» ausgemerzt sind -, gottlob! da sie als unnützer Ballast sich durch die Jahr-gänge schleppten. Und dennoch, und trotzdem der dies­jährige Band gegen den vorjährigen auch nicht unwesent­lich dünner erscheint, hat sich die Seitenzahl wieder um zweiunddreißig vermehrt. Das Papier ist dabei nicht schiechter und nicht dünner geworden; die angenehme Schlankheit des «neuen Kürschners» ist also wohl dem Buchbinder der von Stuttgart nach Leipzig übergesiedel­ten Göschenschen Buchhandlung zu verdanken.

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MAX RING

Zu seinem achtzigsten Geburtstag

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Der Romanschriftsteller und Bühnendichter Max Ring feierte am 4. August seinen achtzigsten Geburtstag. Er blickt auf ein inhaltsvolles und arbeitsreiches Leben zu­rück, das er in seinen nächsten Herbst erscheinenden «Erinnerungen» schildert. Teile daraus sind in Karl Emil Franzos' «Deutscher Dichtung» erschienen. Sie sind in­teressant, denn Ring ist mit einer großen Reihe hervor-ragender Zeitgenossen in Berührung gekommen. Er stand vielen nahe, die an der Kulturarbeit Deutschiands schöp­ferisch tätig waren. Einzelne Züge der Persönlichkeiten, mit denen er im Freundschaftsverhältnisse stand, be­schreibt er ansprechend. Er schildert mit Wärme und

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vom Standpunkt einer behaglichen, fröhlichen Lebens­auffassung aus. Auch in seinen Erzählungen und Dramen blickt überall diese Auffassung durch. Der Hintergrund ist fast stets ein kulturhistorischer. Er war in früheren Jahren nicht ohne weitgehenden Einfluß auf breitere Volkskreise. Seine Schilderungen des Berliner Geistes-lebens, des geschichtlichen Werdens Berlins sind lesens­wert. Er kennt das Berliner Wesen und weiß es liebens­würdig darzustellen. Sein Beruf als Arzt hat ihn mit manchen charakteristischen Seiten des Volkes bekannt gemacht und ihm jene pädagogische Tendenz einge­pflanzt, die uns in seinen Romanen begegnet. Man nennt Max Ring nicht mit Unrecht den Erzähler des deutschen Bürgerhauses. Auch an den sozialen Bestrebungen seiner Zeit nahm er Anteil; er trat für die Reformbestrebungen Schulze-Delitzschs ein.

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EDUARD VON ENGERTH

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Eduard von Engerth> der vormalige Direktor der Wiener kaiserlichen Gemäldegalerie, ist am 28. Juli [1897] gestor­ben. Er war seinem Berufe nach Maler. Als solcher ge­hörte er einer alten überlebten Richtung an. Man wird sich aber seiner immer erinnern, wenn man seine Bilder im Wiener Opernhause: den Zyklus der Orpheus-Mythe an den Wänden der Kalsertreppe und die sieben Bilder zu «Figaros Hochzeit» sieht. Als Direktor der Gemälde­galerie hat er sich dadurch Verdienste erworben, daß er die Anfertigung eines Kataloges dieses Kunstinstituts be­sorgte.

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Mögen auch diejenigen recht haben, welche die Mangelhaftigkeit dieses Kataloges betonen. Es war wich­tig, daß die Arbeit geleistet wurde, und Engerth widmete sich ihr, so gut er es vermochte.

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FELIX DÖRMANN: «LEDIGE LEUTE»

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Die Sittenkomödie «Ledige Leute», die in Wien einen guten Erfolg gehabt hat, soll in Berlin durch die Dra­matische Gesellschaft zur Aufführung kommen. Eine öffentliche Aufführung kann nicht stattfinden, weil eine solche durch die Polizei verboten ist. Felix Dörmann ist ein Wiener Dichter mit starkem Talent. Vor Jahren machte er sich durch seine Gedichtsammlungen bekannt. Er ist der Poet einer glühenden Sinnlichkeit und wilden Leidenschaft. Eine besondere Vorliebe für das Krank­hafte, Schwächliche ist ihm eigen. Ein ungesund aus­sehendes Gesicht entzückt ihn; gesunde Hautfarbe und volle Wangen sind ihm ein Greuel. Er besingt gerne die schwarzen Ringe um die Augen.

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FUSSNOTE

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zu dem Aufsatz «Ein tragischer Erfolg», aus dem Eng­lischen * übersetzt von A. Berg

Diesen Aufsatz aus Nr.2. - [1897] - der von der «Times» neubegründeten Monatsschrift «Literature» bringe ich

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* Betrifft : George du Maurier «The Martian»

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hauptsächlich deshalb zum Abdruck, weil er zeigt, wie verschieden die englische Art von der deutschen ist, sich über Fragen wie oben behandelte auszudrücken. Manche der in dem Aufsatze vorkommenden Sätze würde nie ein deutscher Schriftsteller niederschreiben.

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KÜRSCHNERS LITERATURKALENDER

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Der Literaturkalender für 1898 von Joseph Kürschner ist vor kurzem erschienen. Die unvergleichliche Sorgfalt, mit der Kürschner solche Werke arbeitet, ist längst so all­gemein bekannt, daß ich es mir ersparen kann, sie diesmal von neuem zu rühmen. Nicht weniger bekannt ist auch die Unentbehrlichkeit dieses Handbuches für jeden, der eine Verbindung mit der Schriftstellerwelt zu unterhalten hat. Aber es ist doch merkwürdig, daß Kürschner jedes Jahr mit Recht Klage führen muß darüber, wie wenig sich die Schriftsteller im rechten Augenblicke dieser Un­entbehrlichkeit erinnern. «Der schreibende Mensch» -sagt Kürschner in der Vorrede - «scheint eine Vorliebe dafür zu haben, leichifertig mit seiner Adresse umzu­gehen, durchaus zu seinem Schaden! Auch die Schrift-stellerei steht im Zeichen des Verkehrs, und derselbe Mann, der seine Kleider vor Mottenfraß bewahrt, bevor er auf die Reise geht, tut nichts für die in seiner Ab­wesenheit eingehende Post. Verzieht er dauernd, so denkt er womöglich noch weniger daran, erreichbar zu bleiben und versinkt für Redaktionen und Kalenderherausgeber rettungslos in den Pfuhl der unsicheren Kantonisten. Und

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dann die - na, sagen wir Trägheit im Beantwonen, in so einfachem Rücksenden eines Formulars, für deren Fol­gen in der Regel der Unschuldige leiden muß. Ist da ein Leipziger Herr, Besitzer zweier Adressengummistempel, also geradezu prädestiniert zur Erledigung seiner Formu­laritäten, der allmählich in den Abfluß geraten (das heißt nicht mehr in dem Literaturkalender steht), weil seine Existenz nicht mehr beweisbar für mich war. Jetzt end­lich meidet er meiner unter Ver­wendung besagter Gummistempel allerhöchst sein beson­deres , unter den Tisch gefallen zu sein. Er ist zwar weder noch , um nach der Aufnahme , glaubt aber ein , was . Der Schleier der Bescheidenheit, in den sich die ge­kränkte Unschuld bis dahin hüllte, wird nun zur Toga, in deren Falten Krieg und Frieden ruhen. In einem Tone, der nicht nur mir, sondern auch den Regeln von Albertis Fehde kündet, schließt der Abtrün­nige seine Epistel : Wahrhaftig von Oberflächlichkeit kann da nicht die Rede sein. Mit einer Gründlichkeit, die be­wundernswert ist, werden die literarischen Rechtsverhält­nisse, die literarischen Vereine und Stiftungen und alles, was man über diese Dinge zu wissen wünscht, auf­geführt. Sorgfältig wird die «literarische Chronik» des verflossenen Jahres behandelt, und die Namen, Titel, Werke und Adressen sowie das Alter der Schriftsteller werden in einer Weise verzeichnet, die man an diesem

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Literaten-Adressenbuch nicht genug loben kann. Und unparteiischer könnte keine Behörde verfahren, der die Abfassung eines Adreßbuches obliegt. Nützlich ist auch das Verzeichnis der Verleger, der Zeitschriften und Zei­tungen, der deutschen Theater und ihrer Vorstände, der Agenturen und so weiter. Kurz, Kürschner tut, was er kann. Man muß nur wünschen, daß seine berechtigten Klagen über geringe Unterstützung von Seiten seiner Fachgenossen von Jahr zu Jahr weniger werden mögen.

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NACHRUF FÜR PROFESSOR DR. LEO

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Am 30.Juni [1898] ist der um die Shakespeareforschung sehr verdiente Professor Dr. Leo gestorben. Er war einer der Mitbegründer der deutschen Shakespeare-Gesellschaft und lange Herausgeber des Shakespeare-Jahrbuches. Alljährlich am 23. April versammelte sich in dem zu sol­chen Zwecken so beliebten Weimar ein kleines Häuflein deutscher Shakespeareforscher. Der Charakterkopf Leos war da immer zu sehen. Er gehörte zu den Stützen dieser Gesellschaft.

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VIGTOR WODICZKA

Gestorben am 14. Juli 1898

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Der österreichische Schriftsteller Victor Wodiczka ist am 14. Juli in Graz gestorben. In ihm ist uns eine in jeder Beziehung sympathische Natur allzu früh entrissen wor­den.

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Er ist in weiteren Kreisen zuerst bekannt gewor­den durch seine Erzählung «Der schwarze Junker». Von seinen späteren Arbeiten nenne ich noch das ansprechende Buch «Aus Herrn Walthers jungen Tagen». In seinen Ar­beiten ist ein feiner und sinniger Künstler zu erkennen. Vor Jahren habe ich Wodiczka kennengelernt und man­che angeregte Stunde mit ihm zugebracht. Dann hat uns das Leben auseinandergebracht. Ich habe lange von ihm nur das vernommen, was alle Welt vernommen hat : seine interessanten Kunstwerke. Plötzlich melden die Zeitungen kurz, daß der Mann, von dem ich noch viel erwartet habe, im Alter von siebenundvierzig Jahren gestorben ist. Ich möchte hier, an dieser Stelle, das schmerzliche Gefühl zum Ausdruck bringen, das mich befallen hat bei der Nachricht von dem Hinscheiden des von mir so geschätzten Mannes.

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NEUE BÜCHER

MODERNE LYRIK

I

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Lieber Leser und liebe Leserin, ich finde nicht Worte, Euch zu schildern den Eindruck, den mir die Dichtungen gemacht haben, die mir heute ins Haus geflogen kamen. Höret den Dichtet selber:

«Jahr auf Jahr...

Im Park

necke ich die jungen Mädchen,

die erröten nicht mehr, lächeln nicht mehr.

Machen kein böses Gesicht!

Schweigen nur, seh'n an mir vorbei.

Verschränken die Arme.

Fern verhalit

schwatzendes Glück.

Hier,

wo mir die Liebste um den Hals fiel,

laut

Liebe schluchzte -

schweigt der rote Mund einer Blume.

Es ward still um mich. Unter der Erde stürzt meiner Mutter Sarg zusammen!»

Und habt Ihr noch nicht genug, lieber Leser und liebe Leserin, lege ich Euch noch eine zweite Probe vor:

«Heut' früh sang ich drei Liebeslieder

über den schmelzenden Schnee

in die weiche Luft.

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Mittags war ich so hungrig;

fast fielen mir die Träume in die Erbsen. Ich stopfte.

Jetzt scheint der Mond.

Aus meinem Herzen

schreien dreihundett Kater.»

Doch jetzt bringe ich keine Probe mehr. Ich habe Euch zu lieb, lieber Leser und liebe Leserin. Aber ich mußte Euch doch berichten von dem neuesten Bändchen Lyrik «Neues Leben» von Georg Stolzenberg, soeben er­schienen in Berlin bei Johann Sassenbach. Solltet Ihr glauben, es sei auf eine Konkurrenz mit dem «Kladdera­datsch» abgesehen, der so manche heitere Stilprobe in seiner «Korrespondenz der Redaktion» bringt, so irrt Ihr Euch. Es handelt sich wirklich und wahrhaftig um ernst-gemeinte «moderne Lyrik», und das Büchlein ist keinem Geringeren als Herrn Stolzenbergs «Freund» Ärno Holz gewidmet.

Herr Georg Stolzenberg hat mit seinem Singen die neue Lyrik wirklich entdeckt. Am 7. Mai 1898 hat er das in der für « Selbstanzeigen» so geeigneten «Zukunft» verkündet. Er erzählt, daß er lange Jahre gesucht hat, um seine Empfindungen in die geeignete Form bringen zu können. «Da las ich einige neueste Gedichte von Arno Holz. So­fort, nachdem ich ihre Wesenheit begriffen, war es ruir klar, was die Entwicklung zu einer wirklich zeitgemäßen Verskunst so lange aufgehalten hatte: der dicke Wort-werg, den selbst diejenigen unserer Dichter, die bereits längst über jeder Kritik stehen, fuderweise in ihre Vers-gebäude stopfen mußten, damit es keine allzu großen

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Ritzen gab, der Zwang, den widerstrebenden Gedanken­faden durch das jedesmalige Reimöhr zu zwirbeln, die Notwendigkeit, das Wort beständig Tanzpas machen zu lassen. Mit der von Arno Holz geschaffenen Technik, der, wie er dies selbst ausdrückt, letzte Einfachheit das höch­ste Gesetz ist und der möglichsten Natürlichkeit die in­tensivste Kunsfform scheint, beginnt heute die Lyrik gleich­sam von neuem.» Und nun genug. Die Prosa Stolzenbergs ist seiner «Poesie» würdig.

#TI

II

#TX

Die Lyrik treibt jetzt neue Blüten. Die Leitung dieser Zeitschrift hat ihren Geschmack noch nicht so weit umreformiert, um sich ein Urteil über diese neueste Kunst-richtung anzumaßen. Deshalb legt sie, ohne jedes Urteil, den Lesern ein paar Proben dieser neuesten Leistungen vor. Es wird aber vorher ausdrücklich bemerkt, daß diese lyrischen Schöpfungen von ihren Urhebern wahrhaft ernst gemeint sind.

Der Meister Arno Holz gehe voran. In seiner neuesten Sammiung «Phantasus»(Berlin, Sassenbach. Zweites Heft 1899) findet sich:

«In rote Fixsternwälder, die verbluten,

peitsch ich mein Flügelroß.

Durch!

Hinter zerfetzten Planetensystemen, hinter vergletscherten

hinter Wüsten aus Nacht und Nichts [Ursonnen, wachsen schimmernd Neue Welten - Trirnonen Crocushlüten!»

*

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Nun die Schüler: Georg Stolzenberg, «Neues Leben» (Zwei­tes Heft. Berlin 1899):

«Frühlingswind

wühlt in den Röcken.

Alle Mädchen sind schön.

Sie kaufen sich kleine Veilchensträuße und lachen ohne Grund.

Ich

zwirble meinen schön gekräuselten sich immer wieder Maikaterbart!» [sträubenden

*

Robert Hess dichtet in seinen «Fabeln» (Berlin 1899):

«Metaffisch glänzt der Abendhimmel unter dunklem Geäst

bläst ein Hirt. Noch springen munter die Zicklein.

Mücken tanzen.

Ein Schaf schaut in die untergehende Sonne.

Bäh!»

*

Rolf Wolfgang Martens «Befreite Flügel» (Berlin 1899) ent­halten:

«In Wasserstiefeln,

mit aufgekrempelten Ärmeln, streicht er durch die Urwälder.

Sein Blick

mißt die Mammutbäume.

Auf dem Gipfel des Gaurisankar baut er sich stolz ein Schloß.

Dort zecht er mit Ramses, Timur und Alexander dem Großen. Befangen

nahe ich mich und zeige ihm ein buntes, schimmerndes Entrüstet [Wiesenblümchen

schmeißt er mich die Treppe runter!»

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#TI

ÜBER DEUTSCHNATIONALE

KAMPFDICHTER IN ÖSTERREICH

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Die stürmischen nationalen Kämpfe innerhalb Österreichs haben bewirkt, daß man sich heute mehr als noch vor kurzer Zeit mit den komplizierten Kulturverhältnis sen die­ses Staates auch außerhalb seiner Grenzen befaßt. Doch sind die Vorstellungen, die man durch die erhöhte Auf­merksamkeit von dem Denken und Fühlen der österrei­chischen Völker sich gebildet hat, noch immer sehr man­gelhafte. Ein großer Teil der Reichsdeutschen kennt dieses Denken und Fühien so gut wie gar nicht. Ich will auf eines hinweisen. Der Kampf, den die Deutschen um ihre Nationalität führen, hat eine deutschnationale Kampf­dichtung erzeugt, von der außerhalb Österreichs wohl kaum gesprochen wird. Zu den poetischen Kämpfern der Gegenwart gehören: Aurellus Polzer - der unter dem Pseudonym Erich Feis seine Gedichte veröffentlicht -, Adolf Harpf - unter dem Namen Adolf Hagen -, Keim, Naaff und viele andere. Der Kunstwert der auf diesem Gebiete entstehenden Dichtungen ist allerdings zumeist kein sehr hoher. Dennoch verdient die ganze Strömung Beachtung. Denn sie singt davon, wie ein großer und wichtiger Teil der österreichischen Deutschen denkt und empfindet. Es ist viei Charakter, Kraft und Herz in den Liedern dieser deutschen Dichter Österreichs.

Es soll nun hier auf eine Schrift eines dieser Dichter aufmerksam gemacht werden. Adolf Hagen (Adolf Harpf) hat soeben ein Heft « Über deutschvolkliches Sagen und Singen» erscheinen lassen (Leipzig 1898). Er schildert das Wesen der deutschen Volksseele vom Gesichtspunkte des

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deutschnational gesinnten Österreichers aus. Das Büchel­chen ist ein gutes Mittel, manches über Österreich zu erfahren, wovon man sich in Deutschland auf andere Weise nur schwer Kenntnis verschaffen kann.

#TI

GEDÄCHTNISFEIER

FÜR THEODOR FONTANE

#TX

Die Gedächtnisfeier für Theodor Fontane, welche am 16. Oktober [1898] der Berliner Verein «Freie Bühne» veranstaltete, brachte eine interessante Gedächtnisrede Otto Brahms, des Direktors des Deutschen Theaters. Brahm war einer der ersten, die ihre kritische Begabung in den Dienst der in den achtziger Jahren in Deutsch­land auflebenden neuen Literaturströmungen stellten, und Theodor Fontane, obwohl er damals bereits zu den «Alten» gehörte, begrüßte die «Jungen» in herzlicher Weise und brachte ihnen ein Verständnis entgegen, wie wenn er mit ihnen selbst wieder jung geworden wäre. Der Kritiker Brahm hatte persönliche Beziehungen zu Theodor Fontane, und er konnte in seiner Rede Erin­nerungen und Briefstellen mitteilen, die ein schönes Licht auf die Persönlichkeit des Dichters werfen. Fontane hat nach Errichtung der «Freien Bühne» sogleich auf Gerhart Hauptmann als den kommenden Künstler hin­gewiesen und jeden weiteren Schritt desselben mit inni­gem Anteil verfolgt. Er hat diesen Anteil in seinen Brie­fen in einer Weise ausgesprochen, die von dem hohen

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künstlerischen Sinn ebenso wie von dem feinen Humor des Dichters Zeugnis geben. Für das, was Sudermann, was Georg Hirschfeid und andere jüngere Dichter geleistet haben, fand Fontane bedeutungsvolle und auch launige Worte. Das Verhältnis des « Dichters der Mark» zu dem «nordischen Befreier» Henrik Ibsen beleuchtete Otto Brahm in etwas trockener, aber doch feiner Weise. Er zeigte, wie nahe die beiden Dichter einander in der Auf­fassung menschlicher Verhältnisse und Seelenvorgänge stehen, wie sie sich in bezug auf die Gesellschaftskritik berilhren, die in ihren Werken gegeben ist. Die künst­lerische und auch die menschliche Physiognomie Fontanes hat Otto Brahm trefflich herausgearbeitet. Er rechnet den Dichter zu den Naturalisten, weil dieser in seinem ganzen Leben nie etwas von einer gesetzgebenden Ästhetik ge­halten, sondern sich dem freien Walten seiner Natur über-lassen hat. Niemand kann stärker davon überzeugt sein, als Fontane es war, daß sich die ethischen und die künst­lerischen Maßstäbe der Menschen fortwährend wandeln. Niemals hat er gefragt, wie sich ein Kunstwerk zu all­gemeinen Regeln verhält, sondern stets hat er sich in seinem Urteile nach dem individuellen Eindrucke gerich­tet, den es auf ihn gemacht hat. Wenn die «Jungen» auch etwas stürmisch sich gebärdeten: Fontane trat ihnen nicht wie andere «Alte» polternd und mit dem ästheti­schen Regelmaße entgegen. Er verstand sie auch in ihren Ausschweifungen, denn er wußte, daß viele vergebliche Ansätze gemacht werden müssen, wenn zuletzt etwas Fruchtbares, Zukunftsicheres sich entwickeln soll. Für ihn hatte sogar die Ablehnung der jungen Generation von seiten seiner Altersgenossen etwas Unverständliches. Er

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konnte nicht recht begreifen, warum die alten Bäume den jungen Nachwuchs nicht dulden wollten, der doch aus den Samen entstand, die sie selbst gereift.

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FONTANE-FEIER

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Sonntag, den 23. Oktober [1898], veranstaltete die Berli­ner « Freie literarische Gesellschaft» eine Fontane-Feier. Sie wurde eingeleitet durch einen Nachruf, den Julius Rodenberg gedichtet und Josef Kainz gesprochen hat. In feinsinniger und eingehender Weise charakterisierte hier­auf Max Lorenz die künstlerische Eigenart und die Be­deutung Fontanes. Daran reihte sich die Rezitation Fon­tanescher Dichtungen durch den großen Vortragskünst­1er Josef Kainz und die Löwesche Komposition «Dou­glas», die A. van Eweyk in wirkungsvoller Weise sang.

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GEDÄCHTNISFEIER

FÜR KONRAD TELMANN

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Der Künstlerverein in Dessau hat am 20. Oktober [1898] eine Gedächtnisfeier für Konrad Telmann veranstaltet, bei der die Witwe des beliebten Erzählers, Frau Hermione von Preuschen, als Ehrengast anwesend war. Die Bedeutung des Dichters und Schriftstellers haben Stanislaus Art'l und Ferdinand Neubürger in ihren Gedächtnisreden dargelegt.

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STAATSANWALT UND DICHTER

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Eine Mitteilung, die verdient, in weitesten Kreisen be­kannt zu werden, bringt die letzte Nummer der Wiener Wochenschrift «Die Zeit». Der Dichter Wilhelm Schäfer hat in dieser Wochenschrift vor mehreren Monaten eine Novelle «Der Mörder» veröffentlicht. Er schildert die Vor­geschichte einer Mordtat und das weitere Schicksal des Mörders. Was tut der Staatsanwalt? Der Dichter selbst schreibt darüber: « Ich bin beim Erzählen von einem tat-sächlichen Mord ausgegangen, der vor einigen und zwan­zig Jahren in meiner Heimat uns Klnder in große Auf­regung brachte. Der Ermordete wurde damals genau so aufgefunden, wie ich es erzählte: nackt und ohne Kopf. In dieser Geschichte hat der Staatsanwalt eine Reihe von Vorgängen dargestellt gefunden, die seltsamerweise genau mit dem übereinstimmen, was die Untersuchung erst in der letzten Zeit herausgebracht hat und was außer dem Untersucher niemand wissen konnte, die ich aber durch­aus erfunden habe, um die raffinierte Überlegung meines Mörders zu zeichnen. - Auf diese Weise bin ich vorlauter Fabulant in den Verdacht der Mitwisserschaft geraten. Und zwar so sehr, daß ich vorgestern in Sache des einem Verhör unterzogen wurde.»

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REDE VON PROFESSOR süss

AUF GERHART HAUPTMANN

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Die Wiener Akademie der Wissenschaften hat nicht nur, was ihr zukommt, Gerhatt Hauptmann den Grillparzer­Preis für seinen «Fuhrmann Henschel» zugeteilt. Sie hat ihm noch besondere Ehren darüber hinaus angetan. Pro­fessor Süß, der auf der Höhe naturwissenschaftlicher Weltanschauung der Gegenwart stehende Präsident der Akademie, hielt eine Rede auf den großen Dichter der naturwissenschaftlichen Weltanschauung. Es ist ein geisti­ges Ereignis allerersten Ranges, daß eine Akademie einem der fortschrittlichsten Künstler in dieser Weise Verständ­nis entgegenbringt. Wäre das nur ein gutes Zeichen!

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EINE BERICHTIGUNG ZUM ARTIKEL

«EINE BERÜHMTE DICHTERIN»

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Die Leser erinnern sich, daß vor einiger Zeit über eine «deutsche Dichterin», Johanna Baltz, in dieser Wochenschrift ein Artikel erschienen ist. Er stellt dar, auf wel­che Weise der Dilettantismus manchmal in Deutschiand «berühmt» wird. Fräulein Baltz schickte nun eine Berich­tigung. Ausdrücklich bemerkt werden muß, daß der Ver­fasser jenes Artikels für den Inhalt persönlich eintritt. Aber was kann man nicht alles berichtigen! Ich druckte also die mir von dem Herrn Rechtsanwalt des Frl. Baltz gesandte «Berichtigung» ab. Aus technischen Gründen aber mit kleinerer Schrift als der Artikel selbst. Fräulein

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Baltz und ihr Vertreter sind nun geschmackvoll genug, zur weiteren Verbreitung des Ruhmes der «berühmten Dich­terin» den Wordaut des § 11 des Pressegesetzes zu be­nutzen, der also lautet:

Der Abdruck muß in derselben Schrift wie der zu be­richtigende Artikel gedruckt werden.

Was bleibt nun dem armen Redakteur übrig, als der Gewalt eines Gesetzesparagraphen zu weichen und zum Ruhme der «Dichterin» Johanna Baltz weiter zu wirkern durch folgende Berichtigung?

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[Die Berichtigung folgt auf Seite 533 der Hinweise]

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MARIE KRESTOWSKI: «DER SOHN»

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In der von Felix Heinemann herausgegebenen «Roman-welt» erschien vor kurzem eine Erzählung der russischen Schriftstellerin Marie Krestowskl «Der Sohn», die eine ganz besondere Beachtung verdient. Ein Mann hat seine Frau verloren und lebt nach ihrem Tode von der Erin­nerung an das Glück, das ihm das innlggeliebte Weib einst gebracht, und von den Gefühlen, die er für den Sohn hegt, den sie ihm hinterlassen hat. In fesselnder Weise, mit seltener Seelendarstellungsgabe wird nun ge­schildert, wie gewisse Vorgänge dem Mann allmählich die Erkenntnis beibringen, daß der Sohn der Frau nicht auch sein Sohn, daß ihm die Frau die Treue gebrochen hat. Der Ehebrecher ist noch dazu ein Jugendfreund des Betrogenen, den er selbst ins Haus geladen hat, zu dem er restloses Vertrauen gehabt hat. Diese große Vertrauensseligkeit

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wird allerdings etwas unwahr; dafür ist die Wir. kung der Erkenntnis auf das Gemüt des Mannes in hin-reißender Weise erzählt. Der Blick des Geistes schweift beim Lesen weit über den einzelnen Fall hinaus. Wieviel ähnliche Unwahrheit mag im Leben walten, die nicht durch die Macht der Tatsachen enthüllt wird gleich die­sem Eheglück! Es ist die Art wirklicher Dichter, den ein­zelnen Fall so individuell zu gestalten, daß wir einen zweiten nicht finden können, der ihm gleicht, und zu­gleich eine große Wahrheit auszusprechen, von der wir die Empfindung haben, daß sie sich unzählige Male in der Wirklichkeit zeigt.

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ZWEI ESSAYS

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Dr. Benno Diederich> der Verfasser der Biographie Zolas in den Leipziger biographischen Volksbüchern, hat jetzt in der Virchowschen Sammiung, welche bislang noch nichts über den berühmten Franzosen enthielt, zwei Essays veröffentlicht. Sie bildeten einen Vortrag, den Diederich in der Hamburger Literarischen Gesellschaft hielt, und werden in dieser Form weitesten Kreisen zugänglich gemacht, und in dieser Zeit, wo der Name Zolas in aller Munde lebt, gewiß einen dankbaren Leserkreis finden. Sie geben im ersten Teil über das große Romanwerk der Rougon-Macquart einen Gesamtüberblick, der die Leser Zolas über den Zusammenhang der einzelnen Ro­mane anschaulich orientiert, im zweiten Teil von des Dichters Schreibart eine charakteristische Seite, die, durch

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mannigfaltige Beispiele erläutert, zum Verständnis von dessen Kunst einen interessanten Beitrag liefert. Der Ver­fasser hat sich, der Tendenz der Virchowschen Sammlung entsprechend, von allem abstrakten, literarischen Theo-retisieren ferngehalten, er setzt keinerlei Kenntnisse vor­aus und fülrrt seine Leser vollkommen unbefangen an die große Romanreihe heran; auch die schwierige Materie der Milieutheorie behandelt er so, daß der Leser, ohne durch akademisches Gestrüpp aufgehalten zu werden, Schritt für Schritt einen klaren Weg wandelt und an den zahlreichen Beispielen sich selbst über dessen Richtigkeit orientieren kann. Im ganzen ein Heftchen, das mancher mit Interesse lesen wird.

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SONNENSTRAHLEN

AUS TAL UND HÖHEN

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Unter diesem Titel hat Gusti Reichel ein im Kommissions­verlag von E. Leupoldt (Stuttgart) erschienenes kleines Prachtwerk veröffentlicht, das zwar nur einen bescheide­nen Platz innerhalb des modernen Kunstlebens einnimmt, aber gerade wegen seiner Anspruchslosigkeit und Naivität angenehm berührt und zumal bei Frauenseelen auf stilles Verständnis rechnen darf. Das kleine Werk besteht aus zehn in einer geschmackvoll ausgestatteten Mappe verei­nigten Zeichnungen, deren jeder zugleich ein Aphorismus beigegeben ist. Bild und Wort sind Eigentum der Künst-lerin. Die Blätter sind nach den Originalen photolitho­graphiert und wirken mit allen ihren individuellen Eigen­heiten recht freundlich. Sechs Blätter bieten Motive aus

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dem Schwarzwald, die übrigen Motive aus der Mark. Zu den hübschesten Blättern gehören «Aussicht vom Georgen-turm in Calw», «Bergruine Liebenzeil », «Giebel, Markt-brunnen und Waldmotiv» und «Ruine des Klosters Hirsau». Das ganze hat etwas Apartes und darf stillen Frauenseelen empfohlen werden.

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NEUE BÜCHER

J. ROLLET: «SCHATTEN»

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Mit tiefem Interesse für den Autor muß ein anspruchs-loses Büchlein «Schatten» (Ernstes und Heiteres) von J. Rollet erfüllen. Ein Mann, der vieles Leid und ein stilles Schicksal abseits vom Wege mit sich getragen hat, spricht sich aus. J. Rollet ist ein feinsinniger Naturschilderer und ein Beobachter des menschlichen Herzens, da, wo dieses verborgene Leiden und Freuden erträgt, die leicht der Welt unsichtbar bleiben. Man lernt einen Menschen aus dem Buche kennen, in dessen Seele das Leben tiefe Furchen ge­graben hat.

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VIGTOR VON REISNER:

«MEIN HERRENRECHT»

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Innige Befriedigung hat mir das schöne Büchlein Victor von Reisners « Mein Herrenrecht» gebracht. Wer, wie ich, das Leben in den kroatisch-slawonischen Gebieten kennt,

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von denen uns der Verfasser berichtet, der weiß, daß hier in plastisch anschaulicher Weise und mit echtem Humor ein Stück Volkspsychologie in interessantester Weise verar­beitet ist. Der gemütvolle Anteil, mit dem von Reisner schildert, und der flotte Stil, der ihm eignet, sollten sein Büchlein zu einer sympathischen Gabe für alle diejenigen machen, die in kunstvoll-anregender Weise sich die Sitten und Vorstellungen einer in ihrer Art merkwürdigen Volksmasse vorstellen lassen wollen.

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HANS OSTWALD: «VAGABUNDEN»

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Eine reizvolle literarische Erscheinung liegt in Hans Ost­walds «Vagabunden» vor. Erlebnisse eines «fahrenden Ge­sellen» im besten Sinne des Wortes möchte ich das Buch nennen. Ein junger Mann mit offenen Sinnen und viel Le­bens klugheit zieht hinaus in die Welt und teilt nachher seine feinen Beobachtungen mit. Mit inniger Freude nur kann man lesen, was der Autor auf seinen Wanderzügen betrach­tet, und was er mit unbefangenem Geiste, immer an­regend, aufgezeichnet hat. Eine Landschaft Preußens, wie sie leibt und lebt, stellt sich vor uns hin; die Niederungen des Menschendaseins, das Schicksal der Enterbten weiß Hans Ostwald hinreißend zu schildern.

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ERWIDERUNG

auf den Artikel:

Meine «eingebildete» Revolution, von Arno Holz

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Jeder Psychologe kennt den Typus der Menschen, die nur die eigenen mühsam zurecht gezimmerten Gedanken­gänge zu verstehen fähig sind; und die absolut stumpf sind für alles, was ein anderer von seinem Gesichtspunkte aus sagt. Arno Holz ist ein gutes Beispiel für diesen Typus. Er hat auch eine charakteristische Geisteseigenschaft die­ser Menschen. Sie kommen ins Schimpfen, wenn sie etwas ihren Behauptungen Widersprechendes hören. Bei sach­licher Diskussion können sie nicht bleiben, weil ihnen das Verständnis des andern eben verschlossen ist.

Nur weil wegen dieser seiner Geistesbeschaffenheit Arno Holz gar zu dicke Mißverständnisse in obigen Ausfüh­rungen ablädt, komme ich auf sie zu sprechen. Der Ton, in dem diese Ausführungen auftreten, würde auch begreif­lich erscheinen lassen, wenn ich auf jede Erwiderung ver­zichtete.

Ich sehe, um von dem Denkapparat des Herrn Holz begriffen zu werden, hätte ich viel ausführlicher sein müs­sen. Holz hat keine Ahnung davon, in welchem Sinne ich das Wort «Urlyrik» brauche. Nun ich gebrauche es in demselben Sinne, in dem Goethe die Worte «Utpflanze», «Urtier» gebrauchte. Alles, was ich in dem Aufsatze «Von der modernen Seele» über Holz gesagt habe, beweist das -allerdings nur, wie es scheint, für anders organisierte Denkapparate, als der des Herrn Holz ist. «Urlyrik» ist für mich das Wesen der Lyrik, die Summe alles dessen, was

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allen Arten der Lyrik gemeinsam ist, gleichgültig in wel­chen Formen sie auftreten. Dieses Wesen wird alle zu­künftige Lyrik mit aller vergangenen gemein haben. Goethe sagt, eine Urpflanze muß es doch geben, denn woran würde man denn sonst erkennen, daß dies oder jenes eine Pflanze ist.

Er sagt auch, daß man von der Idee dieser Urpflanze aus beliebig viele Pflanzenformen ersinnen könne, die alle die Möglichkeit des Lebens haben. Von dieser Urpflanze ist auch die allererste Pflanzeuform, die je in der Wirklich­keit aufgetreten ist, schon eine besondere Ausgestaltung, eine reale Verwirklichung. So war es auch mit den zei/lich ersten lyrischen Produktionen. Sie verhalten sich zu dem, was ich « Urlyrik» genannt habe, wie äußere Erscheinung zur inneren Wesenheit. Diese Urlyrik war eben nie wirk­lich da, sondern sie wird von unserer Erkenntnis aus den realen Formen herausgeschält, wie Goethe die Idee der Urpflanze aus den realen Pflanzenformen herausgeschält hat. Es kann jemand auf dem Boden einer andern Welt­anschauung stehen, als der ist, auf dem ich stehe. Dann kann er die Berechtigung bestreiten, einen solchen Begriff der «Urlyrik» aufzustellen, wie ich es tue. Holz aber meint, wenn ich von Urlyrik spreche, so denke ich an die An­fangsstadien der lyrischen Produktion. Täte ich das, dann wären meine Ausführungen geradezu unsinnig. Und Holz polemisiert gegen einen Unsinn, den nicht ich gesagt habe, sondern der nur als Zerrbild meiner Behauptungen in sei­nem Kopfe spukt. Grundlage der Lyrik ist der Empfin­dungs- und Vorstellungsinhalt und die ihm immanenten rhythmischen Formen. Diese Grundlage macht die Idee der «Urlyrik» in meinem Sinne aus. Was dazu kommt, ist besondere

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Ausgestaltung im einzelnen. Da kein Reales der ihm zu Grunde liegenden Idee vollständig entspricht, so wird auch keine reale Lyrik der Idee der «Urlyrik» ent­sprechen. Es wird zu dem immanenten Rhythmus noch ein äußerer hinzutreten. Wenn in den Korriborriliedern und anderen zeitlich ersten lyrischen Produktionen die äußere Form die Idee der Lyrik kaum erkennen läßt, wenn da des äußeren Rhythmus wegen geradezu inhaltlicher Unsinn zutage tritt, so entspricht das ganz einer andern Tat­sache: auch die zeitlich ersten Tier- und Pflanzenformen entsprechen in ihrer sinnenfälligen Wirklichkeit nur wenig dem, was man im Sinne Goethes Urtier oder Urpflanze nennen kann. Herr Holz, Sie haben also nicht verstanden, was ich unter Urlyrik verstehe. Ich begreife das, denn ich weiß lange: wenn es sich nicht um konkrete Dinge, sondern um abstrakte Dinge handelt, können die meisten Menschen einen Hosenknopf von einem Laternenpfahl nicht unterscheiden. Ich habe von einem Laternenpfahl gesprochen; Sie haben ihn für einen Hosenknopf gehalten.

Was ich Ihnen aber nicht zugemutet hätte, das haben Sie doch getan. Gewiß nicht absichtlich. Aber vielleicht, weil Sie über dem Spukbild, das sich in Ihrem Kopfe von meinen Ausführungen festgesetzt hat, meine Gedanken nicht gesehen haben. Sie £älschen, um mich zu widerlegen, meine Sätze. Ich habe gesagt: «Die Lyrik wird gewiß die bisherigen Formen abstreifen und sich auf hoher Ent­wickelungsstufe in neuen Formen zeigen. Aber sie kann nicht im Laufe der Entwickelung zur Urlyrik werden.» Warum? In meinem Sinne, deshalb nicht, weil Urlyrik die sich durch alle individuellen lyrischen Arten hindurch-ziehende Wesenheit der Lyrik ist. Sehen Sie sich meinen

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Satz genau an. Er besagt das. Sie zitieren aber: «Aber sie kann nicht im Laufe der Entwickelung wieder zur Ur­lyrik werden.» Das ist, von meinem Gesichtspunkte aus gesehen, ein Unsinn. Ich kann das «wieder», das Sie mir andichten, nicht sagen, weil «Urlyrik» noch nie da war. Ich habe es auch nicht gesagt. Sie haben meinen Satz also gefälscht.

Es kommt Ihnen aber überhaupt nicht darauf an, mich zu verstehen. Denn sonst würden Sie nicht zusammenwer­fen, was ich sorgfältig getrennt habe: Ihre lyrische Produk­tion und Ihre theoretischen Ausführungen über die Lyrik.

Damit Sie das können, fiilschen Sie aber wieder. Sie behaupten, ich hätte gesagt: « Der Kritiker hat den nur zu begreifen, aber nicht zu schulmeistern.» Wo habe ich das gesagt. Bitte lesen Sie: «Wenn ein bei dieser Urform der Lyrik stehenbleibt, so ist das seine Sache. Der Kritiker hat ihn nur zu begreifen, aber nicht zu schulmeistern.» Autor, Herr Holz, sind Sie auch in Ihrem theoretischen Buch: « Revolution der Lyrik», Dich­ter sind Sie darin doch wohl nicht. Gegen den «Autor» eines theoretischen Buches habe ich polemisiert; den «Dichter» habe ich zu begreifen gesucht. Ob mir das in Ihrem Sinne gelungen ist, das ist eine Sache für sich.

Aber was machen Sie überhaupt aus meinen Sätzen ! Sie sagen, ich hätte behauptet: Sie haben die «Urform» der Lyrik definieren wollen. Auch davon ist nicht ein Wort wahr. Ich habe, dem Sinne nach, gesagt: das, was Sie als Definition der Neulyrik geben, ist, nach meiner An­sicht, die « Urform» der Lyrik.

Ob Sie mein Urteil über Ihre Lyrik ablehnen oder nicht, ist mir höchst gleichgültig. Ebenso, ob Sie behaupten, ich

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verstehe das biogenetische Grundgesetz, oder nicht. In­teressant ist mir Ihr Geständnis, daß Sie die Metapher « Hebammen der Kritik» nicht ganz zu deuten wissen. Denn da Sie dies nicht zu deuten wissen, ist es mir erklär­lich, warum Sie auch meine anderen Sätze nicht zu deuten wissen.

Nun aber bin ich fertig. Nicht bloß für diesmal. Wer so polemisiert wie Sie, kann fernerhin mein Sammelheft für psychologische Kuriositäten bereichern. Auseinander­setzen werde ich mich mit Ihnen nicht weiter. Meinet­wegen können Sie behaupten, ich sei der ärgste Idiot in ganz Europa.

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ERWIDERUNG

auf den Artikel: «Schluß» von Arno Holz

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Zu den Ausführungen des Herrn Arno Holz nur ein paar Worte. Sie zwingen mich nicht, meinen Worten untreu zu werden: «Auseinandersetzen werde ich mich mit Ihnen nicht weiter», die ich an Herrn Holz in meiner Erwiderung auf seinen Angriff in Nr.9 des «Magazins» richtete. Ich habe mich aber zunächst als Redakteur den Lesern der Zeitschrift gegenüber wegen der Aufnahme der Holzschen Auslassun­gen zu entschuldigen. Ich bin der Meinung, man darf den Leuten dieses Schlages nicht ein vermeintliches Recht zu der Klage geben: man wolle ihnen das Wort abschneiden. - Bekanntlich wollen Klnder immer das letzte Wort haben. Was hätte auch aller Streit für einen Sinn ! Herrn Holz fehlt zu einer ernstlichen Diskussion über diese Dinge die

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notwendige Bildung. Man kann ein ausgezeichneter Lyri­ker sein, und doch zu ungebildet, um über gewisse Dinge, zum Beispiel das Verhältnis Haeckelscher und Goethe­scher Weltanschauung ein Urteil zu haben. Da aber Herr Holz doch zu siegesgewiß auftritt, so muß ich hier einiges «Tatsächliche» feststellen: Herr Holz, der in seinem ersten Artikel in der will­kürlichsten Weise den Wortlaut meiner Behauptungen entstellt hat, und der diese Entstellung zu verschleiern sucht, indem er sie mit der harmlosen Umkehrung der Worte «Arbeit» und «Rhythmus» des Bücherschen Buches ver­gleicht, behauptet jetzt: ich hätte, um mich zu rechtferti­gen, nachträg lich behauptet, meine Ausführungen seien im Goetheschen Sinne gemeint. Dies ist eine Verleumdung, die Herr Holz höchstwahrscheinlich unwissentlich begeht. Ich habe die Worte «Urform», «Urtier» und so weiter in einer Reihe von Werken, zum Beispiel auch in meinem 1897 erschienenen Buche «Goethes Weltanschauung » immer in dem Sinne gebraucht, in dem ich sie in dem Artikel über Herrn Arno Holz anwende. Ich habe im letzteren Buche mich klar darüber ausgesprochen, wie sich die tatsächliche (zeitliche) erste Form zu der ideellen Urform verhält. Mir ist deshalb ganz gleichgültig, was Holz über diese Dinge sagt, von denen er nichts versteht. Es muß aber unbedingt festgenagelt werden, daß diesem Herrn jedes Mittel recht ist, wenn er seine elementaren Sätze, die ich obendrein nicht einmal bestritten, sondern nur auf ihre wahre Be­deutung zurückgeführt habe, gegen Dinge verteidigen will, die einmal nicht in seinen Kopf hineingehen. Ich würde, wenn ich jemandem vorwerfen wollte, daß er einen solchen Unsinn behauptet, wie Holz ihn mir zumutet, erst

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die Verpflichtung fühlen, mich mit den Anschauungen des Betreffenden zu befassen; zumal, wenn derselbe seit anderthalb Jahrzehnten in einer Reihe von Schriften diese Anschauungen ausgesprochen hat. Herr Holz verleumdet ins Blaue hinein. Dies ist die Steigerung in der Art seiner Polemik: erst Fälschung, dann Verleumdung. Wenn dies alles nicht in einer beinah rührenden Ignoranz seinen Grund hätte, so wäre man versucht, es frivol zu nennen. Ich würde mich schämen, bei solcher Kampfesweise den Anspruch auf Frivolität durch Unwissenheit verwirkt zu haben.

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EIN PAAR WORTE ZU DEM VORIGEN:

«Genie und Philister» von Hermann Türck

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Ursprünglich hatte ich nicht vor, auf Hermann Türcks «Erwiderung» etwas zu entgegnen. Denn ich weiß, wie wenig in solchen Fällen jemand von Lieblingsvorstellun-gen abzubringen ist, die er sich - wie das bei Türck zwei­fellos der Fall ist - durch jahrelanges, emsiges Forschen errungen hat. Ich würde auch diese paar Worte vermeiden, wenn nicht Türck zu meinem aufrichtigen Bedauern in seiner Polemik einen ganz absonderlichen Weg betreten hätte. Ich habe am Schlusse meiner Ausführungen über den «genialen Menschen» (Magazin Nr.20, Sp. 516) den bequemsten Weg angegeben, auf dem ich mißverstanden und deshalb scheinbar widerlegt werden kann. Ich begreife nicht recht, warum Hermann Türck gerade diesen von mir selbst vorgezeichneten bequemen Weg betritt. Nein, auf Worte kommt es wahrlich mir nicht an; wohl aber Hermann

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Türck. Er will die Worte retten, die er zur Charakteristik des genialen Menschen in seinem Buche angewendet hat. Das Genie soll durch selbstloses Handeln gekennzeichnet sein, im Gegensatz zum Philister, der egoistisch handelt. Ich habe nun aber gezeigt, daß die vermeintliche Selbstlosig­keit des Genies nichts ist wie Egoismus, der sich nur auf andere Dinge richtet als der Egoismus des Alltagsmen­schen. Hermann Türck meint, er könne damit einverstan­den sein: wenn ich zwischen Egoismus a (beim Philister) und Egoismus b (beim Genie) unterscheide. Er nenne nur den Egoismus b Selbstlosigkeit. Aber ich unterscheide eben gar nicht zwischen Egoismus a und Egoismus b. Sondern der Egoismus des Genies ist genau der gleiche wie der des Alltagsmenschen. Wenn der Perserkönig dem Alexander die Hälfte seines Reiches anträgt und dieser damit nicht zufrieden ist, während es Parmenion sehr wohl wäre, so ist in diesem Falle zweifellos Alexander der genialischere, aber ebenso zweifellos Parmenion der selbstlosere. Das beweist aber nur, daß der Grad des Egoismus oder der Selbstlosigkeit überhaupt nichts mit dem Genie zu tun hat. Aber Alexander hat eine größere geistige Zeu­gungskraft, eine größere Produktivität der Tat als Par­menion. Diese Zeugungskraft will sich entladen. Deshalb wählt er das Größere, das seiner Zeugungskraft mehr Ge­legenheit zur Betätigung gibt. In bezug auf den Grad des Egoismus unterscheidet er sich aber gar nicht von dem Philister, von dem bekanntlich auch das Sprichwort sagt: wenn man ihm den kleinen Finger reicht, will er die ganze Hand. Ich kannte eine Person, die war das Selbstloseste, was sich denken läßt. Sie ging gar nicht in der Sorge um das eigene Selbst auf, sondern ganz in altruistischem Wirken

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für anderes. Diese im errinentesten Sinne selbstlose Person hatte aber gar nichts genialisches. Sie war eine vorzügliche - Kinderfrau. Nein, wenn man das Genie er­klären will, geht einem der Egoismus und der Altruismus gar nichts an; sondern eben nur die Zeugungskraft des Menschen. Diese, und nicht die Selbstlosigkeit ist bei den genialischen Menschen aufs höchste gesteigert. Das Bei­spiel mit dem Darwinismus als umgedeutete Schöpfungs­geschichte habe ich mit Recht angeführt. Denn es gibt Leute, die am liebsten also sprechen würden: Es hat dem Allmächtigen gefallen, aus affenähnlichen Säugetieren im Kampf ums Dasein den Menschen zu schaffen. Wenn nun ein Haeckelianer kommt und sagt: nicht der Allmächtige, sondern die kausale Notwendigkeit hat den Menschen ent­stehen lassen, so könnte ihm Türck, wenn er in dem Stile sprechen würde, in dem er mich bekämpft, entgegnen: Was du kausale Notwendigkeit nennst, ist nur ein anderer allmächtiger Schöpfer. Ich habe gar nichts dagegen, daß du zwischen Schöpfer a (weiser, allmächtiger Gott) und Schöpfer b (kausale Notwendigkeit) unterscheidest. Nun ich meine, in der am Schlusse meines Aufsatzes errichte­ten Falle mit dem «Spiel mit Worten» hätte sich Hermann Türck doch nicht freiwillig fangen sollen.

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VORTRAG ÜBER DEN DICHTER «MULTATULI»

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Im [Berliner] literarischen Kunstsalon, Lutherstraße, fand Mittwoch, den 12. Februar [1902], der dritte Vortrags­abend statt. Herr Dr. Rudolf Steiner hielt einen durch

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Geist und Knappheit ausgezeichneten Vortrag und ver­stand es, ein lebhaftes Interesse für den großen Duldet Multatuli in den Hörern wachzurufen. Multatulis Werke, die nur der verstehen kann, der die Qualen kennt, die ein Tatenmensch leidet, der zur Tatenlosigkeit verdammt ist, gehört zu jenen großen Dichterpropheten und Warnern, deren Stimme gehört werden soll und wird. Fräulein Marie Holgers, die treffliche Künstierin, trug einige Gedichte und Prosaskizen Multatulis vor, die durch ihren ergreifenden Inhalt, der die Mißwirtschaft in den holländischen Kolo­nien zum Gegenstand hat, wie auch durch die meisterliche Art ihres Vortrags die Zuhörer begeisterte. Danach brach­ten Dr. Poritzki sowie Fens Stammer Hetland und Spohr noch weitere Proben aus Multatulis Werken zu Gehör, die sämtlich großes Interesse und lebhaften Beifall hervor-riefen. Es war jedenfalls eine sehr dankbare Aufgabe, die­sen großen Menschen und Dichter seinen Stammesver-wandten näher zu bringen. Möge Multatuli, der große Märtyrer einer großen, heiligen Sache, Freunde und Ver­ehrer finden ! Unsere Zeit braucht solche Rufer im Streit.

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EIN FREILIGRATH-ABEND

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Die Arbeiter-Bildungsschule Berlin veranstaltete am Sonntag, den 17. Febr. 1901, imGewerkschaftshzus einen Freiligrath­Abend, welcher von über 1000 Personen besucht war. Herr Dr. Steiner hielt den einleitenden Vortrag; er ver­stand es meisterhaft, den Entwickelungsgang des Dichters zu schildern. Unter dem Eindruck des Welthandels in

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Amsterdam, wo sich Freiligrath für den Kaufmannsstand ausbilden sollte, wurde er erst der poetische Schilderer exotischer Stoffe, vergleichbar in der Glut der Farben-bildung mit Böcklin. Trotzdem er dann den Standpunkt vertrat, daß der Dichter «auf einer höheren Warte stehen müsse, als auf den Zinnen der Partei», wurde er doch im Laufe der Jahre glühender Freiheitsdichter der sozial Ge­knechteten. Er wies die königliche Pension, welche er etliche Jahre erhalten hatte, zurück und eröffnete im Jahre 1844 mit den Zeitgedichten: Ein Glaubensbekenntnis, die Reihe seiner sozialen Gedichte. Obgleich er im Jahre 1848 vom Schwurgericht wegen seiner Anteilnahme an der Revolution freigesprochen wurde, mußte er dennoch, als die Reaktion siegte, nach London entfliehen. Dort mußte er als Buchhalter für sich und die Seinen das zum Leben Notwendige erwerben, weil ihm die Herausgabe seiner Gedichte und die meisterhafte Übersetzung fremder Dich­tungen nicht genügend einbrachte. Erst durch die Amne­stie im Jahre 1867 wurde es dem Dichter möglich, nach Deutschland zurückzukehren. Man könne nun, so schloß der Referent seinen Vortrag, die größten Lyriker des 19. Jahrhunderts am besten charakterisieren, wenn man Lenau als den Dichter der Schwermut, Heine als den Dichter des Übermuts und Freiligrath als den Dichter des Heldenmuts bezeichne. Wenn Freiligrath auch am Ende seines Lebens gesagt hat, daß seine sozialen Gedichte keine spätere agitatorische Wirkung mehr besäßen, so ist das ein Irrtum von ihm gewesen, seine revolutionären Freiheits­gesänge begeistern auch heute noch die Kämpfer für Frei­heit und Recht. Und wenn einst der große Tag der Be­freiung heraufsteigt, wird auch in goldenen Lettern unter

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den Freiheitsdichtern der Name Ferdinand Freiligrath glänzen. Reicher Beifall wurde den begeisternden Worten des Vortragenden gezollt.

Reichen Genuß boten auch die folgenden Nummern des ausgezeichneten Programms. Exakt ausgeführte Kammer­musik, Rezitationen Freiligrathscher Gedichte, in aus­gezeichneter, stimmungsvoller Weise von Herrn Friedrich Moest vorgetragen, Gesangsaufführungen von Herrn Friedrichs fanden den wohlverdienten Beifall der zahlreich erschienenen Hörer. Der Abend war einer der genußreich­sten unter den bisher von der Schule veranstalteten.

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NEUE LITERARISCHE ERSCHEINUNGEN

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Das «Magazin für Litteratur» wird von jetzt an in jeder Nummer über hervorragende Neuerscheinungen der Litte­ratur einen solchen Bericht bringen; außerdem werden die wichtigeren der hier verzeichneten Werke noch einer aus­führlichen Besprechung unterzogen werden.

1898

Die «Geschichten und Novellen» Wilhelm Heinrich Riehis, des kürzlich verstorbenen Kulturhistorikers und Erzählers, werden in 44 Lieferungen (Stuttgart, Cotta) erscheinen, von denen die etste bereits vorliegt und erwar­ten läßt, daß das poetische Hauptwerk des hervorragenden Mannes, der fast ein halbes Jahrhundert lang in der Ent­wicklung des deutschen Geistes eine erste Rolle gespielt hat, in würdiger Weise seinem Publikum geboten wird.

Von anderen bedeutenden Erscheinungen des Bücher­marktes möchten wir auf dem Gebiet der erzählenden Lite­ratur erwähnen: Konrad Telmann, «Tod den Hüten», Roman (Dresden und Leipzig, Carl Reißner).

Ein Buch voll von Lebenserfauuungen und von einer reichen Weisheit, eine rechte Ergänzung zu seiner Selbst­biographie erscheint (bei Fontane & Co., Berlin) von Theo­dor Fontane, «Der Stechlin». Den Fontane-Verehrern wird dieses Buch eine besonders willkommene Gabe sein, weil ihnen ihr Liebling darinnen wie in einem literarischen Testament von der Höhe seiner allseitig gereiften Weltan­schauung sagt, was er ihnen zu sagen hatte.

Clara Viebig, die sich in wenigen Jahren durch ihr Er­zähler- und dramatisches Talent den ersten deutschen

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Schriftstellern eingereiht hat, legt soeben ein neues Buch «Dilettanten des Lebens» (Berlin, Fontane & Co.) auf den Büchertisch; sie schildert eine intime Familiengeschichte, in der alle charakteristischen Züge des Zeitcharakters licht-voll zum Ausdruck kommen: die Schwäche, die Mut- und Kraftlosigkeit, die dem Ende des Jahrhunderts das Ge­präge geben.

Einen interessanten Novellenband verdanken wir Adele Gerhard: «Beichte» (Berlin, Rosenbaum & Hart). Die eine der Novellen, die in dem Buche enthalten sind, «Gönnt mir goldene Tageshelle» kennen die Leser dieser Zeit­schrift aus Nr.38. Der poetische Duft und die feinsinnig-psychologische Art der Darstellung in dieser Erzählung werden sicher die Lust erwecken, das ganze Bändchen zu lesen.

Ernst Clausens: «Henny Hurrah!» (bei Fontane & Co., Berlin) schildert die Schicksale der zahlreichen Persönlich­keiten, welchen das Leben des Offiziersstandes zu eng wird, und die deshalb den Ausweg aus demselben in eine hellere freiere Sphäre suchen.

Der durchaus sympathische Erzähier Wilhelm Hegeler erfreut uns mit einem «fröhlichen Roman» «Nellys Mil­lionen» (bei Fontane & Co., Berlin). Das Buch verdient seine Bezeichnung als eines «fröhlichen» durchaus; und wenn sich Wilhelm Hegeler durch seine bisherigen Ver­öffentlichungen («Sonnige Tage» u. a.) viele Freunde er­worben hat, so wird die ins Humoristische gehende Wen­dung seines großen Talentes, welche hier in die Er­scheinung tritt, ihre Zahl gewiß erheblich vermehren.

Ein Buch, das geeignet ist, in den weitesten Kreisen In­teresse hervorzurufen, ist Landors: «Auf verbotenen

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Wegen» (F. A. Brockhaus, Leipzig). Der Verfasser schil­dert eine überaus gefahrvolle, lehrreiche und fesselnde Reise durch Tibet und stattet seine Schilderung mit allem aus, wozu er als Maler besonders befähigt ist.

Eine spannende Schilderung der Verhältnisse in den Ländern um das tote Meer gibt M. Blanckenhorn in seinem Buche: «Das tote Meer und der Untergang von Sodom und Gomorrha» (Reimer, Berlin). Die verschiedenen Sa­gen, die sich an die Steinsalzhöhlen der in Frage kommen­den Gegend knüpfen, und vieles andere finden hier eine sachgemäße Erklärung.

Von neuen Erscheinungen zur Zeitgeschichte sind her­vorzuheben: Leopold Katscher, «Was in der Luft liegt» (Freund & Wittig, Leipzig). Eine Reihe von Fragen sind hier behandelt, die für die Gegenwart von großer Wichtig­keit sind. Streifzüge in das Gebiet der Soziologie, der Nationalökonomie und des Verkehrswesens bringt das aus einzelnen Essays bestehende Buch. Aus deren Reihe her­auszuheben erscheint uns noch besonders nötig: «Die Ver­urteilung Unschuldiger», «Fremdenhaß undChristenverfol­gungen in China» und «Die Entwicklung des Postwesens».

Dr. Paul Geyer hat vor einiger Zeit den ersten Teil sei-nes Schriftchens erscheinen lassen: « Schillers ästhetisch-sittliche Weltanschauung aus seinen philosophischen Schriften gemeinverständlich erklärt». Der zweite Teil die­ses anregenden Büchieins wird uns soeben ins Haus ge­sandt. Wer eine Ahnung davon hat, welcher Schatz noch ungehobener Weisheit in Schillers philosophischen Schrif­ten verborgen liegt, wird mit Befriedigung diese Schrift begrüßen, die es sich zur Aufgabe macht, einiges zur Hebung dieses Schatzes beizutragen.

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Ein Roman « aus dem Leben unserer Zeit» «Gärungen» ist soeben von Franz Servaes (bei Carl Reißner) erschie­nen. Als Schilderung gegenwärtiger Verhältnisse ist dies Werk von höchstem Interesse. Es wird in dieser Wochen-schrift demnächst ausführlich besprochen werden. (s. S.

226).

Ernst Brausewetter faßt in seiner Liebesnovelle «Eifer­sucht» (Berlin, Schuster & Löffler) ein altes Problem von einer neuen Seite an. Er will die Eifersucht aus den wie von selbst kommenden argwöhnischen Empfindungen der Seele ableiten, die nicht wie zum Beispiel bei Shakespeares «Othello» äußerer Anlässe bedürfen.

Eine Reihe interessanter Bücher sendet der Verlag S. Fischer auf den Büchermarkt. Ernst von Wolzogen stellt sich mit einer Novelle «Das Wunderbare» ein; Her­mann Bahr ist mit seinem Drama «Josephine» erschienen; Hermann Stehr mit zwei Erzählungen: «Auf Leben und Tod»; Eberhard König mit einem Trauerspiel: «Filippo Lippi»; Franz Ferd. Heitmüller mit der Sammlung «Tam­pete». Die Leser des Magazins kennen aus dieser Samm­lung bereits «Das Paradies». Von Peter Nansen ist «Judiths Ehe. Ein Roman in Gesprächen» erschienen.

Besonders aufmerksam machen möchten wir auf ein Buch, das uns eben vorgelegt wird: E. P. Evans, «Bei­träge zur amerikanischen Literatur- und Kulturge­schichte».

Von Chr. Morgenstern ist ein Bändchen Gedichte «Ich und die Welt» (bei Schuster und Loeffler) erschienen. - Die Verlagsbuchhandlung «Leykam»in Graz bringt eine Komödie in drei Akten «Schicksal» von Hugo Oehler eben auf den Büchermarkt.

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Die ausgezeichnete von Karl Franz Muncker besorgte dritte Auflage der Lachmannschen Lessing-Ausgabe legt den 14. Band vor. Er enthält Lessings wertvolle kleinere Abhandiung «Zur Geschichte und Literatur» (5. Beitrag); eine Reihe anderer, zur Erkenntnis Lessings wichtiger Auf­sätze: «Gedanken über die Herruhuter»; «Das Christen­tum der Zukunft»; «Der Schauspieler»; «Gedanken über das bürgerliche Trauerspiel»; «Bemerkungen über Burkes philosophische Untersuchungen, über den Ursprung unse­rer Begriffe vom Erhabenen und Schönen»; «Briefe, die neueste Literatur betreffend»; außerdem den «Laokoon».

Von den lesenswerten, interessanten Neuerscheinungen soll hier der «Beitrag zu einer vergleichenden Moral-geschichte: Antimoralisches Bilderbuch» von Gustav Nau­mann (H. Haessel, Leipzig) besonders erwähnt und dem­nächst ausführlicher besprochen werden.

Das bemerkenswerte statistische Schriftchen: «Die Ent­wicklung der Sozialdemokratie bei den Wahlen zum deut­schen Reichstage» von Adolf Neumann-Hofer wird eben in zweiter Ausgabe vorgelegt.

Ludwig Jacobowski veröffentlicht soeben (bei J. C. C. Bruns, Minden) einen neuen Roman «Lokl», der mit Bil­dern von Hermann Hendrich geschmückt ist.

Eine interessante Neuerscheinung ist das politische Drama «Paul Lange und Tora Parsberg» von Björnstjerne Björnson. Der Dichtung liegt eine wahre Begebenheit zu­grunde. Ihre Tendenz richtet sich gegen diejenigen poli­tischen Machtfaktoren, welche in rücksichtsloser Weise klare Menschenrechte verachten.

Ein merkwürdiges Buch ist «Die plastische Kraft in Kunst, Wissenschaft und Leben» von Heinrich Driesmans

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(C. G. Naumann, Leipzig). Der Verfasser steht auf dem Boden M. von Egidys, insofern dieser bestrebt ist, die besten Wege zu finden, alles, was bisher einzelne Menschen mühsam erlernt, einstudiert, erdacht, erarbeitet, geschaffen, verehrt, angebetet haben, der ganzen Menschheit zu­gänglich zu machen, damit ein jeder im vollen Sinne des Wortes das erreiche, was er nach seinen Kräften und Fähig­keiten zu erreichen imstande ist. Driesmans will in ähnlicher Art, wie Egidy auf das soziale Leben zu wirken bestrebt ist, auch auf Kunst und Wissenschaft wirken. Das in der Form der Darstellung stark von Nietzsche beeinflußte Buch erinnert auch im Äußeren an die Schriften Nietzsches aus dessen mittlerer Epoche: «Menschliches, Allzumensch­liches», «Morgenröte», «Fröhliche Wissenschaft». Der Verfasser sagt, was er vorzubringen hat, in Aphorismen mit besonderen Überschriften.

Von Wilhelm Wittekindt ist (bei Mayer & Müller, Ber­lin) ein Beitrag zur deutschen Literatur- und Theaterge­schichte des achtzehnten Jahrhunderts erschienen: «Johann Christian Krüger. Sein Leben und seine Werke.» Die dra­matischen Werke Krügers gehörten von 1750-1780 zum ständigen Repertoire aller bedeutenden Schauspielertrup­pen. Daraus geht hervor, daß dem Dichter eine Stelle in der deutschen Literaturgeschichte gebührt. Da bis jetzt wenig über ihn geschrieben worden ist, muß man Witteklndts Büchlein mit Freuden begrüßen.

Auf dem Gebiete der Musikliteratur liegen zwei sehr bemerkenswerte Publikationen vor: Briefwechsel zwi­schen Franz Liszt und Hans von Bülow, herausgegeben von La Mara, und «Die Weltanschauung Richard Wag­ners» von Rudolf Louis (Breitkopf & Härtel, Leipzig).

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Das Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft für 1898 (Carl Ronegen, Wien) enthält einen Vortrag, den der Philoso­phie-Professor Friedrich Jodi über «Grillparzer und die Philosophie» gehalten hat und der eine klare Auseinan­dersetzung darüber versucht, wie sich Grillparzer zu den philosophischen Grundfragen verhalten hat. Vor allem interessant sind die Berührungspunkte Grillparzers mit Feuerbach dargestellt. Alfred Freiherr von Berger spricht sich in einem geistreichen Aufsatz über die Entstehung der Grillparzerschen Tragödie «Der Purpurmantel» aus. Dieses Drama ist geboren aus der tiefen Wirkung, die Byrons «Manfred» auf Grillparzer gemacht hat. Da diese Wirkung in eigenen Seelenerlehnissen ihre Ursache hat und die «Pausaniastragödie» «Der Purpurmantel» uns Einblicke in des Dichters Empfinden gewährt, so ist die­ser Aufsatz Bergers ein wichtiges Dokument der Grill­parzer-Psychologie. Eine fleißige Arbeit über den Dichter Zedlitz hat Dr. Eduard Castle beigesteuert. Von dem «Spanischen Drama am Wiener Hofburgtheater zur Zeit Grillparzers» handelt Wolfgang von Wurzbach. Eine wert­volle Gabe sind die «Briefe Franz Dingelstedts an Fried­rich Haim», die Alexander von Wellen mitteilt. Jacob Minor charakterisiert Charlotte Wolter. Eine ebenso liebe-volle wie objektiv abwägende Darstellung der Eigenart dieser Künstlerin. Dr. Moritz Necker bringt eine Studie über «Marie von Ebner-Eschenbach». «Kleine Beiträge zur Biographie Grillparzers und seiner Zeitgenossen» teilt Carl Glossy, der Redakteur des Jahrbuches, mit. Von ihm sind auch die Beiträge: «Aus den Lebenserinnerungen des J oseph Freiherrn von Spaun» und «Joseph Schreyvogels Projekt einer Wochenschrift».

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Die «Deutsche Rundschau» enthält in ihrem November­heft (Gebrüder Paetel, Berlin) einen Aufsatz Ernst Haekkels: «Über unsere gegenwärtige Kenntnis vom Ursprung des Menschen». Die wichtigsten naturphilosophischen Fragen der Gegenwart finden in diesem Vortrag, den der genialste Naturforscher Deutschlands auf dem vierten internationalen Zoologen-Kongreß in Cambridge gehalten hat, eine allseitige Beleuchtung.

Die inhaltvolle Inaugurationsrede des gegenwärtigen Rektors der Wiener Universität, Dr. Julius Wiesner, «Die Beziehungen der Pflanzenphysiologie zu den anderen Wissenschaften» ist soeben (bei A. Hölder, Wien) erschie­nen.

Auf philosophischem Gebiete seien anNeuerscheinungen erwähnt: Dr. H. Gomperz, «Kritik des Hedonismus», eine psychologisch-ethische Untersuchung (J. G. Cottas Nach­folger, Stuttgart). Th. Ziehen, «Psychophysiologische Erkenntnistheorie» (G. Fischer, Jena).

Eine höchst bemerkenswerte Neuerscheinung ist das ins Deutsche durch P. Bertold übertragene Buch Mary Woll­stonecrafts: «Eine Verteidigung der Rechte der Frau» (E. Piersons Verlag, Dresden und Leipzig). Vor einiger Zeit hat in vortreiflicher Weise die Wiener Schriftstellerin He­lene Richter in einer besonderen Schrift auf diese erste Frau hingewiesen, in «der mit überwältigender Klarheit das Bewußtsein erwachte, und die auch den Mut hatte, es auszusprechen, daß die Frau Rechte habe» («Deutsche Worte», Wien 1897).

Der durch seine scharfsinnigen philosophischen Schrif­ten (Kant und die Epigonen, zur Analysis der Wirklichkeit u. a.) und durch sein «Belagerungstagebuch eines Kriegsfreiwilligen

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im Gardefüsilierregiment»: «Vier Monate vor Paris 1870-1871» bekannte Jenenser Professor Otto Lieb-mann läßt soeben einen Band Gedichte unter dem Titel: «Weltwanderung» (Stuttgart) erscheinen.

Karl Henckell veröffentlicht eine neue Ausgabe seiner «Gedichte». Sie umfaßt alle seine früheren Gedichtsamm­lungen in wesentlich kürzerer Form und außerdem einen neuen Abschnitt am Schlusse. Henckell wollte damit ein Buch schaffen, das von seinen lyrischen Schöpfungen nur das enthält, was vor seiner eigenen Kritik heute noch bestehen kann.

An diese eigene Veröffentlichung Henckells sei die Mit­teilung angeknüpft, daß sein dankenswertes (wiederholt in dieser Wochenschrift angezeigtes) Unternehmen «Sonnen-blumen» in der letzten Zeit von folgenden Dichtern Pro­ben ihrer Dichtungen und kurze Charakteristiken gebracht hat: Joseph Victor von Scheffel, Franz Evers, Marie Eugenie delle Grazie, Algernon Charles Swinburne, Adam Mickiewicz, Jakob Julius David.

Eine willkommene Gabe für viele wird unzweifelhaft das Buch von Valerie Matthes sein «Italienische Dichter der Gegenwart» (Berlin). Es enthält biographisch-kritische Studien und metrische Übertragungen, durch welche der Autor «die Aufmerksamkeit auf einige noch weniger be­kannte Namen hinienken, sowie das Interesse für andere, die vielen Deutschen schon vertraut sind, lebhafter und reger» machen möchte. Die Dichter, die charakterisiert und übersetzt worden sind: Giosné Carducci, Ramiro Bar­baro di San Giorgio, Enrico Panzacchi, Maria Aiinda Bo­nacci-Brunamonti,Lorenzo Stecchetti, Gabriele d'Annun­zio, Edoardo Giacomo Boner, Annle Vivanti

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Auf dem Gebiete der Philosophie sind zwei kleinere be­merkenswerte Arbeiten erschienen: Dr. Max Krieg, «Der Wille und die Freiheit in der neuern Philosophie»(Frei-burg i.Br.) und Dr. C. Westphal, «Das Dilemma der Ato­mistik». Ein erster Beweis des Idealismus, nebst einer Sliizze eines modernen Stils des idealistischen Weltgebäu-des (Berlin).

1899

Eine hervorragende Stelle innerhalb der Neuerschei­nungen der Literatur nimmt ein: Georg Brandes, «Dis­solving Views», Charakterzeichnungen von Land und Leuten, aus Natur und Kunst. Übersetzt von A. v. d. Lin­den (Leipzig).

Auf dem Felde der Theaterliteratur ist auf eine kleine Schrift hinzuweisen: Dr. Otto v. Weddigen, «Geschichte der Berliner Theater», in ihren Grundzügen von den älte­sten Zeiten bis zur Gegenwart dargestellt (Berlin).

Ein Buch, das sowohi dem Kulturhistoriker wie dem Teilnehmer an der modernen Frauenbewegung große Freude machen muß, ist: Adalbert von Hanstein, «Die Frauen in der Geschichte des deutschen Geisteslebens des 16.-19. Jahrhunderts». Bis jetzt ist von diesem groß ange­legten Buche der erste Band erschienen. Er umfaßt: Die Frau in der Zeit des Aufschwunges des deutschen Gei­steslebens. Mit elf Kunstbeilagen.

Fräulein Malvida von Meysenbug, die in dieser Zeit­schrift vor kurzem eingehend geschilderte «Idealistin des Denkens und der Tat» hat zu ihren «Memoiren einer Idea­listin» einen Nachtrag hinzugefügt: «Der Lebensabend

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einer Idealistin». Mit einem Lichtdruck nach dem Original von Franz von Lenbach (Berlin).

Von dem sorgfältig gearbeiteten «Biographischen Jahr­buch und deutschen Nekrolog», das Anton Bettelheim herausgibt, ist der zweite Band erschienen. (Mit Bildnissen von Jacob Burckhardt und Johannes Brahms.) Wenn die­ses Werk auch noch manche Fehler trägt - es gibt einzel­nen Erscheinungen zu viel, anderen zu wenig Raum -, so muß es doch als eine ganz hervorragende Erscheinung der modernen Biographik bezeichnet werden.

Von dem einst mit Befriedigung aufgenommenen Leben Gottfried Kellers, das Jakob Bächthold beschrieben und mit zahlreichen Briefen und Tagebuchaufzeichnungen be­legt hat, ist jetzt eine kleine Ausgabe ohne die Briefe und Tagebücher des Dichters erschienen (Berlin). - Von Uhlands Gedichten haben Erich Schmidt und Julius Hart­mann auf Grund des handschriftlichen Nachlasses des Dichters eine neue vollständige kritische Ausgabe ver­anstaltet (Stuttgart).

Erwähnenswerte Neuerscheinungen auf dem Gebiete der Literaturgeschichte und Sprachwissenschaft sind: Alfred Bassermann, «Dantes Spuren in Italien», Wanderungen und Untersuchungen. Mit einer Karte von Italien (Mün­chen. - Ernst Buchholzer, «Die Volkspoesie der Sieben­bürger Sachsen» (Hermannstadt). - Dr. Paul Horn, «Die deutsche Soldatensprache» (Gießen).

Hervorzuheben ist auch aus den «Verhandlungen des 16. Kongresses für innere Medizin zu Wiesbaden»: Prof. Dr. Th. Gluck, «Probleme und Ziele der praktischen Chir­urgie» (Wiesbaden). - Eine andere Gesellschaftspublika­tion sind die «Verhandlungen der Gesellschaft deutscher

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Naturforscher und Ärzte», 70. Versammlung zu Düssel­dorf (Leipzig). Im einzelnen muß besonders auf den ersten Teil aufmerksam gemacht werden; er enthält: Die allge­meinen Sitzungen und die gemeinsamen Sitzungen aller naturwissenschaftlichen sowie aller medizinischen Abtei­lungen.

Die philosophische Wissenschaft hat Christian von Ehrenfeis um den zweiten Band seines «Systems der Wert-theorie» bereichert, welcher «Grundzüge einer Ethik» enthält (Leipzig).

Dem Pädagogen interessant wird sein: Dr. Hans Zim­mer, «Herbart und die wissenschaftliche Pädagogik». Ein geschichtlich-systematischer Überblick (Leipzig).

Von der sehr wichtigen Publikation «Klassiker der exak­ten Wissenschaften», die Prof. Ostwald veranstaltet, sind die Nummern 97-100 erschienen. Sie enthalten unter ande­rem: «Sir Isaac Newtons Optik». - R. Clausius, «Über die bewegende Kraft der Wärme und die Gesetze, welche sich daraus für die Wärmelehre selbst ableiten lassen». G. Kirchhoff, «Über die Frauenhoferschen Linien».

Der durch eine Reihe literaturhistorischer Arbeiten in weiteren Kreisen, insbesondere durch ein Werk über «Goethe» (1895), und durch eine «Geschichte der deut­schen Literatur in der Gegenwart» (1896) bekannte Kieler Professor Eugen Wolff veröffentlicht: «Poetik, Die Ge­setze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß» (Oldenburg).

Ein interessanter Vortrag des Freiburger (i. Br.) Profes­sors Heinrich Rickert liegt vor: «Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft» (Freiburg i. Br.).

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Besonders aufmerksam sei auf ein naturphilosophisches Werk gemacht, das in wichtige Fragen der Gegenwart ein­greift: Michaelis, «Das Gesetz der Zweckmäßigkeit im menschlichen Organismus, systematisch beleuchtet» (Ber­lin).

Eine bemerkenswerte Erscheinung auf national-ökono­mischem Gebiete ist: Karl Kautsky, «Die Agrarfrage». Eine Übersicht über die Tendenzen der modernen Land­wirtschaft und die Agrarpolitik der Sozialdemokratie (Stuttgart).

Dr. Rudolf Eisler beginnt soeben mit der Veröffent­lichung eines «Wörterbuches der philosophischen Begriffe und Ausdrücke». Die erste der acht Lieferungen liegt vor. Sie reicht von A bis Beharren. Der Verfasser setzt sich zur Aufgabe: «die mannigfachen Begriffsbestimmungen, wie sie im Gesamtgebiete der Philosophie begegnen, in ihren wichtigeren Modifikationen vom Altertume bis zur jüng­sten Gegenwart, und zwar quellenmäßig und möglichst im Wortlaute der Originale (beziehungweise ihrer Über­tragung ins Deutsche) in einer gewissen Ordnung aufzu­führen». Das Werk soll vor allem Studierenden und allen, die sich mit der Philosophie beschäftigen, «als Hand- und Hilfsbuch für die erste Orientierung in der Entwicklung bestimmter Begriffe sowie insbesondere für die Lektüre der Philosophen dienen». So viel sich aus dem ersten Bande erkennen läßt, dürfte das Werk nur als bequemer Wegweiser dienen, um für irgendeinen fraglichen Begriff die Stellen leicht zu finden, an denen er sich bei dem einen oder anderen Philosophen findet. Denn die Erklärungen, die den einzelnen Begriffen beigefügt sind, erscheinen dürf­tig, ja zuweilen recht ungenau. - Ob das Buch seinen Zweck

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als Wegweiser erfüllt, davon soll an diesem Orte zu gehö­riger Zeit gesprochen werden.

Für die Volkskunde und Politik ist wichtig: Dr. T. G. Masaryk, «Palackys Idee des böhmischen Volkes» (Kgl. Weinberge). - Dr. Otto Lecher, «Der Ausgleich mit Un­garn und die neue Taktik» (Neutitschein).

Ein Buch, das gewiß ein intensives Interesse bei allen de­nen erregen wird, die sich für die Entwicklung der großen Weltanschauungsfragen in einzelnen Köpfen interessieren, ist soeben erschienen. Es hat einen der feinsten Kämpfer auf dem Gebiete der modernen Kunst und des modernen Denkens zum Verfasser: Julius Hart. Die ersten Fragen des Welterkennens werden unter dem Titel: «Der neue Gott» behandelt (Florenz und Leipzig 1899). Wie der Ver­fasser seine Aufgaben stellt und zu lösen sucht, welches sein Verhältnis ist zu den Gedankenarbeitern auf dem glei­chen Felde, soll an dieser Stelle demnächst ausführlich be­sprochen werden. Das Buch soll der erste Teil eines drei-bändigen Werkes sein, das den Gesamttitel trägt: «Zu-kunftsland». «Der neue Gott, ein Ausblick auf das kom­mende Jahrhundert» bespricht die eigentlichen Erkennt­nisfragen; der zweite Band wird von der neuen Kunst, der dritte von der sittlichen Welt handeln.

Auf philosophischem Gebiete erscheint erwähnenswert: Theodor Lipps, «Die ethischen Grundfragen». Zehn Vorträge (Hamburg). Auf dem Gebiete der Literaturgeschichte heben wir hervor: Gustav Borcharding. Der Heidedichter August Freudenthal. Eine literarische Charakterskizze. (Bremen 1899) - Es ist dies der Abdruck einer Rede, die am 11.0k-tober 1898 bei der Gedächtnisfeier in Bremen für den am

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6. August verstorbenen Dichter gehalten worden ist. Der Reinertrag ist für die zum Teil noch unversorgten Hinter­bliebenen des Dichters bestimmt. (Gegen Einsendung von 55 Pfg. wird die Schrift allenthalben hin franko versandt vom Komitee der Freudenthal-Spende, Bremen, Aller-straße 10.) - Ferner erwahnen wir. N. Hoffmann, F. M. Dostojewsky. Eine biographische Studie. (Berlin.) - Paul Nerrlich, ein Nachwort zum Dogma vom klassischen Altertum. 9 Briefe an Julius Schvarez. (Leipzig.) - Wolf­gang von Wurzbach, Lope de Vega und seine Komödien. Dieses Werk bringt eine auf den neuesten archivalischen Forschungen beruhende biographische Arbeit und zu­gleich eine Charakteristik seiner Werke.

Rosa Mayreder veröffentlicht «Idole», die «Geschichte einer Liebe» (Berlin). Ein Mädchen glaubt, alle Ideale, die seine Seele mit der Vorstellung männlichen Wesens ver­bunden hat, in einem Manne verwirklicht. Dieser ist in Wirklichkeit ganz anders, als er dem Mädchen erscheint. Nicht seinem wirklichen Wesen gehört ihre Liebe, sondern einem «Idole». Die Liebe wird ihrem Wesen nach in die­sem Buche charakterisiert. Die Besprechung der durchaus originellen Art, wie dies geschieht und die Auseinander­setzung über die Bedeutung der Dichtung soll alsbald in dieser Zeitschrift geboten werden. - Hans von Khhlenberg legt einen Roman vor: «Die Familie von Barchwitz» (Berlin). Eine Familie aus den höheren Ständen wird ge­schildert, die äußerlich das «standesgemäße» Leben führt, aber auf dem Grunde ethischer Korruption. Äußerliches Glück baut sich auf innerer Verlogenheit auf. - Felix Holländers neuester Roman: «Das letzte Glück» (Berlin) erzählt von einem Mädchen, das einen jungen Schriftsteiler

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liebt und dadurch in einen scharfen Konflikt mit seinem eigenen religiösen Empfinden kommt. - Von Wil­helm von Scholz ist ein «mystisches Drama in einem Auf-zuge» zu erwähnen: «Der Besiegte» (München).

Ein sehr brauchbares Taschenbuch ist der «Schrift­steller-Kalender», den Emil Thomas herausgegeben hat (Leipzig 1894). Die Einrichtung eines Wochennotizkalen­ders, einer Korrekturen- und Manuskriptenversandliste, verschiedener Merktafeln für anzuschaffende, geliehene und verliehene Bücher ist eine außerordentlich praktische. Auch sind die Ausführungen, die dem Schriftsteller über den Buchhandel, das Veriagsgeschäft, den Verkehr mit Redaktionen, über das Urheber- und Pressegesetz geboten werden, nützlich. Nicht minder gilt das von den Verzeich­nissen der größeren politischen Zeitungen, der Honorar-sätze der Zeitschriften, einer Kritikerliste, der schriftstelle­rischen Vereinigungen, der Buchverleger u. a. Dem Schrift­steller wird das in jeder Beziehung zweckmäßig ein­gerichtete Nachschlage- und Notiabüchlein gute Dienste leisten.

Die Kunstgeschichte ist um ein bedeutendes Werk berei­chert worden durch: Dr. Cornelius Gurlitt, «Die deutsche Kunst des neunzehnten Jahrhunders. Ihre Ziele und Taten »(Berlin). (Das Werk bildet den zweiten Band des von Dr. Paul Schlenther herausgegebenen groß angelegten Werkes: «Das neunzehnte Jahrhundert in Deutschlands Entwick­lung».) Dieses Buch nimmt einen streng entwicklungs-geschichtlichen Standpunkt ein. Es weist nach, wie sich die ästhetischen Werte im Laufe der Zeit geändert haben. Jede Kunstrichtung wird objektiv aus ihren eigenen Zielen heraus erklärt. Cornelius' Kunst zum Beispiel wird nicht

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ein Buch zur Würdigung Richard Wagners geschrieben, das jetzt in deutscher Übersetzung von Friedrich von Oppeln-Bronikowsl:i unter folgendem Titel erschienen ist: «Richard Wagner, Der Dichtet und Denker. Ein Hand­buch seines Lebens und Schaffens» (Dresden und Leip­zig).

Von Dr. Rudolf Eislets «Wörterbuch der philosophi­schen Begriffe und Ausdrücke», dessen I. Heft wir an die­ser Stelle bereits genannt haben, ist die 3. Lieferung er­schienen (Empfindung bis Geschichtsphilosophie). Schon jetzt kann das völlig Ungenügende dieser Arbeit erkannt werden. Auf dem Titelblatt steht «quellenmäßig bearbei­tet». Was als Quelle benutzt wird, ist völlig willkürlich. Es hängt offenbar von dem Wissen des Verfassers in ge­schichtsphilosophischen Dingen ab. Und dieses ist kein sehr großes. Dem Philosophen kann das ganze Unter­nehmen gleichgültig sein; denn, was er hier über einen Begriff findet, kann er sich schnell aus jeder Handbiblio­thek verschaffen. Für den Nicht-Philosophen ist es wert­los; denn er kann aus dem Gebotenen nicht das Geringste machen. Es ist völlig unerfindlich, zu welchem Zwecke dieses Buch geschrieben ist.

Von anderen literarischen Neuerscheinungen sollen ge­nannt werden: Die S. Auflage von R. v. Iherings, «Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung». Zwei Teile, 2. Abteilung (Leipzig), und des-selben Verfassers «Der Zweck im Recht». Zwei Bände, dritte Auflage. Es ist im hohen Grade erfreulich, daß von diesen genialen Werken neue Auflagen erscheinen. Nie­mand kann unterlassen, diese Bücher zu studieren, der Interesse für den Entwicklungsgang des Rechts hat.

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Die 2. Auflage von W. Windelbands, «Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Kultur und den besonderen Wissenschaften dargestellt». Wer eine feinsinnig geschriebene, auf der Höhe der Zeitbildung stehende Geschichte der neuen Phi­losophie lesen will, mag zu diesem Buche greifen.

Erich Urban: Präludien (Berlin). Die Leser dieser Zeit­schrift kennen den Verfasser und - es ist kein Zweifel -sie werden rasch zum nächsten Buchhändler laufen und dies Buch anschaffen. Alle! Alle? -Sind Anarchisten Mörder? Von Benj. R. Tucker, Her­ausgeber der «Liberty» in New York. Mit einem Vorwort und einem Anhang: Die Literatur des individualistischen Anarchismus. Die Vorrede enthält auch den vor einiger Zeit im «Magazin für Literatur» gedruckten Briefwechsel über Anarchismus von J. H. Mackay und Rudolf Steiner. (Berlin 1899, Verlag von B. Zack, SO., Oppelnerstr. 45.) Preis 20 Pf.

Ein interessantes Schriftchen liegt vor in August Löwen­stimms (kaiserlicher Hofrat im Justizministerium in St. Petersburg), «Der Fanatismus als Quelle der Verbre­chen» (Berlin 1899). Religiöse Schwärmerei, bis zum Wahnsinn gesteigert, die sich in schauerlichen Ver­brechen, wie körperliche Verstümmelung, Mord, entlädt, wird in einer Reihe grauenerregender Tatsachen, die sich in Rußland abspielen, vorgeführt. Die einzelnen Kapitel: Mystiker und Pietisten, die Wanderer und Verneiner, die Geißler, die Skopzi lesen wir in fiebernder Erregung, dem Geheimnis des religiösen Fanatismus nachsinnend. In Ab-gründe der Menschenseele werden wir geführt. Für Anthropologie

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und Psychologie liegen hier ernste, bedeu­tungsvolle Probleme vor.

Die 10. Nummer der «Dokumente der Frauen» vom I. August enthält: Dr. Fritz Winter, «Das Recht und die Frau». Über «Die Frauen im Dienste der Irrenpflege» spricht der geheime Medizinalrat Dr. Ludwig in fach­männischer Weise und belegt die Notwendigkeit, wissen­schaftlich gebildete weibliche Ärzte an den Frauenabtei­lungen der Irrenanstalten anzustellen. Die Aufführung von Ibsens «Gespenster» durch das Theater in Wien bietet den Anlaß zu einer Würdigung dieses in seinen Tendenzen die Motive der Frauenbewegung so nahe streifenden Dramas durch Bertha Pauli. Auch eine Besprechung des neuesten Romans von Helene Böhlau «Halbtier» finden wir in der Nummer, deren Abschluß eine Novellette von Bolgar «Lohengrin» bildet, die mit aller Finesse moderner Dar­stellungskunst ein kleines Theatererlebnis schildert.

Von Marie Eugenie delle Grazie, die uns vor einigen Jah­ren das Epos «Robespierre» geschenkt hat, in dem sie ein umfassendes Bild der französischen Revolution entworfen hat, werden zwei neue dramatische Arbeiten angekündigt: «Der Schatten», ein Schauspiel, das mit Joseph Kainz im Wiener Burgtheater und «Schlagende Wetter», ein soziales Drama, das im Deutschen Volkstheater in Wien zur Auf­führung gelangen wird.

Indridi Einarsson: Schwert und Krummstab. Histori­sches Schauspiel in fünf Aufzügen. Einzige autorisierte Übertragung aus dem Neu-Isländischen von M. phil. Carl Küchler. (Berlin.) Über diese außerordentlich interessante literarische Erscheinung sagt der Übersetzer in seinem Vorwort: «Die deutsche Übertragung von Indridi Einarssons

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Schauspiel , die wir hiermit der Öffentlichkeit übergeben, bringt zum ersten-male ein Erzeugnis der isländischen Dramatik in einem fremdsprachlichen Gewande. Noch niemals ist bis auf den heutigen Tag der Versuch gemacht worden, irgend eines der Erzeugnisse der isländischen Dramatik - die wie die Novellistik, ein noch verhältnismäßig junger Zweig der isländischen Literatur ist - in irgend eine fremde Sprache zu übertragen, und wir glauben uns darum mit Recht der Hoffnung hingeben zu dürfen, daß unsere vorliegende Übersetzung ein Interesse vielleicht über die Grenzen der Länder deutscher Zunge hinaus finden werde.»

1900

Dr. Th. Achelis: «Moritz Lazarus», Sammlung gemein-verständlicher wissenschaftlicher Vorträge, herausgegeben von Rudolf Virchow, Neue Folge, XIV. Serie, Heft 333. Die Schrift versucht in allgemein verständlicher Darstel­lung eine Charakteristik des bedeutenden Denkers, der im vorigen Jahre das seltene Fest seines fünfzigjährigen Doktorjubiläums feiern durfte, und seiner Weltanschau­ung zu entwerfen. Maßgebend war dabei, zunächst die her­vorragende Wichtigkeit der von Lazarus im Verein mit seinem Gesinnungsgenossen Steinthal begründeten Völ­kerpsychologie zu betonen, welche die fruchtbarsten Keime für unsere kulturgeschichtliche, psychologische und ethnologische Anschauung enthält. Dazu trat dann die Be­trachtung ethischer Probleme, wie sie geradezu zum Teil als brennend für uns bezeichnet werden müssen; es galt besonders gegenüber einer verhängnisvollen Überschät­zung

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des bloßen Wissens in dem landläufigen Begriff der Bildung, die sittliche Grundlage und Bestimmung dieses Momentes nachdrücklich zu betonen. Endlich vollendet sich diese Sklzze in der Erörterung des Zusammenhanges zwischen Ethik und Ästhetik; ganz besonders galt es, das Wesen des Humors einheitlich zu entwickeln. Um dem Leser überall auch ein selbständiges Urteil zu ermöglichen, hat es sich der Verfasser angelegen sein lassen, in seiner Ausführung sich öfter auf die Darstellung von Lazarus selbst zu beziehen; auch gewann dadurch die Behandlung an unmittelbarer Anschaulichkeit. So darf das Thema wohl auf ein vielseitiges Interesse in den Kreisen aller derer hof­fen, welchen es um wahre Aufklärung und sittliche Ver­tiefung zu tun ist.

[Der gleiche Verfasser, Th. Achelis, besprach in No. 9 des «Magazin für Literatur», 4. März 1899, ein Buch von Gustav Naumann «Anti­moralisches Bilderbuch, ein Beitrag zur vergleichenden Moralgeschichte» unter dem Titel «Zur Ethik». Am Schluß der Besprechung fndet sich von Rudolf Steiner folgende Fußnote:]

Wir bringen diesen Aufsatz aus der Feder unseres ver­ehrten Mitarbeiters unserem Grundsatze getreu, alle be­rechtigten Ansichten zu Worte kommen zu lassen. Unseren eigenen Standpunkt gegenüber dem uns sehr wichtig er­scheinenden Buche möchten wir in der nächsten Nummer zum Ausdruck bringen.

[Dieser Beitrag ist indessen nicht erschienen.]

Ludwig Jacobowski gibt im Verlag G. E. Kitzler in Berlin eine Sammlung «Deutsche Dichter fürs Volk» her­aus. Das Heftchen kostet 10 Pfennige. Das Unternehmen stellt sich zur Aufgabe, in «geprüfter Auswahl solche Werke deutscher Dichter darzubieten, die durch Inhalt und Form, durch sittlichen Gehalt und innere Kraft imstande

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sind, jedermann in ein näheres Verhältnis zu dem großen Poeten unseres Volkes zu bringen.» Wenn das Heft I «Goethe», das von Ludwig Jacobowski herausgegeben ist, Erfolg hat, so wird der Herausgeber andere folgen lassen. In Aussicht ist vorläufig genommen:

Ludwig Uhland (Herausgeber Prof. Dr. H. Friedrich),

Matthias Claudius (Herausgeber Dr. Hans Taft),

Friedrich Schiller (Herausgeber Dr. Rudolf Steiner),

Heinrich Heine (Herausg. Fr. v. Oppeln-Bronikowski),

G.E. Lessing (Herausgeber Dr. A. N. Gotendorf)

u. s. f.

Wir verzeichnen die höchst interessanten Bände, die ein Bild geben vom «International Congress of women 1899»:

1. International council of women. Report of transactions of The second quinquennial meeting hild in London, July 1899. With an introduction by countess of Aber­deen.

2. Women in Education. With an introduction by Miss C. L. Maynard.

3.4. Women in Professions. With an introduction by Mrs. Bedford Fenwick.

S. Women in Politics. With an introduction by Miss E. S. Lidgett.

6. Women in industrial life. With an introduction by Mrs. J. R. Macdonald.

7. Women in social life. With an introduction by Mrs. Benson.

Alles erschienen London: Fischers Unwin Paternoster square 1900.

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Hermann Schauenburg und sein Freundeskreis. Von Dr. Heinrich Meisner, Oberbibliothekar an der Kgl. Bibliothek zu Berlin. (Sammlung gemeinverst. wissensch. Vorträge, herausgegeben von Rud. Virchow. Neue Folge.

XV. Serie, Heft 339.) An den Namen Hermann Schauen-burg's, des Arztes und Dichters, knüpft sich die Entstehung des ersten deutschen Commersbuches. Diese Schrift schil-dert Schauenburg im persönlichen und schriftlichen Ver­kehr mit Männern, wie Hoffmann von Fallersieben, Justi­nus Kerner, Freiligrath, Kinkel, Arndt, Wilhelm Müller, Fontane u. a. Auf den Bestrebungen dieses Dichterkreises wird durch die mitgeteilten Originalbriefe ein vielfach neues Licht geworfen.

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Zeitschriften

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Die von August Sauer, Professor der deutschen Litera­turgeschichte in Prag herausgegebene Zeitschrift «Euphorion Zeitschrift für Literaturgeschichte» bringt in ihrem ersten Heft des sechsten Bandes Uhlands Drama Benno nach des Dichters Reinschrift zum erstenmale vor die Öffentlichkeit. 1877 hat Adalbert Keller dieses Drama in seinem Buch «Uhiand als Dramatiker» nach einer andern Handschrift herausgegeben, die als ein erster Entwurf zu betrachten ist. Die jetzt veröffentlichte scheint die letzte Bearbeitung zu sein, die Uhiand dem Drama hat an­gedeihen lassen. Aus dem Inhalte des interessanten Heftes sei noch ein Aufsatz von Hedwig Wagner in Berlin her­vorgehoben: «Tasso und die nordische Heldensage.»

Das literarische Echo (Berlin) bringt in seiner Nummer vom 15. Juni einen Aufsatz über Wilhelm Hegeler aus der

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Feder des jungen Wiener Psychologen Max Messer, ferner eine Charakteristik Francique Sarceys von Ludwig Geiger und eine Beleuchtung des «jungen Rußland» von Alexis von Engelhardt.

Die Romanwelt (herausgegeben von Felix Heinemann) hat im 37. Heft des 6. Jahrgangs folgenden Inhalt: Olga Wohlbrück: Briefr an einen Toten. Paul Guiraud: Lolos Berufung. V. J. Sawikkin: Makey, der Trunkenbold. Anton Tschechow: Auf der Fahrt. Allerlei.

Die in Wien von Auguste Fickert, Marie Lang und Rosa Mayreder herausgegebenen «Dokumente der Frauen» enthalten im Heft vom 15. Juni 1899: Ellen Key: Weib­liche Sittlichkeit. Zur Lage der Telephonistinnen. Georg Brandes: Ellen Key. Multatuli. Ein Märchen, wie es so kam! Ferner eine Diskussion, die an den interessanten Artikel der Herausgeberin Rosa Mayreder über «weib­liche Schönheit» anknüpft.

Aus dem Inhalte von Nr.38 der «Nation» heben wir hervor: Gustav Steinbach: Die österreichische Ausgleichskrise und Phil. Arnstein: Ein englischer Staatsmann über die «amerikanische Revolution».

Das Maiheft des Journal des Savants bringt: Michel Bréal: Volney orientaliste et historien. Berthelot: Les mer­veilles de l'Egypte et les savants alexandrins. G. Maspero:

Note sur un passage du Livre des merveilles. H. Weil: Les dieux des Grecs. Emile Blanchard: Trans ans de luttes aux désert d'Asie.

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CHRONIK

Eine neue Ibsen-Ausgabe

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Zu Henrik Ibsens Geburtstag erscheint bei S. Fischer in Berlin der zweite Band einer neuen Ibsen-Ausgabe in deutscher Sprache. Bearbeitet derselben sind Dr. Julius Elias, Dr. Georg Brandes und Dr. Paul Schlenther. Der zweite Band, der mir vorliegt, verspricht das denkbar Beste. Er enthält: Das Hünengrab. Die Herrin von Oestrot. Das Fest auf Solhaug. Olaf Liljekrans. Eine inter­essante Einleitung zu diesen Ibsenschen Jugendwerken hat Georg Brandes geliefert. Ich komme auf die bedeutende Publikation noch zurück.

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Willibald Alexis-Denkmal

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Ein Komitee, das aus einer Reihe deutscher Dichter, Lite­rarhistoriket und Literaturfreunde besteht, fordert in einem zum 29. Juni [1898], dem hundertsten Geburtstage Willi-bald Alexis', versendeten Rundschreiben die Freunde seiner Schöpfungen auf, zur Errichtung eines Denkmals des Dich­ters in Atnstadt beizusteuern. Alexis hat das letzte Viertel seines Lebens in diesem «lieblichen, von bewaldeten Hö­henzügen umrahmten thüringischen Städtchen» zuge­bracht und ist auch dort begraben worden. Das Denkmal soll dicht an seinem Sterbehause «in einer stillen, von den leise murmelnden Wellen der Gera bespülten Garten­anlage» stehen. Dem Komitee gehören unter vielen an­deren an: Heinrich Bulthaupt, Felix Dabn, Heinrich Del­brück,

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Georg Ebers, Kuno Fischer, Theodor Fontane, Ludwig Geiger, Ludwig Fulda, Martin Greif, Gerhart Hauptmann, Paul Heyse, Max Koch, Joseph Kürschner, Detlev von Liliencron, Paul Lindau, Wilhelm Raabe, Peter Rosegger, Erich Schmidt, Gustav Schmoller, Hein­rich Seidel, Friedrich Spielhagen, Richard Voß.

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Unter dem Titel «Sonnenblumen» gibt seit längerer Zeit Karl Henckell eine kleine Zeitschrift heraus, welche dazu bestimmt ist, weiteren Kreisen die Kenntnis der modernen deutschen Lyrik zu vermitteln. Jede der Nummern ist einem Dichter gewidmet. Sie enthält charakteristische Proben des Schaffens dieses Dichters. Diesen Proben ist immer ein «Anzeiger» beigefügt, der mit dem Dichter bekannt macht. Ich glaube, das Unternehmen hat vielen Leuten gute Dien­ste geleistet. Nun soll in Wien ein ähnliches Unternehmen ins Leben gerufen werden. Josef Kitir, der außetordentlich begabte österreichische Lyriker, und Karl Maria Klob ver­senden soeben ein Schreiben, in dem sie anzeigen, daß sie vom i. August dieses Jahres anfangen, «poetische Flug­blätter» herauszugeben, die einen ähnlichen Zweck haben wie Karl Henckells «Sonnenblumen». Jede Nummer soll einem zeitgenössischen Dichter gewidmet sein. Außer Proben seines Schaffens soll in ihr noch dessen Bild, eine Lebenssklzze und Charakteristik enthalten sein.

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Gedenktafil für Hermann von Gilm

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Zum Andenken an den tirolischen Dichter Hermann von Gilm wurde an seinem Sterbehause in Linz eine Gedenktafel

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angebracht und am 11. Juni enthüllt. Hermann von Gilm (1813-1864) ist eine sinnig poetische und zugleich eine Kampfnatur gewesen, die in kernhaften Worten das jesuitische Treiben in seinem Heimatlande geißelte und in schlichten und innigen Versen die Empfindungen seines Tirolervolkes zu schildern verstand.

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Freie literarische Gesellschaft in Berlin. In der diesjähri­gen ordentlichen Generalversammlung der «freien litera­rischen Gesellschaft» in Berlin ist Otto Erich Hartleben zum Vorsitzenden und folgende Herren zu Vorstandsmit­gliedern gewählt worden: Max Hoffmann, Fritz Cohn, Hans Krämer, Direktor Felix Lehmann, Dr. Max Lorenz, Dr. Jonas Lehmann, Dr. Meyer-Förster, Dr. Rudolf Steiner.

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Ein Denkmal für Ludwig Anzengruber soll in Wien errich­tet werden. Ein Komitee veröffentlicht soeben einen Auf-ruf, in dem es sich an die zahllosen Verehrer des Dichters wendet und sie auffordert, dazu beizutragen, daß dieses würdige Erinnerungszeichen an einen der größten deut­schen Geister zustande komme. Den Aufruf haben unter anderen unterzeichnet: Hermann Bahr, Ludwig Barnay, Otto Brahm, Heinrich Bulthaupt, Eugen Burckhard, Ada Christen, Emil Claar, Felix Dahn, Jakob Julius David, Marie von Ehner-Eschenbach, Ludwig Fulda, Marie Eugenie delle Grazie, Herman Grimm, Ernst Haeckel, Max Halbe, Otto Erich Hartleben, Gerhart Hauptmann, Paul Heyse, Wilhelm Jordan, Josef Kainz, Gustav Klimt,

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Detlev von Liliencron, Fritz Mauthner, Jakob Minor, Wilhelm Raabe, Hans Richter, Ferdinand von Saar, Arthur Schnitzler, Adolf von Sonnenthal, Friedrich Spielhagen, Hermann Sudermann, Eduard Süß, Rudolf Weyr, Adolf Wilbrandt, Ernst von Wolzogen.

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Die Berliner Literaturarchiv-Gesellschaft, die das Ziel verfolgt, Nachlässe von Dichtern und Gelehrten zu sam­meln und der historischen Forschung zuzuführen, konnte in ihrer Sitzung vom 19.Februar [1899] feststellen, daß sie etwa 12000 Briefe und 500 größere Manuskripte besitzt. Von Neuerwerbungen sind zu erwähnen, Briefe von Fouqué, A. von Humboldt, Archenholtz, Elise Reimarus. Auch ist der gesamte literarische Nachlaß Schleiermachers (Manuskripte und Briefe) erworben worden.

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Sammlung für ein Klaus Groth-Denkmal

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Am 24. April [1899] vollendet Klaus Groth sein acht­zigstes Lebensjahr. Freunde seiner Dichtung versenden einen Aufruf zur Sammlung für ein Denkmal. Der Bild­hauer Harro Magnussen ist zur Ausführung desselben in Aussicht genommen. Die Zahl derer ist eine große, denen der niederdeutsche Dichter durch seine Schöpfungen genußreiche Stunden bereitet hat. Sie mögen das ihrige zur Ausführung des Planes beitragen. Der Aufruf ist unter­schrieben von C. W. Allers, Hermann Allmers, Dr. Corni­celius, Dr. Karl Eggers, Forkel, Fuß, Herman Grimm, Prof. Dr. Jul. Grimm, C. Hansen, Hüthe, Jessen, Krumm,

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Ferdinand Lange, Max Müller (Oxford), Friedrich Paulsen, Prof. Dr. Reimann, Prof. Dr. Sachau, Heinrich Seidel, H. Sierks, Dr. J. Stinde, Dr. Stuhlmann, Dr. Th. Thomsen, Dr. E. Thomsen, Johannes Trojan. (Der geschäftsfüh­rende Ausschuß besteht aus: Erich Kohihammer, Assistent der Chemie in Berlin, Dr. jur. Schrader, Berlin, Köthener­straße 22 I und Nicol. Bachmann, Maler in Berlin.)

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Am Montag, den 28. August [1899], abends 8 ½ Uhr, veranstaltet in Berlin (Kellers Festsäle, Koppenstraße 29) die «Freie Volksbühne» eine Goethefeier, bei der Dr. Ru­dolf Steiner die Festrede halten wird, und zwar über:

Goethe und die Gegenwart.

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Friedrich Hebbel-Ausgabe

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Prof. Dr. Richard Maria Werner in Lemberg und B. Behrs Verlag (E. Bock) in Berlin sind im Begriff, von Friedrich Hebbels Werken eine historisch-kritische Ausgabe zu ver­anstalten, um dem großen Publikum wie den Fachgelehr­ten die genaue Kenntnis dieses Dichters zu ermöglichen, der seiner Zeit so weit vorauseilte und die mo­derne Literaturentwicklung einleitete. Zum ersten Male soll alles von ihm Herrührende gesammelt und auf Grund der Handschriften und ersten Drucke in verläßlicher Ge­stalt vorgelegt werden.

Den Werken dürften sich im Sinne Hebbels die Briefe und Tagebücher anschließen; zunächst jedoch wird ein Band Nachlese von seinen Briefen unter Mitwirkung Fritz

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Lemmermayers als Fortsetzung und Abschluß der Bam­bergischen Veröffentlichungen erscheinen.

Die Herausgeber bitten daher alle Besitzer von Hand­schriften Hebbels, sie ihnen gütigst zur Benutzung zu über­lassen. Auch für den Nachweis von seltenen Drucken, Zeit­schriften usw. mit Beiträgen Hebbels wäre der Heraus­geber zu Dank verpflichtet; er bürgt für sorgfältige Auf­bewahrung und Rücksendung, gegebenenfalls können die Sendungen an die Direktion der K. K. Universitätsbiblio­thek in Lemberg adressiert werden, nur mit dem Zusatz, daß sie für den Prof. Dr. R. M. Werner bestimmt seien.

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Ein Denkmal flir Gottfried August Bürger

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Bewohner von Molmerswende, dem abseits der großen Landstrasse im Harz gelegenen Geburtsdorf des Dichters Gottfried August Bürger haben schon seit Jahren an der Ver­wirklichung des Planes gearbeitet, ihrem berühmten Lands-manne ein wenn auch nur bescheidenes Denkmal zu setzen. Aber ohne Verbindungen mit der literarischen Welt, nur auf ihre eigene Kraft angewiesen, konnten sie sich der Erfüllung ihres berechtigten Wunsches nicht erfreuen. Des­halb haben unter dem Protektorate Sr. Exzellenz des Herrn Grafen von der Asseburg die Mitglieder der Literarischen Gesellschaft zu Sangerhausen die Aufgabe übernommen, weitere Kreise für die Idee zu interessieren, und vom Minister des Innern die Genehmigung erwirkt, zur Ein-sendung von Beiträgen für den erwähnten Zweck Auf-rufe zu erlassen und die eingehenden Spenden entgegenzunehmen.

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Gerade jetzt, da hundertfünfzig Jahre seit der Geburt Bürgers verfiossen sind, scheint der Zeitpunkt gekommen, alle Verehrer des Vaters der deutschen Ballade, des Grün­ders einer neuen deutschen Lyrik, um ein Scherflein zu bitten für einen einfachen Denkstein. Wenn auch als Mensch nicht ohne Fehler, so hat es doch Bürger als Poet, dem wir «Lenore» und «Das Lied vom braven Mann» ver­danken, gewiß verdient, daß seine Geburtsstätte nicht ganz ohne ein Zeichen des Dankes und der Erinnerung bleibe, und die wackeren Bewohner des kleinen Harzortes, die ihrer Heimat reichbegabten Sohn ehren wollen, dürfen wohl darauf rechnen, daß ihnen die Unterstützung der Berufenen nicht fehle.

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Preis-Ausschreiben

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Zur Förderung der Wissenschaft und im Interesse des Vaterlandes ist den Unterzeichneten die Summe von 30000 Mk. überwiesen worden, um nachfolgende Preis­aufgabe zur Lösung zu stellen.

Wir haben gerne die Aufgabe übernommen, die Aus­führung der hochherzigen Stiftung zu leiten.Indem wir das Thema veröffentlichen und die Bestimmungen beifügen, nach welchen die Erteilung der Preise erfolgen wird, rich­ten wir an wissenschaftlich gebildete Männer die Aufforde­rung, sich der Bearbeitung der interessanten und zeit­gemäßen Aufgabe zu widmen.*

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* Erläuterungen und Bestimmungen werden hier nicht veröffentlicht.

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Thema: Was lernen wir aus den Prinzipien der Descen­denztheorie in Beziehung auf die innerpolitische Entwicke­lung und Gesetzgebung der Staaten?

Jena, den 1.Januar 1900.

Prof Dr. E. Haeckel, Geh. Dr. J. Conrad, Pro£ Dr. E. Fraas

(Jena) (Halle) (Stuttgart)


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Nietzsche-Abend

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Eine Gedenkfeier für den am 27. August gestorbenen Friedrich Nietzsche, dessen Bedeutung für das Geistes­leben der Gegenwart auch in dieser Zeitschrift noch be­sprochen werden soll, veranstaltet am Dienstag, den 18. September [1900], der Rezitator Kurt Holm in Verein mit Rudolf Steiner. Kurt Holm wird aus Nietasches Wer­ken Rezitationen, Rudolf Steiner eine einleitende Aus­führung über «Nietzsches einsame Geisteswanderung» darbieten.

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Aufruf

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Um die Freiheit aller Weltanschauung grundsätzlich be­müht, hat der Berliner «Giordano Bruno-Bund für einbeit­liche Weltanschauung» diesen Aufruf verfaßt und eine Reihe von Forschern, Schriftstellern, Künstlern und Verlegern zur Mitunterzeichnung eingeladen.

Im Verlage von Bugen Diederichs in Leipzig erscheinen Leo Tolstois sämtliche Werke, herausgegeben von Raphael Loewenfeld. Ein Bändchen ist betitelt «Der Sinn des Le­bens» und enthält unter anderem auch die «Antwort an

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den Synod», die Tolstoi auf seine Exkommunikation aus der griechischen Kirche folgen ließ. Geschmäht und ange­schuldigt, er habe «in der Verblendung seines hoffärtigen Geistes sich frech erhoben gegen den Herrn und seinen Christ» setzt Tolstoi auseinander, welche Lehren und Ge­bräuche der griechischen Kirche er in der Tat für verwerf­lich halte. Nun hat ein deutscher Leser (ein katholischer Justiarat) diese Schrift bei einer Leipziger Staatsanwalt­schaft denunziert, worauf sie von der Behörde konfisziert wurde. Die Beschlagnahme wurde zwar vom Leipziger Amtsgericht nicht bestätigt, indessen vom dortigen Land­gericht anerkannt. Überdies ruft nun eine Anklage wegen «Gotteslästerung» und «Beschimpfung kirchlicher Einrichtun­gen» Herausgeber und Verleger vor den Richter.

Wir halten es für unsere Pflicht, die öffentliche Kritik auf diesen Fall hinzulenken. Mag man über die Richtigkeit der Gedanken Tolstois verschieden urteilen, so ist doch der heilige Ernst seines religiösen und sittlichen Suchens über jeden Zweifel erhaben. Wer aus tiefer Überzeugung erklärt, er sehe «allen Sinn des Lebens nur in der Erfüllung von Gottes Willen, wie er in der christlichen Lehre seinen Aus­druck gefunden», kann kein Gotteslästerer sein. Die russi­sche Regierung scheint das auch anzuerkennen; wenig­stens ist sie nicht gegen Tolstoi vorgegangen. Ebenso wenig haben die anderen europäischen Kulturstaaten -denn die Schrift wurde in alle Sprachen übersetzt - etwas einzuwenden gehabt. Was aber Tolstoi selbst in Rußland erspart blieb, soll jetzt in Deutschland Übersetzer und Ver­leger treffen, die, ohne die Möglichkeit einer Verfolgung zu ahnen, den richtigen Gedanken bestätigen: Tolstois Werke gehören mit Einschluß dieser bedeutsamen Verteidigung

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seiner Religion entschieden der Weltliteratur an und dürfen als Quellen idealen Lebens, ja schon als ge­schichtliche Dokumente dem deutschen Volke nicht vor­enthalten bleiben. Was das Vorgehen des Leipziger Staats­anwaltes und Landgerichts noch seltsamer macht, ist die Art, wie eine Beschimpfung deutsch-kirchlicher Einrich­tungen konstruiert werden soll. Offenbar hat der § 166 des Reichsstrafgesetzbuches nicht die Mission, die russi­sche Kirche vor kritischen Anfechtungen zu bewahren. Indessen meint die Anklage, was Tolstoi gegen die grie­chische Kirche vorbringe, passe auch auf Dogmen und Sakramente des deutschen Katholizismus und Protestan­tismus und stelle folglich eine «mittelbare» Beschimp­fung kirchlicher Einrichtungen und Gebräuche dar.

Dies Vorgehen von Organen eines deutschen Bundes-staates beunruhigt, wenn auch unabsichtlich, unser religiös-sittliches Leben und Forschen. Wenn zwischen den Heil­sucher und die Quellen seiner Erkenntnis oder Anregung hindernd starre Polizeigewalt tritt, so müssen die Gewissen sich auflehnen und eifrig darum bemühen, daß die Zirkula­tion des Ideenblutes im Volkskörper und der geistige Stoff­wechsel vor solchen Einschnürungen bewahrt werden. So wünschen wir denn nicht allein, die berufenen Beamten möchten den Leipziger Tolstoi-Fall in unserem Sinne bei­legen; die Axt suchen wir auf jene Wurzel zu lenken, der immer neue Übel derselben Art entsprießen; wir fordern demnach von unsern Gesetzgebern, daß sie den veralteten Gottes­lästerungs-Paragraphen endlich beseitigen.

Einstweilen fanden sich für den Aufruf folgende Unterschriften: Dr. Bruno Wille - Wilhelm Bölsehe - Prof. Max Liebermann, ord. Mitglied der königl. Akademie der Künste - Wolfgang Kirehbach -Gerhart Hauptmann - W. Kulemann, Landgeriehtsrat - Prof. Max Klein,

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Bildhauer - Dr. Georg Bondi, Verlagsbuchhändler - Paul Schuitze­Naumburg - Prof. Dr. Albert Gehrke - Dr. Rudolf Penzig Redakteur der Ethischen Kultur - S. Fischer, Verlagsbuchhändler - Heinrich Dries­manns - Dr. Oscar Blumenthal - Dr. W. Bode (Weimar) - Geh. Hofrat Jos. Kürschner (Eisenach) - Lily Braun - Dr. Magnus Hirschfeld -Wilh. von Polemt - Dr. L. Quidde (München) - Dr. Max Dreyer -Hedwig Bender (Eisenach) - Dr. Heinrich Braun - Hermann Suder­mann - Erich Schlaikjer - Paul Jonas, Justizrat - Wilhelm Hegeler -Georg Waaner - Prof. Frarat Stuck (München) - Ottu Ernst (Hamburg) -Dr. Walter Harlan - Otto Borngraber - Ernst Freiherr von Biedermann -Kurt von Tepper-Laski - Dr. Ludwig Fulda - Prof. Dr. Siegmund Günther (München) - Dr. Georg Hirth - Fritz vun Ostini - Dr. S. Sinz­heimer - Albert Matthäi - Franz Langheinrich - Otto Grantoff - Otto Neumann-Hofer - Otto Julius Bierbaum - Osear Stassel, Kgl. Hof-Verlagsbuchhändler - Eduard Grisebach - Gustav Schüler - Max Bruns, Verlagsbuchhändler - Richard Dehmel - Willy Pastor - Schuster & Löffler, Verlagsbuchhändler - Dr. S. Heck'scher, Redakteur des Lotsen -Dr. Hermann Türck - Dr. Max Halbe (München) - Frank Wedekind -Max Martersteig - Max Hoffschläger, Verlagsbuchhändler - Willibald Franke, Verlagsbuchhändler - A.Fischer, Verlagsbuchhändler - Dr. R. Manz - Prof. Dr. Hans Meyer, Herausgeber von Meyers Konversations­lexikon - Dr. Hans Zirarner - Richard Schmidt-Cabanis - Arthur Zapp -Dr. Mathieu Schwann - Wilhelm Schölermann - Fritz Mauthoer - Maurice van Stern - Franz Evers - Geh. Justiztat Black-Swinton, Erster Staats­anwalt a. D. - Carl Jentseb - Dr. Otto Brahm - Prof. Rieb. Weltrich (München) - Heinrich Stümke, Redakteur von Bühne und Welt - Hein­rich Wolfradt, Vors. des Vereins zur Förderung der Kunst - Harro Magnussen - Heinrich Koch, Bildhauer - Conrad Ansorge - Hugu Höppener-Fidus, Maler - Dr. Th. Suse, Rechtsanwalt (Hamburg> - Otto Modersohn (Worpawetle) - Heinrich Vogeler (Worpswede) - Prof. Dr. Ferdinand Tönies - Carl Hauptmann (Schreiberhau) - Bernhard Wilm (Warmbrunn i. Schi.) - Ernst Haeckel - Dr. Rudolf Steiner - Dr. Wilh. Stern (Berlin) - Hans Schliepmann - Graf Paul von Hoensbroech -Pastor Dr. Kaltbuif (Bremen> - Prof. Dr. Pietatorif (Jena) - Dr. Joh. Schubert (Friedrichshagen) - Prof. Werner Sombart - Ludwig von Hofmann - Ferd. Heigl (München) - Dr. Arthur Pfangst - Fritz Schu­macher - Eugen Zabel - Pro£ Dr. Berthold Wiese (Halle) - Prof. Dr. Achelis (Bremen) - Prof. Dr. Kurd Lasswitz - Hans Rosenhagen -Prof. Dr. A. Döring - Christoph Schrempf (Stuttgart) - Paul Gebeeb (Stuttgart) - Prof. Dr. Theodor Lipps (München) - Walter Leistikow -Dr. Ernst von Wildenbruch.

Der Prozeß gegen Eugen Diederichs und Dr. Raphael Loewenfeld findet in Leipzig am 4. Juni [1 9021 statt.

HINWEISE

#G032-1971-SE509 - Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884 - 1902

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HINWEISE

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Von den in den Aufsätzen erwähnten Persönlichkeiten wurden wenn immer möglich im Register Gehurts- und Todesj ahr angeführt.

Zu Seite:

12 ein Wort wie das Schillers: «Briefe , 22. Brief, wörtlich: «Darin also besteht das eigent-liebe Kunstgeheitnnis des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt.»

16 Robert Hamerling: Kitchberg am Wald, Niederösterreich 1830-1889 Graz, von 1851-1866 Lehrer in Wien, Graz, Cilli und Triest, dann ganz als Dichter lebend. Seine «Sämtlichen Werke» wurden in 16 Bänden von M. M. Rabenleehner herausgegeben (Leipzig 1912). Autobiographisehe Schriften: Stationen meiner Lebenspilgerschaft, Hamburg 1889, Lehrjahre der Liebe (Tagebücher), Hamburg 1890, Ungedruckte Briefe, Wien 1897-1901.

Ludwig Anzengruber: Wien 1839-1889 ebenda, zuerst Schauspieler; dann Redaktor verschiedener Blätter. Seine «Sämtlichen Werke» wurden unter Mitwirkung von Karl Anzengruber in 15 Bänden herausgegeben von Rudolf Latzke und Otto Rommel, 1918-23; im Jahre 1902 erschienen seine «Briefe».

19 Hamerlings «Homunkulus»: s. die Besprechung auf S.145.

20 Goethe sieht: Goethes Werke, Naturwissenschaftliche Schriften, Vier­ter Band, zweite Abteilung, herausgegeben von Rudolf Steiner, in «Deutsche National-Literatur», Historisch-kritische Ausgabe, her­ausgegeben von Joseph Kürschner, Verlag von W. Spemann, Berlin und Stuttgart 0. J. (1897), 117. Band, Goethes Werke XXXVI, 2. Auf Seite 510 in den «Sprüchen in Prosa» heißt es wörtlieb: «Der Dichter ist angewiesen auf Darstellung. Das Höchste derselben ist, wenn sie mit der Wirklichkeit wetteifert, d.h. wenn ihre Sebilde­rungen durch den Geist dergestalt lebendig sind, daß sie als gegen­wärtig für jedermann gelten können.»

22 Charles Darwin: Naturforscher, 1809-1882.

23 Goethe rief aus: Italienische Reise, Rom: 6. September und 28. Januar

1787.

25 von sich sagen: wörtlich in «Ein Reimbrief», 1875 an Georg Brandes:

Und ich soll dieses Rätsels Schleier heben?

Mein Amt ist fragen, nicht Bescheid zu geben.

28 «Unpolitische Lieder»: Hamburg 1840/41.

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29 Hoffmann von Fallersleben: Der Dichter starb am 19. Januar 1874 in Corvey.

33 Cabanis: Berlin 1832; Der Roland von Berlin, Berlin 1840; Der falsche Waldemar, Berlin 1842; Die Hosen des Herrn von Bredow, Berlin 1846-48; Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, Berlin 1852; Isegrimm, Berlin 1854. - Der Dichter starb am 16. Dezember 1871 in Arnstadt.

34 Menzel: redigierte das «Literaturblatt» zum Cottasehen «Morgenblatt» von 1825-48.

Robert König: Pädagoge und Schriftsteller, wurde 1864 Schriftleiter des Familienblattes «Daheim» in Leipzig, schrieb eine illustrierte «Deutsche Literaturgeschichte», 1878.35. Auflage 1922.

35 «Deutsche Geschichte»: Geschichte der Deutschen, 3 Bände, 1824 - 25.

36 daß er sang: Nihelunge, Erstes Lied: Sigfridsage, Frankfurt a. M.

1867-68. 10. Auflage Frankfurt a. M. 1877, S. 4. - Nibelunge, Zweites Lied: Hildehrants Heimkehr, Frankfurt a. M. 1874.

38 Jordan sprach: Strophen und Stäbe, Frankfurt s. M. 1871, S. 209, in dem Gedicht «An einige Kritiker». - Der Dichter starb am 25. Juni 1904 in Frankfurt s. M.

39 Friedrich Spielbagen: Magdeburg 1829-1911 Berlin Charlottenburg.

40 Ernst Wichert: Insterburg 1831-1902 Berlin. Mitbegründer der Ge­nossenschaft deutscher dramatischer Autoren und Komponisten.

41 Balzac: Honoré de Balzac, Tours 1799-1850 Paris.

44 «Essays»: S. Auflage, Berlin 1905, S. 95 im Kapitel «Die Freiheit der Persönlichkeit».

Rosa Mayreeer: Wien 1858-1938 ebenda. S. «Mein Lebensgang», IX. Kap.,Gesamtausgahe, Dornach 1962, Bibl.-Nr. 28.

46 «Idole»: s. die Besprechung: S. 248.

55 eine dieser Faheleien: Der Stiefvater, eine Fabelei, in «Die Gesell­schaft». Dresden und Leipzig. Haibmonatischrift für Literatur, Kunst und Sozialpolitik. Herausgeber: M. G. Conrad und L. Ja­cobowski. XVI. Jahrg., 1900, Band II, Heft 2 (April), S. 87f.

56 Maric von Ebner-Eschenbach: Schloß Zdislavic, Mähren 1830-1916 Wien. Ihre «Gesammelten Schriften» erschienen in 6 Bänden im Jahre 1892; «Die schönsten Erzählungen» (Krambambuli Die Frei-herren von Gemperlein, Lotti, die Uhrmacherin, Der Vorzugs­schüler, Kreisphysikus), Bern 1946, und die «Aphorismen», Bern 1946, beide in neuer Auflage.

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56 Anton Alexander Graf von Auersprg (Pseudonym Anastasius Grün):

Laibach 1806-1876 Graz, seine «Spaziergänge eines Wiener Poeten» (1831) ist die bedeutendste Schöpfung politischer Poesie im öster­reichischen Vormärz. Rudolf Steiner hat in den Jahren 1912 und 1916 verschiedentlich auf die Dichtung «Schutt» (Leipzig 1836) hingewiesen.

59 Berta von Sutlner, geb. Gräfin Kinsky: Prag 1843-1914 Wien, warb für die Friedensidee hauptsächlich durch ihren Roman «Die Waffen nieder» (1889).

63 Maric Eugenie delle Grazic: Weißkirebcn, Ungarn 1864-1931 Wien kam 1872 nach Wien, mußte aus Gesundheitirücksichten ihrem Lehrerinnenberuf entsagen und lebte als Schriftstellerin bis zu ihrem Tode in Wien. Ihre «Sämtlichen Werke» erschienen in 9 Bänden (Leipzig 1903).

68 Max Halbe: Verschiedene Aufsätze über diesen Dramatiker sind veröffentlicht in: Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie, 1889-1900. Gesamtausgabe, Dornach 1960, Bibl.-Nr. 29.

69 Leben bestimmt wird: Die Fortsetzung und Ergänzung dieses Auf­satzes ist in die folgende Betrachtung über M. E. delle Grazie auf­genommen. Da es sich um eine teilweise wörtliche Wiederholung in diesen sieben Jahre auseinanderliegenden in zwei verschiedenen Zeitschriften erschienenen Aufsätzen handelt, wurde der gleich­lautende Text in den grundsätzlieheren und umfassenderen Aufsatz aus dem Jahre 1900 hineingenommen.

In der neunten Auflage: Ernst Haeckel, Natürliche Schöpfungs­geschichte, Gemeinverständliehe wissenschaftliche Vorträge über die Entwicklungs-Lehre, 9. Auflage, Berlin 1898, 2. Band, S. 811.

89 von der «Natur»: s. «Die Natur und unsere Ideale». Sendschreiben an die Dichterin des «Hermann»: Marie Eugenie delle Grazie, in «Methodische Grundlagen der Anthroposophie», Gesamtausgabe, Dornach 1961, Bibl.-Nr. 30.

92 Ludwig Jacobowski: Strelno 1868-1900 Berlin, Dr. phil. In «Bio­graphien und biographische Skizzen, 1894-1905» (Gesamtausgabe, Dornach 1967, Bibl.-Nr. 33) veröffentlichten wir bereits ein «Lebens-und Charakterbild des Dichters». S. ferner S. 293-320 und S. 415-420. In «Mein Lebenigang», Kapitel XXIX, schildert Rudolf Steiner die kurze Zeit des Zusammenwirkens mit Jacobowski. Wir bringen an dieser Stelle einen Lebenslauf des Dichters, den dieser nach dem Abiturientenexamen schrieb; das Manuskript fand sieh im Nachlaß des Dichters, den Rudolf Steiner zu ordnen hatte.

«Lebenslauf des Ludwig Jaeobowski, geschrieben nach dem Exa­men im Oktober 1887.

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Am 21. Januar 1868 wurde ich zu Strelno, Prov. Posen, als der dritte Sohn des Kaufmanns Jacobowski geboren. In diesem Kreis-städtchen verlebte ich die ersten fünf Kinderjahre. Im April 1874 zogen meine Eltern nach Berlin, und hier besuchte ich zuerst die Luthersche Knabenschule Nachdem ich die untersten Klassen die­ser Schule absolviert hatte, wurde ich in die Sexta der Luisen­städtischen Oberrealsehule aufgenommen. Während ich als Seztaner ein guter Schüler war, gehörte ich in der Quinta zu den schlechtesten, und zwar sowohl aus Mangel an Fleiß, als auch wegen allzu häufigen Versäumens des Unterrichts. In meiner Quintanetzeit war es, wo ich an beiden Augen operiert wurde, um von einem mir angeborenen Augenfehler befreit zu werden. In eben dieser Zeit besuchte ich auch die Deuhardtsche Sprachanstalt, um dort wieder eine normale Sprechweise zu erlangen. Als Folge mehrerer gefährlicher Kinder­krankheiten war mir nämlich ein starkes Stottern zurückgeblieben. Dieser Sprachkursus hatte keinen Erfolg. Mein Sprachfehler haftet mir heute noch an und hat mir viele birtre Stunden verursacht. Da ich nicht versetzt wurde, brachte mich mein Vater in die Luthersche Schule zurück, die ich dann ganz absolvierte. Als ich zwölf Jahre zählte, starb meine Mutter. Diesem harten Schlag sowohl, wie einem schon verstorbenen Freunde, namentlich aber dem Einfluß der Lektüre unserer Literatur hatte ich es zu verdanken, daß ich ein anderer Mensch wurde. Diese innige Liebe zu unserem deutschen Schrifttum wuchs mit den Jahren immer mehr. Als ich dann nach der Luisenstädrisehen Oberrealsehule zurückkehrte, gehörte ich stets zu den relativ guten Schülern, was freilich weniger meinem Fleiß als meiner leichten Auffassungsgabe zuzuschreiben ist. Stets zogen mich die historischen Wissenschaften mehr an, als die Naturwissen­schaften, ohne daß ich jedoch letztere vernachlässigt hätte. Am 30. September 1887 bestand ich mein Abiturientenexamen und wurde auf Grund meiner schriftlichen Arbeiten vom mündlichen Examen dispensiert, was mir meines Sprachfehlers wegen sehr lieb war. Ein halbes Jahr darauf starb mein Vater. Oktober 1887 ließ ich mich in Berlin immatrikulieren und studierte Literatur, Geschichte und Philosophie, um Schriftsteller zu werden. Oktober dieses Jahres er­schien eine Gedichtsammlung «Aus bewegten Stunden» von mir, die zum größten Teil nach meiner Sekundaner- und Primanerzeit entsprungen ist und von der mancherlei schon vorher in Zeitschrif­ten erschienen war. Die mannigfachen günstigen Kritiken, die mit zugesandt wurden, können mir freilich nicht die Mängel meines Werkehens verbergen. Ich beabsichtige nach meinem Studium von sechs Semestern das Doktorexamen zu machen und dann eine un­politische Redakteurstellung einzunehmen.»

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Jacobowski studierte unter anderen bei Treitsebke, Paulsen, Preyer, Erich Schmidt, Geiger, Dilthey und Ebbingimus; er promovierte in Freiburg 1891; der Titel der Doktorarbeit lautete: Klinger und Shakespeare. Ein Beitrag zur Shakespearomanie der Sturm- und Drangperiode. - Zum 10. Todestag erschien im Verlag Georg Müller, München und Leipzig, eine Auswahl der Gedichte Jaeo­bowskis, welche Cäsar Flaischlen besorgte. Dem Büchlein ist ein Verzeichnis der Werke Jacobowslris und auch der Herausgeherwerke beigegeben.

92 «Glück», Akt in Versen: 1900, Minden i. Westf. J. C. C. Bruns Verlag. Die Dichtung schließt mit den Versen:

Es wird kein Leid so tief gefunden,

Dem Heil und Heilung nicht begegnet.

Und hast Du's innig überwunden,

So recht aus Herzensgrund verwunden,

Hat's Dich am Ende noch gesegnet!

94 In einem der ersten Gedichte: Geschrieben 1884-88. Verlag E. Pierson, Dresden und Leipzig. Das Gedicht «Welträtsel» beginnt in der II. Auflage:

«Es strebt der Mensch unendlich hinzuschweifen, Des Weltalls Rätsel mit Titanenkraft zu lösen.»

Goethe zu Eckermann: Goethe, Gespräche mit Eckermann: Sonn­abend, den 26. Februar 1831.

in seinem Roman: 1892, Verlag E. Pierson, Dresden. Siebente Auf­lage, Berlin 1920. - Motto: Wenn ich nicht für mich bin, wer sollte für mich sein? Und wenn ich nur allein für mich bin, wer bin ich dann? Alter Spruch

in dem Drama Geschrieben April Juni 1894 1895 Verlag Kühling & Guttner Thcaterbuchhandlung Berlin Komodie in drei Akten Die Urauffuhrung fand im Berliner Schillerthester Wallnerstraße 1895 statt Direktion Dr Raphael Loewenfeld Die Titelrolle spielte Willy Frobose Der Verfasser ubersandte ihm sein Drama «Dem vortrefflichen Darsteller des »

95 meine Besprechung: Geschrieben 1896-98. Neue Gedichte. 1900, Minden i. Westf. J. C. C. Bruns Verlag. 3. Auflsge 1909, Berlin, Egon Fleischel & Co. - S. Aufsatz S. 293.

96 Zehupfinnig hefte: Neue Lieder fürs Volk. Mai 1899. Berlin, M. Lie-mann. Jaeobowski verschickte bald nach dem Erscheinen des ersten Heftes einen kleinen Ratgeber «Wie wirke ich für die Verbreitung der volkstümlichen Hefte?» in 5000 Exemplaren als Nr.1 der «Mit­teilungen für die Freunde meiner volkstümlichen Bestrebungen».

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Er schreibt dort: «Im Mai 1899 habe ich ein Bändchen Lyrik her­ausgegeben, Neue Lieder fürs Volk, das die moderne lyrische Pro­duktion von Th. Storm bis auf die jüngsten Dichter berücksichtigt. Über den Erfolg, die Aufnahme und Wirkung, den Leserkreis u. a. m. behalte ich mir nähere Mitteilungen in einer Broschüre vor. Der Erfolg war stark genug, um diesem Liederheft, das von vornherein als erstes einer ganzen Reibe von Liederheften gedacht war, ein neues Büchlein folgen zu lassen, das wiederum als erstes einer gro­ßen Serie geplant ist: Deutsche Dichter in Auswahl fürs Volk. Heft 1: Goethe.

Beide Hefte und ihre Aufnahme haben in mir die Gewißheit hervor­gerufen, daß hier ein Weg gefünden ist, sowohl die große Kluft zwischen Literatur und Volk, als auch die zwischen der Minorität der Gebildeten und der Nation der Bildungsuchenden überbrücken zu helfen. Dieses Werk einer Verwirklichung entgegenzuführen, ist esne Arbeitsleistung, die die Kraft eines Einzelnen übersteigt. Viele hunderte von Schreiben, die mir seither ins Haus flogen, Anfragen, die stündlich kamen, machen es mir zur Pflicht, Hilfskräfte zu suchen, die mich ein wenig entlasten und meine Pläne fördern. -Um es kurz zu sagen: Ich wünsche mir in jeder Stadt, in jedem Städtchen, Dorf, Flecken etc. ein paar Freunde meiner volkstüm­lichen Bestrebungen, die ich zu einer «Freien Vereinigung» zu­sammenschließen möchte. Man ersehrecke nicht! Es soll kein neuer Verein sein mit Sitzungen und Satzungen, Beitragageldern, Ehren­ämtern, Bierkneipen u. s. £ Ich verlange nichts als ein starkes werk­tätiges Interesse für diese meine Unternehmungen! Nur das innere Interesse und der Wille, mir zu helfen, sei das Band, das diese Ver­einigung umschließt. Wer hilft mit? Zustimmungen erbitte ich direkt an meine Adresse. Für die zahlreichen Freunde meiner Bestrebun­gen lasse ich, um mir viel Schreiberei zu ersparen, hier einen kleinen Ratgeber folgen, der sich als notwendig erwiesen hat und dessen Brauchbarkeit erprobt ist.»

98 zerstört worden wäre: Ein Freund besuchte vor Jahren das Grab Jacobowskis auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensce und fand dort auf dem Grabstein die - wahrscheinlich von Rudolf Steiner stammende - Inschrift:

LUDWIG JACOBOWSKI

Geboren 21. Januar 1868

Gestorben 2. Dezember 1900

Rastlos - Furchtlos - Selbstlos

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Jacobowski verfaßte selbst aber eine Grabsebrift

Seht, so bin ich:

Ein Dichter, der nur sich gedichtet hat,

Und manche Schönheit in die Welt gehaucht.

Ein Mann, der immer sich vernichtet hat,

Und immer neu aus sieh emporgetaucht.

Ein Mensch, der so sieh selbst gerichtet hat,

Daß er den höchsten Richter nicht mehr braucht!

Seht, das bin ich!

«Leuchtende Tage»: s. Hinweis zu S. 95.

99 Goethes schönem Worte: Aus «Gott und Welt», Eins und alles.

100 «Glück»: s. Hinweis zu S. 92.

101 «Aus bewegten Stunden»: s. Hinweis zu S. 94.

«Werther, der Jude»: s. Hinweis zu S. 94.

«Diyab, der Narr»: s. Hinweis zu S. 94.

102 Eine kleine Schrift: Die Anfänge der Poesie Grundlegung zu einer realistischen Entwicklungsgeschichte der Poesie 1890, Verlag E Pierson, Dresden.

103 in seinen Büchern: s. Hinweis zu S. 96.

in der Sammlung: Die erwähnten drei Hefte waren: Ernst Haeckel und seine Gegner von Dr. Rudolf Steiner. (In «Methodische Grund­lagen der Anthroposophie» erschienen.) Sittlichkeit!?! von Dr. Matthieu Schwann. Die Zukunft Englands von Leo Frobenius. -Cäsar Flaischlen gibt in dem oben genannten Verzeielinis auch noch Heft IV Das moderne Lsed von W>lhelm Maucke als erschienen an Die folgenden vier Arbesten waren bereits in Heft 1 angezeigt Die Erziehung der Jugend zur Freude von Fr von Borstel Schiller contra Nietziche von Fr von Oppeln Bromskowski Hat das deut sehe Volk eine Literatur? von Dr Ludwig Jacohowski Der Ur sprung der Moral von Leo Frobenius Im Nachlaß fand sieh außer der Sammlung «Ausklang» ein Drama in vier Akten «Heimkehr», datiert: Berlin 1896.

105 sein Bekenntnis: Ferdinand Freiligrath, Ein Glaubensbekenntnis, Zeit-gedichte, Mainz 1844, S. 9 in dem Gedicht «Aus Spanien», welches im November 1841 entstanden war.

106 von sich sagen: im Vorwort zu obiger Gedichtsammlung.

107 Es sind Bilder: Ferdinand Freiligrath, Gedichte, 4. vermehrte Auflage, Stuttgart und Tübingen 1841, S. 22 in dem Gedicht «Meerfabel».

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109 So klagt er: s. Hinweis zu S. 105. S. 253: die Anfangsverse des Ge­dichtes «Hamlet».

Georg Herwegh: Stuttgart 1817-1875 Lichtenthal hei Baden-Baden. Sein Hauptwerk: Gedichte eines Lebendigen, 2 Bände, 1841 und 1844. - Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz, Zürich 1843.

110 Worte: Ca iral 1846 in dem Gedicht «Von unten auf! ».

112 Johanna Kinkel: Bonn 1810-58 London, Gattin Gottfried Kinkels, der, wegen Beteiligung am badischen Aufstand 1848 verurteilt, 1850 von Karl Schurz befreit und nach England geleitet wurde. Johanna Kinkel starb durch Freitod infolge Herzbeklemmung.

113 Treitschke: Heinrich von Treitschke, Bilder aus der deutschen Ge­schichte, Zweiter Band: Kulturhistorisch-literarische Bilder, 4. Auf­lage, Leipzig 1911, S. 227.

114 starb er: Diesem Aufsatz liegt ein Vortrag zugrunde, den Rudolf Steiner anläßlich eines Frei]igrath-Abends am 17. Februar 1901, ver­anstaltet von der Arbeiter-Bildungaschule Berlin, im Gewerkschafts­haus in Berlin gehalten hat. In «Der freie Bund», Organ für genos­senschaftliche Arbeit auf dem Gebiet der freien Volksbildung (Leip­zig, III. Jahrg., 1901, März, Nr.3) heißt es in einem Bericht u. a., daß dieser Abend «von über 1000 Personen besucht» und «einer der genufireichsten unter den bisher von der Schule veranstalteten war ».

115 mit ein'r Dichterin: s. Hinweis zu S. 63.

125 heim Erscheinen des «Homunkulus»: s. S. 145 ff.

ein kleines Gedicht: Das Gedicht von Hamerling lautet:

«An den Dichter der

Fercher von Steinwand!

Nicht schäme dich der dunklen Zorngewitter,

Die durch die Seele dir so prächtig rollen!

Schlag' keinen deiner Blitze selbst in Splitter

Und gönn' es deinem Donnern, auszugrollen!

Beglückt, wer so aus einem Meer von Schmerzen

Emportaueht, trotzend der Gemeinheit Pfeile,

Schiffbrüchig, nackt, doch mit verjüngtem Herzen

Und einem Bündel solcher Donnerkeile!»

Johann Kleinfercher: Fereher von Steinwand (Johann Kleinfereher) Steinwand im Mölltal bei Wildegg, Oberkärnten 1828-1902 Wien Kind armer Eltern, besuchte unter harten Entbehrungen das Gym­nasium in Klagenfurt und studierte in Graz. Vermögende Gönner setzten ihn in den Stand, ganz seinen Studien und der Poesie zu

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leben. 1853-55 in Wien Erzieher, 1858 und 59 Reisen nach Dresden, Leipzig und Nürnberg, um literarische Beziehungen anzulinüpfen, ließ sieh 1862 in Perebtoldsdorf bei Wien nieder, wohnte von 1879 an in Wien. Seine «Sämtlichen Werke» erschienen in 3 Bänden von Josef Fachbach E. v. Lohnbaeh herausgegeben in Wien (1903). Den «Chor der Urträume» und den «Chor der Urtriebe», die in der Ge­diebtsammlung «Johannisfeuer» enthalten sind, hat C. S. Pieht unter dem Titel «Kosmische Chöre» zum hundertsten Gebuttitage des Dichters neu herausgegeben (Stuttgart - Den Haag - London 1928). 1966 neu erschienen: Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart. Über seine Lebenabegegnung, die Rudolf Steiner mit Fereher hatte, schreibt er in «Mein Lebensgang», Gesamtausgabe, Dornach 1962, Bibl.-Nr. 28, u. a. auf S. 135: «Ich betrachte die Tatsache, daß ich Fereber von Steinwand habe kennenlernen dürfen, als eine der wich­tigsten, die in jungen Jahren an mich herangetreten sind. Denn seine Persönlichkeit wirkte wie die eines Weisen, der seine Weisheit in echter Dichtung offenbart.» - «In Fereher von Steinwands (erschienen bei Theodor Daberkow in Wien) sind auch einige Angaben über sein Leben abgedruckt, die er selbst auf Ersuchen von Freunden anläßlich seines siebzigsten Geburtstages aufgeschrieben hat. Der Dichter schreibt: - Da man im die Weltanschauung des deutschen Idealismus in dichterische Schöpfung ergossen findet, so ist von Interesse zu sehen, wie der Dichter auf seinen Wegen durch das österreichische Geistesleben schon in der Jugend die Anregung aus dieser Welt­anschauung empfängt. Er schildert, wie er an die Grazer Universi­tät kommt:

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Wer Fercher von Steinwands Trauerspiel , seine , seine und anderes von ihm kennenlernt, wird dadurch vieles von den Kräften empfin­den können, die im österreichischen Geistesleben der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wirkten. Und daß man aus Fercher von Steinwands Seele ein Bild aus diesem Geistesleben in Klarheit, Wahrheit und Echtheit empfingt, dafür zeugt das Ganze dieser Per­sönlichkeit. Der liebenswürdige österreichische Dialcktdichter Leo­pold Hörmann hat recht gefühlt, als er die Worte schrieb:

Gewinnaueht und Kleinheit;

Feind der Reltlame,

Der ekligen Dame;

Deutsch im Gemüte,

Stark und voll Güte,

Groß in Gedanken,

Kein Zagen und Wanken,

Trutz allem Einwand -:

Fercher von Steinwand !»>

Rudolf Steiner in «Vom Mensehenrätsel» S.106/107. Gesamtaus­gabe, Dornach 1957, Bibl.-Nr. 20.

125 eines Wiener Gelehrten: Der Anatom Joseph Hyrtl, 1810 1894, nahm sich besonders seiner an.

129 «Wilddiebe»: Lustspiel in 4 Akten von Th. Herzl und Hugo Witt-mann, 1900.

133 Es gelang erst 1961, diesen bisher unhekannten Aufsatz von Rudolf Steiner in der Wiener National-Bibliothek aufzufinden. In einem Briefe an K. J. Schröer schreibt Rudolf Steiner darüber: «Anbei sende ich auch einen anonymen Aufsatz von mir () der deutschen Zeitung, der auch über die zwei ersten Bände von Goethes Dramen der handelt. Zu meinem Leidwesen hat man mir in der Redaktion einen Passus weggelassen, in dem ich über die im allgemeinen sprach.» Brunn am Gebirge, 31. Januar 1884, muß heißen 1885.

139 Goethe sagt von seinem Schaffen: s. Hinweis zu S.20. II. Band, Berlin u. Stuttgart o. J. (1887), S. 34, in «Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort».

142 in der «Goldenen Kette des Homer»: Aurea catena Homeri, 1723 anonym erschienen, als Verfasser ist der rosenkreuzerische Arzt Joseph Kirebweger von Forchenbronn anzusehen. - Rudolf Steiner

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sagt in «Die Rätsel in Goethes Faust, exoterisch und esoterisch», Zwei Vorträge, gehalten in Berlin am 11. und 12. März 1909, Dornach 1970, S. 15: «Aber man darf nicht verkennen, daß Goethe aus der Tiefe seines Erkenntnisstrehens heraus ein ahnungsvoller Geist war. Und da mußte es ihm, wenn er aufsehlug die und gleich die erste Seite erblickte, sonderbar an­muten, wenn er da ein tief auf die Seele wirkendes Zeichen sah:

zwei ineinanderverschlungene Dreiecke, an den Ecken in wunder-barer Weise gezeichnet die Zeichen der Planeten, herumgewunden im Kreise ein fliegender Drache, und unten ein merkwürdig fest­gewordener, sich in sich selbst verfestigender Drache - und wenn er dann die Worte las, die da zu finden waren auf der ersten Seite: wie der flüchtige Drache die Strömung symbolisiert, die da immer dem festen Drachen jene Kräfte einflößt, die vom Weltenall herunter-strömen, oder wie Himmel und Erde zusammenhängen, - mit andern Worten, wie es dort heißt: .»

145 Robert Hamerling: s. Hinweis zu S. 16.

151 der beiden Schlegel: August Wilhelm Schlegel (Hannover 1767-1845 Bonn) gab zusammen mit seinem Bruder Friedrich Schlegel (Han­nover 1772 1829 Dresden) heraus Charakteristiken und Kritiken 1801, von ihm allein erschienen gesammelte Aufsatze und Abhand lungen als Kritische Schriften 1828 weiterhin Vorlesungen uher dramatische Kunst und Literatur 1805 11 und Uher Treue und Geschichte der bildenden Kunste 1827

154 ein großes Wort Schiller schreibt an Goethe in einem Brief aus Jena vom 1. Marz 1795 wörtlich: «Die Jacobische Kritik hat mich meht im geringsten gewundert; denn ein Individuum wie Er muß ebenso notwendig durch die schonungslose Wahrheit Ihrer Naturgemälde beleidigt werden, als Ihr Individuum ihm dazu Anlaß geben muß. Jacobi ist einer von denen, die in den Darstellungen des Dichters nur ihre Ideen suchen, und das, was sein soll, höher halten als das, was ist; der Grund des Streits liegt also hier schon in den ersten Prinzipien, und es ist völlig unmöglkb, daß man einander versteht.

Sobald mir einer merken läßt, daß ihm in poetischen Darstellungen irgend etwas näher anliegt als die innere Notwendigkek und Wahr­heit, so gebe ich ihn auf Könnte er Ihnen zeigen, daß die Unsittlich­keit Ihrer Gemälde nicht aus der Natur des Objekts fließt und daß die Art, wie Sie dasselbe behandeln, nur von Ihrem Subjekt sich herschreibt, so würden Sie allerdings dafür verantwortlich sein, aber nicht deswegen, weil Sie vor dem moralischen, sondern weil Sie vor dem ästhetischen Forum fehlten. Aber ich möchte sehen, wie er das zeigen wollte.»

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155 Emil Marriot: Eniilie Mataja, Wien 1855-1938 ebenda. Der Roman «Der geistliche Tod» erscbie 1884; zwölfte Auflage 1916; die Novellen, in zwei Bänden, 1887.

158 Hermann Bahr: Linz 1863-1934 Wien. In den «Gesammelten Auf­sätzen» 1884-1905 finden sieh noch die verschiedensten Hinweise auf Hermann Bahr, ebenfalls im Vortragswerk.

161 Ernste Zeichen der Zeis: Dieser Aufsatz wird hier zum ersten Male in Buchform veröffentlicht und ebenfalls die Erwiderung. In einem Briefe an Pauline Specht vom 25. Februar 1892 schreibt Rudolf Steiner darüber: «Neben beiden Berichten sende ich Ihnen eine kleine Tollheit gegen die Ernennung des Freiherrn zu Putlitz zum Intedante des Stuttgarter Hoftheaters. Eben habe ich eine Erwiderung auf die Entgegnung geschickt, die ein Stuttgarter Theaterrezesent auf meine Angriff gemacht hat. Auch eine Rezension über Hermann Bahrs lege ich bei.» BRIEFE II, Dornach 1953.

163 Max Barckhard: s. «Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 -1900» S. 70: Max Burekhard und die Aufsätze über die Wiener Theaterverhältnisse.

166 Max Stirner: Johann Caspar Schmidt, Bayreuth 1806-1856 Berlin. Rudolf Steiner schreibt in seinem Buch «Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit» (Gesamtausgabe, Dornach 1963, Bibl.-Nr.5) S. 96: «Stimer hat bereits in den vierziger Jahren dieses Jahr­hunderts [des neunzehnte] Nietzaches Weltanschauung ausgespro­chen. Allerdings nicht in solch gesättigten Herzenstönen wie Nietz­sehe, aber dafür in ltristallklaren Gedanke, neben denen sich Nietzaches Aphörismen allerdings oft wie ein bloßes Stammeln aus­nehmen. - Welchen Weg hätte Nietzache geommen, wenn nicht Schopenhauer, sondern Max Stirner sein Erzieher geworden wäre! In Nietzaches Schriften ist keinerlei Einfluß Stirners zu bemerken. Aus eigener Kraft mußte sich Nietzache aus dem deutschen Idealis­mus heraus zu einer der Stirnersehen gleichen Weltauffassung durch­ringen.»

Robert Schillwien: Danzig 1821-1901 Quedlinburg. Justizrat. Werke:

Dichtungen, philosophische und juristische Schriften.

169 Robert M. Saisschisk: Russisch-Litauen 1868-1965 Zürich-Rüsehli­kon.

174 Herman Grimm: Goethe, Vorlesungen, gehalten an der Kgl. Uni­versität zu Berlin, 2 Bände, Stuttgart u. Berlin 1877.

178 Hermann Bahr: s. Hinweis zu S. 158.

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178 Neuffer: s. «Mein Lebenagang», XXI. Gesamtausgabe, Dornach 1962, Bibl.-Nr. 28.

181 «Das Mädchen von Oberkirch»: Die Einleitung von Rudolf Steiner wird hier zum ersten Male in Buchform abgedruckt. Die Aus­führungen erschienen 1897 in der zweiten Abteilung des vierten Bandes von Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften innerhalb der «Deutschen National-Literatur». S. Hinweis zu S.20.

183 Gustav Roethe: Graudenz 1859-1926 Gastein, Sprachwissenschafter.

185 Peter Altenberg: Richard Engländer Wien 1859-1919 ebenda. Ashantee, Skizze 1897; Wie ich es sehe, Erzählungen, Berlin 1896, 7. Auflage 1912.

187 «Die Zeit»: Wiener Monatsschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wis­senschaft und Kunst, wurde 1894 unter der Redaktion von Isidor Singer, Hermann Bahr und Heinrich Kanner gegründet. 1899 schied Hermann Bahr aus.

190 Rudolf Strauß: geb. Bielitz, österr. Schlesien 1874, gründete in Wien die Zeitschrift «Liebelei», die der kleinen pointierte Erzäh­lung diente, dann im Jahre 1897 die «Wiener Rundschau», übernahm später die Redaktion der Revue «Die Wage» und trat 1899 in die Redaktion der «Neuen Freien Presse» in Wien ein.

194 Franz Hartmann: Donauwörth 1838-1912 Kempten. In «Mein Lehetisgang», XXX, schreibt Rudolf Steiner über diesen Aufsatz und die 1875 gegrüridete Theosöphische Gesellschaft.

196 Johanna Voigt, geb. Ambrosius: geb. Lengwethen, Ostpreußen 1854, Magd, später Bauersfrau. Sie schrieb «Gedichte», herausgegeben von Karl Schrattenthal Königsberg 1895 41 Auflage 1905 II. Band Königsberg 1897 9 Auflage 1913 Karl Weiß Schratten thal, Franz Wörther ein Dichter und Denker aus dem Volke Preß-burg 1897 Karl Busse (Lindenstadt Posen 1872 1918 Berlm)

200 Georg Fuchs geb Beeifelden 1868 seit 1904 Redakteur und Kunst referent der «Munehner Neuesten Nachrichten» Direktor des Münchner Kutistlertheater» Über die Beziehungen Rudolf Stemers zur «Freien Literarischen Gesellschaft» und uber diese selbst m «Mein Lebensgang», XXIV.

203 Die Vortrige: S. «Biographien und biographische Skizzen 1894-1905», Gesamtausgabe, Dornach 1967, Bibl.-Nr. 33.

«Goetbes Weltanschauung»: Goethes Weltanschauung, 1. Auflage Weimar 1897, S. Auflage Gesamtausgabe, Dörnach 1963, Bibl.-Nr.6.

205 In meinem Vortrage: S. Hinweis zu S. 203.

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209 «... eine Dame ...»: Josepha Kraigber-Pörges schildert im 2. Band ihrer «Lebenserinnerungen einer alten Frau» (Verlag Grethlein & Co., Leipzig-Zürich 1927, S. 242£) diese Szene in Graz, erzäbir, daß sie selbst «die lachende Dame» war und erwäbnr aueb den Auf­satz von Rudolf Steiner, der aus dieser Grazer Begebenheit ent­standen ist.

211 Saitschick: s. Hinweis zu S. 169.

Stirner: s. Hinweis zu S. 166.

212 John Henry Mackay: Greenock, Schottland 1864-1933 Charlottenburg S. «Mein Lebensgang», XXVII.

213 entgegnet Stirner: «Der Einzige und sein Eigentum», Leipzig 1845. Einleitung: Ich hab' mein' Such' auf nichts gestellt. Auch das fol­gende Zitat (S.6/7).

215 Mackay faßt sie in die Sätze zusammen: Max Stirner, sein Leben und sein Werk. 1897. Dritte Auflage, Berlin-Char!öttcnburg 1914, V. Kapitel: Der Einzige und sein Eigentum, Versuch einer Würdi­gung, S. 150/151. Auch das folgende Zitat.

217 Bruno Bauer: Bruno Bauer Eisenberg, Altenburg 1809-1882 Rix­dorf bei Berlin, biblischer Kritiker von extrem kritischer Richtung. Herausgeber der «Allgemeinen Literatur-Zeitung» 1843-1844 ge­meinsam mit seinem Brnder Edgar, Charlottenburg 1820-1886 Han­nover, politischer und belletristischer Schriftsteller: Auch Egbert Bauer, ein Kaufmann, zählte zu dem Kreis der «Freien». - In «Max Stirner, sein Leben und sein Werk» schreibt John Henry Mackay im dritten Kapitel: Die «Freien» bei Hippel: «Als dritter im Kreise der wäre der Schriftsteller Ludwig Buhl zu nennen. Wenn die Namen der Bauers besonders der Brunos heute noch eine ge­wisse Geltung haben, so ist Buhl so gut wie vergessen, und seine Schriften werden schwerlich je wieder ans Tageslicht gezogen wer­den. Und doch stand er - - an kritischer Schärfe den Brüdern keines­wegs nach, übertraf beide jedenfalls an Schärfe des Blicks für die politische Zeitlage. -

218 Marie Wilhelmine Dähnhardt: Gadebusch, Schwerin 1818-1902

Plaistöw, London. Die Ehe blieb kinderlos.

Jch werde von ihnen ... sprechen: S. den folgenden Aufsatz. - Geschichte der Reaktion. Zwei Bände. Berlin, 1852. Erste Abteilung: Die Vor­läufer der Reaktion (Die Konstituante und die Reaktion); zweite Abteilung: Die moderne Reaktion (Das erste Reaktionsjahr). Die National-Ökonomen der Franzosen und Engländer. Herausgegeben

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von Max Stirner. Leipzig 1845-47. Erster-vierter Band: Ausführ-liebes Lehrbuch der praktischen politischen Ökonomie von J. B. Say. Deutsch mit Anmerkungen von Max Stirner. Fünfter-achter Band:

Untersuchungen über das Wesen und die Ursachen des National-reichtums von Adam Smith. Deutsch mit Anmerkungen von Max Stirner.

219 der da sagen konnte: Der Einzige und sein Eigentum. Zweite Auflage. Mit einer Einleitung von John Henry Mackay. Reelam o. J. Seite 415. - Auch das folgende Zitat ebenda Seite 419.

Fichte: J. G. Fichte: «Über die Bestimmung des Gelehnen», vierte Vorlesung.

220 in seinem Büchlein: Max Stirners Kleinere Schriften und seine Ent­gegnungen auf die Kritik seines Werkes «Der Einzige und sein Eigentum». Aus den Jahren 1842-1847. Herausgegeben von John Henry Mackay.

223 «Entgegnungen»: Siehe Hinweis zu Seite 220.

Konrad Ansorge: Buchwald bei Liebau, Schlesien 1862-1930 Berlin, Pianist. Siehe «Mein Lebensgang» Kapitel XXI, Gesamtausgabe, Dörnach 1962, Bibl.-Nr. 28.

Rudolf von Gottschall: Breslau 1823-1909 Leipzig. «Das Literarische Echo» erschien als «Halhmönatsschrift für Literaturfreunde» im Verlag F. Fontane & Co. in Berlin.

224 Moriz Garrisre: Griedel, Hessen 1817-1895 München. Philosoph und Ästhetiker.

226 in meiner Antwort: Siehe «Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 1887-1901», Seite 283, Gesamtausgabe, Dornach 1966, Bibl.-Nr. 31.

Franz Servaes: Köln 1862-1947 Wien.

229 Paul Scheerbart: Pseudonym für Kuno Küfer. Danzig 1863-1915 Berlin. Siehe «Mein Lebensgang» Kapitel XXIV, Gesamtausgabe, Dornach 1962, Bibl.-Nr. 28.

Peter Hille: Erwitzen bei Driburg 1854-1904 Berlin.

230 Maurise Maeterlinck: Gent 1862-1949 Nizza. Belgischer Dichter­Philosoph, erhielt 1911 den Nobelpreis. Vgl. «Mein Lebensgang» Kapitel XXV, Gesamtausgabe, Dornach 1962, Bibl.-Nr. 28.

231 Zarathustra sagt: Friedrich Nietzache «Also sprach Zarathustra». Ein Buch für Alle und Keinen. - Von den Hinterweltlern. Werke in drei Bänden, 1956.

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231 wenn Maeterlinek spricht: Der Schatz der Armen, Kapitel XI, Seite 122, Leipzig 1902 Aueh das Eingangsaitat ebenda, Kapitel VII, Seite 73. - Ebenda Kapitel VII, Seite 69 und Kapitel XXII.

232 Max Stirner: Siehe Hinweis zu Seite 166. - Kapitel LXVII und Kapitel LXIX.

235 Nietzsche sagt: Friedrich Nietzsehe, Werke Band XII, Leipzig 1897, Seite 23 und 24.

236 Maeterlinek sagt: Siehe Hinweis zu Seite 231, Kapitel VII. Seite 79.

Loki: Geschrieben im Sommer 1898.

238 wenn Goethe sagt: Trilogie der Leidenschaft, Elegie.

239 Hamerling sagt: Vorrede zu «Ahasver», Epilog an den Kritiker.

250 Rosa Mayreder: Siehe Hinweis zu Seite 44.

Adele Gerhard: Köln 1868. Lebte in Berlin, emigrierte 1938 nach den USA.

258 Laura Marbolm: Paeudonym für Laura Hanason, Gattin des schwe­dischen Schriftstellers Ola Hansson. Sie schrieb zur Frauenfrage, u. a. «Das Buch der Frauen», 1894.

John Henry Mackay: Greenoek, Schottland 1864-1933 Berlin. Der Aufsatz wurde geschrieben anläßlich des Erscheinens von: Juhn Henry Maekay, Gesammelte Dichtungen, Verlag Karl Henekell & Co., Zürich und Leipzig 1898. Siehe «Mein Lebensgang» Kapitel XXVII, Gesamtausgabe, Dornach 1962, BIbl.~Nr. 28.

261 Tucker: Benjamin R. Tucker, Staatssozialismus und Anarchismus:

inwieweit sie übereinstimmen und worin sie sich unterscheiden. Ins Deutsche übertragen von Georg Schumm, Berlin 1895. - Sind Anarchisten Mörder?, Berlin 1899.

264 wenn Mackay sagt: Aus einem Vorwort zu einer Samnslung von Jugendgedichten von J. H. Maekay, die als «höchst überflüssig» vom Autor später zurückgezogen wurde.

265 wenn er singt: J. H. Maekay, Gesammelte Werke, 8 Bände, Verlag Bernhard Zack, Treptow bei Berlin 1911, 3. Band, S. 11.

266 «Sind dies die Wege?»: Die Verse stammen vermutlich aus der oben erwähnten Sammlung von Jugendgedichten.

266 ff. Gedichte und Zitate in: Ges. Werke: 3. Band, S. 126 in der Sammlung «Sturm». - 3. Band, S. 73£ - 3. Band, S. 212 in der Sammlung «Sturm». - 1. Band, S. 230. - 3. Band, S. 208 in der Sammlung «Sturm». - 8. Band: «Die Anarchisten, Kulturgemälde aus dem Ende des 19. Jahrhunderts».

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271 Georg Brandes: Kopenhagen 1842-1927 ebenda. Die «Hsuptströ­mungen der Literatur des neututehnten Jahrhuriderts», sein Haupt­werk, erschien in vier Binden 1872-1876. Die gesammelten däni­schen Schriften umfassen 35 Bände.

Samuel Lublinski: Johannisburg in Ostpreußen 1868-1910 Welmar. «Am Ende des Jahrhunderts. Rückschau auf 100 Jahre geistiger Entwicklung». Band XII und XIII. S. Lublinski «Literatur und Gesellschaft im neunzehnten Jahrhundert». Berlin, Verlag Siegfried Cronbach. - Als Band XIV und XIX erschienen 1900 und 1901 von Rudolf Steiner «Welt- und Lebensansehauungcn im neunzehnten Jahrhundert», Band und II. Die neue Ausgabe dieses Werkes er­schien 1914 ergänzt durch eine Vorgeschichte über abendländische Philosophie und bis zur Gegenwart fortgesetzt als «Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt». Ebenfalls im Verlag S. Cronbaeh, Berlin. - Noch heute («Welt am Sonntag», B. Juni 1958) würdigt G. R. Martin In einem Aufsatz über den Roman «Die Buddenbrooks» von Thomas Mann das sichere, fast alleinstehende Urteil von Lubllnski, der damals (1901) im «Berliner Tageblatt» schrieb: «Dieses Buch wird wachsen mit der Zeit und noch von Generationen gelesen werden.»

272 Friedrich Theodor Vischer: Ludwigsburg 1807-1887 Gmunden. (Ps.: Philipp Ulrich Scharrenmeyer. Deutobald Symbolizetti Allegorn­witseh Mystifizinsky.) Sein Roman «Auch Einer» (1879) wurde oft­mals von Rudolf Steiner erwähnt.

Moriz Carriére: s. Hinweis zu S. 224.

Hermann Theodor Hettner: Leysersdorf bei Goldberg in Schlesien 1821-1882 Dresden.

273 Adolf Stahr: Prenzlau 1805-1850 Oldenburg.

274 Karl Gutzkow: Berlin 1811-1878 Frankfiirt am Main. Über den Roman «Maha Guru», S. 286, spricht Rudolf Steiner in Dornach am 31. X. und 1. XI. 1915: «Bedeutsames aus dem äußeren Geistes­leben um die Mitte des XIX. Jahrhunderts», erschienen in «Die okkultc Bewegung Im neunzehnten Jahrhundert und ihre Beziehung zur Wcltkultur», Gesamtausgabe, Dornach 1969, Bibl.-Nr. 254.

276 Immanuel Kant: Königsberg 1724-1804 ebenda. Kritik der reinen Vernunft, Vorwort zur zweiten Auflage: «Ich mußte also das Wis­sen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.»

277 Schiller: «Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen», XV. Brief: «Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.»

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279 S. Luhünski: «Literatur und Gesellschaft im neunzehnten Jahrhun­dert». Band III und IV. Aus dem im Verlag S. Gronbach in Berlin erscheinenden Sammelwerk «Am Ende des Jahrhunderts». Band XVI und XVII. S. o. Nr.2.

280 Ludwig Börne (Löb Baruch): Frankfurt am Main 1786-1837 Paris.

1840 erschien «Börnes Leben» von Karl Gutzkow.

Heinrich von Treitschke: Dresden 1834-1896 Berlin. Wolfgang Menzel: Waldenburg in Schlesien 1798-1873 Stuttgart. Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter): Wunsiedel 1763-1825 Bayreuth.

284 Ludolf Wienbarg: Altona 1802-1872 ebenda. 1834: Ästhetische Feld-züge. 1852: Das Geheirnais des Worts.

Heinrich Laube: Sprottau in Schlesien 1806-1884 Wien. Theater-leiter von 1849-1867 des Wiener Hofburgtheaters, und Schriftsteller.

288 Gustav Freytag: Kreuzburg in Obersehlesien 1816-1895 Wiesbaden.

Heinrich Julian Schmidt: Marienwerder 1818-1886 Berlin. Von 1848 bis 1861 Herausgeber zusammen mit Gustav Freytag der «Grenz­boten ».

Paul Heyse: Berlin 1830-1914 München. 1910 Nobelpreis. Fricdrich Spiclhagen: s. Aufsatz auf Seite 39.

292 Rudolf von Gottschall: Das erwähnte Werk - vier Bände - erschien 1855; 1902: 7. Auflage.

293 Jacobowski: s. Aufsärze S. 92 und 236.

296 Richard Dehmel: Wendiseh-Hermsdorf, Mark Brandenburg 1863-1920 Blankenese.

301 Detlev von Liliencron: Kiel 1844-1909 Alt Rahlsredr, Freiherr, Dr. phil. h. c.

Otto Erich Hartleben: Clausthal 1864-1905 Salo am Gardasee. S. «Mein Lebensgang», XVI, XX, XXI, XXIV, XXV. Gesamtaus­gabe, Dornach 1962, Bibl.-Nr. 28.

303 als Motto: Trost.

Lau Andreas-Salomé: Petersburg 1861-1937 Göttingen, deutsctie Schriftstellerin.

305 Georg Simmel: Berlin 1858-1918 Straßburg.

313 das schöne Unternehmen: s. Hinweis zu S. 96.

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314 Vicles Herrliche sollte noch folgen: Heft IV Schiller erschien 1902.

S. «Biographien und biographische Skizzen», Gesamtausgabe, Dornach 1967, Bibl.-Nr. 33. - In Vorbereitung und teilweise im Druck waren: Heft 5 Schiller, Wilhelm Tell (Unverkürzte Ausgabe); Heft 6 Lessing (Herausgeber Dr. A. N. Gotendorf); Heft 7 Mat­thias Claudius (Herausgeber Dr. P. Remer); Heft 8 Ludwig Uliland (Herausgeber Prof. Dr. H. Friedrich). Der Verlag G. E. Kitzler, Berlin, und der Herausgeber der Hefte, Dr. Ludwig Jaeobowski, kündigten ihr gemeinsames Unternehmen auf der zweiten Umschlag­seite durch folgende Ausführungen an: «Von der Tatsache aus­gehend, daß die deutsche Dichtung leider nicht eine Angelegenheit des ganzen deutschen Volkes ist, sondern nur von einem winzigen Bruchteil in ihrer Schönheit empfunden wird, haben wir uns ent­schlossen, fortlaufend eine Reihe von Zehn Pfennig-Heften heraus­zugeben, die bestimmt sind, in die weitesten Schichten des Volkes zu dringen. Auf dem Wege des Massenvertriebes zumeist wollen wir den Versuch machen, in geprüfter Auswahl solche Werke deut­scher Dichter darzubieten, die durch Inhalt und Form, durch sitt­lichen Gehalt und innere Kraft im Stande sind, jedermann in ein näheres Verhältnis zu den großen Poeten unseres Volkes zu bringen.

- Die Dichter bieten die Schätze ihres Geistes dem deutschen Volke dar, aus dem sie ihre beste und tiefste Kraft gesogen. Nun mache das Volk sein Herz auf und nehme die Gaben entgegen, die ihm dargeboten werden. - Wer ein Stündchen am Tage oder des Abends erübrigt, der greife zu diesen Schätzen. Er wird in seinem Innern reich belohnt werden. Er lese sich und seiner Familie dies Bändchen nach und nach laut vor. Er veranlasse, daß sein Nachbar daran teil­nimmt. - Jeder werbe in seinem Kreise Freunde für diese Büchlein. Jeder lerne die Dichter seines Volkes lieb gewinnen und sie ehren. Wer noch mehr über sie wissen, noch mehr von ihren Werken lesen will, der soll getrost an uns schreiben. Wir wollen ihm gern Antwort und Rede stehen.»

Das Unternehmen wird fortgesetzt: Im «Magazin für Literatur» hat Rudolf Steiner in Nr.11 vom 17. März 1900 die Sarr'mlung an­gekündigt: S. 492/493 in diesem Bande.

316 In Jacobowskic Sammlung: Bevor Rudolf Steiner seine «Bemerkungen zu der Sammlung verfaßte, druckte er im «Magazin für Literatur» Teile der Vorrede Jacobowslris zu seinem Werk und Gedichte ab. Wir bringen hier die eioleitenden Worte von Rudolf Steiner und das in dem Aufsatz erwähnte Gedicht. -«Dem kommenden Jahrhundert. Eine Gabe für das Volk. Ludwig Jacobowski, von dessen eigenen Schöpfungen wir im vorigen Jahr­gang dieser Zeitschrift wiederholt gesprochen haben, bringt zur Jahrhundertwende eine im höchsten Grade wertvolle poetische

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Gabe: eine Sammlung von Dichtungen aus der Völksphantasic her-aus: (Minden, J. C. C. Bruns Verlag). Wir begrüßen diese Sammlung mit größter Freude. Eine Würdigung versparen wir uns für nächstens, wenn wir den Abdruck eines Teiles der gedankemeichen Einleitung, den wir mir Erlaubnis des Ver­fassers hier zum Abdrucke bringen, und einige Pröben den Lesern vorgeführt haben werden.»

317 ein Gedicht:

Die schöne Hannele

(Schlesien)

Us hatt ein Baur ein Töchterlein, ÄXie hieß es denn mit Namen sein?

Die schöne liannele.

Fr hell ihr eine Beücke hann, i)euuf solire sie spazieren gehn,

Die schörse Hannele.

Und da sie auf die Brücke kuns, Der ,X assermann zog sie hinah.

Die schiine Ilannele.

Dort unten svar sie siehen Jahr, Und sichen Kinder sie gehar,

Die schöne Ilannele.

Und da sie hei der \\iege stand, Da hiir sie einen Glockenklang,

Die schöne liannele.

,Ach ~,iassernsanrs, ach ,sÄassernsann! Laß erich einmal zur Kirche gahn,

Mich arme 1-lannele.

sWrnn ich dich ließe zur Kirche gehn, Du möchtest mir nicht seiederlsehre,

Du schöne 1-lannele.»

,,skarum soilt ich nicht wiederkehen? ,sker würde unsere Kinder ecnährn

Mir armen Ilannele?

Und da sie auf den Kirchhof kam, Da neigt sieh Lauh und grünes Gras

Vor der schönen 1 lannele.

Und da sie in die Kirche kam, 1>a neigt sieh Graf ansI l?delnsann

Vor der schönen 1-lannele.

Der Vater machte die Bank ihr auf, l)ie Mutter legte das Kissen drauf

Der schönen 1-taranele.

Sie nahmen sie mit eu Tische Und tragen ihr auf viele Fische

Der schönen 1-lannele.

Und da sie den ersten Bissen aß, Fiel ihr ein Apfel auf den heholl,

Der schönen 1 lannele.

,Ach 1-fetzens-, 1 lerzeusmutter mein! ,rVerft mir den Äpfel ins Feuer ,nein,

Ncir armen 1-lannelel

Du schöne liannele?

Die Kinder wollen scir teilen gleich:

Nehm ich mir drei und du auch drei, Du schöne Ilannelel

Das siehenre seollen svie teilen gleich:

Nehm ich ein Bein und da ein Bein, Da schöne 1-lannele 1»

Und eh ich mir laß mein Kind zerteiln, Viel lieher seil1 ich im Wasser kleihe,

ich arme Ilannele.

317 «Gesellschaft»: Die Gesellschaft, Halbmönatsschrift, Herausgeber

M. G. Conrad und L. Jacobowski. «Primitive Erzählungskunst. Aus einer realistischen Entwicklungsgeschichte der Pöesie.» XV. Jahr­gang, 1899, erstes Juli-Heft. Gegründet 1885 in München vön M. G. Conrad.

318 Verse: I. Glückliche Liebe. 1. Junge Mädchen: Das wack're Mag­delein, um 1573.

Spruch: XVIII. Vom Tode. Ewigkeit, Torspruch; Alter Kirchhof, Oldenburg.

324 Julius Hart ist der Ansicht: Die Zitate aus «Der neue Gott» sind nicht durch Angabe der Seitenzahlen nachgewiesen, um den Fluß des Lesens nicht zu stören.

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329 Max Stirner: Siehe Hinweis zu S. 166.

332 Fricdrich Heinrich Jacobi: Düsseldorf 1743-1819 München. Dichter

und Philosoph.

333 in einem Brief: S. Mai 1786.

334 Heinroth: «Lehrbuch der Anthropologie», Zweite Ausgabe, Leipzig 1831, S. 453-55.

339 den Satz aussprach: Sprüche in Prosa. Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, herausgegeben von Rudolf Steiner, Berlin und Stuttgan, 1897, Band IV, 2, S. 376.

340 «Goethes Weltanschauung»: Gesamtausgabe, Dörriach 1963, Bibl.-Nr.6.

344 die Büste Hegels: S. «Mein Lebensgang» XXI, Gesamtausgabe, Dornach 1962, Bibl.-Nr. 28.

348 Ah die Natur: Gemäß der naturwissenschaftlichen Anschauungs­weise.

350 Schiller: Brief an Goethe.

351 Ich bekämpft sie nicht: S. den Aufsarz auf Seite 459.

353 Mackay, Stirner: S. die Aufsätze auf S. 211 und 258.

Dr. Heinrich H. Houben: Aachen 1875-1935 Berlin, Prof, Literatur-forscher, Direktor der Lit. Abtl. des Leipziger Meßamtes und Haupt-schriftleiter der Leipziger Mustermesse. Begründer der Deutschen Bibliographischen Gesellschaft; literarischer Leiter des Verlages F. A. Broekhaus, Leipzig.

356 Der wiedergegebene Aufsatz: In diesem besonderen Falle wurde der Aufsatz ebenfalls abgedruckt.

370 Ernst Georgy: Ps. Margarete Michaelson, Berlin 1873-1924 ebenda.

«Idole»: S. Aufsatz S. 248.

374 Carl Hauptmann: Salzhiussn, Schlesien 1858-1921 Schreiberhau, Schlesien.

«Lex Heinze»: Name eines Nuebtragageserzes vom 25. Juni 1900 zum Deutschen Strafgesetzbuch. Die lebhafte öffentliche Bewegung gegen die sogenannten Kunst- und Theaterparagraphen, auf die sich Regierung und Reichstagakommission gecinigt hatten, war erfolg­reich.

377 Goethe sagte: Sprüche in Prosa, achte Abteilung: Soziales. Goethes

Naturwissenschaftliche Schriften, herausgegeben von Rudolf Steiner.

Vierter Band, zweite Abteilung. Kürschners «Deutsche National-Literatur». «Wenn ich von liberalen Ideen reden höre. so verwundere

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ich mich immer, wie die Menschen sich gern mit leeren Wort­schällen hinhalten. Eine Idee darf nicht liberal sein; kräftig sei sie, tüchtig, in sich selbst abgeschlossen, damit sie den göttlichen Auf­trag, produktiv zu sein, erfülle. Noch weniger darf der Begriff liberal sein; denn der hat einen ganz anderen Auftrag. - Wo man die Liberalität aber suchen muß, das ist in den Gesinnungen, und diese sind das lebendige Gemüt. - Gesinnungen sind aber selten liberal, weil die Gesinnung unmittelbar aus der Person, ihren nächsten Be­ziehungen und Bedürfnissen hervorgeht. - Weiter schreiben wir nicht; an diesen Maßstab halte man, was man tagtäglich hört!»

379 Anselm Heine: Ps. Anselma Heine. Bonn 1855-1930 Berlin.

384 Clara Vicbig: Trier 1860-1952 Berlin. Peter- n,,,d Paul-Fest: 29. Juni.

385 Laura Marholml: s. Hinweis zu S. 258.

386 Richard Jefferics: Goste, Wiltshire 1848-1887 Goring, Sussex, eng­lischer Schriftsteller, tüchtiger Kenner der sozialen ländlichen Ver­hältnisse. 1883: The story of my heart.

Ludwig Jacobowski: S. die Hinweise zu dem Aufsatz S. 92 394 Eine Legende: Aus «Leuchtende Tage».

Franz Ferdinand Heitmüller: Hamburg 1864-1919 Berlin. Der Novel­lenband «Tampete» erschien 1899; die Novellensammlung «Der

Schatz im Himmel» 1899. - Mitarbeiter im Goethe-Schiller-Archiv,

Weimar. S. «Mein Lebensgang» XX, Gesamtausgabe, Dornach

1962, Bibl.-Nr. 28.

401 Eugen Reichel: Körigsberg 1853-1916 Berlin. Gelegentliches Pseudo­nym: Eugen Leyden. Ständiger Mitarbeiter am «Magazin für Lite­ratur ». - Johann Chrictoph Gottsched: Judithenkirch bei Königsberg 1700-1766 Leipzig.

Ein Gottsched-Denkmal, den Manen Gottscbeds errichtet von Eugen Reiche!. Berlin, Gottsched-Verlag 1900. Reichel, der zum ersten Male 1892 entschieden für Gottsched eintrat, charakterisiert seinen Einsatz in dem Vorwort (S. X) folgendermaßen: «Ich will nicht pathetisch rufen: - denn das könnte mißverstanden werden. Was ich für Gottsched fordere, ist:

Gerechtigkeit...»

sein eigenes: Dieses und das vorhergehende Zitat stammt aus einer «Festrede für eine nicht zu Stande gekommene literarische Gott­sched-Feier ». S. 88 der besprochenen Publikation.

405 Theodor Wilhelm Danzel: Hamburg 1818-1850 Leipzig. Literar­historiker.

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405 «Der Messias»: Friedrich Gottlieb Klopstock, Quedlinburg 1724-1803 Hamburg. Die ersten Gesänge des Epos entstandeti 1749; 1773 war das Werk vollständig erschienen.

sagt Reichel: Gottsched, biographische Skizze (S. 51 und 53).

406 auf Lessing: Das hier von einem bestimmten Gesichtspunkt Aus­gesprochene sollte durch andere Urteile Rudolf Steineis über Les­sing, vor allem durch die Würdigung, welche Lessings Abhandlung «Die Erziehung des Menschengeschlechts» erfuhr, ergänzt werden.

407 Julius Robert Mayer: Heilbronn 1814-1878 ebenda.

408 Max Dessoir: Berlin 1867-1947 Königstein im Taunus.

410 Johann Jakob Bodmer: Greifensee bei Zürich 1698-1783 Zürich.

411 wenn er von Gottsched sagt: Goethe. Aus meinem Leben. Wahrheit und Dichtung. Zweiter Teil, siebentes Buch.

415 mit Gottsched sagen: s. Hinweis zu S. 401. Gottsched im Lichte des eigenen Wortes. 10. Der Aufklärer, S. 168 «Die vernünftigen Tad­lerinnen», Stück 33, 1725. - Das vorangehende Zitat ist aus Kapi­tel 9. Der Lehrer und Erzieher, S. 156/57 «Ausführliche Redekunst», § 9. - Im Zusammenhang mit diesen Ausführungen über Gottsehed verweisen wir noch auf das 1895/97 erschienene zweibändige Werk von Eugen Wolff «Gottscheds Stellung im deutschen Bildungs-leben», das Rudolf Steiner ebenfalls beachtete, wie aus Bemerkungen in dem von ihm gebrauchten Exemplare hervorgeht.

Lndwig Feuerbach: Landshut 1804-1872 auf dem Rechenberg bei Nürnberg. Das Wesen des Christentums, Einleitung, 2. Kap. Reelam, o. J.

418 Goethe sagt: s. Hinweis zu S. 238.

Max Stirner: Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, 1845. -2. Aufl. Reelam, Leipzig o. J. (1927) S. 340.

419 Robert Hamerling: s. Hinweis zu S. 239.

420 So klingt ... aus: Da Rudolf Steiner in dem Aufsatz für die Gedenkschrift von Maria Stona die Schilderung der Vorgänge aus dem Roman in der gleichen Weise gibt, wie in der Buchbesprechung auf Seite 241 ff. (II), folgen an dieser Stelle nur die Schiußsätre des Artikels.

Gabricle Reuter: Alexandria, Ägypten 1859-1941 Weimar. S. «Mein Lebensgang» XV, XVI, XVII. Gesamtausgabe, Domach 1962. Bibl.-Nr. 28. - Der Roman erschien 1895.

421 Emma Böhmer: Lüneburg 1861; lebte ab 1943 in Kloster Wien-hausen bei Gelle. Todesjahr unbekannt.

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427 Gegen den Strom: Diese literarisch-künstlerisehe Gc«cllschaft, die in der Hauptsache aus Mitarbeitern angeschener Wiener Tageohlätter bestand, gab von 1885 bis 1894 unter dem Titel «Gegen den StrDm» eine Anzahl Schriften heraus, «die darauf ausgingen, Mißstände des öffentlichen Lebens und des Kunstbetricbcs auszufinden und auft Korn zu nehmen». Die Verfasser der hier besprochenen zwei Schriften sind: Edmund Wengraf für «Pikante Lektüre» und Max Sehwarzkopf für «Moderne Wohltäter ».

429 Vinzenz Knauer: Wien 1828-1894 ebenda. Privatdozent für Philo­sophie an der Universität Wien. - In neuer Auflage erschienen im Orient-Occident-Verlag, Stuttgart - Den Haag - London 1928 mit der vorliegenden Besprechung Rudolf Steiners als Geleitwort, mit einem Nachwort herausgegeben von C. S. Picht.

430 Dieser Mann: Joseph Kürschner: Gotha 1853-1902 Windisch­Matrei. Auch Herausgeber der «Deutschen National-Literatur» und einer Reihe lexikaliseher Werke, an denen Rudolf Steiner mitarbei­tete: Pierers Konversationslexikon und, was bisher nicht bekannt war, an Kürschners Quan-Lexikon, 1888. Im Vorwort wird Rudolf Steiner als Mitarbeiter für Mineralogie und Bergbau aufgeführt. -Im Rahmen dieser Hinweise kann auf die Bedeutung Kürschners nicht eingegangen werden. Rudolf Steiner war auch zur Mitarbeit an Kürschners Tasehen-Konversations-Lexikon, 1884, aufgefordert worden.

432 Wolfgang Arthur Jordan: Ragnit, Ostpreußen 1846. Pädagoge. 1890 Weimar. Rezitator eigener und fremder Dichtungen. Todesdatum unbekannt.

434 Gustav Hauffe: Nähere Angaben unbekannt.

Gideon Spiker: Insel Rciehenau 1840-1912 Münster i. Westf.

436 Der neue «Kurschner»: s. Hinweis zu S. 430.

437 Max Ring: Zauditz bei Rasibor, Schlesien 1817-1901 Berlin.

438 Eduard, Ritter von Engerth: Pleß 1818-1897 am Semmering bei Wien.

439 Felix Dörmann: Pseudonym für Felix Biedermann, Wien 1870-1928 ebenda.

Rudolf Steiner gehörte zum Vorstand der «Dramatischen Ge­sellschaft», welche die Komödie von Dörmann zur Aufführung bringen wollte. Siehe «Mein Lebensgang» XXV, Gesamtausgabe­ Dornach 1962, Bibl.-Nr. 28 und «Briefe 1», Dornach 1955.

440 Kürschners Literaturkalender: S. Hinweis zu S. 430.

442 Friedrich August Leo: Warschau 1820-1898 Glion am Genfersee. Vietor Wodiczka: Schloß Liehtenstein 1851-1858 Graz.

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444 Neue Bücher: Im Namensregister sind von den Autoren Geburts-und Todesjahr, soweit sie feststellbar waren, aufgeführt.

451 Fontane-Feier: Theodor Fontane, geb. Neuruppin 1819, war am 20. September 1898 in Berlin gestorben. - Otto Brahm, Hamburg 1856-1912 Berlin, Bühnenleiter und Literaturforscher, gründete mit anderen 1889 die Freie Bühne in Berlin, leitete seit 1892 das Deutsche Theater, seit 1904 das Lessing-Theater.

452 Wilhelm Schaler: Ottrau, Hessen 1868-1952.

453 Eduard Süß: London 1831-1914 Marz bei Oedenburg, Professor in Wien. Rudolf Steiner schätzte besonders seine Werke «Das Antlitz der Erde», Wien 1883-88 und «Der Boden der Stadt Wien», Wien 1862.

454 Berichtig aug: Johanna Baltz (Ps.: Hel. Busch / Jos. Bajovar), Arns­berg 1847-1918 ebenda. Im Nekrolog zu Kürschners Literatur-Kalender, 1901-1935, sind mehr als 50 Werke von Johanna Baltz, darunter eine Reihe von Festspielen, angeführt. - Die in Frage ste­hende Kritik erschien im «Magazin» am 3. Dezember 1898, Nr.48:

Eine berühmte Dichterin von J. Eltz. Wir bringen die Berichtigung an dieser Stelle:

Berichtigang.

I. Es ist nicht wahr, daß das Schauspiel «Lissas Christfest» von Johanna Baltz, welches übrigens nicht zuerst in Essen, sondern schon vorher im Stadttheater in Trier und später in Duisburg, Ruhr­ort, Münster, Luzern, Bochum und Koblenz aufgeführt ist, erst in der zweiten Auflage mit dem Titelzusatz «Nach einem englischen Motiv» erschienen ist. Diesen Titclzusatz hat vielmehr schon die erste Auflage getragen. Es ist auch nicht wahr, daß das Schauspiel nicht der genannten Diehterin «eigenen Geistes Kind» ist. Vielmehr hat der Titelzusatz nur darin seinen Grund, daß die Fabel des Stückes sich an eine wahre Begebenheit anlehnt, die sieh in Fngland abgespielt hat und der Dichterin von Mrs. Clarke in Bedale, York­shire, mitgeteilt ist.

II. Unwahr ist die Behauptung, die von der «Kölnisehen Zeitung», dem «Berliner Tageblatt» und anderen Blättern besprochene Dich-tung «Der Welthandel» von Fräulein Baltz sei lediglich ein Prolog. Die Dichtung ist vielmehr ein umfangreiches (im Druck zwei Bogen starkes) Festspiel mit einem dramatischen Vorspiel und sechs leben­den Bildern. - Die Erstaufführung hat auch nicht, wie in dem Artikel bemerkt wird, «in einem großen Wirtshauslokal» stattgefunden, sondern in dem der Stadt Essen gehörigen, mit Bühnenvorriehtung versehenen großen Saale des Stadtgartens, der allen offiziellen städ­tischen Festlichkeiten dient.

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III. Es ist nicht wahr, daß der in dem «Magazin» abgedruckte, die Dichtungen des Fräulein Baltz günstig besprechende Artikel «einem Blättchen entstammt, das in Arnsberg erscheint, WD JDhanna Baltz wohnt». Vielmehr ist dieser Artikel in dem in Hagen erscheinenden «Westfälischen Tagehlatt», einem bedeutenden, politischen Partei­organ, erschienen.

IV. Unwahr ist die Behauptung, nach Schluß des im Essener Stadt­theater hei Gelegenheit der Kaiserdenkmaleinweihungsfcier dar­gestellten szenischen Prologes habe das Publikum lediglich den dar­stellenden Schauspielern Beifall gezollt und die Anwesenden hätten sich erst, als Fräulein Johanna Baltz in einer Loge sich erhoben habe, verwundert umgeschaut, von weiterem Beifall und einem Orchestertusch sei aber nichts zu hören gewesen (wie dies in dem unter III dieser Berichtigung erwähnten Artikel berichtet war). Wahr ist vielmehr, daß sofort nach dem Fallen des Vnrhangs die Diehterin vom gesamten Publikum lebhaft gerufen wurde, daß sieh diese Rufe bei und nach dem Hervortritt der Schauspieler lebhaft wiederholten, bis endlich Fräulein Baltz sich dankend aus der Loge verneigte und von neuem von dem Publikum unter Orehestertuseh begrüßt wurde.

V. Unwahr ist die Behauptung, Fräulein Baltz habe vDr einiger Zeit, als eine «Essener Zeitung» es gewagt hätte, eine ihrer Dichtungen zu kritisieren, versucht, auf alle mögliche Weise eine «Berichtigung» zur Aufnahme zu bringen. Wahr ist vielmehr folgendes: Als Herr Mich. Geßner, der Verfasser des mit dieser Berichtigung angegriffe­Den Artikels des «Magazin» als Berichterstatter der «Essener Volks­zeitung» das Festspiel «Der Welthandel» abfällig kritisiert hatte, drückte der Besitzer der «Essener Volkszeitung» der Diehterin, Fräulein Johanna Baltz, sein lebhaftes Bedauern über die Kritik des Herrn Geßner aus und bot ihr neue Genugtuung durch Auf­nahme einer Gegenkritik an, was Fräulein Baltz jedoch entschieden ablehnte. Ebenso hat Fräulein Baltz das Anerbieten des Herrn Pro­fessors Dr. Bechtold, in der «Essener Volkszeitung» eine Gegen-besprechung erscheinen zu lassen. ausdrücklich abgelehnt.

Achtungsvoll

Dr. Niemeyer> Rechtsanwalt Johanna Baltz.

459 Erwiderung: Siehe die Buchbesprechung Seite 321 ff.

465 Ein paar Worte zu dem Vorigen: Der Aufsatz Rudolf Stciners «Der geniale Mensch» ist veröffentlicht in «Methodische Grundlagen der Anthroposophie», Seite 422. Gesamtausgabe, Dornach 1961, Bibl.-Nr.30.

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467 «Multatuli»: Multatuli, Eduard Douwes Dekker: Anzterdam 1820-1887 Nieder-Ingelheim am Rhein. Nach seinem Tode erschienen in sechs Teilen seine Briefe, herausgegeben von seiner Witwe, 1890-92; ebenfalls 1892 die gesammelten Werke in zehn Bänden. Von 1899:

eine deutsche Ausgabe in zehn Bänden. - In welcher Zeitung der Bericht erschien, läßt sich nicht feststellen; der Ausschnitt trägt keinerlei dementsprechenden Hinweis.

468 Ein Freiligrath-Abend: Vgl. Aufsatz Seite 104.

471 Neue liserarische Erscheinungen: Die Notiz erschien in Nr.43 vom 29. Oktober 1898. - Siehe Hinweis zu Seite 444.

496 Willibald Alexis: Siehe Aufsatz Seite 29.

497 Hermann von Gilm: Der Bruder des Dichters war der Chemielehrer Rudolf Stciners in Wiener-Neustadt, Hugo von Gilm. Siehe «Mein Lebensgang» II, Gesamtausgabe, Dornach 1962, Bibl.-Nr. 28.

503 Raphael Loewenfeld: Posen 1854-1910 Berlin-Charlottenburg. Thea­terleiter und Schriftsteller.

535 Der Wert dis Monologes: Die «Bemerkungen zu dem Aufsatz von Rainer Maria Rilke», welche Rudolf Steiner 1898 in den «Dramaturgischen Blättern» veröffentlichte, sind in dem Band «Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889-1900», Gesamtausgabe, Dornach 1960, Bibl.-Nr. 29, wieder ab­gedruckt. Da mehrfach nach dem Aufsatz von Rainer Maria Rilke und seiner Erwiderung auf die Bemerkungen von Rudolf Steiner gefragt wird, bringen wir sie hier als Anhang zu den Hinweisen zum Abdruck:

#TI

DER WERT DES MONOLOGES

von

Rainer Maria Rilke

#TX

Kürzlich ging die Frage durch diese Blätter: Sind Monologe im modernen Drama statthaft oder nicht? Die Monologe bekamen Recht.

Vielleicht ist es nicht wertlos, einmal nicht so sehr den Monolog, als vielmehr die Gelegenheit zu betrachten, bei welcher er notwendig er­scheint.

Der Monolog geschieht im Augenblick der Unentseldossenheit oder Hilflosigkeit der handelnden Person, gleichsam am Vorabend einer Tat, und hat die Pflicht, die innersten Konflikte dieses Menschen. seine Seele

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mit Zweifel und Zorn, Sehnsucht und Hoffnung zu enthüllen. Im Zwie­gespräch ist nämlich kein Raum dafür und irgendwo muß es doch ge-schehen, das sieht jeder ein. Und welches wunderbare Mittel vermag diese heimlichsten Tiefen, in denen die Entschlüsse wurzeln, zu durchleuchten? Merkwürdig: das Wort. Eben dasselbe Wort, welches im Dialog sich un­brauchhar erweist, das Letzte zu umfassen, wird, sobald es sich an mnie­manden mehr wenden muß, aller Wahrheit mächtig. Derjenige, von dem wir wissen, daß er die äußere Lage nicht überschauen kann, schildert uns im Augenhlick seines Zwiespaltes die wunderbare Ordnung seiner Seele so überzeugend, daß die Schilderung und nicht irgend eine spätere Tat die Hauptsache des Dramas wird, d. b. das epische Moment bedeutet fortab mehr als die Handiung; in ihm liegt die Entscheidung, die Wen-dung, der Fortschritt.

Und das ist vollkommen berechtigt, wenn anders der Monolog wirk­lich imstande ist, jene geheimnisvollen Dämmerungen aufzudecken, in denen alle Entschlüsse noch wie kleine, klare Quellen sind. Aber man wird einmal aufhören müssen, «das Wort» zu überschätzen. Man wird einsehen lernen, daß es nur eine von den vielen Brücken ist, die das Eiland unserer Seele mit dem großen Kontinent des gemeinsamen Lebens ver­binden, die breiteste vielleicht, aber keineswegs die feinste. Man wird fühlen, daß wir in Worten nie ganz aufrichtig sein können, weil sie viel zu grobe Zangen sind, welche an die zartesten Räder in dem großen Werke gar nicht rühren können, ohne sie nicht gleich zu zerdrücken. Man wird es deshalb aufgeben, von den Worten Aufschlüsse über die Seele zu erwarten, weil man es nicht liebt, bei seinem Knecht in die Schule zu gehen, um Gott zu erkennen.

Man wird das vielleicht im Drama früher einsehen, als im Leben; denn das Drama ist konzentrierter, übersichtlicher, eine Art Experiment, bei welchem die Elemente des Lebens in Meinen Probiergläsern sich in ähn­lichen Verhältnissen vereinen, wie sie sich draußen verhalten in ihrer reichen Unermeßlichkeit. In den Grenzen des Rahmens, als welcher die Bühne sich darstellt, scheint alles Raum zu haben: keine Tat ist zu groß dafür, kein Wort zu bedeutend.

Aber es gibt Mächtigeres als Taten und Worte. Diese sind endlich nur das, womit wir teilnehmen an dem gemeinsamen Alltag, Leitern, welche aus unserem Fenster bis an das Haus des Nachbars reichen. Wir hätten sie kaum gebraucht, wenn wir Einsame geblieben wären, jeder auf einem Stern, und wir brauchen sie in der Tat nicht in den Augenblicken, da wir ans so einsam fühlen. Dann sind wir eines leiseren Erlebens voll, heim­gekehrt in ein Land mit heiligen, heimikhen Gebräuchen, schöpferisch in aller Untätigkeit und den Worten enrwachsen. Und es ist gewiß, daß solcher Art unser eigentliches Leben ist, das wie eine feine Begleitung über unserm Tun und Ruhen bleibt und uns in unsern letzten Entschlüs­sen lenkt und bestimmt.

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Diesem Leben Raum und Recht (und das heißt auf der Bühne: Aus­druck) zu schaffen, scheint mir die vorzügliche Aufgabe des modernen Dramas zu sein - und dieser schlägt der Monolog mit seiner naiven Plump­heit geradezu ins Gesicht. Er zwingt das, was über den Dingen ist, in die Dinge hinein und vergißt, daß der Duft eben nur besteht, weil er sieh von der Rose befreit und allen Winden willig ist.

Fragt man nun, was an seine Stelle treten soll, so behaupte ich, daß er im Drama überhaupt keine Lücke läßt; denn das tiefere Leben, das zu beleuchten er berufen wäre, muß allezeit ebenso geschlossen und ununter­brochen sich entwickein wie die «äußere Handlung», deren Ursache es schließlich ist. Wenn dieses Nebeneinander zweier Handlungen wirklich zur Geltung kommt, sind keine Verzögerungen durch retrospektive, epische Beschreibung des momentanen Seelenzusrandes, keine Durch-blicke in den Hintergrund mehr notwendig.

Freilich: wie das erreicht werden soll, hat keiner der « Modernen» gezeigt. Sie vermissen alle den Monolog, lassen ihn fort, statt ihn über-flüssig zu machen, und dann fehlt er natürlich, und man weiß, «wo er kom­men sollte». Der Darsteller wird unruhig, raucht, trommeltan die Scheiben und scheint ein sehr schlechtes Gewissen zu haben und um Vergebung zu bitten für seine Schweigsamkeit. Das ist allerdings kein Fortschritt.

Der eine aber, welcher die Macht dieses leisen Erlebens, Marer als die vor ihm und bewußter, erkannt hat, - Maercrlinek, steht seinen Offen­barungen zu sehr als Priester gegenüber denn als Künstler und erscheint einseitig in dem Streben, alles zum Ruhm des Gottes zu tun, der ihn erfüllt und erhebt.

Seine Gestalten haben die Schwere verloren. Sie sind wie Gestirne, die, umhüllt von ihrer leuchtenden Einsamkeit, sich hoch in der Nacht be­gegnen. Sie können nur aneinander vorübergehen, und keine vermag die andere zu halten. Sie sind Düfte, allein man sieht den Garten nicht, aus dem sie aufsteigen. Das macht, daß das Leben, dessen Verkunder Maeter­linek wurde, uns fremd erscheint und seine Mystik tiefer und rätselhafter hinter den Dingen aufgeht, die ihm nicht so körperlich und undurchsich­tig sind, wie uns. Immerhin scheinen mir die Dramen des genialen Bel­giers - um einen technischen Ausdruck von der Radierkunst zu nehmen, der «erste Zustand» des neuen Dramenbildes zu sein, der noch durch andere Platten vervollständigt werden muß.

Der Weg geht also über Maeterlinek hinaus, und er wird ungefähr dieses Ziel haben: man wird lernen müssen, nicht die ganze Bühne mit Worten und Gesten auszufüllen, sondern ein wenig Raum darüber lassen, so als ob die Gestalten, welche man schuf, noch wachsen sollten. Ich bin überzeugt, das andere kommt von selbst: das leisere Leben wird sich wie eine Wärme, wie ein Glanz daruberbreiten und wird ruhig und lieht über allem bleiben: über den Worten und über den Vorgängen, - nur Raum muß man ihm geben.

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Dabei steht immer noch die Frage frei, wie das geschehen soll? doch man kann sie erst beantworten, bis es einer getroffen hat - unwillkürlich.

Bis dahin hat der Monolog Recht. Er ist wie ein schöner kostbarer Vorhang (bestenfalls) vor den weiten, klaren Perspektiven aufgehängt. Man kann auch an einem Vorhang seine Freude haben. Und die Dichter und die Schauspieler und das Publikum von gestern finden sieh gewiß in der Erkenntnis seiner Schönheit und seines Wertes.

Das dahinten ist für die, welche schon weiter vorgeschritten sind.


#TI

Noch ein Wort aber den «Wert des Monologes»

#TX

Sehr verehrter Herr Doktor,

Ihre Bemerkungen zu «Der Wert des Monologes» sind treffend. Sie beschäftigen mich. Gewähren Sie mir noch ein paar Worte eng zur Sache:

Es scheint in der Tat, als ob ich dem «Worte» arg unrecht getan hätte. Man darf nicht vergessen: ich habe nicht an jene einsamen Worte gedacht, in welche gehüllt, große Vergangenheiten unter uns leben wie Zeit­genossen. Das Wort des Verkehrs, das kleine, tägliche, bewegliche habe ich beobachtet, das im Leben wirkt oder doch zu wirken scheint und also auch auf der Bühne die Entwickelung der Ereignisse hemmt und fördert. An dieses Wort denke ich, wenn ich behaupte, die Seele hätte nicht Raum in ihm. Ja es scheint mir geradezu, als wären Worte solcher Art vor den Menschen wie Mauern; und ein falsches, verlorenes Ge-schlecht verkümmerte langsam in ihrem schweren Schatten. Denken Sie an das Kind, welches sieh eines Vergehens schuldig weiß; wird es schwei­gen? Ungefragt wird es viele, viele hohe Worte vor seine kleine, bange, frierende Seele stellen, um ihre Schande zu verdecken. Und das endliche Geständnis ist: ein Tränenstrom. Beobachten Sie zwei Menschen, die sieh, jeder tief in Gedanken, auf einem einsamen Spaziergange begegnen. Wie sie rasch mit bereiten Worten ihre nackte Seele, die noch eine Weile in ihren Augen zögert, verdecken und schützen. Gedenken Sie der Lie­benden, die sich in den Tagen des Findens mit Worten voneinander-drängen, ehe sie sich erkennen im ersten Schweigsamsein. Frage jeder sich selbst, ob auf den Höhepunkten seines Lehens Worte stehen? Ist es mit den Worten nicht vielmehr wie mit der Vegetation, die hinter der großen Pracht des Tals immer ernster, schlichter und feierlicher wird, je höher man steigt, bis das zaghafte Zwcrgholz zurückbleibt, das die reinen festlichen Firnen nicht zu betreten wagt? -

Jedes Wort ist eine Frage, und das, welches sieh als Antwort fühlt, erst recht. Und in diesem Sinn ist Ihre Bemerkung richtig, daß die Worte, unvermögend Offenbarungen zu geben, vieles ahnen lassen. Es steht also

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bei jedem, ein Wort weit oder eng, reich oder armselig zu fühlen; und das ist gut: «Du gleichst dem Geist, den du begreifst.»

Aber ist damit von der Bühne her, einer vielsinnigen Menge gegen­über etwas, oder sagen wir gleich - das, worauf es ankommt, nämlich die einheitliche Wirkung erreicht? - Und dann mit dem «Ahnen» überhaupt:

war das nicht eine arme und verlassene Welt, welche Gott ahnte hinter den Dingen? War das nicht ein müßiger Gott, ein Gott mit den Händen sm Schoß, der so genügsam war, sich ahnen zu lassen? Heißt es nicht vielmehr ihn finden, ihn erkennen, ihn tief in sich selbst schaffend, wie mitten in der Werkstatt überraschen, um ihn zu besitzen? So glaube ich auch, daß wir uns nicht begnügen dürfen, das hinter den Worten zu ahnen. Es muß uns irgendwann sich offenbaren. Und in der Tat: Wer erinnert sich nicht der Augenblicke, da ihm die ganz armen, abgenützten Worte von geliebten Lippen wie nieberuhrt und zum ersten mal und strahlend vor Jugend entgegenkamen? Jemand sagt «Das Lieht» und es ist, als ob er sagte «zehntausend Sonnen»; er sagt: «der Tag» und du hörst: «die Ewigkeit» Und du weißt auf einmal Seine Seele hat gesprochen; nicht aus ihm meht durch das eine kleine Wort welches du morgen schon vergessen hast, durch das Licht, durch den Klang vielleicht, durch die Landschaft Denn wenn eine Seele spricht ist sie in allem Sie weckt alle Dinge auf. gibt ihnen Stimmen, und was sie gesteht, ist immer ein ganzes Lied. Damit hab' ich auch verraten, was ich im letzten Aufsatz als Frage und unvollendet verließ. Den Raum über und neben den Worten auf der Bühne will ich für die Dinge im weitesten Sinn. Die Bühne hat mir, um «realistisch» zu sein nicht eine (die vierte) Wand zu wenig, sondern eher drei Wände zu viel. Raum will ich für das alles, was mit teilnimmt an unseren Tagen und was, von Kindheit auf. an uns rührt und uns bestimmt. Es hät ebensoviel Anteil an uns als die Worte. Als ob im Personenver­zeiehnis stünde: ein Schrank, ein Glas, ein Klang und das viele Feinere und Leisere auch. Im Leben hat alles denselben Wert, und ein Ding ist nicht schlechter als ein Wort oder ein Duft oder ein Traum. Diese Ge­rechtigkeit muß auch auf der Bühne nach und nach Gesetz werden. Mag sein, daß das Leben eine Weile lang in den Worten treibt wie der Fluß im Bett; wo es frei und mächtig wird, breitet es sieh aus über alles; und keiner kann seine Ufer schauen. Ich stelle Ihnen, verehrter Herr Doktor, anheim, ob Sie etwas von die­sen Erörterungen für Ihr gesch. Blatt verwenden. Jedenfalls danke ich Ihnen für die Anregung, die mir Ihre Notiz vermittelte, und halte mich für verpifichtet, Ihnen die Frucht derselben hiermit zu überreichen. In besonderer Wertschätzung

Ihr ganz ergebener Rainer Maria Rilke.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.