GA 36

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RUDOLF STEINER

SCHRIFTEN

GESAMMELTE AUFSÄTZE

DER
GOETHEANUMGEDANKE
INMITTEN DER KULTURKRISIS
DER GEGENWART

GESAMMELTE AUFSÄTZE 1921-1925
AUS DER WOCHENSCHRIFT «DAS GOETHEANUM»

GA 36

1961

Inhaltsverzeichnis


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I ZUR WELTLAGE

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VON DER WELTLAGE DER GEGENWART UND DER GESTALTUNG NEUER HOFFNUNGEN

Wer heute über die allernächsten Tagesinteressen hinaus-blickt, der empfindet, daß die Menschheit vor Aufgaben ge­stellt ist, wie sie nur in den großen Wendepunkten der ge­schichtlichen Entwickelung aufgetreten sind. Es sind Aufga­ben, die alle Völker angehen, und die alle Lebensgebiete be­treffen. - Es leben Menschen, die im geistigen Leben überall Keime des Verfalles und des Sterbens wahrnehmen wollen, und die eine Möglichkeit des Fortschrittes nur in einer Neugeburt von geistigen Kräften sehen. Andere finden, daß der Verfall nur davon herrühre, daß weite Kreise sich von dem bewährten Alten abgewendet haben. Aber auch diese glauben, daß das Alte nach neuen Wegen suchen müsse, um Herz und Sinn der Menschen wieder zu ergreifen.

Die sozialen Verhältnisse haben eine Form angenommen, die zu erschütternden Katastrophen geführt hat, und die die Keime zu neuen Katastrophen in sich birgt. Aus diesen Kata­strophen ist für Millionen eine materielle Not hervorgegan­gen, die zu beschreiben Worte machtlos sind; deren Linderung nur derjenige erhoffen kann, der an die Möglichkeit neuer weltwirtschaftlicher Betätigungswege glaubt.

Eine große Auseinandersetzung zwischen dem Westen und Osten steht bevor. Bange blicken viele Menschen nach den möglichen Ergebnissen, die der bedeutsame Ruf haben kann, der von Amerika ausgegangen ist. Wie wird dieses, wie wird England die führende Rolle gestalten, die diesen Westmäch­ten zugefallen ist? Wie wird aus dem für diese Mächte my­stisch-dunklen Asiatengemüt der Japaner auf diesen Ruf ge­antwortet werden?

Das sind Fragen, von deren Lösung Dinge abhängen, an die in der allernächsten Zukunft Wohl und Wehe der Men­schen bis in die alleralltäglichsten Erlebnisse und bis in die Pflege der höchsten geistigen Interessen gebunden sein wird.

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Von dem, was viele Menschen empfinden, ist damit Einiges gesagt. Dem aber steht ein Anderes gegenüber. Man gesteht sich: vieles müßte geschehen. Aber eine große Müdigkeit ist zugleich in die Seelen der Menschen eingezogen. Ein Unglau­be an die menschliche Kraft. Es wird von vielen Seiten vieles vorgebracht; ein Glaube, daß etwas helfen könne aus den gro­ßen Nöten der Zeit, antwortet nicht auf das Vorgebrachte. Man glaubt zwar auf vielen Seiten recht gut zu wissen, was notwendig ist; aber kein solches Wissen wird in den Willen der Menschen aufgenommen.

Wie viele Lobreden auf den geistigen und materiellen Fort­schritt hat man hören können, bevor die große europäische Katastrophe hereingebrochen ist! Wie ohnmächtig erscheint jetzt alles, was in diesem Fortschritte gelebt hat, gegenüber dem Chaos, das über die zivilisierte Welt gekommen ist!

Wie eine schmerzvolle Ernüchterung könnte wirken, was in dieser Erfahrung angedeutet ist. Und doch; man müßte an dem Menschenwesen selbst verzweiieln, wollte man bei die­ser Ernüchterung Halt machen. Es ist ja doch die Kraft des Geistes, an die viele der Lobredner auf den Fortschritt in der neueren Zeit geglaubt haben. Selbst in dem Materialismus lebte dieser Glaube an menschliche Geisteskraft. Durch diese glaubten sich diejenigen ihren Materialismus errungen zu ha­ben, die an ihn als das allein Heilsame sich hielten.

Daß die Wege, auf denen diese Geisteskraft wandelte, zu­nächst zu einem jähen Absturz geführt haben, das sollte in sei­ner ganzen Bedeutung empfunden werden. Man sollte fühlen, daß die Weltereignisse einen Gang genommen haben, auf dem ihnen die Ergebnisse dieser Geisteskraft nicht haben folgen können. Die Gedanken der Menschen haben sich nicht trag­kräftig genug für diese Ereignisse erwiesen.

Von der rechten Einsicht in diese Tatsache ist nur ein Schritt zu der Anerkenntnis der Notwendigkeit, daß die menschliche Geisteskraft andere Wege suchen müsse; Wege, die den Menschengeist tiefer in die Wirklichkeit hinein führen als die bisherigen.

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Wer so spricht, stößt zunächst begreiflicher Weise auf har­ten Widerstand. Was willst du, so sagt man ihm, jetzt von ei­nem Umschwung im geistigen Leben erhoffen; sprich uns doch davon, wie die Welt aus ihren wirtschaftlichen Nöten her­auszuführen ist. Der Mensch braucht zunächst Brot; ist dieses geschaffen, dann werden die Wege zum Geiste sich finden.

Das scheint ganz selbstverständlich. Und wegen dieses Scheines von Selbstverständlichkeit kann man viel Beifall mit einer solchen Rede finden. Doch liegt nur ein Schein vor, und keine Wirklichkeit. Denn alle wirtschaftlichen Verhältnisse im Menschenleben sind zuletzt ein Ergebnis der geistgetragenen menschlichen Arbeit. Sind die Ergebnisse schlecht, so liegt es am Geiste, der seinen Aufgaben nicht gewachsen ist.

Durchschauen wird man diese Wahrheit in ihrer Bedeutung für die Gegenwart nur, wenn man aus der Zeitnot heraus sich nicht einer blinden abweisenden Kritik der geistigen Fort­schritte der neueren Zeit hingibt, sondern wenn man das Gute dieser Fortschritte voll anerkennt. Man wird gerade dadurch zur Einsicht in die Gründe kommen, warum sie auf gewissen Gebieten dem Weltengange nicht gewachsen sind.

Am augenfälligsten erweisen diese Fortschritte sich auf dem Gebiete des heute anerkannten Naturwissens und der von die­sem beherrschten Technik. Die Menschheit hat sich eine Ge­dankenkraft erworben, durch die sie Mechanik, Botanik, Al­tertumskunde und so weiter treiben kann. Niemand sollte die­ser Gedankenkraft ihre Berechtigung auf dem ihr zukommen­den Gebiete absprechen. Aber diese Gedankenkraft bedient sich des menschlichen Geistes, um das zu bewältigen, was au­ßerhalb dieses Geistes liegt. Sie erfaßt die Natur durch den Geist; aber sie vergißt dabei den Geist selbst. Sie wird sogar nicht müde, immer wieder zu betonen, daß sie die Natur um so treuer vor den Menschen hinstellen könne, je weniger die­ser von seinem eigenen Geiste in seine Ideen über die Natur hineinlegt. Es kann hier nicht über den Wert der Naturer­kenntnis gesprochen werden, die auf diesem Wege gewonnen wird. Aber Ideen hervorzubringen, welche tragende Kräfte

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des Willens sind, vermag eine Menschheit nicht, die vorzüg­lich an dieser Seelenbetätigung sich erzieht. Im Menschen ar­beitet der Wille durch den ihn durchpulsenden Geist. Und ein Geist, der nur auf das Ungeistige gerichtet ist, verliert die Tragkraft seines eigenen Wesens. Erstarken in seiner Kraft kann der Geist, der sich an der Natur betätigt; einen tragkräf­tigen Inhalt kann er sich auf diese Art nicht geben.

Von der Einsicht in diese Tatsache glauben diejenigen aus­gehen zu müssen, die in der Gegenwart eine selbständige Gei­stesanschauung der Naturanschauung an die Seite stellen wol­len. Damit kann nicht eine Geistesanschauung gemeint sein, die nur das am Naturerkennen Herangezogene weiterspinnt, sondern eine solche, die den Geist und seine Welt als ein Le­bendiges anerkennt, wie Augen und Ohren und der auf sie ge­stützte Verstand die Natur als ein ungeistig Wirkliches aner­kennen.

Aber von diesem lebendigen Geiste redet die Gegenwart nur mehr, indem sie sich auf die Überlieferungen der Vergangen­heit stützt. In überwundenen Zeitaltern waren die Menschen davon überzeugt, daß auf dieser Erde nicht nur die sichtbaren Wesen wandeln und das geschichtliche Weltensein gestalten; sondern sie fühlten in diesem Weltensein geistige Wesen mit wirksam. Sie wußten sich im unmittelbaren Erlebnis nicht nur in einer Natur-, sondern auch in einer Geisteswelt drinnen ste­hend. An die Stelle dieses Geist-Erlebens hat der neuere Mensch allein das unwirkliche Gedankenerlebnis gesetzt. Er weiß sich nur im Gedanken; er weiß sich nicht mehr unmit­telbar im lebendigen Geistgeschehen. Der in dem Naturwis­sen erzogene Mensch weist die Erkenntnis des Geistes ab. Er ist so allein auf das angewiesen, was von den Geist-Erkenntnissen abgelaufener Zeitalter überliefert ist. Das aber ver­blaßt allmählich. Es verliert seine Tragkraft in der mensch­lichen Seele.

Anthroposophische Geisteswissenschaft glaubt, wieder ei­ne Erkenntnis gewinnen zu können von dem lebendigen Gei­ste. Sie spricht von einem Geiste, der im Menschen lebt; nicht

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nur von Gedanken, die ein Bilddasein im Menschen führen. Daß Geist im Menschen sich lebend offenbart, das ist für diese Geisteswissenschaft ein Ergebnis wie für die gegenwärtige Naturwissenschaft dasjenige Ergebnis ist, was der Verstand auf der Grundlage der Sinneswahrnehmung durchschaut. Nicht von emem nebelhaften Geiste spricht diese Geisteswis­senschaft, an den sich nur der abstrakte Verstand herandrängt, sondern von einer wirklichen Geisteswelt mit ihren einzelnen Wesen und Tatsachen, wie die Naturwissenschaft von einzel­nen Pflanzen, einzelnen Flüssen, einzelnen Naturtatsachen spricht.

Von zwei Seiten her glaubt diese Geisteswissenschaft an die Aufgaben der Gegenwart herantreten zu dürfen.

Sie ist Wissen und kann als solches empfunden werden von allen, die durch eine gesunde Urteilskraft sich von ihr an­regen lassen, ein menschlich befriedigendes Verhältnis zu Welt und Leben zu gewinnen. Sie trägt aber nicht den Charak­ter jener neueren Wissenschaftlichkeit, der in diesen oder je­nen Wissenszweig einführt, ohne daß dadurch der Mensch aus seinem Wissen heraus über seine Wesenheit und Bestimmung sich Gedanken machen, oder aus ihr zu einer tatkräftigen Wil­lensentfaltung kommen kann. Sie glaubt, den Gedanken er­hellen, die Gefühle hingebungsvoll an die Welt, und den Wil­len geisterfüllt gestalten zu können. Sie redet zu der Seele je­des einzelnen Menschen, ohne Unterschied des Bildungsgra­des, weil sie zwar in echtem Wissenschaftsgeist ihre Quelle sucht, aber zu Ergebnissen kommt, die in jeder Seele verständ­nisvollen Widerhall aus dem gesunden Urteilen der mensch­lichen Natur heraus selbst finden können.

Die andere Seite zeigt ihre Fruchtbarkeit für die einzelnen Wissens- und Kunstgebiete und für das religiös gerichtete und das sozial gestimmte Leben. Die einzelnen Wissenschaften sind durch ihre Betrachtungsart heute an einem Punkte ange­langt, an dem sie die Durchdringung mit dem erlebten Gei­steswesen brauchen. Die Künste haben ihre naturalistische Epoche hinter sich; nur aus dem Geiste heraus können sie

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wieder zu einem Inhalt kommen, der nicht bloß eine überflüs­sige Wiederholung des Natürlichen ist. Die sozialen Massenimpulse haben in den praktischen Folgen der marxistischen Denkungsart ihre Unmöglichkeit erwiesen; sie bedürfen der sozialen Kräfte des einzelnen Menschen, die dieser auf dem Wege zum Geistesleben finden kann. Dem religiösen Erleben wird Geisteswissenschaft die seelischen Tiefen erschließen, ohne die es verdorren muß. Sie kann ihrem Wesen nach nicht selbst religionsbildend auftreten. Man verkennt sie, wenn man ihr solche Absichten zuschreibt. Aber sie wird den Menschen, die aus den alten Geistesrichtungen heraus die Religion nicht mehr finden können, diese wieder als den Quellpunkt wahren Menschentums erweisen.

Geisteswissenschaft möchte geben, was die Menschheit nö­tig hat, damit die Ideen dem Gang der Weltenereignisse wie­der folgen können. Man wird sich mit solchen Gedanken ge­genwärtig gewiß dem billigen Vorwurf aussetzen: man wolle sagen, wer in den Nöten der Gegenwart, die alle Völker und Lebenslagen umfassen, sich zurechtfinden will, der solle nur bei den Leuten des Goetheanums anfragen; die wissen, wie alle Fragen gelöst werden. - Wer wirklich zu leben weiß in dem Geiste der Anthroposophie, der im Goetheanum gepflegt werden will, leidet wahrlich nicht an Größenwahn, nicht ein­mal an Unbescheidenheit; aber er möchte in ganz bescheide­ner Art auf das hinweisen, was in dem Wirken der gegenwär­tigen Menschheit fehlt, und was gesucht werden muß, damit eine nicht allein den Kopf, sondern den ganzen Menschen durchseelende Geisteskraft den großen Aufgaben dienen kann, die ja doch von Vielen als drängend empfunden werden. Eine solche Denkungsart führt allerdings zu Anderem, als jetzt noch von Manchem erwartet wird, der sich diese Aufgaben vor die Seele stellt. Auch der Westen und der Osten werden sich nur verständigen aus einer lebensvollen Geistigkeit her­aus, nicht auf den Grundlagen, auf denen man heute baut. Und die wirtschaftlichen Nöte werden nur Linderung finden, wenn der rechte Geist die Richtung dazu weist.

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DIE WELTFRAGE

Die Welt erwartet wichtige Entscheidungen von der Wa­shingtoner Konferenz, die im November stattfinden soll. Wenn als eine Art Programm für diese Zusammenkunft von den Westmächten die Abrüstung und die Fragen des Stillen Ozeans aufgeführt werden, so wird man doch ernsthaft zunächst nur an das letztere zu denken und das erstere als eine Art mora­lische Dekoration anzusehen haben. Denn im Stillen Ozean laufen die Linien zusammen, auf die die Aufmerksamkeiten der Mächte gerichtet sind, von denen heute die Geschicke der Welt abhängen: Nordamerikas, Englands, Japans. Prüft man die In­teressen, die dabei herrschen, so wird man deren wirtschaft­lichen Charakter als den eigentlich maßgebenden erkennen. Man will sich über wirtschaftliche Vorteile auseinandersetzen; und man wird abrüsten, oder rüsten in dem Maße, als dies diese Vorteile notwendig erscheinen lassen. Man kann auch nicht anders. Denn so, wie sich die einzelnen Staaten nun einmal gestaltet haben, müssen sie als wirtschaftliche Mächte wirken; und alle anderen Fragen können ihnen nur in dem Lichte er­scheinen, das von ihren wirtschaftlichen Antrieben ausgeht. Aber Europa und Nordamerika werden mit der Denkungs­art, die ihnen in solcher Art durch ihre eigene geschichtliche Entwickelung gegeben ist, in Asien auf die schwersten Hin­dernisse stoßen. Was von dem südafrikanischen Minister Smuts auf der Londoner Reichskonferenz gesagt worden ist, kommt Vielen bedeutsam vor. Er meinte, die politischen Blicke könnten in der Zukunft nicht mehr nach dem Atlantischen Ozean und der Nordsee, sondern müßten für das nächste Halbjahrhundert nach dem Stillen Ozean gerichtet sein. Aber die Taten, die unter dem Einfluß dieser Blickrichtung gesche­hen werden, müssen mit dem Willen der Asiaten zusammen-stoßen. Die Weltwirtschaft, die sich seit etwa fünf Jahrzehn­ten angebahnt hat, soll sich innerlich weiter ausbilden, soll die Völker Asiens in einer Art in ihren Bereich einbeziehen, von der bisher doch nur Anfänge vorhanden waren.

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Das wird aber nicht möglich sein, wenn zu den vorhande­nen Bedingungen der Völkerverständigung nicht noch andere treten. Man wird mit den Völkern Asiens nicht wirtschaften können, wenn man ihr Vertrauen nicht gewinnen kann. Aber Vertrauen läßt sich auf rein wirtschaftlichem Boden nur bis zu einem gewissen Grade gewinnen. Der wird nicht ausreichen für das, was man vorhat. Die Seelen der asiatischen Menschen wird maal gewinnen müssen. Ohne dieses wird jeder Verkehr durch Mißtrauen dieser Menschen untergraben werden.

Und demgegenüber tauchen Weltfragen von größter Trag­weite auf. Die westlichen Menschen haben bei sich im Laufe der letzten Jahrhunderte Gedanken- und Empfindungsrich­tungen ausgebildet, welche das Mißtrauen des Asiaten her­vorrufen. Dieser mag noch so viel erfahren von der Wissenschaft des Westens, von den technischen Ergebnissen dieser Wissenschaft: das zieht ihn nicht an, das stößt ihn ab. Wenn er bei seinen asiatischen Genossen, den Japanern, eine Hinnei­gung zu der Zivilisation des Westens sieht, so betrachtet er diese als Abtrünnige des wahren Asiatentums. Er blickt auf die westlichen Kulturen wie auf etwas, das unter dem steht, was er an innerem Reichtum des Seelenlebens besitzt. Er sieht nicht sein Zurückbleiben hinter dem materiellen Fortschritt; er sieht nur seine seelischen Strebungen, und die erscheinen ihm über denen der westlichen Menschen zu stehen. Auch die Art, wie sich diese zum Christentum stellen, findet er nicht heranreichend an die Tiefe seines religiösen Erlebens. Was er jetzt von dieser Art kennen lernt, betrachtet er als religiösen Materialismus; und die Tiefe des christlichen Erlebens tritt ihm jetzt nicht entgegen.

Die westlichen Völker werden vor unmöglich zu lösenden Fragen stehen, wenn sie diesen Gegensatz der Seelen nicht aufnehmen in ihre weltpolitischen Empfindungen. So lange man ein Bedenken dieses Gegensatzes als eine Sentimentalität ansieht, mit der sich der Praktiker des Lebens nicht abgibt, wird man nur in ein weltpolitisches Chaos hineinarbeiten. Man wird lernen müssen, als praktische Impulse Dinge anzusehen,

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die man bisher nur als die Ideologie von Träumern betrachtet hat.

Und der Westen könnte diese Sinnesänderung vollziehen. Er hat bisher nur die Außenseite seines Wesens ausgebildet. Er hat damit errungen, was der Asiate nicht versteht, was er nie wird verstehen wollen. Aber diese Außenseite entspringt einer inneren Kraft, die sich bisher in ihrer Eigenart noch nicht geoffenbart hat. Diese Kraft kann entfaltet werden, und dann wird sie zu den Errungenschaften im Materiellen Ergeb­nisse eines geistigen Lebens hinzuerobern, die für den Asiaten Weltenwerte darstellen können.

Man kann natürlich gegen eine solche Behauptung sagen: Gegenüber asiatischer Barbarei ist doch im Westen Verinner­lichung, Durchseeltheit, ist überhaupt die «höhere» Kultur vorhanden. Das ist gewiß richtig. Aber darauf kommt es nicht an, sondern darauf, daß der westliche Mensch tief seelisches Wesen entwickeln kann; aber seine bisherige Geschichte hat ihn dazu gebracht, das Seelische in das öffentliche Leben nicht hineinzutragen; der Asiate mag seelisch-kindhaft, sogar ober­flächlich sein: er lebt mit diesem Seelischen in dem öffent­lichen Leben. Auch mit ethisch gut und böse hat der hier ge­meinte Gegensatz nichts zu tun. Ebensowenig mit schön und häßlich, künstlerisch und unkünstlerisch. Wohl aber damit, daß der Asiate seine Empfindung, seinen Geist in seiner äuße­ren Sinneswelt miterlebt, dem westlichen Menschen die Seele im Innern stecken bleibt, wenn er sich der Welt seiner Sinne hingibt. Der Asiate findet den Geist, indem er sinnlich lebt; er findet da wohl auch oft einen schlechten Geist; aber eben einen Geist. Der westliche Mensch kann noch so enge in sei­nem Innern mit dem Geiste verbunden sein; seine Sinne ent­laufen diesem Geiste und streben einer mechanisch gedachten und geordneten Welt zu.

Naturgemäß wird der westliche Mensch sich nicht um des Asiaten willen eine geistige Denk- und Empfindungsweise aneignen. Das kann er nur aus seinen eigenen seelischen Bedürf­nissen heraus tun. Die asiatische Frage kann nicht einmal der

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Anlaß dazu sein. Aber die materielle Zivilisation des Westens hat den Punkt erreicht, auf dem sie ihre Offenbarungen selbst als unbefriedigend empfinden muß, auf dem sich ihre Mensch­heit innerlich leer und verödet fühlen muß. Die Seele des westlichen Menschen muß nach Verinnerlichung des ganzen Daseins, nach einer geistgemäßen Lebenserfassung streben, wenn sie sich selbst in dem gegenwärtigen Augenblick ihrer Entwickelung recht versteht.

Dieses Streben ist eine von der Gegenwart geforderte An­gelegenheit des Westens selbst. Sie trifft zeitlich zusammen mit der notwendig gewordenen weltpolitischen Blickrichtung nach dem Osten. Und man wird sich im Westen so lange über die großen Aufgaben der Zeit unheilvollen Illusionen hinge­ben, so lange man nicht bemerkt, daß man ohne den Willen zu einer Erneuerung des Seelenlebens den weiteren Menschheit­fortschritt unmöglich macht. Seelische Scham kann man emp­finden, wenn man vor das gestellt sich sieht, was der Asiate seine seelische Überlegenheit nennt.

Und Täuschung ist nur, wenn der westliche Mensch die Geistesart des alten Orients wie ein Seelengut aufnimmt, das er zu seinen materiellen Errungenschaften als Ergänzung hin-zunimmt. Der geistige Inhalt, durch den der westliche Mensch seine Wissenschaft, seine Technik, seine wirtschaftlichen Fä­higkeiten zu wahrhaft menschenwürdigen machen kann, muß aus den Fähigkeiten kommen, die er selbst in sich entwickeln kann. «Ex oriente lux» haben Viele gesagt. Doch das von au­ßen kommende Licht wird nicht zur Lichtwahrnehmung, wenn es nicht von einem inneren Lichte empfangen wird.

Die seelenlose Weltpolitik muß zu einer seelischen werden. Gewiß, Entwickelung der Seele ist eine intime menschliche Angelegenheit. Aber die Taten des Menschen mit einem ver­innerlichten Seelenleben sind Glieder der äußeren Weltord­nung. Der kommerzielle Sinn, den der Asiate an dem europä­ischen Menschen kennen lernt, wird im Osten zurückgewie­sen; eine Seele, die geistigen Inhalt offenbart, wird Vertrauen einflößen.

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Es mag für die alten Denkgewohnheiten allein praktisch scheinen, die Frage zu beantworten, wie man China zu einem Wirtschaftsgebiet macht, das den Westmächten seine Ergeb­nisse darbietet; aber die wirklich praktische Frage der Zukunft wird sein, wie man sich mit den Seelen der in Asien lebenden Menschen verständigt. Die Weltwirtschaft kann nur ein äuße­rer Leib sein für eine Seele, die ihr gefunden werden muß.

Es mag manchem als recht ideologisch erscheinen, daß eine Zeitbetrachtung mit der Washingtoner Konferenz beginnt und mit den Forderungen der Seele schließt. Doch in unserer schnell lebenden Zeit könnte mancher der jetzt lebenden Ide­enverächter noch die Erfahrung machen, daß die Verleug­nung des Seelischen sich nicht als Lebenspraxis erweisen wird.

AMERIKA UND DEUTSCHLAND

Zwischen Amerika und Deutschland ist ein Friedensdoku­ment zustande gekommen. Es ist ein rechtes Spiegelbild der Gedanken und Empfindungen, aus denen heraus heute Staa­ten vermeinen ihre Beziehungen ordnen zu können.

Wilsons Denkrichtung lebt nicht mehr in diesem Doku­ment. Sie war der Niederschlag des Glaubens an welifremde Verstandeserwägungen. Sie wurde in weiten Kreisen bewun­dert und beherrschte die Überzeugungen vieler Menschen, bis sie an den Tatsachen zerschellte. Wilson galt als der Mann, der aus dem Geiste heraus der Welt eine neue Richtung geben wollte. Aber man kann heute vom Geiste reden, ohne daß die Rede aus dem Geiste stammt. Man kann als Idealist erschei­nen, ohne daß man Ideen hat, die in dem wirklichen Geiste wurzeln. Mit solchen Ideen kann man Scheinbegeisterung er­regen; vor den wahren Aufgaben des gegenwärtigen Lebens zerflattern sie.

Wilson war eben politischer Romantiker. So werden jetzt die Metischen sprechen, die sich für die wahren Praktiker hal­ten. Und Viele werden unter ihnen sein, die das, was Wilson

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sagte, bis vor kurzem noch als ein Minimum von Idealismus in den Umkreis ihrer «praktischen» Überzeugungen zulassen wollten. Verzückt stehen diese nun vor dem Friedensdoku­mente, das die wirtschaftlichen Beziehungen regeln möchte von dem Gesichtspunkte des nüchternen Verstandes, der sich von politischer Romantik fern zu halten weiß.

Aber diese Nüchternheit ist doch nur die Kehrseite dessen, was sie als idealistische Romantik ansieht. Sie lebt in der glei­chen Illusion; sie weiß es nur nicht, weil sie die weltfremden Ideen nicht von vorne, sondern von hinten ansieht.

Wilson glaubte einer Welt Gesetze geben zu können; aber er verstand nicht, daß miteinander wirtschaften nur diejenigen können, die zueinander Vertrauen haben. Das Vertrauen kann nur erstehen, wenn die Seelen sich verständnisvoll begegnen. Dieses Verständnis aber muß aus dem Geiste stammen, der als eine Wirklichkeit erlebt wird. Wilsons Grundsätze stammen nicht aus diesem Geiste, sondern aus wirklichkeitsfremder Verstandesabstraktion. Aber er wollte doch aus dem Geiste heraus handeln; aus einem geistfremden Scheingeiste.

Jetzt korrigiert man Wilson, indem man den Geist ganz fortläßt und an denjenigen Geschäftssinn sich hält, den man für wirksam ansieht, weil man ihn nüchtern-praktisch findet. Und wieder einmal dürfen diejenigen empfinden, wie recht sie haben, die da glauben, am besten miteinander zu wirtschaften, wenn sie sich um alle geistig seelischen Menschenbeziehun­gen nicht kümmern.

Nun, in dieser Gedankenrichtung hat sich die neuere Menschheitsentwickelung bewegt, bis sie zur furchtbaren Kriegskatastrophe gekommen war.

Aber hat man denn nicht alles für eine Geistgemeinschaft getan? so wird man sagen. Hat man denn nicht sogar Profes­soren ausgetauscht, die in Europa aus amerikanischer, in Amerika aus europäischer «Mentalität» heraus sprachen? 0 ja, das hat man getan. Aber diese Professoren sprachen eben nicht aus einer Weltanschauung heraus, die aus dem lebendi­gen Geiste kommt. Und so blieb diese Geistgemeinschaft eine

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Dekoration, von der die wirtschaftlichen Interessen nicht be­rührt worden sind. Die Menschheit aber muß mit geistiger IWirklichkeit geheilt werden; die Geistdekoration hat ihr kei­ne Hilfe gebracht.

Erst wenn diese Erkenntnis aufleuchtet, werden im Völ­kerverkelir Dokumente entstehen, die auch das wirtschaftliche Arbeiten lebensmöglich machen.

Mit einem solchen Bekenntnis stößt man auf das überlegene Lächeln derer, die sagen: da könnt ihr lange warten, denn für solches Denken würde die Menschheit erst nach fünfzig Jah­ren reif werden. Andere sagen nach hundert; andere wählen sich eine noch größere Zahl. Die Zahlengröße wächst in dem Maße, in dem sich die Menschen gedrängt fühlen, das sich ab-zulächeln, was sie unpraktischen Idealismus nennen.

Nun, der Versuch dürfte in diesem Falle besser sein als die Prophetie. Die Menschheit wird für den lebendigen Geist schneller zugänglich sein, als die sich praktisch dünkenden Leute glauben, wenn der Drang nach diesem Geiste nicht mehr von derjenigen verführerischen Denkungsart gelähmt wird, die überall Aberglaube, Romantik, Unlogik wittert, wo nach einer Lebensauffassung aus dem Geist-Erleben gestrebt wird. Man muß den Geist wollen, wenn er wirksam werden soll; und um ihn nicht zu wollen, braucht man nur sich an dem fruchtlosen Urteil zu weiden, das die Wartezeit bestimmen will, nach deren Ablauf er von selber kommt. Solchen Warte-Seelen kann erwidert werden: der Geist wird auch in fünfzig, in hundert, in fünfhundert Jahren nicht erscheinen, wenn sein Erscheinen nicht gewollt wird.

Aber es ist doch absurd, wenn man uns sagt: wir wollten den Geist nicht, sagen die Warte-Seelen. Wir wollen ihn doch ebenso wie ihr. - Doch nein, muß man diesen erwidern. Ihr wollt nicht; ihr wünscht höchstens. Denn aus dem Wünschen macht nur der lebendige Geist selbst ein Wollen. Er kann das aber nur, wenn die Menschen ihm die Seelentore öffnen.

Der Leib, der sich aus den Weltwirtschaftsinteressen gebil­det hat, bedarf der Pflege seiner Seele. Man sollte nicht warten,

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bis diese von selbst erscheint. Sie ist da; denn jeder Leib hat eine Seele. Aber sie will mit ihrer Wesenheit auch in die Denkungsart der Menschen übergehen, um wirksam zu wer­den.

WAS KANN DEM TRENNENDEN IM GEGENWARTSLEBEN ENTGEGENWIRKEN:

Eine Müdigkeit der Empfindungen gegenüber dem öffentli­chen Leben geht durch die Seelen. Herausgerissen werden die Menschen aus dieser Stimmung nur, wenn ein Ereignis sie überrascht, bei dem sie den Blick wegwenden können von den politischen Disharmonien, von den wirtschaftlichen Zerset­zungsvorgängen. Für Deutschland war ein solches eingetre­ten in der Ermordung Erzbergers. Über die Parteimeinung, über das persönliche oder Klasseninnere hinweg mußte man rein menschlich fühlen im Angesicht dessen, was geschehen war. Gegner und Anhänger des Ermordeten sind im Wesentlichen des Empfindens einig.

Symptomatisch bedeutsam steht ein solches Sich-Finden von Seelen in dem Leben der Gegenwart. Man braucht heute über allem Zerklüftenden der Meinungen, das aus dem alten Partei- und Klassengedanken, aus den Interessen der alten Wirtschaftsgestaltungen sich unheilgebärend erhalten hat, ein Allgemein-Menschliches, in dem die Menschen sich verstehen können.

Kann nur der Anblick des Todes die Menschenseelen sich so finden lassen? Es wäre gewiß, daß die Gegenwart nicht Kräfte eines Aufganges gegenüber dem Niedergange hervor­bringen könnte, wenn diese Frage mit «Ja» beantwortet wer­den müßte. Auch der Anblick des Lebens muß zu diesem Emp­finden im Allgemein-Menschlichen führen können.

Aus tiefen Untergründen der Seele heraus ahnt der Mensch, daß der Tod ihn vor eine höhere Verantwortlichkeit stellt, als die ist, welche er sich auferlegt, indem er sich aus den gegen­wärtigen Denkgewohnheiten heraus politische oder wirtschaftliche

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Gedanken macht. Das kann empfunden werden an der Erregung, die Erzbergers Ermordung hervorgerufrn hat. Instinktiv regt sich ein aus dem Geistesleben Stammendes, wenn so das Allgemein-Menschliche hinwegweht über den Streit der aus dem Materiellen geborenen Interessen.

Was zu tun ist, kündigt sich durch solche Zeichen an. Aus dem Leben heraus müssen die Wege zum Geiste gesucht wer­den. Die Müdigkeit der Seelen rührt von dem Unglauben wei­tester Kreise an die alten Partei- und Klassenmeinungen her. Diese bilden die große Enttäuschung der Menschheit. Man hat sich ehedem mit Begeisterung oder aus Interesse hingege­ben. Man schrieb ihnen eine Wirkungskraft zu. Man sieht, daß die Ereignisse über sie hinwegschreiten. Man hat den Glauben an sie verloren.

Dennoch treten sie überall als Grundlagen des öffentlichen Urteilens und Handelns noch allein auf. Wer etwas will, der sucht nach dieser oder jener Idee, zu der man sich vor den ka­tastrophalen Ereignissen bekannt hat. Und er sucht für diese Idee die Angehörigen dieser alten Parteigruppierung zu ge­winnen. Eben bei diesem Streben zeigt es sich ihm, wie die Menschen, die er anregen will, unempfänglich sind, weil die Enttäuschung ihr Empfinden lähmt.

Aus diesem Notstande kann nur eines führen. In einer ge­nügend großen Anzahl von Menschen muß dieses Geistesle­ben angeregt werden von dem in den vorangehenden Num­mern dieser Wochenschrift gesprochen worden ist. Die Mü­digkeit gegenüber dem, was so bitter enttäuscht hat, wird doch ein guter Saatboden sein für das Keimen dieses Geistes­lebens. Aber dazu ist notwendig, daß man den Gedanken ganz meide: wie knüpfe ich an an dasjenige, was diese oder jene Menschengruppe bisher gemeint hat. Gerade dieses An­knüpfen beirrt die Menschen. Man hält es für klug, so an das den Menschen Eingewohnte anzuknüpfen. Doch gerade das macht sie in ihrer innersten Seele mißtrauisch. Denn sie glau­ben im Grunde selbst nicht mehr an dieses Eingewohnte; sie halten sich nur noch daran, weil die tatsächlichen Verhälmisse

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ihrer Parteigruppierung sie fesseln. Aber man braucht Ideen, die aus der Macht des Geistes heraus so wirken, daß die ein­zelnen Menschen kraft des Allgemein-Menschlichen sich um sie versammeln. Von der Reinheit, mit der solche Ideen unter die Menschen gebracht werden, wird es abhängen, ob der Weg aus dem gegenwärtigen Chaos gefunden werden kann. Gewiß, für die Reinheit der Ideen zu wirken, ist gegenwärtig schwierig. Aber nur die Einsicht, daß diese Schwierigkeiten überwunden werden müssen, kann helfen.

Man findet heute schon eine Anzahl von Menschen, die dem in dieser Wochenschrift gekennzeichneten Geistesleben mehr oder weniger zuneigen. Aber viele von diesen glauben, man könne zu dem oder jenem nur in einer gewissen Art spre­chen. Man wird davon abkommen müssen. Denn dadurch hört der andere doch nur etwas, wovon er meint, daß es mit dem oder jenem übereinstimmt, das ihm gut bekannt ist. Und von dem glaubt er, daß man damit nichts anfangen könne. Er hört dann nur halb hin und kommt bald wieder in die alte müde Stimmung.

Man muß den Mut haben, zu warten, bis die Kraft, die im lebensvollen Geisteswesen liegt, den Menschen ergreift. Man wird dann die Erfahrung machen, daß man weniger lang zu warten hat, als wenn man mit dem Vorbringen wartet bis zur «Reife» der Menschen, deren Eintreten man in eine möglichst unbestimmte Zukunft verlegt.

In dem Geiste des Lebens werden sich, wenn dieser nur recht zur Geltung gebracht wird, die Menschenseelen finden müssen, wie sie sich finden können, wenn der Schatten des Gei­stes, der Tod, vor sie hintritt. Auch vor dem lebendigen Geiste können die zerklüfteten Kräfte verstummen; und, was die Hauptsache ist, sie werden da nicht bloß erregend in den Ge­fühlen wirken; sie werden in den Willen sich ergießen; sie werden zu Taten werden. Und dessen bedarf die Gegenwart.

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WILSONS ERBE

Ein Völkerbund ist aus der Kriegsnot der Welt hervorgegan­gen. Auf seiner grundlegenden Tagung muß er ohne die An­teilnahme Amerikas, Deutschlands und Rußlands zu Ergeb­nissen kommen. Diese Ergebnisse sollen entscheidend wer­den für das Schicksal der Welt.

Man setze dagegen, wie sich dieses Schicksal gestaltet hat. Amerika, Deutschland und Rußland sind an dieser Gestal­tung am stärksten beteiligt. Rußland und Deutschland sind nach dem Kriege nicht mehr, was sie vorher waren. Und man male sich aus, was aus dem Kriege geworden wäre, wenn

nicht Amerika im entscheidenden Augenblicke eingegriffen hätte.

Die Zusammenstellung dieser beiden Tatsachen wirft das hellste Licht auf die gegenwärtige Weltsituation. Denn sie zeigt den Abgrund zwischen den Kriegs- und Friedensmög­lichkeiten der Welt.

Das Ideal Wilsons war der Völkerbund. Aus diesem Ideal heraus hat er entscheidend in den Krieg eingegriffen. Wegen dieses Ideales galt er jahrelang als der Prophet eines neuen Zeitalters. Mit diesem Ideal ist er zu den Friedensverhandiun­gen nach Europa gezogen. Er konnte nicht erreichen, was er erstrebte. Von seinem eigenen Volke ist er verleugnet wor­den. Er mußte es, weil sich seine Denkungsart als aussichtslos erwies. Diese Denkungsart ist mit seinem Träger wirkungslos geworden.

Wilsons Ideal war ein solches, von dem man sprechen konnte, solange ganz andere Interessen als die von diesem Ideale um­spannten, im Kriege walteten; es ist kein solches, mit dem man für den Frieden handeln kann. Und dennoch konnte es durch Jahre hindurch die Zustimmung Vieler finden.

Man sollte sich den freien Ausblick auf solche Tatsachen nicht verdunkeln, weil er unbequem ist. Man sollte sich rest­los vor Augen führen, wie man sich in den Glauben an eine Idee verrennen kann, die in keiner Wirklichkeit wurzelt. Über

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das Schicksal der Welt werden die Kräfte entscheiden, die in den Seelen der verschiedenen Völkern angehörigen Menschen walten. Wilsons Idee war der Traum davon, wie diese Kräfte in Harmonie sich betätigen können. Aus diesem Traum sollte man erwachen. Und man würde sehen, daß sein Inhalt nur ein Verstandesprodukt ohne Wirklichkeitsgehalt ist. Dann erst könnte man den ganzen Ernst der gegenwärtigen Weltsitua­tion erblicken.

In dem Erblicken dieses Ernstes läge aber erst der Anfang der Gesundung. Denn wer ihn erblickt, der wird in dem Scheitern Wilsons nicht das Mißgeschick eines einzelnen Man­nes sehen, sondern das einer ganzen Denkungsart. Und zwar derjenigen, die in das Unglück der Welt hineingeführt hat.

Wilson hat durch seine besondere Intelligenz die Vorstel­lungsart in besonders übersichtliche Formeln gebracht, aus der heraus im öffentlichen Leben der neuesten Zeit gewirkt worden ist. In seinem Denken waren politisch-juristische Vor­stellungen ganz durchsetzt von wirtschaftlichen Richtlinien. Er wußte nichts davon, wie Wirtschaft und Politik einandet stören müssen, wenn ein Denken Einrichtungen trifft, in denen beide unorganisch ineinander geworfen sind. Ebenso kannte die Denkungsart dieses Mannes nichts von den Beziehungen der geistigen Interessen der Menschheit zu den staatlich-recht-lichen. In seinem großen Werke über den Staat kann man le­sen: «Der Unterricht in der Volksschule ist zur Erhaltung der­jenigen Bedingungen der politischen und sozialen Freiheit not­wendig, die für die freie individuelle Entwicklung erforderlich sind, und zweitens ist dieser Unterricht das universellste Macht- und Autoritätsmittel der Regierung.» Das ist ganz die Denkungsart, in der politisch-rechtliche Vorstellungen die Be­dingungen der Selbständigkeit des menschlichen Geistesleben verkennen. Der Satz ist so abstrakt und wirklichkeitsfremd, daß ihn der Reaktionär, der Liberale, der Kommunist mit glei­chem Wortlaut vertreten kann.

Wilson ist der Typus für alle diejenigen Menschen, in deren Kopf die drei Glieder des sozialen Organismus unorganisch

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ineinanderspielen, und die in der neueren Zeit auch alle Welt­einrichtungen bewirkt haben, an denen sich die Unmöglichkeit des Ineinanderspielens in der Wirklichkeit zeigt. Diese Men­schen werden auch, wenn von der Notwendigkeit gesprochen wird, das geistige, das rechtlich-politische und das wirtschaft­liche Element nach deren eigenen Lebensbedingungen zu ge­stalten, mit einem gewissen Einwand bei der Hand sein. Sie sa­gen: in der Wirklichkeit sind die geistigen, die rechtlich-staat­lichen und die wirtschaftlichen Betätigungen gar nicht zu tren­nen; deshalb muß es unrichtig sein, von einer Gliederung zu sprechen. Aber gerade damit beweisen diejenigen, die wie Wil­son denken, daß sie eine wirklichkeitsfremde Vorstellungsart haben. Das Zusammenwirken der drei Elemente des sozialen Organismus wird nämlich dann am besten geschehen, wenn ein jedes in seiner besonderen Eigenart sich selbständig entfal­ten kann. Die Einheit wird am vollkommensten sein, wenn das Einzelne aus seinem Wesen heraus diese Einheit bewirken kann. Sie wird am unvollkommensten, wenn ein jedes schon in sich geschwächt wird, indem ihm die Eigenart des Andern auf-gedrängt wird.

Es kann nicht eingewendet werden, Wilson sei kein starrer Vertreter der abstrakten Vereinheitlichung des geistigen, rechtlich-politischen und wirtschaftlichen Gliedes des sozialen Organismus gewesen. Gewiß, seine Denkweise neigte, wie die vieler Staatsmänner, zu Kompromissen. Und man kann sagen, er habe doch auch das Folgende ausgesprochen: «Es muß eine ... Lehre gefunden werden, die dem Einzelnen weiten Spielraum für seine eigene Entwicklung gestattet ...», die «den Gegensatz zwischen der Selbstentwicklung des Einzelnen und der sozialen Entwicklung auf das geringste Maß herab­setzt ...» - Aber so wahr es ist, daß Wilson durch den Anblick der Wirklichkeit solche Gedanken gekommen sind, so wahr ist es auch, daß er in seinem Wirken als Staatsmann ganz von dem unklaren Ineinanderdenken von Geistesleben, Wirtschaft, Recht und Politik beherrscht war. Und in seinen berühmten vierzehn Punkten ist nichts als dieses zur Geltung gekommen.

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Ein Typus des modernen Staatsmannes ist Wilson. Was an­dere getan haben: er hat es nur auf die abstrakte ste, auf die theotetischste Art in das Leben des ganzen Erdkreises einfüh­ren wollen. In der Führung der öffentlichen Angelegenheiten waltete vor dem Kriege diese Denkungsart. Aus dem Kriege sind die Völker so hervorgegangen, daß diese Denkweise sich in ihrer Ohnmacht zeigt. Es bedarf heute der Erkenntnis dieses Tatbestandes. Aller «guter Wille » wird ohne diese Erkenntnis nichts fruchten. Wilson konnte im Kriege wirken; am Frie­denswerk zerschellten seine Ideen. Es genügt nicht, daß seine Gedanken nicht mehr durch ihn wirken; es müssen nicht nur andere an seiner Stelle denken; es muß aus einem andern Geiste heraus gedacht werden. Er ist mehr Opfer einer Zeitströmung als etwas anderes. Aber die Menschheit sollte nicht das Opfer dieser Strömung für lange Zeit werden. Dagegen hilft nur rückhaltloses Durchschauen von deren Eigenart.

ARBEITSLOSIGKEIT

Es hat vor dem Weltkriege Leute gegeben, die sagten, eine Katastrophe dieser Art könne nicht von langer Dauer sein. Die weitwirtschaftlichen Verhältnisse, die sich für die Gegenwart herausgebildet haben, mit den komplizierten Beziehungen der Völker, müßten bald Zustände herbeiführen, durch die ein sol­cher Krieg nicht fortgesetzt werden könnte.

Es war «volkswirtschaftliche Einsicht», die so sprach. Die Wirklichkeit hat anders gesprochen. Sie ist mit ihrer Sprache tiefer gedrungen. Sie hat die weltwirtschaftlichen Zusammen­hänge überrannt. Und aus diesem Überrennen ist heute ein weltwirtschaftliches Chaos geworden.

Ein bitteres Symptom - unter anderen - wirkt aus diesem Chaos heraus: die Arbeitslosigkeit. Deren Ursprünge sind wohl für die «volkswirtschaftliche Einsicht» ebenso in Dun­kel gelegen wie diejenigen der langen Kriegsdauer.

Beide aber, die lange Kriegsdauer und die Arbeitslosigkeit,

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und noch manches Andere, zeigen doch deutlich, daß die «volkswirtschaftliche Einsicht», die da geurteilt hat, eben keine wirkliche Einsicht ist.

In der Entstehung der Weltwirtschaft haben die geschicht­lichen Notwendigkeiten der Menschheitsentwickelung ge­wirkt. Die Einrichtungen, die in diese Entwickelung hinein­gestellt worden sind, sind aber im hohen Maße beeinflußt wor­den von den politischen Intentionen, die den wirtschaftlichen Notwendigkeiten zuwiderliefen.

Niemals hätten aus einer Weltwirtschaft, die von politischer Denkart nicht durchkreuzt worden wäre, die Valutaverhält­nisse sich bilden können, die jetzt alles Wirtschaften lahmiegen und korrumpieren.

Die Entstehung der Weltwirtschaft drängte dazu, Verwal­tungskörper für das wirtschaftliche Leben zu schaffen, die nur aus den Bedingungen der Wirtschaft selbst heraus arbeiten. Solche Verwaltungskörper können nur Assoziationen sein, die aus den Verhältnissen der Produktion, des Konsums, der Wa­renzirkulation sich ergeben. Nur solchen Assoziationen ist es möglich, das Ineinanderwirken der genannten drei Faktoren so zu gestalten, daß nicht, zum Beispiele, aus einer ungesunden Produktion auf der einen Seite, auf der andern zahllosen Men­schen die Produktionsmöglichkeit entzogen werde. Arbeits­losigkeit kann nur die Folge ungesunder Wirtschaftsverwal­tung sein.

Es wird hier nicht etwa behauptet, durch dieses oder jenes theoretisch erdachtes Rezept könne der Arbeitslosigkeit ent­gegengewirkt werden. Das wäre utopistisch gedacht. Es ist ge­meint, daß im lebendigen Wirken von Assoziationen, die aus den Bedürfnissen der Wirtschaft selbst hervorgehen, eine Denkart sich entwickeln kann, die gesunde Zustände zur Folge hat.

Erst in einem Wirtschaftsleben, das sich so entwickelt, kann auch eine gesunde Politik sich entfalten.

Solange nicht Weltwirtschaft war, konnten die politischen Intentionen sich in der alten Art ausleben. Denn die einzelnen

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Volkswirtschaften konnten in deren Sinne sich gestalten. Die Weltwirtschaft kann nur aus ihren eigenen Bedingungen her­aus sich in einer gesunden Form entwickeln.

Und in einer ähnlichen Weise, wie die Entwickelung der Weltwirtschaft zu einer selbständigen assoziativen Wirt­schaftsverwaltung hinstrebt, so durch die geschichtlichen Not­wendigkeiten das neuere Geistesleben zu einer Gestaltung aus seinen eigenen Bedingungen heraus.

Lord Cecil träumt von der Zukunft des Völkerbundes. Denn ein Traum ist ja, was er an der Völkerbundstagung gesprochen hat, daß «später einmal» dieser Völkerbund durch die Teil­nahme der Staatsmänner aller Länder in imponierenden Aus­sprachen das Heil der Welt bringen werde. Es geht dieser «Traum» aus derselben Wurzel hervor, aus der die «Einsicht» stammte, daß ein Weltkrieg wegen der Weltwirtschaft nicht von langer Dauer sein könne. Aus derselben Wurzel könnte wohl auch die «Einsicht» entspringen, daß innerhalb der Welt­wirtschaft eine Arbeitslosigkeit in dem Umfange, wie sie heute herrscht, sich nicht ergeben könne.

Wäre die Weltwirtschaft aus ihren Bedingungen heraus wirksam gewesen, so hätten wir keinen Weltkrieg gehabt. Seine Länge hatte ihren Ursprung in der Unwirksamkeit der weltwirtschaftlichen Untergründe. Die Aussprachen, von de­nen Lord Cecil träumt, werden nur fruchtbare Wirklichkeit werden können, wenn sie nicht Ursachen im Leben der Völker schaffen, die eigentlich gar nicht da «sein können», wie ja, nach der «volkswirtschaftlichen Einsicht» die Ursachen für eine lange Kriegsdauer gar nicht da waren. Dank der politischen «Einsicht» war aber das weltwirtschaftlich Unmögliche doch möglich. Es haben wohl die «politisch Einsichtigen» auch Träume gehabt, die nach der Ansicht der «volkswirtschaft-lich Einsichtigen» keine Möglichkeit einer Verwirklichung hatten.

Das Vertrauen in die Verwirklichung von Träumen in der Art des Lord Cecil kann nach den Erfahrungen der letzten Jahre kein großes sein.

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Ein Völkerbund braucht Weltpolitiker. Die müssen an die Stelle von «Träumen» im Stile der bisherigen Politik die Lehre setzen, die so laut davon spricht, wieviel diese bisherige Politik an der Weltwirtschaft verdorben hat. Sie hat eben an die selb­ständigen Bedingungen der Weltwirtschaft gar nicht gedacht. In die Debatten, die auf der Grundlage eines assoziativen Wirt­schaftslebens sich ergeben, werden die wirtschaftlichen Kräfte selbst hineinfließen. Sie werden kürzer sein können als die po­litisch-wirtschaftlichen. Denn ein großer Teil des Wesentli­chen wird sich nicht im Reden, sondern im Tun der in den As­soziationen stehenden Persönlichkeiten ausleben. Was geredet wird, wird nur das für das Tun Richtunggebende sein.

Den wirklich im Sinne der Weltwirtschaft Denkenden wer­den Politiker zur Seite stehen können, die fruchtbar mit ihnen zusammenarbeiten.

Arbeitslosigkeit! Menschen können nicht Arbeit finden! Sie muß aber doch da sein. Denn die Menschen sind da. Und es kann im gesunden sozialen Organismus die Arbeit, die nicht getan werden kann, nicht eine überflüssige sein, sondern sie muß irgendwo fehlen. Soviel Arbeitslosigkeit, soviel Mangel. Das spricht aber deutlich dafür, daß Arbeitslosigkeit nur in der allgemeinen Gesundung der wirtschaftlichen Institutionen ihr Gegengewicht finden kann.

Das chaotische Zusammenwirken von Politik, Geistesleben und Wirtschaft untergräbt diese Gesundung. Es erzeugt staats­männische Träume, wie ein chaotisches Zusammenwirken der organischen Funktionen im Menschen bedenkliche Träume erzeugt. Es wäre an der Zeit, einmal im öffentlichen Leben der Völker Träume von wahren Wirklichkeiten unterscheiden zu lernen. Denn unwirksam sind auch Träume nicht. Wenn sie nämlich in ihrem Traumcharakter nicht durchschaut werden, dann erzeugen sie falsche Wirklichkeiten. Der Weltkrieg ist ja doch die Folge davon gewesen, daß viele Leute in dem Träu­men sich zu wohl befunden haben, um die wahre Wirklichkeit nicht zu verschlafen.

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GEFÜHLE BEIM LESEN DES DRITTEN BISMARCK-BANDES

Der dritte Band von Bismarcks Gedanken und Erinnerungen trägt auf dem Titelblatt die Widmung: «Den Söhnen und En­keln zum Verständnis der Vergangenheit und zur Lehre für die Zukunft.» - Wer den Band durchgelesen hat, ohne Parteivor­urteile, aber mit Anteilnahme an den Schicksalen der Mensch­heit, der Völker und ihrer Entwickelung, der kann nur erschüt­tert zu dieser «Widmung » zurückblicken. Bismarck spricht zum Verständnis der Vergangenheit. Einer Vergangenheit, in der sein Wort die wirlllichkeitsbestimmende Kraft hatte. Was er darüber sagt, ist so, wie wenn die Tatsachen selber sprechen würden. Und wie dieses tatsachenzeugende Wort in die un­mittelbare Zukunft hihüberwirkte, das steht auf Seite i 1 5 des Buches: «Wie genau, ich möchte sagen subaltern Caprivi die ,Consigne' befolgte, zeigte sich darin, daß er über den Stand der Staatsgeschäfte, die zu übernehmen er im Begriffe stand, über die bisherigen Ziele und Absichten der Reichsregierung und die Mittel zu deren Durchführung keine Art von Frage und Erkundigung an mich gerichtet hat.» Die «Lehre für die Zukunft», die Bismarck hätte geben können, wurde nicht ein-mal gesucht von dem Manne, der in seine Stelle einrückte.

Ein bedeutungsvolles Symptom für die geschichtliche Ent­wickelung Mitteleuropas ist durch Bismarcks Aussage gege­ben. Seine Entlassung steht in der Tat an einem Wendepunkte der neuesten Geschichte. Bei dieser Entlassung tauchen die beiden Faktoren auf, die zwar lange bestimmend für die Ge­schicke Europas gewirkt haben, die aber zu dieser Zeit gewis­sermaßen geschichtlich aktuell geworden sind. Es sind dies die soziale Frage und die Auseinandersetzung mit dem Osten. Die soziale Frage mußte in die praktisch-politischen Erwägungen aufgenommen werden. Sie hatte die Zeit hinter sich, in der man sie nur in gewissen Grenzen als die Trägerin der Kritik unzufriedener Menschenmassen halten konnte. Man mag über Revolutionen sonst denken, wie man will: jeder Unbefangene

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sollte sich klar darüber sein, daß jedenfalls die soziale Frage auf revolutionärem Wege niemals eine Antwort ßnden kann. Wenn irgendwo, so ist hier ruhige Vernunft durch die Sache selbst gefordert. Und eigentlich wird das erste in bezug auf diese Frage sein, wie man auf ihrem Gebiete zu dieser «ruhigen Vernunft» praktisch kommt. An dieser «Vorfrage» krankt die europäische Entwickelung der letzten drei Jahrzehnte. Bei Bis­marcks Entlassung entlädt sie sich wie in einem bedenklichen Wetterleuchten. Von diesem Wetterleuchten heben sich laut sprechend ab die Worte auf Seite 116 des dritten Bandes: «Die Gründe, welche Se. Majestät bestimmt haben, mich zu entlas­sen... sind mir amtlich oder aus dem Munde Se. Majestät nie­mals bekannt geworden, ... ich habe sie mir nur durch Con­jectur zurechtlegen können Ich habe den Eindruck gehabt, daß der Kaiser mein Erscheinen in Berlin vor und nach Neujahr 1890 nicht wünschte, weil er wußte, daß ich mich meiner Überzeugung nach über die Sozialdemokratie im Reichstage nicht im Sinne derjenigen aussprechen würde, die inzwischen die seinige geworden war...»

Man steht heute in ganz Europa noch an dem Punkte, an dem man damals gestanden hat, als Bismarck wegen desjeni­gen, was er gesagt haben würde, nicht in Berlin erscheinen sollte.

Der andere Faktor, der bei Bismarcks Entlassung wirkte, ist die Frage des Ostens. Man wird sagen müssen, die Frage: wie soll Europa sich verhalten, wenn die Kräfte der östlichen Volkstümer gestaltend in seine Angelegenheiten hereinwir­ken? Bismarck hat zu dem Dreibund ein politisches Verhältnis zu Rußland hinzugefügt, von dem er sich versprach, daß es zu­sammen mit dem Dreibund die Staatenbildungen Europas, wie sie unter seiner Mitwirkung entstanden sind, erhalten könne. Gegen ein solches Verhältnis sprechen die slavischen Aspira­tionen. Der scharfe Gegensatz zwischen dem Westen und dem Osten der Welt spricht in ein solches Verhältnis hinein. Auch Bismarck konnte bei dem, was er in dieser Richtung tat, nur an ein Provisorium denken. Aber er konnte glauben, daß in der

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Zeit, in welcher dies Provisorium vorhanden ist, sich Dinge ergeben werden, welche die große Völkerfrage des Ostens auf eine andere Grundlage stellen werden, als die ist, auf der sie 1890 stand. Daß diejenigen, die ihn entmachten konnten, nicht so die Verhälmisse ansahen wie er, das wirkte zu seiner Entlas­sung mit.

Und auch in bezug auf die Osifrage steht Europa heute noch an dem Punkte, an dem die gestanden haben, die Bismarcks russische Politik verlassen haben. Die Ostfrage ist letzten En­des eine Frage der geistigen Verständigung; und alles andere ist Provisorium.

Auch für diejenigen, welche nicht glauben, daß Bismarcks Anschauungen sich von der Vergangenheit vor 1890 in die Zu­kunft eine entscheidende Kraft herübergerettet hatten, ist doch der dritte Band seiner Erinnerungen eine «Lehre für die Zu­kunft». Und heute in ganz besonderem Sinne. Denn die «Zu­kunft», von der Bismarck spricht, ist heute zum Teil grau sige Vergangenheit, zum Teil aufgaben-reiche Gegenwart. Man liest heute wohl die dramatische Schilderung dieses Buches nur richtig, wenn man das Gefühl im Leben erhält, daß in Bis­marcks Sturz ein Symptom sich ausspricht für das Heraufkom­men großer entwicklungsgeschichtlicher Fragen der Mensch­heit, und daß die Unfruchtbarkeit der letzten dreißig Jahre in Behandlung dieser Fragen die Fortsetzung der «Lehre »ist, die aus diesem Sturze spricht. Aus den Gefühlen taucht das Ver­ständnis für Ideen auf; aus dem Gefühl, das der dritte Band von Bismarcks Gedanken und Erinnerungen weckt, könnte für wichtige Ideen Verständnis aufblitzen.

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DAS VERGESSEN DES GEISTESLEBENS IN DEN WELTFRAGEN

Es wird berichtet, daß sich in dem nächstens erscheinenden Bande von Bethmann-Hollwegs nachgelassenen «Betrach­tungen zum Weltkriege» der Satz findet: «Mit einem euro­päischen Chaos hebt das Zeitalter der Freiheit und Gerechtig­keit an, das unsere Gegner der Welt verheißen haben.» Es hat erst des Weltkrieges bedurft, um Persönlichkeiten, die durch ihre Stellung im öffentlichen Leben Europas einen so großen Einfluß hätten haben können wie Bethmann-Hollweg, in eine Gedankenrichtung zu bringen, wie sie in diesem Satze ange­deutet ist. Als er diesen Satz schrieb, war Bethmann-Hollweg längst ein Entmachteter.

Die Verhältnisse im europäischen Völkerleben sind nicht erst aus dem Weltkriege geboren. Sie waren vor ihm da. Sie haben ihn verursacht. Sie haben durch ihn nur die Möglich­keit erlangt, sich auszuleben.

Die führenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens waren nicht in der Lage, die furchtbare Katastrophe zu ver­hindern, weil sie die im Völkerleben vorhandenen Kräfte nicht sehen wollten. Sie stellten ihr Denken auf die äußeren Machtverhältnisse ab; und das wirkliche Leben wurzelte in den Seelenverhältnissen der Völker.

Ein Lichtpunkt in dem Chaos kann sich nicht eher ergeben, als die Einsicht reifen wird, daß ohne Verständnis des Völ­kerseelenlebens die öffentlichen Angelegenheiten nicht in ei­nen gesunden Verlauf zu bringen sind.

Nach dem Fernen Osten, nach Japan, sind heute die Blicke derjenigen gerichtet, die an die Washingtoner Konferenz den­ken. Aber wieder sind diese Blicke nur durch die äußeren Machtmittel gebannt. Was man gegenüber Japan tun soll, um in China und Sibirien westliche Interessen wirtschaftlicher Art in befriedigender Art vertreten zu können, das fragt man.

Das muß man allerdings fragen. Denn diese wirtschaftli­chen Interessen sind vorhanden, und das Leben des Westens

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kann nicht weitergehen, wenn sie nicht befriedigt werden können. Aber man nehme an, sie werden in irgendeine Bahn nur durch diejenigen Mittel gelenkt, an die man heute denkt. Was muß geschehen?

Japan ist gegenwärtig in einer gewissen Beziehung der vor­geschobenste Posten des asiatischen Lebens. Es hat am mei­sten äußerlich europäische Formen in diesem Leben angenom­men. Man kann es dadurch durch Bündnisse, Verträge und so weiter politisch so behandeln, wie man das im Westen ge­wohnt geworden ist. Aber in bezug auf die Volksseelenver­fassung bleibt es doch mit dem asiatischen Gesamtleben ver­bunden.

Asien aber hat die Erbschaft eines alten Geisteslebens. Das geht ihm über alles. Dieses Geistesleben wird in mächtigen Flammen auflodern, wenn vom Westen her solche Verhält­nisse geschaffen werden, die es nicht befriedigen können. Man glaubt aber im Westen aus bloß wirtschaftlichen Gründen her­aus diese Verhältnisse ordnen zu können. Man wird damit die Ausgangspunkte schaffen für noch furchtbarere Katastro­phen, als der europäische Krieg eine war.

Die heute die Welt umspannenden öffentlichen Angelegen­heiten dürften nicht ohne den Einschlag geistiger Impulse ge­führt werden. Die Völker Asiens werden auf den Westen ver­ständnisvoll eingehen, wenn dieser ihnen Ideen bringen kann, die einen allgemein-menschlichen Charakter tragen. Die da­von sprechen, was der Mensch im Weltzusammenhange ist, und wie das Leben in Gemäfiheit dieses Weltenzusammen­hanges sozial eingerichtet werden sollte. Wenn man im Osten vernehmen wird, daß der Westen über Dinge etwas Neues weiß, von denen die alten Überlieferungen Kunde geben, für die aber ein dunkles Gefühl nach einer Erneuerung strebt, dann wird man zu einem verständnisvollen Zusammenleben kommen. Wenn man aber das öffentliche Wirken mit sol­chem Einschlag weiter als die phantastische Idee unprakti­scher Leute betrachtet, dann wird zuletzt der Osten gegen deti Westen Krieg führen, trotzdem man in Washington sich darüber

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unterhält, wie schön es in der Welt wäre, wenn abgerü­stet würde.

Der Westen möchte Weltenruhe haben, um zu seinen wirt­schaftlichen Zielen zu gelangen. Der Osten wird sich in wirt­schaftliche Ziele nur hineinfinden, wenn der Westen ihm gei­stig Wertvolles zu übermitteln hat.Die Ordnung der großen Weltfragen hängt heute daran, ob man in der Lage ist, das Geistesleben in das rechte Verhältnis zum wirtschaftlichen zu bringen.

Man wird das nicht können, solange in unseren sozialen Organismen das geistige Leben nicht auf seine eigene freie Grundlage gestellt wird. Der Westen hat die Möglichkeit ei­ner lebendigen geistigen Entwicklung. Er kann aus dem Schatze, den er angehäuft hat, durch seine naturwissenschaft­liche und technische Denkart, eine geistgemäße Weltanschau­ung herausholen. Aber bisher ist aus diesem Schatze nur das herausgehoben worden, was zu einer mechanistisch-materiali­stischen Anschauungsweise führt. Das öffentliche Denken ordnete das Geistige dem Wirtschaftlichen im sozialöffentli­chen Leben ein. Die freie Entfaltung des Geistes, die innerlich stark im Westen veranlagt ist, war gehindert, weil die Verwal­tung der geistigen Angelegenheiten mit den anderen Faktoren des sozialen Lebens verquickt ist. Einzelne Menschen mit hö­heren seelischen Interessen verhalten sich zum Osten so, daß sie dessen altes Geisteserbe übernehmen und es in äußerlicher Weise auf das geistige Leben des Westens aufpfropfen. Das «Licht aus Osten » ist unter solchen Voraussetzungen nicht nur ein Armutszeugnis für den Westen. Es ist eine furchtbare Anklage. Es bedeutet, daß der Westen von den finsteren Inter­essen sich so hingenommen fühlt, daß er das eigene Licht nicht sieht.

Von der Hebung der geistigen Werte im Westen hängt es ab, ob die Menschheit das Chaos von heute bemeistert, oder ob sie hilflos in demselben weiter irren muß. Solange man das Wollen mit diesem Grundton als das utopistisch-mystische Schwärmen unpraktischer Leute ansieht, wird das Chaos wei­tergehen.

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Man wird von Frieden sprechen; aber außerstande sern, die Kriegsursachen zu bannen. Man wird genötigt sein, über das Schicksal Europas zu beben, wenn, wie in diesen Tagen, eine einzelne Persönlichkeit, die ehedem in Macht saß, zu einer solchen Macht wieder gelangen will. Aber man wird schon daran denken müssen, daß Verhältnisse ungesund sind, in denen solches Beben überhaupt möglich ist. -

DIE FALSCHE UND DIE WAHRE DREIGLIEDERUNG DES SOZIALEN ORGANISMUS

Die Wirrnisse in den ökonomischen Zuständen Mittel- und Osteuropas beginnen den führenden Kreisen der westlichen Länder eine Art politischen Alpdrückens zu machen. Man fürchtet in den allgemeinen Verfall mithineingezogen zu wer­den. Wer unbefangen diese Furcht ins Auge fassen kann, der sieht aus ihr die Ratlosigkeit in der Führung der öffentlichen Angelegenheiten herausblicken.

Die Ratlosigkeit wurzelt in dem Mangel an Willen, unter die Oberfläche der Vorgänge des öffentlichen Lebens zu schauen. Man scheut davor zurück. Denn man ahnt, daß man mit einem solchen Schauen auf Dinge kommt, die nicht mit den Mitteln zu bewältigen sind, an die man sich gewöhnt hat. Man veranstaltet Kongresse und Konferenzen: man findet es vorläufig selbstverständlich, auch dabei nur an diese gewohn­ten Mittel zu denken.

Aber diese werden in allen Fällen versagen müssen, denn sie treffen nicht die Kräfte, die in den Tiefen des Völkerlebens walten. Und in diesen Tiefen formen sich heute die Fragen, welche die Welt beunruhigen. Aus der Erkenntnis dessen müßte gehandelt werden, was in diesen Tiefen nach einem Wandel in Lebensauffassung und Lebenshaltung schreit.

Die Menschheit hat sich in ihrer Anschauung der Weltvor-gänge aus dem wirklichen Leben herausgerissen. Sie träumt selbst in den praktischesten Fragen des Lebens von Zielen,

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die vor dem Verlauf der Wirklichkeit zerflattem müssen. Wa­ches Beobachten dieser Wirklichkeit kann allein zur Gesun­dung führen.

Alles politische und ökonomische Leben wurzelt zuletzt in dem geistigen. Wie die Menschen denken, so handeln sie. Aber in das Handeln können gesunde Kräfte nur einfließen, wenn das geistige Leben seine gesunde Nahrung hat. Diese Nahrung geht verloren, wenn der Geist sich selbst verleugnet. Wenn er in seinen Offenbarungen nicht sich, sondern die Geistlosigkeit zum Ausdrucke bringt.

In diesen Zustand ist die Menschheit der neuesten Zeit ge­worfen worden. Man hat sich gewöhnt, für den Geist nicht aus dem Geiste selber zu schöpfen, sondern durch den Geist nur das Geistlose, die Materialität des Lebens auszudrücken. Wer aber die Wahrheit auf diesem Wege sucht, dem geht sie zuletzt ganz verloren. Denn die Wahrheit will aus dem Geiste heraus auch dann gestaltet sein, wenn sie die materiellen Vor­gänge des Lebens in ihren Bereich zieht.

Ein Wahrheitsuchen, das nicht aus dem Geiste selbst seine Säfte ziehen kann, kommt aus innerer Notwendigkeit bei der Phrase an. Und die Phrase ist heute das Kennzeichen des öf­fentlichen Lebens. Die Parteien prägen die Phrasen. Sie agi­tieren mit den Phrasen; sie finden Glauben mit den Phrasen.

Der Phrase fehlt das Herzblut des Geistes. Sie wird deshalb nie die Wirklichkeit des Lebens durchpulsen können. Aber sie betäubt. Sie zieht die Menschenseelen in ihren Bann. Diese glauben, durch sie könnten sie das öffentliche Leben meistern. Man wird aber nicht eher zu einer Gesundung kommen, als bis eine genügend große Anzahl von Menschen die Phrase in ihrer Lebensunfruchtbarkeit erkannt haben. Bis dahin wird man die Wurzeln der gegenwärtigen Völkerkrankheiten nicht einmal sehen können. Man wird die Wirklichkeit in die Valu­tawirrnis segeln sehen; aber man wird von der «Verbesserung der Zustände » in Parteiphrasen sprechen.

Und wenn die Phrase die Herrin des geistigen Lebens wird, dann läßt sie auch die Wahrheit nicht aufkommen, die im po­litisch-rechtlichen

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Leben walten sollte. Das Verhalten der Menschen zu einander kann die Rechtsgestalt nicht anneh­men. Denn das Recht muß in dem Gefühle sich einwurzeln. Die Phrase aber läßt das Gefühl verdorren. Das Recht wird zur Konvention. Diese ist auf rechtlich-politischem Gebiete die Genossin der auf geistigem sich auslebenden Phrase.

Die Konvention kann in toten Gesetzen und Verwaltungs-maßnahmen ihr lebensfremdes Dasein fristen; das wirkliche Leben braucht im Sozialen das in den Seelen wurzelnde Recht, wie das geistige Leben den Geist nötig hat, und unter der Ge­walt der Phrase verkümmert.

Im wirtschaftlichen Leben entwickelt sich unter dem Ein­flusse von Phrase und Konvention an Stelle einer wirklichen Praxis die Routine. Und diese Routine beherrscht heute tat­sächlich die ökonomische Seite des Daseins. Das wirtschaftli­che Leben entfaltet sich nicht im Zusammenklang mit den an­dern Bedürfnissen der menschlichen Lebenshaltung. Es ist allmählich zu einem Element des Daseins geworden, dem sich der Mensch widmet, weil er eben leben muß, das er aber nicht in das Ganze der Lebensentwicklung einbezieht. Wenn das geistige und das rechtliche Leben in ihrer Wahrheit die Ge­sinnung formen, dann entsteht auf ökonomischem Gebiet die echte Lebenspraxis. Wenn aber die Handhabung des rein Ma­teriell-Technischen im Wirtschaftsleben herrscht, dann ent­steht die blutlose, herzlose Routine. Wie ein automatischer Mechanismus rollen die Vorgänge des ökonomischen Lebens unter der Macht der Routine ab. Sie ziehen das Menschenle­ben selbst in ihren Kreislauf

Unter dieser Macht der Routine im wirtschaftlichen Leben seufzt die heutige Menschheit. Durch sie verödet das echte Rechtsgefühl; durch sie entsteht die Gleichgiltigkeit gegen das Geistige und die Neigung zum Berauschen an der Phrase. Denn im Leben bringt die Ursache nicht nur die Wirkung her­vor, sondern das Bewirkte wirkt wieder zurück auf das Ver­ursachende. Phrase und Konvention drängen zur Routine; die Routine läßt die Phrase groß werden, und verkümmert das

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warmherzige menschliche Zusammenleben im befruchtenden Rechtsgefühle zur herzlosen, lebenlähmenden Konvention.

Eine Dreiteilung der sozialen Organismen ist unter der Gewalt des modernen Lebens entstanden, die in Phrase, Kon­vention und Routine sich auslebt. Die «Dreigliederung des sozialen Organismus» möchte diese Dreiteilung überwinden. Ihr wirft man vor, daß sie, was soziale Einheit ist, zerteilen wolle. Das Gegenteil will sie wirklich. Sie will es, weil sie glaubt, die Erkenntnis zu haben davon, daß unter jenem Ein­heitsstreben, das man ihr entgegenhält, die Dreiteilung des sozialen Lebens in Phrase, Konvention und Routine sich bil­det. Dieser Dreiteilung kann nur abgeholfen werden durch das gesunde Zusammenwirken der drei Glieder des sozialen Organismus. Die Phrase muß durch die Impulse eines freien Geisteslebens sich in ihrer Wirklichkeitsfremdheit, die Kon­vention durch die Gesundung des Rechtsgefühles sich in ih­rer Lebens kälte; die Routine durch ihre Mechanisierung des Daseins in ihrer Unfruchtbarkeit erkennen. Lebensfähig ist das Dasein nur durch Wahrheit im Geiste, Recht im Zusam­menleben der Menschen, und echte Praxis im wirtschaftlichen Wirken. Wie der ganze Organismus des einzelnen Menschen leidet, wenn einem Gliede die diesem ureigenen Lebensbedin­gungen vorenthalten werden, so kann der soziale Organis­mus nicht gedeihen, wenn das geistige Leben in Phrase ver­ödet, das rechtliche in Konvention erstirbt und das wirt­schaftliche in der Routine sich mechanisiert. Wenn solches auch schon in dem berühmten alten römischen Gleichnis aus­gedrückt ist: die Menschheit leidet ganz besonders heute dar­unter, daß ihre Führer dagegen sündigen. Es ist eben auch dieses Gleichnis zur Phrase geworden.

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WAS MAN HEUTE SEHEN MÜSSTE

Man kann jetzt schon deutlich sehen, daß sich die Zahl der Men­schen vergrößert, die von der Konferenz in Washington für eine Aufbesserung der Weltverhältnisse nicht viel erwarten. Nicht im gleichen Maße aber ist zu bemerken, daß sich Ansichten darüber bildeten, welches die Gründe der Enttäuschung sind.

Es steht auf dieser Konferenz die Weltwirtschaft zur Dis­kussion. Alle anderen Fragen werden da von dem Gesichts­punkt aus aufgerollt, der durch diese Tatsache gegeben ist. Wenn dies auch für manches weniger durchsichtig ist, für den Unbefangenen kann kein Zweifel darüber sein. In Artikeln, die in dieser Wochenschrift erschienen sind, ist darüber ge­sprochen worden.

Im Weltgeschehen aber stehen andere Fragen zur Diskus­sion als auf dieser Konferenz. Und diese Fragen müssen erst durchschaut werden, wenn man über die heute offen aufge­worfenen in fruchtbarer Art reden will.

Das Wirtschaften ist eben doch nur dann zu ordnen, wenn die Menschen sich über ihre rein-menschlichen Beziehungen verständigen können. Und diese Verständigung ist ins Wan­ken gekommen und hat die Wirtschaft mitgerissen. Wilson hat das gefühlt. Deshalb hat er seinen berühmten vierzehn Punkten eine ethisch-idealistische Einkleidung gegeben. Al­lein der innere Gehalt dieser Punkte war abstrakt und wirk­lichkeitsfremd. Sie waren Gedankenschatten, die in das wilde Gewoge realer Leidenschaften und gegeneinander wirkender Lebensinteressen geworfen waren.

Es kommt eben darauf an, zu sehen, aus welchen Untergrün­den dieses Gewoge an die Oberfläche treibt. Und jeder Ver­such, in dieser Richtung klar zu sehen, muß dazu führen, an­zuerkennen, wie in unserer Zeit gar nicht gefragt werden kann: wie läßt sich unter den gegebenen öffentlichen Verhält­nissen wirtschaften; sondern, wie soll man die allgemein-menschlichen Grundfragen öffentlich behandeln, um zu einer möglichen Verständigung zu kommen?

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Man muß heute sehen, wie das kompliziert gewordene Le­ben die drei Ur-Teile alles Menschendaseins: das Wirtschaf­ten, die politisch-rechtliche Verständigung und die Pflege des geistigen Lebens dahin geführt hat, daß sie miteinander im Streite stehen. Wo irgendein Wirtschaftsplan ersonnen oder ausgeführt wird, da scheitert er an den politisch-rechtlichen Empfindungen oder den geistigen Interessen derer, die von ihm betroffen werden. Wo politische Entscheidungen getrof­fen werden, prallen sie auf wirtschaftliche Unmöglichkeiten und seelische Verstimmungen au£

Die Harmonisierung der wirtschaftlichen, politisch-recht­lichen und der geistigen Lebensbedingungen der Völker: das ist die brennende Weltfrage geworden. Und zu dieser Harmo­nisierung kann kein über die Menschenköpfe hinwegwehen­der Konferenzbeschluß etwas beitragen, wenn er nicht an die Grundfrage selbst rührt: In welchen sozialen Zusammenhän­gen müssen die Menschen stehen, damit, was sie auf einem dieser drei Gebiete anstreben, mit den beiden andern verträg­lich ist?

Das kann nicht geschehen, wenn die drei Gebiete nicht ihre relative Selbständigkeit in dem sozialen Leben erhalten. Es ist eben nicht richtig im Leben, daß eine daseinsmögliche Einheit den Gliedern von vornherein aufgeprägt werden kann; diese kann sich nur aus dem selbständigen Entfalten der Glieder ge­stalten. Nicht durch einen abstrakten Einheitsgedanken oder Einheitswillen kann das Zusammenwirken erreicht werden, sondern allein durch den Impuls der einheitlichen Menschen-natur, die in jedem einzelnen Gliede sich frei entfalten kann.

Wie kann es dahin gebracht werden, daß, wenn Wirtschaft­liches entschieden werden soll, nur die im Wirtschaftsleben Stehenden zur Entscheidung aufgerufen werden? Aber so, daß diese Persönlichkeiten aus ihren Lebenskreisen eine poli­tisch-rechtliche und geistige Seelenverfas sung mitbringen, die ihre Entscheidungen sachlich trägt, ohne daß sie zerstörend eingreift? Und für die anderen Lebensgebiete muß ein Glei­ches gelten.

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Man sieht ein Denken in dieser Richtung als utopisch an. Aber sieht man denn nicht, wie Urteile von Menschen, die den Vorwurf des Utopischen weit von sich weisen, sich in dem Augenblick heute als Utopie erweisen, in dem sie in das wirk­liche Leben eintreten sollen? Hatten denn die Konferenzen der Gegenwart nicht einen durchaus utopischen Charakter?

Man wird erst sehen, wie fest man heute in der Wirklich­keit des Lebens steht, wenn man die angedeuteten Fragen erst einmal im öffentlichen Leben sachgemäß aufwirft. Man wird bemerken, daß man damit überall an die Wirklichkeit dessen stößt, was in den unausgesprochenen Sehnsuchten der Völker und Menschen liegt. Wenn das noch nicht sichtbar wird, so liegt es lediglich daran, daß der Hinweis darauf heute über­tönt wird von den Stimmen derjenigen, welche die Augen verschließen vor den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und der nächsten Zukunft.

Man kann nicht über das Sekundäre fruchtbar verhandeln, wenn man das Primäre nicht sehen will. Für jede Konferenz in öffentlichen Lebensangelegenheiten ist aber das Angedeu­tete das Primäre.

Es wird viel geredet davon, daß die Gesundung der Mensch­heit von der moralischen Seite her kommen müsse. Daran kann kein Zweifel sein. Wenn aber jemand mit dem Pfluge den Acker bearbeiten soll, dann hifft es ihm nichts, wenn ich ihm sage: Tue das auf moralische Art. Ich muß ihm die Kunst des Ackerns vermitteln. Aber der Gesamtlebenszusammen­hang erfordert allerdings, daß an den Pflügen moralische. Menschen stehen. Das Wirtschaftsleben kann nicht mit ab­strakten Ideen durchmoralisiert werden; aber es wird eine moralische Gestalt annehmen, wenn es in Zusammenhang steht mit einem frei aus sich wirkenden Geistesleben und ei­ner dem Menschen-Empfinden entsprechenden politisch-rechtlichen Gestaltung, die sich auf ihrem eigenen Boden re­lativ selbständig entwickeln.

Auf einfacher, schlichter Lebensbetrachtung ruht die An­schauung von der Dreigliederung des sozialen Organismus.

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Und viele sehen diese Einfachheit nicht, weil sie von der Kompliziertheit des modernen Lebens betäubt sind und in der Betäubung sich lieber mit Phrasen abfinden, die im Sekundä­ren plätschern, statt zu dem Einfachen vorzudringen, das an das Primäre rührt.

DER ÖSTERREICHISCHE GENERALSTABSCHEF, CONRAD, INNERHALB DER WELTKATASTROPHE

«Nur nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung bei tausend­fältigen Kausalbeziehungen rollen die Geschicke der Mensch­heit dahin, - was zählt ein Einzelner in diesem elementaren Wirken an letzten Quellen unfaßbarer Gewalten! » Dieser Satz steht im Eingange des Buches, in dem der österreichische Feld­marschall Conrad von Hötzendorf sein Wirken vor und während der Kriegskatastrophe schildert. Es liegt der erste Band dieses Buches bereits vor. (Feldmarschall Conrad: Aus meiner Dienstzeit 1906-1918. Erster Band: Die Zeit der Annexions­krise 1906-1909. Rikola Verlag Wien, Berlin, Leipzig, Mün­chen 1921.) - Man liest in diesem Satze das Bekenntnis des Mannes, der 1906 zum Generalstabschef der österreichisch­ungarischen Armee ernannt worden ist, und der als solcher bis zu seiner Enthebung im Juli 1918 im Mittelpunkte der öster­reichischen Kriegsführung stand.

Wer das Buch liest, findet fast auf jeder Seite unausgespro­chen dieses Bekenntnis der in den Kriegsjahren für Österreich-Ungarn wichtigsten Persönlichkeit. Und man kann sogar den Eindruck bekommen, in diesem Bekenntnis drückt sich eine außerordentlich bedeutsame Tatsache innerhalb des Kriegs-verlaufes aus. Conrad ist zweifellos eine geniale Persönlichkeit in seiner Art. Man erkennt das aus dem Buche. Mit sicherem Blicke durchschaut er von seinem militärischen Gesichts­punkte die drohenden Gefahren für den Bestand seines Lan­des; mit Sicherheit des Wollens will er gegen sie ankämpfen als Verwalter des militärischen Apparates. Aber die ganze Schil­derung,

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die Conrad gibt, ist eigentlich nur ein Beweis dafür, daß ihm auf seinem militärischen Posten der sichere Blick und die Sicherheit des Wollens nichts helfen. Conrad meint, um den drohenden Gefahren zu begegnen, braucht Österreich eine Vergrößerung seiner Wehrmacht; der Kriegsminister verhilft ihm nicht zu dieser Vergrößerung; Conrad hat die Stellung Österreichs innerhalb der europäischen Politik im Auge und die Kräfte, welche sich aus den Nationalitäten heraus zur Auf­lösung des Staatsgebildes geltend machen; er hält eine ganz bestimmte auswärtige Politik für notwendig, wenn das Heer, an dessen Spitze er steht, dieser Stellung eine Festigkeit geben, dieser Auflösung vorbeugen soll: der Außenminister macht eine ganz andere Politik, die Conrad für schädlich hält.

Und so fühlt sich der Mann, der diejenige Macht in seinen Händen hält, die er für die einzige sichere Grundlage für den Bestand Österreichs hält, absolut machtlos. Dieses Gefühl strömt durch das ganze Buch. Es wirft Gedankenwellen an die Oberfläche der Darstellung, die charakteristisch sind für einen Mann, den die Welt einen solchen der Tat nennt. «Es ist nicht zutreffend, zu behaupten, daß die Geschichte die Lehr­meisterin der Menschheit sei; die Menschen im Großen ge­nommen lernen aus ihr nichts, sonst begingen sie nicht seit Jahrtausenden immer wieder dieselben Irrtümer. So wenig Kinder sich die Erfahrungen und Lehren ihrer Eltern zunutze machen, so wenig tun dies neue Generationen gegenüber den alten ...»

Was hätte Conrad getan, wenn er als Militär auch die politi­sche Macht gehabt hätte? Er empfindet sich als Einer, der vor­ausgesehen hat, Österreich werde einen Krieg furchtbarer Art führen müssen, wenn es werde weiter bestehen wollen. Er weist Andere, seitdem er aufseinem wichtigen Platze steht, un­aufhörlich auf diese seine Überzeugung hin. Er glaubt, daß die Aussichten für einen solchen Krieg immer schlimmer werden, je später er erfolgen wird. Er möchte für frühere Zeitpunkte die Bedingungen des Krieges herbeiführen. Er hat darüber ganz bestimmte Ansichten. Seite 4' des Buches drückt er diese

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so aus: «Die österreichisch-ungarische Monarchie hat weder Mittel noch Kräfte, um gegen alle Kriegsfälle gleichmäßig gut vorbereitet zu sein. Ihre Vorbereitungen müssen sich daher auf bestimmte Kriegsfälle konzentrieren; es muß darum festgestellt werden, welches diese Kriegsfälle sind, und zwar rechtzeitig, da, insbesondere wegen des langsamen Zufließens der finan­ziellen Mittel - nur in kleinen Raten - Jahre für die Vorberei­tung vergehen müßten - endlich aber, und das ist das Wesent­lichste: die Monarchie hat überhaupt nicht die Kräfte, um ge­gen alle in Betracht kommenden Feinde gleichzeitig in den Kampf zu treten. Ihre Politik muß daher derart geführt wer­den, daß es niemals zu einem vielfachen Zusammenstoß kom­me, sondern mit ihren aggressiven, unvermeidlichen, auf den Kampf gegen sie hinarbeitenden Gegnern nacheinander, einzeln abgerechnet werde.» Eine in diesem Sinne gehaltene Politik will Conrad, seit er Generalstabschef ist. Er hat stets darüber zu klagen, daß der Außenminister kein Verständnis für eine solche Politik entwickelt. Er ist der Meinung, dessen von ihm für schädlich gehaltene Politik bringe zuletzt diejenige Kriegs-form zustande, die er vermeiden will, und in der er notwendig als Führer der Heeresmacht unterliegen müsse. Durch den Verlauf des Weltkrieges sieht Conrad bestätigt, was er jahre­lang vorhergesagt hat.

Von diesem Gesichtspunkte aus gibt Conrad Schilderungen der allgemeinen Lage Österreich-Ungarns, die durchsichtig klar die Zerfallsmomente der Monarchie vor Augen führen; von eben diesem Gesichtspunkte stellt er die Annexion Bos­niens und der Herzegowina dar in einer außerordentlich stark dramatischen Art. Er führt die Gestaltung des österreichisch­ungarischen Heerwesens vor, so daß man immer sieht, in welch trostloser Lage er sich fühlt.

Ein Stück Weltgeschichte, das eindringlich spricht, ein Stück Biographie, das menschlich ergreifend wirkt, ziehen an dem Leser vorüber. Man sieht tief hinein in die Gesamtverwal­tung der österreichisch-ungarischen Monarchie. Man lernt die Persönlichkeiten kennen, die glauben ihrem Lande gut zu dienen,

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und die doch alle gegeneinander und alle so arbeiten, daß sie zur Auflösung das Möglichste beitragen.

Wer das Buch durchliest, lernt durch die prägnante, an­schauliche Art Conrads ein gut Teil von dem kennen, was zu kennen nötig ist, um das Schicksal der europäischen Mensch­heit in der Gegenwart zu verstehen. Und hat man das Buch zu Ende gelesen, dann blättert man nachdenklich zurück zu den ersten Seiten; man fühlt wohl noch einmal die Notwendigkeit, einen Blick auf das Seelenleben eines der Männer zu werfen, die in den Geschicken Europas im zwanzigsten Jahrhundert füh­rend werden konnten. In Conrad steht ein Mann da, der ge­nialische Fähigkeiten hat. Und er verrät viel von seinen intim­sten Gedanken auf diesen ersten Seiten. «Auch der Gang des­sen, was wir historische Ereignisse nennen, ist jener, die ganze Natur beherrschende Umgestaltungsprozeß, der sich im unun­terbrochenen Werden und Vergehen ausspricht - in seiner äu­ßersten Ursache - nach unerforschlichen Gesetzen vollzieht.» -Der österreichische Feldherr mit der in dieser Wochenschrift öfter geschilderten, die echte Menschen-Erkenntnis ausschlie­ßenden Weltanschauung! «Nicht einzelne Männer machen ihre Zeit, - sondern diese schafft ihre Männer. Und jene Män­ner, die in großen Epochen zufällig an führenden Stellen ste­hen, wirken dort, indem sie den Antrieben gehorchen, die durch den großen Zug der Zeit bedingt sind», so schreibt Con­rad. Und für den Leser kann dessen Darstellung ausklingen in die Worte, die auf der ersten Seite stehen: «In späteren Jahren war ich zu einer Weltanschauung gelangt, die mich überhaupt alle irdischen Geschehnisse als schließlich nichtig erkennen ließ.»

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EIN BETRACHTER DER WELTKRISIS

In der Schrift «Die drei Krisen. Eine Untersuchung über den gegenwärtigen politischen Weitzustand», Stuttgart 1920, gibt J. J. Ruedorffer eine Darstellung des Weltgeschehens, wie sie nur eine Persönlichkeit zustande bringen kann, die sich einen Gesichtspunkt erobert hat, von dem aus eine sachgemäße Be­urteilung möglich ist. Der Verfasser steht mit seinen Ideen so innerhalb der Dinge, die sich abspielen, daß man seiner Schil­derung das jahrelange Verbundensein mit denselben auf jeder Seite ansieht. Er sagt in der Vorrede: «Die folgende Untersu­chung ist im Mai des Jahres (1920) als Nachwort zu einer wei­teren Neuauflage meiner ge­schrieben. Sie erscheint auf Wunsch des Verlags als Sonder­druck.»

Man liest die Schrift wie das Bekenntnis eines Mannes, der die Weltgeschichte frägt, was sie zu dem gegenwärtigen Welt-zustande zu sagen hat. Der ohne Parteivoreingenommenheit sich die so entstandene Frage beantworten möchte. Seine ein­führenden Worte sind aber ein Glaube an die Hoffnungslosig­keit. «Ohne Verständnis steht der Zeitgenosse vor dem Welt­geschehen. Was geht vor, aus welchen Ursachen und zu wel­chem Ende? War diese beste aller Welten doch bisher vernünf­tig und ist nun dem Irrsinn verfallen; Revolutionen folgen ein­ander und Völker wüten gegen sich selbst. Aber die Welt war weder bis vor kurzem vernünftig noch ist sie jetzt unvermittelt dem Wahnsinn verfallen. Ein Riß klafft seit Anbeginn. Es gibt Zeiten, die ihn mit allerlei Sträucherwerk verdecken, Men­schengeschlechter, die ihn sorglos entlang gehen oder wegse­hend leugnen wollen, und andere, die hineinzusehen gezwun­gen zurückschaudernd sich abwenden wollen und doch nicht können. Wir sind aus einem Zeitalter der ersten in ein Zeitalter der zweiten Art getreten.»

Drei Krisen des gegenwärtigen Zeitalters verzeichnet der Verfasser. Eine erste sieht er darin, daß die Staaten, besonders die europäischen, in eine Lage geraten sind, in der es ihnen un­möglich

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ist, ihre gegenseitigen Verhältnisse ohne Erschütterun­gen zu ordnen. Eine zweite liegt für ihn darin, daß die Führung des einzelnen Staates allmählich ihre Macht an die einander widerstrebenden Parteien verloren hat, so daß das Geschehen nicht von ihr, sondern von dem Mechanismus dessen abhängt, was aus dem Spiel der Parteikräfte zum Vorschein kommt. Als eine dritte Krise erscheint ihm die Summe der sozialen Stre­bungen, die, aus den Tiefen der Völker an die Oberfläche drin­gend, ohne Einsicht in das, was durch sie geschieht, die Mög­lichkeit des menschlichen Zusammenlebens zerstören, indem sie eine Besserung der bisherigen Lebensverhältnisse herbei­führen wollen.

Am Schlusse jedes der drei Kapitel, welche diese drei Krisen besprechen, steht, den Inhalt der Untersuchung zusammenfas­send, ein Bekenntnis der Hoffnungslosigkeit. Das erste schließt so: «Der europäische Zustand, vor dem Krieg unhaltbar, ist durch Krieg und Frieden noch hundertmal unhaltbarer gewor­den. Damals drohte ein großartiges aber gedankenloses Gedei­hen, eines Tages an der Labilität des europäischen Gleichge­wichts scheiternd, von einem Weltkriege verschlungen zu wer­den. Es war gemeinsames Interesse der europäischen Völker, diesen Weltkrieg zu vermeiden. Mangel an Einsicht in diese Gemeinsamkeit, Mangel an einer kalten, die gemeinsame Ge­fahr überschauenden und von Demagogen unabhängigen po­litischen Führung haben ihn ausbrechen lassen. Der Krieg ist vorbei: er hat jedes einzelne der Völker des europäischen Kon­tinents zerrüttet, die Gesamtheit bis aufs äußerste desorgani­siert. Die Völker Europas, einzeln oder zusammen, in dem ge­genwärtigen Zustand unfähig, auch nur zu leben, geschweige denn die Wunden des Krieges zu heilen, sind vor die Wahl ge­stellt, neue Wege zu finden und mit Entschiedenheit zu be­schreiten oder völlig unterzugehen.»

Zur zweiten Krise wird gesagt: «Diese Erkrankung des staatlichen Organismus entreißt der Vernunft die Führung, überantwortet die Entschließungen des Staats mannigfachen unsachlichen Nebeneinflüssen und Nebenrücksichten. Sie be­schränkt

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die Bewegungsfreiheit, zersplittert den staatlichen Willen und hat überdies zumeist noch eine gefährliche Labili­tät der Regierungen im Gefolge. Die Zeit des ungebärdigen Nationalismus vor dem Krieg, der Krieg selbst, der europä­ische Zustand nach dem Kriege haben ungeheure Anforderun­gen an die Vernunft der Staaten, ihre Ruhe und Bewegungs­fteiheit gestellt. Daß mit den Aufgaben das Vermögen nicht wuchs, sondern abnahm, hat die Katastrophe vollendet. . . . Wenn die Demokratie bestehen soll, muß sie ehrlich und mutig genug sein, zu sagen, was ist, auch wenn sie gegen sich selbst zu zeugen scheint. Europa steht vor dem Untergang.»

Im dritten Kapitel findet man das folgende: «Es ist ein Schauspiel von tiefer Tragik, wie jeder Versuch einer bessern­den Handlung, jedes Wort der Umkehr sich in den Netzen die­ses Verhängnisses fängt und, hundertfach umstrickt, schließ­lich wirkungslos zu Boden fällt; wie das europäische Bürger­tum, gedankenlos an dem Zeitirrtum des steten Fortschritts der Menschheit hangend oder die gewohnte Bahn jammernd wei­tertrottend, nicht sieht und sehen will, daß es von der aufgespei­cherten Arbeit früherer Jahre zehrt und kaum fähig ist, die Schäden der jetzigen Weltordnung zu erkennen, geschweige denn, aus sich heraus eine neue zu gebären; wie auf der anderen Seite die Arbeiterschaft, sich in nahezu allen Ländern radika­lisierend, von der Unhaltbarkeit des gegenwärtigen Zustands überzeugt, sich Heilbringer einer neuen Ordnung glaubt, in Wirklichkeit aber in diesem Glauben nur unbewußtes Werk­zeug der Zerstörung und des Untergangs, auch des eigenen, ist. Die neuen Parasiten der wirtschaftlichen Desorganisation, der klagende Reichtum von gestern, der zum Proletarier her-ab sinkende Kleinbürger, der gläubige Arbeiter, der eine neue Welt zu begründen wähnt, sie alle scheint dasselbe Verhängnis zu umschlingen, sie alle scheinen Erblindete, die ihre eigenen Gräber schaufeln.»

Man ginge nicht so schmerzvoll von diesem Bekenntnis hin-weg, wenn Stil und Haltung der Schrift einen literarischen Be­trachter verrieten, und nicht den «Praktiker», der nüchtern

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schreiben will, weil er sich in den Vorgängen drinnen stehend fühlt. Man hat, nach dem Lesen der drei Kapitel, die von dem Untergange sprechen, die bange Frage in der Seele: wie denkt der Verfasser einer solchen Darstellung über die Frage: was soll werden?

Man liest: «Nur eine Sinnesänderung der Welt, eine Wil­lensänderung der beteiligten Hauptmächte kann einen ober­sten Rat der europäischen Vernunft entstehen lassen.»

Kein Ausblick, wie diese Sinnesänderung, diese Willensän­derung entstehen soll. Auch nach einer solchen aufrüttelnden Einsicht in die Unmöglichkeit des Fortfahrens in den alten Ideen nicht der Mut, die Bedingungen zu suchen, von denen eine Gesundung der Verhältnisse abhängt. Sucht man sie, so kommt man zu dem, was in dieser Wochenschrift nun schon öfter ausgesprochen worden ist. Die soziale Organisation der Menschheit empfing stets ihre Nahrung von dem geistigen In­halte, der durch die Entwicklung dieser Menschheit geströmt ist. Ideen, welche die Geselischafts-Organisation tragen sollen, auch die wirtschaftliche, müssen aus dem Verbundensein der Seelen mit einer wirklichen geistigen Welt kommen. Sonst sind sie bloße Gedanken. Aber der Sinn für ein solches Ver­bundensein fehlt gerade solchen Persönhchkeiten, wie der Ver­fasser der «drei Krisen» eine ist. Er kann zu Gedanken kom­men über das, was seine Sinne wahrnehmen, was sein Verstand aus diesen Wahrnehmungen kombmieren kann. Der Rest ist -Schweigen. Denn nach dem Bekenntnis zur Negation käme das andere: die alten Ideen waren aus lebendiger Geistigkeit ge­schöpft; sie haben ihre Aufgaben erfüllt; man kann nicht wei­ter von den «aufgespeicherten»Ideen «früherer Jahre» zeh­ren; es müssen neue geboren werden. Dazu aber ist Verbun­densein mit der Geistwelt notwendig. - Aber zu solcher Fort­setzung des Bekenntnisses gehört der Mut, nicht nur von «Sin­nesänderung» und «Willensänderung» zu sprechen, sondern davon, daß die Abkehr von einem lebendigen Geist-Erleben zu der Unmöglichkeit geführt hat, wachend die Gründe für den drohenden Untergang zu erkennen, auch wenn man sie sieht.

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Ruedorffer sieht klar; aber er erkennt nicht. Nur die Tragkraft geistgemaßer Ideen, die Wärme in die Seelen strömen lassen, die den Menschen aufblicken lassen von der erdgebundenen Tagesarbeit zu seiner Weltbestimmung und zu seinem Welt­zusammenhange, wird ihm die Hand zu fruchtbarer Arbeit führen, wird ihm den Willen zur Menschenbruderschaft ge­ben. Man verachtet heute solches Reden über den Geist. Die Gesundung der Zivilisation wird nur kommen, wenn diese Verachtung aufhört. Man kann von der Dreigliederung des physischen Menschenorganismus in den Nerven-Sinnesorga­nismus, in den rhythmischen und den Stoffwechselgliedmaßen­Organismus sprechen. Man muß anerkennen, daß die beiden andern Organisationen verfallen, wenn der Stoffwechsel-Or­ganismus nicht reale Stoffe dem Gesamt-Organismus zuführt. Beim sozialen Organismus ist ein umgekehrtes Verhältnis vor­handen. Dieser gliedert sich in die wirtschaftliche, die recht­lich-staatliche und die geistige Organisation. Die beiden an­dern verfallen, wenn die geistige Organisation nicht wirkliche aus dem Geist-Erleben geborene Ideen empfängt und sie ihnen zuführt. Wie der Menschenkörper die wirkliche Materie braucht, so der soziale Organismus den wirklichen Geist.

Heute aber besteht noch etwas wie eine Furcht vor dem Gei­ste. Man wittert Aberglauben, Schwärmerei, Unwissenschaft­lichkeit, wenn jemand von der geistigen Welt nicht nur in all­gemeinen Redensarten, sondern so spricht, daß er von ihr ei­nen wirklichen Inhalt angibt, wie man dies gegenüber der Na­tur und Geschichte selbstverständlich tut. Aber nur, wenn man diese geheime Furcht überwindet, kann man erkennen, was im gegenwärtigen Weltgeschehen ist. Kommt es zu dieser Über­windung nicht, so bleibt es beim Sehen. Und nur von diesem Sehen spricht die hier besprochene Schrift

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DIE KONFERENZ VON GENUA, EINE «NOTWENDIGKEIT»

Allzuviel versprechen sich von der Konferenz in Genua wohl auch diejenigen nicht, die sie für eine «Notwendigkeit»halten. Denn angesichts der tiefen Verworrenheit der öffentlichen An­gelegenheiten Europas fühlen sie, daß, was für die Gesundung der Welt geschehen muß, ganz wo anders sich vollziehen muß als auf Konferenzen. Sie fühlen das, auch wenn sie denken, Kon­ferenzen zur Herbeiführung &eser Gesundung seien eine «Notwendigkeit».

Das ist begründet in dem tiefen Widerspruch, det heute be­steht zwischen dem, was in den Gedanken gewisser Menschen aus den Beziehungen der Staatsgebilde sich festgelegt hat, und den wirklichen Interessen der diese Staatsgebilde bewohnenden Menschen. Man denk' aus den Ergebnissen des politischen Geschehens der letzten Jahrzehnte heraus, und man hat Inter­essen, die aus diesen Ergebnissen längst herausgewachsen sind. Diese Interessen fordern ein Verständnis des Lebens, das erst gefunden werden muß. Und man redet von einem Verständnis aus, in das man sich hineingewöhnt hat. Die geistigen, recht­lichen und wirtschaftlichen Probleme, die heute die Welt er­schüttern, werden nicht gefaßt von Ideen, die Aussicht haben, auf einer Konferenz besprochen zu werden.

Eine Illustration dieser für die Gegenwart bedeutungsvollen Wahrheit ist die Erwartung, die man in Europa hegt, über die Beteiligung der Amerikaner an der Konferenz in Genua. Deutlich wird diese Illustration dadurch, daß Stimmen über den Atlantischen Ozean dringen: man wolle sich in die Ange­legenheiten Europas erst dann mischen, wenn die Europäer es selbst erst zu einer gewissen Ordnung bei sich gebracht haben. Europa weiß nicht, was es mit sich machen soll; und Amerika wird wissen, was es für Europa machen soll, wenn dies Europa erst selbst wissen wird.

Alles aber wird davon abhängen, daß man wird einsehen müssen, in welche Einseitigkeit die Welt verfallen ist dadurch,

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daß sie den Blick nur auf die wirtschaftlichen Fragen richtet. Man tut dies, weil sie das Nächstliegende sind. Millionen von Menschen des Ostens leben in Hungersnot. Von Rußland her droht der Zivilisation eine Krankheit, für die Worte zu ohn­mächtig sind, sie zum Ausdruck zu bringen. Gewiß, solcher Menschennot gegenüber erscheint zunächst jede Diskussion als billiges Auskunfts mittel; unmittelbare Hilfe ist allein am Platze. Aber es ist nun einmal im Menschenleben so, daß die Hilfr für die großen Übel nicht erfolgen kann ohne die Er-kenntnis von deren Ursachen. Und die Ursachen für das gegen­wärtige Weltelend liegen doch in der geistigen Verfassung der Menschen.

(Man muß heute, um nicht mißverstanden zu werden, auch Selbstverständliches sagen. Deshalb nur füge ich hier ein, daß ich natürlich nicht etwa von der geistigen Verfassung derjeni­gen spreche, die in Rußland den Hungertod erleiden.)

Kein Unbefangener wird behaupten, daß man der Natur die Ursache der gegenwärtigen Weltnot zuschreiben müsse. Sie liegt in der Art, wie die Menschen mit dem verfahren, was ihnen die Natur gibt. Sie liegt in dem Verhältnis der Menschen zueinander. Und dieses Verhältnis ist doch das Ergebnis der Vorstellungsart, des Empfindungslebens der Menschen. Es ruht auf dem Geistesinhalt der Menschen. Wie die Menschen für einander arbeiten, das hängt zuletzt davon ab, wie sie in den Tiefen ihrer Seelen die Welt erleben.

Über diese bedeutungsvolle Wahrheit wird eine rein wirt­schaftliche Orientierung in den Weltangelegenheiten immer hinwegsehen. Die wirtschaftlichen Fragen der Gegenwart sind zugleich in dem Sinne soziale, als sie allgemein-menschliche sind. Man kann nicht wirtschaften, ohne daß man ein Herz hat für das wahrhaft Menschliche. Aber man verfällt immer wieder in diese «Herzlosigkeit». Die Wirtschafter haben sich in eine Denkweise eingewöhnt, die mit Produktion, Warenzirkula­tion und Konsum so rechnet, wie wenn sich das alles vollzöge als ein Mechanismus, den man dirigieren kann. Aber in all das sind die lebenden, die fühlenden Menschen eingeschaltet. In

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der Theorie gibt das jeder als etwas Selbstverständliches zu. In der Praxis, die aber keine wahre Praxis, sondern nur eine Rou­tine ist, kalkuliert er, wenn er ein Geschäft beginnt, oder führt, mit Ausschluß des wirklichen menschlichen Lebens. Er setzt die Zahlen aneinander, die zuletzt die rein zahlenmäßige Fruchtbarkeit des Geschäftes ergeben sollen.

Aber wie sollte man das anders machen? So wird immer wie­der die Frage derer lauten, die Routine mit Praxis verwechseln. Sie sollten sich die Antwort aber aus den Ergebnissen heraus holen, die ihre Denkweise im Menschenleben hat. Sie wollen sie nicht holen, so lange ihre Zahlen durch die nächsten Er­folge gerechtfertigt erscheinen. Die weiteren Mißerfolge im Menschenleben bringen sie dann nicht mehr mit ihrer Denk­weise in Zusammenhang. Deshalb ist es, daß ein Streben nach der Gesundung der öffentlichen Verhältnisse keine Stütze fin­det an den Menschen des Wirtschaftslebens.

Das zeigt sich in kleinen Verhältnissen; das hat sich aber übertragen auf die Behandlung der großen Weltangelegenhei­ten. Man rechnet auf Konferenzen; und die Rechnungen ste­hen in keinem Zusammenhang mit dem, was Menschen fühlen und erleben. Deshalb werden die Rechnungsergebnisse nicht Wirklichkeit. Deshalb weiß Europa nicht, was es mit sich ma­chen soll. Deshalb wartet Amerika, bis Europa dies wissen wird, weil es vorläufig auch nicht weiß, wie es in Europa ein­greifen soll. Wenn allerdings Europa das vollzogen haben wird, worauf Amerika wartet, wird die Frage ein anderes Ge­sicht haben. Und dieses Gesicht müßte werden; denn Europa müßte die Kraft finden, sich selber zu helfen.

Konferenzen können doch nicht die Geburts stätten von völ­kerbeglückenden Ideen sein, sondern höchstens Mittel zur Verständigung über schon vorhandene, etwas voneinander verschiedene Ideen. Die Güte einer Konferenz hängt ab von dem, was die Teilnehmer mitbringen. Denn, wenn sie nichts mitbringen, können sie auch nichts nach Hause bringen. Heute ist erst notwendig, zu sehen, was zu Hause fehlt. Gelingt dies, dann wird es mit der Verständigung vorwärts gehen.

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Ehe man dies eingesehen hat, werden die «Notwendigkei­ten» eine große Rolle spielen; aber diese «Notwendigkeiten» werden wirklichkeitsfremd sein. Diese Einsicht wird außer den am engeren Geistesleben beteiligten auch den wirtschaf­tenden Kreisen kommen müssen. Auch an ihnen prallt gegen­wärtig das Streben nach Gesundung gerade des wirtschaftli­chen Lebens ab. Solche Gedanken müssen dem kommen, der auf die Erwartungen sieht, die manche mit Genua jetzt verbin­den, wie sie das mit der nun schon stattlichen Zahl von Konfe­renzen getan haben, die Genua vorangegangen sind. Die Dis­kussionen, ob und wann man sich in Genua versammeln soll, sind kein gutes Vorzeichen. Sie sprechen dafür, daß man ent­weder dahin nichts mitzubringen hat, oder nichts mitbringen will. -

EMILE BOUTROUX

Von den neuesten französischen Philosophen wird Bergson mehr genannt als der kürzlich verstorbene Emile Boutroux. Das zeitgenössische Urteil dürfte damit nicht ganz im Rechte sein. Bergson spricht für das Publikum verständlicher; er lehnt sich mit seinen Vorstellungsbildungen mehr an geläufige naturwis­senschaftliche Ergebnisse an als Boutroux. Dieser aber scheint derjenige von beiden zu sein, der sich mit größerer Leichtig­keit in der souveränen philosophischen Begriffsbildung be­wegt. Bergson geht von einzelnen naturwissenschaftlichen Feststellungen aus; Boutroux von der Überschau überTragwei­te und Grenzen des naturwissenschaftlichen Erkennens als sol­ches. Bergson stellt der naturwissenschaftlichen Anschauungs­art seine auf einer unbestimmten gefühlsmäßigen Intuition be­ruhende Mystik gegenüber; Boutroux seine denkerische Welt-interpretation. Beide fühlen die Notwendigkeit, vom Natur-erkennen zum Geisterkennen vorzuschreiten; beide schrecken vor einer wirklichen Erfahrung über die geistige Welt zurück.

Boutroux fragt sich: wie erkennt der Mensch die leblose mi­neralische Welt? Er vergegenwärtigt sich die Erkenntnisart,

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die hiebei angewendet wird. Er charakterisiert sie. Dann geht er zur lebendigen Natur über. Er findet, daß dabei eine andere Erkenntuisart angewendet werden muß. Und wieder eine an­dere in der Seelenkunde für den einzelnen Menschen; wieder eine andere in der Soziologie. Zu einer Stufenfolge der Er­kenntnisarten kommt er. Damit deutet ihm das Erkennen auf eine Stufenfolge des erkannten Seins von dem materiellen Ge­biete in die geistigen herauf. Aber dem Geistigen gegenüber entfällt ihm der lebendige Zusammenhang mit der Wirklich­keit. Hier ist es notwendig, zu der Wirklichkeit durch Produk­tive innere Seelenorgane, die dem gewöhnlichen Seelenleben nicht zum Bewußtsein kommen, ein ähnliches Verhältnis her­zustellen, wie es durch die Sinne und durch das Verstandesden­ken für die materielle Wirklichkeit gegeben ist. Daher bleiben Boutroux für die Geist-Wirklichkeit doch nur die abstrakten Verstandesbegriffe. Daher läuft seine Anschauung auf einen Intellektualismus hinaus, der zwar auf den Geist hinweisen, aber ihn nicht inhaltlich erfassen kann.

Man muß bis in Leibnizens Zeit zurückgehen, wenn man einen Denker wie Boutroux historisch einschätzen will. Bei Leibniz findet man noch den Ausblick auf eine wirkliche gei­stige Welt. Er blickt auf Monaden, die Vorstellungen haben und wesenhaft sind. Bis zur Monadenhaftigkeit, das heißt bis zum geistigen, abstrakten Punktwesen ist allerdings zusam­mengeschrumpft, was Leibniz hinter der Sinneswelt sucht. Aber immerhin: es ist noch wesenhaft. Die spätere Zeit hat an die Stelle des Suchens nach solcher Wesenhaftigkeit dasjenige nach Gesetzen gesetzt. Man kümmert sich nicht mehr um die Wesen, die in Wechselwirkung treten und dabei Gesetze er­kennen lassen; man sieht nur mehr auf die Gesetzmäßigkeit selber. Das Naturgesetz sucht man; nicht die Wesen, welche in ihrem Verhalten dieses Gesetz offenbaren. Man kommt da­bei höchstens noch auf das Atom, den Leichnam jeglicher Wesenhaftigkeit

Boutroux hat bis zu einem gewissen Grade diesen Gang des modernen Wissenschaftslebens erkannt. Er sucht daher

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die Gesetze wieder zwischen den Wesen; er sieht in ihnen die Offenbarung der Betätigungsart der Wesen. Dadurch ge­langt er zu dem Hinweis auf die Selbständigkeit, die Innerlich­keit der Wesen. Er ist sich klar darüber, daß man mit dem Einblick in die Weltgesetze noch nicht die Weltwesen durch­schaut hat.

Hier würde beginnen die Notwendigkeit, eine solche mensch­liche Anschauungsart zu entwickeln, die von der kombinie­renden Gesetzeswissenschaft zu einer lebendigen Wesensan­schauung aufsteigt. Diesen Weg hat Emile Boutroux nicht beschreiten wollen. Er konnte die Hindernisse nicht über­schreiten, welche die modernen Denkgewohnheiten einem solchen Weg entgegenstellen. - Aber er hat in der schärfsten, eindringlichsten Art auf einen solchen Weg hingewiesen, den er vielleicht nicht einmal nach seiner Eigenart geahnt hat. Er hat so intensiv auf ihn hingewiesen, wie es nur ein von der modernen intellektualistischen Art des modernen Forschens gefesselter Denker kann.

Das ist sein großes Verdienst. Vielleicht kommt ihm in der Treffsicherheit der nach dieser Richtung gehenden Begriffe kein Anderer gleich. Man muß das anerkennen, trotzdem sich die Schattenseiten des Intellektualismus gerade dadurch bei ihm ganz außerordentlich enthüllen. Er suchte eine Berech­tigung der religiösen Vorstellungsart neben der wissenschaft­lich-philosophischen nachzuweisen. Allein dabei zeigte sich gerade das Unzulängliche seiner Anschauungsart. Er konnte innerhalb des Erkenntnisgebietes das religiöse Element nicht finden. Er glaubte, daß Erkennen nicht aus dem ganzen Men­schen kommen könne, daß man aber doch eine Weltanschau­ung haben müsse, die auf den Kräften der vollen Persönlich­keit beruhe. Dadurch entsteht für ihn die Wissenschaft als ein Ausfluß eines Teiles der Menschennatur, und die Religion als ein solcher des ganzen Menschen. Damit ist ein Wissenschafts-geist geschaffen, der seine Sicherheit doch wieder nur dadurch erkauft, daß er von sich aus nicht zur Innerlichkeit des reli­giösen Lebens eine Beziehung schafft; und der Religion wird

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das Dasein zugesichert, indem ihr eine zwar umfassendere Aussicht als der Wissenschaft, doch aber eine mindere Gewiß­heit zugestanden wird. Der schwere Zwiespalt, der durch das Empfinden des Gegenwartsmenschen geht, findet damit nicht eine Heilung, sondern er wird, indem er gewissermaßen phi­losophisch dogmatisiert wird, wesentlich verschärft.

Auch durch diese Wendung seines Denkens zeigt sich Bou­troux als ein bedeutender Repräsentant der gegenwärtigen Weltanschauungskrisis. Man muß ihn kennen, wenn man be­urteilen will, wie diese Weltanschauung in ihren hervorragen-deren Pflegern überall über sich hinausweist und doch wieder in ihrem Netz so verstrickt ist, daß sie nicht hinaus kann; wie sie sich unfähig erklärt, auf ihren Grundlagen zu bauen, und doch auch von diesen Grundlagen nicht lassen will.

WLADIMIR SOLOWJOFF, EIN VERMITTLER ZWISCHEN WEST UND OST

Daß der «Kommende-Tag-Verlag »in Stuttgart sich entschlos­sen hat, die Werke des russischen Philosophen Wiadimir So­lowjoff in deutscher Übersetzung der Öffentlichkeit vorzule­gen, entspricht einer Notwendigkeit im Geistesleben der Ge­genwart. Aus der Fülle dessen, was Solowj off geschrieben hat, ist vor kurzem erschienen: «Zwölf Vorlesungen über das Gottmenschentum.» Aus dem Russischen von Harry Köhler (Stuttgart 1921). Das Leben Solowjoffs fällt in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, seine Werke in dessen Ende. Wie osteuropäische Vorstellungsart über die tiefsten Fragen des Menschendaseins sinnt, wie sie sich mit den Le­bensfragen ihrer eigenen Zeit auseinandersetzt, das tritt in den Betrachtungen Solowjoffs in anschaulicher Art zutage. Er ist eine Persönlichkeit, die sich mit der Denkweise der west- und mitteleuropäischen Weltauffassungen gründlich auseinander­setzt. Er redet in den Vorstellungsformen, in denen sich Mill, Bergson, Boutroux, Wundt auch ausdrücken. Aber er redet

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doch auf ganz andere Art als alle diese. Er bedient sich dieser Vorstellung sformen als einer Sprache; aber er offenbart das Menschen-Innere aus einem anderen Geiste heraus. Er zeigt, daß in Osteuropa von dem Geiste noch Vieles lebt, der im Beginne der christlichen Entwickelung derjenige anderer eu­ropäischen Gebiete war, der aber da sich völlig umgewandelt hat. Was das übrige Abendland nur noch aus der Geschichte erfassen kann, im Osten hat es unmittelbares Leben.

Solowjoff spricht so, daß man in einer gewissen Art wieder aufleben fühlt, wie bis zum vierten Jahrhundert die Denker des Christentums sich mit der Vereinigung der Christus-We­senheit in dem Menschen Jesus von Nazareth auseinanderge­setzt haben. Von diesen Dingen so zu reden wie Solowjoff re­det, dazu fehlen den west- und mitteleuropäischen Denkern heute überhaupt alle Begriffsmöglichkeiten.

In Solowjoffs Seele sind deutlich zwei Erlebnisse nebenein­ander vorhanden: das Erleben des Vater-Gottes in Natur- und Menschendasein, und des Sohn-Gottes, Christus, als der Macht, welche die menschliche Seele den Banden des Natur-daseins entreißt und dem wahren Geistdasein erst einverleibt.

Mitteleuropäische Gegenwartstheologen sind nicht mehr in der Lage, diese beiden Erlebnisse auseinanderzuhalten. Ihre Seele kommt nur zu dem Vater-Erlebnis. Und aus den Evan­gelien gewinnen sie nur die Überzeugung, daß der Christus Jesus der menschliche Verkünder des göttlichen Vaters ge­wesen sei. Für Solowjoff steht der Sohn in seiner Göttlichkeit neben dem Vater. Der Mensch gehört der Natur an wie alle Wesen. Die Natur in allen ihren Wesen ist das Ergebnis des Göttlichen. Man kann sich mit diesem Gedanken durchdrin­gen. Dann schaut man zu dem Vater-Gott au£ Man kann aber auch fühlen: der Mensch darf nicht Natur bleiben. Der Mensch muß sich aus der Natur erheben. Die Natur wird, wenn er sich nicht über sie erhebt, in ihm sündhaft. Wenn man die Seelenwege in dieser Richtung verfolgt, gelangt man in die Regionen, wo man in dem Evangelium die Offenba­rung des Sohn-Gottes findet. Solowjoffs Seele bewegt sich auf

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diesen beiden Wegen. Er gibt eine Weltanschauung, die sich weit erhebt über die russisch-orthodoxe Religion, die aber durchaus christlich-religiös ist, obgleich sie auch als echtes philosophisches Denken sich offenbart.

Die Philosophie spricht bei Solowjoff religiös; die Religion ringt sich bei ihm dazu durch, philosophische Weltanschau­ung zu sein. In dem europäischen Denken ist dergleichen nur noch bei Scotus Erigena im neunten Jahrhundert vorhanden, später nicht mehr. Dieser im Frankeniand lebende Schotte hat in seinem Buche «Von der Gliederung der Natur» eine Ge­samtanschauung über Welt- und Menschenwesen gegeben, in der noch etwas ähnliches im Abendlande lebt, wie es in So­lowjoffs Gedanken und Empfindungen atmet. Aber man sieht bei Erigena bereits dasjenige Element aus der Weltanschau­i'ng des Abendlandes schwinden, das in Solowjoff noch vol­les Leben hat. Dieses tritt aus dessen Darstellung vor die Seele des europäischen Lesers wie eine Auferstehung des Geistes der ersten christlichen Jahrhunderte.

Man sehe, wie Solowjoffin einem Aufsatz über Natur, Tod, Sünde, Gnade zu sprechen anhebt: «In der Menschen seele sind wie zwei unsichtbare Flügel zwei Wünsche. Sie erheben diese über die Natur. Das sind der Wunsch nach Unsterblichkeit und der Wunsch nach Wahrheit als derjenige nach sittlicher Vollkommenheit. Der eine Wunsch ist ohne den andern sinn­los. Ein unsterbliches Leben ohne sittliche Vollkommenheit brächte dem Menschen kein Glück. Der Mensch kann sich nicht damit begnügen, unsterblich zu sein; er muß auch die Würdigkeit zu dieser Unsterblichkeit dadurch erlangen, daß er der Wahrheit nachlebt. Aber auch die Vollkommenheit ist kein Gut, wenn sie dem Tode verfallen müßte. Ein unsterbli­ches Leben ohne die Vollkommenheit wäre Betrug; eine Voll­kommenheit ohne Unsterblichkeit wäre eine empörende, schadenstiftende Unwahrheit.»

Aus solcher Denkergesinnung spricht Solowjoff. Sie gibt seinen Darstellungen den östlichen Charakter. Die Gegen­wart hat notwendig, den Gesichtskreis des Geistes zu erweitern.

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Die Menschen des Erdkreises müssen einander näher kommen. Solowjoff ist ein Repräsentant des europäischen Ostens. Er kann dem Geistesleben des Abendlandes zur Er­weiterung dienen. Er war selbst in dieses Geistesleben in der Art seines Ausdruckes hineingewachsen; aber er hat auch ganz seine östlich empfindende Seele bewahrt. Ihm begegnen, bedeutet für den Abendiänder, etwas finden, das bedeutsame Seiten des Menschentums offenbart, das aber der westliche und mitteleuropäische Mensch wenigstens auf den Wegen nicht mehr finden kann, welche die Erkenntniswege der letz­ten Jahrhunderte geworden sind.

Der Westen und der Osten müssen für einander Verständ­nis finden. Solowjoff kennen lernen, kann auf der Seite des Westens viel zum Gewinnen eines solchen Verständnisses bei-tragen.

WEST-OST-APHORISMEN

Man verliert den Menschen aus dem seelischen Gesichtsfelde, wenn man nicht sein ganzes Sein in allen seinen Lebensoffen­barungen ins Seelenauge faßt. Man sollte nicht von der Er­kenntnis des Menschen sprechen, sondern von dem ganzen Menschen, der sich erkennend offenbart. Erkennend gebraucht der Mensch sein Sinnes- Nervenwesen als Werkzeug. Fühlend dient ihm der Rhythmus, der in der Atmung und dem Blut­kreislauf lebt. Wollend wird der Stoffwechsel zur physischen Grundlage des Daseins. Aber in das physische Geschehen des Sinnes- Nervenwesens pulst der Rhythmus hinein; und der Stoffwechsel ist materieller Träger des Gedankenlebens. Auch in dem abstraktesten Denken lebt das Fühlen und wogt das Wollen.

Der alte Orientale zog in sein träumendes Denken mehr von dem rhythmischen Leben des Fühlens herauf als der Mensch der Gegenwart. Daher erlebte jener auch mehr rhyth­misches Weben in seinem Gedankenleben, dieser empfindet

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darin mehr logisches Zeichnen. Im Aufstieg zu übersinnli­chem Schauen verwob der orientalische Yogi bewußtes At­men mit bewußtem Denken. Er erfaßte damit das im Atmen sich fortsetzende rhythmische Weltgeschehen. Die Welt er­lebte er atmend als Selbst. Und auf den rhythmischen Wellen des bewußten Atmens bewegte sich der Gedanke durch das ganze Menschenwesen. Erlebt wurde, wie das Göttlich-Gei­stige in den Menschen den geisterfüllten Odem fortdauernd strömen läßt, und wie dadurch der Mensch eine lebende Seele wird. - Der Mensch der Gegenwart muß anders seine über­sinnliche Erkenntnis suchen. Er kann nicht das Denken an das Atmen binden. Er muß meditierend das Denken aus dem logischen Leben zum anschauenden erheben. Anschauend aber webt das Denken in einem geistig-musikalisch-bildhaf­ten Element. Es wird vom Atmen losgebunden und mit dem Geistigen der Welt verwoben. Das Selbst wird jetzt nicht atmend im eigenen Menschenwesen erlebt, sondern im Um­kreis der Geisteswelt. Der Ostmensch erlebte einst die Welt in sich und hat heute in seinem Geistesleben den Nachklang da­von; der Westmensch steht im Anfange mit seinem Erleben und ist auf dem Wege, sich in der Welt zu finden. Wollte der Westmensch ein Yogi werden: er müßte zum raffinierten Egoisten werden, denn die Natur hat ihm das Selbstgefühl schon gegeben, das der Orientale nur erst traumhaft hatte; hätte der Yogi wie der Westmensch sich in der Welt suchen wollen: er hätte sein träumendes Erkennen in den unbewuß­ten Schlaf eingeführt und wäre seelisch ertrunken.

Der Ostmensch sprach von der Sinnenwelt als von dem Schein, in dem auf geringere Art lebt, was er in vollgesättig­ter Wirklichkeit in seiner Seele als Geist empfand; der West-mensch spricht von der Ideenwelt als dem Schein, in dem auf schattenhafte Art lebt, was er in vollgesättigter Wirklichkeit mit seinen Sinnen als Natur empfindet. Was sinnliche Maja dem Ostmenschen war, ist sich selbst tragende Wirklichkeit dem Westmenschen. Was seelisch erbildete Ideologie dem

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Westmenschen ist, war sich selbst schaffende Wirklichkeit dem Ostmenschen. Findet der heutige Ostmensch in seiner Geist-Wirklichkeit die Kraft, um der Maja die Seinsstärke zu geben, und findet der Westmensch in seiner Natur-Wirklich­keit das Leben, um in seiner Ideologie den wirkenden Geist zu schauen: dann wird Verständigung kommen zwischen Ost und West.

Der Ostmensch hatte das geistige Erlebnis als Religion, Kunst und Wissenschaft in voller Einheit. Er opferte seinen göttlich geistigen Wesenheiten. Gnadenvoll floß ihm von ih­nen zu, was ihn zum wahren Menschenwesen erhob. Das war Religion. Aber in der Opferhandlung und an der Opferstätte offenbarte sich ihm auch die Schönheit, durch die das Göttlich-Geistige in der Kunst lebte. Und aus der schönen Geistoffen­barung erfloß die Wissenschaft. - Nach Westen strömte die Welle der Weisheit, die das schöne Licht des Geistes war, und die den künstlerisch begeisterten Menschen fromm machte. Da erbildete sich Religion ihr Eigenwe sen; und nur die Schön­heit blieb noch der Weisheit verbunden. Heraklit und Anaxa­goras waren Weltweise, die künstlerisch dachten; Aeschy-los und Sophokles waren Künstler, die Weltenweisheit bil­deten. Später ward die Weisheit dem Denken anheimgege­ben; sie wurde Wissen. Die Kunst wurde in eine eigene Welt versetzt. Religion, die Quelle von allem, ward das Erbgut des Ostens; Kunst ward zum Denkmal der Zeit, in der die Erden-mitte herrschte; Wissen ward selbständige Herrscherin eines eigenen Feldes in der Menschenseele. So ward das Geistesle­ben des Westens. Ein Vollmensch wie Goethe fand die in Wis­sen getauchte Geistwelt. Aber er sehnte sich, die Wahrheit des Wissens in der Schönheit der Kunst zu schauen. Das trieb ihn nach dem Süden. Wer ihm im Geiste folgt, kann ein reli­giös inniges Wissen finden, das in Schönheit nach künstleri­scher Offenbarung ringt. Schaut der Westmensch in seinem kalten Wissen das unter ihm queliende Göttlich-Geistige im Schönheitsglanz; ahnt der Ostmensch in seiner gefühiswarmen

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Weisheitsreligion, die von der Schönheit des Kosmos kündet, das befreiende Wissen, das im Menschen in Willens­macht sich wandelt: dann wird der ahnende Ostmensch den denkenden Westmenschen nicht mehr seelenlos schelten; dann wird der denkende Westmensch den ahnenden Ostmen­schen nicht mehr als weltfremd bestaunen. Religion kann aus künstlerisch belebtem Erkennen vertieft; Kunst aus religiös geborenem Erkennen belebt; Wissen aus kunstgetragener Re­ligion durchleuchtet werden.

Die Menschheit des Ostens erlebte in ihrem grauen Alter­tum erkennend eine hohe Geistigkeit. Diese denkend ergrif­fene Geistigkeit durchpulste das Fühlen; sie ergoß sich in das Wollen. Der Gedanke war noch nicht Vorstellung, welche Dinge abbildet. Er war Wesenheit, die das Leben der Geist-Welt in das Menschen-Innere trug. In den Nachklängen die­ser hohen Geistigkeit lebt der Ostmensch heute. Sein Er­kenntnisauge war einst noch nicht auf Natur eingestellt. Es sah durch die Natur hindurch auf den Geist. - Als die Ein­stellung auf die Natur begann, sah der Mensch noch nicht so­gleich Natur; er sah den Geist auf Naturweise; er sah Ge­spenster. Einer hohen Geistigkeit letzter Ausläufer wurde auf dem Weg vom Osten zum Westen der Gespenster-Aberglau-be. - Dem Westmenschen ward Naturwissen gegeben, als ihm Kopernikus und Galilei erstanden. Er mußte in sein Inneres schauen, um nach dem Geiste zu suchen. Da verbarg sich ihm noch der Geist, und er sah nur Triebe und Instinkte. Aber sie sind materielle Gespenster, die sich vor das Seelenauge stellen, da dieses noch nicht nach innen auf den Geist eingestellt ist. Wenn die Einstellung auf den Geist beginnen wird, werden die Innengespenster schwinden, und der Mensch wird durch seine Natur auf den Geist schauen, wie der alte Ostmensch durch die Natur auf ihn geschaut hatte. Durch die Welt der Innengespenster wird der Westgeist zum Geist kommen. Sein Gespensterglaube ist Anfang der Geist-Erkenntnis; was der Osten als Gespensterglauben an den Westen vererbt hat, ist

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Ende der Geist-Erkenntnis. Über Gespenster hinüber sollten sich die Menschen im Geiste finden - und so wird die Brücke sich erbauen zwischen Ost und West.

Der Ostmensch empfindet «Ich» und schaut «Welt»; das Ich ist Mond, der die Welt widerspiegelt. Der Westmensch denkt die «Welt» und strahlt in seine Gedankenwelt «Ich». Das Ich ist Sonne, welche eine Bildwelt erstrahlt. Wird der Ostmensch im Schimmer seines Weisheitsmondes den Son­nenstrahl erfühlen; wird der Westmensch im Strahl der Wil­lenssonne den Weisheit- Mondesschimmer erleben: dann wird der West-Wille den Ost-Gedanken erkraften, dann wird der West-Gedanke den Ost-Willen erlösen.

WEITERE WEST-OST-APHORISMEN

Der alte Orientale fühlte sich in einer geistgewollten sozialen Ordnung. Gebote der Geistmacht, die ihm seine Führer zum Bewußtsein brachten, gaben ihm die Vorstellungen davon, wie er sich dieser Ordnung einzugliedern hatte. Diese Führer hatten diese Vorstellungen aus ihrem Schauen in die über­sinnliche Welt. Der Geführte empfand in ihnen die aus der Geistwelt ihm übermittelten Richtlinien für sein geistiges, rechtliches und wirtschaftliches Leben. Die Anschauungen über des Menschen Verhältnis zum Geistigen, die über das Verhalten von Mensch zu Mensch, und auch die über die Be­sorgung des Wirtschaftlichen kamen für ihn aus derselben Quelle der geistgewollten Gebote. Geistesleben, rechtlich-staatliche Ordnung, Wirtschaftsbesorgung waren im Erleben eine Einheit. - Je weiter die Kultur nach dem Westen zog, desto mehr trennten sich die rechtlichen Verhältnisse zwi­schen Mensch und Mensch und die Wirtschaftsbesorgung von dem Geistesleben im Bewußtsein der Menschen ab. Das Geistesleben wurde selbständiger. Die andern Glieder der so­zialen Ordnung blieben noch eine Einheit. Beim weiteren

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Vordringen nach dem Westen trennten sich auch diese. Neben dem rechtlich-staatlichen, das eine Zeitlang auch alles Wirt­schaften regelte, bildete sich ein selbständiges ökonomisches Denken aus. In dem Vorgange dieser letztern Trennung lebt der Westmensch noch drinnen. Und zugleich erwächst ihm die Aufgabe, die drei getrennten Glieder des sozialen Lebens, das Geistesleben, das rechtlich-staatliche Verhalten, die Wirt­schaftsbesorgung zu einer höhern Einheit zu gestalten. Ge­lingt ihm dies, so wird der Ostmensch verständnisvoll auf sei­ne Schöpfung schauen, denn er wird wiederfinden, was er einst verloren hat, die Einheit des menschlichen Erlebens.

Unter den Teilströmungen, deren Zusammenwirken und gegenseitiges Sich-Bekämpfen die menschliche Geschichte ausmachen, befindet sich die Eroberung der Arbeit durch das menschliche Bewußtsein. Im alten Orient arbeitete der Mensch im Sinne der ihm auferlegten geistgewollten Ordnung. In die­sem Sinne fand er sich als Herrenmensch oder Arbeitsmensch. Mit dem Zuge des Kulturlebens nach dem Westen trat in das menschliche Bewußtsein das Verhältnis von Mensch zu Mensch. In dieses wurde eingesponnen die Arbeit, die der eine für den andern tut. In die Rechtsvorstellungen drangen die von dem Arbeitswert ein. Ein großer Teil der römischen Geschichte des Altertums stellt dieses Zusammenwachsen der Rechts- und der Arbeitsbegriffe dar. Beim weiteren Vordrin­gen der Kultur nach dem Westen nahm das Wirtschaftsleben immer kompliziertere Formen an. Es zog die Arbeit in sich, ohne daß die rechtliche Gestaltung, die sie vorher angenom­men hatte, den Forderungen der neuen Formen genügt. Dis­harmonie zwischen Arbeits- und Rechtsvorstellungen ent­stand. Harmonie wieder herzustellen zwischen beiden ist das große soziale Problem des Westens. Wie die Arbeit im Rechts-wesen ihre Gestaltung finden kann, ohne durch die Wirt­schaftsbesorgung aus diesem Wesen herausgerissen zu wer­den, das ist der Inhalt des Problems. Wenn der Westen sich durch Einsicht in sozialer Ruhe auf den Weg der Lösung be­gibt,

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wird der Osten dem mit Verständnis begegnen. Wenn im Westen das Problem ein Denken erzeugt, das in sozialen Erschütterungen sich auslebt, wird der Osten das Vertrauen in die Weiterentwickelung der Menschheit durch den We­sten nicht gewinnen können.

Die Einheit von Geistesleben, Rechtswesen und Wirt­schaftsbesorgung im Sinne einer geistgewollten Ordnung kann nur bestehen, so lang in der Wirtschaft das Land-Be­bauen überwiegt, und Handel sowie Gewerbe sich als unter­geordnet der Land-Bewirtschaftung eingliedern. Deshalb trägt das geistgewollte soziale Denken des alten Orients im wesentlichen für die Wirtschaftsbesorgung den auf die Land-wirtschaft hingeordneten Charakter. Mit dem Gang der Zivili­sation nach dem Westen tritt zuerst der Handel als selbständige Wirtschaftsbesorgung auf. Er fordert die Bestimmungen des Rechtes. Man muß mit jedem Menschen Handel treiben kön­nen. Dem kommt nur die abstrakte Rechtsnorm entgegen. -Indem die Zivilisation weiter nach dem Westen fortschreitet, wird das Gewerbe in der Industrie zum selbständigen Ele­ment in der Wirtschaftsbesorgung. Man kann nur frucht­bringend Güter erzeugen, wenn man mit den Menschen, mit denen man in der Erzeugung arbeiten muß, in einer den menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen entsprechenden Verbindung lebt. Die Entfaltung des industriellen Wesens er­fordert aus dem Wirtschaftsleben heraus gestaltete assoziative Verbindungen, in denen die Menschen ihre Bedürfnisse be­friedigt wissen, soweit die Naturverhältnisse das ermöglichen. Das rechte assoziative Leben zu finden, ist die Aufgabe des Westens. Wird er sich ihm gewachsen bezeugen, so wird der Osten sagen: unser Leben verfloß einst in Brüderlichkeit; sie ist im Laufe der Zeiten geschwunden; der Fortschritt der Menschheit hat sie uns genommen. Der Westen läßt sie aus dem assoziativen Wirtschaftsleben wieder erblühen. Das hin­geschwundene Vertrauen in die wahre Menschlichkeit stellt er wieder her.

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Im alten Osten fühlte der Mensch, wenn er dichtete, daß die Geistesmächte durch ihn sprachen. In Griechenland ließ der Dichter die Muse durch sich zu seinen Mitmenschen spre­chen. Dies Bewußtsein war Erbgut des alten Orientes. Mit dem Zuge des Geisteslebens nach dem Westen ward die Dich­tung immer mehr die Offenbarung des Menschen. - Im alten Orient sangen die Geistesmächte durch Menschen zu Men­schen. Von den Göttern herunter zu den Menschen erklang das Weltenwort. - Es ist im Westen zum Menschenwort ge­worden. Es muß den Weg finden hinauf zu den Geistesmäch­ten. Der Mensch muß dichten lernen in solcher Art, daß ihm der Geist zuhören mag. Der Westen muß eine dem Geist ge­maße Sprache gestalten. - Dann wird der Osten sagen: das Götterwort, das einst uns erströmt ist vom Himmel zur Erde:

es findet aus Menschenherzen wieder zurück den Weg in Gei­steswelten. In dem aufsteigenden Menschenworte sehen wir verstehend das Weltenwort, dessen Absteigen dereinst unser Bewußtsein erlebt hat.

Der Ostmensch hat keinen Sinn für das «Beweisen». Er er­lebt schauend den Inhalt seiner Wahrheiten und weiß sie da­durch. Und was man weiß, das «beweist» man nicht. - Der Westmensch fordert überall «Beweise». Er ringt sich zu dem Inhalt seiner Wahrheiten aus dem äußeren Abglanz denkend hin und deutet sie dadurch. Was man aber deutet, das muß man «beweisen». - Erlöst der Westmensch aus seinen Bewei­sen das Leben der Wahrheit, dann wird der Ostmensch ihn verstehen. Findet der Ostmensch am Ende der Beweissorge des Westmenschen seine unbewiesenen Wahrheitsträume in einem wahren Erwachen, dann wird der Westmensch ihn in der Arbeit für den Menschenfortschritt als einen Mitarbeiter begrüßen müssen, der leisten kann, was er selbst nicht vermag.

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PSYCHOLOGISCHE APHORISMEN

Wer im gewöhnlichen Bewußtsein die Eigenfarbe der Seelen­erlebnisse mit dem Worte «Ich» zusammenfaßt, hat zunächst noch nicht ein Verständnis dafür, was mit diesem Worte aus­gesprochen ist. Dazu gelangt er erst, wenn er das Ich-Erlebnis allmählich in innerer Anschauung in die Reihe anderer Innen­erlebnisse hineinstellen lernt. - Er kann beachten, wie sich das Hungererlebnis auf seiner ersten Stufe zu dem Sättigungser­lebnis verhält. Das Ich-Gefühl wird auf diesen ersten Stufen durch das Hungererlebnis gesteigert, durch das Sättigungser­lebnis abgestumpft. Das Ruhebedürfnis nach der Sättigung hängt damit zusammen. Erst auf den weiteren Stufen, wo der Hunger in die Organisation zerstörend eingreift, wird es an­ders. Im weiteren Verfolg dieser Beobachtung ersteht die Er­kenntnis, daß mit dem Worte «Ich» nicht eine Erfüllung des Seelenlebens, sondern eine Sehnsucht, ein Begehrungs-artiges bezeichnet wird, das auf die Erfüllung wartet. - Gedanken, die man hegt, verstärken das Ich-Gefühl nur dann, wenn sie Ideale sind, wenn also das Begehren in ihnen lebt. - Das «Ich» wird vom gewöhnlichen Bewußtsein in der Sphäre der Begeh­rungen erlebt. Es ist daher auf dieser Stufe ein Verlangen nach Erfüllung, ein Quell der Selbstsucht.

Man kann das «Ich» auch die «Nacht des gewöhnlichen Bewußtseins» nennen. Je mehr sich der Mensch mit Gedan­ken von der Welt erfüllt, desto mehr tritt das Ich-Erlebnis zu­rück. Wenn aber das «Ich» stark erlebt werden soll, dann müssen die Gedanken von der Welt aus der Seele heraus. In diesen Gedanken aber erlebt sich der Mensch wie in seinem «inneren Tage »; im «Ich» erlebt er sich zunächst wie in der «inneren Nacht». Aber der innere Tag löst ihm nicht das Rät­sel der Nacht. Ein anderes Licht muß in die innere Nacht hin­einscheinen. Das «Ich» kann sein Lichtverlangen an dem Sonnenschein der Außenwelt nicht befriedigen. Aber nach Sonnenschein verlangt es. Ahnend lebt es in dem Verlangen

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nach Sonnenschein. Als Selbst verlangt das Ich Erfüllung aus der Selbstlosigkeit. - Es ist immer auf dem Wege, aus dem Quell der Selbstsucht den Strom der Selbstlosigkeit erstehen zu lassen.

Das Verlangen nach Geist-Erkenntnis ist der Inhalt des Ich-Erlebens. Man mag über das «Ich» denken, wie man will; je­de Deutung, jede Definition des «Ich», sie mögen wie immer lauten: sie sind doch nur die Umschreibungen dieses Verlan­gens. Diese Umschreibungen können oft das Gegenteil der Wirklichkeit ausdrücken. Dann sind sie so, wie wenn ein Hungriger seinen Hunger in irgend etwas anderes uminter­pretierte. - So lange das Ich-Gefühl im gewöhnlichen Bewußt­sein erlebt wird, bleibt es Verlangen nach Geist-Erfüllung. Es hört erst auf, dies zu sein, wenn das Licht der Sinne-Erkennt­nis durchdrungen wird von dem Licht der Geist-Erkenntnis. Seelen-Erlebnis aus Sinne-Welt macht das Ich zum Begehren; Seelen-Erlebnis aus Geistes-Welt macht das Ich zum Seins-Inhalt. - In den moralischen Impulsen west das erste mensch­liche Erlebnis der Geistes-Welt. Sie stammen nicht aus der Sinne-Welt. Sie werden in einem Denken gewollt, das außer­halb der Sinne-Welt urständet. Im Lichte des «reinen Den­kens» werden sie gewollt. - Leben in wahren Moral-Impulsen ist der Anfang des Geistes-Welt-Erlebens. Fortsetzung der Tätigkeit, in welcher die Seele west im Erleben der Moral-Im­pulse, führt zur Erkenntnis der Geistes-Welt. Jeder Mensch, der sittlich will, schaut so die Methoden der Geistesforschung an. Es ist nur notwendig, daß er sie auch anerkenne. Dann verrinnt die Selbstsucht des Ich in die Selbstlosigkeit der Gei­ste s-Welt-Erkenntnis.

Ist das «Ich»im Körper des Menschen? - Nein. - Der Kör­per erzeugt mit allen seinen Tätigkeiten nur das Verlangen nach dem Ich. Das gewöhnliche Bewußtsein verwechselt die­ses Verlangen mit dem Ich selbst. Man muß sich mit einem seelischen Ruck aus dem Körper heben, um das Verlangen,

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das der Körper erzeugt, im Geiste zu befriedigen. - Der Kör­per ist ohne den Geist nicht denkbar, denn er ist nur die Of­fenbarung des Verlangens nach dem Geiste. - Wer den Kör­per recht versteht, in dem bildet sich wie etwas Selbstver­ständiiches die Fähigkeit des Geist-Erlebens. Wissenschaft­licher Materialismus entsteht aus mangelhafter Erkenntnis der materiellen Welt. - Mangelhafte Erkenntnis des Menschen-Körpers vermeint, der Körper fasse seine Erlebnisse in dem Worte «Ich» zusammen; er faßt nur sein Verlangen in dieses Wort zusammen. Verständnis der körperlichen Grundlage des «Ich» setzt sich durch sich selbst in das Verständnis der Geist-Natur des Ich um. Die Selbstheit, die der Körper entwickelt, ist die Offenbarung der selbstlosen Hingabe an die Geistes-Welt, die den wahren Charakter des Ich enthüllt.

Das Leben des Körperlichen ist das Verlangen, der Hunger nach dem Geist. Wird der Hunger nicht befriedigt, so tritt Zerstörung des Körperlichen ein. Ein Körperliches, das selb­ständig sein will, kämpft gegen sein eigenes Wesen. Der Mensch kann deshalb von einer geistlosen Natur nur reden, wenn er in ihr einen Abfall von ihrem eigenen Wesen sehen will. Besinnt er sich darauf, daß eine körperliche Natur nur Verlangen nach dem Geiste sein kann, so ergibt sich für ihn als Ziel der Natur-Erkenntnis ein Entweder-Oder. - Entwe­der muß er der Natur gegenüber fragen: ist sie von ihrem ei­genen Wesen abgefallen? Und was wird aus ihr durch diesen Abfall? - Oder er muß fragen, was ist in ihr, das auch ihre scheinbare Geistlosigkeit zuletzt als Verlangen nach dem Gei­ste erscheinen läßt? Das aber läßt alle Fragen gegenüber der Natur in die Eine auslaufen: Ist die Geistlosigkeit der unbe­lebten Natur nicht die Offenbarung eines verborgenen Gei­steshungers?

Im Wirtschaftsleben ist der Mensch über die Tierheit da­durch hinausgehoben, daß er die instinktbestimmte Wirtschaft der Tiere in eine solche wandelt, die seelen-bestimmt ist. Das

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Tier bleibt mit seiner Arbeit-Organisation und seiner Kapital-Ansammlung innerhalb der Natur-Bestimmtheit stehen. Der Mensch hebt zunächst die Arbeit-Organisation in die Seelen-Bestimmtheit herauf. Er kann das nicht völlig mit der Natur-Grundlage der Wirtschaft. Weil aber bei ihm die Instinkte nicht mit der Kraft wirken wie beim Tiere, entschwindet aus seiner bewußten Wirtschaftsorganisation ein Teil des ökono­mischen Lebens, wie die ultraroten Teile des Spektrums aus der Beleuchtungswirkung entschwinden. Man sieht deshalb, wie der auf Bewußtsein gebauten Nationalökonomie die Er­kenntnis des Naturgegebenen in dem Wirtschaftsleben nicht voll durchsichtig ist. - Die Organisation der Arbeit gehört in das Licht des Bewußtseins wie der mittlere Teil des Spek­trums in das Licht. - Die Kapitalansammlung mit ihren Wir­kungen entzieht sich aber dem bewußten Denken. Was in der Welt als Kapitalwirkungen ökonomisch sich ergibt, tritt aus dem Bereich des gewöhnlichen ökonomischen seelen-be­stimmten Denkens heraus wie der ultraviolette Teil des Spek­trums aus dem Lichte. - Wirtschaftswissenschaft strebt über die gewöhnlichen wissenschaftlichen Methoden hinaus wie das Spektrum über seinen Lichtteil. - Man wird deshalb zu einer vollständigen ökonomischen Wissenschaft ein Erkennt­nisstreben brauchen, das in den Natur-Instinkten den Geist, und in den seelen-bestimmten Kapitalwirkungen den Über­gang in naturgleiche Tatsachen findet.

Ich-Erkenntnis gibt wahre Natur-Erkenntnis. Wahre Na­tur-Erkenntnis gipfelt in Ich-Erkenntnis. Natur- und Geistes­wissenschaft müssen sich so als Schwestern begrüßen, wenn sie sich selbst recht verstehen. Und die Betätigung im Men­schenleben, von der das Ökonomische nur ein Teil ist, kann das Einverständnis der beiden Schwestern nicht entbehren. Die Menschheit ist zum Spezialistentum in Wissenschaft und Arbeit gelangt; heute verlangen die Teile zu ihrem eigenen Heil die Vereinigung zu einem Ganzen. Geisteswissenschaft muß den Geist als schöpferischen, nicht als abstrakten schauen;

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dann aber schaut sie in dem schaffenden Geist die geschaf­fene Natur; Naturwissenschaft muß in der Natur das Geist verlangen schauen; dann tritt ihr, indem sie naturforschend ist, der Geist entgegen. Der wirklichen Erkenntnis ist Natur­forschung der Weg zum Geist und Geistesforschung die Au­gen-Öffnung für die Naturgeheimnisse.

DER GEGENWÄRTIGE MENSCH UND DIE GESCHICHTE

Es ist ungefähr ein halbes Jahrhundert her, seit Friedrich Nietzsche seine «Unzeitgemäße Betrachtung» veröffentlicht hat, die sich mit dem Werte der Geschichte für das Leben be­schäftigt. Ihm war es zu einer Lebensfrage geworden, ob die Kräfte, die im Innern der Menschenseele wirken und den Menschen durch das Dasein tragen, nicht gelähmt werden, wenn er den Blick zu stark in die Vergangenheit richtet. -Man versteht, wie Nietzsche diese Frage zu einer «unzeitge­mäßen» Betrachtung anregte, wenn man die Entwicklung an­sieht, die im mitteleuropäischen Denken manche Anschauun­gen über die Stellung des Menschen im geschichtlichen Wer­den in der neuesten Zeit durchgemacht haben.

Im Beginne des neunzehnten Jahrhunderts sprach man von einem «Naturrecht». Man war der Meinung, der Mensch könne auf seine eigene Wesenheit, seine «Natur» die Auf­merksamkeit lenken, und er müsse dann finden, welche « Rech­te» ihm im Leben zukommen. Man nannte dieses «Natur­recht» auch das «Vernunftrecht». Da glaubte der Mensch, er könne seine Stellung im Leben nach der rechtlichen Seite fin­den, wenn er die Ideen dazu sich aus dem hole, was durch sein eigenes Wesen in ihn gelegt ist.

Man verlor allmäh]ich den Glauben an dieses «Vernunft-recht». Man wurde gewahr, wie sich gewohnheitsmäßig, halb instinktiv im menschlichen Zusammenleben die «Rechte» ge­bildet haben. Man richtete den Blick auf das «Historische»

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des Rechtslebens. Dem Walten dieses Historischen gegenüber fand man ein aus dem Menschen geschöpftes «Vernunftrecht» bedeutungslos. Man fand, daß der Mensch in das hlneingebo­ren wird, was instinktartige Entwickelungskräfte in das Leben gebracht haben. Nur an diese könne man sich halten, so mein­te man, wenn man die menschlichen Rechte betrachtet. Will man zu Jdeen über das Recht kommen, müsse man an die Ge­schichte herantreten.

Nietzsche empfand diese Anschauung, die er vorfand, als er seine Jugendentwickelung durchmachte, wie eine Vergewal­tigung des menschlichen Seelenlebens. Der Mensch nehme sich, so meinte er, seine lebenskräftige Gegenwart, wenn er sich nicht aufraffe und sein Wollen aus seinem unmittelbaren Dasein hole; und pflanze sich eine totgewordene Vergangen­heit ein, die sein Wollen lähme. Auf diese Art verliere der Mensch der Gegenwart sich selbst.

Es ist begreiflich, daß Nietzsche zu einer solchen Ansicht kam. Er sah sich in ein Zeitalter versetzt, in dem der Mensch wenig Vertrauen zu einer Erkenntnis der geistigen Welt hatte. Das Schöpferische des eigenen Geisteslebens war deshalb et­was Fragwürdiges geworden. Man zweifelte daran, selber et­was schaffen zu können, und so hielt man sich an die Betrach­tung des Geschaffenen. Die «historische Rechtsschule» trat an die Stelle der «Vernunftrechts schule».

Man könnte auch heute noch, wenn auch in etwas verän­derter Form, Empfindungen haben, wie sie Nietzsche ausge­sprochen hat. Denn noch immer wendet der Mensch seinen Blick rückwärts, wenn er sagen soll, was er in der Gegenwart in sein Leben einführen soll. Man frägt, wie es in primitiven Zuständen mit dem und jenem beschaffen war, wenn man das Wesen des «Rechtes», der «Sitte» und dergleichen verstehen will. Und es kann bemerkt werden, wie dieser Blick das un­mittelbar Schöpferische der Gegenwart zurückdrängt.

Und doch: ein gesundes Gefühl wird nicht zugeben kön­nen, daß ein solcher rückwärts gewendeter Blick den Men­schen schwach machen müsse. Dieses Gefühl erzeugt die

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Anschauung, daß nicht die wahre Geschichte in der «histo­rischen Schule» den Nachteil hervorgebracht haben kön­ne, von dem Nietasche spricht, sondern eine irrtümlich be­trachtete.

Es ging nämlich parallel der Einführung des Geschicht­lichen in die Betrachtung des Rechtlichen, des Sittlichen, die Streitfrage: was denn eigentlich die treibenden Kräfte in der Geschichte der Menschheit seien. Die einen sagten, der Mensch in seinem Wirken bringe die Tatsachen des Lebens hervor. Die großen Persönlichkeiten seien die treibenden Mächte in der Geschichte. Andere meinten, die Wirksamkei­ten der Menschen seien die Ergebnisse der äußeren Verhält­nisse. Man müsse diese Verhältnisse in einem Zeitalter ins Auge fassen, wenn man dieses geschichtlich verstehen wolle.

- Das führte dann zu einer immer mehr dem Materiellen zuge­neigten geschichtlichen Anschauung. Und es entstand der hi­storische Materialismus, der meint, das eigentlich Wirksame seien die in der menschlichen Wirtschaft tätigen Kräfte, und, was der Mensch wirke, müsse aus diesen Kräften heraus ver­standen werden.

Wie aber Anschauungen in das Leben hineinwirken, davon spricht nun gerade einer der neuesten Geschlchtschreiber in bezug auf die unmittelbare Gegenwartsgeschichte. Heinrich Friedjung hat in seinem Buche «Das Zeitalter des Imperialis­mus 1884-1914» (Verlag von Neufeld und Henius, Berlin, 2. Band, 1922, Seite 356) geschrieben: «Stellt irgendeine Denk-richtung die Bedeutung der großen Persönlichkeit für das Geschehen in Abrede, so wird ihr eine solche dann fehlen, wenn sie am notwendigsten wäre. ... die marxistische Lehre scheidet die Einzelpersönlichkeit aus den Faktoren der ge­schichtlichen Rechnung aus; kein Wunder, daß hier wie dort die ungewöhnlichen Gestalten verschwanden, um dem Mittel-und Untermaße Platz zu machen.» - Da wäre also zugegeben, daß Denkrichtungen hemmend oder fördernd in das geschicht­liche Leben eingreifen können. Das aber können sie doch wieder nur durch die Persönlichkeiten.

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Und in den Persönlichkeiten wirken die Ideen durch den dem Menschen innewohnenden lebendigen Geist. Diesen aber verliert der Mensch auch für die Geschichte, wenn er ihn nicht in seinem eigenen Wesen finden kann. Das «Vernunft-recht» im Beginne des neunzehnten (und im achtzehnten) Jahrhundert war nicht aus dem lebendigen Menschengeist ge­schöpft, sondern aus dem «Gedanken», der, wenn er bloß in­tellektuelies, nicht geschautes Seelisches ist, nur das Tote vom Geiste vorstellt. Das «historische Recht» hinwiederum gab dem Menschen nichts für sein geistiges Erleben, weil es in der Geschichte nicht bis zum Geiste vordrang, sondern sich an die äußeren geschichtlichen Offenbarungen des Geistes hielt.

Findet der Mensch in sich den lebendigen, den schöpferi­schen Geist, so findet er ihn auch in der Geschichte. Weiß er, daß sein Seelenleben hinaufragt in geistige Regionen, so wird er auch in diesen geistigen Regionen die treibenden Kräfte des geschichtlichen Werdens suchen. Er wird bis zu den ge­schichtlichen Persönlichkeiten gehen; aber noch über diese hinaus zu den waltenden Geistes-Mächten, die aus der Gei­steswelt so in die Seelen der Menschen in der Vergangenheit wirkten wie gegenwärtig in seine eigene. Als die Vollzieher der Absichten jener Geistes-Mächte wird er die Persönlichkei­ten ansehen. Er macht die Menschen dadurch nicht zu Mario­netten der Geisteswelt; er schaut ihr freies Wesen im Verkehr mit dieser Welt, wie er sich selbst frei weiß in seinem Zusam­menhange mit dem geistigen Dasein. Vor einer geistgemäßen Geschichtsbetrachtung wird das «Vernunftrecht» und die ge­genwärtig «aus der Menschenseele quellende Sitte» zwar ein aus dem Vergangenen Entwickeltes, aber doch auch heute geistig Schöpferisches. Und das «historische Recht», sowie die «geschichtlich gewordene Sitte» untergraben das gegen­wärtig Lebendig-Schöpferische nicht, denn sie erweisen sich als aus derselben Quelle stammend; sie geben dem Gegenwär­tigen das Recht zum eigenen Wollen, denn sie offenbaren sich selbst als solches eigenes Wollen. Ein «Vernunftrecht», das sich um die Vergangenheit nicht kümmert, schrumpft zu abstrakten

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Gedankenformen zusammen; eine « historische Rechts schule», die kein «Vernunftrecht» gelten lassen will, schöpft nicht aus dem Geiste, sondern beschreibt nur die äu­ßere Offenbarung des Geistes. -

SPENGLERS «WELTHISTORISCHE PERSPEKTIVEN»

Oswald Spengler hat dem ersten Bande seines «Untergang des Abendlandes» nun den zweiten folgen lassen. Er nennt ihn «Welthistorische Perspektiven». Man fühlt sich zunächst ge­drängt, Anfang und Ende dieser Perspektiven in der Empfin­dung neben einander zu stellen.

Der Anfang richtet den Blick auf die Natur. «Betrachte die Blumen am Abend, wenn in der sinkenden Sonne eine nach der andern sich schließt: etwas Unheimliches dringt dann auf dich ein, ein Gefühl von rätselhafter Angst vor diesem blin­den, traumhaften, der Erde verbundenen Dasein. Der stum­me Wald, die schweigenden Wiesen, jener Busch und diese Ranke regen sich nicht. Der Wind ist es, der mit ihnen spielt. Nur die kleine Mücke ist frei; sie tanzt noch im Abendlichte; sie bewegt sich, wohin sie will. - Eine Pflanze ist nichts für sich. Sie bildet einen Teil der Landschaft, in der ein Zufall sie Wurzel zu fassen zwang. Die Dämmerung, die Kühle und das Schließen aller Blüten - das ist nicht Ursache und Wirkung, nicht Gefahr und Entschluß, sondern ein einheitlicher Natur-vorgang, der sich neben, mit und in der Pflanze vollzieht. Es steht der einzelnen nicht frei, für sich zu warten, zu wollen oder zu wählen.»

Man empfindet nun durch das ganze Buch hindurch die «weltgeschichtlichen Perspektiven» durch diesen Blick auf das schlafende Pflanzenleben, zu dem man im Anfange aufge­fordert wird, bestimmt. - Warum soll es gerade dieser Blick sein? Ist es derjenige, zu dem der Mensch der Gegenwart na­turgemäß gedrängt wird, wenn die Rätsel und Beunruhigun­gen seines Zeitalters in seiner Seele stürmen? Ist, was durch

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diesen Blick als Seelenstimmung erregt wird, geeignet, die Kulturgestaltung der Gegenwart in ihrem Wesen so zu durch­schauen, daß sie gewertet werden kann?

Man endete mit dem Lesen, und war am Schlusse vor die ganze Tragik des Gegenwarts menschen gestellt. «Eine Leiden­schaft im Erfinden zeigt schon die gotische Architektur - die man mit der gewollten Formenarmut der dorischen verglei­che - und unsre gesamte Musik. Es erscheinen der Buchdruck und die Fernwaffe. Auf Kolumbus und Kopernikus folgen das Fernrohr, das Mikroskop, die chemischen Elemente und end­lich die ungeheure Summe der technischen Verfahren des frü­hen Barock (Seite 628). - Dann aber folgt zugleich mit dem Rationalismus die Erfindung der Dampfmaschine, die alles um-stürzt und das Wirtschaftsbild von Grund aus verwandelt. Bis dahin hatte die Natur Dienste geleistet, jetzt wird sie als Sklavin ins Joch gespannt und ihre Arbeit wie zum Hohn nach Pfer­dekräften bemessen. ... Mit den Millionen und Milliarden Pferdekräften steigt die Bevölkerungszahl in einem Grade, wie keine andre Kultur es je für möglich gehalten hätte. Die­ses Wachstum ist ein Produkt der Maschine, die bedient und ge­lenkt sein will und dafür die Kräfte jedes Einzelnen verhun­dertfacht. Um der Maschine willen wird das Menschenleben kostbar. ... Die ganze Kultur ist in einen Grad von Tätigkeit geraten, unter dem die Erde bebt. - Was sich nun im Laufe kaum eines Jahrhunderts entfaltet, ist ein Schauspiel von sol­cher Größe, daß den Menschen einer künftigen Kultur mit andrer Seele und andern Leidenschaften das Gefühl überkom­men muß, als sei damals die Natur ins Wanken geraten (Seite 629).... Und diese Maschinen werden in ihrer Gestalt immer mehr entmenschlicht, immer asketischer, mystischer, esoteri­scher. ... Niemals hat sich ein Mikrokosmos dem Makrokos­mos überlegener gefühlt. Hier gibt es kleine Lebewesen, die durch ihre geistige Kraft das Unlebendige von sich abhängig gemacht haben (Seite 630).... Aber gerade damit ist der fausti­sche Mensch zum Sklaven seiner Schöpfung geworden. ... Der Bau­er, der Handwerker, selbst der Kaufmann erscheinen plötzlich

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unwesentlich gegenüber den drei Gestalten, welche sich die Ma­schine auf dem Weg ihrer Entwicklung herangezüchtet hat: dem Un­ternehmer, dem Ingenieur, dem Fabrikarbeiter (Seite 631).

Warum soll der Mensch, der in ein solches Verhältnis zur Maschine gestellt erscheint, die Wertung dieser Stellung mit dem Blick vornehmen, der auf das schlafende Leben der Pflan­ze sich zuerst gerichtet hat?

Es hat doch diese Blickrichtung ganz gewiß den Menschen nicht zwischen die Räder, Kurbeln, Motoren hineingestellt. Es war vielmehr die Blickstellung auf die leblose Natur. Seit der Mensch an diese herantrat mit einer Betrachtung, die ihre Gegenstände geistig so durchsichtig haben wollte wie die ma­thematischen sind, ist er zur modernen Technik geschritten. An dem Blicke in das geistig Durchsichtige hat sich das neue­re Denken herangeschult. Dieses Denken erfährt über sich eine Auskunft, wenn es sein Begreifen beim Stoß zweier elasti­scher Kugeln, oder bei der Wurflinie eines Körpers erfaßt. Wie es da begreift, will es auch bei allem begreifen, was ihm an den Vorgängen im physikalischen oder chemischen Labo­ratorium entgegentritt. Geistig durchsichtige Vorgänge will es vor dem Blicke haben. Wenn jemand sagt: aber es ist doch der Stoß zweier elastischer Kugeln kein geistig durchsichtiger Vorgang, die Kraft der Elastizität selbst bleibt doch ein dunk­ler, undurchschaubarer Vorgang; so ist es berechtigt zu erwi­dern: darauf kommt es nicht an; ich brauche die Natur der Tinte nicht zu kennen, mit der ein Brief geschrieben ist, wenn ich alles restlos verstehen will, was mich in dem Briefe für meinen Lebenszusammenhang angeht. Der Mensch schaut in der leblosen Natur in voller Durchsichtigkeit, was ihn angeht, um aus dem Naturzusammenhang heraus eine Maschine zu konstruieren. Er braucht dazu Ideen, die verzichten können, mehr zu umspannen, als die unlebendige Natur in voller Durchsichtigkeit schauen läßt. -

Aber in der Seele des Menschen sind diese Ideen doch bloß Bilder. Das Bewußtsein erkennt sie als solche. Sie leben selbst kraftlos im Bewußtsein; sie verhalten sich zu dem, was

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sie abbilden wie die Spiegelbilder zu den Gegenständen, die vor dem Spiegel stehen. Kein Spiegelbild stößt das andere; dennoch geben die beiden ein zusammenhängendes Bild des Stoßes. In diesem Bildwissen hat das moderne Denken seine Größe und seine Unzulänglichkeit. Versteht es sich selbst in dieser Größe und dieser Unzulänglichkeit, so ist es schon hin­eingestürmt in seine Rätsel und seine Beunruhigungen.

Dieses Bildwissen hat die Durchsichtigkeit an sich. Fühlt diese der Mensch, so sagt er sich: alles Wissen, das dieses Na­mens wert ist, muß so durchsichtig sein. Aber schon beim Pflanzenwesen ist diese Durchsichtigkeit nicht vorhanden, wenn man zu keiner andern Erkenntnis greifen will als derje­nigen, die man für die Bilder der leblosen Natur anstrebt. Das hat Goethe empfunden. Deshalb hat er für das Pflanzenwesen nach einer andersgearteten Erkenntnis gestrebt. Er wollte das Bild der Urpflanze, aus der sich die einzelne Pflanzenform be­greifen läßt, wie der einzelne physikalische Vorgang aus dem «Naturgesetz».

Wie er im Leblosen erkennt, so kann der Mensch im Leben­digen nur erkennen, wenn er seine Auffassungsfähigkeiten er­weitert. - An der Erkenntnis des Leblosen hat die Menschheit erst ersehen, welche Ansprüche sie an das Wissen stellen muß. Aber diese Erkenntnis offenbart nur, was der eigenen mensch­lichen Wesenheit fremd ist. Nichts kann vom Begreifen des Leblosen zum Erleben der eigenen Menschenwesenheit füh­ren, wenn bei diesem Begreifen stehen geblieben wird.

In der Maschine hat sich der Mensch mit einem zwat Durch­sichtigen, aber ihm Fremden umgeben. Er hat sein Leben mit diesem Fremden verbunden. Kalt und menschenfern steht die Maschine da, ein Triumph der «sicheren» Erkenntnis; neben ihr steht der Mensch selbst, Finsternis vor sich, wenn er mit dieser Erkenntnis in sich selbst hineinsieht.

Und dennoch: diesen Blick in das durchsichtige Tote mußte die Menschheit in sich erziehen, wenn sie völlig wach werden sollte. Sie braucht das Bildwissen von dem, was ihrem eigenen Wesen fremd ist, zum Wachsein. Denn alles vorangehende

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Wissen ist aus dem Dunkel der eigenen Menschennatur mit­bestimmt; klar wird es erst vor der Seele, wenn die Menschen­seele zum bloßen Spiegel wird, der nur noch Bilder des Men­schenfremden entwirft. Vorher hatte der Mensch in seinem Seeleninhalt, wenn er von Wissen sprach, die Triebe, die In­halte seiner eigenen Natur, die als solche nicht klar sein kön­nen. Seine Ideen waren von einem Sein durchsetzt; aber sie waren nicht klar. - Die Bilder des leblosen Seins sind klar. Nun aber hat der Mensch an diesen Bildern nicht nur die Offenba­rung des Leblosen, sondern auch innere Erlebnisse. Bilder können durch ihre eigene Natur nichts veranlassen. Sie sind kraftlos. Erlebt der Mensch seine sittlichen Impulse in dem Reich des Bildlichen so, wie er es an der leblosen Natur sich anerzogen hat, dann erhebt er sich zur Freiheit. Denn Bilder können nicht wie Triebe, Leidenschaften oder Instinkte den Willen bestimmen. Erst das Zeitalter, das am Toten das Ma­thematik-ähnliche Bilddenken entwickelte, kann den Men­schen zur Freiheit geleiten.

Die kalte Technik gibt dem Menschendenken ein Gepräge, das in die Freiheit führt. Zwischen Hebel, Rädern und Moto­ren lebt nur ein toter Geist; aber in diesem Totenreiche er­wacht die freie Menschenseele. Sie muß den Geist in sich er­wecken, der vorher nur mehr oder weniger träumte, als er noch die Natur beseelte. Aus dem träumenden wird waches Denken an der Kälte der Maschine.

Der wache Blick, der auf die Maschine gerichtet sein kann, wird wieder träumend, wenn er so wie in der Spenglerschen Betrachtung zur Pflanze zurückgetrieben wird. Denn diese Betrachtung geht nicht wie die Goethesche auch zur Durch­sichtigkeit des Pflanzen-Beschauens fort, sondern sie zieht sich zurück in das Halbdunkel, in dem das Leben erscheint, wenn man es so ansieht, wie man in dem vor technischen Zeitalter auch das Leblose angeschaut hat.

Der Blick, zu dem man am Anfang der Spenglerschen Be­trachtung aufgefordert wird, läßt allerdings die Technik wie ein Dämonisches erscheinen. Aber nur, weil er die an ihr errungene

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Klarheit verleugnet. Durch dieses Verleugnen prallt der Mensch vor seinem eigenen Wachsein zurück. Statt der Klarheit die Kraft abzuringen, an der Maschine den freien Menschengeist zu entzünden, wird im Anschauen der Pflanze die Furcht herbeigerufen, die da sagt: «Diese Räder, Walzen und Hebel reden nicht mehr. Alles was entscheidend ist, zieht sich ins Innere zurück. Man hat die Maschine als teuflisch empfunden, und mit Recht» (Seite 630). - Es scheint aber notwendig, der Maschine den Teufel auszutreiben. Darf man, wenn man das will, so Anfang und Ende des Denkens gestal­ten, und dazwischen «Weltperspektiven»legen, wie es Speng­ler tut? (Auf diese Frage wird in der Fortsetzung dieses Arti­kels eine Antwort versucht werden.)

DIE FLUCHT AUS DEM DENKEN

Eine Fortsetzung des Artikels über Spenglers «Welthistorische Perspektiven »

Spengler redet von dem schlafenden Pflanzenleben in Aus­drucksformen wie diese: «Eine Pflanze führt ein Dasein ohne Wachsein. Im Schlaf werden alle Wesen zu Pflanzen: die Span­nung zur Umwelt ist erloschen, der Takt des Lebens geht wei­ter. Eine Pflanze kennt nur die Beziehung zum Wann und War­um. Das Drängen der ersten grünen Spitzen aus der Winter-erde, das Schwellen der Knospen, die ganze Gewalt des Blü­hens, Duftens, Leuchtens, Reifens: das alles ist Wunsch nach der Erfüllung eines Schicksals und eine beständige sehnsüch­tige Frage nach dem Wann » (Seite 9).

Im Gegensatze damit erscheint das Wachsein der Tiere und des Menschen. Das Wachsein entwickelt ein Innenleben. Aber dieses ist abgerissen vom kosmischen Dasein. Es scheint, als ob nichts von dem Drängenden, Treibenden der Kosmos-kräfte, die in dem Pflanzenhaften Schicksal werden, weiter wal­tete in den Erlebnissen des Wachseins. - Die Empfindung die­ser Abgerissenheit lebt sich in der Spenglerschen Ansicht aus. -

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Im menschlichen Wesen waltet das Pflanzenartige weiter. Es treibt in den unterbewußten Betätigungen, die wie Ergebnisse der geheimnisvollen Kräfte des «Blutes » erscheinen. Aus dem «Blute » steigt auf, was als Schicksalsmaßiges in der Mensch­heit lebt. Demgegenüber ist wie eine zu dem wahren Dasein hinzukommende Beigabe, was das wache Bewußtsein ausbil­det. Spengler findet scharf konturierte Worte, um die Bedeu­tungslosigkeit des wachen Bewußtseins im Verhältnis zu den eigentlich schaffenden pflanzenhaften Kräften in der Menschennatur zu kennzeichnen: ... «das Denken ... wird seinen Rang innerhalb des Lebens stets falsch und viel zu hoch ansetzen, weil es andere Arten der Feststellung neben sich nicht bemerkt oder anerkennt und damit auf einen vorurteilslosen Überblick verzichtet. In der Tat haben sämtliche Denker von Beruf- und sie führen hier in allen Kulturen fast allein das Wort - kaltes, abstraktes Nachdenken für die selbstverständliche Tätigkeit gehalten, durch die man zu den gelangt »(Seite 14). Es ist nicht gerade eine tiefe, sondern mehr eine leicht errungene Einsicht, die Spengler mit den Worten aus­drückt: «Aber wenn der Mensch ein denkendes Wesen ist, so ist er doch weit davon entfernt, ein Wesen zu sein, dessen Da­sein im Denken besteht» (Seite 14). - Das ist so wahr, wie «daß zweimal zwei vier ist». Aber für eine Wahrheit ist wichtig, wie man sie in den Zusammenhang des Lebens hineinzustellen ver­mag. Und Spengler stellt das Denken nicht einmal in das Leben hinein; er stellt es neben das Leben. Er tut dieses, weil er es nur in der abstrakten Form erfassen will, in der es seine Rolle in der modernen naturwissenschaftlichen Forschungsart spielt. Da ist es abstraktes Denken. In dieser Form ist es Nachdenken über das Leben, nicht eine Kraft des Lebens selbst. Diesem Denken gegenüber kann man sagen: was im Menschen Dasein bildend wirkt, das treibt aus seinem Schlafenden, Pflanzenhaften her­vor; das ist nicht Ergebnis der wachenden Abstraktion. Da gilt: «Das wirkliche Leben, die Geschichte kennt nur Tatsa­chen. Lebenserfahrung und Menschenkenntnis richten sich nur auf Tatsachen. Der tätige Mensch, der Handelnde, Wollende,

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Kämpfende, der sich täglich gegen die Macht der Tat­sachen behaupten und sie sich dienstbar machen oder unterlie­gen muß, sieht auf bloße Wahrheiten als etwas Unbedeutendes herab» (Seite 15).

Aber dieses abstrakte Denken ist nur eine Entwickelungs­phase im Leben der Menschheit. Ihm geht ein bildhaftes, mit den Dingen verbundenes und in den Menschentaten pulsieren­des Denken voraus. Im bewußten Menschenleben wirkt dieses Denken allerdings traumhaft, aber es ist der Schöpfer aller Frühstadien der Kulturen. Und wenn man sagt: was in solchen Kulturen als Taten der Menschen auftritt, das ist nicht Ergeb­nis des Denkens, sondern des «Blutes», so verzichtet man auf alles Durchschauen der treibenden Impulse der Geschichte, um in das trübe Gebiet einer materialistischen Mystik unterzu­tauchen. Denn jede Mystik, die aus diesen oder jenen seeli­schen oder geistigen Qualitäten das Werden der geschichtli­chen Tatsachen entstehen läßt, ist hell gegenüber der Mystik des «Blutes».

Wenn man zu einer solchen Mystik greift, schneidet man sich die Möglichkeit ab, den Zeitabschnitt richtig zu bewerten, in dem die Menschenentwickelung von früheren bildhaften Formen des Denkens zu dessen abstrakter Art fortgeschritten ist. Diese ist, an und für sich, nicht eine zum Handeln treibende Kraft. Aber während sie für die Ausgestaltung des naturwis­senschaftlichen Forschens gewirkt hat, war das Handeln der Kulturmenschheit den Nachwirkungen alter, aus dem bild­haften Denken entsprossenen Impulsen unterworfen. Das ist das Bedeutsame der Kultur des Abendlandes in den letzten Jahrhunderten, daß das abstrakte Denken fortschreitet, und das Handeln unter dem Einflusse der vorangehenden Impulse stehen bleibt. Diese nehmen zwar kompliziertere Formen an, bringen aber nichts wesenhaft Neues hervor. Die neuere Menschheit fährt mit Eisenbahnen, in denen abstrakte Ge­danken verwirklicht sind; aber sie tut dieses aus dem Willens-inhalte heraus, der auch schon im eisenbahnlosen Verkehr wirkte.

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Doch dieses abstrakte Denken ist nur eine Durchgangsstufe der denkerischen Fähigkeit. Wer es in seiner völligen Reinheit erlebt hat, wer seine Kälte und Kraftlosigkeit, aber auch seine Durchsichtigkeit mit vollem menschlichen Anteil in sich auf­genommen hat, der kann bei ihm nicht stehen bleiben. Es ist ein totes Denken; aber es kann zum Leben erweckt werden. Es hat die Bildhaftigkeit verloren, die es als Traumerlebnis ge­habt hat; aber es kann diese wieder erringen im Lichte eines intensiveren Bewußtseins. Von traumhafter Bildlichkeit durch vollbewußte Abstraktion zur ebenso vollbewußten Imagina­tion: das ist der Entwickelungsgang des menschlichen Den­kens. Der Aufstieg zu dieser bewußten Imagination steht als Zukunftsaufgabe vor der abendländischen Menschheit. Goe­the hat einen Anfang damit gemacht, indem er für das Ver­ständnis der Pflanzengestaltung das Ideenbild der Urpflanze forderte. Und dieses imaginative Denken kann wieder Impulse des Handelns aus sich heraustreiben.

Wer das nicht zugibt und beim abstrakten Denken stehen bleiben will, der kommt allerdings zu der Ansicht, daß das Denken eine unfruchtbare Zugabe zum Leben sei. Das ab­strakte Denken macht den erkennenden Menschen zum blo­ßen Zuschauer des Lebens. Dieser Zuschauerstandpunkt gibt der Spenglerschen Betrachtung ihr Gepräge. - Spengler hat sich in das abstrahierende Denken als moderner Mensch einge­lebt. Er ist eine bedeutende Persönlichkeit. Er kann fühlen, wie er mit diesem Denken außerhalb des Lebens steht. Er hat aber vor allem an dem Leben Interesse. Und in ihm entsteht die Frage: was kann der Mensch mit diesem Denken im Leben anfangen? Damit ist aber auf die ganze Tragik im Dasein des mo­dernen Menschen gewiesen. Dieser hat es bis zur Stufe der ab­strakten Denktätigkeit gebracht; er weiß aber mit dieser für das Leben nichts anzufangen. Spenglers Buch spricht aus, was für Viele Tatsache ist, aber von ihnen nicht bemerkt wird. Die Kulturmenschheit ist denkend vollerwacht; allein sie steht mit ihrem Wachsein ratlos da.

Ein Buch der Ratlosigkeit ist Spenglers «Untergang des

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Abendlandes». Sein Verfasser hat ein Recht dazu, von diesem «Untergang » zu sprechen. Denn die Niedergangs kräfte, de­nen andre passiv unterliegen, wirken in ihm aktiv. Er versteht sie, und er lehnt es ab, zu den Aufgang skräften zu kommen, die im Wachen errungen werden können. Deshalb schaut er nur den Niedergang und erwartet die Fortsetzung von der Wir­kung im mystischen Dunkel des «Blutes».

Es geht ein beängstigender Zug durch Spenglers Darstel­lung. Vollendete intellektuelle Seelenverfassung, die an sich selbst irre geworden ist, tritt an die Ereignisse des geschichtli­chen Lebens der Menschheit heran, um sich stets von diesen Tatsachen überwältigen zu lassen. Der Agnostizismus der mo­dernen Zeit wird so völlig ernst genommen, daß er nicht nur theoretisch formuliert, sondern zur Methode der Untersu­chung erhoben wird. Die einzelnen Kulturen werden so ge­schildert, daß jede einzelne ein Bild vor den Menschen hin-stellt, das ihn vor seinem eigenen Wachsein in die Flucht treibt. Aber diese Flucht ist nicht die in fruchtbare Dichter-träume, die in das Dasein untertaucht, indem sie das kalte Den­ken in Geist wandelt; es ist vielmehr die Flucht in ein künstli­ches Alpdrücken; glänzendes abstraktes Denken, das Angst vor sich selber hat und sich im Traume ertränken möchte.

(Was aus der «Weltgeschichte » durch eine solche Betrach­tung wird, soll eine weitere Fortsetzung dieses Artikels zei­gen.)

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SPENGLERS PHYSIOGNOMISCHE GESCHICHTSBETRACHTUNG

Was hier über Spenglers Buch gesagt worden ist, muß sich gera­de demjenigen aufdrängen,derin ihm einen hervorragenden re­präsentativen Ausdruck der gegenwärtigen Seelenverfassung innerhalb der Menschheit des Abendlandes sieht. Spengler denkt zu Ende, was in Anderen zur Hälfte oder zu einem Viertel seelisch durchlebt wird. Dieses Denken kann die geistigen Ent­wicklungs kräfte nicht finden, die in der Menschheit von deren Anbeginn im Erdendas ein bis in zu erahnende Zukünfte hinein wirken. Diese Kräfte leben sich in den einzelnen Kulturen aus, so daß eine jede Kultur Kindheit,Reife,Verfall durchmacht und schließlich demTode verfällt. Aber innerhalb jeder Kultur bildet sich ein Keim, der in einer nächsten aufgeht, um in diesem Auf­gehen die Menschheit durch ein ihr notwendiges Entfaltungs-stadium hindurchzuführen. Gewiß haben die Abstraktlinge unrecht, die in dieser Entwickelung nur ein Fortschreiten zu immer höhern Stufen sehen. Manches Spätere erscheint gegen­über berechtigten Bewertungen als ein Rückschritt. Aber die Rückschritte sind notwendig, denn sie führen die Menschheit durch Erlebnisse hindurch, die gemacht werden müssen.

Hegels Idee, daß die Geschichte den Fortschritt der Mensch­heit im Bewußtsein der Freiheit zur Offenbarung bringe, ist gewiß abstrakt. Aber sie stellt wenigstens einen bedeutungs­vollen Versuch dar, einen Faden durch das geschichtlicheWer­den hindurch zu finden. Will man für die abstrakte Idee einen Inhalt, der in die Mannigfaltigkeit des menschlichen Gesche­hens eindringt, so braucht man die geistig e Anschauung. Das in­tellektualistische Denken reicht dazu nicht aus.

Bleibt dieses Denken ehrlich, so muß es sich daraufbeschrän­ken, die Physiognomien der Kulturen zu kennzeichnen. Es kann nicht durch die Physiognomien hindurch auf die Seelen der Kulturen schauen. Aber gerade in dem, was sich erst hinter der Physiognomie offenbart, liegt der Keim, der von einer Kultur in die andere hinüberwirkt.

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Spenglers Betrachtung ist in dieser Beziehung grausam ehr­lich. Sie beschränkt sich auf die Kulturphysiognomien. «Wahr­heiten gibt es für den Geist; Tatsachen gibt es nur in Bezug auf das Leben. Historische Betrachtung, in meiner Ausdrucks­weise physiognomischer Takt: das ist die Entscheidung des Blu-tes, die auf Vergangenheit und Zukunft erweiterte Menschen­kenntnis, der angeborne Blick für Personen und Lagen, für das, was Ereignis, was notwendig war, was dagewesen sein muß, und nicht die bloße wissenschaftliche Kritik und Kenntnis von Daten. Die wissenschaftliche Erfahrung kommt bei jedem echten Historiker nebenher oder nachher » (Seite 56). So muß sprechen, wer völlig im inteliektualischen Denken aufgeht, und sich ehrlich dem geschichtlichen Werden gegenüberstellt. Ein solcher kann nicht weiter hinein in die geschichtlichen Kräfte; aber er wird, wenn scharfe Intellektualität den phy­siognomischen Takt führt, glänzende Charakteristen der ein­zelnen Kulturen liefern können.

Von solch glänzender Art ist das Kapitel, das Spengler in den Mittelpunkt seiner «Welthistorischen Perspektiven » gestellt hat: «Probleme der arabischen Kultur. » Die Essenz der Welt­anschauungen, die Jahrhunderte vor der Entstehung des Chri­stentums dem Schoße des orientalischen Lebens entspringen, wird hier in eindringlich scharfsinniger, kenntnisreicher Weise dargestellt. Der Begriff der « magischen »Weltanschauung wird in scharfen Konturen herausgearbeitet. Man sieht, wie eine alte Welt, die den Menschen als örtlich beschränktes Wesen unter Stammesgenossen hineinstelit, so daß er sich als Glied dieses Stammes fühlt, abgelöst wird von einer späteren, die Menschen in Gemeinschaften hineinführt,in denen sie zusammengehalten werden von dem Bewußtsein eines dem Irdischen übergeord­neten Geistes. Aus dem Gotte, der nur an dem einzelnen Orte, in dem der Stamm lebt, gedacht werden kann, wird der Gott, der, vom Orte unabhängig, in den Seelen der Menschen lebt, die sich zu ihm bekennen können. Für den Lokalgott des Stam­mes kann man keine Bekehrungsversuche machen. Ein an­derer Stamm verehrt den Gott, der an einem andern Orte sich

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offenbart, in anderen Kulten. Es wäre sinnlos, das,was den Cha­rakter des einen Ortes trägt, auf einen andern übertragen zu wollen. Für die Lokalgottheiten entwickeln sich keine Missio­nen. Diese treten erst auf,wenn die Seele sich zu dem «höheren» Gotte erhebt, dessen Geisteskraft in die Seelen einströmt. Für dieses Einströmen will man möglichst viele Seelen gewinnen.

Die Menschheit tritt so in das Stadium der magischen Reli­gionen ein. Der Mensch auf Erden fühlt sich wie die Umhül­lung des einheitlichen Weltengeistes, der in allen Seelen leben soll. Das menschliche Ich ist da noch nicht auf sich selbst ge­stellt. Es ist die Hülle des Weltenwesens. Dieses denkt im Men­schen, handelt durch den Menschen. Das ist das Charakteristi­sche der magischen Religionsempfindung.

In Vorderasien, getragen von verschiedenen Völkern, er­scheint diese Empfindung. Jesus steht - nach Spenglers Mei­nung - ganz in ihr. Das abendländische Christentum entsteht dadurch, daß diese magische Empfindung einströmt in die griechische und römische Welt und deren Formen annimmt. So lebt, was eigentlich seinem Wesen nach orientalischer Ma­gismus ist, in den äußeren Formen fort, die sich im Griechen­tum, im Römertum aus Kultarten ergeben haben, die selbst nicht magisch orientiert waren. Seite 227 seines Buches spricht Spengler den abstrakten Gedanken aus, durch den er das zu begreifen versucht: «In einer Gesteinsschicht sind Kristalle eines Minerals eingeschlossen. Es entstehen Spalten und Risse; Wasser sickert herab und wäscht allmählich die Kristalle aus, so daß nur ihre Hohlform übrig bleibt. Später treten vulkani­sche Ereignisse ein, welche das Gebirge sprengen; glühende Massen quillen herein, erstarren und kristallisieren ebenfalls aus. Aber es steht ihnen nicht frei, es in ihrer eigenen Form zu tun; sie müssen die vorhandenen ausfüllen und so entstehen gefälschte Formen, Kristalle, deren innere Struktur dem äuße­ren Bau widerspricht, eine Gesteinsart in der Erscheinungs­weise einer fremden. Dies wird von den Mineralogen Pseudo­morphose genannt. - Historische Pseudomorphosen nenne ich Fälle, in welchen eine fremde alte Kultur so mächtig über dem

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Lande liegt, daß eine junge, die hier zu Hause ist, nicht zu Atem kommt und nicht nur zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdrucksfotmen, sondern nicht einmal zur vollen Entfaltung ihres Selbstbewußtseins gelangt... »

So lebt in dem westlichen Christentum der ersten Jahrhun­derte der magische Arabismus als Pseudomorphose sich aus. Er nimmt die Formen der griechischen und römischen Welt an. « In Wirklichkeit ist Augustin der letzte große Denker der früharabischen Scholastik und nichts weniger als ein abend­ländischer Geist. Er war nicht nur zeitweise Manichäet, son­dern ist es in sehr wesentlichen Zügen auch als Christ geblie­ben; seine Nächstverwandten findet man unter den persischen Theologen des jüngeren Awesta mit ihren Lehren vom Gna­denschatz der Heiligen und der absoluten Schuld» (Seite 293 f.).

So sieht die Sache derjenige, der auf die Physiognomie des Arabismus schaut, und der diese scharfsinnig fortverfolgt bis zu den Persönlichkeiten, in denen sie sich noch beobachten läßt. Aber die Seele ist dabei nicht geschaut, die nicht nur als Pseudomorphose in eine fremde Umgebung hineinströmt, sondern die diese Umgebung auch erlebt, sich als Keim erweist, der in neuen Formen zum Dasein gelangt. Das abstrakte mine­ralische Bild genügt nicht. Die Seele einer Kultur ist lebendig und nimmt ihre Umgebung wahr. Aus dieser Wahrnehmung heraus entfaltet sie nicht eine Pseudomorphose, sondern einen verwandelten Trieb. An Augustin ist nicht charakteristisch sein Manichäertum, nicht seine Verwandtschaft mit persischen Theologen, sondern seine elementarische Selbstschau, die sich eingliedert in das christliche Römertum und dadurch einen Gnaden- und Schuldbegriff gestaltet, der verzerrt wird, wenn man nur auf die physiognomische Ähnlichkeit mit orientali­schen Anschauungen hinweist. In der Augustin-Physiogno­mie lebt nicht der verwandelte Orient in älter gewordener Form fort, sondern diese Physiognomie ist wie die des Sohnes, der die Züge des Vaters trägt, aber eine eigene Seele hat. (Die Schlußbetrachtung über Spenglers Buch soll in der nächsten Nummer dieser Wochenschrift stehen.)

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SPENGLERS GEISTVERLASSENE GESCHICHTE

Schluß des Artikels über Spenglers «Welthistorische Perspektiven »

Besonders glänzend ist die «welthistorische Perspektive», in der Spengler den «Staat » sieht. Er möchte ihn in seiner Wirk­lichkeit erfassen. Aber er kommt nicht dazu, die unbewußten, instinktiven Menschheitszusammenhänge, aus denen sich das staatliche Leben erst herausentwickelt, richtig zu werten. Denn es liegt ganz außerhalb seiner Anschauungsart, in dem Unbe­wußten, das in primitiven Zuständen den Menschen an den Menschen gliedert, reale geistige Kräfte zu suchen. Er findet die Zusammenhänge im Blute verursacht. Aber er sieht nicht, wie im Blute der Geist wirkt, wie dieser in den Instinkten sei­nen Ausdruck findet.

Indem der Geist dem Menschen allmählich bewußter wird, erscheint er für das Bewußtsein auch immer mehr in abstrakter Form. Er wird das, als das ihn Spengler kennzeichnet: bloße Wahrheit, unwirksamer Seeleninhalt des betrachtenden Men­schen; nichts für den Handelnden, der in Tatsachen lebt.

Und so findet Spenglers Blick im Entstehen der menschli­chen Gemeinwesen das tätige Adelstum, das ganz in der Tat­sachenwelt aufgeht und in dem Strom der Geschichte lebt, Ge­schichte macht, und das beschauliche Priestertum, das nur in Wahrheiten lebt und eigentlich außerhalb der Geschichte das Dasein verbringt.

Dasjenige Priestertum, das in Urkulturen der Inspirator der Tatmenschen ist, das auch noch ratend und Richtung gebend in den Tatmenschen weiter wirkt, wertet Spengler nicht rich­tig. Er müßte bei einer solchen Wertung sehen, wie die Tat-menschen nur die Fortsetzer durch den Arm dessen sind, was die Tat-bestimmenden Geistmenschen in die Richtung brin­gen.

Spenglers Blick kommt erst zu einer richtigen geschichtli­chen Wertung für diejenigen Tatsachen, in denen das eigent­lich impulsive Wirken der Geistmenschen aufhört, und die Außenseite des geschichtlichen Lebens mehr sichtbar wird, in

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denen es allerdings scheint, als ob die Träger des Tatsachenstro­mes sich nicht kümmerten um die Inspiration der Geistesmen­schen. Denn Schein ist dies auch da noch. Durch tausend Ka­näle fließen die Impulse der «Ratenden » in die Taten. Es ist, als ob Spengler ganz blind wäre für diese Kanäle. Denn nur so kann er überall bei dem «Blute » stehen bleiben. Nur so kann er zu einer Ansicht kommen, die er (Seite 414) ausspricht:

«Und zwar ist der Adel der eigentliche Stand, der Inbegriff von Blut und Rasse, ein Daseinsstrom in denkbar vollendeter Form. »

Stellt man sich aber an den Ausgangspunkt der Spengler­schen Perspektive, um zu sehen, was gerade von da aus zu se­hen ist, so muß man seine Darstellung glänzend finden. Sie kennzeichnet Teilwahrheiten, die in dieser Perspektive mit be­sonders scharfen Konturen erscheinen. Wie das Priestertum aus der Sphäre der geistigen Impulse hinübergleitet in eine Wirksamkeit, die aus den Kräften des Blutes kommt, dafür fin­det Spengler die denkbar schärfste Zeichnung. «Die Ge­schichte des Papsttums ist bis ins achtzehnte Jahrhundert hin­ein die Geschichte einiger Adelsge schlechter, welche die Tiara erstrebten, um einen fürstlichen Familienbesitz zu gründen. Aber das gilt auch von byzantinischen Würdenträgern und von englischen Premierministern, wie die Familiengeschichte der Cecils zeigt, und sogar noch von sehr vielen Führern großer Revolutionen» (Seite 415).

Für Spengler wird «Geschichte», was aus dem Blute der herrschenden Stände quillt. Im «Staate » wird dieser Strom nur gewissermaßen festgehalten. Die Wirklichkeit der fortschrei­tenden Tatsachen, die von den Ständen ausgeht, wird zu einem Schein krystallisiert im Staate, der im Raume mit abgeschwäch­ter Realität festhalten will, was in der Zeit von den Ständen im steten Werden gemacht wird. Für Spengler wird zur Ge­schichte, was sich aus dem Zusammenwirken und Sich-Be­kämpfen der Blutkräfte zwischen den Ständen abspielt. «Und daraus folgt, daß echte Geschichte nicht in dem antipolitischen Sinne ist, wie er unter Philosophen und

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Doktrinären jeder beginnenden Zivilisation und also gerade heute wieder beliebt wird, sondern ganz im Gegenteil Rasse­geschichte, Kriegsgeschichte, diplomatische Geschichte, das Schicksal von Daseinsströmen in Gestalt von Mann und Weib, Geschlecht, Volk, Stand, Staat, die sich im Wellenschlag der großen Tatsachen verteidigen und gegenseitig überwältigen wollen » (Seite 419). - Spengler hat gewiß zehnmal Recht, wenn er so die kulturgeschichtlichen Standpunkte charakterisiert, die aus dem, was die Menschen denken, Tatsachen herleiten, die doch nur der wirtschaftliche, künstlerische, wissenschaft­liche Ausdruck dessen sind, was die «Stände» untereinander ausmachen. Aber er hat eben keinen Blick dafür, wie teils un­bewußt, teils bewußt - durch Menschen - der wirksame Geist in dem Blute sich zur Offenbarung bringt. Und dieser Geist ist nicht dasselbe, was Spengler meint, wenn er - in seiner Art ganz richtig - sagt: «Eine Kultur ist Seelentum, das in sinnbildli­chen Formen zum Ausdruck gelangt, aber diese Formen sind lebendig und in Entwicklung begriffen ... » (Seite 408 f.). Denn der wirksame Geist ist derselbe, der als Wahrheit allerdings nicht von dem abstrakten, aber von dem lebendigen, in eben diesem Geiste webenden Denken ergriffen wird, als das Funda­ment jeder Menschentat.

Und so kommt bei Spengler als «Geschichte » nur zu seinem Rechte, was im Bereiche jener Kulturen liegt, die der Ausdruck des aus dem Blute fließenden Tat-Gestaltens der Stände und Klassen sind.

Deshalb kann Spengler die tiefsten Impulse der Gegenwart nicht finden. Und gerade darauf kommt es ihm doch an. Er möchte die Vergangenheiten der einzelnen Kulturen betrach­ten, um zu einer Perspektive in die Zukunft zu gelangen. Aber die gegenwärtige Menschheit innerhalb aller in Betracht kom­menden Kulturen und Zivilisationen steht an dem Punkte, wo der Mensch als «Mensch» sich herauslöst aus den geschicht­lichen Verbänden, in deren Geborensein, Reifwerden, Altern, Spengler die «Geschichte » sieht. Dieser Mensch ist daran, aus seinem individuellen Innern heraus das zu entwickeln, was

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Stände und Klassen vorher in ihn hinein entwickelt haben. Die­sen welthistorischen Augenblick, der da ist trotz alles Nieder­ganges der Kulturen, um dessentwillen gerade jene Kulturen bergab gehen, die Spengler allein als solche gelten lassen will, gilt es in lebendig-tätigen, vom Geist getragenen Willen aufzu­nehmen. (1ch habe in meiner «Philosophie der Freiheit » den Menschen als von moralischen Denk-Intuitionen getragenes Willenswesen innerhalb dieses welthistorischen Augenblicks festzuhalten versucht.) Aber für Spengler ist für den Menschen kein Tat4mpuls mehr da, wenn er sich aus den alten Verbän­den löst. Scharf, schneidend in der Begriffsbildung wird Spengler, indem er von seiner Perspektive aus diese Lösung kennzeichnet. «Der Adel aller Frühzeiten war der Stand im ur­sprünglichen Sinne gewesen, die fleischgewordene Geschich­te, die Rasse in höchster Potenz » (Seite 444). «Das Bürgertum hat Grenzen; es gehört zur Kultur; es umfaßt im besten Sinne alle ihr Zugehörigen und zwar unter der Bezeichnung Volk, populus, demos, wobei Adel und Priestertum, Geld und Geist, Handwerk und Lohnarbeit als Einzelbestandteile ihm einge­ordnet sind. - Diesen Begriff findet die Zivilisation vor und vernichtet ihn durch den Begriff des vierten Standes, der Masse, der die Kultur mit ihren gewachsenen Formen grundsätzlich ablehnt. ... Damit wird der vierte Stand zum Ausdruck der Geschichte, die ins Geschichtlose übergeht. Die Masse ist das Ende, das radikale Nichts » (Seite 444 f.).

Aber in diesem Nichts wird der welthistorische Augenblick der Gegenwart ein geschichtliches «All » zu suchen haben, nicht im vierten Stand, auch nicht in einem andern, sondern in dem «Menschen» (aller Stände), der jetzt erst aus dem tiefsten Quell seines Innern die wahre Kraft der Freiheit finden muß. Aber zu dieser Freiheit bahnt man sich nicht den Weg, wenn man rein aus den Blutsverhältnissen heraus in der Spengler­schen Geschichtsperspektive die Freiheit so charakterisiert:

«Es ist die zeugende Begeisterung des Menschen der Stadt, die seit dem ,0. Jahrhundert in der Antike und in den andern Kulturen immer neue Geschlechterfolgen in

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den Bann eines neuen Lebens zwingt, mit dem zum ersten Male inmitten der Menschengeschichte die Idee der Freiheit er­scheint. ... Die Stadt ist der Ausdruck dieser Freiheit; städti­scher Geist ist freigewordnes Verstehen, und alles was in Spät-zeiten unter dem Namen Freiheit an geistigen, sozialen und nationalen Bewegungen hervorbricht, leitet seinen Ursprung zu dieser einen Urtatsache des Freiseins vom Lande zurück »(Seite 439).

So wahr das in Spenglerscher Perspektive erscheint, so un­wahr ist es von einem weiter zurückliegenden Standpunkte aus. Denn das innere Gewahrwerden der tiefsten Seelenkräfte der Menschheit, das sich in dem Impuls der Freiheit auslebt, ist ein geschichtlicher Motor, der Städte gegründet hat, um die Freiheit in einer äußeren Tatsache zu erleben.

Nur wer diesen Motor sehen kann, wird in der Gegenwart den Anfang sehen können eines Geschichtsabschnittes, der Geschichte aus dem Menschen-Innersten holt, der sich als Fort­schritt anschließt an die Epochen, die Geschichte in den Men­schen hineingetrieben haben. Wer das nicht sehen kann, der wird, wie Spengler, ein Ende sehen, das zu einem Ausdruck dessen wird, was dieser ausgezeichnete Repräsentant der ge­genwärtigen Denkungsart in den vorangehenden Kulturen gefunden hat. «Mit dem geformten Staat hat auch die hohe Geschichte sich schlafen gelegt. Der Mensch wird wieder Pflanze, an der Scholle haftend, dumpf und dauernd » (Seite 546). «Mögen die Machthaber der Zukunft, da die große po­litische Form der Kultur unwiderruflich zerfallen ist, die Welt als Privatbesitz beherrschen, so enthält diese formiose und grenzenlose Macht doch eine Aufgabe, die der unermüdlichen Sorge um diese Welt, die das Gegenteil aller Interessen im Zeitalter der Geldherrschaft ist und die ein hohes Ehrgefühl und Pfiichtbewußtsein fordert. Aber eben deshalb erhebt sich nun der Endkampf zwischen Demokratie und Gäsarismus, zwischen den führenden Mächten einer diktatorischen Geld­wirtschaft und dem rein politischen Ordnungswillen der Cäsa­ren» (Seite 583). «Die Heraufkunft des Gäsarismus bricht die

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Diktatur des Geldes und ihrer politischen Waffe, der Demo­kratie » (Seite 634). «Für uns aber, die ein Schicksal in diese Kultur und diesen Augenblick ihres Werdens gestellt hat, in welchem das Geld seine letzten Siege feiert und sein Erbe, der Cäsarismus, leise und unaufhaltsam riaht, ist damit in einem eng umschriebenen Kreise die Richtung des Wollens und Müssens gegeben ...» (Seite 635).

Man kann dazu nur sagen: möchte doch die Menschheit der Gegenwart und der nächsten Zukunft die Kraft des Geistes finden, damit aus dem freien Wollen diese Richtung des Wol­lens und Müssens nicht Geschichte werde. Möge eine Zeit kommen, in der eine geistgemäße Weltanschauung nicht sagt wie Spengler: «Und eine Aufgabe, welche die Notwendigkeit der Geschichte gestellt hat, wirdgelöst, mit dem einzelnen oder gegen ihn » (Seite 635); sondern: Es wird die Zeit kommen, in der geschichtliche Notwendigkeit werden wird, was der Ein­zelne aus seinem Welterieben in Freiheit zu gestalten vermag. Spengler ist eine Persönlichkeit, die viel Geist hat, in der aber der Geist seine Mission darinnen sieht, das geistige Dasein aus der Natur- und Geschichtswirklichkeit hinwegzudekretieren.

SCHEINBARE UND WIRKLICHE PERSPEKTIVEN DER KULTUR

Der Leser von Albert Schweitzers «Geschichte der Leben-Jesu-Forschung» (von Reimarus zu Wrede, 1906) und anderer Schriften desselben Verfassers, muß diesen für einen sehr scharfen Denker halten. Für einen solchen, der mit seinen Ge­danken in Gebiete des Geisteslebens eindringen möchte, die viele andere für das Denken unzugänglich und nur für gefühls-mäßiges, mystisches oder Glaubenserlehnis erreichbar halten.

Man greift daher mit Interesse nach dem eben erschienenen ersten Teil einer «Kulturphilosophie» von Albert Schweitzer, der den Titel trägt: «Verfall und Wiederaufbau der Kultur »(Paul Haupt, Akademische Buchhandlung Bern, 1923).

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Sogleich auf den ersten Seiten stößt man auf die Wieder­gabe von Empfindungen, die von den Verfallserscheinungen der «Kultur » der Gegenwart widerklingen. Der Mangel an einem Denken, das die Geistigkeit der Welt ergreift, wird gründlich empfunden und mit schneidender Schärfe charak­terisiert. Die Worte der Kritik fallen wie schneidende Messer auf das Gesamtantlitz des gegenwärtigen Lebens.

Der erste Satz lautet: «Wir stehen im Zeichen des Nieder­gangs der Kultur.» Damit ist der Grundton angeschlagen. Und aus dessen Weiterführung hören wir: «Wir kamen von der Kultur ab, weil kein Nachdenken über Kultur unter uns vorhanden war.» ... «So überschritten wir die Schwelle des Jahrhunderts mit unerschütterten Einbildungen über uns selbst.» ... «Nun ist für alle offenbar, daß die Selbstvernich­tung der Kultur im Gange ist.» ... «Die Auf klärungszeit und der Rationalismus hatten ethische Vernunftideale über die Ent­wicklung des Einzelnen zum wahren Menschentum, über sei­ne Stellung in der Gesellschaft, über deren materielle und gei­stige Aufgaben ... aufgestellt.» ... «Aber um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts fing diese Auseinandersetzung ethischer Vernunftideale mit der Wirklichkeit an abzunehmen. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte kam sie mehr und mehr zum Stillstand. Kampflos und lautlos vollzog sich die Abdan­kung der Kultur ...»

Schweitzer glaubt zu sehen, woran das liegt. Die ethischen Vernunftideale waren bei früheren Weltanschauungen in den­se]ben Quellen liegend wie die Gedanken über die Natur. Diese Weltanschauungen sahen hinter der Natur eine geistige Welt. Und aus dieser flossen in den Tatsachen der Natur die Antriebe; ebenso aber auch in der Menschenseele die ethischen Vernunftideale. Es gab eine «Totalweltanschauung». Die gibt es heute nicht. Die Gedanken der neuen Naturanschauung kön­nen nur von Kräften in den Naturerscheinungen, nicht aber von ethischen Zielen der Menschenseele sprechen.

Schweitzer sieht innerhalb dieser Situation nur eine kraft-lose Philosophie, die die Schuld trägt an dem Niedergange.

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«Daß das Denken es nicht fertig brachte, eine Weltanschau­,:ing von optimistisch-ethischem Charakter aufzustellen und die Ideale, die die Kultur ausmachen, in einer solchen zu be­gränden, war nicht Schuld der Philosophie, sondern eine Tat­sache, die sich in der Entwicklung des Denkens einstellte. Aber schuldig an unserer Welt wurde die Philosophie da­durch, daß sie sich die Tatsache nicht eingestand und in der Illusion verblieb, als ob sie wirklich einen Fortschritt der Kul­tur unterhielte.» ... «So wenig philosophierte die Philosophie über Kultur, daß sie nicht einmal merkte, wie sie selber, und die Zeit mit ihr, immer mehr kulturlos wurde. In der Stunde der Gefahr schlief der Wächter, der uns wach erhalten sollte. So kam es, daß wir nicht um unsere Kultur rangen.»

Schweitzer weist scharf darauf hin, daß Institutionen in der äußeren Welt, auf welche die neuere Menschheit allein baut, den Verfall der Kultur nicht aufhalten können. Ihm ist klar, daß aller materielle Lebensinhalt, soll er sich zur Kultur ge­stalten, von den selbständigen Schöpfungen des Geisteslebens ausstrahlen müssen. Er findet, daß die Menschen der Gegen­wart, weil sie sich an das Materielle der Außenwelt verloren haben, unfrei, im Denken ungesammelt, in der Entfaltung der vollen Menschlichkeit unvollständig, im ethischen Verhalten humanitätslos geworden sind. Die Einrichtungen des Lebens erscheinen ihm überorgamsiert, weil die Initiative des Einzelnen gehemmt ist durch die Einspannung in die Organisationen, die überall das Individuelle in ein abstraktes, unpersönliches Allgemeines aufnehmen wollen.

Daß das Vertrauen in die Schöpferkraft des denkenden Gei­stes geschwunden ist, kennzeichnet Schweitzer in der ver­schiedensten Art. «Früher war jeder wissenschaftliche Mensch zugleich ein Denker, der in dem allgemeinen geistigen Leben seiner Generation etwas bedeutete. Unsere Zeit ist bei dem Vermögen angelangt, zwischen Wissenschaft und Denken scheiden zu können. Darum gibt es bei uns wohl noch Frei­heit der Wissenschaft, aber fast keine denkende Wissenschaft mehr.» In den Seelen der Denker müssen, im Sinne Schweit­zers,

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die Impulse entstehen, die in alles materielle Kulturge­schehen wirken. «Kant und Hegel haben Millionen regiert, die nie eine Zeile von ihnen gelesen haben und nicht einmal wußten, daß sie ihnen gehorchten.» ... «Daß das römische Reich, trotz der vielen hervorragenden Herrscher, die es be­saß, zugrunde ging, lag letzten Endes daran, daß die antike Philosophie keine Weltanschauung mit reichserhaltenden Ge­danken hervorbrachte.» ... «Für die Gesamtheit wie für den Einzelnen ist das Leben ohne Weltanschauung eine pathologi­sche Störung des höheren Orientierungssinnes.»

Ich muß nun den Rest dieser Ausführungen so gestalten, daß ich mich der Gefahr aussetze, von Vielen für einen einge­bildeten Tropf gehalten zu werden. Doch das geht nun einmal angesichts meiner Überzeugung über die Dinge, die Albert Schweitzer bespricht, nicht anders.

Nehmen wir an, jemand wolle ein Haus bauen, und man frage ihn: wie soll es gestaltet sein? Er antwortet: fest, witte­rungssicher, schön und so, daß man bequem darin wohnen kann. Man wird mit dieser Antwort nicht sonderlich viel an­fangen können. Man wird einen konkreten Plan und in sich begründete Formen gestalten müssen. Albert Schweitzer durchschaut die Baufälligkeit der «Gegenwartskultur». Er fragt sich: wie soll der Aufbau einer neuen sein? Er antwor-tet: «Die große Aufgabe des Geistes ist, Weltanschauung zu schaffen.» «Die Zukunft der Kultur hängt also davon ab, ob es dem Denken möglich ist, zu einer Weltanschauung zu ge­langen, die den Optimismus, das heißt die Welt- und Lebens­bejahung, und die Ethik sicherer und elementarer besitzt als die bisherigen.» Nun, auch mit dieser Antwort kann man ticht sonderlich viel anfangen. Die Anthroposophie empfin­det das Negative in der «Gegenwartskultur» ähnlich wie Schweitzer. Sie wird dies vielleicht weniger polternd und we­niger kraftmeierisch zum Ausdruck bringen; aber sie beant­wortet das Beobachtete mit einer geistigen Erkenntnis, die das menschliche Denken von den berechtigten Forderungen der Naturanschauung zu einer Einwurzelung in die lebendige Geisteswelt

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weiterführt. In dieser Geisteswelt haben die ethischen Ideale wieder Kraftwirkung wie auf dem Felde der Natur die Naturkräfte.

Schweitzer meint, das neuere Denken schrecke davor zu­rück, in das Geistige einzudringen und überlasse dieses Feld der gedankenfreien Mystik. «Aber warum» - sagt er - «an­nehmen, daß der Weg des Denkens vor der Mystik ende?» Er will ein Denken, das so lebendig ist, daß es in die Regionen eindringen kann, die Viele der Mystik zuteilen. Nun - die An­throposophie lebt ganz in einem solchen Denken und in ei­nem solchen Verhältnis zur Mystik. - Schweitzer findet:

«Wieviel wäre für die heutigen Zustände schon gewonnen, wenn wir alle nur jeden Abend drei Minuten lang sinnend zu den unendlichen Welten des gestirnten Himmels emporblick­ten und bei der Teilnahme an einem Begräbnis uns dem Rätsel von Tod und Leben hingeben würden ...» Man sehe, wie sich dazu die Anthroposophie verhält.

Schweitzer kennzeichnet das alles, wie Einer, der sagt: ich will ein Haus haben, das fest, wettersicher, schön und so ist, daß man bequem darin wohnen kann. Die Anthroposophie möchte nicht in diesen Abstraktionen verbleiben, sondern den konkreten Bauplan gestalten.-

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II BEITRÄGE ZUR WIEDERBELEBUNG DES VERSCHÜTTETEN GEISTESLEBENS GOETHE-STUDIEN

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DIE VERSCHÜTTETE GEIST-ERKENNTNIS

Wer sich in die mitteleuropäische Literatur der Zeit um die Mitte des neunzehnten Jahthunderts vertieft, der kann eine merkwürdige Entdeckung machen. Er wird dies aber nur dann tun, wenn er sich nicht ausschließlich an dasjenige hält, was in der folgenden Zeit beliebt geblieben ist und was in der Gegenwart gewöhnlich als wertvoll neu gedruckt wird und viel gelesen ist. Denn es gibt etwas wie eine durch die Den­kungsart der spätern Zeit verschüttete Schicht mitteleuropä­ischer Anschauungen, die in Ton, Haltung und Interesse für bestimmte Ideenkreise heute ganz fremdartig anmuten.

Man kann sich aus der Lektüre von Werken dieser ver­schütteten Schichte Bilder von Persönlichkeiten mit einer der Gegenwart ganz fernen Geiste sart vor die Seele stellen. Mir ist übrigens das Glück widerfahren, in meinem alten Lehrer und Freund, Karl Julius Schröer, in den achtziger Jahren in lebhaf­tem Geistesverkehr mit einet Persönlichkeit zu stehen, die nach ihrer Seelenverfassung ganz in dem Leben der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wurzelte. Ein idealischer Zauber ging von dieser Persönlichkeit aus. Wenn Karl Julius Schröer von Goethe sprach, so lebte etwas von der verschütteten Schichte auf.

Ich habe ein Bild aus dem Verkehr mit Karl Julius Schröer vor mir. Ich besuchte ihn wenige Stunden, nachdem der öster­reichische Kronprinz in der Tragödie von Meyerling zu-grunde gegangen war. Karl Julius Schröer stand wie starr vor dem, was in einer Zeit geschehen konnte, von der er empfand, daß sie der seinigen so unähnlich geworden war. Seine Augen blickten wie aus einer fremden Welt heraus, und er sprach:

«Es ist ja, wie wenn das Zeitalter Neros wieder auflebte.»

Schröer selbst schrieb sein Anderssein gegenüber der jün­geren Generation allerdings auch persönlichen Anlagen zu. Er sagte mir einmal - allerdings ohne sich damit als einen An­hänger der Phrenologie zu bekennen: ein Phrenologe habe ihn vor langer Zeit untersucht und eine Eigentümlichkeit an

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seinem Kopfe gefunden, bei der er das Wort «Theosophie» ausgesprochen habe. (Ich überlasse den Inhalt dieser Bemer­kung denjenigen, die etwa zu der Ansicht kommen wollen, meine anthroposophische Anschauung sei ein dem Psycho­analytiker erklärliches Aufleben einer «Provinz» meines See­lenlebens, die in den achtziger Jahren durch Karl Julius Schrö­er bebaut worden ist.)

In der «verschütteten Schichte»lebte ein Verständnis für objektive Ideen. Man glaubte, daß im Einzelleben des Men­schen und im Völkerleben solche objektive Ideen walten. Man sah aber auch mit einer gewissen intellektualistischen Trauer den Sinn für diesen objektiven Idealismus in der europäischen Zivilisation dahinschwinden. So fühlte man sich der Wirklich­keit einer geistigen Welt gegenüber; man hielt sich an diese. Die äußere Welt nahm man als eine Art Abbild eines Geist-Waltens. Man kann Persönlichkeiten auftauchen sehen durch Vertiefung in diese ältere Zeit, die aus ihrer geistgemäßen An­schauung das Verhängnis der Folgezeit wie in einer merkwür­digen Geistesschau schildern.

Eine solche Persönlichkeit ist Ernst von Lasaulx, der um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in München gelebt und gewirkt hat. Man lese sein Buch: «Neuer Versuch einer alten auf die Wahrheit der Tatsachen gegründeten Philosophie der Geschichte» (München 1856). Ganz durchdrungen von einer geistgemäßen Anschauungsart ist dieses Buch. Die sinnenfäl­lige und geschichtliche Wirklichkeit wird überall von der Er-kenntnis des Geistigen aus beurteilt. Aufstieg und Nieder­gang der Völker werden mit dem aus Geist-Erkenntnis ge­wonnenen Lichte beleuchtet. Und man lese, was Lasaulx von der Zukunft aus seiner Beurteilung der Gegenwart heraus schreibt. «Daß die Sprachen fast aller europäischen Nationen, mit Ausnahme jener der slawischen Zunge, vollständig ent­wickelt, teilweise schon merklich verbraucht seien, unterliegt keinem Zweifel; ebensowenig, daß das bisherige religiöse Be­wußtsein, im ganzen geschätzt, nicht mehr im Wachsen, son­dern im Absterben begriffen sei: wie es denn eine offenkun­dige

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Tatsache ist, daß weit über die Grenzen Europas hinaus die innere progressive Entwicklung in allen noch bestehenden weltgeschichtlichen Völkerreligionen, im Mosaismus, imBud­dhismus, im Mohammedanismus, ihren Höhepunkt längst überschritten hat, und daß in allen dreien nicht mehr bloß ein Rückleben, sondern ein unleugbarer Verfall eingetreten ist. Und wie steht es mit dem Christentum, in seiner inneren theo­retischen Entwicklung und in seiner äußeren praktischen Übung in Europa?»

Nachdem er solche Fragen aufgeworfen und den Zustand Europas sich vergegenwärtigt hat, kommt Lasauh zu dem folgenden düstern Urteile. Er überdenkt die Geschicke Süd-, West-, Mitteleuropas und setzt dieses Denken so fort: «... und daß endlich auch der nordische Koloß, wie es scheint, auf tö­nernen Füßen ruht und in den oberen Schichten von Lüge und innerer Fäulnis vor der Reife stark angefressen ist: wer dies und ähnliches ernst überdenkt, der wird sich einer düste­ren Ahnung, wie sie jedesmal dem Eintritt großer Katastro­phen vorangeht, kaum zu erwehren vermögen.»

Aber Lasaulx steht in einer Perspektive der Geistes-Erkenntnis. Und in dieser spricht er nicht bloß pessimistisch; aber überraschend ahnungsvoll am Schlusse seines andern Bu­ches: «Der Untergang des Hellenismus »: «Und wenn das drohende Schicksal der Zukunft sich erfüllen und die ver­hängnisvolle Stunde eines letzten großen Völkerkampfes in Europa kommen wird, so kann es keinem verständigen Zwei­fel unterliegen, daß auch hierin der endliche Sieg nur da sein wird, wo die größere Kraft des Glaubens herrscht.»

Ist nicht bei einer solchen Persönlichkeit der verschütteten Schichte mehr Verständnis der Gegenwart zu ilnden als bei manchem maßgebenden Geiste dieser Gegenwart? Mehr Ver­ständnis für das, was verfällt, mehr für das, was zum Aufstieg nottut. Und Lasaulx ist nur ein Repräsentant; man könnte Viele in seiner Art aufzeigen.

Die Frage drängt sich vor die Seele: warum ist diese Den­kungsart verschüttet worden?

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Sie war niemals eine volkstümliche; sie blieb diejenige einer auserlesenen Minderheit. Sie wurzelte im Geiste; aber nur mit dem allgemeinen Gefühle. Sie wußte sich nur intellektualistisch auszudrücken. Sie blieb in abstrakten Begriffen stecken, die das Herz der Menschen nicht warm machen können. Sie re­dete vom Geiste; aber sie kam nicht zu Anschauungen vom Geiste. Sie ergriff nicht den ganzen, vollen Menschen; sie er-griff nur die Erziehung der Kopfmenschen. Die Welt ließ die­se Denkungsart deshalb fallen und hielt sich an das Sinnenfäl­lig-Wirkliche und an das Geschichtlich-Äußere. Und so kam es, daß die Prophetien der Persönlichkeiten aus der verschüt­teten Schicht so merkwürdig wahr, ihr volkstümlicher Wir­kensbereich so klein war, daß sie vergessen werden konnten.

Aber an sie darf Anthroposophie erinnern. Sie will die gei­stige Welt als die feste Grundlage aller Zivilisation nicht in der Abstraktion, sondern durch Vermittelung lebendiger An­schauungen geltend machen; sie möchte nicht bloß zu dem Kopfmenschen, sondern zu der ganzen, vollen Menschlich­keit sprechen. Sie will nicht intellektualistische, sie möchte realgeistige Erkenntnisse vermitteln, die lebenskräftig in der Wirklichkeit stehen können.

Daß Anthroposophie mißverstanden wird, hat viele Grün­de; die Betrachtung der verschütteten Schichte liefert einen:

es muß zunächst durch die sinnenfällig-materialistischen Vor­stellungen hindurch gearbeitet werden, die deshalb so stark wirken, weil sie sich im Gegensatz zu einer Denkungsart ent­wickelt haben, die zwar geistig, aber einseitig intellektuali­stisch war. Man glaubt sich berechtigt, mit dieser Einseitig­keit alle Geistigkeit abtun zu können.

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EIN BEITRAG ZUR WIEDERBELEBUNG DES «VERSUNKENEN GEISTESLEBENS»

Der «Kommende-Tag-Verlag» hat die Restbestände von Karl Julius Schröers Schriften über Goethe erworben: «Faust von Goethe. Mit Einleitung und fortlaufender Erklärung von K. J. Schröer» und «Goethe und die Liebe» sowie «Die Auffüh­rang des ganzen Faust auf dem Wiener Hofburgtheater». Mir gibt dies Veranlassung, hier mit ein paar Worten zunächst auf die beiden letzten kleinen Schriften hinzuweisen. «Die Auf­führung des ganzen Faust» ist 1883 erschienen. Karl Julius Schröer, der mir Lehrer und väterlicher Freund war, sah ich damals oft, sowohl in seinen Vorlesungen wie in seiner Ar­beitsstube in der Wiener Salesianergasse. Vor mir stand die Art, wie dieser Mann in Goethes Geistesart lebte. Er arbeitete damals an seiner Fausterklärung und an derjenigen der andern Dramen Goethes. In diese Arbeit fiel die von Wilbrandt ver­suchte Aufführung des ganzen Faust im Januar 1883 an drei Theaterabenden. Die Reife der Anschauung, die sich Schröer an seinen Goethestudien erworben hatte, ließ er auf die Be-schreibung fallen, die er von dieser Aufführung gab. Sie war ja damals ein hervorragendes künstlerisches Ereignis in Wien. Was Schröer darüber zu sagen hatte, scheint auch heute noch so lebendig, daß es mit vollem Interesse gelesen werden kann.

Das Schriftchen «Goethe und die Liebe » steht wohl einzig da in der reichen Goetheliteratur. Da ist jeder Satz aus unmit­telbarem Erlebnis heraus geschrieben. Lebensphilosophie im schönsten Sinne des Wortes an Goethe dargestellt, erscheint vor dem Leser. Schröer lebte ja ganz in der Goetheschen Art des Idealismus. In der Zeit, als er an diesem Schriftchen arbei­tete, hielt er in Wien einen Vortrag «Die kommenden An­schauungen über Goethe», von dem ein Auszug als Anhang zu «Goethe und die Liebe» abgedruckt ist. «Fünfzig Jahre sind seit Goethes Tode vorübergegangen, und es will uns fast scheinen, als ob er jetzt wahrer und lebendiger vor unseren Augen stünde, als seinen Zeitgenossen vor fünfzig Jahren; als

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hätte bereits eine Art Auferstehung nach dem Tode stattge­funden.» Schröer schrieb das i 88z; er lebte damals in der Vor­stellung, daß eine solche Auferstehung des Goetheschen Idea­lismus notwendig sei. Er vermeinte, sie kommen zu sehen. Aus dieser Gesinnung heraus hat er alles geschrieben, was von ihm über Goethe vorhanden ist. Man kann aber auch über­zeugt davon sein, daß in der Gegenwart solche Stimmen wie die Schröers wieder gehört werden sollten. In dem Büchelchen «Goethe und die Liebe» stehen die Sätze: «In der Heilkunst preist man an großen Diagnostikern am Krankenbette den Tiefblick, mit dem sie den Habitus, den individuellen Typus des Kranken und daraus dann die Krankheit erkennen. Nicht ihr chemikalisches oder anatomisches Wissen steht ihnen da­bei zur Seite, sondern die Intuition in das Lebewesen als Gan­zes.... Folgt ein solcher Diagnostiker der intuitiven Methode Goethes unbewußt, Goethe hat sie mit Bewußtsein in die Wis­senschaft eingeführt. Sie führte ihn zu Ergebnissen, die nicht mehr bestritten werden, nur die Methode ist noch nicht allsei­tig erkannt.» Damit ist doch eine Forderung der Erkenntnis aufgestellt, an deren Erfüllung heute intensiv gearbeitet wer­den müßte.

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VON DEN VOLKSTÜMLICHEN WEIHNACHTSPIELEN

Eine Christfest-Erinnerung

Vor fast vierzig Jahren, etwa zwei oder drei Tage vor Weih­nachten, erzählte mir mein lieber Lehrer und väterlicher Freund Karl Julius Schröer in seinem kleinen Bibliothekszim­mer in der Wiener Salesianergasse von den Weihnachtspielen, deren Aufführung in Oberufrr in West-Ungarn er in den fünf­ziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts beigewohnt, und die er 1862 in Wien herausgegeben hatte.

Die deutschen Kolonisten dieser Gegend haben diese Spiele aus mehr westlich gelegenen Gegenden mitgebracht und ganz in alter Weise jedes Jahr um die Weihnachtzeit weitergespielt. Es sind in ihnen wahre Perlen des deutschen Volksschauspieles aus einer Zeit erhalten, die der allerersten Entstehung der mo­dernen Bühne vorangegangen ist.

In Schröers Erzählung war etwas, das eine unmittelbare Empfindung davon erregte, wie vor seiner Seele im Anblick der Spiele ein Stück Volkstum aus dem sechszehnten Jahr­hundert stand. Und er schilderte ja aus dem Vollen heraus. Ihm war das deutsche Volkstum in den verschiedenen öster­reichisch-ungarischen Gegenden ans Herz gewachsen. Zwei Gebiete waren der Gegenstand seines besonderen Studiums. Dieses Volkstum und Goethe. Und wenn er über irgend et­was aus diesen beiden Gebieten sprach, dann teilte sich nicht ein Gelehrter mit, sondern ein ganzer Mensch, der sich der Gelehrsamkeit nur bediente, um auszusprechen, was ihn mit ganzem Herzen und intensivem Lebensinhalt persönlich da­mit verband.

Und so sprach er damals über die bäuerlichen Weihnacht-spiele. Lebendig wurden aus seinen Worten die armen Leute von Oberufer, die jedes Jahr um die Weihnachtszeit für ihre Mitbewohner zu Schauspielern sich ausbildeten. Schröer kannte dieser Leute Art. Er hat ja auch alles getan, um sie ken­nen zu lernen. Er bereiste das ungarische Bergland, um die Sprache der Deutschen in dieser Gegend Nordungarns zu

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studieren. Von ihm gibt es ein «Wörterbuch der deutschen Mundarten des ungrischen Berglandes» (18 5 8); eine «Dar­stellung der deutschen Mundarten des ungarischen Berglan-des » (1864). Man braucht nicht gerade eine Vorliebe für die Lektüre von Wörterbüchern zu haben, um von diesen Büchern gefesselt zu werden. Das äußere Gewand der Darstellung hat zunächst allerdings nichts Anziehendes. Denn Schröer sucht der wissenschaftlichen Art der Germanistik seiner Zeit ge­recht zu werden. Und diese Art erscheint zunächst auch bei ihm recht trocken. Überwindet man aber diese Trockenheit und geht man auf den Geist ein, der da waltet, wenn Schröer Worte, Redensarten, Wortspiele und so weiter aus den Volks-dialekten mitteilt: dann vernimmt man in wahrhaft anmutigen Miniaturbildchen Offenbarungen reinster Menschlichkeit. Aber man ist nicht einmal darauf angewiesen. Denn Schröer schickt seinen Wörterbüchern und grammatikalischen Auf­zählungen Vorreden voraus, die weiteste kulturgeschichtliche Ausblicke geben. In Volkstümliches, das eingestreut in ande­res Volkstum und innerhalb desselben im Untergange be­griffen ist, verliebt sich eine selten sinnige Persönlichkeit und schildert es, wie man eine Abenddämmerung schildert. -Und aus dieser Liebe heraus hat Schröer auch ein Wörter­buch der Heanzen-Mundart des westlichen Ungarns geschrie­ben und eines der ganz kleinen deutschen Sprachinsel Gott­schee in Krain.

Es war immer etwas von einem tragischen Grundton da, wenn Schröer aussprach, was er empfand, wenn er hinblickte auf dieses untergehende Volksleben, das er in Form der Wis­senschaft bewahren wollte.

Zur innigen Wärme steigerte sich aber diese Empfindung, als er von den Oberuferer Weihnachtsspielen sprach. Eine an­gesehene Familie bewahrte sie und ließ sie als heiliges Gut von Generation auf Generation übergehen. Das älteste Mit­glied der Familie war der Lehrmeister, der die Spielart von seinen Vorfahren vererbt erhielt. Der suchte sich aus den Bur­schen des Ortes jedes Jahr, wenn die Weinlese vorüber war,

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diejenigen aus, die er als Spieler für geeignet hielt. Ihnen brachte er das Spiel bei. Sie mußten sich während der Lehr­zeit eines Lebenswandels befleißigen, der dem Ernste der Sa­che angemessen war. Und sie mußten sich treulich allem fü­gen, was der Lehrmeister verordnete. Denn in diesem lebte eine altehrwürdige Tradition.

In einem Wirtshaus waren die Aufführungen, die Schröer gesehen hat. Aber sowohl Spieler wie Zuschauer trugen in das Haus die herzlichste Weihnachtstimmung hinein. - Und diese Stimmung wurzelt in einer echt frommen Hingebung an die Weihnachtswahrheit. Szenen, die zur edelsten Erbauung hin­reißen, wechseln mit derben, spaßhaften. Diese tun dem Ernst des Ganzen keinen Abbruch. Sie sind nur ein Beweis dafür, daß die Spiele aus derjenigen Zeit stammen, in welcher die Frömmigkeit des Volkes so festgewurzelt im Gemüte war, daß sie durchaus neben naiver volkstümlicher Heiterkeit ein­hergehen konnte. Es tat, zum Beispiel, der frommen Liebe, in der das Herz an das Jesuskind hingegeben war, keinen Ein­trag, wenn neben der wunderbar zart gezeichneten Jungfrau ein etwas tölpischer Joseph hingestellt wurde; oder wenn der innig charakterisierten Opferung der Hirten eine derbe Unter­haltung derselben mit drolligen Späßen voranging. Diejeni­gen, von denen die Spiele herrührten, wußten, daß der Kon­trast mit der Derbheit die innige Erbauung bei dem Volke nicht herabstimmt, sondern erhöht. Man kann die Kunst be­wundern, welche aus dem Lachen heraus die schönste Stim­mung frömmster Rührung holt, und gerade dadurch die un-ehrliche Sentimentalität fernhält.

Ich schildere, indem ich dies schreibe, den Eindruck, den ich empfing, nachdem Schröer, um seine Erzählung zu illu­strieren, das Bücheichen aus seiner Bibliothek hervorgeholt, in dem er die Weihnachtspiele mitgeteilt hatte, und aus denen er mir nun Proben vorlas. Er konnte darauf hinweisen, wie der eine oder der andere Spieler in Gesichtsausdruck und Ge­berde sich verhielt, wenn er dieses oder jenes sprach. Schröer gab mir nun das Bücheichen mit («Deutsche Weihnachtspiele

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aus Ungern», geschildert und mitgeteilt von Karl Julius Schröer. Wien 1862); und ich durfte, nachdem ich es durchge­lesen hatte, ihn noch oft über Vieles fragen, was mit der Spiel­art des Volkes und dessen ganzer Auffassung von dieser be­sonderen Weise, Weihnachten und das Dreikönigsfest zu fei­ern, zusammenhing.

Schröer erzählt in seiner Einleitung zu den Spielen: «In der Nähe von Preßburg, eine halbe Stunde Wegs zu fahren, liegt auf einer Vorinsel zur Insel Schütt das Dörfchen Oberufer, dessen Grundherrschaft die Familie Palfy ist. Die katholische; sowohl als die protestantische Gemeinde daselbst gehören als Filialen zu Preßburg und haben ihren Gottesdienst in der Stadt. Ein Dorfschulmeister für beide Gemeinden ist zugleich Notär, und so sind denn in einer Person alle Honoratioren des Ortes vereinigt. Er ist den Spielen feind und verachtet sie, so daß dieselben bis auf unsere Tage unbeachtet und völlig iso­liert von aller von Bauern ausgingen und für Bauern aufgeführt wurden. Die Religion macht dabei keinen Unterschied, Katholiken und Protestanten nehmen gleichen Anteil, bei der Darstellung sowohl als auch auf den Zuschau­erplätzen. Es gehören die Spieler jedoch demselben Stamme an, der unter dem Namen der Haidbauern bekannt ist, im 16. oder zu Anfang des 17. Jahrhunderts aus der Gegend am Bo­densee» - Schröer stellt in einer Anmerkung das als nicht ganz gewiß hin - «eingewandert und noch 1659 ganz protestantisch gewesen sein soll.» - «In Oberufer ist nun der Besitzer der Spiele seit 1827 ein Bauer, er hatte schon als Knabe den Enge] Gabriel gespielt, dann von seinem Vater, der damals der Spiele war, die Kunst geerbt. Von ihm hatte er die Schriften, die auf Kosten der Spieler angeschafften und in Stand erhaltenen Kleidungen und andern Apparat geerbt, und so ging denn auch auf ihn die Lehrmeisterwürde über.» -Wenn die Zeit zum Einüben gekommen ist, «wird abgeschrie­ben, gelernt, gesungen Tag und Nacht. In dem Dorf wird keine Musik gelitten. Wenn die Spieler über Land gehn, um in einem benachbarten Ort zu spielen und es ist Musik da, so

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ziehn sie weiter. Als man, ihnen zu Ehren, in einem Orte ein­mal die Dorfmusikanten aufspielen ließ, fragten sie entrüstet: ob man sie für Komödianten halte?» - «Die Spiele dauern nun vom ersten Advent bis heiligen Dreikönig. Alle Sonntag und Feiertag wird gespielt; jeden Mittwoch ist eine Auffüh­rung zur Übung. An den übrigen Werktagen ziehn die Spieler über Land auf benachbarte Dörfer, wo gespielt wird.» - «Ich halte die Erwähnung dieser Umstände deshalb für wichtig, weil aus ihnen ersichtlich wird, wie auch gegenwärtig noch eine gewisse Weihe mit der Sache verbunden ist.»

Und wenn Schröer über die Spiele sprach, so hatten seine Worte noch einen Nachklang von dieser Weihe.

Ich mußte, was ich damals durch Schröer aufnahm, im Her­zen behalten. Und nun spielen Mitglieder der Anthroposo­phischen Gesellschaft seit einer Reihe von Jahren zur Weih­nachtszeit diese Spiele. Während der Kriegszeit durften sie sie auch den Kranken in den Lazaretten vorspielen. Wir spielen sie auch seit Jahren um jede Weihnachtszeit im Goetheanum in Dornach. Auch dieses Jahr wird es wieder so sein. Es wird, soweit das bei den veränderten Verhältnissen möglich ist, streng darauf gesehen, daß Spielart und Einrichtung dem Zu­schauer ein Bild geben, wie es diejenigen vor sich hatten, die im Volk sgemüt diese Spiele festgehalten und als eine würdige Art, Weihnachten zu feiern, angesehen haben.

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ZUR AUFFÜHRUNG UNSERER VOLKSTÜMLICHEN WEIHNACHTSPIELE

Im letzten Aufsatz habe ich mitgeteilt, wie die deutschen Weihnachtspiele, die jedes Jahr im Goetheanum in Dornach aufgeführt werden, mir bekannt geworden sind. Diese Auf­führung gibt Szenen wieder, die durch Karl Julius Schröer mitgeteilt sind. Nur in einem Falle habe ich in diesem Jahre versucht, durch eine kleine Hinzufügung gegen den Grund­satz zu handeln, nur mündlich oder schriftlich in der Überlie­ferung Erhaltenes zu bringen. Etwas besonders Charakteri­stisches bei diesen Spielen war, daß die Spieler, bevor sie den Inhalt des Dargestellten vorführten, schon als eine Art Chor vor ihre Zuschauer traten. Solches Chormäßiges tritt ja auch, den Fortgang der Handlung unterbrechend, an vielen Stellen der Stücke auf. Im überlieferten « Sterngesang», welcher der Darstellung des «Christi-Geburtspieles» voranging, ist ein Einleitungschor erhalten, in dem die Spieler alles das begrü­ßen, zu dem sie sich, bevor sie mit der Darstellung beginnen, in ein herzliches Verhältnis setzen möchten. Sie grüßen da al­les, was ihnen in dem für sie wichtigen Augenblicke seelisch naheliegt: von der heiligen Dreifaltigkeit, von den einzelnen Kategorien der Zuschauer bis zu den « Hölzelein»ihres Ster­nes, den der Sternsinger trägt. - Es ist mir nun gewiß, daß ein solcher Einleitungschor ursprünglich auch dem ersten der Spiele, dem « Paradeis spiel» vorangegangen ist und daß dieser dem Sternge sang des « Christi-Geburtspieles» ganz ähnlich in der Form der Vorstellungen gewesen ist. Ich habe nun den Versuch gewagt, auch vor dem Paradeisspiel einen solchen Einleitungschor zu geben, weil ich glaube, damit, aus dem Geiste der Überlieferung heraus, etwas hinzustellen, was an­nähernd so vorhanden war, wenn auch die mündliche und schriftliche Überlieferung es verloren hat. Die Empfindungen des « Sterngesangs» zum Geburts spiel müssen da, etwas an­ders, zu finden sein.

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Ir liabn meini singa kumts freindii her,

Is g'schireht heunt zu engerer größten freid und er;

Is sitzt vor eng dö gonzi ersami gmoan,

Dö will eng fleißi a wail wol hören an.

Drum stellts eng um mi in ana scheibn;

Den leutn sollts dö wail mit singa vartreibn.

Ir liabn meini singa, mochts frumi augn,

Daß si dö leut recht guat erbaun,

Und schauts, daß enga singa is guat,

Und herzli enga stimm und wuat.

Erst oba wolln ma dö grüaßn alle,

Dö sie heunt hohn eingfundn in dem saale.

Grüaßn ma God Voda im höchsten thron;

Und grüaßn ma a sein einiga Son;

Grüaßn ma a dazua den haligen Geist,

Der unsern söln dö wahren wege weist;

Und grüaßn ma dö gonzi haligi Dreifaltikeit:

Den Voda, den Son und den Geist in da einikeit.

Grüaßn ma Adam und Eva im garten drein,

In den ma olli a gern meehtn hrein.

Und grüaßn ma olli bam und tiralein

So vüel als in dem paradeise sein

Und grüaßn ma a ganz fein

Dö wunderschön großn und kloan vögalein;

Grüaßn ma a dös gonzi firmament,

Dös dr liab Hergod hot gsetzt ans weltenend. -

Grüaßn ma dö erenfesten amtsleut;

Grüaßn ma den maister heunt wia allezeit.

Grüaßn ma a dö geistlinga herrn,

Oni dö ma ka gspül derfn lern.

Grüaßn ma den gmoaherrn, erenfest

Mit seina gonzn besehwerd aufs allerbest;

Denn dö hot dr liab Hergod b'stellt

Wails erm so gor so guat gfällt. -

Und noa, meini liabn singa, stimmts noamal an,

In da mittn tuat a bam stan;

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Von dem derf ka mensch eßn nit,

Wonn ar wili holtn d'rechti sitt:

Den bam wolin ma a grüaßn an,

Und olli früacht, dö hängent dran.

D'Eva, dö bösi, dö hot gessen davon,

Und a dr Adam, dr dummi mon.

Da wurdens vo God verstoßn;

Dös woll'n ma uns gsogt sei laßn. -

Nur den teifül wolln ma ja grüaßn nit,

Vor den uns dr liabi God bhüat;

Ma wolln ar an schwanz zupfa,

Und erm olli hoar ausrupfa. -

Ir liabn meini singa hobts olli ghört,

Woas si in paradeis dereinst bekert. -

Nu grüaßn ma a unsern lehrmaister guat

Und grüaßn ma a den guaten muot,

Mit dem ar unseri grobn stimma

Fei, oni vül schläg hot richtn kinna. -

So, meini liabn singa hobts ghört

Wos enger olter freind von eng begehrt

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WIE EINE DICHTERISCH-BEGEISTERTE PERSÖNLICHKEIT VOR FÜNFZIG JAHREN UNSERE ZEIT VORFÜHLTE

Es ist fast ein halbes Jahrhundert verflossen, seit der österrei­chische Literaturhistoriker Karl Julius Sehröer sein Buch «Die deutsche Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts» schrieb. Er faßte darinnen eine Zeiterscheinung, die sich in emer Reihe von Dichtern offenbarte, mit dem Namen « Ge­lehrte Lyrik» zusammen. Die Dichter, die ihm dazu Veran­lassung gaben, waren: Hermann Lingg, Wilhelm Jordan, Ro­bert Hamerling, Vietor Scheffel. Es ist nicht eine ablehnende Beurteilung dieser Dichter, die Sehröer damit zum Ausdrucke bringen wollte. Das wird auch der zugeben können, der mit dieser Beurteilung in vielem nicht einverstanden ist.

Was aber Sehröer wollte, das drückt er in den folgenden Worten scharf aus: «Möchten uns die Dichter, deren Werken ich den Namen gelehrter Lyrik zu geben mir erlaubte, fast wie Zeugnisse für eine an Überbildung leidende Zeit erscheinen, so ist doch nicht zu verkennen, daß unter den genannten ge­wiß Hamerling vom wahren Dichter noch am meisten an sich hat. - Wahrhaftig in Samen schießt die neue Bildung und Ge­lehrsamkeit mit dem letzten Lyriker, mit dem wir uns zu be­fassen haben, mit Victor Scheffel.»

Sehröer empfand den Druck, den die «gelehrte Bildung» in der Zeit, in der er seine Betrachtungen niederschrieb, auf die freie Schwungkraft der dichterischen Phantasie ausübte.

Man kann nun gewiß nicht sagen, daß Vietor Scheffel « Ge­lehrsamkeit»in seinen Dichtungen verkörpern wollte. Man wird das auch bei den andern genannten Dichtern nicht unbe­dingt finden können. Am wenigsten wohl bei Robert Hamer­ling.

Aber Sehröer weist dennoch auf etwas hin, was für die abge­laufenen fünfzig Jahre bedeutsam ist.

Am meisten auffallen muß das Wort «für eine an Überbil­dung leidende Zeit». Es ist die Zeit, die im Keime schon die

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Niedergangskräfte enthält, unter deren Wirkung die Mensch­heit der Gegenwart leben muß. Und gerade diese Keime emp­findet Schröer, wenn er von « Überbildung» redet. Er fühlt, wie in der Richtung, welche die geistige Bildung genommen hat, etwas liegt, das den Menschen von den inneren Quellen des Lebens und der Welt trennt. Er weist, indem er solches aus­spricht, auf Goethe zurück, der Natur und Welt noch kräftig in seinem Herzen trägt.

Es ist der Druck, der von den Erkenntuisbestrebungen der damaligen Zeit ausging, der Schröer die Worte auf die Zunge trägt. Was in dieser Wochensehrift oft gesagt worden ist, darf von anderem Gesichtspunkte wiederholt werden. Man kann die großen Errungenschaften des Naturerkennens, das jene Zeit unbeschränkt beherrschte, voll anerkennen; aber es darf dies die Einsicht nicht verscheuchen, daß die Denkart, die mit diesen Errungenschaften in der Entwickelung der Menschheit heraufgekommen ist, Niedergangskräfte in sich schließt. Und das sieht Schröer, indem er von dem Leiden seiner Zeit an « Überbildung» redet. Er sieht, wie nur mehr Vertrauen in diejenige Seelentätigkeit vorhanden ist, die den Verstand auf die Naturvorgänge richtet, insofern sich diese Naturvorgänge durch die Sinne offenbaren. Dadurch kommt ein Seeleninhalt zustande, der für Schröers Gefühl die Dichterkraft lähmt.

Gewiß, das muß nicht so sein. Und wer sagen will: «Ja, soll man denn, um die Dichter nicht zu stören, auf die der wahrhaften Erkenntnis verzichten», der hat - von sei­nem Standpunkt aus - ganz recht. Aber die Denkart, die sieh aus dieser «wahrhaften Erkenntnis» ergeben hat, drängte überall zur Anerkennung ihrer eigenen Grenzen. Man fand die «Objektivität» nur dann vorhanden, wenn man sieh an die «Grenzen des Naturerkennens» hielt. Wer da sagt: so viel kann die Naturwissenschaft erkennen: wer anderes erstrebt, der suche die Wege über die « Grenzen des Naturerkennens» hinaus, der wird segensreich wirken. Wer aber dekretiert: Na­turerkenntnis muß unbedingt gelten; sie hat ein Recht, die Grenzen des Erkennens überhaupt zu bestimmen, der bringt

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durch diese Denkart Ideen zustande, die auf die Seelengewohn­heiten des Menschen wirken. Und diese Wirkung ist eine aus­löschende auf alles, was in freier Kraft aus der Seele aufsteigt, um in den Menschenschöpfungen des Geistes sich zu offen­baren.

Diese freien Menschenschöpfungen aber sind es, die mit dem Wesen des Menschen selbst zusammenhängen. Sie sind die ins Geistige verwandelten Kräfte, die im Wachstum, in der Gestaltung, in der ganzen Bildung auch des physischen Men­schen wirken. Der Mensch laßt in der freien Geistes schöpfung das aus seiner Seele in anderer Gestalt hervorgehen, was die Weltkräfte ausleben, indem sie ihn selbst aus dem Mutterbo­den des Daseins in die Erscheinung treten lassen. Der Mensch kann nimmermehr sein eigenes Wesen verstehen, wenn er in sieh eine Zusammenfügung dessen sieht, was die Natur an sieh ihn erkennen läßt.

Die Erwiderung, die da oft gemacht wird, ist nicht berech­tigt. Wer die gebräuchliche Orientierung nach dem bloßen Naturgesehehen in sieh aufgenommen hat, glaubt, er gehe an den Menschen heran, um diesen so unbefangen zu betrachten wie die Natur. Das tut er eben nicht, sondern er hat in seine Seele die Natur-Ideen mit ihren Grenzen als Denkgewohnhei­ten aufgenommen, und die überträgt er auf den Menschen. Er glaubt, diesen anzuschauen; in Wahrheit steht die Halluzination eines Gespenstes vor seiner Seele, das er aus den Naturstoffen und Naturkräften zusammengestellt hat; und die wahre menschliche Wesenheit fällt aus der Anschauung heraus.

Mit dieser Halluzination vor der Seele sieht sich der Mensch überall gehemmt, wo er seine freie Geisteskraft walten lassen will. Er möchte auch in der Seele geistig entfalten, was in den Tiefen wirkt, indem sein eigenes Wesen ersteht; da korirnit die «wahrhaftige Erkenntnis» und raunt ihm zu, das magst du tun; aber du bist in dem luftigen Reiche des Unwirklichen. Man kann nun theoretisieren darüber, daß eine « wahre Er­kenntnis» doch nur auf sich selbst gebaut sein müsse; daß die Phantasie eben ihre eigenen Wege gehen müsse, unbeküm­mert

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darum, was die «Wissenschaft» feststellt: diese Wissen­schaft fließt aber doch in die Seelen. Und sie bewirkt das, was Schröer das Leiden an «Überbildung» nennt. Diese Überbil­dung liegt in dem Glauben, daß die im neunzehnten Jahrhun­dert erwachsene Naturerkenntnis mit ihrer Ideenorientierung an das menschliche Wesen herankommen könne.

Diese Überbildung wird zur Unterbildung auf dem geisti­gen Gebiete. Beirrend im höchsten Grade wäre es, wenn man in Wahrheit sagen müßte: wer den Mensehengeist freisehaf­fend walten lassen will, der ist eben genötigt, dies unbeküm­mert um die «Feststellungen» der Erkenntnis zu tun. Sieht man dann, daß das freie Schaffen doch dadurch in Fesseln ge­legt wird, so müßte man einen tragischen Zwiespalt in dem Wesen des Menschen voraussetzen. Man müßte glauben, daß er Erkenntnis nur gewinnen könne, wenn er sein eigenes We­sen verkümmert. Wäre dies wirklich das Ergebnis der gewis­senhaften, « exakten» Forschung: der Mensch müßte sieh re­signierend darein fügen. Daß es nicht so ist, das versucht die anthroposophisehe Geistes-Erkenntnis zu zeigen. Sie steht aber nicht auf dem Standpunkte: um des Menschen willen muß sie - gleichsam wie eine Hypothese - angenommen werden; sondern sie geht an das geistige Sein heran wie die Naturwis­senschaft an das natürliche. Daß der Mensch eine Harmonie in sich finden kann, ist nicht ihre Voraussetzung, um derentwil­len sie ihre Ergebnisse erschleicht; sondern sie gewinnt diese Ergebnisse geistig, wie die Naturwissenschaft die ihrigen na­türlich. Und sie darf dann aus diesen Ergebnissen heraus auf die Harmonie im Menschen schauen und sieh der Hoffnung hingeben, daß sie durch ihre Impulse auf diese Harmonie auch wirken könne.

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FAUST UND HAMLET

Goethe hat, auf seine Seelenentwickelung im reifen Alter zu­rückblickend, drei Persönlichkeiten genannt, die auf ihn den größten Einfluß gehabt haben: Linné, der Naturforscher, Spi­noza, der Philosoph, und Shakespeare, der Dichter. Zu Linné hat er sich in Gegensatz gestellt, und ist dadurch zu seinen An­schauungen über Pflanzen- und Tierformen gekommen; von Spinoza hat er die Ausdrucksweise genommen, um eine Ge­dankensprache zu haben für seine Weltanschauung, die inner­lich umfassender, reicher war, als diejenige des Philosophen; in Shakespeare fand er den Geist, der seine Dichterkraft so be­lebte, wie das den innersten Anforderungen seines eigenen Wesens gemäß war.

Wer Goethe nachempfindet, was er innerlich durchgemacht hat, als er die Seelenkämpfe erlebte, die aus Götz und Werther sich offenbaren, der kann auch eine Vorstellung davon bekom­men,was in ihm vorging, als er sich zuerst in Hamlet versenkte.

Man erhält einen tiefen Eindruck davon, wenn man Goe­thes Gedanken nimmt, in denen er von Shakespeare wie von einem Interpreten des Weltgeistes selber spricht. Was dieser in den Offenbarungen der Natur verschweigt, das spricht Shake­speares Genius aus. In solche Vorstellungen faßt Goethe seine Empfindung von Shakespeare.

Was man heute Intellektualismus nennt, das durchdringt das Seelenleben der Menschheit erst seit etwa fünf Jahrhunderten. Es hat sieh erst allmählich in das Innere der Menschen einge­wurzelt. In den Anschauungen, welche man über Welt und Leben vorher hatte, lebte eine andere Art der Seelenverfas­sung. Das Begreifen durch den Gedanken spielte eine unterge­ordnete Rolle.

In Goethes Seele ist ein Kampf sichtbar gegen das Eindrin­gen der Gedankenherrschaft. Er möchte noch mit anderen Seelenkräften die Welt innerlich erleben. Aber das äußere Gei­stesleben, von dem er umgeben ist, formt den Gedanken zu dem tonangebenden Element im Seelendasein. Für ihn wird

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das Gefühl: kann man in Gedanken der Welt nahe kommen, zum erschütternden Innenerlebnis.

Aus dieser Erschütterung wird seine Faustgestalt geboren. Faust hat, so wie ihn Goethe darstellt, zehn Jahre als Lehrer in einem Zeitalter gewirkt, in dem der Inteliektualismus erst im Entstehen war. Dieser hatte noch eine schwache Kraft über das Menschengemüt. Faust empfindet ihn noch nicht in Philoso­phie, Juristerei, Medizin und Theologie als Überzeugung brin­gende Kraft. Er kann als Mann der Wissenschaft noch zurück-verfallen in die Seelenverfassung einer früheren Epoche, in der der Mensch Geistiges in der Natur unmittelbar, ohne die Ver­mittelung des Intellektes erlebte. Er will zur unvermittelten Geistanschauung kommen. Was in Faust vorgeht in diesem Schwanken zwischen Gedankenerleben und Geistanschauung, das war für den jungen Goethe Seelenkampf.

Hamlet, andere Gestalten Shakespeares, stellten sich vor Goethes Inneres, als er diesen Seelenkampf durchmachte. Hamlet, der seine Lebensaufgabe aus Seelenerlebnissen erhält, die sich ihm als Verkehr mit der Geistwelt darstellen, und der nicht nur in herbe Zweifel, sondern in Tatenlosigkeit gewor­fen wird durch die Macht seines Intellektes. In Seelenabgründe blickt man bei Hamlets Worten:

«Der angebornen Farbe der Entschließung

Wird des Gedankens Blässe angekränkelt.»

Der junge Goethe hat oft in diesen Abgrund geblickt. Und diese Blicke haben seine Empfindung für Hamlets Charakter geschärft. Man wird in der Nachempfindung von Goethes See­lenieben von der Hamlet-Stimmung zu der Faust-Stimmung geführt. Man erlebt dabei ein Stück Goethe-Biographie. Es muß nicht belegt werden durch die äußeren Dokumente. Es braucht auch gar nicht im gewöhnlichen Sinne historisch zu sein. Und doch kann es mehr Geschichte spiegeln, als was man gewöhnlich so nennt.

Man kommt zu dem Bilde: Faust, wie er in Goethe lebt, der Lehrer aus einer Seelenverfassung heraus, die hin- und herschwankt

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zwischen Intellekt und Geistanschauung. Er lehrt in diesem Schwanken zehn Jahre seine Schüler. Man denke sich unter diesen Schülern Hamlet, nicht den der dänischen Sage, sondern den, der in Shakespeares Drama vor dem Leser steht. Goethe hat im Faust den Lehrer hingestellt, der Hamiets « angeborener Farbe der Entschließung» des « Gedankens Blässe angekränkelt» haben kann. So angesehen wird Shake­speare der Dichter, der einen Charakter aus der Dämmerzeit von Mittelalter und Neuzeit vor der Seele hat; Goethe derje­nige, der in die Weltanschauungsstimmung dringen will, in der solche Charaktere erwachsen.

In vielen Gestalten Shakespeares konnte Goethe den Ab­glanz dieser Dämmerzeit empfinden. Das brachte ihm Shake­speare so nahe. Denn das hing zusammen mit seinem Kunstge-fühle. In dieses Kunstgefühl drang der Intellektualismus Spi­nozas ein. In Spinoza lebte bereits der Gedanken-Geist, der dem Denken der neuern Menschheit die Seelenorientierung gibt. Für Goethe wurde dieser «Spinozismus» erst erträglich, als er vor den italienischen Kunstwerken stand, und in ihnen künstlerisch jene « Notwendigkeit» der schöpferischen Natur­kräfte empfinden konnte, die ihm bei Spinoza im bloßen Ge­dankenkleide entgegengetreten war. Er hatte Spinozas Philo­sophie in Gemeinschaft mit Herder aufgenommen; doch erst in Italien konnte er im Anblicke der Kunst schreiben, was er beim Lesen des Spinoza nicht konnte: «Da ist die Notwendig­keit, da ist Gott.» Goethe bedurfte, um in der Kunst sicheren Boden zu fühlen, einer Weltanschauung; aber diese Weltan­schauung mußte die Kunst wie eines ihrer Wesensglieder in sich schließen; nicht es neben sich gestellt haben. Aus der Natur offenbarte sich für Goethe der schaffende Weltgeist; in Shake­speare fand er den Künstler, der diesen Weltgeist in seinem Schaffen selbst offenbarte.

Goethe hat tief gefühlt, wie der Mensch nach Wissenschaft aus dem Wesen seines Innern heraus streben muß; aber er fühlte nicht weniger, wie in diesem Streben der Gedanke sich in Weltenferne verirren kann. Bei Spinoza fühlte sich Goethe

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in dieser Gefahr; bei Shakespeare fühlte er die Weltennähe der unmittelbaren künstlerischen Anschauung. Und Goethe hat dieses sein Verhältnis zu Shakespeare selbst mit den Worten ausgesprochen: «Eine Notwendigkeit, die mehr oder weniger oder völlig alle Freiheit ausschließt » - wie in den Alten -, «ver­trägt sich nicht mehr mit unsern Gesinnungen; diesen hat je­doch Shakespeare auf seinem Wege sich genähert; denn indem er das Notwendige sittlich macht, so verknüpft er die alte und die neue Welt zu unserm freudigen Erstaunen.»

Für Goethe wurde Shakespeare der Genius, der ihm in seiner Jugend den Weg in die «neue Welt» wies, weil Shakespeare in der dramatischen Menschengestaltung die Notwendigkeit des Naturwirkens mit der Freiheit des Gedankenlebens in jenem Schweben zu halten wußte, das von dem neuzeitlichen Men­schen gefühlt werden muß, wenn er im Gedanken nicht die Wirklichkeit verlieren will.

GOETHE, DER SCHAUENDE, UND SCHILLER. DER SINNENDE

Zu den schönsten Blüten des menschlichen Geisteslebens ge­hört, was Goethe und Schiller in der Zeit ihres Freundschafts­bundes geschaffen haben. Dieser Bund ist aber nur dadurch zu­stande gekommen, daß beide Geister schwerwiegende innere Hindernisse überwanden, die ihre Seelen auseinanderhielten. Man sieht diese Hindernisse wirksam, wenn man das von Goe­the berichtete Gespräch ins Auge faßt, das die beiden führten, als sie einmal aus einem Vortrag über die Pflanzenwelt gekom­men waren, der in der Naturforscher-Gesellschaft in Jena statt­gefunden hatte. Schiller fand, daß der Vortrag unbefriedigend sei, weil die einzelnen Pflanzenformen nebeneinandergestellt wurden, ohne daß in der Betrachtung der Zusammenhang er­sichtlich geworden sei. Goethe erwiderte, daß ihm ein solcher Zusammenhang in seiner Urpflanze vorschwebe, die das ent­halte, was als das Wesen in allen einzelnen Pflanzen lebe. Es glei­che

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diese «Urpflanze» nicht einer einzelnen Pflanze; aber es werde eine jede aus dieser dem ganzen Pflanzenreich zugrunde liegenden Urform verständlich. Goethe zeichnete mit einigen charakteristischen Strichen diese Urform vor Schillers Augen hin. Dieser erwiderte: das sei aber keine Erfahrung, das sei eine Idee. Goethe aber bestand darauf, daß für ihn eine solche Idee zugleich Erfahrung (Beobachtung) sei, und daß, wenn man dergleichen als Idee bezeichne, er seine Ideen mit den Au­gen wahrnehme. Aus der Schilderung des Gespräches durch Goethe geht hervor, daß die beiden damals zu einem Ausgleich ihrer Meinungen noch nicht haben kommen können.

Goethe fühlte sich berechtigt, dasjenige, was sich ihm über die Dinge der Natur in Ideen formte, so als ein Beobachtungs­ergebnis anzusprechen, wie er das etwa der roten Farbe der Rose gegenüber tat. Für ihn war Wissenschaft geisterfüllt und doch zugleich objektives Beobachtungsergebnis. Schiller konnte mit einer solchen Anschauung nicht zurecht kommen. Für ihn stand fest, daß der Mensch erst aus sich heraus die Ideen formen müsse, wenn er die nur als Einzelheiten gegebe­nen Beobachtungsergebnisse zusammenfassen wolle. Goethe fühlte sich mit seinem Geistesinhalte in der Natur drinnen ste­hend, Schiller empfand sich mit demselben außer der Natur.

Wer aus dem Briefwechsel Goethes und Schillers das Leben ihrer Freundschaft verfolgt, der findet, wie diese sich dadurch immer mehr vertieft, daß Schiller sich in Goethes Anschin­ungsart hineinfindet. Er geht dazu über, das objektive Walten des Geistes in den Naturschöpfungen gelten zu lassen, das für Goethes Vorstellungsart etwas Selbstverständliches war. Man darf sagen, Schiller trennte von Goethe zuerst die Ansicht, daß der Mensch außer der Natur stehe, und daß, wenn er sich über die Natur ausspricht, er zu dieser etwas hinzufüge. Goethe war sich nie darüber im Unklaren, daß in dem Menschen die Natur ihr Wesen als geistigen Inhalt selbst ausspreche, wenn sich der Mensch nur in das rechte Verhältnis zu ihr setze.

Für Goethe lebt das Wesen der Natur im Menschen als Wissen. Und Menschenwissen ist ihm Offenbarung des Naturwesens.

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Der Erkenntnisvorgang ist für Goethe nicht bloß ein formales Abbilden eines in der Natur verborgenen We­sens, sondern das reale Offenbarwerden dessen, was ohne den Menschengeist in der Natur gar nicht vorhanden wäre. Trotz­dem ist ihm der Geist der wahre Naturgehalt selbst, weil er sich die Erkenntnis als ein Versenken der Menschenseele in die Natur denkt. Schiller konnte das anfangs mit seinem Kan­tianismus nicht in Einklang bringen. Und diesen Kantianis­mus hatte er angenommen; Goethe fand in der Kantschen Anschauung nie etwas, das seiner Vorstellungsart nahe kom­men könne.

In der Empfindung der Goetheschen Kunstschöpfungen fand sich Schiller aus seiner Denkart heraus und näherte sich immer mehr Goethe. In den «Briefen über die ästhetische Er­ziehung des Menschen» sieht man Schillers Streben, das künst­lerische Erleben Goethes sich zum vollen Verständnis zu brin­gen. Er kommt, nachdem er nach dieser Richtung sich umbil­det, dazu, in dem künstlerischen Welterleben den einzigen menschlichen Seelenzustand anzuerkennen, in dem man im vollen Sinne des Wortes wahrer Mensch sein könne. Und so wurde ihm Wissenschaft ein Welterleben, in dem der Mensch sich nicht in seinem ganzen Wesen offenbaren könne.

Goethe wollte, im Gegensatz dazu, eine Wissenschaft, die in ihrer Art ebenso den ganzen Menschen zum Ausleben bringt wie die Kunst in der ihrigen. Zu einer solchen Anschauung mußte sich Schiller erst hindurcharbeiten. Er tat es; und da-durch wurde seine Seelengemeinschaft mit Goethe auf den rechten Grund gestellt. Goethe näherte sich seinerseits Schil­ler dadurch, daß ihm dieser die denkerische Rechtfertigung seiner Sinnesart gab. Er selbst hätte zu dieser nicht kommen können, denn er lebte in derselben vor dem Freundschafts­bund als in etwas Selbstverständlichem, das ihm gar nicht als ein Problem zum Bewußtsein gekommen war. Schiller konnte Goethes Seele dadurch bereichern, daß er ihr vorführte, wie sie sich selbst bewußtes Rätsel werden und nach der Lösung des­selben suchen könne.

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Schiller hat Goethe die Anregung gegeben, seinen Faust fortzusetzen. Unmittelbar aus dieser Anregung entstand der «Prolog im Himmel». Vergleicht man diesen mit einer der äl­testen Faustszenen, mit der, wo sich Faust von dem Geiste der großen Welt ab- und dem Erdgeiste zuwendet, so sieht man den Umschwung bei Goethe. Vorher die Abwendung von dem Geistgehalt der großen Welt; nachher die bildhafte Darstel­lung desselben. In der Gedankenanregung, die Schiller gege­ben hatte, lag für Goethe der Keim, auch im künstlerischen Bilde des Menschen Leben im Weltenwesen sich vor das See­lenauge zu stellen. Vorher vermochte er dieses nicht, weil er dieses Leben wie etwas nur selbstverständlich Gefühltes hin­nahm, ohne es sich im Innern zu gestalten.

Für die Nachwelt wird es immer bedeutsam sein können:

mit Schillers Seelenauge Goethes Wesen schauen zu lernen; Goethes Wesen sich in einer gewissen Lebensepoche voll ent­falten zu sehen in den Anregungen, die von Schiller ausgehen.

Die Empfindung von den Hemmungen, die beide zu über­winden hatten, um zueinander zu kommen, und die andere von der Art, wie sie zuletzt sich ergänzten, bildet einen Impuls für tiefste Seelenbeobachtungen. Er dringt damit aber auch an einem der wichtigsten Punkte in das Walten des Geistes in der Menschheitsentwickelung ein.

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WARUM MAN EINE HUNDERT JAHRE ALTE «ANTHROPOLOGIE» WIEDER VERÖFFENTLICHT

Der Kommende-Tag-Verlag hat Henrik Steffens «Anthropolo­gie», die vor hundert Jahren zuerst erschienen ist, neu heraus­gegeben.

Damit ist ein Werk wieder vor die Öffentlichkeit gebracht, das in eindringlicherArt das Leben der naturwissenschaftlichen Erkenntnis in der Goethe-Zeit zur Offenbarung bringt. Man kann nicht sagen, daß in ihm das allgemeingeltende Naturan­schauen dieser Zeit lebt. Um ein Buch in dieserWeise zu schrei­ben, dazu war Steffens eine viel zu individuell geartete, originel­le Persönlichkeit. Aber das kommt zum Vorschein, was einesolche Persönlichkeit im Geiste ihrer Zeit aus den Naturerkennt­nissen gewann, um an die Menschenrätsel heranzukommen.

Henrik Steffens ist Norweger. Er ist von dem Studium der Mineralogie ausgegangen. Als Vierundzwanzigjähriget begibt er sich nach Deutschland, in die geistige Luft, in der Goethe für die Schöpfungen seiner Seele die Atemmöglichkeit hatte. Goethes Geistesart wurde die weckende Kraft für Steffens.

In Jena, wo die Philosophie auf ihre Art zu dem Gipfel strebte, den Goethe auf anderen Wegen zu erklimmen suchte, setzte Steffens seine Studien fort. Schelling, der die Naturphi­losophie wie ein schaffender Geist vortrug, dem Erkennen der Natur Nachschaffen ihrer Geheimnisse war, gewann tiefgehen­den Einfluß auf ihn. Werner, der Geognost, dem auch Goethe bis zu einem gewissen Punkte folgte, wurde ihm Führer. Von Fichtes und Schillers philosophischen Ideen wurde Steffens Seele getragen, von Novalls' kühnem Eindringen in den Geist des Naturwirkens wurde sie beflügelt.

Und so strömten in dieser Seele alle die Impulse zusammen, die damals im deutschen Geistesleben wirkten. Von ihnen aus wollte er Licht bringen in die naturwissenschaftlichen Ein­sichten, die in dieser Zeit so mächtige Anregungen durch die aufsprossende Chemie, durch die Elektrizitätslehre und vieles Andere erfahren hatten.

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Wer Schellings Naturphilosophie auf sich wirken läßt, der hat den Eindruck: da spricht eine Persönlichkeit, die in wage-mutigem Ideenflug nach den letzten Daseinsrätseln sich auf­schwingen will, und die bei ihrem Fluge deutend, kombinie­rend mitnimmt, was an naturwissenschaftlichen Ergebnissen von links und rechts zu erraffen ist. Sie will aus der Natur Rechtfertigungen erhalten für den Ideenflug. Die Natur muß da der Ideenarchitektonik dienen.

Fichte ist mit seiner ganzen Seele so mit dem Ideenfluge Eines, daß er für die Naturwissenschaft überhaupt nicht Auge und Interesse hat.

Goethe gestaltet mit lebensvoll anschaulicher Ideenkraft das Einzelne der Naturdinge und Vorgänge in Gedanken nach; zur endgültigen Zusammenfassung will er sich nicht bewegen lassen; dazu ist seine Achtung vor der Tiefe der Weitgeheim­nisse zu groß.

Novalis schlägt wie aus einem Feuerstein aus der Natur die Funken genialischer Geistigkeit, die er zusammenbringen will zu seinem «magischen Idealismus». Er stirbt viel zu jung, um das Gewaltige, das ihm vorschwebt, zu einem Ganzen zu voll­enden.

Alle diese Geister haben die Einseitigkeit, die oft bei Men­schen auftritt, die innerlich starke aktive Seelen in sich tragen.

Bei Steffens überwiegt das Passive, die sich hingebende Empfänglichkeit der Seele. Er nimmt auf, was von Fichte, Schelling, Goethe, Novalis ausgeht; und er entwickelt vielsei­tige Fähigkeiten, in denen die Kräfte dieser Geister zusam-menfließen. In dieser Harmonie von Fähigkeiten geht er mit unbegrenzter Liebe an die Naturprozesse heran. Er gibt erken­nend der Natur, was er an seinen großen Vorbildern im Gei­stesstreben erlauscht hat, indem diese sich über die Natur hin­weg zu den Quellen des Daseins erheben wollten.

Und so verfolgt er mineralogisch, geologisch, was die Erde an Schieferbildungen, was an Kalkbi]dungen in ihrer Gesteinsstruktur trägt. So sucht er den Zusammenklang der magneti­schen und elektrischen Vorgänge zu ergründen. So ist er bestrebt,

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die Rätsel der Schwere und des Lichtes zu erraten. Und aus alldem will er ein Bild gewinnen, wie aus dem Kosmos heraus unter dem Einfluß von Schwere und Licht, von Magne­tismus und Elektrizität die Erde geboren wird. Wie sie durch diese Kräfte ihren schiefrig-kalkig-porphyrischen Körper ge­staltet. Und in dieser Kosmos-Geburt, die dann sich weiter entwickelt, sucht er die Entstehungselemente der Lebewesen bis herauf zum Menschen.

So wird in seiner Seele die «Anthropologie».

Diese wird zum umfassenden Ideengebäude. Die Formatio-nen der Erde bilden die Grundlage. Die Enträtselung der Menschenwesenheit bildet das oberste Stockwerk. Mit ebenso viel Geist werden die Gestaltungen der menschlichen Sinnes-werkzeuge behandelt wie der Gneis, der das Gebirgsgerüste mitformt. Diese Betrachtung macht für die «Anthropologie» nicht Halt vor jener Region, wo im Menschen die Naturgrund-lage vom Seelisch-Geistigen ergriffen wird. Sie dringt bis zu den Temperamenten, bis zum Leben der Liebe vor.

Ja, bei dieser Betrachtung erscheint es wie eine Selbsrver­ständlichkeit, daß sie die Erkenntnis-Offenbarung, die der Mensch aus der Natur empfängt, einmünden läßt in die reli­giöse Seelenverfassung. Und so liest man auf der vorletzten Seite dieser «Anthropologie»: «Diese Offenbarung der ewi­gen Persönlichkeit Gottes, der Sohn von Ewigkeit her, die wahre Urgestalt, die innere Fülle alles Gesetzes, vom Uranfan­ge, war der Herr und Heiland, Jesus Christus. Seine verhüllte Persönlichkeit war von Anfang an und blickt als Andeutung zukünftiger Seligkeit aus der Natur her.»

Und sie blickt für Steffens «aus der Natur her», weil er die Naturwissenschaft in dem Sinne gestaltet, daß ihm Erkenntnis die Enthüllung des in der Natur verborgenen Geistes ist. Er legt nicht den Geist anthropomorphisch in die Natur hinein; er läßt die Natur selbst ihren Geist aussprechen. Dieser Geist aber offenbart sich zuletzt so, wie das Steffens andeutet.

Es ist gewiß, daß man diese «Anthropologie»nicht so lesen darf wie ein Buch, das heute geschrieben ist. Auch Steffens

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würde nach den naturwissenschaftlichen Entdeckungen, die seither gemacht worden sind, anders schreiben.

Aber lesen sollte man, in welchem Verhältnisse die Menschen-seele zur Natur und ihrem Schaffen vor einem Jahrhundert in einem ihrer glänzenden Repräsentanten gestanden hat. Man mag das Veraltete in Steffens Darstellung empfinden; aber man sollte auch ein Gefühl dafür haben, daß die Redensart doch auch veralten sollte: diese Naturphilosophen haben ohne Erfah­rungsgrundlage aus Ideen nur so in die Luft hinein konstruiert. Und es sei ein Glück, daß sie «überwunden» und «vergessen» sind. - Man sollte vielmehr sehen, wie diese «Überwundenen» und «Vergessenen» doch noch manches an Lebenskraft in sich haben, das auch der Gegenwart und nächsten Zukunft noch zu Gute kommen könnte.

Über der Fülle des in der Sinne swelt Aufgefundenen ist von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts an den Denkern der Mut entschwunden, den Geist in der Natur zu suchen. Aber dafür hat man auch eine Verfassung der Wissenschaften her­aufbeschworen, durch welche diese das Wesen des Menschen aus ihrer Betrachtung ganz verloren haben. Denn eine Wissen­schaft, die vor dem Geiste Halt macht, muß den Menschen selbst verlieren, weil die Natur im Menschen so lebt, wie der Geist sie gestaltet.

Steffens hat eben darnach gestrebt, eine wirkliche «Anthro­pologie» zu gewinnen, in der das Wesen des Menschen lebt. Er konnte eine solche ausbilden, weil er in seiner Erkenntnis eine Naturgrundlage schuf, in die der Menschengeist eingrei­fen und ihre Gesetze fortsetzen kann. Die Neueren haben aber eine solche « Natur» aus ihrer Erkenntnis gewonnen, die den Menschen selbst formen müßte, wenn sie ihn haben wollte. Das kann sie nicht, weil der Mensch nicht « Natur » ist.

So darf es wohl als etwas, das sich rechtfertigt, angesehen werden, daß eines der glänzendsten Werke über den Men­schen, welches vor einem Jahrhundert entstanden ist, heute wieder in Erinnerung gebracht wird. Es wird Vielen beim Le­sen klar werden, daß man denen gegenüber, die sagen, solch

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eine Persönlichkeit wie Steffens ist «vergessen», weil die Wis­senschaft über ihn hinweggeschritten ist, das Andere geltend machen muß: Nein, Steffens muß wieder in die Erinnerung gebracht werden, weil er manches hat, was die Wissenschaft beim Hinwegschreiten über ihn verloren hat.

ETWAS VON GEISTES-WANDELUNGEN IN DER MENSCHHEITSGESCHICHTE

In der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts war Johann Chri­stoph Gottsched die unbestrittene Autorität über literarische Dinge innerhalb des deutschen Sprachgebietes. Die Dichter, die er in seinen Schriften als bedeutend nennt, galten als be­deutend in den Kreisen, die als gebildete in Betracht kamen.

1737 zählt Gottsched in einer Schrift die englischen Schau­spieldichter auf, die er der Erwähnung wert findet. Shake­speare ist nicht darunter.

Johann Jacob Bodmer ist unter den ersten, die sich gegen die unbedingte literarische Herrschaft Gottscheds auflehnen. Er will eine Art Umwertung in das literarisch-künstlerische Urteil bringen. Die strenge, dem Antiken nachgebildete dichterische Form, die Gottsched gepflegt wissen wollte, sollte weniger gel­ten. Dagegen die frei-schaffende, sich nicht der feststehenden Form fügende Phantasie um so mehr.

Bodmer spricht 1740 nun auch von bedeutenden Dichtern; und er nennt einmal den englischen Sasper, ein anderes Mal Saspor. Der Leser der Gegenwart wird ersucht, zu verstehen, daß der gegen Gottsched auftretende Reformator der deut­schen Dichtung, Bodmer, mit Sasper und Saspor den nun be­kannten Shakespeare meint.

1741 erschien Shakespeares «Julius Caesar» in deutscher Sprache, durch von Bork übersetzt. Gottsched lernte den ihm vorher unbekannten Dichter kennen. Er äußert sich über den «Julius Caesar» so: das Stück « habe so viel Niederträchtiges an sich, daß es kein Mensch ohne Ekel lesen könne».

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Nun war Shakespeare in Deutschland nicht immer so unbe­kannt und ungeschätzt. Am Ende des siebzehnten und im An­fange des achtzehnten Jahrhunderts war er sogar beliebt. Aber er war dies nicht durch die schriftstellernden Literaten, son­dern durch die Theaterleute geworden. Man führte auf den primitiven Bühnen, aber weit verbreitet, Stücke auf, die, wenn man sich eine freie Auffassung des Begriffes zurechtlegt: Über­setzungen oder freie Bearbeitungen Shakespearescher Stücke genannt werden können. Man ging dann über zu Stücken, die man selbst bearbeitete. In diesen lebte, was man an Komposi­tion, Menschendarstellung, Bühnenwirksamkeit an Shake­speare gelernt hatte. Shakespeares eigene Dichtungen, ja sein Name wurde darüber vergessen. Wie ein künstlerisches Ge­spenst wirkte auf den Komödiantenbühnen Shakespeares Geist, ohne daß man Shakespeare nannte.

Mit dem, was auf diesen Bühnen zur Unterhaltung des Pu­blikums lebte, hatten die Menschen, die im Schrifttum das gei­stige Leben vertraten, nichts zu tun. Erst solche Persönlich­keiten wie Gottsched dehnten das Reich dessen, worüber man als geistig sich betätigender Mensch schreibt, über die drama­tische Kunst aus.

Aber zunächst mußte es sich diese Kunst gefallen lassen, wenn ihr in einem recht vornehmen Ton vorgeworfen wurde, daß sie eine Art geistiger Straßenjunge ist, dessen Bühnen-sprünge sich plebejisch ausnehmen gegenüber den ernsten lo­gischen Gliederungen in einem ordentlichen philosophischen Lehrbuch.

Bork hatte mit seiner Shakespeare-Übersetzung eigentlich etwas begangen, was dem «Professor der Philosophie und Dichtkunst » in Leipzig, Johann Christoph Gottsched abson­derlich vorkommen mußte. Wenn er sich diesen «Ju]ius Cae-sar» ansah, so fühlte er doch, wie dessen Dichter nicht aus dem Künstlerisch-Logischen herausgewachsen ist, das er vom Ka­theder herab als das «Philosophisch-Geforderte» vortrug, sondern aus dem geistigen Straßenjungentum. Nur daß aus diesem durch Shakespeare immerhin etwas entstanden ist, das

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ohne «philosophische Forderung» sich zur Kunst erhob, das fühite Gottsched noch nicht. Die «philosophisch-künstleri­sche Forderung» empfand Ekel.

Da trat etwas Merkwürdiges ein. Am 16. Februar 1759 ver­öffentlichte ein gewisser Lessing einen Literaturbrief, durch den Gottscheds vornehme Kunstforderung als alte Zopfigkeit, reif zum Abschneiden, und das Shakespeare-ähnliche als das hin-gestellt wurde, das die Keime der Zukunftsdichtung in sich trägt. Die Welt eines gewissen Gebietes ward auf den Kopf ge-stellt.

Durch Lessing ist die literarische Luft geschaffen worden, in der Goethe und Schiller geatmet haben.

Bork mußte es sich noch gefallen lassen, daß ihm Gottsched mit einem Pädagogen-Staberl gehörig eins auf die Finger klopfte. Wieland aber durfte 1762-1768 fast den ganzen Shake­speare übersetzen, ohne daß er eine solche «Strafe» erfuhr. -Und Shakespeare erlebte dadurch im deutschen Sprachgebiet eine Auferstehung, wie er sie sonst nirgends, auch nicht in sei­ner Heimat, erfahren hat.

Er konnte sie erleben, weil mit Lessing innerhalb des deut­schen Geisteslebens eine Wendung zu den ursprünglichen Quellen des schöpferischen Menschentums gemacht worden ist. Man verkennt die Sachlage, wenn man die Wendung dem «Einflusse» Shakespeares zuschreibt. Man denke doch nur, wie der «Wallenstein» Schillers und der «Faust» Goethes aus so urgewaltigen menschlichen Quellen hervorgegangen sind, daß es da vollends absurd erscheint, dies Urgewaltige auf einen äußeren Einfluß zurückzuführen.

Was da mit Shakespeare geschah, ist etwas völlig anderes. Seine Dichtungen wurden in die Beleuchtung eines Lichtes ge­rückt, in der sie vorher nicht gestanden hatten. Das Licht kam nicht von ihnen. Aber, indem sie in dieses Licht gerückt wur­den, zeigten sie etwas, das man vorher an ihnen nicht gesehen hatte. Der Umschwung in der Stellung der führenden deut­schen Persönlichkeiten zu Shakespeare ist ein Symptom für die gewaltige Wandlung, die sich im Anschlusse an Lessing in einem

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Gebiete der menschlichen Geistesentwickelung vollzogen hat.

Man sollte meinen, dergleichen Tatsachen könnten doch Ei­niges für diejenigen bedeuten, die durchaus sich nicht leicht vorstellen wollen, daß in dem Denken und Empfinden der Menschheit an Wendepunkten der Geschichte neue Gesichts­punkte gefunden werden müssen.

Für solche sei doch wieder einmal an die ja weithin bekannte Tatsache erinnert, daß Lessing, dem doch so Machtvolles ge­lungen ist, am Abend seines Lebens in seiner Schrift «Die Er­ziehung des Menschengeschlechts» auf die wiederholten Er­denleben der menschlichen Individualitäten zu sprechen kommt. Er hat offenbar vieles von den Rätseln des mensch­lichen Lebens in seiner Seele erlebt; und er konnte auf der Höhe seines Denkens nicht zurecht kommen mit dem Einen Erdenleben des Menschen, an das sich dann eine Ewigkeit der Seele anschließt, die nur die Folgen dieses Einen Lebens dar­stellt. Er kam dazu, dem Menschen wiederholte Erdenleben zuzuschreiben und ihn so selbst aus alten Epochen des ge­schichtlichen Werdens in neue, spätere die Impulse hineintragen zu lassen. Die Zwischenzeiten zwischen den Erdenleben, in denen die Seelen ein rein geistiges Dasein haben, geben dann die Anregungen dazu, daß die Seelen das früher Erfahrene in andrer Gestalt in späteren Zeiten wieder aufleben lassen; da­durch formt sich der Fortschritt des Menschengeschlechtes. Ein durch den Menschen vermitteltes Zusammenwirken einer geistigen Welt mit der Erdenwirklichkeit rückt sich dadurch vor das Seelenauge.

Lessing meint, daß man diese Anschauung nicht deshalb für töricht halten solle, weil sie in den ältesten Zeiten der Mensch­heit aufgetreten ist, als diese noch nicht durch allerlei Philoso­phieren von dem elementaren Denken und Empfinden abge­bracht war.

Man könnte wohl auch meinen, daß diejenigen, die Lessing für einen «Bahnbrecher» halten, doch auch nicht glauben soll­ten, daß er töricht geworden sei, als er sein wirksames Denken

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auf der Lebenshöhe in die angedeutete Bahn brachte. Sonst könnte man ja der Ansicht sein: die Schätzer Lessings nennen an ihm groß, was ihnen bequem ist, und gehen über den «gro­ßen Mann» lächelnd hinweg, wenn er etwas ihnen Unbeque­mes sagt.

DER WERDENDE GOETHE IM LICHTE BENEDETTO CROCES

Wem Benedetto Croces «Ästhetik als Wissenschaft des Aus­drucks » bekannt ist, der muß auf das äußerste gespannt sein, auch das Goethe-Buch dieser hervorragenden Persönlichkeit zu lesen, das 1918 erschienen und seit 1920 in der außerordent­lich sympathischen deutschen Ausgabe von Julius Schlosser vorhanden ist.

Vielleicht dürfte man sagen, daß die Lektüre dieses Buches ein dramatisches Erleben ist. Man geht durch eine «Vorrede des Verfassers», durch die Kapitel «Sittliches und geistiges Leben», durch weiteres «Das Leben des Dichters und Künst­lers» und dann durch die Darstellung des «Werther» hin­durch.

Man ist bei diesem Teile des Buches voller Erwartung. Alles deutet darauf hin, man werde ein individuell gefärbtes, äußerst anziehendes, weitherzig gestaltetes, kunstvoll durchgeführtes Goethe-Bild vor das Seelenauge gestellt haben.

Es beginnt verheißungsvoll: «Als ich mich nun in trüben Tagen des Weltkriegs wieder in Goethes Werke vertiefte, ge­wann ich aus ihnen so viel Erleichterung und Erquickung, wie sie mir wohl kein zweiter Dichter in solchem Maße hätte ge­währen können; und das regte mich an, einige kritische Bemer­kungen niederzuschreiben, die sich mir von selbst aufgedrängt hatten und immer als Wegweiser des Verständnisses erschie­nen waren.»

Croce will in Goethe dringen ohne die schwere Last, die die unkünstierische Gelehrsamkeit diesem Geiste nun leider seit lange angehängt hat. Bei Goethe achten so wenige darauf, daß

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auch dieser Geist ein Recht hat, in dem Bilde erfaßt zu werden, das sich aus dem ergiebt, was er als «Werk» der Welt gegeben hat. Hinter dem «Leben», für das biographische Daten so reichlich fließen, verschwindet dies Werk in den gebräuchli­chen Goethe-Darstellungen. Croce wahrt sich dem gegenüber seinen freien Blick. «Man hat gesagt, daß, wenn Goethe auch nicht ein großer Dichter gewesen wäre, er trotzdem ein großer Künstler des Lebens bliebe; das hält zwar strenger Auffassung nicht stand, da es nicht angeht, das Leben, das er gelebt hat, zu begreifen, ohne das dichterische Werk, das er hervorbrachte.» Aber es wird auch klar erkannt, wie gerade bei Goethe das Auge Werk und Leben in Eins schauen muß, da er selbst un­ausgesetzt seiner umfassenden Weltbetrachtung durch eine eindringliche Selbstbeobachtung Frische und Leben zuführt. «Gleichwohl ist hier, in sinnreicher Art, die Beziehung seines Lebens zur Dichtung angedeutet, als die eines Ganzen zu ei­nem, wenn auch sehr beträchtlichen Teile - oder ist es nicht vielleicht richtig, daß die größere Zahl der Bände von Goethes Werken - auch ohne den Briefwechsel und die Gespräche in Betracht zu ziehen - ausgefüllt wird von Denkwürdigkeiten, Jahre sheften, Tagebüchern, Reiseberichten, und daß nicht we­nige der übrigen eingestreute oder verlarvte Selbstschilderun­gen enthalten, zu denen die Erklärer den Schlüssel zu finden bemüht sind?»

Durch die glänzende Unbefangenheit Croces gegenüber den beiden Seiten des Goethe-Bildes vermag er dieses in ein Licht zu stellen, so daß man zunächst den Eindruck hat: hier wird Goethe in die Geschichte des Geisteslebens in prägnanter Weise eingegliedert: «Die Schau seines Lebens, verbunden mit seinem Werk, bietet einen vollständigen vorbildlichen Lehrgang, per exempla et praecepta, hoher Menschlichkeit:

einen Schatz, der in unseren Tagen wohl nicht so genützt wird, wie er es verdiente von seiten der Erzieher und denen, die sich selbst zu bilden bestrebt sind.»

Croce will aus seinem Goethe-Bilde das Wild-Genialische fortlassen, das diejenigen in ihn hineinphantasieren, die, um

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nach ihrem Sinne zu «leben» das wirkliche Leben, das nun ein­mal der Schwere und des Ernstes nicht entbehren kann, als philisterhaft anschwärzen. «Die Erscheinung Wolfgang Goe­....... setzt sich zusammen aus ruhiger Tüchtigkeit, ernsthaf­ter Güte und Gerechtigkeitsliebe, aus Weisheit, Gleichge­wicht, gutem Menschenverstand und Gesundheit, mithin aus alledem, was man als zu verspotten pflegt. ... Er war tief, aber nicht , wie man ihn jetzt hinstellen möchte, genial, aber nicht diabolisch.»

Die Ganzheit des Menschenwesens, nach der Goethe in allem Schaffen und Leben hinneigte, wird von Croce scharf be­tont. «Und was lehrte er denn im Grunde ? Vor allem, was im­mer man auch treibe, ein ganzer Mensch zu sein, stets mit aller gesammelten Eigenkraft zu wirken, Fühlen und Denken nicht zu trennen, nicht von außen her und als Schulfuchs zu atbeiten, eine Forderung, die er in gährenden Jugendjahren, unter dem Bann abenteuerlicher Geister, wie Hamanns, noch etwas allzu stofflich oder allzu schwärmerisch auffaßte, die er aber bald zu vertiefen wußte und deshalb selbst klärte und zurechtrückte, dadurch, daß er die geheimnisvolle, unaussprechliche Allheit durch scharfen Umriß sinnenfällig machte.»

Goethe erscheint bei Croce als der Mensch, der «sich nicht zum Sehnen und Träumen, sondern zum Wollen und Han­deln» erziehen will.

Indem sich Goethe so vor Croce hinstellt, gelingt es diesem, den «Wer ther »in einer glänzenden Art in die Kunst und in das Leben einzuorientieren. Das Leben, das Werther lebt, ist ja weit entfernt von dem Leben Goethes, der den Werther dich­tet. Werther ist krank; Goethe empfindet, wie diese Werther-krankheit im Leben Wurzel fassen kann. Für ihn entsteht die Frage, wie man sie in ihrer Wahrheit empfindet und schildert. Indem er dieses unternimmt, tut er es als Gesunder. Croce nennt mit Bezug auf Goethes eigenen Seelenzustand Werther «eher ein Impfungsfieber denn wirkliche Krankheit». Scharf wird Goethes eigene Seelenlage aus all dem herausgezogen, was Werther in die Katastrophe hineinhetzt. «Dies erklärt das

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Kindliche, das uns lächeln macht, ja gleichsam in Verlegenheit bringt, wenn wir den Bericht und die Zeugnisse lesen, die das Verhältnis des jungen Goethe zu Lotte Buff und ihrem Bräu­tigam und Gemahl, dem wackern, geduldigen Kestner, zum Gegenstand haben. Lauter Dinge, über welche die Biographen und Anekdotenjäger wahrhaftig allzu geschwätzig sich haben vernehmen lassen, wie gewöhnlich die seelische Bedeutung mißverstehend und der üblen Neigung nachgebend, das Werk der Kunst im biographischen Stoff zu ertränken, mit Übertrei-bang und Verkehrung des berechtigten sittlichen Anteils, den Goethes Person erweckt ...»

Die Schöpfung des Werther erscheint bei Croce in Goethes Leben eingegliedert als eine künstlerisch-sittliche Reinigung. Goethe wollte das Wertherfieber künstlerisch in sich erleben, um sich vor Anfällen durch dasselbe gründlich zu heilen. «Wer­ther - der - war ... für den Dichter keineswegs ein Ideal wie für seine Zeitgenossen. Goethe ver­herrlicht im Werther weder das Recht auf Leidenschaft, weder die Natur auf Kosten der Gesellschaft, noch den Selbstmord, oder was sonst noch genannt wurde, das heißt, er stellt dies nicht als Seelenzustände dar, die in jenem Augenblick bei ihm vorherrschten. Er stellt dagegen, wie der Titel besagt, die und zuletzt den Tod des jungen Werther dar; und ge­tade weil er dessen Schicksale als Schmerzen, unfruchtbare Schmerzen ansieht, ihre Entwicklung als so geartet, daß sie nicht zu dem freudigen Hochgefühl des Überlegenseins und der Erhebung über die andern führt, sondern zur Selbstver­nichtung, deshalb ist das Buch eine befreiende und reinigende Tat geworden...»

Croce läßt nicht gelten, daß der Werther, wie so viele mei­nen, eine «erhabene Legende der Liebe » sei; dagegen ist er ihm «ein Krankheitsbuch »; die Werthersche Art von Liebe «ist ein Anzeichen oder eine unmittelbare Äußerung der Krank­heit selbst». Der Werther antwortet dem Drängen der Mutter und der Freunde, er möge sich doch zu fruchtbarer Tätigkeit aufraffen: «Bin ich jetzt nicht auch aktiv? und ist's im Grunde

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nicht einerlei, ob ich Erbsen zähle oder Linsen ?» So antwortet der «in Müßiggang, Träume, ja Raserei Verstrickte». Goethe steht diesem «Helden» seines Buches, wie Croce treffend meint, nicht als einer gegenüber, der mit ihm etwas gemein hat, sondern wie ein objektiv Betrachtender, der nach dem Heil­mittel für ein Übel sinnt. Der Werther ist «das Buch eines Wis­senden, eines Verstehenden, der, ohne Werther selbst zu sein, vollkommen in Werther eindringt, mit ihm fühlt, ohne mit ihm zu rasen».

Hat man in Ctoces Buch bis hieher gelesen, so hat man sich wie in einem gedanklichen Erleben befunden, das einer dra­matischen Exposition gleicht. Die Spannung darnach, was der Autor über Goethe zu sagen haben wird, ist von Seite zu Seite gestiegen.

Nun kommt das Kapitel «Der Schulfuchs Wagner». Eine rechte Überraschung, wie sie im Drama oft eintreten. Denn Croce liefert nun eine Art Ehrenrettung Wagners im Faust. Es ist, als ob Croce gar zu oft sich geärgert hätte über die Philister, die sich «genial», ja fast «faustisch» fühlen, wenn sie über Wagner sich mit Fausts Sätzen lustig machen. Solchen Phili-stern in der Maske des «freien Menschen» setzt Croce eine Art Bekenntnis zu Wagner entgegen. «Ich muß bekennen, daß ich für Wagner, den Doktor Fausts, eine gewisse Zärt­lichkeit empfinde. Mir gefällt an ihm sein argloser, unbeding­ter Glaube an die Wissenschaft, das ehrliche Hochziel eines ernsthaft Forschenden, die einfache Rechtschaffenheit, die un-gespielte Bescheidenheit, die Ehrfurcht, die er vor seinem ho­hen Magister hegt ...»

Es kommt sogar etwas Eigentümliches durch Croces Dar­stellung durch. Faust erscheint mit seinen Grillen, seinen Träu­men, seinem unbestimmten Geist-Ersehnen wie ein halbhalt-los er Schwärmer und Nörgler gegenüber dem in sich gefestig­ten, auf sein gediegenes Gelehrtenziel lossteuernden Wagner. Und ein merkwürdiger Gedankenanklang stellt sich Croce ein:

«Sieh dich wohl vor, wenn du ein Weib nimmst; denn glückt es dir nicht, eines jener schüchternen, schweigsamen Geschöpfe

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heimzuführen, die Jean Paul oft seinen verrückten Ge­lehrten zugesellt, wird dir statt dessen ein Faust im Unterrock zuteil, eine Titanin, eine Walküre, so wirst du nicht bloß philo­sophische Geißelhiebe erhalten, und sie werden empfindlich genug sein, sondern du wirst dich - und das verdienst du wahr­lich nicht - in eine Wolke von Abneigung, Haß, Ekel gehüllt finden ...» Croce wünscht dem «zärtlich» geliebten Wagner das nicht. «Denn Wagners Ideal ist nicht mehr und nicht weni­ger als das humanistische ... das ehrfürchtige Studium alter Ge­schichte, zu dem Zwecke, um aus ihr Grundsätze ... zu gewin­nen, dann die Erforschung der Naturgesetze zum Nutzen der Gesellschaft.»

Ist diese «Ehrenrettung» Wagners nur ein dramatisches In­termezzo, um Goethes Faust in rechte Höhe zu stellen? So fragt man sich als Leser des Buches. Die dramatische Spannung ist groß.

Die Verwickelung (Schürzung des Knotens) und die Kata­strophe möchte ich nächstens schildern.

DIE SCHAFFENSHÖHE GOETHES IM LICHTE BENEDETTO CROCES

Wenn man aus Croces Goethebuch die treffsicheren Gedanken über den Werther empfangen hat, und dann weiterliest über den Faust, so verwandelt sich tiefe Befriedigung zunächst in verwirrendes Erstaunen. Die ersten Faustszenen muten in der Spiegelung aus Croces Ideen noch wie eine lebendige Dichtung Goethes an; was Goethe weiter am Faust geschaffen hat, tritt in Croces Schilderung als ein abstraktes Gedankengebilde auf. Das künstlerische Empfinden verliert den Atem, indem es die­ser Schilderung folgt.

Die Betrachtungsart, die Croce für den Werther gewonnen hat, leitet ihn noch für die Faustszenen, die Goethe in seiner Jugend geschrieben hat. Über sie findet man diese Ansicht: «Als Goethe seinen Faust in der Art anlegte, wie er in den ersten

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Auftritten dasteht, war er noch nicht der bewußte Kriti­ker des geworden, er fühite sich im Gegen­teil eins mit ihm, und auch nach dieser Seite hin ist seine wirk­liche und wahrhafte Kritik (wenn man sie so nennen darf) voll­kommen dichterischer Art, ähnlich jener, die bereits an den Gestalten Werthers und Wagners merkbat wird und in der Un­befangenheit und der Vollkommenheit der Darstellung selbst liegt.»

Was aus Goethes Geist in den Faust eingeströmt ist, indem er seine Menschenwesenheit von Stufe zu Stufe zu einer umfas­senden Weltbetrachtung hinaufführte, das verliert für Croces Anschauung satt die Lebendigkeit; es entgleitet diesem geist­vollen Goethebetrachter in ein Reich dünngesponnener, le­bensarmer Begriffe.

Goethe aber verfiel nicht, wenn er das Gebiet äußerlich er­lebbaren Daseins verließ, in das Reich frostiger Allegorien, oder wirklichkeitsfremder Symbole. Sein sicherer Instinkt trug ihn in die wirkliche geistige Welt hinein, in der man erst den wahren, allseitig sich offenbarenden Menschen findet. Und ihm gelang nicht nur die dichterisch lebendige Gestaltung der Au­ßenseite des Daseins, sondern auch die des inneren Menschen. Und es entstand in dieser Gestaltung nicht ein schattenhaftes Ideensein, sondern das schöpferische Geistsein, das alles, was es in sich trägt, auch in dem äußeren Bilde zu offenbaren ver­mag. Weil er dies vermochte, und weil ihm die Dichterkraft nicht verloren ging beim Aufstieg in das Geistige, deshalb blieb der Faust lebensvoll, auch als ihn Goethe jedesmal, da er wieder arbeitend an ihn heranging, um eine Stufe hinaufrückte in die Welt, die nur einer Geistesschau offenbar wird.

In diese Gebiete will Croce Goethe nicht folgen. DeshaTb entschwindet ihm das volle Leben in Goethes Faustschöpfung; er sieht da frostige Allegorien, wo Goethe lebendige Geist-Wirklichkeit hinstellt. So ist ihm nur der in Goethes Jugend entstandene Faust-Teil eine lebendige Schöpfung, nicht die im späteren Alter gedichteten. Nur aus diesem Grunde kann Cro­ce sagen: «Der in seinem Titanentum erhabene Faust ist in der

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neuen Person ganz verwischt. Kaum daß der gleichgebliebene Name hinreicht, ihn uns in Erinnerung zu bringen. Wir könn­ten ihn nennen, wie das unselige Gretchen, irgend-einen Heinrich oder Franz. Das ist er und mußte es sein, um der größeren einheitlichen Kraft der Tragödie willen, die er herbeiführt, deren Held er aber mit nichten ist.»

Man will nach dem Grunde forschen, warum Croce gegen­über Goethe in eine solch dramatische Gedankenverwirrung hineinführt. Man findet diesen Grund darin, daß ihm die Mög­lichkeit fehlt, sich bis zu einer Erfassung des ganzen Wesens Goethes hindurchzuringen. Goethe konnte sich zu dem, was ihm Dichtung, Kunst war nur erheben, indem er seinem Er­kenntnistrieb auf dem Gebiete des Naturwissens zu einer An­schauung verhalf, für welche Kunst eine Offenbarung gehei­mer Naturgesetze ist, die ohne das künstlerische Schaffen nie­mals offenbar würden. Dadurch wurde Goethe zum Urheber einer geistgemäßen Naturwissenschaft, die ihn in Gegensatz brachte zu derjenigen, die sich im Laufe von drei bis vier Jahr­hunderten die allgemeine Geltung verschafft hat. Diese seine Naturanschauung trug Goethe hinauf in eine Region des dich­terischen Schaffens, die in der Geisteswelt frei waltet.

Croce folgt auf diesem Gebiete Goethe nicht. Er findet ihn überall unzulänglich, wo er ihn als Naturforscher antrifft. Croce ist ganz in der allgemein geltenden Naturauffassung be­fangen. Er sagt in dieser Beziehung von Goethe: «Es mag sein - und es ist sogar sicher -, daß er mit seinem Begriff eines Na­turwissens, das in den verschiedenen Erscheinungsreihen das aufsuchen sollte, als einer Idee, die gleich­zeitig gedacht und erschaut wird, im Unrecht war, Wissen­schaft und Dichtung vermengt hat, wie es im übrigen auch den zeitgenössischen zu stieß. Es mag (und wird) sein, daß er mit seiner herben Kritik Newtons und mit der Ablehnung der Mathematik in den Naturwissenschaften ein großes Unrecht beging - - -.» Wer so spricht, der kann doch nicht die volle Tiefe der Weltanschauung finden, in die Goethe seinen Faust führen wollte. Und man fängt von diesen

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Sätzen an, zu begreifen, warum Croce eine «gewisse Zärtlich­keit» für den Famulus Wagner und eine Neigung zu einer her­ben Kritik über den Faust empfindet.

Die sichere Empfindung, die Croce gegenüber dem Werther hat, verläßt ihn schon, indem er den «Götz von Berlichingen» betrachtet. Da sagt er: «Auch was den Götz anlangt, muß man sich von den Vorurteilen freimachen, die von den Neigungen der Zeitgenossen bis zu uns herab wirken ... Götz ist Schillers Räubern nicht gleichzusetzen; Goethe konnte ihm nicht jenen Atem der politischen Leidenschaft und Empörung einhan­chen, der ihm stets mangelte, auch damals, als er noch jung und feurig war. Er las die Selbstschilderung des kleinen Standes-herrn und Kriegers, der zur Reformationszeit gelebt hatte, be­geisterte sich an den Schicksalen und Sitten, die hier vorge­führt waren, und machte sich daran, sie darzustellen, bühnenmäßig zusammengedrängt, nach dem Vorbild der englischen Geschichtsdramen Shakespeares.» - Daß Goethe, indem er die Lebensbeschreibung Gottfrieds von Berlichingen dramati­sierte, nach einem seiner Weltbetrachtung gemäßen dramati­schen Stil strebte, das sieht Croce gar nicht. Das Ringen Goe­thes nach der Gestaltung in Stifformen bleibt ihm ganz verbor­gen. Deshalb verkennt er Goethe da, wo dieser in seinem kraft­vollen Ringen den Stoff seiner Dichtungen nicht zur gestalten­den Vollendung bringen kann, wie zum Beispiel im Wilhelm Meister. Wer in Goethes Wesensart eindringt, für den wird dessen Ansatz zur Gestaltung gerade da, wo die Ziele wegen ihrer Größe nicht erreicht werden, besonders bedeutsam. Aber um ein solch «faustisches» Streben bei Goethe zu würdigen, hat Croce doch zu viel zärtliche Neigung zu dem Famulus Wagner.

Wird man so in eine dramatische Gedankenwirrnis getrie­ben, indem man die mittleren Teile von Croces Goethebuch liest, so befindet man sich geradezu in der Katastrophe der Tragödie, wenn man zur Ausführung über den zweiten Teil des Faust vordringt. - Restlos zugestanden werden muß, daß Croce durch das ganze Buch hindurch sich das Graziöse seines

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Stiles bewahrt, der die Lektüre auch da, wo sie ärgerlich wird, immer wieder doch von einer gewissen Seite sympathisch macht. Aber dieser Ärger, der auf so graziöse Art bewirkt wird, kann doch stark sein, wenn die Teile, in denen Goethe in der Vollendung seines Alters den Faust auf die Höhen der Menschheit führt, so geschildert werden: «Was ist dies nun? Das Bilderspiel eines alten Künstlers, längst erprobt als Mei­ster unzähliger Gestalten und Zustände, aus Wirklichkeit und Schrifttum genommen, der seine Freude daran hat, sie derart im Spiele an seinem Geiste vorüberziehen zu lassen; dann die Weisheit des in Welt- und Menschenwesen erfahrenen Man­nes, der schon so vielen geistigen und sittlichen Schicksalen zugeschaut hat, und ohne dadurch Zweifler und stumpf ge­worden zu sein, vielmehr seinen eigenen lebendigen Glauben rettend, sich doch nicht mehr durch sie zu überschäumender Begeisterung oder zu wütendem Haß fortreißen läßt; dieser Weisheit drängt sich aber gern ein Lächeln auf die Lippen, und der Glaube selbst drückt sich in zurückhaltender Weise aus, mitunter nicht ohne scherzhaftes Behagen. ... Man darf nicht einmal glauben, daß ... im zweiten Teile des Faust philosophi­sche Tiefe liege ...» Und von dieser «Höhe der Betrachtung» empfiehlt dann Croce folgende Art, den zweiten Teil des Faust zu lesen: «Hat man durch erstes, aufmerksames Lesen eine ge­wisse Vertrautheit mit dem Buche gewonnen, so empfiehlt es sich, beim Wiedervornehmen nicht das Ganze vom Anfang bis zum Ende durchzunehmen, wie man es beim Werther oder der Gretchentragödie tun wird, sondern es bald hier, bald dort auf-zuschlagen und eine Phantasmagorie zu verfolgen, ein Bild­chen zu genießen, über ein satirisches Gemälde zu lächeln.»

Ich aber möchte sagen: Nachdem man Croces Buch durch-gelesen hat, greife man zu Eckermanns «Gesprächen mit Goe­the», um die Katastrophe zu ertragen.

GOETHE UND DIE MATHEMATIK

Aus dem Buche Croces kann man deutlich erkennen, wie die Denkweise der Gegenwart auch hervorragende Geister noch verhindert, den rechten Zugang zu Goethes Wirken zu gewin­nen. Unter den verschiedenen Hindernissen, die sich für solche Geister ergeben, ist die Verkennung von Goethes Verhältnis zur Mathematik eines der wirksamsten. Man sieht daraus, daß Goethe in der Behandlung mathematischer Aufgaben keine Fertigkeit hatte. Er hat sein Unvermögen nach dieser Richtung ja selbst genügend stark bekannt. In seinen naturwissenschaft­lichen Arbeiten findet man daher nirgends die Probleme nach denjenigen Gebieten hin ausgeführt, auf denen eine mathe­matische Behandlung durch die Natur der Sache gefordert wird.

Nun hat die auf Goethe folgende Zeit für die Teile der Na­turerkenntnis, die man als die eigentlich exakten betrachtet, die mathematische Behandlung als ein wesentliches angesehen. Sie stand ganz unter demselben Eindrucke, unter dem auch Kant gestanden hat, als er die Ansicht aussprach, daß in jeder Er­kenntnis nur so viele wirkliche Wissenschaft sei, als in ihr Ma­thematik enthalten ist. Für diese Denkungsart ist die Ableh­nung von Goethes naturwissenschaftlicher Anschauungsart von vornherein besiegelt.

Aber für die Beurteilung von Goethes Verhältnis zur Ma­thematik kommt noch etwas ganz anderes in Betracht.

Die Beschäftigung mit Mathematik gibt dem Menschen eine besondere Stellung zu der Durchdringung der Erkenntnisauf-gaben selbst. Im mathematischen Denken beschäftigt man sich mit etwas, das innerhalb der menschlichen Seelenarbeit ent­steht. Man sieht nicht, wie bei der Sinneserfahrung, nach au­ßen, sondern baut sich den Gedankeninhalt rein im Innern auf. Und indem man von einem mathematischen Gebilde zu dem anderen denkend fortschreitet, braucht man sich nicht an die Aussagen der Sinne oder des äußeren Experimentes zu halten, sondern man bleibt ganz im inneren Seelenleben; man hat es

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mit einer innern ideellen Anschauung zu tun. Man lebt im Ge­biet des frei schaffenden Geistes.

Novalis, der im Gebiete der Mathematik wie in dem der frei schaffenden dichterischen Phantasie gleich zu Hause war, sah in der ersteren eine vollkommene Phantasieschöpfung.

Man hat zwar in der neueren Zeit der Mathematik diesen Charakterzug abgesprochen. Man hat gemeint, auch dieses Er-kenntnisgebiet entlehne ihre Wahrheiten wie eine äußere Ex­perimentalwissenschaft der Sinnesbeobachtung, und es ent­ziehe sich diese Tatsache nur der menschlichen Aufmerksam­keit. Man glaubte nur, man bilde die mathematischen Formen selber aus, weil man sich der Entlehnung aus der äußeren Be­obachtung nicht bewußt werde. - Doch diese Ansicht ist nur aus dem Vorurteile heraus entstanden, das eine freischaffende Tätigkeit des menschlichen Geistes überhaupt nicht zugeben will. Man möchte wissenschaftliche Gewißheit nur da gelten lassen, wo man sich auf die Aussagen der Sinnesbeobachtung stützen kann. Und so soll auch Mathematik, weil man die Ge­wißheit ihrer Wahrheiten nicht bestreiten kann, eine Sinnes-wissenschaft sein.

Dadurch, daß man mit der Mathematik in dem Gebiete des frei schaffenden Geistes lebt, ist dessen Wesenheit an ihr am deutlichsten in innerer Selbsterkenntnis unmittelbar einzuse­hen. Lenkt man die Anschauung von den Gebilden, die man in mathematischer Betätigung ausarbeitet, zurück auf diese Be­tätigung selbst, wird man sich dessen voll bewußt, was man tut, dann lebt man in einer Art frei schaffender Geistigkeit.

Man muß nur dann weiter die Beweglichkeit der Seele auf­bringen, um dieselbe schöpferische Innentätigkeit, die man in der Mathematik entfaltet, auf andere Gebiete des inneren Er-lebens auszudehnen. In dieser Beweglichkeit der Seele liegt die Kraft, zur imaginativen, inspirierten und intuitiven Erkennt­nis aufzusteigen, von denen in dieser Wochenschrift ja öfters gesprochen worden ist.

In der Mathematik ist jeder Schritt, den man macht, inner­lich durchsichtig. Man wendet sich mit der Seele nicht nach

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außen, um durch das Sein des Einen das des Andern frstzustel­len. Man bleibt dabei allerdings in einem Gebiete, das zwar in­nerlich geschaffen ist, aber sich durch sein eigenes Wesen auf die Außenwelt bezieht. Die Mathematik entsteht in der Seele, bezieht sich aber nur auf Außer-Seelisches. Beim Aufsteigen der frei schaffenden Geistestätigkeit zu den genannten Er­kenntnisarten kommt man aber zum Erfassen des Seelischen selbst und des Weltgebietes, in dem die Seele lebt.

Goethes Geisteswesen war nun ein solches, daß er die Ma­thematik selbst zu pflegen keine Veranlassung empfand. Aber sein Erkennen war von ganz mathematischer Art. Er nahm, was die äußere Natur betrifft, durch eine reine, geläuterte Beob­achtung auf, verwandelte es aber dann im inneren Erleben so, daß es mit seinem Seelenwesen Eins wurde, wie das bei den freigeschaffenen mathematischen Formen der Fall ist. So wurde sein Denken über die Natur im schönsten Sinne ein dem mathematischen nachgebildetes. Goethe war als Naturdenker ein mathematischer Geist, ohne Mathematiker zu sein.

Wie er sich über seine Nichtkenntnis der Mathematik offen ausgesprochen hat, so hat er dies auch über die mathematische Richtung seiner Anschauungsart getan. Man kann darüber seine Ausführungen in den Aufsätzen lesen, die seine natur-wissenschaftlichen Arbeiten unter dem Titel «Zur Naturwis­senschaft im Allgemeinen. Verhältnis zur Mathematik» be­schließen. Er hat da auch den Satz ausgesprochen, daß man bei aller Erkenntnis so verfahren müsse, als ob man dem strengsten Mathematiker für seine Ergebnisse Rechenschaft schuldig wäre.

Durch diese Richtung seines Erkenntuisstrebens war Goe­the besonders dazu veranlagt, eine wahre naturwissenschaftli­che Forschungsart in diejenigen wissenschaftlichen Gebiete hineinzutragen, die sich nicht nach Maß, Zahl und Gewicht bestimmen lassen, weil sie nicht das Quantitative, sondern das Qualitative zu ihrem Wesen haben. Die ihm entgegengesetzte Anschauungsart will sich auf das Meß-, Zähl- und Wägbare beschränken und läßt das Qualitative als wissenschaftlich un­erreIchbar liegen. Sie spricht Goethe die Wissenschaftlichkeit

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ab, weil sie nicht durchschaut, wie er gerade die Strenge des Forschens, die sie da fordert, wo die eigentliche Mathematik anwendbar ist, ausdehnt auf Erkenntnisfrlder, wo dies nicht mehr der Fall ist.

Erst, wenn Goethes Denkmethoden nach dieser Richtung wirklich durchschaut werden können, wird man auch ein un­befangenes Urteil über die Beziehung gewinnen können, in der bei ihm Erkennen und Kunst gestanden haben. Man wird erst dadurch sehen, was die Fortentwicklung seiner Geistesart Fruchtbares sowohl für Kunst wie für Wissenschaft zu bringen vermag.

«DIE LEHRE JESU» VON FRANZ BRENTANO

Am 17. März 1917 starb bei Zürich Franz Brentano im hohen Alter, nach einem äußerlich durch wechselnde Schicksale hin­durchgegangenem Philosophen-Leben.Viel bewegter aber war der innerliche Erdenwandel dieser Persönlichkeit. Dem Suchen nach der Wahrheit im ernstesten Sinne war dieses Leben gewid­met. Franz Brentanos Oheim war Clemens Brentano, der deut­sche Dichter der Romantik. Die Familie war eifrig katholisch. Clemens Brentano war der Sohn von Maximiliane Brentano, der Freundin Goethes. Dieser hat die hochsinnige Gestalt der Maximiliane in seinem Werther als «Fräulein von B. »verewigt.

In Franz Brentano wirkte weiter der geistige Hochsinn der Familie Brentano wie auch ihr Katholizismus. Aber die Wir­kung war eine sehr eigenartige. Er trug im Blute den Flug in Geisteswelten; aber nicht die romantische Leichtigkeit, um über alle Logik-Fesseln hinweg aufPhantasie-Flügelnin diesen Welten zu leben wie sein Oheim Clemens. Und er liebte innig die Hingabe an eine Erkenntnis, die frommem Fühlen ent­springt; aber die scholastisch-aristotelische Schulung hinderte ihn, die Wahrheit in Offenbarungsform zu empfangen; das Herz drängte nach Religion; der Verstand nach Durchschauen des Wahrheitsinhaltes.

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Er wurde zunächst katholischer Priester. Nicht nur aus den äußeren Verhältnissen einer katholischen Familie heraus, son­dern aus echtem inneren Beru£ Und er war Priester in seiner Jugend, auch in dem Sinne, daß er den Eigengebrauch des In­tellektes gegenüber dem Offenbarungsglauben für sündhaft hielt. Aber er war auch eifriger Theologe. Sein Scharfsinn ent­faltete sich in glänzendster Art an der Scholastik und am Ari­stotelismus. Das romantische Erbe seiner Familie scheint in ihm ganz in logische Begriffsgestaltung gewandelt und ver­bunden mit höchster Gewissenhaftigkeit für die Wahrheit. Unbewußte, halbbewußte Zweifel wühlen in den Untergrün­den der Seele. Sich ihnen hinzugeben, gestattet sich der from­me Katholik nicht.

So trifft ihn die Erklärung des Unfehlbarkeitsdogmas. Er hatte für den berühmten BischofKetteler jene Denkschrift über dieses Dogma auszuarbeiten, welche dieser dann auf der Bi­schofversammlung zu Fulda vorbrachte. Brentano war inner­lich durch die Abfassung dieser Denkschrift an der katholischen Kirche irre geworden. Gegen ein Dogma, das schon bestand, aüch nur zu denken, hätte ihm sein frommer katholischer Sinn verboten. Aber das Unfehlbarkeitsdogma bestand noch nicht, als er sich zu dessen Prüfung aufgefordert fand. Er durfte prü­fen. - Und er fand, nach der Prüfung, in seinem Herzen den Weg zur katholischen Kirche nicht mehr zurück. Die Kirche hatte das Dogma angenommen, das er aus seiner Katholizität heraus ablehnen mußte.

Franz Brentano verließ die Kirche und ward freier Philo­soph. Er brachte in die Philosophie hinein die Kunst der streng logischen Begriffsgestaltung. Der Aristotelismus mit seinem Aufstieg von der Beobachtung der Sinne bis zur Erfassung des Geistigen in scharfsinnig geformten Begriffen war Brentano zur zweiten Natur geworden. - So wollte er sich als Philosoph in das Zeitalter hineinfinden, in dem die Naturerkenntnis Füh­rerin in aller wissenschaftlichen Methodik geworden war. Eine seiner ersten philosophischen Schriften war diejenige, in wel­cher er den Satz vertrat: die wahre Philosophie dürfe sich keiner

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anderen Methoden bedienen als die echte Naturwissen­schaft. Aus dieser Gesinnung heraus wollte er in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts eine Psychologie schrei­ben. Sie war auf mehrere Bände berechnet. Aber es ist nur der erste Band erschienen. - In meinem Buche «Von Seelenrät­seIn» (Dornach 1960, Seite 95) habe ich die Gründe versucht darzustellen, aus denen heraus Brentano nie zum Abschlusse, nicht einmal zur Weiterführung seiner Psychologie hat kom­men können. Dort£ findet man die Ansicht entwickelt, daß die Seelenerscheinungen gerade derjenige durch eine zum geisti­gen Schauen entwickelte Erkenntuisart wird beobachten wol­len, der das Wesen der naturwissenschaftlichen Methodik recht durchschaut. Ein solcher wird sich für die Grenzen des Naturgebietes an diese Methodik zunächst halten, aber gerade durch ihre Handhabung sich überzeugen, daß die Seele in ihrer Wirksamkeit und ihrem Wesen nur erkannt werden kann, wenn das gewöhnliche Bewußtsein über sich hinausgehend die Fähigkeit eines exakten Schauens entwickelt. Diesem Schauen erschließen sich die Seelen- und Geistesvorgänge. Brentano wollte zu solchem Schauen nicht übergehen. Er wollte mit der naturwissenschaftlichen Methodik auch in das Reich der See­lenerscheinungen eindringen. Damit brachte er es nur bis zu den elementaren Seelenvorgängen. Aber nach seiner eigenen Meinung ist eine Seelenkunde wertlos, die es nur bis zur Bil­dung und Verkettung der Vorstellungen, zur Formung der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses und so weiter bringt. Wahre Psychologie muß zur Erkenntnis dessen gelangen, was als des Menschen besserer Teil bestehen bleibt, wenn der Leib zerfällt. - Aber zu solcher Psychologie kann nur exaktes Schauen kommen. Brentano wollte dieses nicht; und so er­gab sich ihm für die höheren Teile der Psychologie kein Inhalt. Aus der naturwissenschaftlichen Methode heraus konn­te er ihn nicht finden. Eine bloße Formalistik zu liefern, ver­bot dem ernsten Wahrheitssucher seine im höchsten Sin­ne ausgebildete denkerisch-wissenschaftliche Gewissenhaftig­keit.

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Brentano rang nun sein ganzes Philosophen-Leben hin­durch mit den Weltenrätseln, die sich nur dem exakten Schauen erkennmismäßig ergeben. Es war dieses sein Ringen ein groß­artiges.Wer seine bei Lebzeiten erschienenen Schriften verfolgt hat, der wurde, wenn er dafür ein Organ hatte, tief angezogen von der gewaltigen Erkenntuisarbeit dieses Philosophen.

Es ist nun nach den Mitteilungen seiner ihm treu ergebenen Schüler ein reicher Nachlaß Franz Brentanos vorhanden. Er soll im Laufe der Zeit veröffentlicht werden. Man wird seinen Schülern zu größtem Dank verpflichtet sein.

Was von diesem Nachlaß zu erwarten ist, davon bekommt man eine Vorstellung durch die erste Veröffentlichung aus demselben. Sie bringt - von Alfred Kastil vorzüglich eingelei­tet - Brentanos «Die Lehre Jesu und ihre bleibende Bedeutung, mit einem Anhange: Kurze Darstellung der christlichen Glau­benslehre» (Leipzig, Verlag von Felix Meiner, 1922).

Anfang und Ende der Brentanoschen Erkenntnisarbeit ste­hen durch diese Schrift vor der Seele des Lesers. Aus zwei Grundlagen geht hervor, was der Philosoph über die Lehre Jesu zu sagen hat. Aus einem innigen Verständnis für die Evan­gelien und aus einem gewissenhaft wirkenden, auf scharfe Ideenformung gerichteten Erkenntnisstreben. Durch Zusam­menwirken dessen, was er auf diesen beiden Grundlagen er­richtet, entsteht in Brentanos Seele: 1. Die Sittenlehre Jesu; 2. Die Lehre Jesu von Gott und Welt und seiner eigenen Per­son und Sendung; und 3. eine «Kurze Darstellung der christ­lichen Glaubenslehre». In derselben Art ergibt sich ihm, was er als ausführliche Kritik der Pascalschen Darstellung des Ka­tholizismus bringt.

Man kann nun den Bruch in Brentanos Weltanschauung, der für seine Bearbeitung der Psychologie festgestellt werden mußte, auch in seiner Stellung zum Christentum finden. Die Überzeugung gegenüber wissenschaftlichem Denken, die ihm aus dem nach naturwissenschaftlicher Methode arbeitenden Forschen erwachsen ist, wurde ihm Charakteristikon seiner ganzen Weltanschauung. Und so ringt er denn auch gegenüber

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der Person Jesu, in der er die Gottwesenheit des Christus nicht finden kann. Wie stark an eine Auffassung, die an das Christus-geheimnis mit exaktem Schauen herantritt, und in Jesus den Christus als übersinnlich-überirdisches Gottwesen entdeckt, klingen Brentanos Worte an (Seite 37):« Die Weltanschauung Jesu war also nicht bloß geozentrisch, sondern auch christo-zentrisch und zwar in solcher Weise, daß um die Person des einen Menschen Jesus sich nicht bloß die ganze Erdgeschichte, sondern auch die der reinen Geister, der guten wie der bösen, ordnet und in jeder Hinsicht nur durch die Zweckbeziehung zu ihm ihr Verständnis findet. Die Welt ist nicht bloß in Rück­sicht auf den einen allwaltenden Gott, sondern auch in Rück­sicht auf diejenige Kreatur, die vor allen anderen sein Ebenbild ist, eine Monarchie zu nennen.» - Und doch: die Ideen, die Brentano von dem Christus Jesus entwickelt, laufen nicht ein in eine solche Geistesgestalt, die als die Wirklichkeit empfun­den werden kann. Das kann nur bei einer Weltanschauung der Fall sein, welche von der Naturwissenschaft zu einer Geistes­wissenschaft aufsteigt, von einer Geschichtserkenntnis über die äußeren Geschehnisse zu einer exakten Anschauung der übersinnlichen Wirksamkeit des Geistesreiches im geschicht­lichen Leben. Jesus findet man durch eine der Naturwissen­schaft nachgebildete Geschichtserkenntnis; den Christus fin­det nur eine echte Geisteserkenntnis. (Damit ist natürlich nicht gemeint, daß der fromme Sinn des Christen den Christus nicht findet. Er findet ihn im Gefühls-Erleben. Erkenntnis des Chri­stus aber kann nur auf die angegebene Art errungen werden. Und nach einer solchen strebte Brentano.) Der Philosoph Brentano hat sich den Weg ins Geistgebiet, auf den er doch ge­wiesen war, durch seine Stellung zum naturwissenschaftlichen Denken verbaut * . Er hat deshalb auch den Weg zu Christus, den er durch seine Auseinandersetzung mit dem katholischen

- - -

* Man hat im Kreise der Brentanoschen Sehülerschaft meine Auffassung von den Schwierigkeiten Brentanos gegenüber der Psychologie angefochten. Ich würde gerne zugeben, daß die dem Philosophen Nahestehenden darüber mehr wissen können als ich; aber ich werde nun in meinem Urteile gerade durch die «Lehre Jesu» Brentanos wesentlich bestärkt.

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Dogma verloren hat, nicht völiig wiedergefunden. Gerade durch das, was ein so ehrwürdiger Wahrheitssucher nicht fin­den konnte, ist Brentano eine der bedeutendsten Philosophen-Erscheinungen der Gegenwart.

DAS VERSTEHEN DER MENSCHEN (BRENTANO UND NIETZSCHE)

Persönlichkeiten wie Franz Brentano, über dessen Lebensar­beit im letzten Aufsatz einige Andeutungen gemacht worden sind, geben Veranlassung, den Blick auf die Kulturkräfte des ganzen Zeitalters zu richten. Denn dasjenige, was sich in dem Leben solcher Menschen entwickelt, geht aus den Kulturströ­mungen dieses Zeitalters hervor. In gewissem Sinne ist es so, daß diese Menschen nur intensiver bewußt fühlen, was in ihren Mitmenschen mehr oder weniger unbewußt auch vorgeht. Das gesamte soziale Leben setzt sich aber zuletzt aus diesen unbe­wußten Vorgängen zusammen.

Nun ist im Leben Brentanos eine der auffälligsten Erschei­nungen sein Gegensatz zu Friedrich Nietzsche. Das tritt ganz deutlich auch in Brentanos «Lehre Jesu» zutage. Es findet sich in diesem Buche ein ganz kurzes Kapitel, in dem gefragt wird, wie Nietzsche sich neben der Persönlichkeit Jesu ausnimmt. Schon daß Brentano eine solche Frage aufwirft ist charakteri­stisch. Wer zu Jesus dem Christus so steht, wie - nach den Aus­führungen im letzten Aufsatz - Brentano nicht stehen konnte, wie es sich aber einer anthroposophischen Erkenntnis ergibt, der wird diese Frage gewiß so nicht aufwerfen, wie es Brentano tut. Daß ein so ernster Wahrheitsucher überhaupt zu dieser Frage kommt, zeigt bei ihm eine tief verhaltene Antipathie ge­gen die ganze Geistesart Nietzsches. Diese verrät sich auch da­durch, daß Brentano Nietzsche eine belletristisch schillernde Eintagsfliege nennt.

Hier soll weiter nicht eingegangen werden auf das Verhält­nis, das Brentano in seiner Art zwischen Jesus und Nietzsche

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feststellt, sondern nur auf die absolute Ablehnung der garizen Geistesart Nietzsches von seiten Brentanos.

So begreiflich diese Ablehnung für jemand ist, der beide Persönlichkeiten ihrem Wesen nach kennt, so bezeichnend ist sie als Ausdruck für eine bedeutsame Zeiterscheinung: für die Verständnislosigkeit überhaupt, mit der sich heute Menschen gegenüberstehen können, die aus der Zeitkultur heraus ihre Bildung schöpfen.

Manche werden sagen, solch eine Erscheinung sei selbstver­ständlich, und es sei zu allen Zeiten so gewesen. Denn der Mensch entwickele sich eben nach seiner Individualität; und da müsse, was Zeitbildung ist, bei dem einen so, bei dem an-dern anders erscheinen. Das ist richtig; und es soll hier gewiß nicht der philisterhafte Standpunkt vertreten werden, daß es am besten wäre, wenn die Menschen die persönlichkeitsiosen Abdrücke einer allgemeinen Kulturschablone wären. - Aber, wer unbefangen gewisse soziale Tatsachen des heutigen Le­bens betrachtet, der kann wissen, daß von einem verständnis­vollen Einander-Entgegenkommen der verschiedensten indi­viduellen Anschauungen für den Fortschritt der zivilisierten Menschheit gerade in der nächsten Zukunft unermeßlich viel abhängen wird. Und einem solchen tauchen dann die schwer­sten Bedenken gegenüber diesem Fortschritt auf, wenn er wahrnehmen muß, wie eine scharf ausgeprägte Individualität nicht nur das Eigene energisch vertritt, sondern auch sich er-füllt mit bloßer Ablehnung einer andern scharf ausgeprägten Individualität, statt mit jener verständnisvollen Auffassung, die heute so notwendig auch den entgegengesetztesten Gedan­kenrichtungen wäre.

Man kann nämlich sehen, wie Nietzsches innere Lebens-richtung aus ganz ähnlichen Untergründen hervorgeht wie die Brentanos. Dieser geht vom Katholizismus aus und wendet sein Denken so, daß er in eine naturwissenschaftliche Gesin­nung einmündet. Aus dieser findet er keinen Ausweg in eine Erfassung der geistigen Weltwesenheit. Nietzsche geht von dem Griechentum aus, dessen künstlerischer Impuls ihm bei

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Richard Wagner wieder erneut erscheint. Philosophisch legt er sich, was sich ihm da als Weltauffassung gestaltet, durch die Anlehnung an Schopenhauer zurecht. Man kann sagen: Nietz­sche, der nur um wenige Jahre jünger ist als Brentano, steht im Beginne der siebenziger Jahre des vorigen Jahrhunderts vor der aufkommenden naturwissenschaftlichen Denkungsart so wie Brentano einige Jahre vorher. Dieser als gläubig-zweifeln­der Katholik, jener als gläubig-zweifelnder Bekenner einer antikisierenden Kunstweisheit. Und Nietzsche verfällt derje­nigen naturwissenschaftlichen Anschauung, die nicht durch Umartung der Erkenntnis zum Geist aufsteigen will, geradeso wie Brentano

In «Menschliches-Allzumenschliches», in der «Morgen­röte» steigt Nietzsche für die Erkenntnis des Menschenwesens aus dem Seelischen in das Physiologische hinunter, das die naturwissenschaftliche Zeitrichtung gelten läßt. Nur die per­sönliche Orientierung ist bei beiden verschieden. Brentano will alle Wahrheit nach dem Muster der zeitgenössischen Naturer­kenntnis wissenschaftlich begründen. Er kann dabei nicht in die Region der geistigen Weltwesenheit gelangen, nach der er doch aufstrebt. Diese Region zieht sich gewissermaßen zurück vor dem, was er naturwissenschaftlich erfassen kann. - Nietzsche hat vor seiner Seele die sittlichen Ideale des Menschen stehen. Er lernt naturwissenschaftlich denken. Da wird, was als rein geistig-seelisches Ideal vorher erschienen war, zum Ergebnis dessen, was aus den Kräften der Leiblichkeit aufsteigt. Physio­logisch im umfassenden Sinne wirkt der menschliche Leib. Er bildet als Ergebnis auch die Ideen und Ideale aus. Es wird für Nietzsche eine Lebenslüge, wenn man die Sache so ansieht, daß die Ideale in einer selbständigen Geisteswelt wurzeln. Diese Geisteswelt ist der Nebel, der für den verblendeten Men­schen als selbständig erscheint, für den Wissenden als physio­logisches Machtstreben, das sich als selbständige Geisteswelt maskiert.

Brentano schmiedet sich sein Erkenntniswerkzeug mit der naturwissenschaftlichen Methodik seines Zeitalters. Es wird

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fein in der Zergliederung auch des Seelischen; aber es wird stumpf gegenüber den großen Welttatsachen des Geistesle­bens. Nietzsche bildet sich mit der naturwissenschaftlichen Denkungsart sein Werkzeug; es wird robust, um das Seelische überall in seiner leiblich-physiologischen Umkleidung zu be­klopfen; aber es wird zum Hammer, der die selbständige Gei­steswelt zermürbt.

So persönlich verschieden gestaltete sich die Wirkung des wissenschaftlichen Zeitalters auf Brentano und auf Nietzsche. Aber die Ursache war bei beiden das Untertauchen in die zeit­genössische naturwissenschaftliche Denkungsart.

An zwei Persönlichkeiten, von denen eine jede auf andere Menschen einen bedeutenden Eindruck gemacht hat, zeigt sich, was eine allgemeine Zeiterscheinung von heute ist: die Menschen leben sich nicht zusammen, sondern auseinander. -Da kann nur heilend wirken ein erkennendes Aufsteigen in die geistigen Welten. Denn diese sind einheitlich für alle Men­schen. Sie unterdrücken nicht die Individualitäten. Diese kön­nen, nach ihren persönlichen Eindrücken, allerdings in der mannigfaltigsten Weise von ihnen reden. Und befangene Ge­müter sagen dann, weil die verschiedenen Menschen so Ver­schiedenes über Geisteswelten sagen, ist alles unsicher. Aber die Verschiedenheit rührt nur von den Gesichtspunkten her, von denen gesehen wird. Die geistige Wirklichkeit, die er­kannt wird, ist eine Einheit. Und deshalb findet der Mensch, der zum Geiste aufsteigt, den andern Menschen in seiner Seele. Brentano hat für Nietzsche nur Ablehnung, trotzdem er ihm durch das Schicksal, das über beide durch das Untertauchen in die naturwissenschaftliche Denkungsart verhängt ist, so nahe steht.

Die Anerkennung der Geisteswelt wird Menschen-Verste­hen bringen; der Zweifel an den Erkenntniswegen in das Gei­stige bricht die Brücken von Seele zu Seele ab.

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DER PHILOSOPH ALS RÄTSELSCHMIED

Unter den Menschen, die für das geistige Leben zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts besonders charakteristisch sind, wird man den im Frühling 1917 verstorbenen Philosophen Franz Brentano nennen müssen. (Ich habe in dieser Wochenschrift von ihm anläßlich des Erscheinens seines Christusbu­ches gesprochen und in einem Nachrui, der den 3 . Abschnitt meines Buches «Von Seelenrätseln» bildet.)

Franz Brentano wollte eine Philosophie von der Seelen­kunde aus gewinnen. Er hat von seiner groß beabsichtigten Psychologie nur den ersten Band erscheinen lassen. Er wollte die Seelenwissenschaft nach einer Methode aufbauen, die nach dem Ideal der Naturwissenschaft orientiert sein sollte. Alles, was er an Feinem, Scharfsinnigem über die Seelenerscheinun-gen ersonnen hat, geht in der Richtung, die hier in dieser Wo­chenschrift als «Anthroposophie» gekennzeichnet wird. Al­lein die Naturwissenschaft, in der Brentano aufgewachsen ist, und an der er methodisch festhalten wollte, betrachtet ein Ein­dringen in die wirkliche geistige Welt als Phantastik. Und zu einer «Geisteswissenschaft », die auf Anschauung des Gei­stes geht und dabei doch so streng verfährt wie die moderne Naturwissenschaft, konnte sich Brentano nicht verstehen. Er konnte sich mit vollem Bewußtsein nicht zu dem aufschwin­gen, wozu alle seine Ideenwege hinweisen. So blieb sein Werk unvollendet.

Aber gerade durch ihr Ringen wird die Seele dieses «Seelen-forschers» zu einer Erscheinung, die den geisteswissenschaft­lichen Seelenbetrachter immer wieder aufs neue mächtig an-zieht. Die kleinste Gabe seiner schriftstellerischen Leistungen bietet ein unbegrenztes Interesse.

Es gibt nun ein kleines Büchelchen «Aenigmatias» (Neue Rätsel von Franz Brentano, 2. Auflage, München 1909) von diesem Philosophen. Er sagt selbst in der Vorrede, daß die zahlreichen Rätsel, die er geschaffen und in diesem Büchelchen mitgeteilt hat, «recht eigentlich Erzeugnisse der Gelegenheit»

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sind. «Wiederholt fand ich mich in Kreisen, die sich mit sol­chen Spielen des Scharfsinnes zu unterhalten liebten; und nur dem Wunsche, ihnen gefällig zu sein, verdanken meine Rätsel ihr Entstehen.»

Und dennoch; geht man liebevoll auf diese Rätsel ein, so findet man in ihnen die besondere Eigenart dieses Denkers wieder. - Brentano wurde durch seine strenge scholastische Schulung zu einer scharfen Behandlung des Denkens geführt. Das Stellen von Fragen an das Leben und die Welt wurde ihm zur feinsten Seelenkunst. Das Gestalten klarer, lichtvoller Be­griffe war ihm in unbegrenztem Felde eigen. Aber durch sein Eingehen auf die Naturwissenschaft seiner Zeit kam er in ein seelisches Erleben, das nicht an die Wesenheit der Dinge heran will; die «Grenzen des Erkennens» trafen bei ihm mit einem nach Unbegrenztheit treibenden Scharfsinne zusammen. Und so konnte er sich mit diesem Scharfsinn den Dingen und Vorgängen der Welt gegenüber nur fühlen wie jemand, der irgend etwas in einer leichten Umhüllung in Händen hat und der sich nun zu raten bemüht, was diese Umhüllung in sich schließt.

Wer Sinn hat für die Untertöne, die aus den Gedanken eines Menschen herausklingen, der kann aus Brentanos tiefgründi­gen Büchern und Abhandlungen überall den «Rätselsucher »auf besondere Art herausfühlen. Es entstehen bei ihm die Rät­sei der Natur und des Geistes dadurch auf besondere Art, daß er in seinen Fragestellungen etwas wie ein Tasten hat, das an die Dinge nicht heran will, weil es glaubt, durch zu unvorsich­tiges Zugreifen die Wirklichkeit zu grob wahrzunehmen. Das wird schließlich die Grundstimmung des ganzen Brentano­schen Denkens.

Und ein solches Denken darf sich, ohne sich untreu zu wer­den, zur Erholung in die spielerischen Regionen zurückziehen, wo das Fragestelien zum geistreichen Umhüllen des Gemeinten wird. So empfindet man gegenüber den Brentanoschen Rät­seln. Denn es ist bei ihm dieselbe Seelenverfassung auf leicht-spielerische Art wirksam, wenn er den Leuten Rätsel aufgibt,

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die sich zum äußersten Ernst erhebt, wenn er den «Rätselfra­gen» des Daseins nachsinnt.

Man merkt die Gedankenfeinheit, wenn Brentano raten läßt:

«Süß bin ich und dem Kindeshunger Wonne,

Da schwind' ich rasch wie Schnee im Strahl der Sonne.

Doch, schwingt die junge Phantasie die Flügel,

So schwell ich, wachse über alle Hügel

Und sperr' ihr Paradies als breiter Riegel.»

Und man empfindet ernst dieselbe Feinheit, wenn Brentano die Äußerungen des Seelenlebens in Klassen einteilt.

Wenn dieser Philosoph die Leute witzig unterhalten will, so tut er es, indem er in den Scherz den Geist von seinem Philoso­phen-Impuls gießt. Und wenn der Philosoph empfindet, wie das Denken ein solch merkwürdiger Alchimist ist, der aus dem kleinsten Vorgang ein tiefernstes Welträtsel macht, so bringt es Brentano durch eine ähnliche Umwandlung zustande, einen Spaß so auszudrücken, daß ihn eine «Tragödie in Worten» umhüllt:

«Wen warf man in Wasser zum Sieden erhitzt?

Wem hat man den Bauch mit dem Messer geschlitzt?

(Vorhingen die innern Geweide ihm itzt;)

Wem riß man die Seel' aus dem Leibe?

Wem stutzte den Schweif man zum traurigen Stumpf?

Wen stieß man hinab in den pfuhligen Sumpf?

Wen schleifte man fort mit verstümmeltem Rumpf? -

Mich, der ich es alles beschreibe.»

(Brentano sagt von manchem seiner Rätsel: «Begegnet man bei ihrer Lösung oft großer Schwierigkeit, so trägt die Ge­schicklichkeit derjenigen die Schuld, für die sie zunächst be­stimmt waren. Die feinsten und wunderlichsten Aufgaben wa­ren ihnen die liebsten, und keine blieb ungelöst.» Da ich aber bei den Lesern dieser Wochenschrift keine geringere Ge­schicklichkeit voraussetzen darf, so lasse ich die Lösung bei den Beispielen weg. Brentano gibt ja auch in dem Buche keine.)

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Zuweilen ist es reizvoll, wie der Philosoph in das Rätsel et­was hineinträgt, was fast die Weltenschwere einer philosophi­schen Frage hat, zum Beispiel:

«Ich bin ein Meer, ein Ozean,

Der schier die halbe Erde decket,

Ein Grab, das Tausende umfahn

In gleichem Frieden hingestrecket.

Bin eine Hexe, die den Sinn

Mit Trugesfäden dir umwebet,

Ich bin die ernste Lehrerin,

Die euch der Schöpfung Schleier hebet.»

Daß eine Winzigkeit mit geradezu dialektischem Wortschwall sinnvoll umhüllt werden kann, zeigt das Rätsel:

«Weil ein klein, unscheinbar Ding,

Achtet man es oft gering,

Was Verwirrung schuf

Wenn es in den Lüften schwebt,

Schweigt das Zischen, und es hebt

Sich des Staunens Ruf.

Ja ein Weiser hochgelahrt (Hegel)

Hat den Atem nicht gespart,

Sprach das große Wort,

In dem wohlgefügten Staat

Sei der Fürst, was in der Tat

Dies an seinem Ort.»

Brentano wurde Rätselschmied, weil er im Grunde seines Denkquells viel mehr Kraft hatte, als er in seiner Philosophie ausleben konnte; aber er war in so hohem Grade Philosoph, daß er dies auch blieb, wenn er Witze machte. Seine Rätsel sind von der verschiedensten Art: Charadoiden, Verdoppelungs­charaden, Fülltät sel und so weiter sind darunter; aber alle sind so, daß man fühlt: es ist da der Geist selbst, der zum Späße-macher wird.

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PHILOSOPHENHÄNDE

Als Beigabe zu den Vortragsreihen über Anthroposophie und Pädagogik, die ich gegenwärtig hier in England zu halten habe, wurden von den Veranstaltern auch einige Ausführungen über die eurythmische Kunst gewünscht.

Ich wollte den Zuhörern zeigen, wie diese Kunst geradeso wie jede andere in dem Sinne aus dem Leben heraus gestaltet ist, daß dabei der schöne Gedanke Goethes zur Wahrheit wird, die Kunst sei eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die ohne sie niemals zu einer Offenbarung kämen. Etwas scheinbar ferne und doch so nahe Liegendes drängte sich mir auf da ich darauf hinweisen wollte, wie Eurythmie als die Kunst der Be­wegung des einzelnen Menschen oder von Menschengruppen die Offenbarung der menschlichen Seele durch den Menschenleib wird. Die Erinnerung an den von mir in dieser Wochenschrift öfter besprochenen Philosophen Franz Brentano tauch­te in meinen Gedanken auf. An dem, was einem besonders wertvoll ist, wird man oft in charakteristischer Weise gewahr, was man eigentlich im Leben überall beobachten kann. Man würdigt aber das Allgemein-Gegenwärtige erst recht, wenn man es im Lichte eines besonders Charakteristischen sieht.

Es verursachte mir immer einen tiefen Eindruck, wenn ich vor vielen Jahren in Wien als Zuhörer Franz Brentano, den hervorragenden Seelenforscher, dem Rednerpult sich nahen, dann seine Konzeptblätter entfalten und seine Gesten während des Vortrags machen sah. All dies sagte ebensoviel wie die Worte, die der Philosoph sprach; ja ich möchte fast das Para­doxon aussprechen: es sagte mehr.

Die rechte Hand nahm das Blatt, hielt es aber so, daß man fast hätte meinen können, es müßte den gerade gestreckten Fingern, die es nur leise umfaßten, entfallen. Es war mehr in den Raum hineingestreckt als gehalten. Dabei war die Hand zumeist so gehalten, daß sie an dem vorgestreckten Arm etwas nach abwärts hing. Sie war in einer Geste, in der ein Betrach­tender sein kann, der einen Gegenstand ins Auge faßt, welcher

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tief seine Seele beschäftigt. Die linke Hand unterstützte öfter die rechte im Halten des Blattes; öfter bewegte sie sich zwi­schen Blatt und Tischoberfläche in vielsagender Weise. Die Fingerbewegung war dabei äußerst ausdrucksvoll. Man konnte die Vorstellung bekommen, daß alle diese Gesten dar­nach strebten, ein unmittelbarer Ausdruck dessen zu sein, was in der Seele vorging, und daß das Blatt, das gehalten werden mußte, eigentlich nur störend in die Gestenentfaltung ein-griff. - Die Art, wie der Blick auf das Blatt fiel, war diesem Ein­druck ganz angemessen. Er streifte gewissermaßen leise über die Blattfläche hin. Man konnte nicht meinen, daß gelesen wurde; eher, daß zu dern auf dem Blatte Stehenden etwas hin-zugesehen wurde.

In all dem lag die ganze Seelenbetrachtung Franz Brentanos. Dieser hat die von ihm gegebene Gliederung der menschlichen Seelenfähigkeiten immer für etwas besonders Wichtiges ge­halten. Er unterschied im Umfange des seelischen Lebens das Vorstellen, die Urteilsfällung und die Gefühle der Liebe und der Abweisung. Der Wille kam dabei etwas zu kurz. Er wurde gewissermaßen nur so weit berücksichtigt, als er im Gefühle lebt. Die ganze Philosophie Franz Brentanos macht den Ein­druck, als ob sie sich subtil, geistvoll indem Umfang des inner­lich Seelischen bewegte, aber davor zurückschreckte, die dem Menschen äußere Wirklichkeit zu ergreifen. Als ob sie sich in diesem Ergreifen sofort unsicher fühlte. Es ist etwas da, was die Seele hindert, den Punkt zu erfassen, wo das Gefühl sich im Willen verwirklicht und die Außenwelt ergreift.

Die ganze Weltanschauung Brentanos trägt diesen Charak­ter an sich. Sie ist Betrachtung, die in sich selbst unsicher dar­über sich fühlt, wie sie zu dern kommt, was betrachtet wird. Sie findet in sich etwas vor wie ein «Ding an sich»; aber findet innerhalb ihrer selbst keine Berechtigung, robust von einem solchen zu reden. Sie weiß aber zugleich auch, daß alles Reden über die Welt stumpf bleibt, wenn die Brücke zum in sich ru­henden Dasein nicht gefunden werden kann.

Brentano hat viele Ausgangspunkte gewählt, um diese

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Brücke zu finden. Ich habe im dritten Kapitel meines Buches «Von Seelenrätseln» davon gesprochen, wie er deshalb seine schon in den siebziger Jahren als ersten Band veröffentlichte Psychologie nicht weitet brachte, weil er die von ihm erstrebte Brücke nicht finden konnte.

Brentano hielt in seinen Gedanken die Dinge der Welt so, wie er das Konzeptblatt in der Hand hielt. Diese Hand brachte nur genau so viele Kraft auf als nötig war, damit ihr das Blatt nicht entfiel. Sie ließ das Blatt zwischen den Fingern ruhen; hielt es aber nicht. Und der Blick fiel nicht auf das Blatt, er fiel über dasselbe; er las nicht, sondern schien bloß die Formen des Geschriebenen zu betrachten.

So auch waren die Gedanken dieses Mannes. Sie wollten in das Innere der Dinge, hielten sich aber scheu an den Formen derselben zurück, sobald sie an sie stießen. Sie sahen über die Dinge hinweg. Sie streiften sie.

Es waren wirklich die Seelenerlebnisse in einer deutlichen Art in der ganzen Haltung des Körpers, besonders in Arm-und Händehaltung geoffenbart. Man möchte sagen: in seinen Gedanken hat Brentano immer wieder den Ansatz dazu ge­macht, diese Haltung zu ändern; in dem Streben nach der ihm eigenen Geste war seine Philosophie durch das Wesen seiner Persönlichkeit fest geworden. Diese Gesten sagten in präziser Form, was die Gedanken, weil sie immer wieder in Zweifel verfielen, aus dieser präzisen Form herausbrachten.

Wer derartiges erlebt hat, der lernt hinblicken auf die Spra­che des menschlichen Körpers. In seinen Bewegungen wird die Welt zur bewundernswerten Künstlerin. Sie läßt das See­lische, in dem der Geist lebt, für das Auge sichtbar werden. Und im Sinnlich-Wahrnehmbaren Geistiges ganz unmittelbar schauen, so daß man beim Anschaubaren stehen bleiben kann, und die Gedanken als solche verstummen; das ist künstleri­sches Betrachten.

Ein Gebiet des Geistes so erobern, daß es restlos sinnlich anschaubar werden konnte, das hat stets zu einem Kunstbe­reich in der Entwickelung der Menschheit geführt.

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Nun, die Eurythmie will, was in der Seele leben kann, durch die aus dem menschlichen Organismus naturgemäß folgenden Bewegungen wie in einer sichtbaren Sprache zum Ausdruck bringen. Sie geht über das Mimische hinaus, das die Sprache nur gewissermaßen da und dort ergänzt, aber ihr nicht voll­kommen gleich wird; sie wird aber auch nicht zum Tanz, der den Charakter der Sprache verlieren muß, weil er nicht Offen­barung des Seelisch-Geistigen, sondern Überfiießen desselben in die äußere Bewegung werden muß. Nichts soll gegen die volle Berechtigung dieser Künste selbstverständlich gesagt werden; sie haben ihre eigene Schönheit. Die Eurythmie stellt sich ihnen selbständig als aus dem Leben gestaltete sichtbare Sprache, die zur Kunst werden kann, gegenüber. -

EINE VIELLEICHT ZEITGEMÄSSE PERSÖNLICHE ERINNERUNG

Innerhalb meiner Vorträge habe ich oft die Gedanken des fein-geistigen Kunstschriftstellers Herman Grimm angeführt. Ich tat es, weil in ihnen mir eine der Strömungen im letzten Drittel des neunzehnten und noch bis in das zwanzigste Jahrhundert fortzuleben schien, die von Goethe ausgegangen sind. Es fiel wie ein bedeutsames Ereignis in mein Leben, als ich 1881 das Buch in die Hände bekam, das die von Herman Grimm im Wintersemester 1874/75 in Berlin über Goethe gehaltenen Vorlesungen wiedergab. Das Buch wirkte so auf mich, wie wenn etwas von Goethe selbst Ausgehendes durch dasselbe noch in die Zeit herüberwehte, in der man Goethes fünfzigsten Todestag erlebte. Für dasjenige, was ich damals empfand, sah ich später die Erklärung in den Worten, die Herman Grimm erst 1894 der fünften Auflage seines Goethebuches voran-schickte: «Ich lebte in meiner Jugend in einer Umgebung, von denen fast Alle persönlich mit Goethe verkehrt hatten, und rechnete mich selbst dazu, als sei mir dies Vorrecht durch eine Art von Erbschaft zuteil geworden.»

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In diesen Goethevorlesungen sind im Grunde nur Gedan­ken, die entweder den Abschluß von seelischen Erlebnissen bilden, oder solche, die perspektivisch in eine Weltanschauung weisen. Den Abschluß von Erlebnissen, die unter Menschen spielten, welche empfanden, wie wenn der Schatten Goethes in ihren Kreisen dann herumging, wenn Entscheidendes sich zu-trug. Herman Grimm brachte gewissermaßen in Worte, was die geistigen Kinder Goethes durch mehrere Jahrzehnte als gemeinsames Seelengut sich erworben hatten. In den Vorle­sungen sprach eine Persönlichkeit, die alles so sagte, wie nur sie es konnte und die doch die Anschauungen Vieler vermit­telte. Alles war individuell-eigenartig und doch etwas wie die gemeinsame Empfindung einer großen Anzahl von Menschen, die es als eine geistige Errungenschaft ihrer Zeit ansahen, in der seelischen Atmosphäre Goethes zu leben.

Aber ich hatte noch eine andere Empfindung beim Lesen dieses Buches. Ich vermeinte, Herman Grimm schildere von Goethe nur, was dieser in seinem Verhältnis mit den Menschen erlebte. Mir kam vor, auch dasjenige, was in den Vorlesungen über Goethes Werke gesagt wurde, sei nur ein Spiegelbild von Goethes Umgange mit der Welt. Ich sagte mir: aber Goethe hatte doch die Stunden, in denen er den großen Rätselfragen des Daseins künstlerisch und erkenntnismäßig nachging, die in der seelischen Einsamkeit erfahren werden. Das alles schien mir in Herman Grimms Gedanken erwähnt, aber nicht vor­handen. Meine eigenen Goethe-Studien gingen aber durchaus auf diese Seite des Goetheschen Lebens. Deswegen stand ich zu dem Buche so, daß ich von ihm aufs intensivste angezogen, und daß es mir von einer andern Seite sogar unsympathisch war. Und oftmals sagte ich mir: da fehlt doch der Kern des Goetheschen Wesens; da ziehen Erlebnisse und Werke Goe­thes wie Schattenbilder vor dern Blicke vorüber.

Aber in diesen Schattenbildern lebte eben doch die beson­dere Form des Idealismus, die aus der ersten Hälfte des neun­zehnten Jahrhunderts in dessen zweite herüberleuchtete. Ein Idealismus, der den Willen hatte, nicht bloß in Gedanken zu

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träumen, sondern in das ganze menschliche Leben sich auszu­breiten. Ein Idealismus, der sich durch die Art, wie er erlebt wurde, auch für bewiesen, ja für unwiderleglich hielt.

Ilerman Grimm dachte und empfand in dieser Art von Idealismus. Für mich bedeutete dies, daß ich nicht anders konnte, als mich während meiner Jugendzeit mit allem be­kannt zu machen, was Herman Grimm geschrieben hatte. Da stand denn bald vor mir, wie die Perspektive einer Weltan­schauung den Hintergrund aller seiner Bücher und Essays bil­dete. Ich empfand diese Weltanschauung als überwältigend großartig auf der einen Seite, als zu leicht wiegend auf der an-dern Herman Grimm hat über Goethe, Michelangelo, Ra­phael, Homer Bücher, über vieles andere Essays geschrieben. All das aber umfaßt nur Einzelheiten einer Weltanschauung, die im geschichtlichen Werden der Menschheit, in den Taten der großen Persönlichkeiten die Offenbarungen einer Art schaffender Weltphantasie sieht. Diese Weltphantasie steht hinter allem: in Homer, Dante, Shakespeare, Michelangelo, Raphael, Goethe lebte sie; und was diese Persönlichkeiten der Welt gaben, waren die Erlebnisse, die sie mit der schaffenden Weltphantasie hatten.

Mir war klar: die universelle Phantasie, von der Herman Grimm sprach, ist Eine der Offenbarungen der Geisteswelt, die wie in der Natur, so auch in der Geschichte als die eigent­liche Realität angeschaut werden muß. In Herman Grimm lebte eine intensive Ablehnung aller geschichtlichen Anschau­ungen, die nicht auf den Geist gingen. Aber er wollte den Geist nur in der schaffenden Phantasie anerkennen. Vor mir stand, nach meiner Ansicht, eines der seelenvollsten Bekenntnisse zum Geist, die man in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts noch finden konnte, die aber - im Sinne meines Aufsatzes «Anthroposophie und Idealismus » in dieser Wo­chenschrift - doch vor dern Tore der eigentlichen Geisteswelt stehen blieben.

Da ich so fühlte, war es mir ein zweites für mein Leben be­deutsames Ereignis, als ich dann während meiner Weimarer

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Jahre Herman Grimm persöhlich kennen lernen durfte. Jch hatte das Glück, bald nachdem dies geschehen war, von ihm einmal zu Mittag im «Russischen Hof» in Weimar eingeladen zu werden. Ich war sein einziger Gast. Er hatte für uns zwei ein Zimmer im Gasthofe ausgesucht, wo sonst niemand war. Ungestört verlief das Gespräch. Er sprach wie jemand, der sich bewußt ist, einen in sich gefestigten, den eigenen Wert in sich bergenden geistigen Inhalt in sich zu tragen, der auf jüngere Leute wirken soll. Eine bis in die geringsten Kieinigkeiten ge­hende vornehme Haltung der Seele war ihm eigen. Nichts von Pathos kam aus seinem Munde. Die Wirkung des Bedeuten­den, die alles machte, was er sagte, rührte von der Eigenart sei­ner Satzprägung her, die stärker im Gespräche sich geltend machte, als sie in seinen Schriften erscheint. Er hatte nichts Lehrhaftes; aber er wollte überzeugt sein können, daß seine ausgesprochenen Gedanken entsprechenden Widerhall bei dem Zuhörenden fanden. So erschien er mir, besonders wenn ich über das mit ihm genommene Mittagessen und einen Spa­ziergang nachdachte, den ich auch einmal mit ihm allein ma­chen durfte. Bei dem Mittagessen kam das Gespräch auf Ho­mer, auf Gervinus, auf die literarhistorische Methode, auf Grillparzer und auf vieles andere. Immer aber wieder wurde berührt, wie im Hintergrunde seines Denkens und Empfin­dens die «Geschichte der nationalen Phantasie» stehe. Im höchsten Grade seelenvoll war es, wie er auseinandersetzte, daß all sein Forschen darauf hinausliefe, eine solche zustande zu bringen. Es war schön, ihn so sprechen zu hören, und für mich war es viel zu früh, als er mit seiner Art des Humors, der zugleich den Ernst ausdrückte, mit dem er sich doch als Träger einer bedeutsamen Geistesströmung fühlte, sagte: «Jetzt, mein lieber Steiner, werde ich Sie in Gnaden entlassen.»

In dieser Charakteristik wollte ich andeuten, wie Werk und Persönlichkeit Herman Grimms in mir lebten, wenn ich seine Gedanken als solche anführte, die ein Streben nach der Geistes­welt innerhalb der neueren Geistesentwickelung darstellen. Es ist mit ihnen so wie mit denen des «Idealismus», den ich in

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dieser Wochenschrift zu kennzeichnen versuchte. - Nun war mir Herman Grimm bis vor kurzem eine Persönlichkeit, die mir wie noch lebend vorkam, wenn ich von seinen Gedanken sprach. Ich zitierte ihn so, wie ich es tat, in dern Bewußtsein:

man dürfe das tun, weil er ein «Zeitgenosse» ist. Jetzt aber fühle ich: man kann ihn so nicht mehr zitieren. Seine Gedanken srnd «Geschichte» geworden. Die letzten Jahre haben die Menschen viel erleben lassen. Man hat den Übergang von «Gegenwart» zu «Geschichte» gründlicher erlebt, als dies manchem andern Zeitalter zugeteilt war.

Ich möchte über diesen Übergang in einem weiteren Artikel sprechen.

WIE SICH HEUTE «GEGENWART» SCHNELL IN «GESCHICHTE» WANDELT

Im vorigen Aufsatz habe ich mit Hinweis auf Herman Grimms Gedanken darauf aufmerksam gemacht, wie heute die Men­schen intensiver den Übergang von unmittelbar erlebter «Ge­genwart» zur «Geschichte» durchmachen, als in manchem anderen Zeitalter. Besonders stark kann das auffallen, wenn man auf die Schilderung sieht, die Herman Grimm in seinen Goethevorlesungen von Goethes Eintritt in Rom gibt. Bei Betrachtung der Empfindungen, die in Goethes Seele aufle­ben, als dieser die «Hauptstadt der Welt» - nach dessen eige­nem Ausdruck - betritt, steht vor Herman Grimms Geist eine große weltgeschichtliche Perspektive. Er verfolgt den in­neren Geistesgang der Menschheit zurück, von der Gegen­wart in die Vergangenheit. Er findet, daß der Mensch der Ge­genwart mit vollem inneren Verständnis nur bis in die Zeit der römischen Entwickelung zurückreichen kann. Die römi­schen Tatmenschen, die römischen Denker und Künstler sind so noch zu verstehen. Denn ihre Lebensäußerungen gehen aus einer Seelenverfassung hervor, die trotz der Entwicklung, die durchgemacht worden ist, mit der gegenwärtigen eine innere Verwandtschaft hat. Geht man aber weiter zurück, so klafft

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ein Abgrund vor dem, was geschichtlich überliefert ist. Die griechischen Persönlichkeiten handeln aus Impulsen heraus, die den gegenwärtigen Seelen fremd sind. Erzählt man ihre Geschichte, so fühlt man sich eher in einer Märchen-Stim­mung; nicht in derjenigen, die das derb-wirkliche Leben aus­strömt, das mit dern Römertum beginnt, und in der die gegen­wärtigen Menschen noch atmen. Alkibiades oder Solon sind in ihrem geschichtlichen Elemente die reinen Märchenperso­nen gegenüber Cäsar oder Brutus, die ganz auf der Erde ste­hend empfunden werden.

Herman Grimm hat ein Buch über Homers Ilias geschrie­ben. Er wollte durch Stil und Haltung dieses ganzen Buches in ein Gebiet führen, in das man ohne Bedenken, den irdischen Boden verlassend, durch die Schwingen der Phantasie dringen darf. Denn im Erdenleben hat man, nach Herman Grimms Meinung, heute nicht mehr die Voraussetzungen, um in dies ferne, griechische Land zu kommen. Man würde ein größerer Phantast, wenn man mit heute «wirklich» genannten Vor­stellungen Achill oder Agamemnon erreichen wollte, als auf den Wegen der die Welt nachschaffenden Phantasie.

Herman Grimm hat Bücher über Michelangelo und Ra­phael geschrieben. Da versucht er mit den Vorstellungen, die sich der Mensch im Gegenwartsleben erobert, bis in die ge­schichtlichen Kreise zu dringen, in denen die Renaissance-Künstler leben. Sogar bis zu Giotto und Dante nimmt Her-man Grimm eine Orientierung, die an der Gegenwart gewon­nen ist. Ja, er geht so bis zu Augustinus zurück; und es wäre ihm natürlich gewesen, dies auch zu tun, wenn er noch von den Vorkommnissen der römischen Republik gesprochen hätte. - Vor der griechischen Geschichte macht er Halt. Da muß der Geistesboden verlassen werden, auf den das Römer­tum bis in die Gegenwart herein geführt hat; da muß in Mär­chenstimmung hinein gesegelt werden.

Mit solchen Empfindungen sieht Herman Grimm auf Goe­the hin, wie dieser in Rom eintritt. Er meint, Goethe habe Rom als die «Hauptstadt der Welt» empfunden, weil er an

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diesem Orte am intensivsten ausgeprägt fand, was das römi­sche Zeitalter der Menschheit gebracht hat. Dieses Zeitalter, vor dern das griechische Märchenalter lag, und nach dem das­jenlge liegen wird, in das die gegenwärtige Menschheit eben eintritt. - Herman Grimm deutet in seiner Art ganz kräftig dar-auf. wie er sich selbst im Antritte dieses neuen Zeitalters fühlt und wie er Goethes Vorempfindung desselben beurteilt. -Doch ist hier der Punkt, wo man ganz deutlich fühlt: so wie vor kurzer Zeit noch kann man jetzt nicht mehr Herman Grimms Gedanken in die Gegenwart hereintragen. Er meinte auf Goethes Empfindungen in Rom aufzutreffen, wenn er von seinen eigenen in den Goethe-Vorträgen so spricht: «Ich selbst habe noch einen allerletzten Schimmer der Abendröte erleben zu dürfen geglaubt, in welcher Goethe Rom erblick­te.» «Den Römern . . . fehlt das Märchenhafte völlig. Sie haben keine Spur mythischer Abstammung und sind verständlich vom ersten Augenblicke an als Politiker, Rechtsgelehrte, Sol­daten, Beamte, Kaufleute. Ihre Tugenden und ihre Laster lie­gen offen da und ohne poetischen Überglanz.» Dagegen stellt Herman Grimm seine Empfindung gegenüber den Griechen so dar: «Wenn uns Homer und Plato, selbst Aristoteles und Thukydides, oder Phidias und Pindar noch so verwandt er scheinen: ein kleiner Mond im Nagel erinnert an etwas wie Ichor, das Blut der Götter, von dern ein letzter Tropfen in die Adern der Griechen mit hineingeflossen war.»

Aber stärker als all dieses, das Herman Grimm so sagt, als ob damit auch Maßgebendes über Goethe gesagt wäre, dringt dessen eigenes Wort heute in die Seele. Goethe betrachtet die künstlerischen Werke, die ihm in Italien zugänglich sind. Durch sie hindurch vermeint er das Wesen der griechischen Kunst zu empfinden. Und er spricht darüber aus, daß er glaubt, dern Geheimnis dieser Kunst dadurch auf die Spur ge­kommen zu sein, indem er sehe, wie die Griechen bei Schöp­fung ihrer Kunstwerke nach denselben Gesetzen verfuhren, nach denen die Natur selbst verfährt, und denen er auf der Spur sein wollte. Da ist kein Drang in Goethe, sich von dem

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Niveau der römischen Erdenwirklichkeit in eine griechische Märchenwelt zu versetzen. Da ist vielmehr der ganz andere Trieb, durch die Anschauung der griechischen Kunstwerke sich zu einer höheren, wahren Wirklichkeit hindurchzuarbeiten, zu einer geistigen Wirklichkeit, von der auch die Märchen schaffende Phantasie erst eine Tochter ist.

Zu dieser Wirklichkeit wollte Herman Grimm doch nicht vordringen. Wo er fühlte, daß er nicht mehr Erdenwirklich­keit unter den Füßen habe, da wollte er ins Reich der schaf­fenden Phantasie entschweben.

Man fühlt: da darf man heute nicht mehr mitgehen. Man muß in die geistige Wirklichkeit mit Seelenkräften hinein­kommen, die so exakt sich erleben lassen wie diejenige, die ins Reich des Naturdaseins dringen. Goethes Gedanken darf man dabei anführen, wie wenn sie gegenwärtig gesprochen wären. Herman Grimm sprach auch über Goethe so, wie die Zeit sprechen durfte, die noch glaubte ohne wirkliche Geist-anschauung die Menschheit zur Anerkennung der bloßen Ideen vom Geiste zu bringen. Herman Grimm war einer von denen, welche diesen Traum am schönsten geträumt haben. Er wollte auskommen damit, zu sagen: «Alles Griechische, bis in die festesten historischen Zeiten hinein, behält für un­sere Blicke etwas Märchenhaftes . . . Alkibiades ist der reine Märchenfürst, mit Cäsar verglichen.» So zu sprechen, ist heute nicht mehr erlaubt. Die Erdenwirklichkeit ist gewisser­maßen so rauh geworden, daß durch sie ein Geistiges, das wir nur im Märchenhaften anschauen, sogleich vor unseren Blik­ken aufgezehrt wird. Man muß heute das Wesen des Men­schen in einer solchen Tiefe erkennen, daß Alkibiades nicht als «Märchenfürst» erscheint, sondern so wirklich wie Cäsar, wenn auch von einer andern Wirklichkeit.

Ich möchte in einem nächsten Aufsatz den Gedanken aus­führen, daß Persönlichkeiten wie Herman Grimm der mensch­lichen Betrachtung gerade dadurch lebendig bleiben, daß man sie aus dem Lichte der «Gegenwart» im rechten Augen­blicke in das der «Geschichte» rückt.

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DER NOTWENDIGE WANDEL IM GEISTESLEBEN DER GEGENWART

Für die Art, wie charakteristische Kräfte im Geistesleben der letzten Zeit, die so schnell «Gegenwart» in «Geschichte» wandelt, auf eine idealistisch gestimmte Seele wirkten, ist manches bei Herman Grimm ich möchte fast sagen - erschrecklich bezeichnend. Ich habe bei meiner Herman Grimm-Lektüre viele solche «erschreckliche» Augenblicke erfahren. Ich möchte weniges davon kennzeichnen.

In dem Essay-Band: «Aus den letzten fünf Jahren» (Gü­tersloh 1890) hat Herman Grimm den Vortrag abdrucken las­sen, den er am 2. Mai 1886 bei der ersten ordentlichen Gene­ralversammlung der Goethe-Gesellschaft in Weimar gehalten hat. Der Titel ist «Goethe im Dienste unserer Zeit». Man ver­folgt zunächst jeden Satz mit tiefem Anteil. Geistvoll tritt her­vor, wie Goethes Zeitgenossen wenig von dem gewußt haben, was die an Goethe gebildeten Menschen 1886 über ihn wis­sen. Aber die Empfindungswandlung wird ebenso vor die Seele gestellt, die damit gegeben ist, daß für die Zeitgenos­sen eben Goethe ein Lebender war, für die Späteren ist er es nicht. Da finden sich die Sätze: «Man brauchte Goethe nle begegnet zu sein, oder mehr von ihm gelesen zu haben, als in seinen vornehmsten Werken enthalten war: das bloße Wissen, daß er lebe, erfüllte mit der Kenntnis seines Wertes und mit dem Gefühle persönlichen Zusammenhanges. . . . Ich habe mich gefragt, ob das, was heute an Stelle dieses Gefühis bei uns ge­treten sei, dem entspreche, was es sein könne. Mir scheint, als sei trotz der Massen von Material, die uns über Goethes äußere und innere Erlebnisse zu Gebote stehen, unser Gefühl geistiger Verbindung mit ihm weniger wirksam, als es sein müßte.»

Und von solchen Gedanken geht Herman Grimm zu einer Besprechung von Goethes Verhältnis zu Winckelmann über. Dieser hat sich in der Zeit, welche die vorgoethesche genannt werden kann, aus engen geistigen Verhältnissen zu einer gro­ßen, reinen Kunstbegeisterung durchgerungen, die ihn nach

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Italien getrieben hat. Er hat zuletzt einen tragischen Tod ge­funden, indem er ermordet worden ist. Nun hat Winckel-mann in seinen Schriften die alte Kunst vor dem Verständ­nisse der Menschen geradezu wieder auferweckt. Goethe hat nun für sich diese Auferweckung in Italien in der eigenen Seele erlebt. Was ihm Winckelmann vorempfunden hat, das erlebte er auf seine Art nach. Dadurch ist er dazu gekommen, in seinem Buche «Winckelmann und sein Jahrhundert» die­sem nicht bloß ein literarisches Denkmal zu setzen, sondern seine Gestalt, seine ganze geistige Tätigkeit lebendig, aus der eigenen Seele herausgebildet, zu schaffen. Herman Grimm hat die Vorstellung: der von Goethe geschaffene Winckelmann ist es, der nun in der Geistesentwickelung weiterlebt, Ohne Goethe hätte die Welt die Erinnerung an den sterblichen Winckelmann gehabt; durch Goethe ist Winckelmann neu er­standen, und zwar so, daß der von Goethe erweckte die irdi­sche Unsterblichkeit hat. Nun meint Herman Grimm: so müßten es die machen, welche die rechte Verbindung mit Goethe suchen diesem gegenüber. «Goethe stellt ihn (Winckel­mann) als Lebenden, als aktives Element in den Dienst der Gegenwart von 1805, und es ist Goethes Werk, wenn Winckel-mann auch heute noch lebendig und Leben verleihend unter uns steht. - Dies ist es, was mit Goethe selbst in umfangrei­cherem Maße jetzt geschehen muß, wenn wir aus ihm ziehen sollen, was er für uns enthält.»

Das alles und das weitere des Herman Grimmschen Vor­trages liest man mit zunehmender Spannung. Man gibt sich den Gedanken einer Persönlichkeit hin, die in ihrer Seele geistdurchtränkt die Frage erlebt: was soll geschehen, damit die Menschen der Gegenwart in der Fortentwickelung der Menschheit den rechten Weg gehen. Man liest, indem man den seelischen Herzschlag des Schreibenden miterlebt. Man fühlt sich in der Atmosphäre eines freudig dem Geiste zustre­benden Seelenlebens.

Da kommt man auf Seite 7; und man ist aus der ganzen Stimmung plötzlich wie herausgerissen. Da schreibt Herman

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Grimm: «Niemand, soviel ich weiß, glaubt heute an Goethes Farbenlehre: für uns heute liegt der Inhalt dieses Buches in Goethes Darlegungen, wie die Meinungen über das Verhält­nls des menschlichen Auges zu den farbigen Erscheinungen mit der ganzen Lebensauffassung und Gesinnung derer in Zu­sammenhang stehen, die sie aufstellten. Nehmen wir Goethes Kampf gegen Newton. Wie Goethe hier mit der Geschichte der Naturforschung in England beginnt. Wie er die Stellung, die Newton innerhalb ihrer einnahm, zu bestimmen sucht. Wie er das, was er Newtons Irrtum nennt, als eine notwendige Folge dieser äußeren Verhältnisse in Verbindung mit seinem persönlichen Charakter erfaßt! Die Leistung als historische Arbeit ist so genial, daß sie die Frage, ob Goethe hier nicht irrte, zur Nebensache werden läßt.» -

Auf festem Boden steht man, bevor man im Verfolgen des Vortrages an diese Stelle herankommt. Aber da beginnt der Boden zu schwanken. Man fragt sich: darf für jemand zur Ne­bensache werden, was er zur Grundlage des Urteiles machen muß, daß Goethe eine geniale historische Arbeit geleistet hat. Man kann feststellen, daß es in der Farbenlehre zwei Stand­punkte gibt: den Goetheschen und den Newtonschen, und kann unentschieden lassen, welchen man für berechtigt hält. Wenn man dann behauptet: Goethe habe auf dem seinigen eine geniale Leistung vollbracht, dann ist die Sache ganz be­greiflich. Aber ist es auch irgendwie begreiflich, wenn je­mand sagt: es ist mir gleichgültig, ob Goethes Standpunkt eIn irrtümlicher ist, ich muß sogar sagen: alle maßgebenden Menschen halten ihn für einen solchen; aber Goethe hat den Irrtum genial vertreten? Man kann das nur dann sagen, wenn man damit nicht, wie Herman Grimm es macht, aufhört, über die Sache zu sprechen, sondern nun erst beginnt, zu kennzeichnen, wie ein genialischer Irrtum bei Goethe mög­lich war. - Und wie findet man mit einer solchen «Gleichgül­tigkeit» gegenüber einer Genieleistung Goethes mit diesem die Verbindung, «wie sie sein müßte», da doch Goethe in al-tem Ernste gesagt hat: er habe im Poetischen manches geleistet,

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doch das schätze er nicht so stark wie die Tatsache, daß er auf gewissen Gebieten der Naturerkenntnis unter seinen Zeitgenossen allein das Rechte wisse?

Für jemand, der Herman Grimm so verehrt wie ich, ersteht da die Frage: Ist es dieser hervorragenden Persönlichkeit hier nicht so ergangen, daß sie sich innerhalb des Geisteslebens ihrer Zeit die Geistigkeit, zu der sie hinstrebte, nur unter einer bestimmten Voraussetzung - wie eine Illusion - vor das Seelen-auge stellen konnte? Diese Voraussetzung war die, daß sich Herman Grimm nicht kümmerte um diejenigen Elemente im Geistesleben seiner Zeit, die, wenn er sie im vollen Ernste ge­nommen hätte, von ihm hätten zurückgewiesen werden müs­sen, sofern er seinen eigenen Standpunkt hätte aufrecht erhal­ten wollen. Er hat sie nicht zurückgewiesen. Er wollte in Ru­he mit ihnen leben. Dadurch aber war er genötigt, mit seinen eigenen Meinungen wie auf einer Insel zu leben, auf der er idealische Bauten aufführte, während rings herum die verhee­renden Wogen der mechanistisch-«positivistischen» Weltan­schauungen brausten. - Und fällt heute der Blick auf die «In­sel der Idealität» Herman Grimms, in ihrer oft bezaubernden Schönheit, so verschwindet sie sogleich für diesen Blick. Das «mechanistisch-positivistische» Meer verschlingt sie. So ist es mit den Geisteswegen, die einzelne auserlesene Persönlich­keiten in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gingen. Ihre Geistigkeit war selbst dann abstrakt, wenn sie so seelenvoll und gemütinnig auftrat wie bei Herman Grimm. Die darauf folgende Zeit fordert das Verhältnis des Menschen zum «Geistigen in seiner Wirklichkeit».

Ein weiteres Verfolgen dessen, was den Bewunderer Her-man Grimms «erschrecken» kann, wenn er an einzelne Stel­len seiner Schriften kommt, und was den Wandel der Geistes-forderungen in der heutigen Zeit offenbart, soll in einem nächsten Artikel sich finden.

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DER GEIST VON GESTERN UND DER GEIST VON HEUTE*

In den Jahren 1890 bis 1897 lebte ich in Weimar. Ich hatte am Goethe- und Schiller-Archiv zu arbeiten. Herman Grimm kam wiederholt zu kurzen Besuchen dahin. Für mich waren diese Tage besondere Festtage. Ich hatte das Gefühl: wenn Herman Grimm in Weimar ist, versteht man das «Weimar der Goethe-Zeit» besser als sonst. Er brachte einen Teil von Goethes Seele lebendig mit. Mir wurde das kleinste Detail dieser Besuche von Bedeutung. Heute steht noch lebendig vor mir, wie Herman Grimm einmal im Archiv über Goethes Iphigenie sprach. Und so vieles andere. Immer war, abgese­hen von dem Inhalt seines Redens, die Art fesselnd, in der er sprach. Man konnte die Empfindung haben, dahinter liegen geistige Zusammenhänge, die er erlebt hat, und aus denen heraus seine Worte kamen.

1894 trat mir aber seine Gestalt in seiner Abwesenheit im Archiv ganz eigentümlich vor die Seele. Es war eben das Vor­wort zu der fünften Auflage seines Goethebuches erschienen. Herman Grimm hatte darin auseinandergesetzt, wie er wäh­rend der Arbeit an diesen Vorträgen und auch nachher in freundschaftlichem Verkehr stand mit Persönlichkeiten, deren Interesse ganz besonders Goethe zugewandt war. Es waren der Literarhistoriker Julian Schmidt, der das geistreiche Buch über die Geschichte des neueren deutschen Geistesleben ge­schrieben hat, Gustav von Loeper, der verdienstvolle Heraus­geber von Goethes Werken, und Wilhelm Scherer, der Pro­fessor der deutschen Literaturgeschichte an der Berliner Uni­versität. Mit den beiden ersten fühlte sich Herman Grimm ganz im Einklang, obwohl er und jeder der beiden andern in bezug auf Goethe voneinander abweichende Betrachtungs­wege gingen. Anders war es hei Scherer. Er hielt im Äußeren mit ihm Freundschaft. Nach Scherers früh erfolgtem Tode

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* Dieser Aufsstz schließt sich mit den drei vorigen Zu einem Ganzen zusam­men.

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schrieb er in diesem Vorwort, nachdem er versichert hatte, wie gut er mit Julian Schmidt und Loeper ausgekommen war:

«Viel später erst trat Wilhelm Scherer, aus Straßburg berufen, dauernd in Berlin ein. Um Jahrzehnte jünger als wir drei Norddeutschen. Aus Wien kommend. Durch seine Stellung als amtlich berufener Professor der Deutschen Literatur auch für das, was speziell Goethe anging, uns gleichsam vorgesetzt. Ein jugendlicher, aggressiver, rücksichtsloser Geist, der, was uns Dreien am meisten fehlte, mit den Lehren der Lachmann­Hauptischen Schule vertraut, die sogenannte dieser Schule nicht nur mit Leichtigkeit an-wandte, sondern auch sie energisch zu vertreten willens war. Wir drei Älteren gingen aus von Goethes Persönlichkeit, Scherer von den Manuskripten und Lesarten seiner Werke. Scherer verlangte vor allen Dingen einen . , lautete seine Lehre, Diese Edierung zu bewirken, gab es Mittel, die er genau kannte. Uns drei Anderen waren sie gleichgültig.»

Diese Charakteristik Wilhelm Scherers stand eines Tages unmittelbar nach dern Erscheinen des Vorwortes in Diskus­sion bei mehreren damals zum Besuche im Archiv anwesen­den Persönlichkeiten, die zumeist unbedingte Verehrer des gekennzeichneten Literarhistorikers waren. Auch Erich Schmidt, der gefeiertste Schüler Scherers und dessen Nach­folger im Berliner Lehramt war dabei. Es war eine recht auf­regende Szene. Man war ungeheuer verärgert. «Jeder Text ist verderbt: es gilt, ihn so zu edieren, daß auf ihm sicher gefußt werden kann.» Das sollte Scherers Lehre sein. Man empfand das wie einen Unsinn und bezeichnete es als solchen. - Nun, inhaltlich war ja auch wirklich kaum etwas einzuwenden gegen das, was Erich Schmidt und die andern sagten. Sie hatten -nicht nur von ihrem Standpunkte aus - recht.

Mir war die Stunde schmerzlich. Vor mir stand im Geiste die Gestalt Herman Grimms, des glänzenden, geistvollen Kunsthlstorikers, des Prägers von lichtvollen Ideen, die ich so

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liebte. Er hatte hier etwas geschrieben, wovon mit Recht ge­sagt wurde, es sei ärgerlicher Unsinn.

Aber was lag denn eigentlich vor? Da war eine Richtung in der Literaturgeschichte ausgebildet, die die dichterischen Schöpfungen in ihrem geschichtlichen Zusammenhange so betrachtete, daß dabei die damals so erfolgreich ausgebildete «positivistisch-naturwissenschaftliche» Methode zur Anwen­dung kam. Ein Höchstes in menschlicher Geistesentfaltung sollte so erforscht werden, wie man gewohnt geworden war, in der Naturwissenschaft vorzugehen. Wilhelm Scherer war der energischste Repräsentant dieser Forschung. Die Natur­wissenschaft war auf dern Wege, in ihren Aussagen das Gei­stige ganz zu verlieren; nun sollte die Betrachtung des Men­schengeistes ihrem Ideal folgen. Die literaturgeschichtlichen Forschungen konnten zum Inhalt nur noch Tatsachen haben, die in ganz äußerlichem Zusammenhange mit dern wahren Werden des Menschengeistes stehen. - Das war ein Weg, der Herman Grimm nur ganz unheimlich sein konnte. Er wollte das Werden des Geistes verfolgen, wenn auch nur in einer dern abstrakten Idealismus verwandten Art. Aber diese Art war, wie der ganze abstrakte Idealismus, nicht imstande, gegen den Ansturm der ungeistigen naturwissenschaftlichen Methoden aufzukommen. Das kam in Herman Grimrns persönlichem Verhalten zum Ausdrucke. Er fand keine wirksamen Gedan­ken, um seine instinktive Abneigung gegen Scherers Methode auszusprechen. Er hatte nur das Gefühl von etwas Schlimmem. Und so kennzeichnete er Scherers «Lehre», indem er etwas Absurdes aussprach. Wie wenn er hätte sagen wollen: was da eigentlich zugrunde liegt, weiß ich nicht; aber es kommt mir so absurd vor, wie wenn man durch allerlei kritische Metho­den die Dichtertexte erst machen müßte.

Damit aber ist die Stellung der Geistesforscher von der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gegenüber ei­ner geistverleugnenden Wissenschaft gegeben. Diese Geistes-forscher hatten nicht den lebendigen Geist, sondern nur des­sen ideellen Gedankenschatten. Mit diesem fanden sie noch

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die Möglichkeit, über Kunst, Geschichte und so weiter zu sprechen, aber sie konnten sich kein durchgreifendes Urteil bilden über den Wert der geltenden Wissenschaft. Ein Ver­treter dieser «geltenden Wissenschaft» sagte mir einmal:

Herman Grimm ist kein ernster wissenschaftlicher Arbeiter, sondern ein geistiger Spaziergänger.

Nur eine Geisteswissenschaft, die nach dern lebendigen Geiste strebt, kann in der Naturerforschung wieder den Geist finden und ihn dann aber auch der Kunst-, der Geschichtsbe­trachtung und so weiter zurückgeben.

Herman Grimm stand mit der bei ihm leuchtenden, schö­nen Schattenform der Gedanken wie ratlos gebannt zwischen einer geistgemäßen und einer geistverleugnenden Weltbe­trachtung.

In dern Kapitel seines Göethe-Buches, in dem Herman Grimm Goethes Verhältnis zur Naturerkenntnis behandelt, findet sich die Offenbarung dieser Ratlosigkeit. Da sagt er:

«Die mosaische Schöpfungsgeschichte gipfelt im Menschen, welcher als Inhaber der Nutznießung alles Vorhergeschaffe­nen eintritt ... und das Christentum erhebt den Menschen in solchem Sinne zum Zweck der Schöpfung, daß ohne ihn die Welt inhaltslos wäre. - Gegen diese Anschauung empörten sich die Naturwissenschaften. Die Astronomie eröffnete den Kampf. indem sie die Erde, die für den Mittelpunkt des Weltsystems galt, als ein nur untergeordnetes Gestirn erkann­te, dessen herrschende Bewohner damit zugleich degradiert wurden ...» Herman Grimm bringt es nur zu einer Art ästhe­tischer Entrüstung gegenüber der naturwissenschaftlichen Denkart. Von der Kant-Laplaceschen Hypothese sagt er:

«Aus dem in sich rotierenden Weltnebel - die Kinder bringen es bereits aus der Schule mit - formt sich der zentrale Gas-tropfen, aus dem hernach die Erde wird, und macht, als er-starrende Kugel, in unfaßbaren Zeiträumen alle Phasen, die Episode der Bewohnung durch das Menschengeschlecht mit inbegriffen, durch, um endlich als ausgebrannte Schlacke in die Sonne zurückzu stürzen: ein langer, aber dem heutigen

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Publikum völlig begreiflicher Prozeß, für dessen Zustande­kommen es nun weiter keines äußeren Eingreifens mehr be­dürfe, als die Bemühung irgend einer außenstehenden Kraft, die Sonne in gleicher Heiztemperatur zu erhalten. - Es kann keine fruchtlosere Perspektive für die Zukunft gedacht wer­den, als die, welche uns in dieser Erwartung als wissenschaft­lich notwendig heute aufgedrängt werden soll. Ein Aaskno­chen, um den ein hungriger Hund einen Umweg machte, wäre ein erfrischendes appetitliches Stück im Vergleiche zu diesem letzten Schöpfungsexkrement, als welches unsere Erde schließlich der Sonne wieder anheimfiele . ..»

Noch vor kurzem hatte man ein Recht auf die Meinung, die Betrachtung der Natur werde einen Anstoß nach dem Gei­stigen durch die Fortbildung einer solchen Denkart wie die Herman Grimmsche erhalten können. Heute zeigt sich, daß die Kraft dieser Denkart nirgends mehr lebendig ist. Und Herman Grimm würde, wenn er jetzt noch lebte, wohl selbst einsehen müssen, daß nicht nur Naturwissenschaft bis zur Anschauung des Geistigen fortgeführt, sondern daß auch alle historischen Betrachtungen von den gedanklichen Geistes­schatten bis zu den lebendig-waltenden Geisteswesenheiten verfolgt werden müssen.

DAS UNZULÄNGLICHE EINES GEIST-SUCHERS

Die Ausführungen, die ich durch eine Reihe von Aufsätzen in Anknüpfung an Herman Grimms und Anderer Werke ge­macht habe, verfolgten das Ziel, zu zeigen, wie das von Vie­len im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts aufge­nommene und bis in die Gegenwart fortgesetzte Suchen nach einem geistigen Inhalt der Weltanschauung zu einem toten Punkt geführt hat.

Noch mehr als Andere ist für dieses Suchen kennzeichnend Wilhelm Jordan, der Dichter des «Demiurgos» und der «Ni­belungen». - Die ganze Haltung seiner Dichtung ist davon bestimmt, daß seine seelische Entwickelung in die Zeit fiel, in der die Naturwissenschaft sich anschickte, maßgebende Autorität für die Bildung einer Weltauffassung zu werden.

Mit herzhafter Gemütskraft ergriff Wilhelm Jordan, was Astronomie über die Entstehung des Sonnensystems, was Geologie über den Werdegang der Erde, was Chemie über das Wesen der stofflichen Welt sagen wollten. In den fünfziger und sechziger Jahren gab er der Welt seine groß angelegten Dichtungen. In ihnen wirkte wie der die Seele tragende Strom das naturwissenschaftliche Denken seiner Zeit. Dichterkraft wollte Wilhelm Jordan als Blüte in der Seele entwickeln, die auf ihrem Grunde das Bekenntnis zur Naturwissen schaft hatte.

Aber er wollte noch mehr. Er wollte religiöse Frommig­keit als Frucht aus dieser Blüte heraus entfalten. Er war so stark in den Geist der Naturwissenschaft eingedrungen, daß er wußte, diese kann nicht von sich aus zum Religiösen füh­ren. Der Mensch muß das Religiöse trotz der voll anerkann­ten Naturwissenschaft finden. In der Menschenseele muß mehr leben als die Kraft, eine Naturwissenschaft zu entfalten. Diese bildet die Blätter der Pflanze. In den Blättern sind die Blüte und die Frucht noch nicht sichtbar. Aber die Kraft zu ihrer Entstehung steckt schon in den Blättern.

Mit einem solchen Bewußtsein schrieb Wilhelm Jordan seine «Andachten». Es sind die «Andachten »eines Gottsuchers, der

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auf dem Boden der Naturwissenschaft steht; aber eines solchen, der das geistige Weltenwesen nicht aus der Natur-Erkenntnis herausdestillieren wollte, sondern der es durch eine besondere Seelenkraft unabhängig von der Natur-Erkenntnis suchte. Aber der es so suchte, daß er im Erkenntnisbesitze doch noch Bekenner der Naturwissenschaft bleiben konnte.

Kein Wunder, daß es Wilhelm Jordan weder den Stürmern von der Art der Straußanhänger Recht machte, die aus der Naturwissenschaft selbst eine Religion machen wollten; noch auch den Bekennern der alten Traditionen, die nicht zugeben wollten, daß die Naturwissenschaft einen neuen Weg zum Geistigen fordere.

So erhoben sich gegen die «Andachten» die Bedenken von links und rechts.

Ihnen stellte nun Wilhelm Jordan sein Buch «Die Erfül­lung des Christentums» entgegen. Es erschien 1879, in der Zeit, als die Wogen desjenigen Glaubens anfingen besonders hoch zu gehen, der annahm, eine giltige Weltanschauung dürfe nur aus der Naturwissenschaft gewonnen werden.

Im «Präludium» zu dieser Schrift spricht Wilhelm Jordan fast wie Einer, der trunken ist von den Enthüllungen der Na­tur-Erkenntnis:

Dein Isisschleier ist gefallen,

Natur! Wir sehn dich Sterne ballen

Aus milchig blassem Weltendunst.

Noch fragen wir: wie keimt das Leben?

Doch ist erlauscht dein Weiterweben,

Das Rätsel deiner Meisterkunst.

Nun grinst den stolzen Welterrater

Ein Baumtier an als Ältervater,

Als dessen Ahn ein armer Wurm,

Als Urahn endlich eine Zelle,

Geknospt, als unter warmer Welle

Sich barg der Chaosglutensturm.

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Ist wahr der Priesterspruch geworden:

«Der wird sein Lebensglück ermorden

Wer dieser Göttin Bild entschürzt?»

Ist nach hinweggezognem Schleier

Der ungestüme Wahrheitsfreier

Gelähmt, verzweifelt hingestürzt?

Wilhelm Jordan antwoflet mit einem kräftigen: Nein. Aber er will auch nicht einstimmen in das Denken derer, die mit den alten Philosophenmitteln in das Natur-Erkennen den Weltenschmerz hineininterpretieren. Er wendet sich gegen Schopenhauer, der in der Zeit, als Jordan wirkte, gerade das Ohr der Menschen gefunden hatte, und gegen dessen «Nach­folger» Eduard v. Hartmann. Ihnen war, wohl nach Jordans Empfindung, die «Natur», die so lange als vom Geiste abge­fallen gedacht worden ist, zu einem Wesen geworden, in dem man, nachdem der «Isisschleier gefallen war», nur eine den Menschen quälende Isis schauen konnte.

Der afterweise Hohn und Jammer

Der sinnverbohrten Weltverdammer

Beherrscht den Markt als Lieblingskost.

Die Jugend saugt aus Schopenhauer

Ins welkgeschulte Hirn die Trauer,

Ins laue Herz den Freudenfrost.

Der Schüler greift zum Pulvertode,

Der heut beliebten Kurmethode

Zu schnell verbrauchten Rückenmarks.

In bitterm Ernste gar zu meinen

Scheint Herr von Hartmann das Verneinen

Des Lebens- und des Weltenquarks.

Wie will nun Wilhelm Jordan zu einem geistigen Weltan­schauungs-Inhalt kommen? Er wendet sich an die selbst-schöpferische Kraft der Menschenseele. Als Dichter lebte er in dieser selbstschöpferischen Kraft. Und er fühlte in seiner Dichterkraft etwas von derjenigen Seherfähigkeit, die in al­ten

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Zeiten die Mythen über Weltenwerden und geistige Menschheitsführung geschaffen hat. In die Erkenntnisse der Natur darf diese Kraft nicht hineinreden. Aber über das Reich der Natur hinaus darf sie in Bildern das in der Men­schenentwickelung wirkende geistige Wesen zum Ausdruck bringen. Sie darf die Fortsetzerin dessen werden, was in der vornaturwissenschaftlichen Zeit an Bildern in dieser Richtung erzeugt worden ist. Jordan sagt darüber (in «Erfüllung des Christentums» Seite 213):« So bin ich in die Lage gekommen, mit der gegenwärtigen Summe der wissenschaftlichen Welt-erkenntnis die poetische, mythische, religiöse, theologische Weltanschauung in ihrem ganzen geschichtlichen Verlauf zu vergleichen. Das Ergebnis war, daß beide einander keines­wegs so feindlich und unversöhnbar gegenüberstehen, als es von Zeloten auf beiden Seiten behauptet und desto unduld­samer verfochten wird, je größer ihre Unwissenheit in Be­treff des Gegenreichs und je beschränkter selbst der Gesichts­kreis ist, welchen sie in ihrem eignen Reich überblicken. Viel­mehr verhalten sie sich zu einander wie Suchen zum Finden, wieVermuten und Ahnen zum Erkennen undWissen,wieWün­schen und Hoffen zum Erlangen, Besitzen und Können, und sind und bleiben einander deshalb immerdar unentbehrlich.»

Wilhelm Jordan sieht nicht, daß die einstmals Mythen schaffende Kraft der Menschenseele für die Zeit, in welcher der Mythen-Inhalt überzeugend wirkte, auch Bilder über das Natur-Geschehen formte, die den Mythen über das Geistige gleichgeartet waren. Indem aber die Natur-Anschauung ihre neuzeitliche Form angenommen hat, bedarf sie zur Ergän­zung nicht nur einer Fortsetzung der alten Seelenkraft, son­dern einer solchen, die den Geist in der Menschenseele eben­so an den Geist in der Welt heranbringt, wie das naturwissen­schaftliche Denken in Messen, Wägen und Zählen an die Na­turdinge und das Naturgeschehen herankommt.

Jordan findet (Erfüllung des Christentums Seite 168): «Un­sere Kosmologie, sowohl die himmlische, das heißt astrono­mische, als die irdische, also geologische, so lange sie sich

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streng beschränkt auf ihr eignes Gebiet und auf ihre eigenen Wissensmittel, so lange sie mithin nicht Kunde vorwegnimmt aus einem anderen Wissensreich, welches erst mit der Geschichte des Menschen anhebt, und diese Kunde wie taschenspielernd in das ihrige erst hineinlegt, um dann zu tun, als ob sie da zu finden sei - diese unsere Kosmologie muß ehrlich bekennen, von sich aus von Gott nichts zu wissen, noch, aller Wahr­scheinlichkeit nach, jemals wissen zu können.» -Der Naturwissenschafter weiß, daß er im physischen Be­reiche an die Wirklichkeit herantritt. Der Mensch, der in die­ser Beziehung mit dem Naturwissenschafter mitgeht, kann gar nichts anderes als den Durchbruch nach der geistigen Welt von der Seele aus anzustreben. Wilbelm Jordan will die selbstschöpferischen Kräfte der Seele entfalten, aber nicht so weit, daß er mit ihnen bis zum wirklichen objektiven Gei­ste vordringt. So verfällt er demselben Schicksal wie die in diesen Aufsätzen charakterisierten Persönlichkeiten: Carriere, Herman Grimm. Er läßt in sich die geistige Kraft der Seele walten, so daß sie über die Sinnesanschauung hinaus Ideen produziert; aber er kann in diese Ideen nicht den objektiven Geist hereinbringen, wie man in der Sinnesanschauung das objektiv Physische zum Inhalte der Ideen macht.

Also auch ein so stürmisch vorgehender Geist wie Wil­helm Jordan kommt auf dem Gebiete der geistigen Welter-kenntnis nicht bis zum Erschaffen des wirklichen Geistigen. So ist auch er bei dem toten Punkte angelangt, nach dem sich in der neueren Zeit so Viele bewegt haben, die über das Ma­terielie hinaus nach dem Geiste strebten, die zuletzt aber nichts hatten als die in der Seele selbst produzierten Ideen, die ohnmächtig waren, objektiv Geistiges aufzunehmen.

Auch Wilhelm Jordans Streben nach dem Geistigen ist zu schwach gewesen, um nicht von der Naturwissenschaft über­wältigt zu werden. Die Gegenwart und nächste Zukunft braucht eine Geisteswissenschaft, die den Schritt über das alte Erkennen hinaus ebenso macht, wie ihn die Naturwissen­schaft gemacht hat.

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WIE DIE GESCHICHTE DER DICHTUNG DEN GEIST VERLOREN HAT

Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ließ der Literaturhistoriker und Geschichtschreiber Gervinus eine Geschichte der deutschen Dichtung erscheinen. Sie bot etwas Überra­schendes. Das Werden der deutschen Dichtung ist mit ein­dringlicher Beherrschung des Geistesganges geschildert. Die Fülle des Stoffes ist einleuchtend gegliedert; die einzelnen dichterischen Erscheinungen mit einem gewissen Verständ­nis individualisiert.

Doch es ist alles so dargestellt, als ob die Kräfte, die in die­ser Dichtung wirkten, mit Goethes Tode mitgestorben wä­ren. Als ob mit Goethe alles ausgeschöpft wäre, was in dem Quell, in dem die deutsche Dichtung iliren Ursprung hatte, enthalten war.

Gervinus ließ seine Überzeugung durchleuchten, daß die nach Goethe auftretenden Dichter nicht mehr die volle Be­rechtigung hätten wie die vorangehenden, den Sinn aus der praktischen Wirklichkeit hinweg in die Regionen zu wenden, aus denen die dichterische Inspiration kommt. Die Folgezeit sollte nicht den Schöpfungen der Phantasie, sondern dem praktischen Leben gehören. Die Dichtung muß, wie durch ein Naturgesetz, an ein bloßes Epigonentum übergehen.

Was Gervinus ausgesprochen hatte, wirkte stark. Mein lieber Lehrer und Freund Karl Julius Schröer, der ein begei­sterter Anhänger von Gervinus war, ließ 1 875 eine Geschichte der «Deutschen Dichtung im 19. Jahrhundert» erscheinen. Er fühlte sich förmlich gedrängt, das Buch mit einer Entschul­digung vor Gervinus zu beginnen. Wie wenn es sündhaft ge­wesen wäre, über die auf Goethe folgenden Dichter zu schrei­ben, leitet er seine Betrachtungen in der folgenden Art ein: «Gervinus schloß bedeutsam seine Geschichte der deut­schen Dichtung mit Goethe ab.

Was damals vielleicht überraschte, ja selbst Widerspruch fand, wird heute niemand mehr bestreiten wollen.

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Mit Goethe ist für lange Zeit ein Blütenalter der Dichtung abgeschlossen.

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Wenn ich nun in Vorliegendem einen Überblick der Ent­wickelung der deutschen Dichtung vom Anfang unseres Jahrhunderts bis 1870, also weit über jenen Abschluß hinaus geben möchte, so fällt mir doch nicht bei, mich damit von jenen Anschauungen zu trennen oder ihnen gar entgegenzu­streben.»

Was brachte Gervinus dazu, an ein solches Absterben der dichterischen Kräfte zu glauben?

Will man auf diese Frage eine Antwort finden, dann darf man den gewaltigen Umschwung im Geistesleben um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nicht aus dem Auge verlieren. Das war die Zeit, in der die Naturwissenschaft sich für allein fähig erklärte, zu entscheiden, was als «wahre» Weltansicht zu gelten habe. Das Eigenstreben der menschli­chen Seele, die in innerer Kraft zum Erleben einer geistigen Welt hinauf wollte, ward mit Mißtrauen betrachtet. Auf Grund dieses Eigenstrebens waren von Fichte, Schelling und Hegel die großen idealistischen Weltanschauungen geschaf­fen worden. Solches Schaffen wurde nun als Irrereden emp­funden.

Aber dieser Idealismus war nur der philosophische Schat­ten jenes Lichtes, aus dem heraus Goethe mit der Kunst nicht eine Willkürschöpfung der menschlichen Seele, sondern eine andere Offenbarung dessen erreichen wollte, was auch die Ideenerkenntnis darbietet. - Aus diesem Lichte heraus hatte er Gedanken wie diesen gesprochen: die Kunst ist eine Mani­festation geheimer Naturgesetze, die ohne sie niemals offen­bar würden.

Aus diesem Lichte heraus hat Goethe gegenüber der grie­chischen Kunst empfunden, als er von ihr sagte: da ist Not­wendigkeit, da ist Gott. Er hatte erst, mit Herder zusammen, diese «Notwendigkeit» bei Spinoza in der Ideenentwicklung gesucht; erfand sie, die er als Wahrheit erstrebte, in der Kunst.

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Dieses Licht hatte sich verfinstert für diejenigen, welche sich sicher als auf einem Wahrheitsboden nur mehr fühlten, wenn sie den Weg gingen, der von der Naturwissenschaft in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gewandelt wurde. - Da ward eine Meinung von der Wahrheit entwik­kelt, nach der hinzustreben die Dichtung kein Verlangen tra­gen konnte. Man braucht wahrlich nicht eine geringere Mei­nung von der äußerlich realen Bedeutung der Naturwissen­schaft zu haben als diejenigen, die aus ihr eine Gesamtwelt­anschauung machen, wenn man das Charakterisierte zugibt.

Solche Persönlichkeiten wie Gervinus wurden zu ihren Anschauungen gedrängt durch die mannigfaltigen Impulse, die von der Souveränerklärung der Naturwissenschaften in das Unterbewußtsein der Menschen hineindrangen. Gervinus sah die Begeisterungsströme versiegen, aus denen ein Dich­ter wie Goethe schöpfte, der seine Naturwissenschaft aus den­selben Geistquellen strömen ließ, aus denen ihm die Dichtung kam.

Wie mächtig die Impulse der sich unabhängig erklärenden Naturerkenntnis wirkten, offenbart sich an solchen Erschei­nungen. Gegenüber diesen Impulsen kam der Idealismus, der sich nicht zum wirklichen Geiste, sondern nur zu dessen Schattenbildern, den «Ideen» vorwagte, nicht aufl In Wil­helm Jordan, Herman Grimm, Moriz Carriere und andern suchte er sich durchzukämpfen. Es gelang ihm nicht. (Die vorigen Aufsätze zeigen das im Einzelnen.)

Gervinus sah eine Geistesströmung heraufkommen, wel­che die Dichtung von der begehrten Wahrheit abdrängte. Er fügte sich mit seinen Meinungen dieser Strömung. Die Einen sagten: es ist phantastischer Gedankenflug, wenn man von der Seele aus die Wahrheit erringen will. Der Idealismus jagt unwirklichen Schatten nach. Diese verloren wegen der Ver­kennung der Schattenbilder auch den rechten Eindruck des Lichtes. Und es war doch dasselbe Geisteslicht, das die Ideen-schatten geworfen hatte, in dem auch die Dichtung erwach­sen ist, die mit Goethe auf ihrer Höhe stand. Es sagten die

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Anbeter der «unabhängigen» Naturerkenntnis: mit diesem Lichte ist es nichts. Und es sagte Gervinus das Recht, sich von diesem Lichte erleuchten zu lassen, hat aufgehört. Goe­the durfte als der Letzte in ihm dichten; die Epigonen sollen sich zu einem andern Lichte wenden; die Dichtung, die in grauen Vorzeiten ihren Quell hatte und die in Goethe zum breiten Strome geworden ist, muß gegenüber andern Auf­gaben eine bescheidene Rolle spielen.

Für diejenigen Menschen, die anzuerkennen vermögen, daß die Seelenverfassung den Geist wieder finden müsse, sind all die Tatsachen bedeutsam, die mit der Abwendung von der geistigen Wirklichkeit zusammenhängen. Die Art, wie Gervinus mit seiner Literaturgeschichte auftrat, ist eine solche Tatsache. - Und nicht nfinder der Empfang, der die­sem Auftreten gegenüberstand. Der geistreiche Verfasser der Geschichte des Geisteslebens der neueren Zeit, Julian Schmidt, schrieb über die Leistung Gervinus': «Wenn ein groß angelegtes Unternehmen wirken soll, so muß ihm die Zeit Empfänglichkeit und eine gewisse Reife entgegen brin­gen. Das war der Fall in den Jahren 1838 bis 1840. Es war ein Wendepunkt in der deutschen Literatur. Mehr und mehr ver­breitete sich das Gefühl, daß man sich zu lange und zu eifrig im Äther bewegt habe, daß es Zeit sei, sich auf der Erde um­zusehn ... Man ahnte, daß in der bisherigen Poesie, dem größten Stolz der Nation, irgend ein Fehler stecke, - - -».

In allen, die so sprachen, steckte jener Furor, der die Mei­nung begleitete: man müsse vom phantastischen Schauen in (

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III BUCHBESPRECHUNGEN

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ALBERT STEFFEN ALS LYRIKER

Weg - Zehrung*

Albert Steffen hat den Verehrern seiner Dichtungen eine ly­rische Gabe geschenkt. Von einem «Geschenk» muß man sprechen. Denn wer in diesem Dichter den ernsten Sucher in den Rätseln der Menschenschicksale gefunden hat, der Weltgeheimnisse in ringender Gestaltungskraft in Seelen-wesen offenbaren will, der hatte Verlangen nach dieser per­sönlichsten Mitteilung. Er muß dankbar sein für das Ge­schenk.

Das Büchlein ist klein an Seitenzahl. Die Gabe ist groß. Denn aus einer Fülle des Herzens und der Seele gibt ein Mensch, der viel zu sagen hat von dem, was zu empfangen Bereicherung des Lebens ist. Es ist für jeden gut, der es emp­fängt; aber nur einer konnte es so geben, wie es ist: Albert Steffen. Denn der sieht, was jeder sehen sollte, mit einem ganz persönlichen Künstlerauge.

Der erste Eindruck kann befremdend sein. Denn Steffen lebt wirklich in Empfindungswelten, die sein ganz persön­liches Eigentum sind. Aber man kann schnell heimisch wer­den in diesen Welten. Denn das Heim, in dem der Dichter Steffen auf seine besondere Art die Welt gestaltet, ist von Herzenswärme durchdrungen, und es ist voll echter Güte. Steffens Bilder sind oft aus tiefen Bergschachten geholt; aber es hat sie ein Mensch gestaltet, der in der Gedankentiefe nie den lebendigen Künstlersinn verliert.

Steffen steht oft vor Weltproblemen, bei denen Andere zu Philosophen werden. Er bleibt Künstler. Andere zeichnen alle möglichen runden Linien; Steffen setzt einige Striche hin, und gibt manche Ecken. Das Ganze ist dann bildsamer als die Rundungen der andern. Manche halten sich an der Ober-fläche, um nicht lyrische Grübler zu werden. Steffen geht oft sehr weit unter die Oberfläche; aber er kann da so eindring­lich sprechen, daß dem Zuhörer alles Grübeln vergeht.

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* Im Rheinverlag zu Basel 1921.

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Steffens Dichtungen sind aus dem Seelenbezirk, wo man Weltgeheimnisse schaut und Menschenrätsel empfindet. Aber der Geist, der sich da schauend und empfindend oft in Ab­grundtiefen wagt, sich oft in Stemenhöhen schwingt, bleibt bildgestaltend, tonerschaffend, wird nirgends verführt zur Ideenkälte. Steffen malt in Worten. Die Worte haben Farben. Und die Farben wirken wie diejenigen auf Bildern, die Jahr­hunderte überstanden und sich bewährt haben.

Steffen schreitet auch schauend und empfindend durch die Natur. Und die Natur offenbart durch ihn ihre Geisteswesen. Es ist Weisheit in dieser Offenbarung. Tragische Weisheit, gütige Weisheit, liebeweckende Weisheit. Weisheit, die sich dem Rätseldeuter enthüllt, der im Deuten ganz von der Kraft des Dichters erfüllt, im Gestalten von ruhiger Künstlerbe­geisterung getragen ist.

Steffen steigt in die Schächte der Seele hinunter. Er holt Bilder herauf, die wie Abbilder von Naturwesen sind. Von einer Natur, die Augen nicht sehen und ohne deren Erreich­barkeit in der Phantasie die Welt der Augen ein Trug wäre. Scharfe Umrisse haben diese Geist-Naturbilder; aber es sind nicht Umrisse, welche der Verstand zeichnet, sondern das Menschenherz.

Man hat gegenüber diesen Bildern oft das Gefühl: eine unbekannte Macht in dem Dichter habe sie der Natur abge­rungen; und nachdem sie durch diese Macht da waren, zeich­nete sie Steffen hin.

Steffen, der Dichter, steht nie allein da; eine Welt ist im­mer um ihn. Er spricht nicht nur seine Gefühle aus; er läßt stets eine unbegrenzte Welt um sich ahnen, wenn er seine Gefühle mitteilt. Seine Bilder sprechen zunächst oft so, als ob sie aus dem leeren Raum heraus sich gestalteten; dann, wenn man sie voll empfunden hat, erhalten sie Hintergrund. Dann offenbaren sie eine Welt, während sie zuerst nur sich selber zu offenbaren schienen. Manchmal sind sie wie Men­schen, die zuerst spröde sich geben, und von denen nachher eine liebespendende Wärme ausgeht. Manchmal will es einem

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vorkommen, als ob ein Gedicht Steffens eine Behauptung trotziger Willkür wäre; und diese scheinbare Willkür hält eInen fest, dann findet man, der Schein des Trotzes umhüllt ergebene Wahrheit, die nur von seelischer Abgeklärtheit zu erreichen ist.

Steffens Lyrik kommt oft aus den Bergen; aber sie hat dann als Berggeburt die Ebene durchwandelt, wie Quellen das tun, die zu Flüssen werden. Sie trägt noch den Bergursprung in sich; aber sie spiegelt in der Ebene, die ihr Ruhe gibt, die Sonne, und sie zaubert da auch den Widerschein des Mondes und der Sterne vor die Seele des Genießenden hin. Sie raunt Naturräts ei; das Geraunte wird im Hören wie eine vertraute Sprache.

Ein zartes Gedicht: «Felizitas» dringt zum Herzen wie Empfindung weckend, die in kosmische Weiten sich ergießt. Man ist im stillen Kämmerlein und doch in den Weltenwei­ten; ein Menschenkind mit seinem Elend und ein Geschöpf der Sphärenwelten.

Oft wenn ich in der Nacht

von bangem Traumgesicht

emporgeschreckt, betracht,

wie leicht der Leib zerbricht,

wenn immer schwerer lasten Angst und Wahn,

ich weinen muß ob meiner dunklen Bahn:

Lauf ich zum Fenster schnell

die Sterne anzuschaun,

wie scheinen sie so hell,

dann darf ich doch vertraun,

ich weiß es ja, daß mich an Kindesstatt

der Sternenhimmel angenommen hat.

Und wie spricht Steffens Lyrik die Frömmigkeit aus! Es ist eine Frömmigkeit, die grübeln darf, weil sie im Grübeln nie das Herz verliert. Es ist eine Frömmigkeit, die das Ver­ehrensvollste gestalten darf, weil sie im Gestalten noch die Innigkeit des Gebetes bewahrt.

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Ich geh durch rote Äcker:

Es schläft der Keim.

Ich geh durch grüne Saaten:

Es sproßt der Halm.

Ich geh durch goldne Felder:

Es reift das Korn.

Ich find den Müller

und der Müller spricht:

Die Erde ist das Angesicht

des Menschensohnes

Und «wer mein Brot verzehrt,

der setzt den Fuß auf mich».

Ich knie nieder

und er reicht die Speise,

daß ich mich sättige

auf meiner Erden-Reise.

Das ist die Stimmung, welche das Gemüt dann mit den Erlebnissen aus dem Reiche des Ewigen in der Menschenseele durchdringen. Das Persönliche wird in das Unpersön­liche gehoben, nicht um sich darinnen zu verlieren, sondern um sich in seiner Wahrheit und Wesenheit zu finden. Und dieses Finden hat in der Lyrik Steffens selbst seinen Abglanz. Der Dichter fühlt sich im Strome des Weltseins und spricht:

Die Sprache formt Schicksal,

gemäß den Lauten,

streng oder milde.

Näh oder Ferne vom ewigen Urwort

bestimmt meine Freiheit und Not.

Und wer solches hört aus Steffens Dichterseele, der empfin­det, wie bei ihm das Schicksal die Geheimnisse der Sprache sucht, um «streng und milde» des Lebens Not zu formen, und in der Freiheit des Geistes dem Dasein Sinn zu geben.

Wenn Steffen den Schmerz zu «Busch und Baum» trägt, um die Bäume zu seinen Lehrern des Seelenfriedens zu machen,

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dann offenbart sich die Empfindung in der strengen Sonette-Form, und man hat das Gefühl, was gesagt wird, kann nur in dieser Form sich offenbaren. Die Dichtungen dieser Art in der «Weg~Zehrung» sind wie ein Empfangen der Form durch den Dichter, der in ihr die Ruhe findet für die Empfindung, die ohne dieses Finden ins unbegrenzt Weite streben möchte.

Daß aber die Empfindung bei Steffen ihr Maß auch in sich selbst tragen kann, das offenbart sich, wenn er imAufschwunge von dem persönlichen Erleben zum Miterleben des Welten-seins in der Form des Hymnus sich ausspricht, und auch, wenn er die Möglichkeit findet, sich so mitzuteilen, daß das Schwei­gen, wenn das Herz voll ist, nur in dem allergeringsten Maße vermieden wird:

Du blickst so irr,

so hoffnungsleer,

warum, warum?

O sag's, o deut's.

Christus in mir -

Ist es so schwer.

Er geht herum:

Ich bin sein Kreuz.

ALBERT STEFFEN: DAS VIERGETIER

Einen Augenblick, in dem man nicht in angeregtester Span­nung wäre, wenn man Albert Steffens Drama «Das Viergetier» liest, gibt es nicht. Die Spannung hat ihre Nuancen; aber sie ist immer da.

Aus dem, was im naturalistischen Sinn die äußerliche Hand­lung ist, steigt die Spannung bei solchen Seelen nicht auf, die künstlerisch dem Drama gegenüberstehen. Aus einem Zug höherer Geistigkeit kommt sie, der das ganze Drama durch­dringt. Er bewegt sich in der Entfaltung von Geheimnissen des menschlichen Wesens, die jedem tief ins Herz schneiden, dem sie in solcher Art vorgeführt werden, wie es durch Albert Stef­fen geschieht.

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Albert Steffen ist der ernsteste künstlerische Sucher nach diesen Geheimnissen. Er ist aber zugleich deren geborener Kenner. So gestaltet er sie als Künstler, indem er in seiner dra­matischen Handlung, die ihm das Leben gibt, das eigene We­sen walten läßt, das nicht da lebt, wo die Handlung geschieht, sondern in einer geistigeren Welt, die aber unmittelbar an die gewöhnliche überall angrenzt. - In dieser geistigeren Welt sind die Menschen mit ihren Seelen eingewurzelt. Sieht man in diese Welt der «Seelenwurzeln» nicht, so bleibt im Grunde, was Menschen vollbringen in dem Leben zwischen Geburt und Tod, ein unverständliches Treiben.

Bei Albert Steffen hat man den Eindruck, es ist seiner Seele selbstverständlich, daß er, wenn Menschen ihm gegenübertre­ten, um sie kennen zu lernen, in diese dem gewöhnlichen Blick verborgene Welt hineinschaut. Er nimmt ja, was Menschen sprechen, nicht bloß dem Inhalte nach hin. Für ihn ist alles Ge~ sprochene, außer dem, daß es etwas «ausdrückt», noch Seelen-geste, noch Geistesgeberde. Sagt der Mensch durch das, was seine Rede ausdrückt, was er denkt, fühit, will, so sagt seine Geistgeberde, was er als geistentsprossenes, geisterfülltes Wesen ist. Und Albert Steffen faßt nicht nur die Rede des Men­schen so auf, sondern alles, wodurch dieser sich offenbart.

Und so erscheint, was die Personen des Dramas tun, auf dem Hintergrunde einer Geistwe]t, in der dieses Tun seine Wurzeln hat. Es bleibt unverständlich vor dem gewöhnlichen Ver­stand; und es wird in eine Welt hineingehoben, in der das Fra­gen nach solcher Verständlichkeit allen Sinn verliert, weil man in dieser Welt nicht «versteht», sondern «anschaut».

Auf diesem Hintergrunde erscheint das «Viergetier». Das Wesen, in das altes Traumerkennen den Ursprung des Men­schen versetzt hat. Der £tier, der in seiner Organisation den Kräften der Erde nahesteht. Nicht den eigentlich irdischen Kräften, sondern denjenigen, welche die Erde als Teil des Kosmos für sich in Anspruch nimmt. - Der Löwe, der weniger erdehaft organisiert ist: Er ist in seinem ganzen Bau emanzi­piert von dem Erdehaften wie die menschliche Seele selbst. Er

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ist im Fleische, was die Seele eben auf seelische Art ist. - Der Adler der in seiner Leiblichkeit das menschliche «Ich» reprä­sentiert. Was im «Ich» geistig sich offenbart, das ist im Adler materiell. Weil aber die Geistigkeit in ihrer Eigenart materiell nicht unmittelbar zur Darstellung kommen kann, erscheint im Adler die Leiblichkeit vertrocknet, verhornt in Kopfbildung, Federkleid, Fußbildung und so weitet. Diese drei Wesen als Geistgestalten angeschaut, wirken zusammen und sind doch wieder selbständig in einer Geistwelt, die unmittelbar an des Menschen physische Welt anstößt. Ihr Zusammenwirken ver­mittelt eine vierte Wesenheit, die als eine Art Engel aufzufas­sen ist.

Wendet sich der geistige Blick nach diesem «Viergetier», so hat er zugleich die Weltenzeit vor sich, in der es noch nicht Menschen, und noch nicht Tiere in der heutigen Gestalt gab. Es gab Wesen solcher Art wie das «Viergetier». Sie hatten kein physisches Dasein; sie lebten in einer geistig~ätherischen Da­seinsform. Von dieser Daseinsform entwickelte sich der Mensch hinauf, das Tier hinunter. Sie schauen herüber aus grauester Vorzeit, die vier Tiere. Sie waren da, bevor Menschen und physische Tiere entstanden sind. Sie sind aber noch da. Sie sind noch nicht ausgestorben. Sie haben nur ihre innerliche Ge­staltung verwandelt. Sie sind noch geistiger geworden, als sie waren. Dadurch sind sie der Tierwelt ganz fernliegend gewor­den. Um so näher der menschlichen. Hinter dieser steht das «Viergetier». Die physische Leiblichkeit ist durch den Wel­tengang zu ihrer gegenwärtigen Gestalt gekommen. Sie ist auf der menschlichen Höhe. Sie kann nicht durch Verfehlung, oder Verirrung wesentlich verändert werden. Aber das Seeli­sche. Es kann jederzeit von dem «Viergetier» ergriffen und in em Untermenschliches verwandelt werden. Dann entwickelt der Mensch instinktartige Impulse, die minderwertiger sind als beim Tiere, weil sie getragen sind von dem herangebildeten höheren Menschentum.

Dieses «Viergetier», grandios, als Sphinx, geschaffen von der treffsicheren uralten Traum-Erkenntnis; es steht wieder als

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eine Wahrheit vor dem wissenschaftlichen Forderungen sich fügenden Erforscher der geistigen Welt von heute. Es steht aber auch vor dem künstlerischen Menschen, der das Leben in die schaffende Phantasie wirklich wesenhaft herein bekommt. Albert Steffen ist dieser künstlerische Mensch, mit der Phanta­sie, die, Helligkeit von sich ausstrahlend, den Abglanz der wahren Geistigkeit im dichterischen Schaffen findet und zum Leben erweckt.

In seinem Drama ist das «Viergetier» ebenso eine «han­delnde Person» wie die andern, die im physischen Leibe leben; aber es tritt nicht etwa als «symbolische Wesenheit», als «Geist» oder dergleichen aufl In der physischen Welt kann man es nicht sehen; denn es hat nicht die Bedingungen an sich, um da gesehen zu werden. Aber es ist stets da, wenn die Seelen-verfassung der «handelnden Personen» eine Gestalt annimmt, durch die die an die gewöhnliche unmittelbar angrenzende übersinnliche Welt wahrgenommen werden kann.

Und in der Empfindung für die Seelenverfassung seiner dra­matischen Personen nach dieser Richtung hin ist Albert Stef­fen Meister. Er fühlt mit absoluter Treffsicherheit bei einer Person: jetzt liegt bei ihr ein Empfinden, eine Leidenschaft, ein Wille vor, die durchbrechen die dünnen Wände der geistigen Welt und die bewirken, daß geistiges Geschehen hinter dem physischen erscheint.

So ist das «Viergetier», im gewöhnlichen Sinne «unsicht­bar», doch ganz dem Wesen ihrer eigenen Wirksamkeit ent­sprechend, eine handelnde Person in dem Steffenschen Drama.

Die beiden Hauptpersonen sind: Großmann, ein menschli­ches Scheusal, und Christine, ein Engel an gutem Wollen, aber mit diesem Wollen nur der Geistwelt gegenüber gerechtfer­tigt. Denn ihr Wollen muß sich an den Bedingungen der phy­sischen Welt brechen.

Hinter Großmann waltet das «Viergetier». Er ist in intellek­tueller Hinsicht ein gut gebildeter Mensch. Aber alles, was in seiner Seele lebt, und von ihm erlebt werden kann, ist unter-menschlich. Christine, unter dem Einfluß des «Viergetiers»

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verliebt sich in diesen Untermenschen. Rohheit ist fast das er­ste, das er ihrer stets zarten Liebe entgegenbringt. Das hindert sie nicht in ihrer Liebe. Ja es bestärkt sie darinnen. Muß sie ihn als «böse» erkennen, so will sie durch ihre Liebe-Kraft ihn vom «Bösen» loslösen. So wie er unbedingt für diese physi­sche Welt dem «Bösen» verfallen scheint, so ist sie bei ihrer Seelenkonstitution unfähig, in das «Böse» hinein mitgerissen zu werden. Denn in ihr lebt ebenso wie von der einen Seite das «Viergetier», so von der anderen «Christus». Und Christus ist die Wesenheit, die die Einwirkung des «Viergetiers» so ver­wandelt, daß nicht ein Untermenschliches in dem Menschen zur Wirkung kommt, sondern etwas, das die Seele hinaufhebt über das, was der Mensch sonst offenbaren kann durch physi­sche Abstammung, Erziehung, sozialen Zusammenhang usw.

Christinens Vater, der Professor Sibelius, lebt von dem Ver­mögen, das eigentlich Christine gehört. Deren Mutter hat eine vom Schicksal gezimmerte, aber nicht beglückte Ehe mit dem Professor gehabt, und ist seelisch vernichtet aus dem physi­schen Dasein gegangen. Christine fühlt sich voll berechtigt, den Vater dazu zu führen, Großmann einen Teil des Vermö­gens, das eigentlich ihr rechtmäßig gehört, zu geben, damit der Mann, den sie in Liebe erlösen will, durch seine große Bega­bung etwas Geschäftliches anfangen könne. Dann wird, so empfindet sie, das Weitere in rechter Weise kommen. Groß­mann wird durch die Einwirkung ihres Christus-ergebenen Herzens die Bahn echter Menschlichkeit hinaufgeführt werden.

Es wird erreicht, daß Großmann eine Unterredung mit Sibe­lius haben kann. Trotzdem Sibelius die stärkste Antipathie ge­gen den Verlobten seiner Tochter hat, trotzdem er durch das, was er von andern über Großmann vernommen hat, diesen für einen ganz schlechten Menschen halten muß, kommt es dazu, daß er ihm am Ende der Unterredung Geld gibt.

Aber die weitere Folge ist die, daß Großmann bei diesem ersten Besuch sich den zweiten, noch an demselben Abend er­folgenden vorbereitet, bei dem er, um sich des Gesamtvermö­gens Christinens zu bemächtigen, den Vater erschießt.

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In dem Manne, den Christine durch ihre Liebe die Pfade gu­ter Menschlichkeit hinaufführen will, muß sie den Mörder ihres Vaters sehen. Sie fühlt nur, er müsse diesen Fall in das Mördertum innerlich tief erleben; und seine Seele würde ge­rade dadurch aus dem tiefen Verderben, in das sie verwoben ist, aufstreben.

Großmann wirkt durch seine von den untermenschlichen Trieben befeuerte Intelligenz auf die ihn verfolgenden Polizi­sten so, daß sie, statt ihn als den Mörder festzunehmen, sich bei ihm entschuldigen wegen der Störung, die sie verursacht ha­ben, indem sie nach dem Morde bei ihm erschienen seien.

Und Großmann hat es, während sich dieses abspielt, auch schon zustande gebracht, allen Verdacht des Mordes auf Chri­stine selbst zu lenken. Sie wird auf seine Angaben hin als die Mörderin festgenommen.

Christine geht ihren Christus-ergebenen Weg auch seit dem Morde. Die Tiefe des Erlebens führt ihr hellsehend gewordenes Gemüt im Geiste an die Stätte der Erde, wo Christi Grab heute noch ist, und wo Christus heute noch für jeden «aufrr­steht», der, indem er ihn in sein Herz aufnimmt, in der Welt die Christus-Taten verrichtet.

Hier findet sich Christinens Seele ein; hier findet sich auch des ermordeten Sibelius' Seele. Durch den auferstandenen Christus soll die Kraft geholt werden, Großmanns Seele zu verwandeln.

Es ist von unsagbarer Tiefe, was Albert Steffen in anschau~ lichster Dramatik da hinstellt. Der Aufstieg der Seele des Vaters im Verstehen der geistigen Welt; der furchtbare Kampf dessen, was das Viergetier im Menschenwesen anstellen kann, mit der wahren durchchristeten Menschlichkeit vor dem See­lenauge Christinens; das alles atmet wahre Geistigkeit und läßt ergreifend das Verbundensein des Menschentums mit die­ser Geistigkeit erfühlen.

Und während so Christine mit den besten Mächten der Erde daran ist, zu retten Großmanns Seele, den sie ja als Erdenmen­schen nicht mehr retten kann, saust das Fahrrad Großmanns

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mit Ejlgeschwindigkeit hinweg. Dieser macht sich mit allem, was er an sich gebracht hat, davon. Hinten auf dem Zweirad sitzt noch das Stubenmädchen des Hotels, in dem Großmann gewohnt hat, und das er beredet hat, mit ihin zu gehen, nachdem er sie schon vorher dahin gebracht hatte, ihm dabei zu hel­fen, den Verdacht des Mordes bei den Polizisten von ihm ab­zulenken.

Christine hat nun alles durchzumachen, was einer Tochter bevorstehen kann, die in dem Verdachte steht, die Mörderin ihres Vaters zu sein, und die außerdem durch die besondere Seelenverfassung und durch die Verbundenheit mit der geisti­gen Welt auf Arzt, Gefängnisdirektor und Gefängnisgeistli­chen einen unverständlichen Eindruck macht.

Eine Lösung für das Erdenleben findet der Gang dieser Handlung dadurch, daß Großmann auf dem Pfade nach der Untermenschlichkeit fortschreitet. Er hat, weil er auf das Ho­tel-Stubenmädchen eifersüchtig wurde, dieses im wahren Sinne des Wortes geschunden. Sie wird mit am Vorderkopfe abgeschundener Haut in das Spital als Sterbende eingeliefert, in dem auch Christine ist, da man bei ihr wohl festzustellen hat, wie es sich mit ihrem Geisteszustand verhält.

Nunmehr steht Großmann in seiner ganzen Verruchtheit da; er hat die Fülle dessen erreicht, was ein Mensch erreichen kann, den die herabziehende Gewalt des Viergetiers in das Un­termenschentum treibt; dieses Viergetier, dessen Wesensge­heimnis tief ist. Denn was von ihm ausstrahlt, es kann den Menschen zum Teufel machen; es kann ihn, vom Lichte der Wahrheit durchgeistigt, in die edelsten Höhen der Menschheit hinaufführen.

Großmann erhängt sich in seiner Gefängniszelle. Er will von einer Erlösung seiner Seele nichts wissen. Er will, daß durch seinen vom Teuflischen ergriffenen Willen diese Seele sich in der Kürze in der Nichtigkeit des Weltalls auflöse.

Wieder finden wir uns vor der Erdenstätte, da Christus auf­ersteht für die Herzen, die ihn in der rechten Wahrheit suchen, da aber auch das Viergetier seine verheerende Macht erschei­nen

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läßt. «Aus dem krenzförmigen Risse tritt das Urgetier her-vor: aus dem Balken rechts ein Löwenhaupt, aus dem Balken links ein Stierkopf, aus dem oberen Balken ein Adlergesicht. Aus dem Stamm ein Drachenieib.» - Der Drachenleib wird, wenn das «Tier» in die Bahn des Verderbens einlenkt; sonst, wenn es die Pfade des Menschentums hinaufgeht, hat man die Engelgestalt vor sich.

Großmanns Seele wird durstig von dem «Viergetier» ge­sucht. Die Seele von Christinens Vater erscheint wieder. Sie fordert auf, zu «richten». Doch Christine, vom Vater aufge­fordert, zu richten, spricht: «Nicht ich, sondern Christus in mir.» Da verschwindet aus der Vollgestalt des Viergetiers das Löwenhaupt. Und weiter fordert der Vater auf, zu «heilen». Christine ruft wieder den Christus in ihrem Herzen. Der Stier-kopf verschwindet. Und so verschwindet das Adlergesicht, da Christine den Christus zum «Befreien» anruft, und so der Dra­chenleib, als sie ein gleiches vollbringt, da des Vaters Geist von «Lieben» spricht.

Christus selbst ist geistig anwesend da, wo sich am Ende der Geisteskampf zur Entscheidung bringt. Und als die Nachricht kommt, Großmann habe sich in seiner Zelle erhängt, da darf-als letztes Wort des Dramas - Christine, durch deren im Guten unbesiegliche See! enkraft der Christus da ist, sagen: «Er (Großmann) ist in meinem Herzen auferstanden.»

Ich habe vor Zeiten viel sinnen müssen über das, was Ibsen in einem Teile seiner Dramen gesucht hat. Es umschwebt eine Anzahl seiner Gestalten unbestimmt Geisterhaftes. Tiefergrei­fend wird das in «Wenn wir Toten erwachen». Aber es bleibt da alles in unfaßbarer «Mystik». Ibsen findet nicht den Augen­blick in der Menschenseele, wo in dieser das Schauen durch­bricht in die wirkliche Geistwelt. Daher ersteht das Geistige in seinen Dramen nicht dramatisch.

Albert Steffen hat in seinem «Viergetier» diesen Augenblick gefunden. Er hat damit die Dramatik wieder zurückgetragen dahin, wo sie einst war, als sie sich eben der Mysterienhand­lung entzogen hatte.

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Das hat Steffens ganz geistig konkret geartete Phantasie zu­stande gebracht. Man mag noch so stark durch geistiges Schauen in geistige Welten vordringen: da tritt einem so etwas vor die Seele wie Steffens «Viergetier »; man wird gewahr, es gibt noch Stätten im Weltall, da dringt hin die im reinen Geisti­gen geborene Phantasie. Denn aus solchen Stätten stammen die Erden-Menschen~Gestalten, die Steffen bildet. Was von diesen Stätten aus gesehen, an ihnen lichtvoll ist, das gestaltet Albert Steffen. Aber aus solchen Stätten stammen auch die realen Geisteswesen, die sich so wirklichkeitsgemäß zwischen den Erdwesen in Steffens Drama bewegen. Wonach Ibsen die Geisteshand ausstreckte, die aber doch ins Leere griff; Albert Steffens Phantasie und durchgeistigter Künstlersinn hat es er­griffen. Und gegenüber dieser Empfindung muß schweigen, was sich regen will über Unvollkommenheiten dieser Dich­tung. Das, was vor uns steht, ist in Wollen und Gestalten von solchem Leben, daß in der auf den Dichter eingehenden Phan­tasie des Lesers das dramatische Bilden Albert Steffens in sol~ cher Vollkommenheit erscheint, daß davor alles andere etwa kritische Beurteilen zum selbstverständlichen Schweigen gebracht wird. Wo solche Vorzüge vorhanden sind, da wiegen die entgegengesetzten Fehler federleicht. Denn diese Vorzüge erfüllen die Seele in restloser Art. - Und alles, was ich als Ein­druck im Lesen empfange, wird bei der Bühnendarstellung erst in der eindringlichen Art hervortreten. Denn das Drama trägt die Wirklichkeitssubstanz in sich, die im Bühnenbilde ihre Wahrheit bewährt. -

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ALBERT STEFFENS «PILGERFAHRT ZUM LEBENSBAUM»

I

Albert Steffens «Viergetier» hat mancher als eine «Pilgerfahrt» in die Ideenwelt der Anthroposophie empfunden. Sol­che Empfindung kann nicht entstehen, wenn die Seele mit ihrem Erleben wirklich in das Drama eindringt. Denn in die­sem fließt das Geschehen aus der äußeren sinnenfälligen Wirk­lichkeit in die Geistsphäre durch die tiefere Erkenntnis des Menschen hinüber, die dem Dichter als innere Wesenheit seines Geistes eigen ist. Daß dieser Dichtergeist mit den Personen sei~ nes Dramas in den rechten Augenblicken in eine Geist-Welt aufsteigt, dazu brauchtet der Anlehnung an eine Theorie nicht. Er braucht den Weg in die geistige Welt nicht von der Anthro­posophie zu lernen. Aber Anthroposophie kann von ihm eine lebendige, im Seelenleben veranlagte «Pilgerfahrt» nach der Geist-Welt kennen lernen.

Ein solcher Dichtergeist muß, wenn er richtig empfunden wird, innerhalb der anthroposophischen Bewegung als der Träger einer Botschaft aus der Geist-Sphäre empfunden wer­den. Als gutes Schicksal muß es gefühlt werden, daß er inner­halb dieser Bewegung wirken will.

Er fügt zu den Beweisen, die Anthroposophie von ihrer Wahrheit geben kann, den hinzu, der in einer schaffenden Per­sönlichkeit als lebendiger Geistträger wie das Licht dieser Wahrheit selber wirkt.

Nun fällt mit der öffentlichen Urteil sbildung über das «Vier­getier» das Erscheinen eines kleinen Büchelchens von Albert Steffen zusammen: «Pilgerfahrt zum Lebensbaum.» (Verlag Seid­wyla, Zürich.)

Ein Büchelchen, das lebt. Denn vereinigt sich die lesende Seele mit dem, was aus den wunderbaren Sätzen spricht, so ver­wandelt sich alles, was man vor sich hat. Der Eindruck vergei­stigt sich; ein Mensch steht vor der Seele, der intime Geheim­nisse der Erden-Natur durchschaut, der beleuchtend auf die

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Natur zu weisen vermag, sodaß sie in seinem Lichte ihre My­sterien zurückstrahlt.

So steht Albert Steffens Dichtergeist hinter dem Bücheichen und erscheint geistig, wenn man das Licht empfindet, das aus ihm strahlt.

«Ich empfange meine Besuche gern im Garten. Jedermann, der kommt, lehrt mich, die Gewächse auf neue Art betrachten. So wie der Mensch, mit dem ich durch die Anlagen prome­niere, die Augen umherwirft, ergibt sich mir sehr bald, ob er Naturforscher, Maler, Musiker, Landwirt und so weiter ist. Liebende zeigen sich im herrlichsten Flor. In sich selbst Ver­liebte bleiben dürr und kahl auch beim blütenübersäten Apfel-bäumchen.»

So spricht, wessen Seele aus Welten-Sternenweiten ihre Le~ benskräfte empfängt; denn was sie so empfangen, das offen­bart sie, wenn sie auf die Geschöpfe blickt, die den Menschen umgeben, auf daß er durch sie in jedem Augenblick das Leben aus den Tiefen des Seins neu empfange.

Und so wird die «Pilgerfahrt zum Leben sbaum» für die dichterisch empfängliche Seele ein geistiger Erfrischungs-trank, und der Vermittler einer Bekanntschaft mit einem Dich­tergeist, der die Natur in ihrem Geist-Worte zu offenbaren ver­mag.

Was spricht doch alles aus Worten wie diesen: «Wüßte man, was im Inneren eines Buben sich abspielt, wenn er den ersten Heuapfel herunternimmt, mit dem Daumen prüft, krachend aufbeißt und, bevor er ihn verzehrt, die Kerne im Gehäuse be­trachtet, die noch weiß sind, höchstens einen gelblichen An­flug haben! Er fühlt mit einer Art von Natur-Gewissen: Erst wenn die Kerne dunkelbraun sind, haben Sonne und Mond die Arbeit am Apfel vollendet, derart, daß er für mein Bäuchlein paßt. Vorher ist es unrecht, ihn zu brechen. Wenn nun gar das Ästlein, woran der Apfel hängt, diesen nicht loslassen will und geknickt werden muß, so spürt der Junge sein Vergehen. (Weniger dem Bauer gegenüber, den er beraubt.) ... Die Er~ wachsenen verlieren die Fähigkeit, die Götteralchemie zu goutieren.

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Warum? Weil sie in ihrem Selbstbewußtsein verhär­ten.»

Aber wahre Dichtergeister stehen da im Leben, um die ver­härteten Selbstbewußtseine an die Götteralchemie immer wie­der heranzuführen.

Mein Blick wird von dieser «Pilgerfahrt zum Lebensbaum» zurückgelenkt zum Erstlingswerk Albert Steffens «Ott, Alois und Werelsche», mit dem er 1907 die Welt begrüßte. (S.Fi­scher Verlag, Berlin.)

Denn als Gruß an die Welt empfinde ich zu allererst das Buch. Es grüßt eine Menschenseele, die die Pilgerfahrt nach dem ganzen vollen Leben in ihrer Art angetreten hat und die, erfüllt von den Eindrücken, die sie empfangen, zu andern Menschen so sprechen muß, wie man spricht, wenn man einen recht herzhaften Gruß dem Andern entgegenbringt.

Intim mit Natur und Menschenleben hat der Dichter dieses Romanes gelebt. Seine Seele hatte die Gabe mitempfangen, nicht nur in sich, sondern vor allem in dem zu sein, was liebe­vollstes Beobachten zum Leben der Seele machen kann. Aber es ist ja das Geheimnis der Menschenseele, daß sie sich um so mehr in das eigene Innere versenkt, je mehr sie in hingebungs­vollem Erleben der Außenwelt aufzugehen vermag.

Ob sein Werk ein «Roman» werde, das ging den jungen Weltbeobachter noch gar nichts an. Er «komponiert» noch nicht; er trägt das dichterische Licht in die Welt, das er selber empfangen hat.

Man muß alle Augenblicke mit dem Empfinden stille hal­ten, wenn man «Ott, Alois und Werelsche » liest. Denn aus den Zeilen steigt dieses dichterische Licht auf als milde Funken. Sie sind Liebe, die am Dasein durch ein Menschenherz erlebt, leuchten. Und «leuchtende Liebe» ist ja der Offenbarer wah­ren Lebens.

Auch die Natur «komponiert» nicht; sie stellt ihre Gebilde vor die Welt hin. Und Geist~Natur ist, womit sich der junge Albert Steffen verbunden hat; sie führte ihn weiter auf der «Pilgerfahrt zum Lebensbaum».

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Wer so ins Leben schaut, wie der Dichter von «Ott, Alois und Werelsche», der kommt auf dieser «Pilgerfahrt» dahin, wo der schaffende Weltengeist in die beobachtete Natur und Menschenwelt einstrahlt.

Der Dichter von «Ott, Alois und Werelsche» sieht, was sich von den Geheimnissen des Daseins in den einfachen menschlichen Geberden, in den Alltagshandlungen als Symptom offenbart. Eine Symptomatologie schönster Art ist Steffens Erstlingswerk. Aber die Symptome, die noch gefühles mäßig - wenn auch unbewußt - gedeutet werden müssen, wenn durch sie der Geist offenbar werden soll, sie werden durchsichtig - und auf der anderen Seite der Wirklichkeit er­scheint, was im «Viergetier» sich vor den Geistblick hin­stellt, ohne Deutung, für sich selbst sprechend. ---

Es muß so der Seelenblick liebevoll wie des jungen Albert Steffens Blick auf den geist-deutenden Symptomen des Le­bensbaumes ruhen können, er muß das Gemüt so lichtvoll durchdringen können, wenn er zu jenem empfindenden Schauen heranwachsen soll, das im «Viergetier» den «Le­bensbaum» allseitig zur Offenbarung bringt.

Die Allseitigkeit des Lebensbaumes sucht Anthroposophie; und sie sucht Albert Steffens Dichtergeist. Deshalb haben sich wohl beide zusammengefunden.

II

Erst 1912 schickt Albert Steffen seinen zweiten Roman in die Welt: «Die Bestimmung der Roheit». S.Fischer's Verlag, Berlin.) Wer ihn liest und dabei zurückblickt auf den fünf Jahre vorher erschienenen, dem ist es, als ob er in der Zwi­schenzeit diese Dichterseele auf einer Reise in tiefliegende Geisteswelten suchen müßte.

Albert Steffens Wort spricht aus «Ott, Alois und Werel­sche», wie das Wort einer Seele, der die Welt viel zu sagen hat, weil sie mit liebevoller Hingabe auf vieles hören will.

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Wie viel kleines Geschehen, das aber in seiner Kleinheit von der Größe der Welt spricht, offenbart sich doch aus dem leuchtenden, seelenwarmen Erstlingswerk Albert Steffens. Aber man hat den Eindruck, da spricht die Welt durch eine Seele, die in der Fülle der Eindrücke sich den Wegen über-läßt, auf denen sie von dem Dasein geführt wird.

Nun spricht dieselbe Seele 1912 in dem Roman «Die Be­stimmung der Roheit». Aber in diese Seele ist etwas herein­gebrochen. Eben die Eindrücke einer Wanderung in tieflie­gende Geisteswelten. Einer Wanderung, auf der den geistig veranlagten Seelen das Menschenwesen zum Rätsel wird. Aber zu einem Rätsel, dem die Kräfte des schauenden Gei­stes Verständnis bringendes Licht entlocken können.

Intim sind die Eindrücke solcher Wanderungen des Dich­tergeistes. Unzart wäre es, ihm auf solcher Wanderung nach­gehen zu wollen. Denn er geht sich selber nur in einer ganz bestimmten Art nach. So, daß ihm die Eindrücke durch den Verstand nicht aus der Fülle ihres Offenbarens herausgeris­sen werden.

Albert Steffens Seele hat auf ihrer Wanderung an vielen Geistestoren angeklopft und Einlaß gefunden. Da hat sie an verborgenen Weltenorten das Fragen gelernt nach den Ge­heimnissen des Daseins.

Das Büchelchen «Pilgerfahrt zum Lebensbaum» hat zwei Teile. Der erste trägt die Überschrift «Die Vorbereitung», aufgezeichnet 1910. Mitten aus der Wanderung seiner Seele heraus spricht Albert Steffen.

Ich sehe diesen Dichtergeist vor mir im Beginne seiner zwanziger Jahre, da «Ott, Alois und Wereische» entsteht. Augen, die schaubegierig alles Schöne der Welt einsaugen möchten. Geberden, die folgen möchten den Geberden, mit denen das Leben zu dem Menschen spricht.

Ich sehe ihn wieder vor mir, da er «die Bestimmung der Roheit» schreibt. Augen, aus denen die Geheimnisse der Welt sprechen. Geberden, in denen die Welt durch den gan­zen Menschen ihre Offenbarungen erteilt.

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Aber dazwischen spricht nun der Dichtergeist in «Pilger­fährt zum Lebensbaum»: «Es gibt wirklich keinen andern Ausweg: Wollen wir die Unendlichkeit des Raumes empfin­den, so müssen wir schon unversieglichen Reichtum in uns fühlen. Soll die Unendlichkeit der Sphären uns nicht mit Schaudern und Kleinmut erfüllen, so müssen wir etwas ihr Ebenbürtiges oder gar sie Besiegendes in uns wissen, oder doch daran glauben, daß wir uns zu ähnlicher Macht und Größe erziehen können. Wir müssen Begriffe bekommen, die eine Ewigkeit in sich schließen und diesen müssen wir die vergänglichen unterordnen.»

Der Dichtergeist hat auf seiner Wanderung in sich den zweiten Menschen zum Sprechen gebracht. Den Menschen, der in sich selbst die Sprache des ewigen Werdens entfachen kann.

So in der Welt stehend muß Albert Steffens Seele auf das Rätsel «Mann und Weib» schauen. Der Dichtergeist empfin­det, wie weit von einander entfernt liegt, was im Unterbe­wußten das Weibes- und das Manneswesen als Menschensinn erlebt. Nirgends in der Welt enthüllt sich zunächst ein anderer Gegensatz unter den vielen, die da sind, der größer wäre.

Und zugleich empfindet dieser Dichtergeist, daß ein Größ­tes im Weltengeschehen sich muß vollziehen können im phy­sischen Erdendasein zwischen «Mann und Weib». Ein Größ­tes, weil etwas von der Art, durch die Weltenrätsel nicht durch Begriffe, sondern durch das Weltgeschehen selbst im­mer neu aufgeworfen, aber auch immer zur tragischen oder glücklichen Lösung gebracht werden.

Albert Steffen bemerkt, wie im Manneswesen etwas unbe­wußt Aufreizendes liegt, das sich im Verkehre mit dem Weibe als Rohheit in irgend einer Form sich entbindet. Er mag sonst von zarter Wesenheit sein; es treten Augenblicke auf, in de­nen der Mann handelt und spricht, so daß neben ihm die Würde des Weibes erdrückt erscheint.

Aber Albert Steffen bemerkt auch, wie im Weibe die Wir­kung dieser Roliheitsanwandlung ist. Ein Sichselber- Finden,

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ein Erstarken des Bewußtseins ersteht aus dem Erleben der Rohbeit am Manne.

Wer mit dem Dichtergenius solche Lebensgebiete betreten wil], der muß in seine Sprache etwas aufnehmen können, das die Worte dem Alltagsleben entrückt. Er muß so sprechen können, daß die Worte, die er sagt, da stehen, daß aber We­sentliches in der ahnenden Seele des Lesers leben kann. Das Sprechen in diesen Dingen, wie man im Alltag spricht, hat für einen richtig empfindenden Menschen etwas Verletzendes.

Bei Albert Steffen bekommt die Sprache an den Stellen des Romans, an denen dieses Haupträtsel aufleuchtet, dieses von der Ausdrucksart des Alltags Hinwegrückende. Der Stil wird an solchen Stellen so, wie wenn der Dichtergenius zum Leser in vertraulich-gedämpfter und andeutender Sprache sich of­fenbaren wollte.

Und diese Stilnuance hebt sich wieder stilvoll ab von dem Stil in der Gestaltung der Personen des Romans. Da schildert eine Seele, die auf ihrer Wanderung in das wahre Leben tief hineingeschaut hat in das Weben des Menschenwesens.

Nach der geistigen und leiblichen Wesenheit stehen die Persönlichkeiten da. Der fühlende Leser muß, wenn er ge­fragt wird, Antwort geben können, über Züge des Äußeren und des Seelischen. So plastisch treten die Personen aus dem Roman heraus. Man hat das Gefühl, man kann selbst das Mannigfaltigste, das weit abliegt von Steffens Darstellung, mit diesen Personen besprechen.

Diese Stilnuancierung zwischen plastischer Offenbarung, die alles nach außen strömt, was im Innern ist, und dem ge­dämpften Sprechen von Seelengeheimnissen, die den Men­schen nicht voll zum Bewußtsein kommen können, ist das unvergleichlich Reizvolle, das den Leser durch den Roman «Die Bestimmung der Roheit» hindurchbegleitet.

Zu einer solchen Stellung im Dasein kommt der Dichter-genius, der in voller, ehrlichster innerer Empfindung den Augenblick erlebt, in dem er sagen darf: «Soll die Unendlich­keit der Sphären uns nicht mit Schaudern und Kleinmut erfüllen,

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so müssen wir etwas ihr Ebenbürtiges oder gar sie Besiegendes in uns wissen, oder doch daran glauben, daß wir uns zu ähnlicher Macht und Größe erziehen können.» -In Albert Steffens «Bestimmung der Roheit» spricht ein

Dichtergenius, dem an der Rohheit das wichtige Rätsel auf­geht, das auch sonst die Zeit so intensiv beschäftigt hat und das von vielen als «Kampf der Geschlechter» empfunden wird.

Bei Steffen wird bei Wahrnehmung des Gegensatzes zwi­schen Mann und Weib von der Seele sogleich der Weg in die Geistwelt gesucht. Aus dem Geiste soll auf dies Rätsel des Lebens Licht geworfen werden. - Bei andern wird das Pro­blem heruntergezogen in die Sphäre, wo die Seele sich dem Materiellen zuwendet. Damit aber wird es in die Region der Trivialität versetzt

Dadurch steht Albert Steffens Dichtergenius so glänzend in seiner Zeit darinnen, daß er diejenigen, die verständnisvoll an seine Kunst herantreten, mitnimmt in Regionen des Da­seins, die er in eigenem tiefernstem menschlichen Seelenrin-gen erst betreten.

Aber dieses erwartet man ja gegenwärtig kaum mehr von dem Dichter. Der soll herabsteigen in die Regionen, wo die Trivialbegriffe des Alltags walten, wo alles in das Gebiet der Phantastik verwiesen werden darf, was nicht von naturwis­senschaftlicher Denkart gebilligt wird. - In dieser Region leuchtet allerdings das Verständnis für das «Viergetier» nicht auf.

An der «Bestimmung der Roheit» offenbart sich in bedeut samer Art der originelle Weg Albert Steffens in die Geheim nisse der Menschenwelt Auch in diesem Roman geht die Darstellung nicht an dem Faden einer Romankomposition fort. In die Handlung die vom Anfang an eingeleitet wird weben sich episodisch kleine Novellen ein, die, rein außerlich betrachtet, auch einen andern Inhalt haben konnten. Und am Schluß wird der Leser überrascht von einer angehängten Er­zählung, die wie etwas ganz Neues im Roman auftritt. Steffen

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leitet diese Erzählung so ein: «Es soll jetzt noch die Ge­schichte eines Menschen erzählt werden, mit dem Aladar zu­sammenkam, damit aus ihr geahnt werden kann, wie durch den neuen Freund sein ganzes Sein auf eine hohe Stufe geho­ben wurde.»

Aladar ist eine Persönlichkeit, die vom Anfange den Leser tief beschäftigt: eine Hauptfigur des Romans. Der neue Freund erscheint überhaupt erst am Schlusse.

Albert Steffens Vergeistigung der Kunst kann nun beson­ders an solcher Art der «Komposition» empfunden werden. Man fühlt sofort, wenn man die «angehängte» Erzählung liest, aus der besonderen Eigenart dieses Dichtergenius heraus deren künstlerische Notwendigkeit.

Für Albert Steffen sind in der «Bestimmung der Roheit» die dargestellten Vorgänge wie die künstlerischen Mittel, durch die auf eine hinter diesen Vorgängen schaubare Geist-Welt gedeutet wird. Das Deuten ist aber kein symbolisches, sondern ein solches, wie es die Farben der Pflanzen, wie es das Glänzen der Gesteine im Verhältnis zum Geiste entfalten.

Und aus der Welt, in die man schaut, wenn man die Schön­heit des Dargestellten auf sich wirken läßt, treten die Men­schen heraus, die in der Kunst Albert Steffens vor uns stehen.

Steffens Stil wird damit zu demjenigen, der eine Darstel­lung künstlerisch wie einen physischen Boden zu entfalten vermag, den die Persönlichkeiten, die auftreten, aus der gei­stigen Welt heraus betreten.

Das ist, was man als die leuchtende Originalität Albert Steffens schon in der «Bestimmung der Roheit» empfindet.

III

Ein Jahr nach der «Bestimmung der Roheit» 1913 erscheint Albert Steffens nächster Roman «Die Erneuerung des Bun­des». (S. Fischer, Verlag, Berlin 1913.) Der Dichtergenius dringt nun in das Menschenleben, indem die Seele die schauende

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Kraft der Phantasie sowohl nach der Weite wie nach der Tiefe erkraftet. In die Wegite, indem sie das Schicksal vieler Menschen, die durch das Leben in Zusammenhang stehen, in ihren Bereich zieht. In die Tiefe, indem sie die in diesem Schicksal waltenden Mächte da zu erforschen sucht, wo das Menschenleben aus den geistigen Quellen des Daseins quillt.

Von einer Sage nimmt die Phantasie ihren Ausgang. Ein Mann mit seinen Söhnen war einst aus dem hohen Norden in tiefer liegende Gegenden gezogen. Die Verhältnisse der Ansiedelung führten dazu, daß nach einiger Zeit ein Teil der Nachkommen des Mannes in lichter, freundlicher Gegend lebt; ein anderer in der Nähe, aber in einem elenden Erdge­biet, wo die Seelen veröden, die Geister erniedrigt werden und die Moral der Versumpfung anheimfällt.

Ein leuchtendes Bild stel]t der Dichter da hin, wo diese Menschen der gemeinsamen Abstammung geführt werden, die Einen zu Verhältnissen, in denen das Leben gedeihen kann, die andern zu solchen, in denen es verkommen muß. Einer der Nachkommen stieg Tag für Tag die Höhe hinan, in der er das Sonnenlicht in seine Seele aufnehmen konnte. Er war damit fern dem Gebiete, in dem seine Verwandten dem Elend des Lebens verfielen. Aber der Höhenstieg war gefährlich. Die Dünste der moorigen Gegend, die das Leben verschlang, verbreiteten sich nach oben, und im Genusse der Sonne drang todbringend das Nebelmeer heran. Bei einem der Höhenstiege starb das Weib des Sonnensuchers. Aber sterbend hinterließ sie ihm eine Vision: sie selbst mit einem Kindlein auf ihrem Arm. Und sterbend sagte sie ihm noch:

male uns und stelle das Bild «unter der Linde» auf. Da ent­stand denn um den Ort, der durch das Bild Kraft erhielt, eine freundliche menschliche Ansiedelung. Die Nebel des benach­barten Moores mieden die Gegend, in der die Kraft des Bildes wirkte. Sonne waltete da, wo diese Wirkung vorhanden war.

Wie Menschen-Innigkeit Naturwirkungen in tiefliegenden Kräften durchpulst, das stellt der Dichtergeist wunderbar Stimmung schaffend an den Anfang seiner Schöpfung.

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Dieser Dichtergenlus hat im geistdurchtränkten Suchen seiner Sinne die Natur; er hat im geistgetragenen Suchen der Seele durch die Natur hindurch das Göttlich-Geistige ge­funden.

Ein Altertumsforscher hat in seiner Sammlung die darge­stellte Sage. Er ist ein Angehöriger der Familie, auf die sich die Sage bezieht. Seine eigenen Vorfahren sind es, die her­untergezogen sind aus dem Norden, die sich dann im Weiter­leben so entwickelt haben, daß der eine Teil in schönem Ge­biete ein menschenwürdiges Dasein haben kann, der andere aber im Natursumpfe zu einem Leben im moralischen Sumpfe verurteilt ist:

So stehen sich, benachbart, verwandte Menschengruppen gegenüber. Die Lebensverhältnisse haben ihnen nach Leib, Seele und Geist ein völlig entgegengesetztes Gepräge ge­geben. Aber das Leben bringt sie in Beziehung. Zusammen­hänge zwischen der einen und der andern Menschengruppe entstehen. Was da erlebt wird, das beobachtet der Dichter, das stellt er mit der Weite des Gesichtskreises, mit der Tiefe der schauenden Phantasie so dar, daß man lesend überall ei­nem Darsteller folgt, der da, wo die Natur sich in dem offen­bart, was sie aus den Sterngebieten empfängt, das Geistige lebendig wirksam in den Bereich seiner Beobachtung auf­nimmt.

Ein Bild von seltener Klarheit steht da. Die Ehe wird ge­schildert zwischen einem Manne, der der bösen Gegend und einem Weibe, das der guten Gegend entsprossen. In den rätselvollsten Wandlungen des Charakters bei Mann und Weib entfaltet sich diese Ehe. Mit eindringlichem Schauen dessen, was aus der Tiefe des Seins herauf in das Menschen­leben wirkt, verfolgt der Dichtergeist diese rätselhaften Wand­lungen, und was er aus der Sinnigkeit der Naturanschauung und aus der Eindringlichkeit der Geistbeobachtung in den Seelen der Menschen findet, das ist selbst rätsellösendes Leben.

Die Ehe führt zu dem Punkte, wo die Frau «Wissende» wird, wo ihr - gerade zur Osterzeit - aufgeht, wie der Mensch

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ein «Sonnenkind»ist, wie er sein Wesen von der Sonne hat, und es nur ins Erdgebiet hereinträgt. - Die Kraft des Bildes, von dem die Sage erzählt, wird in der Frau lebendige Wesen­heit; solche lebendige Wesenheit, die die Seele, die von ihr ergriffen wird, in die Geistwelt entrückt.

Eine wunderbare geistige Magie waltet über dieser Stelle des Romans. Novalis' «magischer Idealismus» leuchtet so auf, wie er durch einen wahren Dichter ein Jahrhundert nach Novalis leuchten kann.

So spricht die Frau: «In diesen Matten ist schlafender Geist, der wartet, um in die Herzen der Menschen zu ziehen und dort zur heilenden Liebe zu werden. Wie herrlich muß es sein, mit den Wesen vereint zu werden, die einträchtiglich die grüne Pflanzendecke hervorzaubern. Solche Freunde wer­den einmal alle Menschen sein. Ja, du und ich und alle haben die Sehnsucht, zusammenzukommen, wie sehr wir auch mei­nen, uns feind zu sein ... Warum nur klagen wir uns immer an, daß wir niemand etwas geben können! Kann denn der Mensch, den wir lieben, auf die Matte mit den Blumensternen schauen, ohne daß er seliger wird? 0 könnt ich solch ein Jün­ger sein! Ist's möglich, einen andern Wunsch auf Erden zu haben?»

Und der Dichtergenius spricht, indem er das Verwoben-sein seiner Seele mit dieser Geist-Natur-Sprache der «wis­send Gewordenen» offenbart, in der «Pilgerfahrt zum Le­bensbaum» tiefe Worte. Er ist durch lebendigstes Versenkt-sein in das Naturweben versetzt. Da spricht er: «Nun begriff ich plötzlich die Urpflanze. Ich sah, wie die Pflanze keimt, wächst, blüht und Frucht trägt, um aus dem Samen immer wieder neu zu erstehen, durch ein ganzes Weltenalter hin­durch, nach Naturnotwendigkeit, und wie sie dabei die Erde mit dem Himmel verbindet. Ich entdeckte in der Anordnung der Blätter, in der Formung der Blüten, im Emporsteigen und Verdunsten der Wassermenge, im Erblühen und Erbleichen der Farben einen vielfältigen Rhythmus: Töne, Kontrapunkte und Akkorde, Reigen ungezählter Geister.»

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Wer diese Worte in der «Pilgerfahrt zum Lebensbaum» liest, und sich dann erinnert an die angeführten Stellen im Roman, der empfindet an diesem Dichtergeist, wie aus Gei­stertiefen auftauchen das Licht von Novalis' «Magischem Idealismus» und Goethes «Anschauender Urteilskraft».

Die zweite Hälfte des Romans «Die Erneuerung des Bun­des» kann man nur empfinden als echte Geistes-Pilgerschaft der künstlerischen Phantasie. Ein Knabe, der in der Verbin­dung zwischen den Angehörigen der lichten und der dunklen Abstammungsströmung seine Herkunft hat, wird auf seinem Erziehungswege dargestellt. Der Aufblick zum Geiste läßt Albert Steffen tiefe Einblicke in Herz und Seele dieses Knaben tun. Als begabten Knaben finden wir ihn, da er die Schul­Laufbahn beginnt. Da tritt in das junge Leben verheerend ein Ereignis ein. Ein Lehrer bestraft den Knaben. Der sieht in der Seele vor sich die «vertrocknete Knochenhand» des alten Schulmeisters. Das ganze Wesen des Kindes ändert sich. Es nimmt zwar das zu Lernende voll auf, kann aber, wenn es ge­fragt wird, nichts aus sich herausbringen. Die Nuancen in der Wandlung dieser Kinderseele konnte Albert Steffen so, wie er es tut, nur schildern, weil er in der «Erneuerung des Bundes» ein Spiegelbild der Geistes-Pilgerschaft, die er damals voll-brachte, gibt.

Da ist Hartmann, der Bruder des Großvaters des Knaben. Hartmann ist ein Mensch, vor dem die Zerstörung einher­geht, die er ausstrahlt. Er bewirkt diese Zerstörung nicht in bewußter Absicht. Ein weibliches Wesen, das seinethalben in den Tod geht, der Bruder, der seinethalben zum unwahren Menschen wird, und vieles andere, knüpft sich an sein Dasein und Handeln. Er sieht sich als den Mittelpunkt einer Welt von Zerstörung. - Das alles kann nur eine dichterische Phantasie schildern, die im Gebiete des Geistigen hellschauend gestan­den hat und die Menschenherzen von diesem Standpunkt aus betrachtet. Da dies die Phantasie Albert Steffens vermag, wirkt selbst eine so komplizierte, in unerhörten Extremen des Le­bens sich bewegende Gestalt wie Hartmann innerlich wahr.

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Und er bleibt wahr, da er sich wie ein Einsiedler in seine Be­Sitzung einschließt, um nur der Zerstörung von Welt und Le­ben sich zu widmen. Denn sein Leben hat ihn dazu gebracht, zu meinen, die Welt sei an dem Punkte ihrer Entwickelung angelangt, von dem aus sie der Zerstörung entgegengehen muß. Und da er die Summe aller menschlichen Zerstörungs­kräfte in sich trägt, möchte er sich zum Werkzeug des Zerstö­rungsvorganges machen.

Und doch wieder: dieser harte Mensch kann fromm wer­den, wenn er mit dem Knaben, dessen Erziehungsweg ange­deutet, und dem Schwesterchen dieses Knaben zusammen ist:

Die Geistigkeit der Kinderseele in ihrer Wirksamkeit steht leuchtend da im Verkehre zwischen Hartmann und den beiden Kindern seiner Verwandten.

Ein Blinder, der durch Hartmann zu Schaden gekommen ist, weil dieser seine Besitzung durch einen bissigen Hund ab­geschlossen, und der Blinde in den Bereich dieses Hundes ge­kommen ist, soll durch eine Schar wild-leidenschaftlicher Menschen gerächt werden. Während diese Schar sich an-schickt zur Vernichtung Hartmanns, hören wir aus des Blin­den Munde die Worte: «Ich sehe, wie sich ein Heer von See­len zum Fluge in die Höhe hebt. Ich schaue, wie ihm ein ande­res entgegenströmt und es in wirren Massen zum Abgrund stürzt.» - So führt Albert Steffens Phantasie den Menschen an die Geistwelt heran, um mit den Strahlen dieser Welt dessen innerstes Wesen zu beleuchten. Plastischer erscheint das im «Viergetier »; geistig empfindet man es schon in voller Kraft in dieser zweiten Hälfte der «Erneuerung des Bundes».

In tief ergreifender Weise wirkt der Schluß des Romanes. Aus der Schar verkommener Menschen heraus, spricht zu ei­nem andern der «Blinde»: Höre, was eben durch meine Seele ging--- - Der Erlöser hing am Kreuze; ihm zur Rechten und zur Linken die beiden Missetäter. Vom Himmel sank die Fin­sternis herab in großen Kteisen auf die Völker, die sich stau­ten um den Fels von Golgatha. Sie schrien: «Wenn du der Auserwählte Gottes bist, so hilf dir selbst.» Dann läßt der

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Dichter das Gespräch der beiden Missetäter nut Jesus folgen.

- Und dann folgt das weithin strahlende Bild: «Am Fuß des Felsens standen zwei bejahrte Männer, altbekannte Freunde. Denen war es jetzt, als ob ein lichtes Wesen niederschwebte auf das Kreuz des einen Mörders und dessen Geist auf sanfte Art entführte, zu gleicher Zeit jedoch ein teuflisch geringeltes Getier in einem pfeifenden Winde dahergefahren käme und die Seele des andern Mörders dem krampfigen Leibe entrisse.» Die Freunde gingen auseinander. Sie machten in den nächsten Tagen für ihre Seelen schwerwiegende Erlebnisse durch. Und was sie nun fühlen, drückt der eine mit den Worten aus: «Ich fühle gerade so wie du. Drum laßt uns einen Bund stiften. Wir wollen uns geloben, niemals den andern in die schönen Geistesländer nachzufolgen, sondern ewig bei dem Mörder in der Finsternis zu bleiben.»

Sie hatten erkannt, wie Menschen wie dieser Mörder nicht auf die Irrtumsbahnen kommen könnten, wenn sie selbst an­ders wären. Und während sie glaubten, zur Sühne bei dem Mörder bleiben zu müssen, stand «ein Dritter», den sie nicht kannten, neben ihnen und sprach: «Lasset mich mit in eurem Bunde sein.» Christus war der Dritte. In seinem Lichtreich finden sich die geprüften Seelen.

Mit tiefer Ehrfurcht vor den Daseinsmächten, die im Men­schenwesen walten, legt man diesen Roman aus der Hand.

Albert Steffen hat ihn als das Bild geschaffen seiner Geistes­Pilgerfahrt. Und was die Phantasie auf dieser Pilgerfahrt er­lebt, das wird von dem dichtenden Herzen in Freudigkeit er­lebt. Geisteswelten in Freudigkeit erlebt, sind die Offenbarun­gen der Schönheit. Schöne Geistigkeit, sie spricht aus Albert Steffens Roman. Denn wer so den Geist erlebt, wie er, der kann schildern, was vor den Sinnen schön oder häßlich ist: Es wird schön in dem Lichte, das er darüber zaubert.

(Damit schließe ich diese Darstellung über Albert Steffens erste Dichterzeit. Ich habe vor, nach kurzer Zeit die Betrach­tung fortzusetzen, die sich dann auf Albert Steffens spätere Schöpfungen erstrecken soll.) -

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«DER SPIEGELMENSCH» VON FRANZ WERFEL

I

Eine wirkliche Dichtung, die in der Welt der menschlichen Geisteserlebnisse sich bewegt, muß heute das tiefste Interesse erregen. Für Franz Werftis Trilogie «Spiegelmensch» (Kurt Wolff Verlag, München) darf dies gesagt werden.

Die Entwickelung einer Menschenseele durch drei Stufen der Welteinsicht steht vor dem, was Goethe das sinnlich-übersinnliche Schauen genannt hat. Vielleicht treffe ich, was sich diesem Schauen durch Werfels Dichtung darstellt, am besten, wenn ich frei schildere. Ein Mensch will die Welt, in die ihn das Leben hineingestellt hat, verlassen, weil er in ihr nicht wirklich Mensch sein kann. So wie diese Welt ist, so verkümmert sie für seine Empfindung den Wesenskern des Menschen. Sie läßt ihn nicht Dasein gewinnen. Er will in ein Kloster eintreten. Die schon innerhalb dieses Klosters ihr Le­ben verbringen, um im Abgestorbensein gegenüber der täu­schenden Welt die wahre durch sich zu erbilden, bedeuten ihin, daß er eine schwere Bürde auf sich lädt. Man rät ihm ab, den Sprung ins Ungewisse zu tun, weil er nicht gewachsen der Gefahr erscheint. Er läßt sich nicht abhalten. Man spricht ihm von drei Schauungen, durch die der Mensch sich zum Er­leben in der geistigen Welt hinaufarbeitet. Er tritt den Weg an, der nach den zwei ersten Stufen zur dritten führt, auf der der «Geist im Menschen» das «geistige Wesen der Welt» schauend erreicht.

Im ersten Teil der Trilogie wandelt sich durch die Anre­gung äußerer Mittel (Einsamkeit, Beschauen der eigenen Ge­stalt im Spiegel, wo sie physisch ähnlich, geistig durch das verwandelte Anschauen unähnlich ist) die Seelenschau so, daß der Wegsuchende wissen lernt, wie die Welt, die er bisher erlebt hat, nur die Rückspiegelung seines eigenen Wesens ist. Er lernt wissen, was andere nicht wissen, daß der Mensch, der keine innere Entwickelung durchmacht, glaubt eine Welt vor sich zu haben, in der Tat aber nur vor einem «Spiegel» steht.

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Hinter dem Spiegel ist die Welt: Was der Mensch sieht, ist nur sein eigener Inhalt, der ihm vom Spiegel zurückgeworfen wird: Der Mensch lebt über diese Spiegelwelt so lange in Täuschung, als er nicht wenigstens innerhalb der Spiegelbil­derwelt sein eigenes enges Menschenselbst als Wirklichkeit ahnen lernt. Dazu wird Thamal, der Wegsucher, gebracht. Aus dem in seiner Zelle aufgestellten Spiegel springt dem Träumend-Wachenden sein ihm ähnlich-unähnliches Spiegel­bild als wirkliches Wesen entgegen. - Er ist nun «in sich»; aber dieses «Ich-sich» ist außer ihm. Um Er selbst zu sein, hat er erst zu sich kommen müssen; aber nun führt ihn dieses er­rungene Selbst wie ein Anderer.

Im zweiten Teil der Trilogie «Eins ums Andere» führt nun der Spiegelmensch, welcher der Andere und doch erst wahr­haft Er selbst ist, den Wegsucher durch die Welt, in der er frü­her glaubte wirklich gewesen zu sein, in der er aber doch nur mit seinen Illusionen war. Er trifft wieder zusammen mit den Menschen, mit denen ihn das Schicksal zusammengeführt hat; er macht mit ihnen Erlebnisse durch; doch er erlebt jetzt anders als früher. Er erlebt wie ein Menschenwesen, das in steigender Art seinen tieferen Seelen-Inhalt bewußt aus sich heraus setzt; seine Welt wird reicher; der Abgrund zwischen ihm und den Andern immer breiter. Sein Bewußtsein ver­dichtet sich im Erleben. Er wird reif, sein eigener Richter zu werden. Er sieht, was «gerichtet» werden muß in seiner Seele. Der neue Mensch, der den alten schauen kann, spricht das Todesurteil über diesen alten aus, der nicht schauen konn­te, aber der doch bisher gehandelt hat.

Im dritten Teil ist der Wegsucher wieder mit dem verdich­teten Bewußtsein, als einer, der seinen vorigen Menschen in Selbstgerechtigkeit ausgelöscht hat, in der Einsamkeit vor dem Spiegel. In seiner Umgebung sind die, in deren Mitte er aufgenommen werden wollte. Aber der Spiegel ist jetzt kein Spiegel mehr. Er ist zum «Fenster» geworden.

«Thamal (berührt den Spiegel). Mächtige Zaubererschüt-terung. Mit einem Schlag hat sich der Spiegel in ein giganti­sches

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Fenster verwandelt. Von allen Seiten strömt rasendes Tageslicht in die Halle. Hinter dem Fenster eine stark beweg­te, trunkene Farben- und Formenwelt, die für den Zuschauer jene höhere Realität bedeuten soll, die nur den Personen auf der Bühne zugänglich ist. Mönch: Thamal (kehrt sich geblendet um): Mönch (sehr feierlich):

Nun bist du aus des zweiten Lebens Nacht

Zur Schau der Morgen-Wirklichkeit erwacht.

Denn hinter dir versank die Spiegelwelt,

Die uns die Fratze gegenüberstellt

Der eigenen Person in jedem Wesen,

Die Welt, in der die Wenigsten genesen. -

Wir alle gingen durch, doch was wir sahn

War nicht, was wir zu sehn, zu lieben meinten.

Denn jedes Wesen ward zu unserm Wahn,

Wir blieben heil, doch jene Opfer weinten.

(Pause)

Wir waren einst, wir alle, solche Toren,

Und haben hier in einer alten Nacht

Das falsche Ich befreit, das wahre umgebracht,

Und schließlich unser Spiegelbild verloren.

Nun bist auch du zum zweitenmal geboren!

Neu spannt dein Lebensnerv sich und befreit

Von dumpfrr Ehrsucht, wüstem Widerstreit.

Du tauchst aus Tod, aus ungewissen Leiden,

Aus allem auf, was feig und halb und vag, -

Und lernst mit freien Blicken unterscheiden

Die kranke Dämmerung vom reinen Tag!

Thamal

(in die kaleidoskopisch immer neu durcheinander wandelnde Landschaft)

Ich sehe - Ich sehe - Ich sehe! -

228

Abt

(tritt Zu ihm)

Der jüngste bist du der Wiedergeburt:

Drum nimm hier des Amtes goldenen Gurt!

Trüb taucht dir das Haupt von menschlichen Stunden,

So bist du zumeist noch der Maja verbunden.

Erst mußt du in Sorgen, Umsichten und Pflichten

Die Seele auf selbstlose Ziele richten,

Dann magst du versuchen die felsigen Stufen

Der Liebe zu steigen, die her dich berufen,

Um endlich die letzte Vollendung zu finden

Im süßen Erlöschen und Ausdirverschwinden.

(stark)

Nimm denn!

Thamal

(legt den Goldgürtel an)

Abt und Mönch

(neigen sich vor ihm)

Indem die sechsundzwanzig Mönche ungerührt und mild grinsend hockenbleiben

schließt die magische Trilogie:»

II

Eine Dichtung muß als Kunstwerk genommen werden. In Werfel ist dichterische Kraft: Deswegen kann man beim Spie­gelmenschen damit beginnen, ihn als Kunstwerk zu nehmen. Aber man wird, wenn man dies mit dem allerbesten Willen vom Anfang an getan hat, im weiteren Verlaufe, aus der künstlerischen Stimmung immer wieder herausgeworfen. Am Ende möchte man mit der Stimmung, die man von den sechs­undzwanzig «ungerührten, mild grinsenden, hockenbleibenden»

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Mönchen gewonnen hat, wieder in die Dichtung zu­rückkehren, und das Ganze humoristisch nehmen. Doch das geht nun auch wieder nicht. Da entsteht die unerlaubte Ko­mik von Karikaturen, die in ihrem Handeln vergessen, daß sie Karikaturen sind, und Wirklichkeiten spielen.

Man will aber nun doch - ja, was will man denn?! Man er­mahnt sich: Sei kein Philister, denn Franz Werfel ist ein Dich­ter. Man bemüht sich, die «anschaulichen Bilder» der Dich­tung zu fassen. Denn solche gibt doch der Dichter. Aber man sieht sich zuletzt immer wieder erfüllt mit blutleeren Abstrak­tionen, denen die Kleider von Menschen angedichtet sind. Man möchte in die dichterische Intuition hinein - und man wird auf Schritt und Tritt zum Gebrauche seines Intellektes gedrängt, der symbolisierend eine Welt gestalten soll, die nicht da ist. Konstruktion zu einem Haus, zu dem das Bau-material fehlt. Skizzen, denen der Keim zu Bildern fehlt. Ich bin ganz unzufrieden mit mir. Denn eigentlich interessiert mich dieser «Spiegelmensch» doch. Nur wird mir das Inter­esse immer wieder durch das ausgetrieben, was ich geschil­dert habe.

Aber vielleicht habe ich die ganze Sache doch noch gar nicht begriffen. Drum noch einmal frisch ans Werk mit einer andern - wie nennt man's doch heute - «Einstellung». Zwar muß man da noch einmal durch alle Geschmacklosigkeiten, Trivialitäten und Schlimmeres, durch den unmagischen zwei­ten Teil der «magischen» Trilogie durch. Aber wer sich heute an dergleichen stößt, ist eben ein unverbesserlicher Philister. Drum sag' ich lieber, wenn der Wegsucher Thamal eben ein Kerl ist, der in seiner Art auch schon in der Maja geschmack-los und ein wenig unsauber erlebt: warum sollte es dem Dra­matiker verwehrt sein, ihn durch Geschmacklosigkeiten zu schleppen, wenn er aus dem «Eins» der Maja ums «Andere» der Geist-Wirklichkeit herumkollert?

So sei denn nochmals angesetzt. Es laufen doch heute in der Welt so viele «Magier» und «Mysten» und gar «Okkul­tisten» herum, die zwar mit den allzumenschlichen Seelenge­weben

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die Maja ganz derb lieben, dafür aber augendrehend und kinnverzerrend für mannli:::che und weibliche Schwärmer Koketterien von erhabenen «Erkenntnispfaden» plaudern, auf denen man hinanklettert, daß die Gedanken schwindelig werden: - Könnte denn Werfel nicht einen solchen Okkulti­sten haben karikaturenhaft zeichnen wollen? Dann hätte er als Künstler wohl recht, wenn er ein dergleichen Abstraktum, das doch nur unbeobachtet konkret wird, als Karikatur zeich­net, die, wohl oder übel, zuweilen aus ihrer Rolle fallen muß. Nur bleibt da wieder unverständlich, warum dann auch die andern Personen, die doch - vom Majastandpunkt aus - ganz gute Bürger und Bürgerinnen sind, sich in diesem labilen Gleichgewicht zwischen Abstraktum und Mensch halten müs­sen: Wenn schon der Thamal alle Augenblicke künstlerisch umfällt: warum purzeln denn auch die andern, die doch keine Miene machen, von ihrem Fall durch einen Zuruf «Steh' auf und sieh!» sich zu erheben? Es scheint beim besten Willen nicht zu gehen: Auch wenn man sich satirisch-humoristisch «einstellt», stört die Umgebung des Thamal:

Und erst der Thamal selbst! Wenn er satirisch genommen werden soll? Dann könnte er doch nur das Zerrbild des «Ma­giers» sein. Aber Zerrbild hin - Zerrbild her - dieser Thamal «geht» durch drei Teile einer Trilogie und - steht dabei auf dem Kopfe. Das wird selbst der magischen Koketterie zu bunt:

Thamal steht auf dem Kopfe der intellektuellen Allegorie. Und diese ist ernsthaft dem nachgebildet, was in mystischen Leitfäden als der «Entwickelung spfad des Menschen» ge­schildert wird; Thamal kann also doch nicht als satirisch-hu­moristische Figur genommen werden. Als solche müßte er auf den beiden Maja-Beinen seinen Weltenweg durchwandern, und als Pseudo-Magier das Ende erreichen. Er müßte dann die Allegorie als Scheingebilde kopfwärts tragen; in der Dich­tung aber ist er auf die Allegorie gestellt, die seinen Kopf zum Stützpunkt macht:

Es scheint durchaus berechtigt, daß man über den «Spiegel-menschen» so hin- und herprobiert, wie man ihn eigentlich

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zu nehmen hat. Sollten sich unbedingte Verehrer von ihm finden, so werden sie sagen: der weiß eben nicht, worauf es ankommt, der so herumprobiert. Er hat die Dichtung eben nicht verstanden.

Dem aber sei erwidert: Wie diese Dichtung auch zu neh­men ist; ein ernsthaftes Erfassen der Geisteswelt ist in die künstlerische Gestaltung der Personen und Handlungen nicht ausgeflossen. Und das eben wollte ich dadurch veranschauli­chen, daß ich zeigte, man könne sich über den «Spiegelmen­schen» aus den verschiedenen Ecken heraus verschiedene Ge­danken machen. Man wird dazu angeregt, weil allerlei Ausge­dachtes sich als Kunstwerk geben will. Wäre die dichterische Gestaltungskraft - die ich in Ansätzen überall zugebe - nicht ganz und gar verkümmert durch die intellektuelle Konstruk­tion, so fühlte man sich auch nicht hingelenkt zu den «Wenn» und «Vielleicht» des klügelnden Verstandes.

Man könnte sogar versucht sein, die ganze Dichtung unter Verwandlung der Vorgänge von hinten nach vorne umzu­dichten. Thamal könnte zuerst durch das «Fenster» schauen. Der Mensch ohne alle mystische Entwickelung tut dies. Er hat noch sein Ich nicht gefunden. Er nimmt die Welt, die er sieht, als Wirklichkeit. Er findet dann, wie zum «Fenster» herein­kommt ein Wesen, ihm ähnlich-unähnlich, das ihm zunächst unverständlich ist: Es führt ihn durch den zweiten Teil der Trilogie «Eins ums Andere». Er fühlt sich immer mehr in dieses Wesen hinübergezogen; zuletzt tritt er ganz in dasselbe ein. Er hat damit sein wahres «Ich» gefunden. Das aber trägt die Geistwelt in sich, und es wandelt das «Fenster» in den «Spiegel», der jetzt Wahrheit offenbart, weil er, was Bild ist auch als Bild zeigt, während der währe Mensch sein Wesen und mit ihm das Weltwesen nicht durchs Fenster ansieht, son­dern es vor dem Spiegel erlebt. Wer in dieser Richtung sich entwickelt, dem ist das Gesehene Maja, ob er es in Reflexion aus dem Spiegel, oder direkt durchs Fenster sieht.

Die wirkliche geistige Entwickelung des Menschen geht auf ganz anderen Wegen vor sich als auf dem, der in dieser Tri­logie

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dargestellt ist. Sie hat Anfang und - zwar nicht Ende -aber Fortgang, der von innerer Notwendigkeit getragen ist. Und es ist dies die Notwendigkeit eines Erlebens, das gestal­tet, zum Kunstwerk werden kann. - Wer aber bloß zum Ge­danken dieses Erlebens kommt, der unterliegt dem Schicksal des Gedankens. Kein Gedankenzusammenhang deckt sich so mit dem Erlebnis, daß man das Gedanken-Symbol des Endes nicht auch zu dem des Anfangs, und umgekehrt, machen könnte.

Und schließlich ist ja im «Spiegelmenschen» der «Spiegel» im Anfang noch mehr «Fenster», als das «Fenster» am Ende, das eigentlich wirklich nur ein «Spiegel» ist. Da steht die sze­nische Bemerkung: «Hinter dem Fenster eine stark bewegte, trunkene Farben- und Formenwelt, die für den Zuschauer jene höhere Realität bedeuten soll, die nur den Personen auf der Bühne zugänglich ist.» Mag sein, daß Thamal die Bedeu­tung dieser trunkenen Farben- und Formenwelt durchschaut. Wenn sie ihm eine höhere Welt enthüllt, dann kann es auch der «Spiegel», der ihm das eigene Antlitz entgegenhält.

Ich hoffe, daß diese Darstellung nicht als eine «abfällige Kritik» gedeutet wird. Was ich hier geschrieben habe, ist von Interesse für die Dichtung Werfeis eingegeben. Dieses Dich­ters künstlerische Kraft ist bedeutend. Schätzbar ist es, daß er mit dieser dichterischen Kraft in das Element der geistigen Entwickelung der Seele untergetaucht ist. - Doch wenn der Gegenwartsmensch an das Geistige und sein Leben heran­kommt, dann wird er zum Begriffsgestalter, Symboliker, Alle-goristen. Auf diesem Wege etstirbt aber der Geist. Der Ge­danke ist der Leichnam des erscheinenden Geistes. Die Menschheit brauchte den Intellektualismus, um das intuitive Leben in der Freiheit zu erringen, das nur wesen kann im un­lebendigen Geist, im Begriffsgeist. Die Kunst aber bedarf des lebendigen Geistes. Bei Homer ist es nicht nur Redensart, wenn er die «Muse» sprechen läßt. Klopstock ließ so noch die «unsterbliche Seele» sprechen. Goethe sprach es nicht aus; aber, wer sein Erleben kennt, der weiß, wie er es emp­fand.

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Eine Dichtung, die in das Geistige eindringt, bedarf wieder des Erlebens im Geiste. Das muß doch kommen, wenn die Kultur von dem gegenwärtigen toten Punkte aus aufwärts kommen will. -Was ich gesagt habe,widerspricht nicht der Tat­sache, daß Werfel doch zu diesem Aufwärtskommen viel getan hat. - Ich konnte meine Zustimmung zum «Spiegelmenschen» nur durch meine Einwände ganz zum Ausdrucke bringen.

EIN NEUES BUCH ÜBER DEN ATHEISMUS

Fritz Mauthner hat im Jahre 1910 ein «Wörterbuch der Phi-losophie» erscheinen lassen. Er hat in diesem Buche in alpha­betischer Anordnung allerlei Betrachtungen über Begriffe nie­dergeschrieben, die gewöhnlich in der Philosophie behandelt werden. Das Licht, in welches diese Begriffe gerückt werden, ist dasjenige, das der Verfasser sich selbst und der Welt vor Jahren in seiner «Kritik der Sprache» glaubt angezündet zu haben. Nun liegen zwei Bände eines neuen Werkes Fritz Mauthners vor: «Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande»(1922, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart und Berlin).

Wenn man nun nicht schon durch den Gebrauch der Spra­che gegen Mauthner ungerecht werden will, so muß man beim Besprechen seiner Werke vor allem aus diesen selbst erst die Art ersehen, wie er gewisse Worte gebraucht. Man beginnt die «Geschichte des Atheismus» zu lesen. Im «Vorwort» ste­hen als erste Sätze: «Damit der Leser nicht bis zum letzten Abschnitt des vierten Bandes zu warten brauche, um das letzte Ziel dieses Werkes kennen zu lernen, will ich gleich an dieser Stelle ein Glaubensbekenntnis ablegen; ich möchte diejenigen, die mir vertrauen, auf die helle und kalte Höhe führen, von welcher aus betrachtet alle Dogmen als geschichtlich gewor­dene und geschichtlich vergängliche Menschensatzungen er­scheinen, die Dogmen aller positiven Religionen ebenso wie die Dogmen der materialistischen Wissenschaft, auf die Hö­he,

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von welcher aus übersehen Glaube und Aberglaube gleich­wertige Begriffe sind. Was ich zwischen den Zeilen des nie­derreißenden Buches aufbauend zu bieten suche, mein Kredo also, ist eine gottlose Mystik, die vielleicht für die Länge des Zweifelsweges entschädigen wird.»

Der «Sprachkritiker» Mauthner könnte einem etwas un­sanft auf die Finget klopfen, wenn man nun so ohne weiteres über dieses «Glaubensbekenntnis» Bemerkungen machte. Er könnte sagen: man sei eben in «Abhängigkeit von der Spra­che». Und wenn er dazu, wie er bei einem Anlasse tut, auch noch den Satz fügte: «... Sprache, worunter aber auch die ge­meinsame Sitte und Wissenschaft zu verstehen ist», so könnte er einem sogar noch auf den Mund klopfen.

Deshalb will ich bei einem Schriftsteller, der ein «Wörter­buch» geschrieben hat, zunächst einmal nachsehen, was er selbst über «Glauben» zu sagen hat, ehe ich über sein «Glau­bensbekenntnis» eine Bemerkung machen will. Nun schlage ich Seite 438 des ersten Bandes des «Wörterbuches der Philo­sophie» auf. Da endet der Artikel «Geschlecht» und beginnt der über «Glück». Über das «Glauben» steht da nichts. Glau­be steht in einem gewissen Gegensatz zum «Wissen». Also suche ich auf Seite 582 (des zweiten Bandes). Da aber folgt auf die «Wertgefühle» gleich das «Wunder». «Wissen» und «Wissenschaft» haben in diesem philosophischen Wörterbuch keine eigenen Artikel.

Wenn ich dazu einen Gedanken aussprechen wollte, so müßte er doch auf alle Fälle pedantisch werden. Ich habe ja dieses Wörterbuch zu oft da und dort immer wieder aufge­schlagen und gelesen, um nicht zu wissen, daß der Sprachkri­tiker Mauthner «unbedeutendere» Begriffe bei «bedeuten-den» abhandelt. Und so suche ich bei «Wahrheit». Und da steht auf Seite 543(2. Band): «Das Bewußtsein, daß der Glau­be sich auch auf das Absurde beziehe, ist vielleicht am kras­sesten ausgesprochen in einer katholischen Schrift, die Paulus Sarpius zitiert ... Dieser Gegensatz zwischen Glauben und Wahrheitserkenntnis oder Wissen wird aber nicht allein von

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der Wortgeschichte des englischen truth überbrückt. Ich will gleich hier bemerken, daß unser glauben (althochdeutsch gilou­bon) so gut wie identisch ist mit geloben und daß dieses geloben in seiner ältesten nachweisbaren Bedeutung ein durch ge ver­stärktes loben, gut heißen ist. Vielleicht Übersetzung von pro-bare. Ja, was einzig und allein zugrunde liegt, wenn man ein Urteil für wahr erklärt, wenn man zu einem Satzeja sagt und nicht nein, das ist in diesem alten geloben oder glauben schon ent­halten. Loben, geloben heißt in den Nibelungen so viel wie un­ser verloben, das heißt feierlichja sagen.»

Aber jetzt bin ich in derselben Lage, in der ich unzählige Male war, wenn ich das Mauthnersche Wörterbuch aufge­schlagen und den oder jenen Artikel gelesen habe. Da wollte ich etwas über die «Sache» lesen; ich wurde sogleich von der Sache auf die Wortbezeichnung der Sache verwiesen. Wortbe­sprechung schloß sich an Wortbesprechung. Über außeror­dentlich Geistreiches ging es zu abscheulich Philiströsem, über sicher Festzustellendes zu oft komisch Gewagtem. Und dann -Schluß. Die «Sache» war über lauter Worterklärungen ver­loren.

Immer wieder fiel mir beim Lesen von Mauthners Schriften das Buch von Nietzsche ein über David Friedrich Strauß, den Philister und Schriftsteller. Und ich verzieh mir stets diesen Einfall. Ich hatte etwas zu «verzeihen». Denn ich schätze vie­les bei Mauthner: ein großes Wissen, ein doch oft gesundes Urteil, ein mutvolles Aussprechen des von ihm Gemeinten, und noch vieles andere. Aber «verzeihen»konnte ich mir, weil ja doch Strauß, den Nietzsche als «Philister» entlarvt hat, auch ein schätzenswerter Mann war.

Wenn ich nun nicht denken soll, daß Mauthner, indem er sein «Glaubensbekenntnis » ablegt, eigentlich meint, er wolle -im Sinne des Nibelungen-Sprachgebrauches - seine Ansicht «loben», zu ihr «feierlichja sagen», so komme ich durch seine eigene «Erklärung» nicht gerade sehr weit, wenn ich Gedan­ken formen soll über das, was er «zwischen den Zeilen des nie­derreißenden Buches» über eine «gottlose Mystik» sagen will.

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Aber auch dann hat man es nicht leicht, wenn man das «Auf­bauende», das in dem Buche nicht steht, vorläufig beiseite läßt, und sich an das «Niederreißen» hält, von dern so viel darinnen steht.

Mit diesem «Njederreißen» ist ja Mauthner doch nur ein Kind seiner Zeit. Diese hat alle Kraft verloren, um von dern abstrakten Denken zu einem wirklich erlebten Seeleninhalt zu kommen. Und nur ein solcher führt auch zu einem geistigen Weltinhalt. Man muß die geistige Realität erst in der Seele fin­den; dann bindet man sich mit dem eigenen Geiste an den Geist der äußeren Wirklichkeit. Kennt man das Denken nur als ab­straktes, das eine Wirklichkeit bloß abbildet, dann muß man den Geist der Welt verlieren. Denn in der bloßen Abstraktion führt kein Weg vom Gedankenbild zur Wirklichkeit. Diese Krankheit der Zeit hat nun Mauthner auf seine besondere Art ausgebildet. Er gibt sich nicht damit ab, wie andre Skeptiker das Denken zu untersuchen und dann zu zeigen, daß dieses ohn­mächtig ist gegenüber einem Erfassen der «wahren Welt»; er hält sich an die Worte, durch welche die Gedanken ausgedrückt werden. Er kann in den Worten erst recht nicht die «Sachen» finden, die andere in den abstrakten Gedanken nicht entdecken können. Er kann auf seine Art jeden Gedanken, durch den ein­mal Menschen unter dern Zwange des Erlebens an eine Wirk­lichkeit heranzukommen strebten, in denWorten suchen, durch die man ihn ausgedrückt hat. Er findet den Gedanken in den Worten nur schillern, und kann nun sagen: alles entfällt einem, wenn man eine «Wirklichkeit» aus einem Worte saugen will.

Aber damit geht man doch nur an allem Erleben der Wirk­lichkeit vorbei. Man untersucht die Bezeichnungen der Wirk­lichkeit und sagt: in diesen Bezeichnungen ist keine Wirklich­keit. - Ja, aber könnte Mauthner nun nicht erwidern: das wolle er doch gerade zeigen. Er wolle sagen: die Menschen denken in Worten und glauben damit «etwas» vom Wirklichen zu haben. Sie haben aber in den Worten nichts Wirkliches.

Ob doch Mauthner sich einmal völlig darüber auseinander­gesetzt hat: wie armselig eine Menschheit wäre, die in Worten,

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oder auch nur in Gedanken in seinem Sinne etwas Wirkliches hätte. Da sähe man nicht das Pferd, sondern den Gedanken, das Wort des Pferdes. Und durch diesen Gedanken, dieses Wort, die man sich vor das Seelenauge stellte, käme man ge­genüber dem Geistigen in die Lage, wie jemand, der vor seine physischen Augen eine undurchsichtige Scheibe hielte und da­durch nichts von den physischen Dingen sehen könnte. Wie gut ist es doch, daß man in den Worten nichts Wirkliches zu sehen braucht; man kann dadurch mit ihrer Hilfe das sehen, was sie bezeichnen.

Mauthner hat sich durch seine Zeit zum Skeptiker erziehen lassen. Nun wollte er die Skepsis noch tiefer begründen als an­dere. Er hat dieses getan, in dem er aus der tieferen Seelenre­gion der Gedanken in die oberflächlichere der Worte gegangen ist. Er hat sich gründlich in der Richtung geirrt. Er wollte durch einen Drang seiner Seele nach unten und ließ sich von dem Geiste der Zeit nach oben treiben.

Und er hat nun auch wirklich in diesem Sinne «gründlich», das heißt, wenn man es in dem von Mauthner herausgeforder­ten Sinne versteht, vom «Grunde hinweg» in seinem neuesten Buche wegdekretiert «Gott», «Seele» und vieles andere, in­dem er die Wortvorstellungen «von Gott», «von Seele» und so weiter kritisiert. Man erlebt auf 1250 großen Seiten die Worte, in denen im Mittelalter, in der Neuzeit, auch im Altertum über «Gott», «Seele» und so weiter gesprochen worden ist; und man wird im Gewebe der Worte überall über das hinwegge­führt, was als «Gott», als «Seele» Menschen erlebt haben.

Aber wieder kann Mauthner sagen: ja, das ist es eben, daß man auf andere Art zur Wirklichkeit kommen müßte als durch die Worte, oder, wie er immer wieder zu betonen beliebt, durch den Wortaberglauben. Es soll ja zuletzt doch nicht daraufhin­auskommen, bloß die Wirklichkeit zu entgöttlichen, sondern durch diese Entgöttlichung den Weg zu einer «gottlosen My­stik» zu bereiten.

Mauthner hat es dahin gebracht, dicke Bücher zu schreiben, bei denen es darauf ankommt, durch das, was in den Zeilen

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steht, auf das gewiesen zu werden, was zwischen den Zeilen steht. Da soll eine «gottlose Mystik» stehen. Es ist ja auch kein Wunder, daß da nichts steht. Denn was sollte dastehen, wenn nicht «Worte» ? Diese aber hätten so wenig Beziehung zur Wirklichkeit wie diejenigen, die in den schwarz bedruck­ten Zeilen stehen.

Ich muß gestehen, daß ich diese «gottlose Mystik» schon immer zwischen den Zeilen der Wörterbuch-Artikel gesucht habe. Aber ich gestehe beschämt, daß ich da doch immer nur weißes Papier gesehen habe. Denn war ich mit einem Artikel über irgend etwas zu Ende, so war für dieses «Etwas» wäh­rend des Tanzens in Worten der Boden fort; man ging nicht mehr, man «flog». Aber dieses «Fliegen» war recht windig; denn man bemerkte, daß man sich wie eine berühmte «Persön­lichkeit» an seinem eigenen Haarschopf in die Höhe gehoben hatte.

So fliegt man durch die 1250 Seiten der Mauthnerschen Ge­schichte des Atheismus und auch über die meisten Flächen zwischen den Zeilen. Und zuletzt merkt man, daß die oben gekennzeichnete Prozedur doch nicht zum «Fliegen» geführt hat, sondern, daß man wie angenagelt im Ausgangspunkte ge­blieben ist. Aber man hat, wenn auch nur im «Abglanz der Worte», viel Interessantes, Geistreiches, Mutvolles gesehen. Und das kann man ja auch, wenn man trotzdem mit der Er­kenntnis «nicht vom Flecke kommt »*.

- - -

* Ich unterbreche mit diesem Aufsatze die Veröffentlichung der Betrachtun­gen, welche den Inhalt des französischen Kurses am Goetheanum gebildet ha­ben. Aber ich sehe in dem oben Gesagten einen episodischen Übergang von den Betrachtungen des übersinnlichen Erkenntnislebens zu der Darstellung der übersinnlichen Weltgebiete selbst, mit der die Veröffentlichungen der letzten vier Nummern demnächst ihre Fortsetzung finden sollen. Vielleicht findet man doch, wenn man auch diese Episode liest, daß das später zu Sagende nicht so in der Luft schwebt, wie es scheinen könnte.

ANSPRUCHSLOSE APHORISTISCHE BEMERKUNGEN ÜBER DAS BUCH: REFORMATION ODER ANTHROPOSOPHIE?*

Eine Schrift, über die ich nicht eine Beurteilung schreiben will. Was ich sagen werde, sollen lediglich Worte sein, die meine subjektiven Empfindungen beim Lesen der Schrift ausdrücken und die aus tiefbefriedigter Seele wie ein Geistesgruß an den Verfasser gerichtet sein mögen.

Nur so kann ich sprechen über eine Schrift, die von dem Gesichtspunkte aus mein geisteswissenschaftliches Streben cha­rakterisiert, den Pfarrer Ernst einnimmt.

Ich fühle zunächst den tief religiösen, aber auch den einzig wirklich einleuchtenden Zug aus der Schrift sprechen, der da weiß, daß in der Menschheitsentwickelung nichts wahrhaft Religiöses entstehen, oder fortgebildet werden kann, ohne daß ein wirkliches Hereingreifen der göttlich-geistigen in die phy­sische Welt stattfindet. - Ohne daß ein Mensch oder Menschen wirklichen Verkehr mit dem Übersinnlichen haben, kann nichts Religiöses in die Welt kommen: darüber ist sich Ed­mund Ernst ganz klar.

Deshalb geht er von den übersinnlichen Erlebnissen der Re­formatoren aus. Er zeigt, wie Luthers ganzes Leben im Grunde auf den Verkehr mit dem Übersinnlichen orientiert war. Wie Luther die Gefahren dieses Verkehrs wohl kannte, wie er wußte, daß übersinnliche Wesen in einer guten Maske zuwei­len auftreten können, während sie teuflischer Natur sind. Auch für Zwingli zeigt Ernst, wie dieser in einem entscheidenden Punkte sein Verhalten abhängig gemacht hat von einer Wahr­heitserkenntnis, die sich ihm aus der geistigen Welt heraus geoffenbart hatte.

Schlicht, aber eindringlich ist in dem Buche von dem geistigübersinnlichen Quell als Religiösem gesprochen.

Damit aber ist dem Buche der Sinn des Verfassers eingepflanzt,

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*Reformation oder Anthroposophie? Von Edmund Ernst. Im Verlag Paul Haupt, Akademische Buchhandlung vorm. Max Drechsel. Bern 1924.

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der den religiösen Menschen macht. Das Buch erweist sich damit als ein solches, das aus einem geist erfüllten, im Geiste lebenden Herzen geschrieben ist. Aus einer solchen Herzens-Gesinnung fallt immer lichtvolle Wärme auf die Durchführung des Einzelnen. Und diese Wärme wird bei Ernst nie zum gesuchten Gefühlsüberschwange geleitet; sie bleibt überall sachlich und sucht aus dem Sachlichen das «Ja» und «Nein» für eine Behauptung zu holen.

Darf da solche Voraussetzungen bestehen, nicht von tief­ster Befriedigung gesprochen werden, wenn Pfarrer Ernst in mutiger Art drei Hauptfragen zum Inhalt seines Buches macht? Es sind drei Fragen, über die ich niemals selbst hätte sprechen dürfen; über die zu hören, was von solcher Seite zu sagen gewagt wird, ein inneres Seelenfest des Lebens genannt werden darf «i . Gibt es vom geistigen Erleben der Reforma­tion aus eine Möglichkeit, das zu verstehen, was die darbietet ? 2. Muß das geistig lebenswirkliche Element der Reformation kapitu­lieren vor dem, was die allfällig Neues bringt? 3. Müssen die For­schungsergebnisse des Geistesforschers vom Gesichtspunkt des reformatorischen Erlebens aus abgelehnt werden ?»

Es muß schon tief befriedigend sein, diese Fragen gründ­lich-religiös behandelt zu sehen, nachdem von einer Seite, die vieles Ansehen hat, von Ragaz zum Beispiel über die von mir dargestellte Geisteswissenschaft geschrieben worden ist: «In diesem höheren Wissen kommt Gott im Menschen zu sich. Das Versprechen der Schlange ist erfüllt: Eritis sicut Deus, Ihr werdet sein wie Gott. So wird Theosophie Anthroposophie» (Leonhard Ragaz: Theosophie oder Reich Gottes? Flug­schriften der Quelle 3. Rotapfelverlag 1922, Seite ,8). Oder: «Wehe der Welt, wenn sie von dem Gott der Bibel zu dem der Theosophie abfiele - sie versänken in Traum und Tod, vetlören Gott und den Menschen.» Seite 34. - Wer durch Geistes-forschung Menschen-Seelen-Erkenntnis erwirbt, dem ist eine Seele wie die Ragaz'sche in ihrem dunklen Stürmen gegen Anthroposophie

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nicht etwas Unverständliches. Man kann sie durchschauen in ihrer bewußten Ideenwelt, und auch in den unterbewußten und halbunterbewußten Untergründen. Und man erkennt, wie sie aus diesen Untergründen heraus gar nicht das Gefühl in sich aufkommen lassen kann: da ist in der An­throposophie ein Weg in die geistige Welt. Kann der nicht zum erneuten Durchschauen des biblischen Offenbarungswor­tes führen, das ja auch aus der geistigen Welt stammt? Ragaz' Seele kann zu diesem Gefühle nicht kommen, weil sie sich durch die Wege zur Bibel, die sie sich nun einmal vorgezeich­net hat, den Weg gerade versperrt hat, durch den die Bibel selbst - nach Maßgabe der entsprechenden Zeit - zustande ge­kommen ist, und der sich in einer den Erkenntnis-Verantwor­tungen unserer Zeit gemäßen Art in der antliroposophischen Geistesforschung erneut.

Nun steht einer Kundgebung wie der Ragaz'schen die Ernst'sche (auf Seite 24 f. seines Buches) gegenüber. Ich fühle wahrhaftig ein seelisches Erröten, indem ich die Worte hier nachschreibe: «Sofern Steiner die Tatsache vertritt, es sei mög­lich, die übersinnliche Welt zu erkennen und es sei möglich, die Menschen zu dieser Erkenntnis zu erziehen, so stellt er sich dar als der Empfänger einer Botschaft aus der geistigen Welt. Nur daß er dazu - und das geht über Luther hinaus -noch zeigt, wie auch andere dazu gelangen können, auf dem Wege des Schauens solche Empfänger zu werden.»

Und Pfarrer Ernst versteht in klarer Art, wie ich mich mit der anthroposophischen Geistes-Erkenntnis in das Menschen-Leben hineinstellen möchte. Es liegt mir ganz fern, in irgend einer Art religionsstiftend aufzutreten, oder in irgend ein reli­giöses Bekenntnis einzugreifen. Ich habe kein anderes Bestre­ben als dieses: Was mir möglich ist, in übersinnlichen Welten zu erforschen, in Erkenntnisform mit dem rechten Verantwor­tungs-Sinn vor der heutigen Wissenschaft, der gegenwärtigen Menschheit mitzuteilen. Ich bringe vor, wovon ich mir sagen darf daß es entweder überhaupt der gegenwärtigen Mensch­heit bei ihrem geistigen Reifezustand angemessen ist; oder einiges

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andere, wofür sich einzelne Menschengruppen in einer (esoterischen) Vorschulung die Reife erst erwerben.

Wenn die Bewegung für christliche Erneuerung entstanden ist, so ist das nicht auf meine Initiative hin geschehen, sondern auf diej enige hin einer Anzahl christlicher Theologen, die einen neuen geistigen Impuls gerade aus ihrem echt christlichen Emp-finden heraus suchten. Sie glaubten, denselben in den geistigen Erkenntnissen, namentlich denen, die auch über einen Kultus möglich sind, der Anthroposophie zu finden; und ich war ver­pflichtet, dieser Gruppe von Menschen aus meiner Erkenntnis heraus alles zu geben, was ich geben konnte. Jch blieb der die Erkenntnisse aus der übersinnlichen Welt Mitteilende; und die Empfangenden und in die Erkenntnis Eindringenden taten das Notwendige zur Begründung der Gemeinschaft für christliche Erneuerung.

Alles das steht nun durch das Ernst'sche Buch wieder, und, wie ich meine, aus einer wirksamen Quelle, vor der Öffentlich­keit.

Pfarrer Ernst hat außer dem Ragaz'schen, oben angeführten Buche noch das andere auf seinem Wege gefunden. D. L.Johan­nes Frohnmeyer: «Die theosophische Bewegung, ihre Ge­schichte, Darstellung und Beurteilung. Zweite vollständig neu bearbeitete Auflage von Alfred Blum-Ernst.» Das aus Befan­genheit stammende Gegner-Gerölle, das in diesen Schriften sich findet, hat Pfarrer Ernst in tatkräftigster Art zu zerstören unternehmen müssen, da er seinen positiven Feststellungen den rechten Boden schaffen wollte.

Über Frohnmeyers Schrift spreche ich nicht gerne. Ich muß sagen, wenn in den Behauptungen eines Menschen so viele objektive Unwahrheiten oft der allerabsurdesten Art auftre­ten, so kann bei ihm der Drang, die «Wahrheit» auch im Gei­stigen festzustellen, nicht groß sein. Das Buch zeigt, daß sich sein Verfasser eben nicht verpflichtet fühlte, die Objektivität einer Behauptung zu prüfen, ehe er sie aufstellt. Mit einer sol­chen Gesinnung kann ein wirklicher Erkenntnis-Mensch überhaupt nichts anfangen. Welchen bösen Unsinn hat doch

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Frohnmeyer über meine Christus-Statue geschrieben, ohne sich irgendwie verpflichtet zu fühlen, die Unterlagen für seine Behauptung zu prüfen! Ein solches Buch sollte unter ernsten Leuten doch für ein solches gelten, das mit Wahrheits-Erfor­schung nichts zu tun hat.

Pfarret Ernst erwuchsen diesem Buche gegenüber noch be­sondere Schwierigkeiten. Er charakterisiert sie auf Seite 8 sei­nes Buches: «Wenn es sich bei der Bearbeitung der 2. Auflage um einen Verwandten des Verfassers dieser Schrift handelt, so mag das kulturgeschichtliche Verantwortlichkeitsbewußtsein des Wahrheitsforschers, wie es eben dargestellt wurde, ein Maßstab zum Verständnis der Sache bieten. Biblizisten werden gebeten, aus den Evangelien die entsprechenden Worte für die Lebenslage des Verfassers zu suchen. Der Verfasser der 2. Auf­lage Frohnmeyers wußte, als er seine literarische Arbeit be­gann, daß der Verfasser dieser Schrift sich seit 1919 mit der hier behandelten Frage beschäftigt. Der Verfasser dieser Schrift wurde gelegentlich einer Besprechung dieser Sache von ihm aufgefordert, diesen Stoff zu behandeln. Es ist uns dies erst möglich geworden, nachdem wir zur nötigen Klarheit herangereift waren, um sachlich bleiben zu können. So werden persönliche Beziehungen das sachliche Urteil dieser Schrift nicht zu trüben vermögen, wie wir hoffen.»

Ich aber muß Pfarrer Ernst besonders dankbar sein, daß er gerade aus dieser Lebenslage heraus seine Objektivität gegen­über dem Blum-Frohnmeyer'schen Buch zur Geltung ge­bracht hat.

Besonders befriedigend ist mir, daß Pfarrer Ernst die sämt­lichen Prüfung smittel, die sich aus Luthers Stellung zur geisti­gen Welt und aus der Reformation ergeben, um meine Gei­stesforschung auf ihre Berechtigung hin zu untersuchen, auf diese anwendet. Und auch wie er meine rein aus Geist-Er­kenntnis geschöpfte Interpretation an die ernste philologische Forschung, zum Beispiel dem «Ich bin, der gegen-über heranführt, stehe ich befriedigt gegenüber. Ich fühle mich immer vollbefriedigt, wenn man mit allen Mitteln, mit denen

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es nur irgend möglich ist, prüft, was ich vorbringe. Denn ich weiß, diejenigen Persönlichkeiten, welche wirklich schaf prüfen, werden solche Gegner nie werden, wie sie sich heute zumeist zeigen. Sokhe Gegner werden nur die nichtprüfenden, und ohne Prüfung aus irgend welchen Untergründen heraus scheinbar Beweisenden, oder auch bloß Behauptenden.

ALOIS MAGERS SCHRIFT «THEOSOPHIE UND CHRISTENTUM»*

Mein Erlebnis beim Lesen dieser Schrift

Eine Auseinandersetzung mit der Anthroposophie von Alois Mager könnte für mich selbst von tiefgehendem Interesse sein. Das veranlaßt mich, die Gedanken, die in mir aufgestiegen sind, während ich mich mit Magers Schrift «Theosophie und Christentum» beschäftigte, wie in einer Art von Selbstge­spräch hier aufzuschreiben. (,ch muß bekennen, daß ich erst jetzt Muße gefunden habe, die schon 1922 erschienene Schrift zu lesen.)

Es gibt wenige Menschen, die glauben, man könne gegen einen Gegner gerecht sein. Aber abgesehen von den Gründen, die solche Menschen für ihre Meinung haben, scheint mir, daß wenige Bedingungen für mich vorhanden sind, um gegen Alois Mager von vorneherein ungerecht zu sein, auch wenn er als mein Gegner auftritt.

Er gehört einem Orden an, den ich hochschätze und liebe.

Nicht nur, daß vieles vor meiner Seele steht, was an edlem, hohem, weitführendem Geistesgut als Leistung des Ordens im Allgemeinen anzuerkennen ist, ohne daß man auf die Arbeit der einzelnen Ordensangehörigen, denen doch diese Leistung zu verdanken ist, eingeht; sondern ich habe auch das Glück gehabt, einzelne Mitglieder des Ordens kennen und hoch­schätzen zu lernen. Ich habe immer einen Sinn gehabt für den

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*«Theosophie und Christentum» von Alois Mager, O.S. B. Berlin, Ferdi­nand Dümmiers Verlag.

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Geist, der in den Schriften über Wissenschaftliches bei solchen Persönlichkeiten waltet. Während ich vieles in den anderen zeitgenössischen wissenschaftlichen Arbeiten wie ein Frem­des fühle, ist nicht weniges, das von dieser Seite stammt, wie etwas, das meine Seele ohne alle Fremdheit berührt, auch dann, wenn mir der Inhalt als unrichtig, einseitig, voreingenolrlrnen erscheint.

Und so konnte ich auch, was Alois Mager ohne Beziehung zur Anthroposophie geschrieben, mit vieler Sympathie auf-nehmen. Besonders gilt mir das für seinegemüts- undgeistestiefen Gedanken über das Leben der Seele in der Gottnähe.

Ich erwartete in Alois Mager einen Gegner. Denn ich weiß, daß von der Seite, der er angehört, entweder nur Schweigen über meine Anthroposophie, oder Gegnerschaft kommen kann. Wer sich darüber Illusionen hingibt, der kennt wenig von der Welt.

Aber bedeutsam für mich mußte mir erscheinen: was bringt Mager vor.

Und die Gedanken, die sich mir darüber eingestellt haben, möchte ich hier niederschreiben wie ein Selbstgespräch. -Die Schrift «Theosophie und Christentum » bespricht in vier Kapiteln im wesentlichen die von mir dargestellte Anthro­posophie. Mager gibt das zu. Man findet Seite 31 f. die Worte: «Ich halte es für zwecklos, Ziele und Lehren der neulndischen Theosophie breit vorzuführen. Der Anthroposophie Steiners und ihrem Verhältnis zur Wissenschaft müssen wir eine eigene Abhandlung widmen. Dort wird das Wesentliche der Theoso­phie mit zur Sprache kommen.»

Das erste Kapitel «Theosophie in Vergangenheit und Ge­genwart» enthält geistvolle Auseinandersetzungen darüber, daß das, was Mager Theosophie nennt, in der außerchristli­chen Welt großgeistig bei Plotin und Buddha sich geoffenbart habe. Das Suchen der Menschenseele, mit dem eigenen inneren Erleben an das Erleben des Göttlichen in einer naturgemäß aus dem Wesen dieser Seele folgenden Art zu kommen, sieht Ma­ger in den beiden genannten Geistern am eindringlichsten verwirklicht.

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Denn, was auf christlichem Boden in dieser Art auf­tritt, beurteilt natürlich Mager nicht so, daß es naturgemäß aus dem Wesen der Seele komme, sondern so, daß es ein Ergebnis der waltenden göttlichen Gnade ist.

Es scheint mir nicht nötig, hier näher darauf zu deuten, daß insbesondere für ältere Zeiten die angedeutete Seelenverfas­sung, wenn auch nicht in der wissenschaftlichen Ausgestal­tung wie bei Plotin, oder in der religiösen Tiefe wie bei Bud­dha, doch viel weiter im Geistesleben der Menschheit vorhan­den war, als Mager annimmt, wenn er seine ganze Darstellung auf die beiden Persönlichkeiten hinorientiert.

Aber was mir vor allem vor die Seele tritt, ist dieses: Mager will die von mir dargestellte Anthroposophie beurteilen. Er will besprechen, was ein Teil der Menschheit eigentlich sucht, indem er unter mancherlei Seelenwegen auch den anthroposo­phischen geht. Er will - was sollte sonst seiner Untersuchung Sinn geben - den Inhalt dessen entwickeln, was in der Anthro­posophie lebt. - Nun wird sogleich das ganze Wesen dessen, was ich Anthroposophie genannt habe, verkehrt, wenn man, um ihren Inhalt darzulegen, auf frühere Darstellungen der gei­stigen Welten hinweist.

Ich habe gesagt, daß ich diese Gedanken wie ein Selbstge­spräch aufzeichne. Ich tue dies deshalb, um rückhaltlos vorbrin­gen zu können, was nur ich selbst aus dem subjektiven Erleben der Sache unmittelbar ganz gewiß wissen kann, was ich aber eben so wissen muß.

Und da kann ich nicht anders, als immer wieder betonen, daß alles Wesentliche meiner Anthroposophie aus der eigenen gei­stigen Forschung oder Anschauung stammt, daß ich in der Sache und in der Begründung der Sache nichts von historisch Vorhande­nem entlehnt habe. Wenn Selbstgefundenes dadurch beleuch­tet werden konnte, daß es in irgend einer Form da oder dort als schon vorhanden aufgewiesen wurde, so tat ich das. Ich tat es aber nie mit etwas anderem, als was vorher in eigener Anschau­ung gegeben war. Ich habe auch ein anderes Verfahren nicht gehabt, während ich in den eigenen Schriften auf diejenigen

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der theosophischen Gesellschaft Bezug nahm. Ich stellte das von mir Erforschte dar und zeigte dann, wie das Eine oder das Andere in jenen Schriften auftritt.

Entlehnt aus historisch Vorhandenem ist nur die Termino­logie da, wo ein vorhandenes Wort, nach seinem Inhalte, eine solche Entlehnung wünschenswert machte. Aber das ist etwas, was mit dem wesentlichen Inhalt der Anthroposophie ebenso wenig zu tun hat, wie mit der Selbständigkeit eines Gesagten die Tatsache, daß man sich zur Mitteilung des Selbst-Erforsch­ten der Sprache bedient. Man könnte ja, wenn man in einer Darstellung für etwas völlig Neues einen bekannten sprachli­chen Ausdruck verwendet findet, auch auf Entlehnung ver­fallen.

Ich habe mich immer wieder in strengster Selbst-Erkenntnis gefragt, ob das so ist, ob ich vor meiner eigenen exakten Er­kenntnis sprechen könne, wenn ich sage, was ich als geistige Anschauung vorbringe, entstammt meiner unmittelbar erleb­ten Anschauung, und das historisch Gegebene spielt dabei keine Rolle. Insbesondere war mir immer wichtig, mir klar darüber zu sein, daß nicht irgendwelche Einzelheiten aus dem geschichtlich Überlieferten aufgenommen und in die Welt meiner Anschauungen eingesetzt seien. Alles mußte innerhalb des unmittelbar anschauenden Lebens produziert sein; nichts durfte als Fremdwesen eingefügt sein.

Ich bin, indem ich dies in mir selber zur Klarheit bringen wollte, mit größter Bewußtseinsanstrengung allen Illusionen und Illusionsquellen aus dem Wege gegangen. Schließlich darf doch auf eine Klarheit des Selbstbewußtseins gebaut werden, die zu unterscheiden weiß zwischen dem, was im Bewußtsein in unmittelbarem Zusammenhang mit der objektiven Wesen­heit erlebt wird und dem, was aus irgendwelchen unkontrol­lierbaren Seelen-Untergründen durch einmal Gelesenes oder sonst Aufgenommenes herauftaucht.

Ich meine nun, wer wirklich auf die Darstellung in meinen Schriften eingeht, der müsse mein Verhältnis zur geistigen Be­obachtung auch dadurch durchschauen können. Alois Mager

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tut es nicht. Denn verführe er richtig, so würde er den Inhalt der Anthroposophie nicht zuerst mit Beziehung auf Plotin und Buddha darstellen, sondern zunächst zeigen, wie dieser Inhalt durch Fortsetzung der Entwickelung des modernen auf Grundiage des Wissenschaftsgeistes gewonnenen Bewußt­seins entsteht.

Aber, was Mager dazu geführt hat, sein erstes Kapitel zu schreiben, das bringt ihn im Weiteren (Seite 47) dazu, zusagen: «Was uns an Steiners Anthroposophie am allerersten und un­widerlegbar auffällt, daß sie aus Gedanken- und Wissensstük­ken aller Völker und aller Jahrhunderte zusammengesetzt ist. Die griechische Mythologie, die Steiner am Gymnasium ken­nen lernte, liefert ihm die Hyperboreer, Atlantier, Lemurier und so weiter. Bei den orientalischen Mysterienreligionen, bei den gnostischen und manichäischen Lehren machte er Anlei­hen. Der Kant-Laplace'sche Urnebel diente ihm als Vorbild für sein geistiges Urweitwesen...»

Dieses Ergebnis Magers über meine Anthroposophie ist nun gegenüber dem wahren Tatbestande eine völlige objektive Un­wahrheit. Man steht vor demBestürzenden, daß ein feiner Geist, der die Mittel seiner objektiven Wahrheitsforschung richtig anwenden will, um zu einem wirklichkeitsgemaßen Zusam­menhang zu kommen, an der Wahrheit vorbeigeht und eine Illusion als Wirklichkeit hinstellt.

Dieses Bestürzende überleuchtet mir alle anderen Empfin­dungen, die ich bei der Magerschen Schrift habe, zum Beispiel daß sie gegnerisch zu mir ist, daß sie an vielen Stellen ganz merkwürdig ungerecht wird und so weiter.

Noch erhöht wird die Bestürzung, indem ich auf eine andere objektive Unwahrheit komme. Im zweiten Kapitel «Anthro­posophie und Wissenschaft» gibt Mager, wenn man die Kürze der Darstellung, auf die er angewiesen ist, berücksichtigt, eine anerkennenswerte Wiedergabe anthroposophischer Gedan­ken. Ja, er erweist sich da als ein guter Beurteiler gewisser Im­pressionen, die der geistigen Anschauung als feinere Stofflich­keit zum Beispiel zwischen Materiellem und Seelischem gegeben

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sind. Man sieht, in ihm sind manche Qualitäten, die es ihm ermöglichten, auf Anthroposophie einzugehen, wenn nicht von andrer Seite Hemmungen kämen.

Aber nun auch in diesem Kapitel wieder eine objektive Un­wahrheit. Mager bemüht sich zuerst, meine Art des geistigen Anschauens auf die gleiche Stufe zu bringen mit spiritistischen oder vulgär-okkultistischen Hantierungen. Er zieht zu diesem Zwecke sogar das Buch von Staudenmaier «Die Magie als ex­perimentelle Naturwissenschaft» heran, wovor ihn schon das Gefühl für geistige Niveauunterschiede hätte schützen sollen.

Aber nun kommt er zu der folgenden Behauptung: «Das auf den ersten Blick imposante und scheinbar lückenlose Welt-bild, das Steiner vor uns entrollt, ist nicht das Ergebnis - wie es ein philosophisches Weltbild ist - von verstandesmäßigem, wissenschaftlichem Erkennen, sondern auf dem Weg geistigen Schauens, anthroposophischen Hellsehens gewonnen» (Seite 45). «Steiner hat alle Kenntnisse, die er je in seinem Leben bei seinem Schweben und Wandern durch alle Wissensgebiete er-nippte und erhaschte, mit einem unvergleichlichen Geschick in heliseherischen Fäden zu einer bizarren Einheit verwoben.») Mager stellt alles so dar, als ob ich meine Ideen über die gei­stige Welt auf Grund eines ungeprüften, unwissenschaftlich angewendeten Hellsehens gegeben hätte.

Spricht denn gegen eine solche Behauptung nicht vieles, was man in meinen auf Goethe bezüglichen Schriften, in meiner «Erkenntnistheorie der Goethe'schen Weltanschauung», in «Wahrheit und Wissenschaft», in meiner «Philosophie der Freiheit» finden kann? Ich habe doch als eine philosophische Ur-Erfahrung diese dargestellt, daß man das Begriffliche in seiner Realität erleben kann, und daß man mit einem solchen Erleben so in der Welt steht, daß das Menschen-Ich und der geistige Welt-Inhalt zusammenfließen. Ich habe zu zeigen ver­sucht, wie dieses Erlebnis ebenso real ist wie eine Sinnes-Er­fahrung. Und aus diesem Ur-Erlebnis geistiger Erkenntnis ist der geistige Inhalt der Anthroposophie herausgewachsen. Ich habe mich Schritt für Schritt darum bemüht, das «verstandesmäßige,

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wissenschaftliche Erkennen» mit der Exaktheit, die ich mir am Mathematikstudium erworben habe, dazu zu gebrauchen, die geistige Anschauung zu kontrollieren, zu recht­fertigen und so weiter. Ich habe nur so gearbeitet, daß die gei­stige Anschauung sich herauserhoben hat aus «verstandes­maßiger, wissenschaftlicher» Erkenntnis. Ich habe alles Spiri­tistische, alles Vulgär okkultistische streng von mir gewiesen. -

Wieder führt die Wissenschaftlichkeit Magers hier nicht zum Durchschauen des wahren Tatbestandes, sondern zur Be­hauptung von objektiven Unwahrheiten über Anthroposo­phie und mein Verhältnis zu ihr.

Wahrhaft, die Bestürzung muß groß werden, wenn man sieht, daß eine «Untersuchung» über Anthroposophie Stück für Stück den Boden abgräbt, auf dem Anthroposophie zu finden ist.

Der anthroposophische Geistesforscher durchschaut aus seinen Erkenntnissen heraus die Gründe für solche Seelenver­fassungen, die nicht zu den objektiven Tatbeständen kommen können; allein Mager soll hier nicht vom Gesichtspunkte der Anthroposophie dargestellt werden, sondern lediglich vom Standpunkte des gewöhnlichen Bewußtseins, den er ja auch in seiner Schrift geltend machen will.

Ich frage nun: kann es noch fruchtbar sein, mit dem sich aus­einanderzusetzen, was ein Gegner vorbringt, an dem man sieht, daß alles in Nichts zerfällt, das er über Anthroposophie vor die Welt hinstellt ? Kann man gegen Behauptungen disku­tieren, die sich gar nicht auf Anthroposophie beziehen können, weil sie nicht etwa nur ein Zerrbild, sondern einen Widerpart von ihr malen?

(So ist es auch kein Wunder, daß Mager selbst in Kleinigkei­ten gegen mich ungerecht wird. Einen ganz offenbaren Druck­fehler einer Auflage meiner «Theosophie», wo in der Nume­rierung «Verstandesseele» und «Empfindungsseele» verstellt sind - trotzdem, was vorher und nachher steht, ganz deutlich macht, daß man es mit einem Druckfehler zu tun hat -, benützt er, um die folgende Bemerkung zu machen: «Es ist bezeich­nend

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für die wissenschaftliche Arbeitsweise Steiners, daß er hier die Verstandesseele vor die Empfindungsseele setzt, was seiner sonstigen Aufstellung widerspricht.»)

Es fehlt wohl, nach dem Dargestellten, gegenüber der Ma­gerschen Schrift die Möglichkeit, in eine Diskussion darüber einzutreten, ob nicht in der - von Mager sogar recht anregend im dritten Kapitel «Seele und Seelenwanderung» geschilder­ten - aristotelischen Psychologie doch der Keim liege, die Ideen über die Seele von äußerlich zu Beobachtendem zu innerlich geistig Geschautem überzuführen; ob sich nicht also der Weg von dem aristotelischen Intellektualismus zur Anthroposophie als ein ungezwungen geradliniger ergibt.

Wie befriedigend wäre es, eine solche Diskussion zu führen, hätte nicht P. Mager zwischen dem, was er sagen will und dem, was Anthroposophie sagen müßte, einen Abgrund hingesetzt.

Ebenso befriedigend wäre eine Auseinandersetzung über die wiederholten Erdenleben und das Karma. Allein gerade da müßte Mager sehen, wie ich mich in neuen Auflagen meiner «Theosophie» immer wieder bemühte, dem, was in dieser Richtung die geistige Anschauung mit aller Klarheit ergibt, mit dem «verstandes mäßigen, wissenschaftlichen» Erkennen kontrollierend beizukommen. Das Kapitel «Reinkarnation und Karma»in meiner «Theosophie»ist dasjenige, das ich im Laufe der Zeit am öftesten umgearbeitet habe. Allein P. Mager benützt gerade eine Anzahl von Sätzen dieses Kapitels, um die Vorstellung hervorzurufen, als ob ich die «verstandesmäßig-wissenschaftliche» Klarlegung dieser Sache in einer recht tri­vialen Form gegeben hätte.

Mager möchte auch die Frage beantworten, warum gerade in dieser gegenwärtigen Zeit viele Menschen nach dem stre­ben, was er «Theosophie» nennt, und wozu er auch die An­throposophie zählt. Und er meint, daß ich viel zu wenig aus den tiefsten Zeitbedürfnissen heraus rede; daß Anthroposo­phie gar nicht sein kann, was die Menschen suchen. Aber auch, um darüber zu sprechen, müßte man sich ohne den Abgrund gegenüberstehen. Und besonders wenig fruchtbar müßte da

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eine Diskussion über das Verhälmis von Christentum und Anthroposophie sein.

So konnte ich P. Magers Schrift nur als etwas erleben, das sich von mir, indem ich es in den Seelenblick faßte, immer wei­ter entfernte, bis ich ersah: was da gesagt wird, hat im Grunde mit Anthroposophie und mir gar nichts zu tun.

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IV ANTHROPOSOPHIE DAS GOETHEANUM UND SEINE ARBEIT

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DIE WISSENSCHAFTLICHKEIT DER ANTHROPOSOPHIE

Daß der wissenschaftliche Materialismus überwunden werden müsse, ist seit Jahrzehnten schon die Überzeugung vieler Men­schen geworden. Wenn in dieser Richtung Meinungen ausge­sprochen werden, dann hat man die Denkungsart im Sinne, welche im neunzehnten Jahrhunderte in weiten Kreisen von wahrer Wissenschaftlichkeit für untrennbar gehalten worden ist. Diese Denkungsart hielt es für unwissenschaftlich, von Geist und Seele als von Wesenheiten zu sprechen, die selbstän­dig, unabhängig von ihren materiellen Bedingungen betrach­tet werden dürfen. Man fühlte sich auf wissenschaftlichem Bo­den nur sicher, wenn man auf materielle Vorgänge blicken konnte. Geist und Seele sah man im Gefolge der materiellen Vorgänge sich entwickeln; und man glaubte, für die Wissen­schaft das einzig Mögliche getan zu haben, wenn man auf Ma­terielles deutete, das sich abspielt, während Geistiges oder Seelisches erscheint.

Besonnene Menschen hat es immer gegeben, welche mit einer solchen Denkungsart nicht auch eine Erkenntnis des Gei­stes und der Seele zu erreichen glaubten. Aber viele meinten eben, der Wissenschaft als solcher könnte nicht zugestanden werden, von etwas anderem zu reden als von den materiellen Bedingungen des Geistigen und Seelischen. Durch diese Ideenrichtung glitt die Seelenwissenschaft in eine bloße Aus­einandersetzung der Vorgänge im Nervensystem hinein. Man kam dazu, das auf sinnliche Art zu Beobachtende überall da zugrunde zu legen, wo man Erkenntnisse über das Seelische erreichen wollte.

Heute finden viele, daß mit dieser Art der Betrachtung das Seelische für die menschliche Anschauung verloren geht. Man fühlt, daß man in der Betrachtung des Nervenlebens nur Mate­rielles vor sich hat, und daß dieses Materielle keine Auskunft geben kann in den Fragen, welche Geist und Seele über sich selbst stellen müssen.

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Es gibt heute ernst zu nehmende wissenschaftliche Denker, welche aus solchen Gefühlen heraus die materialistische Be­trachtung verlassen und zu der Überzeugung kommen, im Materiellen müsse ein Geistiges als wirksam gedacht werden.

In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts betrachtete man es als einen großen wissenschaftlichen Fortschritt, daß die alte Anschauung von der «Lebenskraft» überwunden sei. Diese An­schauung sah in den Lebensvorgängen eine besondere Kraft wirksam, welche das physisch und chemisch Tätige in einer solchen Art in ihr Bereich zieht, daß Lebendiges erscheinen kann. Man verwarf diese Anschauung. Das Physische und Che­mische sollte in seinem eigenen Wesen so beschaffen sein, daß es in seinen komplizierten Gestaltungen als Leben sich offen­baren könne. Man hoffte, sich allmählich von diesen komplizier­ten Gestaltungen deutliche Vorstellungen machen zu können.

In diesen Hoffnungen finden sich heute diejenigen Denker getäuscht, die wieder davon sprechen, daß etwas Besonderes dem Leben zugrunde liegen müsse, das Physisches und Chemi­sches zu einer höheren Wirksamkeit in seinen Dienst nimmt.

Neue Hoffnungen knüpfen sich an dasjenige, was in dieser Richtung unternommen wird. Der Unbefangene muß aber da­gegen die Gründe stellen, welche im neunzehnten Jahrhundert zur Überwindung der damaligen Anschauung von der «Le­benskraft» geführt haben. Man sagte sich da: Die Denkweise, welche in Klarheit die Zusammenhänge im physischen und chemischen Gebiet überschauen läßt, verliert sich in das Un­klare, Nebelhafte, wenn sie von «Lebenskraft» spricht. Man erkannte, daß man auf dieselbe Art, wie man zu diesen Zusam­menhängen geführt wird, nicht zu der «mystischen» Lebens­kraft geführt werden könne.

Was man so erkannte, war durchaus berechtigt. Und wenn erst auf derjenigen Seite, auf der man heute in dem angedeute­ten Sinne sich neuen Hoffnungen hingibt, die volle Klarheit wieder herrschen wird, muß sich derselbe Gedankengang ein­stellen, der im neunzehnten Jahrhundert zum Verwerfen der «Lebenskraft» geführt hat.

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Eine Gesundung in dieser Richtung ist allein möglich, wenn man durchschaut, wie die Denkungsart, die für das Physische und Chemische ihre volle Berechtigung hat, umgewandelt wer­den müsse, wenn man in die Betrachtung der Lebens-, Seelen-und Geistesgebiete heraufrückt. Der Mensch muß erst sein Denken umgestalten, wenn er sich die Berechtigung erwerben wiU, über diese Gebiete wissenschaftlich zu sprechen.

Auf diesen Boden stellt sich die Anthroposophie. Sie fühlt sich daher nicht genötigt, das Wissenschaftsgebäude der Phy­sik und Chemie zu zerschlagen, um mit denselben Denkmitteln anderes aufzubauen. Sie findet, daß man mit diesem Wissen­schaftsgebäude etwas Sicheres erreicht habe, daß man aber in­nerhalb desselben Leben, Seele und Geist nicht suchen solle.

Dann aber, so sagen diejenigen, welche Anthroposophie nur von außen beurteilen wollen, stellt sich diese außerhalb der Wissenschaft und dürfe für sich höchstens eine Glaubensge­wißheit in Anspruch nehmen.

Wer so spricht, der wendet nicht in kraftvoller Art den Blick von der Naturbetrachtung auf den Menschen zurück. Die Art, wie man in der Gegenwart das Physische und Chemische be­trachtet, beruht auf einer gewissen Verfassung der Seele des Menschen. Und die wissenschaftliche Gewißheit hat man da nicht als etwas von der Natur Geoffenbartes, sondern als ein inneres Erlebnis des Betrachtens. Was man seelisch erlebt, indem man die Natur betrachtet, gibt die Gewißheit. Anthroposophi­sche Erkenntnis schreitet von diesem Seelenerlebnis zu anderen vor, die man haben kann, wenn das in der physischen und che­mischen Wissenschaft geübte Denken zum Anschauen in Ima­gination, Inspiration und Intuition sich gewandelt hat. Und diese anderen Seelenerlehnisse lassen die gleiche Gewißheit aufleuchten .

Wer die Gewißheit in diesen anderen Erkenntuisarten in Ab-rede stellt, der versäumt es, sich Klarheit zu verschaffen, war­um er diejenige der Physik und Chemie gelten läßt. Er gibt sich der letzteren aus Gewohnheit hin und lehnt ab, wofür er keine Gewohnheit erworben hat. Anthroposophie frägt: Warum

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nimmt man die Erkenntnisse der Physik und Chemie als ge­wiß hin? Sie findet den Grund in einer bestimmten Art des seelischen Erlebens. Diese Art eignet sie sich an als Richtlinie für die Erkenntnis. Und von dieser Richtlinie weicht sie auch dann nicht ab, wenn sie durch ein verwandeltes Denken über Leben, Seele und Geist Wahrheiten zu erringen sucht.

Deshalb kann Anthroposophie diejenige Denkungsart voll anerkennen, welche in Physik und Chemie zu den bedeutsam­sten Ergebnissen der neuesten Zeit geführt hat. Sie muß dem Materialismus sogar das Verdienst zuerkennen, in dem Men­schen diejenige Anschauungsart herausgebildet zu haben, die in dem Unlebendigen zu gesunden Urteilen führt. Aber sie muß es auch für unmöglich halten, mit dieser Anschauungsart etwas anderes als Physik und Chemie begründen zu wollen. Aber gerade, wer sich Mühe gibt, zu durchschauen, wie eine solche Anschauungsart zustande kommt, der kann finden, daß mit derselben inneren Sicherheit auch andere möglich sind; solche für das Lebens-, das Seelen- und das Geistesgebiet. Wem Wissenschaft nicht ein Äußerliches bleibt, in das er sich nur hineingewöhnt, sondern dem sie zum klaren inneren Erlebnis wird, der kann eben nicht nur stehen bleiben bei dem Physi­schen und Chemischen; denn für ihn ist ein Fortentwickeln der Sinnes- und Verstandeserkenntnis zu den Formen der Imagi­nation, Inspiration und Intuition nichts anderes als ein Fort­schreiten der Kindesform zu der des erwachsenen Menschen. Im erwachsenen Menschen wirken dieselben Kräfte wie im Kinde; im Leben-, Seelen- und Geist-Erkennen wirkt dieselbe Wissenschaftlichkeit wie in Physik und Chemie.

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WIE IST DIE GEGNERSCHAFT GEGEN ANTHROPOSOPHIE OFT GEARTET?

Die Gegner der antliroposophischen Anschauung behaupten, daß diese dem Menschen die Ehrfurcht vor dem Unerforschli­chen raube. Man stützt diese Behauptung darauf, daß Anthro­posophie nach Erkenntnismitteln für die geistige Welt sucht. Daß sie die Brücke schlagen will zwischen Glauben und Wis­sen. Aber, so meint man, die Stellung des Menschen zum Gei­stigen dürfe nicht in den Bereich des Wissens «herabgezogen» werden. Das Wesen des Glaubens müsse darauf beruhen, daß der Mensch sich zu seinem Inhalte aus freier Hingabe, durch kindliches Vertrauen bekenne, während die wissenschaftliche Erkenntnis ein solches Vertrauen nicht fordere, sondern sich mit der Anerkennung dessen begnüge, was vor den Sinnen aus­gebreitet und durch den allgemein gültigen Verstand einzuse­hen ist. Die Gegenstände des Wissens könnten durch ihr eige­nes Wesen den Menschen nicht über sich selbst erheben. Wenn die Anthroposophie das Übersinnliche erforschen wolle, so för­dere sie nicht das religiöse Empfinden, sondern untergrabe es.

Man kann nicht leugnen, daß in diesen Behauptungen heute für viele religiös gestimmte Menschen eine große Schlagkraft liegt. - Und dennoch sind sie nur herbeigeführt durch die See­lenverfassung der materialistisch gerichteten Anschauung. Diese hat durch die Selbstbewußtheit, mit der sie aufzutreten weiß, die Denkgewohnheit großgezogen, die wie selbstver­ständlich behauptet, daß nur sie von sicheren Voraussetzungen ausgehe und in logisch beweisender Art zu ihren Ergebnissen komme. Religiöse Naturen fügen sich, ohne dieses Auftreten näher zu prüfen, der mit großer Sicherheit an sie herankom­menden Behauptung. Sie werden für ihr religiöses Empfinden ängstlich; und aus dieser Angst heraus möchten sie das Über-sinnliche möglichst weit von dem Erforschlichen abrücken. Sie fühlen, daß die materialistische Anschauung zuletzt doch den Blick für das Geistige trübt; und weil doch nur sie wissen­schaftlich sein könne, müsse man seine Zuflucht zu etwas neh­men,

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das der Mensch anerkenne, obgleich er ihm gegenüber auf jede wissenschaftliche Einsicht verzichten müsse.

Man sagt dem, der solche Gedanken vorbringt heute, er rede in einer veralteten Art. Echte Wissenschaftlichkeit habe doch den materialistischen Standpunkt in vielen ihrer anerkannten Vertreter verlassen. Und man dürfe diesen deshalb der fortge­schrittenen Wissenschaft nicht mehr zuschreiben. Aber dieser Einwand beruht auf einer Illusion. Diejenigen, die ihn machen, beachten nicht, daß zwar Viele so weit gekommen sind einzu­sehen, daß das Sinnliche und Verstandesmäßige überall über sich selbst hinaus zu einem Übersinnlichen weist; aber sie las­sen doch nur eine Forschungsart gelten, die durch den Mate­rialismus großgezogen ist; sie möchten über das Materielle hin-ausdenken; aber sie Jassen Gedanken nicht gelten, die sich wirk­lich vom Materiellen losmachen. Der religiös Gesinnte kann sich nicht zufrieden geben mit dem, was sie vorbringen. Des­halb nimmt er lieber noch die ältere Meinung an, daß Wissen­schaft notwendig materialistisch sein müsse; die Wahrheit über den Geist könne deshalb nur einem nicht wissenschaft­lichen Glauben zugänglich sein.

Eine unbefangene geschichtliche Besinnung über die Ent­stehung der Glaubensbekenntnisse muß diese Meinung er­schüttern. Denn sie zeigt, daß alle Glaubensinhalte von etwas ausgegangen sind, das die Menschheit einmal als Wissen aner­kannt hat. Die Wissenschaft ist fortgeschritten; und diejeni­gen, welche mit dem Fortschritt nicht mitgekommen sind, ha­ben eine ältere Wissensschichte als ihr Bekenntnis behalten. Dieses ist dadurch zum Glauben geworden. Jedes Glaubens­bekenntnis galt einmal als Wissenschaft.

Nun hat aber jede ältere Wissenschaft einen Ideengehalt von dem Übersinnlichen gehabt. Die ältere, später zu Glaubensbe­kenntnissen gewordenen Wissensinhalte standen keiner «mo­dernen» bloß auf das Sinnlich-Materielle gerichteten «wah­ren» Wissenschaft gegenüber. Dieser Zustand ist erst in den letzten drei bis vier Jahrhunderten in der Menschheitsentwik­kelung heraufgezogen. Er hat im neunzehnten Jahrhundert

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seinen Höhepunkt erlangt. Die Wissenschaft hat das Geistige ganz aus ihrem Bereich verbannt.

Die Menschheit müßte zu diesem Entwickelungspunkte kommen. Nur an dem Zwang, dem sich die Menschenseele un­terwerfen muß, indem sie dem streng notwendigen Gange der Naturtatsachen mit ihrem Denken folgt, konnte sie die logi­sche Disziplin entwickeln, die ihr im Laufe des Fortschrittes erngepflanzt werden mußte. An diesem Entwickelungspunkte entstand die Naturwissenschaft, die von dem Geistigen nichts weiß. Sie hat durchaus in der Geschichte der Menschheitsent­wickelung ihre Berechtigung.

Was man heute als Glaubensinhalte gelten läßt, sind ältere Wissensschichten mit geistigem Gehalte. Sie stehen nun der «modernen» Wissenschaft gegenüber. Will man sie gelten las­sen, so muß man ihnen einen Wahrheitsgrund geben, der mit der Wissenschaft, die man als solche anerkennt, nichts zu tun hat.

Dem gegenüber steht nun die Anthroposophie. Sie ist voll Verständnis für den Grundcharakter der echten Naturwissen­schaft. Nur will sie zeigen, daß deren Abwendung vom Geisti­gen einer bloß zeitlichen Notwendigkeit entsprungen ist. Sie geht von der strengen Forschungsart der modernen Wissen­schaft aus, bleibt aber bei der Form nicht stehen, die sich in der neueren Zeit herausgebildet hat, sondern legt dar, daß der Mensch andere Erkenntniskräfte ebenso bewußt entwickeln kann wie die sinnliche Beobachtung und den an diese gebun­denen Verstand und kommt so zu einer Wissenschaft des Gei­stigen, die aus derselben Denkgesinnung stammt wie die Na­turwissenschaft.

Anthroposophie erkennt, wie das Vorurteil, das Wissen hemme des Menschen vertrauensvolle Hingabe an das Gei­stige, zu überwinden ist. Sie fordert, daß der Mensch, bevor er an die Erforschung des Geistigen herantritt, durch die Ent­wickelung der übersinnlichen Erkenntniskräfte über sich hin­auskomme. Gelangt er auf solche Art an das Geistige, so ist die religiöse Stimmung mit der Erkenntnis verbunden.

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Wäre Wissenschaft an sich geeignet, diese Stimmung zu hemmen, so hätten alle Glaubensbekenntnisse dies zur Folge haben müssen. Denn sie waren alle einmal «Wissenschaft».

Damit ist auf einen der Punkte hingewiesen, in denen sich die Gegnerschaften gegen die Anthroposophie entfachen. Er ist besonders geeignet zu zeigen, wie diese Gegnerschaften aus einer mangelhaften Würdigung der Tatsachen, auf ungeprüfter Hinnahme dessen sich ergeben, was in eingewurzelten Denk­gewohnheiten liegt. Anthroposophie möchte nicht ungeprüft hingenommen sein; aber derjenige, der sie mit vol]em Be­wußtsein in seine Überzeugung aufnimmt, der weiß, daß sie nichts von einer genauen Prüfung zu fürchten hat. Die Gegner meinen, sie könnte nur auf Autoritätsglauben gestützt sein. Sie ahnen oft nicht, wie ihre Ablehnung lediglich auf einem solchen Autoritätsglauben ruht.

IST ANTHROPOSOPHIE PHANTASTIK?

Für die Entwickelung des menschlichen Geisteslebens liegt ein in sich abgeschlossener Zeitabschnitt zwischen der aus dem griechischen Erkenntnisstreben herauftönenden Forde­rung: «Erkenne dich selbst» und dem im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts aus der naturwissenschaftlichen Weltbetrachtung abgelegten Bekenntnis: «Ignorabimus».

Der griechische Weltweise fand die Seelenverfassung des Menschen erst dann mit dem Leben selbst im Einklang, wenn die Erkenntnis der Welt in der Erkenntnis der Menschen­wesenheit gipfelte, die im Selbstbewußtsein sich offenbart.

Der moderne Denker, der vermeint, zu seinem Bekenntnis durch die Naturwissenschaft gedrängt zu werden, spricht dem Menschen gerade diese Gipfelung seiner Seelenverfas­sung ab. Als Du Bois-Reymond sein «Ignorabimus» sprach, da lebte in ihm der Glaube: alles Wissen des Menschen könne sich nur zwischen den beiden Polen bewegen, der Materie und der Bewußtheit. Diese beiden Pole aber entziehen sich der

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menschlichen Erkenntnis. Man wird die Offenbarungen der Materie erkennen können, insofern sie sich in Maß, Zahl und Gewicht bestimmen lassen; man wird aber nie erfahren kön­nen, was hinter diesen Offenbarungen selbst als «Materie im Raume spukt». Ebensowenig wird man zu erkennen vermö­gen, wie in der eigenen Seele das Erlebnis entsteht: «ich sehe rot», «ich rieche Rosenduft» und so weiter, also dasjenige, was im bewußten Leben sich abspielt. Denn wie sollte man begreifen, daß es einer Summe sich bewegender Kohlenstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- und Wasserstoffatome im Gehirne nicht gleichgültig sei, wie sie sich bewegten, wie sie sich be­wegt haben, wie sie sich bewegen werden. Man kann erfassen, wie sich der Stoff im Gehirn bewegt, man kann diese Bewe­gung nach den mathematischen Begriffen bestimmen; man kann sich aber keine Vorstellung davon machen, wie aus die­ser Bewegung die bewußte Empfindung aufsteigt gleich dem Rauch aus der Flamme.

Sollte der Mensch diese «Grenzen seines Erkennens» überschreiten, so müßte er von der Naturerkenntnis zur Gei­steserkenntnis fortschreiten. Und wo das Reden vom Geiste beginnt, da hört das Wissen auf, und es muß dem Glauben Platz machen. Das ist das Ignorabimus- («Wir werden nicht wissen») Bekenntnis.

Man kann nicht sagen, daß die moderne Seelenverfassung über dieses Ignorabimus-Bekenntnis in den anerkannten Er­kenntnisbestrebungen hinausgekommen wäre. Gewiß, es sind allerlei Versuche dazu gemacht worden; aber diese beschrän­ken sich doch darauf, auf diesen oder jenen Erkenntnisweg hinzuweisen; sie bringen aber nicht die Energie auf, diese Wege mit dem wirklichen Erkennen auch praktisch zu be­schreiten. Der eine oder der andere sieht ein, daß der Mensch in seiner Ideenbildung etwas erlebt, das eine selbständige, nicht materielle Wesenheit in sich trägt; aber man bringt nicht die Tatkraft auf, sich in diese geistige Art des Ideener­lebens so energisch hineinzuleben, daß man von der Erkennt­nis «die Ideen sind Geist» zu dem Erfassen der wirklichen

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Geisteswelt durchdringt, die sich in den Ideen nur wie an ihrer Oberfläche offenbart.

Man gelangt nur zu dem Erlebnisse: Wenn die Naturer­scheinungen an den Menschen herantreten, dann antwortet er ihnen aus seinem Innern mit den Ideen. Aber man erfaßt nicht das Leben in den Ideen selbst. Man sieht darauf hin, wie man von der Natur zu Ideen angeregt wird; aber man versetzt sich nicht in dasjenige innere Erleben, das in Ideen selbst webt.

Diesen Schritt macht erst die Anthroposophie. Und man erkennt an ihr, daß sie ihn macht, dadurch, daß in ihrem Ideen-Erleben die Ideen nicht Ideen bleiben, sondern zu einer geistigen Wahrnehmungsform werden. Wer nur die geistige Wesenheit der Ideen durchschaut, der muß dabei stehen blei­ben, in ihnen geistartige Bilder des Naturwesens zu sehen, bei denen er als dem einzigen unbegreiflichen Geistesinhalt sich zu beruhigen hat. Nur wer die im Ideenbilden unbewußt wirkende Seelentätigkeit zum inneren Erleben bringt, der steht dann durch dieses Erleben vor einer geistigen Wirklich­keit. Und dieses Erleben kann mit einer vollen Besonnenheit geführt werden, geradeso wie sie dem Mathematiker eignet, wenn er seine Probleme verfolgt. Aus den Denkgewohnhei­ten heraus, die man sich aus der Sinnen-Beobachtung, dem Experimentieren heraus angeeignet hat, fürchtet man heute, sofort in das Nebulose, Phantastische zu verfallen, wenn man mit der Ideenbildung nicht die Anlehnung an das hat, was die Sinne sagen, was die Meßmethoden, was die Waage er­geben. Man kommt dadurch nicht dazu, diejenige innere Seelenkraft bewußt in Tätigkeit überzuführen, die durch das Ideen-Bilden strömt, und in deren Erleben man ebenso an das Geistige stößt, wie durch die Tastorgane an das räumlich Ausgedehnte.

Was durch die Anthroposophie als Gedankenübung be­schrieben wird, führt zu diesem Erleben. Und weil da jeder Schritt dieses Erlebens in ebensolcher Besonnenheit voll-führt wird wie im Gebiete der Naturforschung das Messen

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und die Gewichtsbestimmung, so darf sich die Anthropo­sophie als die exakte Geistesforschung bezeichnen. Nur wer auf diesen exakten Charakter ihres Strebens nicht eingeht, wird sie mit den nebulosen Formen der Mystik zusammen­werfen, die heute so manchen Menschen betören.

Es behaupten nun auch manche, gerade weil Anthropo­sophie vom Erleben ausgehe, dürfe sie sich nicht den Charak­ter einer Erkenntnis zuschreiben. Denn Erkenntnis sei erst vorhanden, wo vom Erleben zum Herleiten des Einen aus dem Andern, zum logischen Verarbeiten und so weiter über­gegangen wird.

Wer dies sagt, hat nicht beachtet, wie alle die Seelenbetäti­gungen, durch welche der moderne Mensch seine Wissen­schaftlichkeit begründet, durch die Anthroposophie eben in das Erleben übergehen. Man verläßt in diesem Erleben nicht die Wissenschaftlichkeit, um zu einer phantastischen Seelen­tätigkeit überzugehen; sondern man nimmt eben die volle Wissenschaftlichkeit in das Erleben mit hinein.

In jedem Schritte der in dieser Wochenschrift öfter von den verschiedenen Gesichtspunkten aus beschriebenen gei­stigen Erkenntnisarten, der Imagination, Inspiration und echten Intuition lebt die Wissenschaftlichkeit mit ihrem vol­len Grundcharakter weiter, nur auf dem Geistgebiete statt auf dem Naturgebiete.

Als Du Bois-Reymond sein Bekenntnis «Wir werden nicht wissen» ablegte, da stand vor seiner Seele, wie der Mensch innerlich erlebt: «ich sehe rot», «ich rieche Rosenduft» und wie jenseits dieses Erlebens «die Materie im Raume spukt» und der Mensch nicht an sie herankann. Auf diesem Wege kann er es auch nicht. Aber wenn er das Ideenbilden zum be­wußten Erleben in der Imagination bringt, dann öffnet er das geistige Wahrnehmungsvermögen dem Geiste, dieser offen­bart sich dann in der Inspiration, und der Mensch vereinigt sich als Geist mit dem Geiste in der Intuition. So findet der Mensch auf diesem Wege den Geist. Erlebt er sich aber in diesem, so gelangt er zwar nicht durch das Erlebnis «ich sehe

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rot», «ich rieche Rosenduft» durch die Oberfläche der Rose in &e Rose hinein; aber er kommt zu dem Erleben dessen, was ihm von der Rose aus als Rot entgegenleuchtet, als Ro­senduft entgegenströmt; er findet, daß er an die andere Seite des Rotleuchtens, des Rosenduftens gekommen ist; die Ma­terie hört auf «im Raume zu spuken»; sie offenbart ihren Geist, und es wird eingesehen, daß der Glaube an die Materie nur ein Vorstadium ist für die Erkenntnis, daß auch im Raume nicht Materie spukt, sondern Geist waltet. Und die Vorstellung «Materie» ist nur eine provisorische, die so lange ihre Berechtigung hat, als ihr Geistcharakter nicht durchschaut ist. Man muß aber doch von dieser «Berechti­gung» sprechen. Denn die Annahme der Materie ist begrün­det, solange man mit den Sinnen wahrnehmend der Welt ge­genübersteht. Wer in dieser Lage den Versuch macht, irgend welche geistige Wesenheit hinter den Sinneswahrnehmungen statt der Materie anzunehmen, der phantasiert von einer Gei­steswelt. Wer erst im inneren Erleben zum Geiste vordringt, dem verwandelt sich nicht träumerisch, sondern exakt an­schaulich das, was hinter den Sinneseindrücken zuerst als Materie «spukt», in eine Form der Geisteswelt, der er selbst mit dem Ewigen seines Wesens angehört.

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ANTHROPOSOPHIE UND IDEALISMUS

Man würde der Anthroposophie mehr Verständnis entgegen­bringen, als dies heute von mancher Seite geschieht, wenn man sich in das Wesen der Geisteskämpfe vertiefen würde, die in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts statt­gefunden haben.

Das war die Zeit, in welcher gewissen Denkern der Sieg des naturwissenschaftlichen Forschens über das philosophi­sche Streben, wie es sich in der vorangehenden Epoche be­tätigt hatte, entschieden schien. Man wies da auf Hegel hin, der nach der Meinung dieser Denker aus der Idee habe die ganze Welt herausentwickeln wollen, der aber in seinen Ge­dankenkonstruktionen die Welt der Wirklichkeit völlig ver­loren habe; während die souveräne Naturwissenschaft von dieser Wirklichkeit ausgehe und sich auf Ideen nur so weit einlasse, als die Beobachtung der Sinneswelt dies gestatte.

Dieser Denkungsart schienen die positiven Ergebnisse der Naturforschung in allen Punkten Recht zu geben. Man braucht nur Bücher, wie etwa Moriz Carrieres 1877 erschie­nene «Sittliche Weltordnung» eindringlich durchzulesen, und man wird sich dadurch mit einem Geisteskämpfer be­kanntmachen, welcher der «souveränen Naturwissenschaft» gegenüber das Recht des Idealismus verteidigen wollte. Sol­che Geistes kämpfer gab es in jener Zeit viele. Man kann wohl sagen, die tonangebende Geistesrichtung ist über sie hinweg-geschritten in dem Bewußtsein, daß deren Sache verloren sei. Es ist ihnen allmählich keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt worden. Sie wollten durch ihren wissenschaftlichen Idealis­mus der Menschheit das Erkennen der geistigen Welt retten. Sie durchschauten, daß die «souveräne Naturwissenschaft» diese Erkenntnis gefährden muß. Sie setzten dem sinnlich Beobachteten die im menschlichen Selbstbewußtsein lebende Ideenwelt gegenüber und glaubten in dieser ein Zeugnis da­für zu besitzen, daß Geist in der Welt waltet. Sie vermochten aber ihre Gegner nicht zu überzeugen, daß die Ideenwelt von

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einer anderen Wirklichkeit spricht als die ist, auf welcher die Naturwissenschaft baut.

Die Anthroposophie empfindet anders, wenn sie zu diesen Geisteskämpfern zurücksieht, als die auf dem Boden der «souveränen Naturwissenschaft» stehenden Denker. Sie sieht in ihnen Persönlichkeiten, die bis zu dem Tore der Gei­steswelt kamen, die aber nicht die Kraft hatten, dieses Tor zu öffnen. Der wissenschaftliche Idealismus hat recht; aber nur so weit wie jemand, der sich vorsetzt, eine Gegend zu betre­ten, der aber nur das Wollen aufbringt, bis an die Grenze der Gegend zu gelangen, nicht aber das andere, diese Grenze auch zu überschreiten.

Die Ideen, auf welche Garriere und seine Gesinnungsgenos-sen verwiesen, sind wie der Leichnam eines Lebewesens, der in seiner Gestaltung auf das Lebendige deutet, es aber nicht mehr enthält. Auch die Ideen des wissenschaftlichen Idealismus deu­ten auf das Leben des Geistes, sie enthalten es aber nicht. - Der wissenschaftliche Idealismus strebte nach den Ideen; die An­throposophie strebt nach dem Geistesleben in den Ideen. Sie findet hinter der Denkkraft, die sich zu den Ideen erhebt, eine geistige Bildekraft, welche den Ideen innewohnt wie das Leben dem Organismus. Hinter dem Denken liegt in der mensch­lichen Seele die Imagination. Wer Wirklichkeit nur erleben kann in Anlehnung an die Sinneswelt, der muß diese Imagina­tion nur als eine andere Form der Phantasie ansehen.

In der Phantasie erschafft sich der Mensch eine Bilderwelt, der er im Verhältnis zum Sinnesdasein keine Wirklichkeit zu-schreibt. Er gestaltet diese Welt sich zur Freude, zum inner­lichen Wohlgefallen. Er kümmert sich nicht darum, woher er die Gabe zur Erschaflung dieser Welt hat. Er läßt sie aus seinem Innern hervorquellen, ohne sich auf ihren Ursprung zu besinnen.

In der Anthroposophie erfährt man etwas über diesen Ur­sprung. Was da im Menschen waltet als die oft so beglückende Phantasie, ist das Kind des Kräftewesens, das im Kinde wirkt, wenn es wächst, was im Menschenwesen überhaupt tätig ist,

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wenn dieses die toten Stoffe zur Menschenform erbildet. Die Welt hat im Menschen etwas übrig gelassen von dem Maß dieser Wachstums-, dieser bildenden Kraft, etwas, das sie zur Gestaltung des Menschenwesens nicht aufbraucht. Der Mensch setzt sich in Besitz dieses Restes der Kraft, die sein eigenes Wesen gestaltet, und entfaltet ihn als Phantasie. Auch an der Pforte dieser Erkenntnis stand einer der Geisteskämp­fer, auf die hier hingedeutet ist. Frohschammer, Carrieres Zeitgenosse, hat eine Anzahl Bücher geschrieben, in denen er die Phantasie zur Weltschöpferin macht wie Hegel die Idee oder Schopenhauer den Willen.

Aber man kann bei der Phantasie so wenig stehen bleiben, wie bei der Idee. Denn in der Phantasie ist ein Rest der welt-schöpferischen Kraft wirksam, die im Menschenwesen ge­staltend wirkt. Es muß mit der Seele auch hinter die Phan­tasie gedrungen werden.

Das geschieht in der imaginativen Erkenntnis. Diese setzt die Phantasietätigkeit nicht etwa bloß fort; sie bleibt zunächst in ihr stehen, empfindet deutlich, warum sie sich dem Sinnes-dasein gegenüber nur zur Unwirklichkeit bekennen kann, kehrt aber nun auf dem Wege um und gelangt rückwärts schreitend zum Ursprunge der Phantasie und des Denkens. Sie rückt dadurch in die geistige Wirklichkeit ein, die sich ihr im Weiterdringen durch Inspiration und Intuition (gei­stige Wahrnehmung) offenbart. Sie steht in dieser geistigen Wirklichkeit wie die sinnliche Wahrnehmung in der physi­schen Wirklichkeit steht.

Die Imagination kann nur derjenige mit der Phantasie ver­wechseln, der den Lebensruck nicht empfindet zwischen dem Bewußtsein, das von den Sinnen abhängig ist und demjeni­gen, das im Geiste lebt. Ein solcher aber gliche dem, der aus einem Traume erwacht, aber das Erwachen nicht als einen Lebensruck empfindet, sondern beide Erlebnisse, das Träu­men und das Wachsein, als gleichbedeutend ansähe.

Der abstrakte Denker fürchtet, daß in der Imagination weiter phantasiert werde; der künstlerische Mensch empfindet

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es leicht unbehaglich, daß die Phantasietätigkeit, in der er sich freischaffend, von der Wirklichkeit unbehelligt, entfal­ten will, eine andere Tätigkeit gelten lassen soll, deren Kind sie zwar ist, die aber im Bereich einer wahren Wirklichkeit waltet. Er vermeint, dadurch fiele auf das freie Kind der Menschenseele ein Schatten. Doch das ist nicht der Fall. Son­dern das Erleben der geistigen Wirklichkeit läßt das Herz nur höher schlagen bei der Erkenntnis, daß der Geist mit der Kunst in die Sinneswelt einen Sprößling sendet, der in dieser nur deshalb als unwirklich erscheint, weil er seinen Ursprung «in einer andern Welt hat».

Anthroposophie möchte das Tor öfinen, an dem edle Gei­steskämpfer in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhun­derts gestanden haben, ohne die Kraft, dieses Tor aufzu­schließen. Ihnen hat die Denkkraft den Weg bis zu den Ideen gewiesen; aber diese Denkkraft erstarrte in den Ideen; An­throposophie hat die Aufgabe, das Schmelzen der erstarrten Kraft zu bewirken.

ANTHROPOSOPHIE UND MYSTIK

So wie man die Mystik heute kennt, ist sie ein Suchen nach inneren Erlebnissen, deren Erfahrung den Menschen befrie­digt, nachdem ihm die Sehnsucht nach Erkenntnis des eige­nen Wesens und seines Verhältnisses zur Welt aufgestiegen ist. Die nicht ganz bewußte Voraussetzung dabei ist, daß der Mensch imstande ist, Seelenkräfte zu entfalten, durch die er sich in das eigene Wesen bis in diejenige Tiefe versenken kann, in der er mit den Wurzeln des weltgestaltenden Daseins zu­sammenhängt.

Der Weg, der da in das eigene Innere der Seele genommen wird, stellt sich der genaueren Betrachtung als eine Fortset­zung

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* Dieser Artikel schließt sich mit den vorangehenden: «Ist Anthroposophie Phantastik?» und «Anthroposophie und Idealismus» zu einem Ganzen zusam­men.

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desjenigen dar, den man bei der gewöhnlichen Erinne­rang geht. Diese gibt dem seelischen Erleben in Bildern das­jenige wieder, was der Mensch im Verkehr mit der Welt er­lebt hat. Die Bilder können mehr oder weniger treu die Er­lebnisse wiedergeben, oder auch sie phantasievoll in der raannigfaltigsten Art umgestalten. Man wird den Vorgang, der naturgemäß sehr kompliziert ist, sich am einfachsten da­durch vergegenwärtigen, daß man den Vergleich mit einem Spiegel gebraucht. Die Eindrücke der Außenwelt werden von dem Menschen durch die Sinne aufgenommen und durch die Denkkräfte verarbeitet. Sie treffen innerhalb des Organis­mus auf Vorgänge auf, in denen sie nicht weiterlaufen, son­dern aufgehalten und, im gegebenen Falle, wie die Lichtbil­der von der Spiegelwand zurückgeworfen werden. Das Zu­rückwerfen geschieht allerdings so, daß der menschliche Or­ganismus mehr oder weniger verändernd auf die von außen erhaltenen Eindrücke wirkt.

Der Mystiker dringt nun mit verstärkten Seelenkräften tie­fer in das eigene Wesen ein, als dies bei der gewöhnlichen Er­innerung geschieht. Er stößt gewissermaßen durch die ver­stärkten Seelenkräfte hinter die Spiegelwand. Da trifft er dann auf Regionen der eigenen Organisation, die von dem Vor­gang der gewöhnlichen Erinnerung nicht erreicht werden. Die Kräfte dieser Regionen wirken zwar mit, wenn Erinne­rung zustande kommt; aber sie bleiben unbewußt. Es tritt nur ihre Wirkung zutage, indem das Erinnemngsbild gegen­über dem unmittelbaren Erlebnis etwas verändert ist. Was aber der Mystiker als die Ursachen dieser Wirkungen in sein Bewußtsein herein bekommt, das wird so erlebt wie eine Er­innerung. Es hat den Bildcharakter der Erinnerung. Wäh­rend aber diese Erlebnisse wiedergibt, die im Erdenleben des Menschen einmal da waren, aber im Augenblicke des Erle­bens nicht mehr da sind, erlebt der Mystiker Bilder, die nie­mals Erdenerlebnisse waren. In der Form von Erinnerungs­gedanken erlebt er eine Bildwelt, die eben nicht Erinnerung ist.

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Wenn man mit anthroposophischer Forschung an diese Dinge herankommt, so wird man gewahr, daß in den auf die gekennzeichnete Art gewonnenen mystischen Bildern die Vorgänge des eigenen Leibes sich offenbaren. In einer Art Symbolik, wie sie auch in den Traumbildern vorliegt, ge­schieht dieses. Man kann schon sagen: der Mystiker träumt von den Vorgängen der eigenen Leibesorganisation.

Es liegt ja gewiß für manchen, der von der Mystik anders denkt, eine arge Enttäuschung vor, indem das Obige aufge­deckt wird. Aber für denjenigen, der in die Rätsel der Wirk­lichkeitswelt eindringen will, ist jede Art von Erkenntnis willkommen, also auch die, daß, seelisch in einer gewissen Weise angesehen, die Leibesvorgänge als ein Gewebe er­scheinen, das gleich den nächtlichen Träumen ist. Und in weiterem Verfolge dieser Erkenntnis zeigt sich, daß diese Tatsache ein Bürge dafür ist, wie die Leibesorganisation des Menschen zuletzt in seelischen Quellen den Ursprung hat.

Der anthroposophische Forscher muß diese Dinge kennen . er muß sich auf Wege und Aussichten der Mystik verstehen. Aber sein Weg ist ein anderer. Er dringt nicht wie der Mysti­ker unmittelbar hinter den Erinnerungsspiegel und so in die Leibesorganisation. Er verwandelt die Erinnerungskräfte, solange sie noch seelisch geistige, solange sie reine Gedanken-kräfte sind. Das geschieht auf dem Wege der Konzentration dieser Kräfte und des meditativen Verhaltens in denselben. Er verweilt auf überschaubaren Vorstellungen mit stark kon­zentrierten Seelenkräften. Dadurch verstärkt er diese Kräfte innerhalb der Region des Seelischen, während der Mystiker in das Gebiet der Leiblichkeit untertaucht.

Der anthroposophische Forscher kommt dadurch zur An­schauung eines feineren, ätherischen, eines Bildekräfteleibes, der als ein höherer mit dem physischen Menschenleibe ver­bunden ist. Der Mystiker kommt in ein Träumen über den physischen Leib hinein; der anthroposophische Forscher kommt zu einer überphysischen Wirklichkeit. Dieser Bilde­kräfteleib lebt nicht mehr in den räumlichen Formen; er lebt

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in einem rein zeitlichen Dasein. Er ist gegenüber dem räum­lichen physischen Leib ein Zeitleib. Er stellt zunächst wie in einem auf einmal überschaubaren Tableau die Wirkungs-kräfte, die am physischen Leibe im Erdensein des Menschen tätig waren, in ihrem zeitlichen Verlaufe dar. Er unterschei­det sich deutlich von einer bloßen umfassenden Erinnerungs­vorstellung des bisherigen Erdenlebens eines Menschen in einem gewissen Augenblicke. Eine solche Erinnerungsvor­stellung stellt mehr die Art dar, wie die Welt und Menschen an den Erinnernden herangetreten sind; dieses charakteri­sierte Lebenstableau enthält aber die Summe und das Durch­einanderwirken der aus dem Innern des Menschenwesens kommenden Impulse, durch die der Mensch an die Welt und an andere Menschen in Sympathie und Antipathie herange­treten ist. Es gibt dadurch die Art, wie sich der Mensch das Leben gestaltet hat. Es verhält sich dies Lebenstableau zur Erinnerungsvorstellung wie der Eindruck im Petschaft zum Abdruck im Siegellack.

In diesem Lebenstableau hat man einen ersten Gegenstand der anthroposophischen Forschung; man kann, von ihm aus­gehend, weitere Schritte unternehmen.

Das hier Ausgeführte wird zeigen, wie wenig man die Sache trifft, wenn man Anthroposophie zusammenwifft mit andern bekannten seelischen Forschungswegen. Man hat in ihr nicht abstrakten Idealismus, sondern konkrete Geist-Erkennt­nis; und so hat man sie auch nicht in ihrer Eigenart ge­troffen, wenn man sie mit dieser oder jener Form des Mysti­schen identifiziert, nur um sich nicht auf ihr ureigenes Wesen einzulassen, sondern sie mit dem abzutun, was man über eine solche Form als Meinung aufstellt, oder bei Vielen voraus­setzt. Wird dies einmal berücksichtigt werden, so werden viele Mißurteile schwinden, die heute noch mit Bezug auf Anthroposophie in der Welt herumschwirren.

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DAS GOETHEANUM IN DORNACH UND SEINE ARBEIT*

Das «Goetheanum» in dem schweizerischen Dornach bei Basel will eine Hochschule für die Pflege einer Wissenschaft vom Geiste und einer Kunst aus dem Geiste sein. Jedes sek­tiererische Streben soll hier ausgeschlossen sein. Es wird nicht eine neue Religion beabsichtigt; aber die religiöse Ver­tiefung, die keinem Bekenntnis feindlich entgegentritt, kann gefördert werden durch eine Erkenntnis der geistigen Welt und durch die Ausübung einer geisterfüllten Kunst.

Dieser Absicht dient schon der Bau des Goetheanums. Es ist nicht ein Gebäude in einer geschichtlich überlieferten Kunstform errichtet worden. Man sieht hier eine neue Stil­form, die man in ihrer Art noch unvollkommen, vielleicht auch noch mit künstlerischen Irrtümern behaftet finden mag; sie ist aber hervorgegangen aus demjenigen Streben der Ge­genwart, das ebenso nach einer neuen Stilform gerichtet ist, wie einst der Menschengeist nach den griechischen oder go­tischen, oder Barockformen verlangte. Es gibt heute schon viele Menschen in allen Gegenden der zivilisierten Welt, die von der Notwendigkeit einer solchen Stilerneuerung über­zeugt sind. Im Goetheanum sollen diese Überzeugungen ei­nen Mittelpunkt finden.

Architektur, Malerei, Plastik dieses Baues sind in einheit­licher Art von dieser Idee getragen. Die Dynamik und Sym­metrie der alten Architektur sollten aus dem mathematisch-mechanischen in die Sphäre eines organisch lebendigen Baugedankens gebracht werden. Die plastische Form sollte aus der Welt eines exakten Schauens befruchtet, die Farbenhar­monik durch das Erleben in einem solchen Schauen in eine Offenbarung des Geistigen gewandelt werden. Was man so erstrebte, gibt dem Bau des Goetheanums seinen vielleicht heute noch unvollkommenen Charakter; kann aber Ausgangspunkt

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* Dieser Aufsatz ist seinem wesentlichen Inhalt nach zuerst in der englischen Zeitschrift «Anthroposophy» erschienen.

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für ein umfassendes Wollen nach dieser Richtung in der Zukunft werden.

Dieses Gebäude bildet die Umrahmung für wissenschaft­liches, künstlerisches, pädagogisches und soziales Wirken. Die Wissenschaft, die hier gepflegt wird, will eine wahre Geistes-Erkenntnis sein. Sie steht nicht in einem Gegensatz zu den anerkannten Wissenschaften der Gegenwart; sie läßt diese ihre Erkenntnisse aussprechen, wo ihre berechtigten Methoden sprechen müssen. Aber sie kommt zu der Einsicht, daß es neben den naturwissenschaftlichen wahre geisteswis­senschaftliche Methoden gibt. Diese bestehen nicht in äußeren Experimental-Arbeiten, sondern in einer Entwickelung der für das gewöhnliche Bewußtsein verborgenen Kräfte der Menschenseele. Aber bei dieser Methode kommt nicht eine nebulose Mystik zum Vorschein, sondern solche Fähigkeiten, die ebenso exakt wirken wie die mathematisch-geometrischen. Deshalb kann man von einem exakten übersinnlichen Schauen sprechen. Die mathematische Fähigkeit wirkt exakt, sie ent­wickelt sich auf elementare Art in der Menschenseele; dieses Schauen wirkt ebenso exakt; es muß von dem Menschen durch Selbsterziehung erlangt werden.

Für die Anthropologie schreitet dieses Schauen von der Erkenntnis der vergänglichen Menschennatur zu der un­sterblichen Wesenheit des Menschen wissenschaftlich fort; für die Kosmologie geschieht dasselbe für die geistigen Ge­setze der Weltentwickelung. Über die Einzelheiten der Ent­wickelung des exakten übersinnlichen Schauens gibt eine umfassende Literatur der anthroposophischen Bewegung Auskunft. Dort findet man die Wege von der Anthropologie zur Anthroposophie, von der Kosmologie zur Kosmosophie.

Vom Künstlerischen kann man bis jetzt nur pflegen die Eurythmie und einiges Deklamatorische und Dramatische neben Musikalischem. Die Eurythmie, die im Goetheanum, und, von da ausgehend, an vielen Orten schon gepflegt wird, ist nicht zu verwechseln mit den mimischen oder tanzartigen Künsten. Sie beruht auf dem Herausholen von Bewegungen

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des menschlichen Körpers aus den Tiefen der menschlichen Wesenheit. Man holt diese Bewegungen aus der Menschennatur so hervor, wie die Natur die Sprache hervorholt. Eu­rythmie ist eine sichtbare Sprache und kann künstlerisch so gestaltet werden wie die hörbare Sprache durch den Dich­ter. Sie begleitet dann Deklamation, Rezitation und Musik. Dichtung und Musik erhalten dadurch eine Offenbarung, die sie durch Laut und Ton allein noch nicht haben.

Man strebt darnach, auch andere Künste innerhalb des Goetheanums zu pflegen. Vor allem sollen demnächst My­sterien-Aufführungen zustande kommen.

Vom Goetheanum geht auch eine pädagogische Wirksam­keit für die Jugend aus. In Dornach selbst können nur Kin­dern, die über das schulpflichtige Alter hinaus sind, einzelne Fortbildungsstunden gegeben werden. Doch steht in Aus­sicht, daß eine vollständige Volksschule in Basel demnächst errichtet werden kann. Eine solche haben wir in Stuttgart durch die Waldorfschule. Diese ist im Jahre 1919 mit etwa 150 Kindern durch Emil Molt begründet worden. Heute zählt sie gegen 700 Schüler und Schülerinnen. Es wirken etwa 35 Lehrkräfte. Dort werden die Kinder mit sechs Jahren aufgenommen und der Unterricht und die Erziehung sollen bis zur Aufnahme in die Hochschule fortgeführt werden. Bis jetzt sind elf Klassen errichtet. Es ist beabsichtigt, jedes Jahr eine weitere Klasse nach oben anzufügen. Wenn die Verhält­nisse es gestatten werden, soli nach unten später eine Art Kindergarten hinzugefügt werden.

Die Erziehung und der Unterricht beruhen da auf der­jenigen vollständigen Menschen-Erkenntnis, die von einer wahren Geistes-Wissenschaft geliefert werden kann. Diese Pädagogik kommt in keinen Widerspruch mit den Grund­sätzen bewährter Pädagogen der neuesten Zeit. Sie steht mit diesen im vollen Einklange. Aber sie arbeitet mit den Er­kenntnissen, die eine wahre Wissenschaft vom Geiste geben kann. Es soll nicht eine bestimmte dogmatische Richtung, auch nicht die anthroposophische einseitig gepflegt werden;

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sondern es soll die Geist-Erkenntnis in die pädagogische Me­thodik einfließen; es soll, was der Lehrer durch Geist-Er­kenntnis wissen kann, bei ihm zur Erziehungs- und Unter­richtskunst werden. In jedem Schuljahre wird genau das­jenige gepflegt, was die menschliche Natur des Kindes ver­langt. Geist, Seele und Körper finden dadurch in völliger Harmonie ihre Entwickelung. Da ergibt sich, zum Beispiel, für die ersten Schuljahre die Notwendigkeit, die pädagogi­sche Methode ganz vom Abstrakt-Jntellektuellen abzulenken und zu einem künstlerischen Behandeln des Schreib- und Lese-Unterrichtes hinzuführen. Für die Ermüdungsverhält­nisse der Kinder treten da, zum Beispiel, in Beziehung zur Menschennatur weit günstigere Erfahrungen hervor, als man sie mit der bisherigen Pädagogik gemacht hat.

In der Waldorfschule sind Kinder aus allen Klassen der Bevölkerung; sie erlangen allgemein-menschliche Erziehung und Unterricht.

Wie die Geisteswissenschaft des Goetheanums auf das so­ziale Leben wirken möchte, ersieht man aus meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwen­digkeiten der Gegenwart und der Zukunft». Die pädagogi­sche Arbeit ist ein Anfang dieser Wirksamkeit. Es wird von dem Verständnis, das der Dornacher Gedanke in weiteren Kreisen findet, abhängen, wie er sich für die verschiedensten Gebiete des Lebens wirksam erweisen wird.

Es hat der Opferwilligkeit vieler Persönlichkeiten bedurft, um in Dornach das zustande zu bringen, was bis jetzt da zu finden ist. Aber die Opfer, welche diese Persönlichkeiten in reichem Maße gebracht haben, scheinen in der allernächsten Zeit erschöpft zu sein; und die Arbeit in Dornach müßte weitergehen können. Dazu wird dringend nötig sein, daß das schöne Interesse, das der Dornacher Gedanke bis jetzt bei einem immerhin schon nicht ganz kleinen Kreise gefun­den hat, sich ausdehne über ganz weite Kreise, und daß er von diesen als eine Notwendigkeit der Zeit anerkannt werde. Es wird das nur geschehen können, wenn das Dornacher

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Goetheanum ein Zentrum wird, in dem die hier charakteri­sierten geistigen, künstlerischen und pädagogischen Arbeiten fortlaufend so getan werden können, daß sich in demselben von Zeit zu Zeit Menschen einfinden, die da den Goethe­anum-Gedanken theoretisch und praktisch kennen lernen. Dann wird er von diesen an anderen Orten selbständig ge­pflegt und von seinem unvollkommenen Anfange aus zu weiteren immer vollkommeneren Stadien in der zivilisierten Welt gemacht werden können. Eine solche Zentralisierung und Ausstrahlung wird notwendig sein, wenn die Tätigkeit der in Dornach und Stuttgart wirkenden Persönlichkeiten, die jetzt an die verschiedensten Orte gerufen werden, um über den Goetheanum-Gedanken zu sprechen, nicht zu sehr zersplittert werden soll.

ANTHROPOSOPHIE, ERZIEHUNG, SCHULE

Anthroposophie strebt nach einer Anschauung von Welt und Mensch, die sie in fruchtbarer Art in der Erziehungs- und Unterrichtskunst zur Anwendung bringen kann. Ihre Men­schenkenntnis ist nicht aus zufälligen Beobachtungen, die am Menschen gemacht werden, zusammengetragen. Sie geht bis zu den Grundlagen der menschlichen Wesenheit. Sie sieht in jeder einzelnen menschlichen Individualität den Menschen im allgemeinen. Aber sie wird doch nicht zur abstrakten Theorie, die den Menschen in allgemeine Kräfte auflöst, in­dem sie ilin erkennen will. Ihre Gedanken über den Men­schen sind Erlebnisse am Menschen. Ihre Erkenntnisse be­leben die Empfindungen füt das Menschliche. Sie lassen die Geheimnisse nicht nur des Menschen im allgemeinen, son­dern jeder besonderen Menschennatur vor dem Seelenblicke zur Offenbarung kommen.

Anthroposophie vereinigt die theoretische Weltbetrach­tung mit der lebensvollen unmittelbaren Anschauung. Sie braucht nicht erst künstlich aligemeine Gesetze auf die einzelnen

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Erscheinungen des Lebens anzuwenden; sie bleibt vom Anfang an im vollen Leben stehen, indem sie in dem­selben das Allgemeine selbst als Leben schaut.

Dadurch ist sie auch praktische Menschenkunde. Sie weiß sich zu helfen, wenn sie diese oder jene Eigenschaft am heran­wachsenden Menschen wahrnimmt. Sie kann sich eine Vor­stellung davon machen, woraus eine solche Eigenschaft kommt und wohin sie weist. Und sie strebt nach einer sol­chen Erkenntnis des Menschen, daß die Erkenntnis zugleich die Geschicklichkeit gibt, eine solche Eigenschaft zu behan­deln. Im Erkennen des Menschen wird dem Erkennenden das Eingehen auf die menschliche Eigenart vermittelt.

Man braucht die Anschauungen, zu denen Anthroposophie über den Menschen kommt, nur zu Ende zu führen, und sie werden wie von selbst zur Erziehungs- und Unterrichtskunst.

Eine abstrakte Erkenntnis des Menschen führt hinweg von derjenigen Menschenliebe, die eine Grundkraft alles Erzie­hens und Unterrichtens sein muß. Anthroposophische An­schauung vom Menschen muß mit jedem Vorrücken in der Menschen-Erkenntnis die Menschenliebe steigern.

Wer den lebendigen Organismus betrachten will, der muß sein Augenmerk darauf lenken, wie der einzelne Teil zum Leben des Ganzen steht und auch, wie das Ganze sich im ein­zelnen Teil wirksam offenbart. Man kann nicht das Hirn ver­stehen, wenn man nicht die Wirksamkeit des Herzens durch­schaut. So ist es aber auch in dem zeitlich verlaufenden Leben des Menschen. Man kann die Erscheinungen des Kindes-alters nicht verstehen, wenn man in ihnen nicht die Eigen­heiten des erwachsenen Menschen schaut. Das Menschen­leben ist ein Ganzes; es ist ein Orgarnismus in der Zeit. Das Kind lernt in Ehrfurcht zu dem erwachsenen Menschen aufschauen. Es lernt die Menschenverehrung. Diese Ehrfurcht, diese Menschenverehrung prägen sich dem Lebenswesen ein; sie wandeln sich aber auch im Laufe des Lebens. Denn Leben ist Verwandlung. Ehrfurcht vor Menschen, Verehrung für Men­schen, die sich in der Kindheit fest einwurzeln in das Men­schengemüt

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- sie erscheinen im späteren Leben als die Kraft im Menschen, die einen andern Menschen wirksam trösten, die ihm kräftig raten kann. Keiner wird als Fünfundvierzig-jähriger in seinen Worten die Wärme zum Trost- und Rat-spenden haben, der nicht als Kind in die Lage gebracht wor­den ist, andre Menschen in scheuer Ehrfurcht anzusehen, in rechter Art zu verehren. Und so ist es mit allem im Menschen­leben. - Auch mit dem Physisch-Leiblichen und Seelisch-Geistigen ist es so. Man versteht das Leibliche nur, wenn man es in jedem seiner Glieder als Offenbarung des Geistigen be­greift. Und man erhält in das Geistige nur Einsicht, wenn man seine Offenbarungen im Physischen richtig zu beobachten vermag.

Das Kindesalter kann seine Wesenheit nicht durch das­jenige offenbaren, was es nur an sich selber beobachten läßt. Das Menschenleben ist ein Ganzes. Und nur eine umfassende Menschen-Erkenntnis führt zum Verständnisse des kindli­chen Lebens. Im Abstrakten wird man dies leicht zugeben.

Aber Anthroposophie möchte diese Anschauung bis zur kon­kreten Lebenskunde und Lebenskunst ausbilden. Sie muß sich zu einer Erziehungs- und Unterrichtskunst entwickeln, die sich verantwortlich fühlt für das ganze Menschenleben, indem man ihr den heranwachsenden Menschen anvertraut. Es klingt ganz schön, wenn man sagt: entwickele die indi­viduellen Anlagen des Kindes, hole alles, was du in deinem Erziehen und Unterrichten vornimmst, aus diesen Anlagen heraus. Man kann so lange mit solchen schönen Grundsätzen nichts anfangen, als man nicht in der eigenen Seele eine An­schauung von dem ganzen Lebenslauf des Menschen trägt. Und nach einer solchen Anschauung strebt anthroposophische Menschen-Erkenntnis.

Indem solches ausgesprochen wird, hört man oft erwidern:

dazu braucht man nicht Anthroposophie. Das liegt doch alles schon in den Anschauungen der neuzeitlichen Pädagogik. Gewiß, in deren abstrakten Prinzipien liegt es. Aber eben dar­um handelt es sich, daß eine wirkliche Erkenntnis des Men­schen

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nach Leib, Seele und Geist dazu führe, die abstrakten Forderungen in wirkliche, lebensvolle Kunst umzusetzen. Und für dieses praktische Umsetzen ist eine Menschen-Er­kenntnis nötig, die zwar auf den guten Grundlagen des mo­dernen naturwissenschaftlichen Erkennens fußt, die aber von diesen aus zu einem geistgemäßen Verständnis des Menschen vordringt. Wer mit den Vorstellungen, die ihm Naturanschau­ung gibt, an den Menschen herantritt, der kann wohl zu der Ansicht kommen: man entwickele diese oder jene Anlage des Menschen; aber diese Ansicht bleibt so lange eine ab­strakte Forderung, als man nicht im ganzen Menschen nach Leib, Seele und Geist die Anlage als Teil-Offenbarung er-schaut.

Man möchte sagen: die heute anerkannte Weltanschauung gibt Forderungen über Erziehung und Unterricht; ihr aber fehlt die Möglichkeit, diese Forderungen durch eine prak­tische Lebenskunde zu erfüllen: Anthroposophie will diese Lebenspraxis geben. Wer dies durchschaut, wird in Anthro­posophie auf keinem Gebiete eine Gegnerin der neuzeitlichen Anschauungen und Entwickelungskräfte sehen, sondern er kann von ihr die Erfüllung dessen hoffen, was in diesen An­schauungen und Kräften abstrakt liegt.

Die Menschheit wird sich eben dazu bekennen müssen, vieles von dem was sie heute für praktisch hält, in das Gebiet der Leben s-Illusionen zu verweisen; und vieles, was ihr idealistisch-unpraktisch dünkt, gerade als das Wirklichkeit­gemäße anzusehen. Auf dem Gebiete der Erziehungs- und Unterrichtskunst wird ein solcher Anschauungswandel ganz besonders nötig sein. Die großen Fragen des Menschheit-Lebens führen nun einmal in die Kinder- und Schulstube.

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EIN VORTRAG ÜBER PÄDAGOGIK WÄHREND DES FRANZÖSISCHEN KURSES AM GOETHEANUM

16 September 1922

Die Gegenwart ist die Zeit des Intellektualismus. Der Intel-lekt ist diejenige Seelenkraft, bei deren Betätigung der Mensch am wenigsten mit dem Innern seines Wesens beteiligt ist. Man spricht nicht mit Unrecht von dem kalten intellektuellen We­sen. Man braucht nur daran zu denken, wie der Intellekt auf die künstlerische Anschauung und Betätigung wirkt. Er ver­treibt oder beeinträchtigt sie. Künstler fürchten sich auch da­vor, daß ihre Schöpfungen von der Intelligenz begrifflich oder symbolisch erklärt werden. In dieser Klarheit verschwindet die Seelen-Wärme, die im Schaffen den Werken das Leben gegeben hat. Der Künstler möchte sein Werk von dem Ge­fühle, nicht von dem Verstande, ergriffen wissen. Denn dann geht die Wärme, in der er es erlebt hat, in den Betrachter hin­über. Von der intellektuellen Erklärung aber wird diese Wär­me zurückgestoßen.

Im sozialen Leben ist es so, daß der Intellektualismus die Menschen von einander absondert. Sie können in der Ge­meinschaft nur recht wirken, wenn sie ihren Handlungen, die stets auch Wohl und Wehe der Mitmenschen bedeuten, et­was von ihrer Seele mitgeben können. Ein Mensch muß an dem andern nicht nur dessen Betätigung erleben, sondern etwas von dessen Seele. In einer Handiung aber, die dem In­tellektualismus entspringt, hält der Mensch sein Seelisches zurück. Er läßt es nicht in den andern Menschen hinüber-fließen.

Man spricht schon lange davon, daß in Unterricht und Er­ziehung der Intellektualismus lähmend wirkt. Man denkt da­bei zunächst nur an die Intelligenz des Kindes, nicht an die des Erziehenden. Man will die Erziehungs- und Unterrichts-methoden so gestalten, daß in dem Kinde nicht bloß der kalte Verstand in Wirksamkeit tritt und zur Entwickelung kommt,

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sondern daß in ihm auch die Wärme des Herzens entfaltet wird.

Die anthroposophische Weltanschauung ist damit voll­kommen einverstanden. Sie anerkennt im vollsten Maße die vorzüglichen Erziehungsmaximen, welche durch diese For­derung Leben gewonnen haben. Aber sie ist sich klar darüber, daß Seele nur von Seele mit Wärme erfüllt werden kann. Des­halb meint sie, daß vor allem die Pädagogik selbst und da­durch die ganze pädagogische Tätigkeit der Erziehenden be­seelt werden müsse.

In die Unterrichts- und Erziehungsmethoden ist im Laufe der neueren Zeit stark der Intellektualismus eingezogen. Es ist ihm dieses auf dem Umwege durch das moderne wissen­schaftliche Leben gelungen. Die Eltern lassen sich von der Wissenschaft sagen, was dem Leiblichen, Seelischen und Gei­stigen des Kindes gut ist. Die Lehrer empfangen in ihrer ei­genen Ausbildung von der Wissenschaft den Geist ihrer Er­ziehungsmethoden.

Aber diese Wissenschaft ist zu ihren Triumphen eben durch den Intellektualismus gekommen. Sie will ihren Gedanken gar nicht etwas von dem eigenen Seelenleben des Menschen mitgeben. Sie will ihnen alles geben lassen von der sinnlichen Beobachtung und dem Experiment.

Eine solche Wissenschaft kann die ausgezeichnete Natur-erkenntnis ausbilden, die in der neueren Zeit entstanden ist. Sie kann aber nicht eine wahre Pädagogik begründen.

Eine solche aber muß auf einem Wissen ruhen, das den Men­schen nach Leib, Seele und Geist umfaßt. Der Intellektualismus erfaßt den Menschen nur nach dem Leibe. Denn der Beob­achtung und dem Experiment offenbart sich nur das Leibliche.

Es ist erst eine wahre Menschenerkenntnis notwendig, be­vor eine wahre Pädagogik begründet werden kann. Und eine wahre Menschenerkenntnis möchte die Anthroposophie er­ringen.

Man kann den Menschen nicht so erkennen, daß man erst seine leibliche Wesenheit durch eine bloß auf das sinnlich Erfaßbare

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begründete Wissenschaft in der Vorstellung aufbaut und dann frägt, ob diese Wesenheit auch beseelt ist, und ob in ihr ein Geistiges tätig ist.

Für die Behandlung des Kindes ist eine solche Stellung zur Menschenerkenntnis schädlich. Denn weit mehr als beim Er­wachsenen sind im Kinde Leib, Seele und Geist eine Lebens-einheit. Man kann nicht erst nach Gesichtspunkten einer bloßen Sinneswissenschaft für die Gesundheit des Kindes sorgen, und dann dem gesunden Organismus das beibringen wollen, was man für es seelisch und geistig angemessen hält. In jedem Einzelnen, das man seelisch geistig an dem Kinde und mit dem Kinde vollbringt, greift man gesundend oder schädlich in sein Leibesleben ein. Seele und Geist wirken sich im Erdendasein des Menschen leiblich aus. Der leibliche Vor­gang ist eine Offenbarung des Seelischen und Geistigen.

Die Sinneswissenschaft kann nur auf den Leib als Wesen mit körperhaften Vorgängen gerichtet sein; sie kommt nicht zu einer Erfassung des ganzen Menschen.

Man fühlt dieses, indem man auf die Pädagogik hinsieht. Aber man verkennt dabei, was in dieser Beziehung der Ge­genwart nottut. Man sagt es nicht deutlich: aber man meint es in einer halben Bewußtheit: Durch Sinne swissenschaft kann die Pädagogik nicht gedeihen; also begründe man nicht aus dieser Wissenschaft, sondern aus den Erziehungsinstinkten heraus die pädagogischen Methoden.

Das wäre in der Theorie anzuerkennen. Aber in der Praxis führt es zu nichts. Denn die moderne Menschheit hat die Ur­sprünglichkeit des Instinktlebens verloren. Es bleibt ein Tap­pen im Dunklen, wenn man aus heute nicht mehr elementar im Menschen vorhandenen Instinkten eine instinktive Päd­agogik aufbauen will.

Das wird durch die anthroposophische Erkenntnis einge­sehen. Durch sie kann man wissen, daß die intellektualistische Orientierung in der Wissenschaft einer notwendigen Phase in der Entwickelung der Menschheit ihr Dasein verdankt. Die Menschheit der neueren Zeit ist aus der Periode des Instinktlebens

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herausgetreten. Der Intellekt hat seine hervor-ragende Bedeutung erhalten. Die Menschheit brauchte ihn, um auf ihrer Entwickelungsbahn in der rechten Weise fort­zuschreiten. Er führt sie zu demjenigen Grade der Bewußt­heit, den sie in einem gewissen Zeitalter erklimmen muß, wie der einzelne Mensch in einem Lebensalter gewisse Fähig­keiten erringen muß. Aber unter dem Einflusse des Intellek­tes werden die Instinkte abgelährnt. Man kann nicht, ohne gegen die Entwickelung der Menschheit zu arbeiten, zu dem Instinktleben wieder zurückkehren wollen. Man muß die Bedeutung der Vollbewußtheit anerkennen, die durch den Intellektualismus errungen ist. Und man muß dem Menschen in dieser Vollbewußtheit das auch vollbewußt wieder geben, was ihm kein Instinktleben heute mehr geben kann.

Dazu braucht man eine Erkenntnis des Geistigen und Seeli­schen, die ebenso auf Wirklichkeit begründet ist wie die im In­tellektualismus begründete Sinneswissenschaft. Eine solche strebt die Anthroposophie an. Dies anzuerkennen, davor schrecken viele Menschen heute noch zurück. Sie lernen die Art kennen, wie die moderne Wissenschaft den Menschen ver­stehen will. Sie fühlen, so kann man ihn nicht erkennen. Daß aber eine neue Art weiter ausgebildet werden könne, um in ebensolcher Bewußtheit zu Seele und Geist vorzudringen wie zum Körperhaften, dazu will man sich nicht bekennen. Des­halb will man für die Erfassung und erziehliche Behandlung des Menschlichen wieder zu den Instinkten zurückkehren.

Aber man muß vorwärtsgehen; und dazu hilft nichts als zu der Anthropologie eine Anthroposophie, zu der Sinneser-kenntnis vorn Menschen eine Geisteserkenntuis hinzugewin­nen. Das völlige Umlernen und Urndenken, das dazu nötig ist, erschreckt die Menschen. Und aus einem unbewußten Schreck heraus klagen sie die Anthroposophie als phantastisch an, wäh­rend sie nur auf dem Geistgebiete so besonnen vorgehen will wie die Sinneswissenschaft auf dem physischen.

Man sehe auf das Kind hin. Es entwickelt um das siebente Lebensjahr herum seine zweiten Zähne. Diese Entwickelung

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ist nicht das Werk bloß des Zeitabschnittes um das siebente Jahr herum. Sie ist ein Geschehen, das mit der Embryonalent­wickelung beginnt und im zweiten Zahnen nur den Abschluß findet. Es waren immer schon Kräfte in dem kindlichen Orga­nismus tätig, welche auf einer gewissen Stufe der Entwicke­lung die zweiten Zähne zur Entwickelung bringen. Diese Kräfte offenbaren sich in dieser Art in den folgenden Lebens-abschnitten nicht mehr. Weitere Zahnbildungen finden nicht statt. Aber die entsprechenden Kräfte haben sich nicht verlo­ren; sie wirken weiter; sie haben sich bloß umgewandelt Sie ha­ben eine Metamorphose durchgemacht. Es finden sich noch andere Kräfte im kindlichen Organismus, die in ähnlicher Art eine Metamorphose durchmachen.

Betrachtet man in dieser Art den kindlichen Organismus in seiner Entfaltung, so kommt man darauf, daß die Kräfte, um die es sich da handelt, vor dem Zahnwechsel in dem physischen Organismus tätig sind. Sie sind untergetaucht in die Ernäh­rungs- und Wachstumsprozesse. Sie leben in ungetrennter Ein­heit mit dem Körperlichen. Um das siebente Lebensjahr herum machen sie sich von dem Körper unabhängig. Sie leben als seelische Kräfte weiter. Wir finden sie in dem älteren Kinde tätig im Fühlen, im Denken.

Die Anthroposophie zeigt, wie dem physischen Organismus des Menschen ein ätherischer eingegliedert ist. Dieser ätheri­sche Organismus ist bis zum siebenten Lebensjahre in seiner ganzen Ausdehnung im physischen Organismus tätig. In die­sem Lebensabschnitte wird ein Teil des ätherischen Organis­mus frei von der unmittelbaren Betätigung am physischen Or­ganismus. Er erlangt eine gewisse Selbständigkeit. Mit dieser wird er auch ein selbständiger, von dem physischen Organis­mus relativ unabhängiger Träger des seelischen Lebens.

Da sich aber das seelische Erleben nur mit Hilfe dieses äthe­rischen Organismus im Erdendasein entfalten kann, so steckt das Seelische vor dem siebenten Lebensjahre ganz in dem Kör­perlichen darinnen. Soll in diesem Lebensalter Seelisches wirk­sam werden, so muß die Wirksamkeit körperlich sich offenba­ren.

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Das Kind kann nur mit der Außenwelt in ein Verhältnis kommen, wenn dieses Verhältnis einen Reiz darstellt, der kör­perlich sich ausleben kann. Das ist nur dann der Fall, wenn das Kjnd nachahmt. Vor dem Zahnwechsel ist das Kind ein rein nachahmendes Wesen im umfassendsten Sinne. Seine Erzie­hung kann nur darinnen bestehen, daß die Menschen seiner Umgebung ihm das vormachen, was es nachahmen soll.

Der Erzieher soll in sich selbst erleben, wie der menschliche physische Organismus ist, wenn dieser noch seinen ganzen ätherischen Organismus in sich hat. Das gibt die Menschen­kenntnis des Kindes. Mit dem abstrakten Prinzip allein ist nichts anzufangen. Für die Erziehungspraxis ist notwendig, daß eine anthroposophische Erziehungskunst im einzelnen entwickelt, wie sich der Mensch als Kind offenbart.

Zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife steckt nun im physischen und im ätherischen Organismus ein seeli­scher Organismus darinnen - der von der Anthroposophie astralisch genannte - wie bis zum Zahnwechsel der ätherische im physischen.

Das bedingt, daß für dieses Lebensalter das Kind ein Leben entwickelt, das sich nicht mehr in der Nachahmung erschöpft. Aber es kann auch noch nicht nach vollbewußten, vorn intel­lektuellen Urteil geregelten Gedanken sein Verhältnis zu an­dern Menschen bestimmen. Das ist erst möglich, wenn ein Teil des Seelenorganismus mit der Geschlechtsreife sich von dem entsprechenden Teile des ätherischen Organismus zur Selb­ständigkeit loslöst. Vorn siebenten bis zum vierzehnten oder fünfzehnten Lebensjahre ist das Bestimmende für das Kind nicht diejenige Orientierung an den Menschen seiner Umge­bung, die durch die Urteilskraft, sondern diejenige, die durch die Autorität bewirkt wird.

Das aber hat zur Folge, daß die Erziehung für diese Lebens-jahre ganz im Sinne der Entwickelung einer selbstverständli­chen Autorität gestaltet werden muß. Man kann nicht auf die Verstandesbeurteilung des Kindes bauen, sondern man muß durchschauen, wie das Kind annehmen will, was ihm als wahr,

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gut, schön entgegentritt, weil es sieht, daß sein vorbildlicher Erzieher dies für wahr, gut, schön hält.

Dazu muß dieser Erzieher so wirken, daß er gewissermaßen das Wahre, Gute und Schöne dem Kinde nicht bloß darstellt, sondern es ist. Was er ist, geht auf das Kind über, nicht, was er ihm lehrt. Alle Lehre muß wesenhaft, im Vorbilde vor das Kind hingestellt werden. Das Lehren selbst muß ein Kunstwerk, kein theoretischer Inhalt sein. -

PÄDAGOGIK UND KUNST*

Die pädagogische Kunst kann nur auf echter Menschener­kenntnis beruhen. Und diese wird nicht eine vollendete sein können, wenn sie sich in einer bloßen Betrachtung erschöpft. Man lernt das menschliche Wesen nicht in einem passiven Wis­sen kennen. Was man über den Menschen weiß, muß man we­nigstens bis zu einem gewissen Grade als das Schöpferische des eigenen Wesens empfindend erleben; man muß es im eigenen Wollen als wissende Tätigkeit erfühlen.

Ein passives Wissen vom Menschen kann nur zu einer lah­men Erziehungs- und Unterrichtspraxis führen. Denn der Übergang von einem solchen Wissen zur Praxis muß in äußer­lichen Anweisungen zur Betätigung bestehen. Auch wenn man sich diese Anweisungen selbst gibt, bleiben sie äußerlich.

Wissen vom Menschen als Grundlage der Pädagogik muß anfangen zu leben, indem man es aufnimmt. Man muß jeden Gedanken über den Menschen als das eigene Wesen sogleich erleben, wie man die richtige Atmung, den richtigen Blutum­lauf als die eigene Gesundheit erlebt.

Steht man vor der Aufgabe, das Kind zu erziehen, zu unter­richten, so muß die Menschenerkenntnis in die Tat wie selbst­verständlich überfließen. Und leben muß in dieser Selbstver­ständlichkeit die Liebe. Da gibt es nicht zuerst passive Men­schenerkenntuis,

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* Skizze eines Vortrages für die « Künstlerisch-pädagogische Tagung der Waldorfschule », 25.-29. März 1923.

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und dann die äußerliche Überlegung: weil dies oder jenes am Kinde so oder so ist, deshalb mußt du dieses so oder so machen. Da gibt es nur unmittelbar erlebte Erkennt­nis, die im eigenen Dasein das ist, als was sie sich erkennt. Und dann wird die erzieherische Menschenbehandlung die in Liebe erstehende Tätigkeit, die ihren notwendigen Charakter an-nimmt, weil sie das Kind erlebt. Ein im Leben webendes Wis­sen vom Menschen nimmt das Wesen des Kindes auf wie das Auge die Farbe aufnimmt.

Naturerkenntnis kann Theorie bleiben; Menschenwissen als Theorie ist für den gesund Fühlenden so, als wenn er sich als Skelett erleben müßte. Es hat keinen Sinn, bei der Men­schen-Erkenntnis von einem Unterschiede von Theorie und Praxis zu sprechen. Denn eine Menschen-Erkenntnis, die nicht in der Lebenspraxis tätig wesenhaft werden kann, ist eine Summe von Vorstellungen, die im Verstande schattenhaft schweben, aber nicht an den Menschen herankommen. Eine Lebenspraxis, die nicht vom Menschenerkennen durchleuch­tet ist, tappt unsicher im Dunkeln.

Wird, was hier gemeint ist, Gesinnung des Pädagogen, dann hat er die Vorbedingung, um lebensvoll und belebend Men­schensein vor den Zöglingen zu entfalten, und werdendes Menschenwesen zur Selbstoffenbarung anzuregen.

Und rechte Erziehergesinnung ist das Wesentliche in allem pädagogischen Wirken.

Solche Gesinnung lenkt den Blick auf die Lebensäußerun­gen des Kindes, die als Keimzustände des sich entwickelnden Volimenschen erscheinen. - Der Volimensch muß in der Ar­beit sich betätigen, ohne sich selbst in einem Mechanismus des Arbeitens zu verlieren. Die kindliche Natur fordert die Vorbe­reitung zum Arbeiten aus der Offenbarung des Menschenwe­sens heraus. Das Kind will sich betätigen, weil Tätigkeit in der menschlichen Natur liegt. Vom Erwachsenen fordert die harte Welt die fertige Arbeit. Beim Kinde fordert die werdende Men­schenwesenheit die Tätigkeit, die, richtig geleitet, den Keim der Arbeit erbildet.

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Wer in echter Menschen-Erkenntnis die kindliche Wesen­heit auf dern Wege von dern Spiel zur Lebensarbeit belauschen kann, der erlauscht auf der Zwischenstation die Natur des Leh­rens und Lernens. Denn beim Kinde ist das Spiel die ernste Offenbarung des inneren Dranges zur Tätigkeit, in welcher der Mensch sein wahres Dasein hat. Es ist eine leichtsinnige Re­densart, zu sagen: die Kinder sollen «spielend lernen». Ein Pädagoge, der seine Tätigkeit darnach einrichtete, würde doch nur Menschen erziehen, denen das Leben mehr oder weniger ein Spiel ist. - Es ist aber das Ideal der Erziehungs- und Unter­richtspraxis, in dern Kinde den Sinn dafür zu wecken, daß es mit demselben Ernste lernt, mit dern es spielt, so lange das Spie­len der einzige seelische Inhalt des Lebens ist.

Eine Erziehungs- und Unterrichtspraxis, welche dies durch­schaut, wird der Kunst die rechte Stelle anweisen und ihrer Pflege die rechte Ausdehnung geben.

Das Leben ist ein oft strenger Lehrmeister auch für den Päd­agogen. Es stellt für die Verstandesausbildung seine Forde­rungen. Deshalb wird man in bezug auf diese Ausbildung eher zu viel als zu wenig tun. Das Moralische macht den Menschen erst wirklich zum Menschen. Ein unmoralischer Mensch of­fenbart nicht den vollen Menschen in sich. Deshalb wäre es Sünde gegen die Menschennatur, die moralische Entwicke­lung des Kindes nicht im vollsten Ausmaße zu pflegen. Die Kunst ist die Frucht derfreien Menschennatur. Man muß die Kunst lieben, wenn man ihre Notwendigkeit für das volle Menschenwesen einsehen will. Zur Liebe zwingt das Leben nicht. Es gedeiht aber nur in der Liebe. Es will sein Dasein in dern zwanglosen Element.

Das hat in einziger Art Schiller empfunden; und diese Emp­findung hat ihm den Anlaß gegeben, seine «Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen» zu schreiben. In der Durchdringung des Menschen mit der ästhetischen Seelenver­fas sung sieht Schiller das wichtigste Element aller Erziehungskunst. Der Mensch soll den Erkenntnistrieb so von Erkennt­nisliebe durchdringen, daß er sich in seiner Betätigung wie der

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schaffende Künstler oder der ästhetisch Empfangende verhält. Und er soll die Pflicht so als die Äußerung seines innersten Menschenwesens erleben, wie er sich im ästhetischen Erleben empfindet. (Es darf bei dieser Gelegenheit auf die vorzügliche Darstellung von Schillers Wollen in der Schrift Heinrich Dein­hardts «Beiträge zur Würdigung Schillers» hingewiesen wer­den, die vor kurzem im Kommenden Tag Verlag in Stuttgart erschienen ist.)

Es ist schade, daß von Schiller's «Ästhetischen Briefen» eine so geringe Wirkung auf die Pädagogik ausgeübt worden ist. Für die Stellung der Kunst in der Erziehungs- und Unter­richtspraxis hätte sich durch eine stärkere Wirkung manches Wichtige ergeben.

Die Kunst, sowohl als bildende, wie als dichterisch-musika­lische wird von der kindlichen Natur verlangt. Und es gibt eine Beschäftigung mit der Kunst, die auch schon dem Kinde angemessen ist, wenn es in das schulmäßige Alter eintritt. Man sollte als Pädagoge nicht zu viel davon reden, daß diese oder jene Kunst zur Ausbildung dieser oder jener menschlichen Fä­higkeit «nützlich» ist. Die Kunst ist ja doch um der Kunst wil­len da. Aber man sollte als Pädagoge die Kunst so lieben, daß man ihr Erleben den werdenden Menschen nicht entbehren lassen will. Und man wird dann sehen, was dieser werdende Mensch - das Kind - an dem Erleben der Kunst wird. Der Ver­stand wird an der Kunst erst zum wahren Leben erweckt. Das Pflichtgefühl reift, wenn der Tätigkeitsdrang künstlerisch in Freiheit die Materie bezwingt. Künstlerischer Sinn des Erzie­henden und Lehrenden trägt Seele in die Schule hinein. Er läßt im Ernste froh sein, und in der Freude charaktervoll. Durch den Verstand wird die Natur nur begriffen; durch die künstle­rische Empfindung wird sie erst erlebt. Das Kind, das zum Be­greifen angeleitet wird, reift zum «Können», wenn das Be­greifen lebensvoll getrieben wird; aber das Kind, das an die Kunst herangeführt wird, reift zum « Schaffen». Im «Können» gibt der Mensch sich aus; im «Schaffen» wächst er an seinem Können. Das Kind, das noch so ungeschickt modelliert, oder

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malt, erweckt in sich durch seine Tätigkeit den Seelenmen­schen Das Kind, das in das Musikalische und Dichterische eingeführt wird, erfühit das Ergriffensein der Menschennatur durch ein idealisch Seelisches. Es empfängt zu seiner Mensch­lichkeit eine zweite.

Alles dies wird nicht erreicht, wenn das Künstlerische nur neben der andern Erziehung und dern andern Unterricht her-geht, wenn es diesem nicht organisch eingegliedert ist. Denn aller Unterricht und alle Erziehung sollten ein Ganzes sein. Er­kenntnis, Lebensbildung, Übung in praktischer Geschicklich­keit sollten in das Bedürfnis nach Kunst einmünden; das künst­lerische Erleben sollte nach dern Lernen, dern Beobachten, dern Aneignen von Geschicklichkeit Verlangen tragen.

PÄDAGOGIK UND MORAL*

Die Aufgaben des Erziehenden und Unterrichtenden gipfeln in demjenigen, was er für die moralische Lebenshaltung der ihm anvertrauten Jugend erreichen kann. Er steht für diese Aufgabe innerhalb der Volksschulerziehung vor großen Schwierigkeiten. Die Eine ist darin gelegen, daß der Moral-unterricht alles durchdringen muß, was er für seine Schüler tut; daß eine abgesonderte Moralunterweisung viel weniger erreichen kann als die Orientierung aller übrigen Erziehung und alles übrigen Unterrichtes auf das Moralische hin. Dies ist nun aber ganz eine Sache des pädagogischen Taktes. Denn grob gestaltete «moralische Nutzanwendungen» bei allem Möglichen bewirken, selbst wenn sie im Augenblicke, in dern sie angebracht werden, noch so eindringlich sind, im weiteren Verlauf doch nicht, was mit ihnen beabsichtigt ist. - Eine an­dere Schwierigkeit ist die, daß das Kind, welches die Volks­schule betritt, bereits die moralischen Grundrichtungen des Lebens ausgebildet hat.

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* Skizze eines Vortrages für die «Künstleriseh-padagogisehe Tagung der Waldorfschule », 25.-29. März 1923.

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Das Kind lebt bis zu dem Zeitabschnitte, in dem es, um das siebente Jahr herum, den Zahnwechsel durchrnacht, ganz an seine Umgebung hingegeben. Man möchte sagen, das Kind ist ganz Sinn. Wie das Auge in den Farben lebt, so das ganze Kind in den Lebensäußerungen seiner Umgebung. Jede Geste, jede Bewegung des Vaters, der Mutter wird in entsprechender Art im ganzen Innenorganismus des Kindes miterlebt. - Bis in die­sen Zeitabschnitt wird von der menschlichen Wesenheit das Gehirn gestaltet. Und vom Gehirn geht in dieser Lebensepo­che alles aus, was dem Organismus sein Innengepräge gibt. Und im Gehirn bildet sich in feinster Weise nach, was sich durch die Umgebung als Lebensoffenbarung abspielt. Das Sprechenlernen des Kindes beruht ja ganz darauf

Es sind aber nicht bloß die Äußerlichkeiten im Verhalten der Umgebung, die im Kindeswesen weiterschwingen und die des­sen Innerem den Charakter aufprägen, sondern mit den Äußer­lichkeiten der seelische und moralische Inhalt. Ein Vater, der sich vor dem Kinde in Lebensäußerungen offenbart, die dern J ähzorn entspringen, wird die Veranlassung dazu, daß bis in die feinsten organischen Gewebestrukturen das Kind die Nei­gung zum gestenhaften Darleben des Jähzorns aufnimmt. Eine furchtsam, zaghaft sich verhaltende Mutter pflanzt dem Kinde organische Strukturen und Bewegungstendenzen ein, die be­wirken, daß dasselbe an seinem Körper ein Werkzeug hat, das dann die Seele im furchtsamen, zaghaften Sinne gebrauchen will.

Im Lebensabschnitte des Zahnwechsels hat das Kind einen Organismus, der auf das Seelische in einer ganz bestimmten Art geistig und moralisch zurückwirkt.

In diesem Zustande, mit einem für das Moralische orientier­ten Organismus erhält der Erziehende und Unterrichtende der Volksschule das Kind. - Durchschaut er diesen Tatbestand nicht, so ist er der Gefahr ausgesetzt, an das Kind moralische Impulse heranzubringen, welche von diesem unbewußt abge­lehnt werden, weil es an der Beschaffenheit des eigenen Leibes ille Hemmungen hat, sie anzunehmen.

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Das Wesentliche aber ist, daß das Kind, wenn es die Volks­schule betritt, die in der Nachahmung der Umgebung ange­eigneten Grundrichtungen hat, daß jedoch diese bei richtiger Behandlung verwandelbar sind. Ein Kind, das in jähzorniger Umgebung aufgewachsen ist, hat davon seine organische For­mung erhalten. Man darf diese nicht unbemerkt lassen. Man muß mit ihr rechnen. Allein, sie läßt sich umwandeln. Man kann, wenn man mit ihr rechnet, in dem zweiten kindlichen Lebensabschnitt, vom Zalinwechsel bis zur Geschlechtsreife, sie so gestalten, daß sie der Seele die Unterlage liefert für ein schlagfertiges, geistesgegenwärtiges, mutvolles Zugreifen in den Fällen des Lebens, in denen solches notwendig ist. Eine kindliche Organisation, die die Folge einer ängstlichen, zag­haften Umgebung ist, kann ebenso die Unterlage bieten für die Ausbildung eines edlen Sinnes für Schamhaftigkeit und Keuschheit. - Echte Erkenntnis der Menschenwesen­heit ist also die Grundforderung auch für die moralische Er­ziehung.

Der Erziehende und Unterrichtende muß aber im Auge ha­ben, was die kindliche Natur zwischen Zahnwechsel und Ge­schlechtsreife im allgemeinen füt ihre Entwickelung erfordert. (Man findet diese Forderungen in dem von Albert Steffen in dieser Wochenschtift wiedergegebenen und jetzt auch in Buch­form vorhandenen pädagogischen Kursus von mir geschil­dert.) - Man kann die Umwandlung der moralischen Grund-richtungen und auch die weitere Entfaltung derjenigen, die man als rechte ansehen muß, nur bewirken, wenn man auf das Gefühlsleben, auf die moralischen Sympathien und Antipa­thien zielt. Und auf das Gefühlsleben wirken nicht abstrakte Maximen und Jdeen, sondern Bilder. Man hat im Unterrichten überall Gelegenheit, vor die Seele des Kindes Bilder des menschlichen Seins und Verhaltens, ja gleichnisweise sogar des außermenschlichen, hinzustellen, an denen sich die morali­schen Sympathien und Antipathien erregen lassen. Das Ge­fühlsurteil über das Moralische soll in der Zeit zwischen dem Zahnwechsel und der Geschiechtsreife ausgebildet werden.

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Wie das Kind bis zum Zahnwechsel an die unmittelbaren Lebensäußerungen der Umgebung nachahmend hingegeben ist, so in der Zeit vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife an die Autorität dessen, was der Lehrende und Erziehende sagt. Fs kann der Mensch in seinem späteren Leben nicht zum rech­ten Gebrauche der sittlichen Freiheit erwachen, wenn er nicht in dem gekennzeichneten zweiten Lebensabschnitte hinge­bungsvoll an die selbstverständliche Autorität seiner Erzieher sich hat entfalten können. Wenn das schon für alles Erziehen und Unterrichten gilt, so für das Moralische ganz besonders. An dem verehrten Erzieher schaut fühlend das Kind, was gut und böse ist. Er ist der Repräsentant der Weltordnung. Der werdende Mensch muß zuerst die Welt durch den erwachsenen Menschen kennen lernen.

Welch bedeutsamer Erziehungsimpuls in solchem Kennen­lernen enthalten ist, kann man bemerken, wenn man in wahrer Menschen-Erkenntnis das rechte Verhältnis zum Kinde nach dem ersten Drittel des zweiten Lebensabschnittes zu suchen hat, etwa zwischen dem neunten und zehnten Geburtstage. Ein allerwichtig stet Lebenspunkt wird da erreicht. Man merkt, das Kind macht halb unbewußt, in mehr oder weniger dunkler Empfindung etwas ihm Wesentliches durch. Daß man da dem Kinde richtig gegenübertrete, davon hängt unermeßlich viel für dessen ganzes späteres Leben ab. Will man bewußt ausspre­chen, was das Kind im traumhaften Gefühl erlebt, so muß man sagen: es tritt vor seine Seele die Frage: woher hat der Erzieher die Kraft, die ich, an ihn verehrungsvoll glaubend, empfange? Man muß vor den unbewußten Seelentiefen des Kindes als Er­zieher erweisen, daß man die Autorität durch ein festes Ge­gründets ein in der Weltordnung mit Recht hat. Man wird, bei wahrer Menschen-Erkenntnis, finden, daß manches Kind in diesem Zeitpunkte wenige Worte, richtig gesprochen, man­ches viele braucht. Etwas Entscheidendes muß da aber gesche­hen. Und lehren kann, was zu geschehen hat, nur die Wesen­heit des Kindes selbst. Und für moralische Kraft, moralische Sicherheit, moralische Haltung des Kindes wird gerade in diesem

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Lebenspunkte von dem Erzieher unsäglich Wichtiges ge­leistet werden können.

Ist das moralische Gefühlsurteil mit der Geschlechisreife in rechter Art entfaltet, so wird es in dem nächsten Lebensab­schnitt in den freien WiUen aufgenommen werden können. Der junge Mensch, der die Volksschule verläßt, wird aus den seelischen Nachwirkungen seiner Schulzeit die Empfindung mit sich ins Leben tragen, daß sich in ihm die moralischen Im­pulse im sozialen Zusammenleben mit den Mitmenschen aus der inneren Kraft seines Menschenwesens entfalten. Und nach der Geschlechtsreife wird der Wille als ein moralisch starker sich ergeben, der vorher gekeimt hat in dem recht gepflegten moralischen Gefühlsurteil.

SPRACHE UND SPRACHGEIST

Man spricht vom Sprachgeiste. Man kann aber nicht sagen, daß viele Menschen heute mit diesem Worte einen anschauba­ren Begriff zum Ausdrucke bringen. Es werden allgemeine charakteristische Eigentümlichkeiten in Laut- und Wortbil­dung, in Satzbau und Bildergebrauch gemeint, wenn man sich dieses Wortes bedient. Das «Geistige», das man dabei im Sinne hat, bleibt im Abstrakten stecken. An etwas, was verdiente, (

Zwei Wege aber kann es geben, um heute den «Sprach-geist» in seiner lebendigen Kraft zu entdecken. Der erste zeigt sich derjenigen Seele, die aus dem bloß begrifflichen Denken zum wesenoffenbarenden Schauen vordringt. Von diesem ist in diesen Aufsätzen oft gesprochen worden. Es ist ein innerli­ches Erleben einer geistigen Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit sollte nicht verwechselt werden mit dem mystisch-unbestimm­ten Erfühlen eines allgemeinen «Etwas». Sie enthält nichts Sinn­lich-Wahrnehmbares, ist aber doch so inhaltvoli wie dieses.

Wer in dieser Art schaut, der entfernt sich in seinem Schauen von dem, was durch die Sprache ausdrückbar ist. Sein Schauen

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findet zunächst nicht den Weg zu den Lippen. Greift er zu Worten, so hat er sogleich die Empfindung, daß der Inhalt sei­ner Schauung etwas anderes wird. Will er nun doch von seinen Schauungen Mitteilung machen, so beginnt sein Kampf mit der Sprache. Er sucht alles mögliche innerhalb des Sprachli­chen zu verwenden, um ein Bild dessen zu gestalten, was er schaut. Von Lautanklängen zu Satzwendungen sucht er über­all im Bereich des Sprachlichen. Er kämpft einen harten inne­ren Kampf. Er muß sich sagen: die Sprache hat etwas Eigen­williges. Sie drückt schon für sich alles mögliche aus; auch du mußt erst dich an ihren Eigenwillen hingeben, damit sie auf­nehme, was du schaust. Will man das geistig Erschaute in die Sprache gießen, so stößt man eben nicht auf ein unbestimmtes wachsartiges Element, das man beliebig formen kann, sondern man stößt auf einen «lebendigen Geist», auf den «Geist der Sprache».

Wenn man auf diese Art redlich kämpft, so kann der Kampf den besten, den schönsten Ausgang nehmen. Es kommt ein Augenblick, wo man fühlt: der Sprachgeist nimmt das Ge­schaute auf. Die Worte und Wendungen, auf die man kommt, nehmen selbst etwas Geistiges an; sie hören auf, zu « bedeu­ten», was sie gewöhnlich bedeuten und schlüpfen in das Ge-schaute hinein. - Da tritt etwas ein wie ein lebendiger Verkehr mit dem Sprachgeiste. Es nimmt die Sprache einen persönli­chen Charakter an; man setzt sich mit ihr auseinander wie mit einem andern Menschen.

Dies ist der eine Weg, um den «Sprachgeist» als lebendigen zu erfühlen. Der zweite stellt sich in der Regel ein, wenn man diesen ersten geht. Er kann aber durchaus auch für sich allein beschritten werden. Man ist auf diesem Wege, wenn man Wor­ten oder Satzwendungen gegenüber, die in der Gegenwart schon einen abstrakten Charakter angenommen haben, die ur-sprüngliche konkrete, frische, anschauliche Bedeutung erlebt. Man spricht heute das Wort «Überzeugung» aus. Man fühlt dabei den Seelenzustand des errungenen Fürwahrhaltens einer Sache. Man hat schon gelernt «sich aus dem Worte herausfüh­len».

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Fühlt man sich wieder in das Wort hinein, so steigt auf:

Zeugung, Hervorbringung im Körperlichen. Die «Überzeu­gung» wird ein ähnlicher Vorgang im Seelischen. Was wirk­lich in der Seele vorgeht, wenn sie von einer Überzeugung durchdrungen wird, veranschaulicht sich. - Man betrachte so Worte wie: gefällig! Welcher Reichtum von inneren Erlebnis­sen tut sich au£ Wer zum «Fallen» geneigt ist, verliert sein Gleichgewicht; er schaltet sein Bewußtsein aus. Wer einem an­deren «gefällig»ist, der gibt sich für einen Augenblick selbst auf; er tritt in das Bewußtsein des andern ein; er hat ein Erleb­nis, das der leise Anklang desjenigen ist, was das «Hinfallen» in Ohnmacht bedeutet.

Wer solche Dinge nicht spintisierend, nicht um geistreiche Bemerkungen für fragwürdige Theorien zu machen, sondern mit gesundem, wirklichkeitsgemäßen Sinn erlebt, der muß sich zuletzt das Geständnis machen, daß im Bilden der Sprache Verstand, Vernunft, Geist liegt. Ein Geist, den das Bewußtsein der Menschen nicht erst hineinlegt, sondern der im Unterbe­wußtsein wirksam ist, und den der Mensch in der Sprache vor-findet, die er erlernt. DerMensch kann so dazu kommen, recht zu verstehen, wie sein Geist ein Geschöpf des «Sprachgeistes» ist

In dieser Richtung den «Geist der Sprache » zu suchen, dazu liegen in den gegenwärtigen Forschungsergebnissen alle Vor­bedingungen. Es ist ja auch schon viel geschehen; es bedarf nur des bewußten Aufbaues einer psychologischen Sprach­wissenschaft.

Hier soll weniger auf eine Notwendigkeit nach dieser Rich­tung hingewiesen werden, sondern auf etwas, das für die Le­benspraxis Bedeutung hat. Wer den gekennzeichneten Tatbe­stand klar überschaut, der muß finden, daß die Sprache in sich etwas birgt, was aus ihr heraus zu etwas ihr Übergeordnetem, zu dem Geiste selbst hinführt. Und der Geist ist nicht ein sol­ches, das in den mannigfaltigen Sprachen auch ein Mannigfal­tiges sein kann, sondern in ihnen als ein Einheitliches lebt.

Diese geistige Einheit in den Sprachen geht verloren, wenn diese ihre ursprüngliche, elementarische Lebendigkeit abstreifen

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und von dem Geiste der Abstraktion erfaßt werden. Dann hat der Mensch, der spricht, nicht mehr den «Geist» in sich, sondern das sprachliche Kleid des Geistes. Wer, wenn er «ge­fällig» sagt, in der Seele das Bild erfühlt, das oben gekennzeich­net ist, der erlebt anders als derjenige, der nur den eingelernten abstrakten Inhalt verbindet von einer Beziehung des Men­schen zum Menschen, wenn der eine dem andern «einen Ge­fallen tut».

Je abstrakter das unmittelbare Spracherleben wird, desto mehr werden die Seelen der Menschen voneinander geschieden. Was abstrakt ist, hat der einzelne Mensch für sich. Er bildet es für sich aus. Er lebt in ihm als in seiner besonderen Ichheit. Vollständig kann dieses abstrakte Element allerdings nur in der Begriffswelt erreicht werden. Aber bis zu einem sehr hohen Grade nähern sich ihm auch die Wort- und Satzerlebnisse be­sonders in den Sprachen der zivilisierten Völker.

Nun aber leben wir in einem Zeitalter, in dem gegenüber allem Trennenden zwischen Menschen und Völkern das Ver­bindende bewußt gepflegt werden muß. Denn auch zwischen Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen, wird das Trennende hinweggeräumt, wenn ein jeglicher in seiner Spra­che das Anschauliche erlebt. Es sollte ein wichtiges Element der sozialen Pädagogik werden, den Sprachgeist in den Spra­chen wieder zu erwecken.

Wer seinen Sinn auf solche Dinge lenkt, der wird finden, wieviel von den Bestrebungen, die man heute sozial nennt, von dem Hinschauen auf das Leben der Menschenseelen, nicht bloß von dem Nachdenken über äußere Einrichtungen ab­hängt. - Es gehört zu den notwendigsten Aufgaben der Ge­genwart, daß gegenüber dem Zug nach der Sonderung der Völker nach Sprachen ein solcher nach gegenseitigem Verste­hen geschaffen werde.

Man redet heute viel von Humanismus in dem Sinne, daß das Wahrhaft-Menschliche im Menschen gepflegt werden solle. Man wird ein solches Streben erst völlig wahr machen, wenn man mit ihm auf den einzelnen konkreten Gebieten des

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Lebens Ernst macht. - Man denke nur, wie viel voller, intensi­ver ein Mensch sein Menschtum empfindet, als dies im abstrak­ten Spracherleben der Fall ist, welcher einmal ein ganz An­schauliches in das Wort- und Satz-Erleben hineingetragen hat. Man wird dabei allerdings nicht zu denken haben, daß jemand, der bei einem Bilde sagt: das ist entzückend, in dem Augen­blicke des Besehens vor sich haben soll die Anschauung des Zuckens und des unwillkürlichen Hingerissenseins bis zum Ent-Zucken seiner Glieder. Aber wer einmal in dem Worte «entzücken» lebensvoll das ins Seelische Umgesetzte dieses Bildes gefühlt hat, der wird, wenn er das Wort ausspricht, doch anderes erleben als ein solcher, der es stets nur abstrakt erlebt hat. Notwendig wird der seelische Oberton im konventionel­len und wissenschaftlichen Sprechen des Tages ein abstrakter sein; aber der Unterton soll dies nicht auch sein. Auf primiti­ven Kulturstufen erleben die Menschen ihre Sprache anschau­lich; auf vorgerückteren müßte die Erziehung dafür sorgen, daß diese Anschaulichkeit nicht ganz verlorengehe.

EINLEITENDE WORTE ZU EINER EURYTHMIE-VORSTELLUNG*

Eurythmie soll eine Kunst sein, deren Ausdruckmittel ge­staltete Bewegungsformen des menschlichen Organismus an sich und im Raume, sowie bewegte Menschengruppen sind. Es handelt sich aber dabei nicht um mimische Gebärden und auch nicht um Tanzbewegungen, sondern um eine wirkliche, sichtbare Sprache oder einen sichtbaren Gesang. Beim Spre­chen und Singen wird durch die menschlichen Organe der Luftstrom in einer gewissen Weise geformt. Studiert man in geistig-lebendiger Anschauung die Bildung des Tones, des Vokals, des Konsonanten, des Satzbaues, der Versbildung und

- - -

* Diese «Einleitenden Wore» wurden gesprochen vor den Eurvtbmie­Vorstellungen, die im Zusammenhange mit meinen Vortragsreihen während meiner englischen Reise in Ilkley, Penmaenmawr und London stattfanden.

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so weiter, so kann man sich ganz bestimmte Vorstellungen bil­den, welche plastischen Formen bei den entsprechenden Sprach- oder Gesangsoffenbarungen entstehen. Diese lassen sich nun durch den menschlichen Organismus, besonders durch die ausdrucksvollsten Organe, durch Arme und Hände nachbilden. Man schafft dadurch die Möglichkeit, daß, was beim Singen, Sprechen gehört wird, gesehen werden kann.

Weil die Arme und Hände die ausdrucksvollsten Organe sind, besteht die Eurythmie in erster Linie in den gestalteten Bewegungen dieser Organe; es kommen dann die Bewegungs­formen der andern Organe unterstützend hinzu wie bei der ge-wöhnlichen Sprache das Mienenspiel und die gewöhnliche Gebärde. Man wird sich den Unterschied der Eurythmie von dem Tanz besonders dadurch klarmachen können, daß man auf die eurythmische Begleitung eines Musikstückes sieht. Dabei ist, was wie Tanz erscheint, nur die Nebensache; die Hauptsache ist der sichtbare Gesang, der durch Arme und Hände zustande kommt.

Man soll nicht glauben, daß eine einzige Bewegungsform der Eurythmie willkürlich ist. In einem bestimmten Augen­blicke muß als Ausdruck eines Musikalischen, oder eines Dich­terischen eine bestimmte Bewegungsform erzeugt werden, wie im Singen ein bestimmter Ton, oder in der Sprache ein be­stimmter Laut. Der Mensch ist dann ebenso gebunden in der Bewegungssprache der' Eurythmie, wie er im Singen oder Sprechen an Ton und Laut gebunden ist. Er ist aber ebenso frei in der schönen, kunstvollen Gestaltung der eurythmi-schen Bewegungsformen, wie er dies bei der Sprache, oder dem Gesange ist.

Man ist dadurch in der Lage, ein Musikstück, das gespielt wird, eurythmisch, in einem sichtbaren Gesange, oder eine rezitierte oder deklamierte Dichtung in einer sichtbaren Spra-che zugleich darzustellen Und da Sprache und Musik aus dem ganzen Menschen stammen, so erscheint ihr innerer Gehalt erst recht anschaulich, wenn zu dem hörbaren die sichtbare Offenbarung hinzukommt. Denn eigentlich bewegt alles Gesungene

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und Gesprochene den ganzen Menschen; im gewöhn­lichen Leben wird die Tendenz zur Bewegung nur zurückge­halten und in den Sprach- und Gesangsorganen lokalisiert. Die Eurythmie bringt nur zur Offenbarung, was in diesen menschlichen Lebensäußerungen als Tendenz zur Bewegung stets veranlagt ist, aber in der Anlage verborgen bleibt. - Man erhält dadurch, daß zur instrurnentalen Musikdarbietung und zur Rezitation oder Deklamation eurythmisiert wird, eine Art orchestralen Zusammenwirkens des Hörbaren und Sichtbaren.

Für die Rezitation und Deklamation, die im Zusammen-hange mit der Eurythmie zur Darstellung kommen, ist zu be­achten, daß diese in einer wirklich künstlerischen Gestaltung des Sprachlichen auftreten müssen. Rezitatoren oder Deklama­toren, die nur den Prosajnhalt der Dichtung pointieren, kön­nen in der Eurythmie nicht mitwirken. Wahre künstlerische Dichtung entsteht nur durch die imaginative, oder musikali­sche Gestaltung der Sprache. Der Prosa-Inhalt ist nicht das Künstlerische; sondern nur der Stoff, an dern sich das Bild­hafte der Sprache, oder auch Takt, Rhythmus, Versbau und so weiter offenbaren sollen. Jede dichterische Sprache ist schon eine verborgene Eurythmie. Der Rezitator und Deklamator muß durch das Malerische, Plastische oder Musikalische der Sprache das aus der Dichtung herausholen, was der Dichter in sie hineingelegt hat. Diese Art der Rezitations- und Deklama­tionskunst hat Frau Dr. Steiner seit Jahren besonders ausge­bildet. Nur eine solche Sprachkunst kann zusammen mit der Eurythmie auftreten, weil nur dann der Rezitator in Tonge­staltung und Tonplastik das für das Ohr bietet, was der Eu­rytlimist für das Auge darstellt. Durch ein solches Zusam­menwirken wird aber erst vor die Seele des Zuhörers und Zu­schauers gebracht, was wirklich in der Dichtung lebt.

Die Eurythmie ist nicht für ein mittelbares Verständnis des Intellektes, sondern der unmittelbaren Wahrnehmung veran­lagt. Der Eurythmist muß die sichtbare Sprache Form für Form lernen, wie der Mensch sprechen lernen muß. Aber die Wirkung der von Musik oder Sprache begleiteten Eurythmie

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ist eine solche, die unmittelbar durch die bloße Anschauung etnpfunden wird. Sie wirkt wie das Musikalische auch auf den Menschen, der die Formen nicht selbst gelernt hat. Denn sie ist eine natürliche, eine elementare Offenbarung des mensch­lichen Wesens, während die Sprache immer etwas Konventio­nelles hat.

Die Eurythmie ist in der Gegenwart so entstanden, wie, zu ihren entsprechenden Zeitepochen, alle Künste entstanden sind. Diese gingen daraus hervor, daß man einen Seeleninhalt durch entsprechende Kunstmittel zur Offenbarung brachte. Wenn man dazu gekommen war, gewisse Kunstmittel so zu beherrschen, daß man in ihnen zur sinnlichen Offenbarung bringen konnte, was die Seele erlebt, dann entstand eine Kunst. Die Eurythmie entsteht nun dadurch, daß man das edelste an Kunstmitteln, den menschlichen Organismus, diesen Mikro­kosmos, selbst als Werkzeug gebrauchen lernt. Dies geschieht in der mimischen sowohl wie in der Tanzkunst nur in bezug auf Teile des menschlichen Organismus. Die Eurythmie be­dient sich aber des ganzen Menschen als ihres Ausdrucksmit­tels. Doch muß immer vor einer solchen Darbietung gegen­wärtig noch an die Nachsicht der Zuschauer appelliert werden. Jede Kunst mußte einmal ein Anfangsstadium durchmachen. Das muß auch die Eurythmie. Sie ist im Beginne ihrer Ent­wickelung. Aber weil sie sich des vollkommensten Instrumen­tes bedient, das denkbar ist, muß sie unbegrenzte Entwicke­lungsmöglichkeiten in sich haben. Der menschliche Organis­mus ist dieses vollkommenste Instrument; er ist in Wirklich­keit der Mikrokosmos, der alle Weltgeheimnisse und Weitge­setze konzentriert in sich enthält. Bringt man durch eurythmi­sche Bewegungsgestaltungen das zur Offenbarung, was sein Wesen umfassend veranlagt enthält als eine Sprache, die kör­perlich das ganze Erleben der Seele erscheinen läßt, so muß man dadurch umfassend die Weltgeheimnisse künstlerisch zur Darstellung kommen lassen können.

Was gegenwärtig Eurythrnie schon bieten kann, ist erst ein Anfang dessen, was nach der angedeuteten Richtung in ihren

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Möglichkeiten liegt. Aber weil sie sich der Ausdrucksmittel bedient, die eine solche Beziehung zu Welt- und Menschenwe­sen haben können, darf man hoffen, daß sie in ihrer weiteren Entwickelung als vollberechtigte Kunst neben den andern sich erweisen werde.

EURYTHMISCHE KUNST

Der eurythmischen Kunst liegt eine aus der menschlichen Wesenheit heraus gebildete sichtbare Sprache zugrunde. Diese offenbart sich in Bewegungen, die der einzelne Mensch durch seinen Körper oder seine Körperglieder ausführt oder die durch Menschengruppen vollzogen werden. Es handelt sich nicht um eine geberdenhafte, mimische oder tanzartige Bewe­gung, sondern um eine wirkliche Sprache, die von Tanz, Mi­mik, Geberde so weit absteht wie der Gesang oder die Laut­sprache selbst. Es wird nicht ein einzelnes Seelenerlebnis, eine Empfindung oder ein Gefühl, mit einer Bewegungsform will­kürlich zusammengebracht, sondern es wurden die in der orga­nischen Gestaltung des ganzen menschlichen Organismus ver­anlagten Bewegungsmöglichkeiten zu einem Ausdrucksmittel so gebildet, wie dies naturgesetzlich mit einer einzelnen Organ­gruppe bei Gesang und Sprache geschieht. Und es folgen sich dadurch auch die Einzelbewegungen, wie Töne und Laute beim Singen und Sprechen. - Die in Eurythmie zur Offenba­rung gelangenden Bewegungen sind auch bei Gesang und Sprache in der Anlage (als organische und Wissens-Tendenz) vorhanden; sie werden da aber schon in der Entstehung umge­wandelt in diejenigen, welche die Sing- und Sprechorgane aus­führen. Diese Anlagen werden in der Eurythmie durch sinn­lich-übersinnliches Schauen festgehalten und dadurch der ganze Mensch zum (auf sichtbare Art sich ausdrückenden) Sing- und Sprachorganismus gemacht.

In der menschlichen Sprache kommt Gedanke und Wille zum Ausdruck. Der Gedanke ist dabei das unkünstierische Element. In der dichterischen Sprachbehandlung wird die

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Kraft des Gedankens zurückgeführt auf das willensartige Ele-ment, in Takt, Rhythmus, Bildhaftigkeit und so weiter. Die Eurythmie führt diese Umwandlung bis zum Ende durch. Der räumlich-bewegte Mensch wird zur Erscheinung des See­lisch-Geistigen. - Das Eurythmische kann einerseits begleitet sem vom Musikalischen. Da ist es sichtbarer Gesang. Ander­seits von Rezitation und Deklamation. Da kommt der wirk­liche künstlerisch-poetische Gehalt zur unmittelbaren An­schauung. Die Rezitation und Deklamation sind, wenn sie das Eurythmische begleiten, genötigt, in allem (prosaischen) Pointieren des Inhaltes der Dichtung sich zurückzuhalten und das Bildhafte und Musikalische, also das wahrhaft Künstleri­sche hervortreten zu lassen. Außer der künstlerischen Seite hat die Eurythmie noch eine hygienisch-therapeutische und eine pädagogisch-didaktische. Dabei werden die in der Eurythmie als Kunst auftretenden Formen entsprechend umgewandelt. -Man darf glauben, daß diese Kunstform, die heute noch im Beginn ihrer Entwickelung steht, sich wird unbegrenzt ver­vollkommnen können; denn ihr Werkzeug ist in einem umfas­senderen Sinne der Mensch selbst, als dies bei anderen Kunst-formen der Fall ist.

DAS GOETHEANUM IN SEINEN ZEHN JAHREN

I

Den Dornacher Hügel bedecken jetzt die Aschenreste des Goetheanums. Sein Aufbau ist aus der Initiative von Mitglie­dern der Anthroposophischen Gesellschaft hervorgegangen. -Anthroposophie ist der Name, den ich gebraucht habe, als ich vor zwanzig Jahren in Berlin einen Vortragszyklus über die Weltanschauung hielt, von der ich glaube, daß sie in gerader Fortsetzung der Goetheschen Vorstellungsart liegt. Den Na­men erwählte ich in Erinnerung an ein vor Jahrzehnten erschie­nenes Buch des Herbartianers Robert Zimmermann «Umriß einer Anthroposophie». Der Inhalt dieses Buches hat allerdings

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mit dem nichts zu tun, was ich als «Anthroposophie» vortrug. Er war modifizierte Herbartsche Philosophie in aller­abstraktestet Form. Ich wollte durch das Wort eine Weltan­schauung ausdrücken, welche durch die Anwendung der gei­stigen Wahrnehmungsorgane des Menschen ebenso den geisti­gen Weltinhalt zur Erkenntnis bringt wie die Naturwissen­schaft durch die sinnlichen Walirnehmungsorgane den physi­schen.

Ich hatte über ein anderes Gebiet dieser anthroposophischen Weltanschauung bereits etwa anderthalb Jahre vor Abhal­tung des eben erwähnten Vortragszyklus auf die Einladung der Gräfin und des Grafen Brockdorff hin in der damals in Berlin bestehenden «Theosophischen Bibliothek» Vorträge gege­ben, deren Inhalt in meinem Buche «Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens» veröffentlicht ist. Infolge die­ser Vorträge wurde ich aufgefordert, in die «Theosophische Gesellschaft» einzutreten. Ich kam dieser Aufforderung nach in der Absicht, niemals etwas anderes zu vertreten als den In­halt dessen, was sich mir als anthroposophische Weltanschau­ung ergeben hatte. Meine Ansicht war stets, daß ich vor allen Menschen vortragen solle, die mich hören wollen, gleichgültig wie der Parteiname lautet, unter dem sie sich zu irgendeiner Gruppe zusammengeschlossen haben, oder ob sie ohne alle solche Voraussetzung zu meinen Vorträgen kamen.

Mit der Einladung an mich in die Tbeosophische Gesell­schaft fiel zeitlich zusammen, daß eine Anzahl von Mitgliedern dieser Gesellschaft eine deutsche Sektion derselben begründe­ten. Ich wurde aufgefordert, deren Generalsekretär zu werden. Trotz schwerer Bedenken wurde ich es. Ich änderte nichts an meiner Absicht, die anthroposophische Weltanschauung vor der Welt zu vertreten. Was ich selbst «Theosophie» nenne, geht klar aus meinem Buche «Theosophie» hervor, das ich kurze Zeit darnach geschrieben habe. Diese Theosophie ergibt sich als ein besonderes Gebiet der Anthroposophie.

In denselben Tagen, in denen die Mitglieder der Theosophi­schen Gesellschaft die deutsche Sektion durch Reden von

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Annie Besant in Berlin einleiten ließen, hielt ich den Vortrags­zyklus über Anthroposophie, von dem ich eben gesprochen habe.

Ich wurde nun viel eingeladen, Vorträge vor Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft zu halten. Aber es begann im Grunde schon vom Anfange dieser Tätigkeit an die Opposi­tion gegen mich bei dem Kreise jener Mitglieder der Theoso­phischen Gesellschaft, die in dogmatischer Art an den Lehren einiger älterer Führer dieser Gesellschaft befangen waren. Der Kreis derjenigen Persönlichkeiten, die an der anthroposophi­schen Weltanschauung etwas fanden, bildete sich immer mehr als ein selbständiger aus. Er wurde von jenen Führern 1913 aus der Theosophischen Gesellschaft ausgeschlossen, als ich Kon­sequenzen, die aus den Lehren dieser Führer gezogen und von ihnen vor die Welt hingestellt worden waren, als absurd be­zeichnet und erklärt hatte, daß ich mit dergleichen Absurditä­ten nichts zu tun haben wolle.

Unter dem Einflusse dieser Ereignisse wurde 1912 die An­throposophische Gesellschaft begründet. Mit Hilfe derjenigen Persönlichkeiten, welche dann die Führung in dieser Gesell­schaft innehatten, konnte ich schon vorher zu der Vortrags­tätigkeit die Aufführung von «Mysterien» hinzufügen. Be­reits 1907 führten die anthroposophisch orientierten Mitglie­der in München bei dem Theosophischen Kongreß Schurés Nachdichtung des eleusinischen Mysteriums auf. Ihm folgte 1909 ebenfalls in München die Darstellung der « Kinder des Lucifer» von demselben Autor. Das führte dazu, daß in den fol­genden Jahren, 1910-1913, meine vier eigenen, ganz modernen Mysteriendramen - gleichfalls in München - für die Mitglieder des anthroposophischen Kreises aufgeführt wurden.

Diese Erweiterung der antliroposophischen Tätigkeit in das Kunstgebiet hinein ergab sich aus dem Wesen der Anthropo­sophie. Die Gründe dafür sind in dieser Wochenschrift öfters dargestellt worden.

Mittlerweile hatte sich der zur Anthroposophlschen Gesell­schaft gewordene Kreis soweit vergrößert, daß die in ihm füh­renden

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Persönlichkeiten dazu schreiten konnten, der Anthro­posophie eine eigene Heimstätte zu bauen. Als Ort dazu wurde München ausersehen, wo sich die meisten Träger der Bauab­sicht befanden und wo damals eine besonders hingebungsvolle Tätigkeit von diesen entwickelt worden ist.

Ich selbst betrachtete mich nur als den Beauftragten dieser Träger der Bauabsicht. Ich glaubte, meine Kraft auf den Aus­bau der inneren geistigen Arbeit der Anthroposophie konzen­trieren zu müssen und nahm dankbar die Initiative hin, dersel­ben eine eigene Wirkens stätte zu schaffen. In dem Augenblicke aber, in dem die Initiative ihrer Verwirklichung entgegenging, war die künstlerische Ausgestaltung für mich eine Sache der inneren geistigen Arbeit. Ich hatte mich dieser Ausgestaltung zu widmen. Ich machte geltend, daß aus denselben Grundla­gen, aus denen die Gedanken der Anthroposophie kommen, auch die kunstlerischen Formen des Baues kommen müssen, wenn er eine wirkliche Umrahmung der anthroposophischen Weltanschauung sein solle. - Daß dieses nicht in der Art einer strohernen Allegorik der Bauformen oder eines vom Gedan­ken angekränkelten Symbolismus zu geschehen hat, liegt im Wesen der Anthroposophie, die nach meiner Überzeugung eben zur wirklichen Kunst führt.

Der Gedanke, den Bau in München aufzuführen, konnte nicht ausgeführt werden, da maßgebende künstlerische Kreise dort Einwendungen gegen die Bauformen machten. Ob diese Einwendungen später überwunden worden wären, braucht nicht besprochen zu werden. Die Träger der Bauabsicht woll­ten die Verzögerung nicht und nahmen deshalb das Geschenk von Dr. Emil Großheintz, das in einem von ihm schon vorher erworbenen Baugrund auf dem Dornacher Hügel bestand, dankbar an.

So konnte 1913 der Grundstein zu dem Bau gelegt und so­gleich mit der Arbeit begonnen werden.

Die Träger der Bauabsicht haben mit Rücksicht auf eine Ge­stalt meiner Mysteriendramen, die Johannes Thomasius heißt, den Bau «Johannesbau »genannt. Ich habe im Laufe der Jahre,

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in denen gebaut wurde, öfters ausgesprochen, daß ich im Auf­bau der antliroposophischen Weltanschauung vor vielen Jah­ren von der Betrachtung Goethescher Vorstellungsart ausge­gangen bin, und daß für mich deren Heim ein « Goetheanum» ist. Daraufhin haben vorzugsweise nicht-deutsche Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft den Entschluß gefaßt, fernerhin dem Bau den Namen «Goetheanum» zu geben.

Da die Anthroposophie in der Zeit, in welcher mit dem Bau begonnen wurde, bereits wissenschaftlich vorgebildete und ar­beitende Mitglieder auf den mannigfaltigsten Gebieten gefun­den hatte und deshalb in Aussicht stand, die geisteswissen­schaftlichen Methoden in den einzelnen Wissenschaften anzu­wenden, durfte ich vorschlagen, der Bezeichnung des Baues den Zusatz zu geben: «Freie Hochschule für Geisteswissen­schaft».

An diesem Bau wurde nun seit fast zehn Jahren von Freun­den der Anthroposophie gearbeitet. Schwer zu bringende Opfer materieller Art kamen von vielen Seiten: Künstler, Techniker, Wissenschafter arbeiteten in hingebungsvollster Art mit. Wer im anthroposophischen Kreise die Möglichkeit hatte, an dem Werke zu arbeiten, der tat es. Die schwierigsten Arbeiten wurden bereitwilligst übernommen. Der Geist an­throposophischer Weltanschauung arbeitete aus begeisterten Herzen heraus an dem «Goetheanum». Die der Anthroposo­phie zuerst zum mindesten gleichgültig gegenüberstehenden Bauarbeiter sind zu meiner innigen Freude seit 1 922 wohl in ihrer Mehrzahl der Meinung, daß die Mißurteile, die über An­throposophie in so weiten Kreisen gefällt werden, unbegrün­det sind.

Meine und meiner Mitarbeiter Gedanken waten auf die Fortsetzung unserer Arbeit gelenkt. Wir hatten für Ende De­zember und Anfang Januar einen naturwissenschaftlichen Kursus angesetzt. Freunde der anthroposophischen Sache aus vielen Ländern waren wieder anwesend.

Zu der übrigen künstlerischen Betätigung war seit Jahren die für Eurythmie und Deklamationskunst getreten, unter

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der Leitung von Frau Marie Steiner, die diese Leitung zu einem ihrer mannigfaltigen Arbeitsgebiete gemacht hat. Am Sylve­sterabend hatten wir von 5 bis 7 Uhr eine Eurythmie-Vorstel­lung. Um 8 Uhr begann mein Vortrag, der eine halbe Stunde nach 9 Uhr beendet war. Ich hatte über den Zusammenhang des Menschen mit den Erscheinungen des Jahres]aufes in an­throposophischer Art gesprochen. Kurze Zeit darnach stand das Goetheanurn in Flammen; am Neujahrsmorgen 1923 war es bis zum Betonunterbau niedergebrannt.

II

Als ich den ersten Kursus, der im September und Oktober 1920 im Goetheanum abgehalten worden ist, eröffnen durfte, schien es mir vor allem geboten, darauf aufmerksam zu machen, wie in der Anthroposophie geisteswissenschaftliche Erkenntnis, künstlerische Gestaltung und religiöse Innerlichkeit aus einer Quelle gesucht werden. In der Eröffnungsrede wies ich kurz daraufhin, und in Vorträgen «über den Baugedanken in Dor­nach» wollte ich zeigen, wie im Goetheanum die Kunst aus derselben Geistigkeit geschöpft worden ist, die in Ideen sich offenbaren will, wenn Anthroposophie in der Erkenntnisform auftritt.

Nach dieser Richtung ist der Versuch, der mit dem Goethe­anum gemacht worden ist, von Vielen verkannt worden. Man hat davon gesprochen, daß hier in Symbolik gearbeitet worden ist. Diejenigen, die so gesprochen haben, kamen mir immer wie Menschen vor, die zwar das Goetheanum besucht, es aber nicht wirklich angeschaut haben. Sie dachten: hier wird eine be­stimmte Weltanschauung dargestellt. Die Leute, welche diese hervorbringen, wollen in den Bauformen und in dern übrigen Künstlerischen, das sie innen und außen hinzufügen, Sinnbil­der dessen gestalten, was sie lehren. - Mit diesem Dogma be­suchte man oft das Goetheanum und fand es - bestätigt, weil man es nicht anschaute und weil man die Sache so beurteilte,

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als ob Anthroposophie auch nichts anderes wäre als eine Ver­standeswissenschaft. Eine solche wird allerdings zumeist, wenn sie sich künstlerisch ausdrücken will, es zu nichts brin­gen als zur Symbolik, oder Allegorik.

Aber am Goetheanum wurden keine abstrakten Ideen ver­körperlicht. Die Ideengestaltung wurde völlig vergessen, wenn aus der künstlerischen Empfindung die Form, aus der künstlerischen Anschauung Linie aus Linie, Fläche aus Fläche hervorgeholt wurde. Wenn in Farben auf der Wand dargestellt wurde, was auch unmittelbar im Farbenbilde geschaut wurde.

Wenn ich zuweilen Besuchern das Goetheanum persönlich zeigen durfte, dann sprach ich aus, daß mir alles «Erklären» der Formen und Bilder eigentlich unsympathisch ist, weil das Künstlerische nicht durch Gedanken nahe gelegt werden, son­dern in unmittelbarer Anschauung und Empfindung hinge­nommen werden soll.

Kunst, die auf demselben Boden ersteht, wie der Ideengehalt der wahren Anthroposophie, kann wirkliche Kunst werden. Denn die Seelenkräfte, welche diesen Ideengehalt gestalten, dringen in die Geistigkeit vor, aus denen auch die künstleri­sche Schöpferkraft kommen kann. Was man aus anthroposo­phischer Erkenntnis heraus in Gedanken formt, das steht für sich da. Man hat gar nicht das Bedürfnis, es in einer Halbkunst symbolisch auszudrücken. Dagegen hat man durch das Erleben derjenigen Wirklichkeit, welche Anthroposophie enthüllt, das Bedürfnis, in Formen, in Farben künstlerisch zu leben. Und diese Farben, diese Formen leben wieder für sich. Sie drücken keine Ideen aus. Ebenso wenig, oder ebenso viel, wie eine Lilie, oder ein Löwe eine Idee ausdrücken.

Weil das mit dem Wesen des anthroposophischen Lebens zu­sammenhängt, wird derjenige, der sich des Auges und nicht des dogmatisierenden Verstandes beim Besuche in Dornach bedient hat, keine Symbole und Allegorien, sondern wirkliche künstlerische Versuche gewahr geworden sein.

Aber eines mußte ich immer wieder sagen, wenn ich von dern Baugedanken des Goetheanurns sprach. - Als daran gegangen

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wurde, diesen Bau auszuführen, konnte es nicht sein, daß man sich an einen Künstler wandte, der im antiken, oder Renaissance- oder gotischen Stile der Anthroposophie hätte eine Heimstätte schaffen sollen. Wäre eben Anthroposophie bloße Wissenschaft, bloßer Ideeninhalt, dann hätte es so sein können. - Aber Anthroposophie ist Leben, ist Ergreifen des Alimenschlichen und der Welt im und durch den Menschen.

Die Initiative der Freunde dieser Weltanschauung für den Bau des Goetheanums konnte in Wahrheit nur ausgeführt wer­den, wenn dieser Bau bis in die Einzelheiten seiner Gestaltung aus demselben lebendigen Geiste heraus entstand, aus dem die Anthroposophie selbst quillt. Ich habe öfter ein Bild ge­braucht: Man betrachte eine Nuß und die Nußschale. Die Schale ist gewiß kein Symbol der Nuß. Aber sie ist aus densel­ben Gesetzmäßigkeiten heraus geformt wie die Nuß. So kann der Bau nur sein die Hülle, die in ihren Formen und Bildern künstlerisch den Geist verkündigt, der im Worte lebt, wenn Anthroposophie durch Ideen spricht.

Es ist in dieser Art jeder Kunststil aus einem Geiste heraus-geboren, der auch in einer Weltanschauung ideenhaft sich ge-offenbart hat.

Und rein künstlerisch ist für das Goetheanum entstanden, was man einen Baustil nennen kann, der von der Symmetrie, Wiederholung und so weiter zu dem übergehen mußte, was in den Formen des organischen Lebens atmet. Der Zuschauer-raum zum Beispiel hatte zu beiden Seiten sieben Säulen. Nur immer eine links und rechts hatten gleichgebildete Kapitäle. Dagegen war jedes folgende Kapitäl die metamorphosische Entwickelung des vorigen. Das alles ergab sich aus der künst­lerischen Empfindung; nicht aus einem gedankenhaften Ele­mente. Es konnten nicht typenliafte Motive an den verschiede­nen Orten wiederholt werden; sondern jedes Gebilde ward an seinem Platze ganz individuell gestaltet, so wie das kleinste Glied an einem Organismus individuell und doch so gestaltet ist, daß es mit Notwendigkeit an dem Orte, an dem es ist, in sei­ner Bildung erscheint. - Die Siebenzahl der Säulen hat mancher

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für den Ausdruck eines Mystischen genommen. Auch dies ist ein Irrtum. Gerade sie ist ein Ergebnis der künstleri­schen Empfindung. Indem man eine Kapitälform aus der an­dern künstlerisch entstehen ließ, war man mit der siebenten bei einer Bildung angekommen, über die man nicht hinausgehen konnte, ohne in das Motiv der ersten zurückzufallen.

Man darf nun, ohne sich einer Illusion hinzugeben, sagen, daß nicht nur die angedeuteten Vorurteile dem Goetheanum-Bau entgegengebracht worden sind. Es fanden sich allmählich recht viele Menschen, die mit unbefangenem Auge ästhetisch anschauen wollten, was unbefangener Empfindung entsprun­gen ist.

Goethe spricht aus seiner Kunstempfindung die Worte:

«Wem die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen an­fängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst», und «Das Schöne ist eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen geblieben.» Nach den Formen, die der menschliche Erkenntnisbegriff in der neuern Zeit angenommen hat, glaubt man, das Wesen der Naturdinge und Naturvorgänge nur auszudrücken, wenn man in gedan­kenmäßiger Art Gesetze (Naturgesetze) prägt. Allein wie wäre es, wenn dem Schaffen der Natur ein Künstlerisches zu Grunde läge ? Dann käme eben derjenige, welcher von dem Vorurteile ausgeht, nur mit dem Verstandesmäßigen dürfe man sie aus­drücken, an das volle Wesen der Natur gar nicht heran. Und so ist es. Wenn man in lebensvoller Art durch das Ideenhafte in die Naturgeheimnisse eingedrungen ist, dann erfährt man: da ist noch etwas, das sich dem Gedanken nicht ergibt, das man nur erreichen kann, wenn man die ideenmäßige Seelenverfas­sung in die künstlerische Anschauung umstimmt. So hat Goe­the empfunden, als er die angeführten Sätze niederschrieb. Und aus einer solchen Empfindung ist das Goetheanum gestaltet worden. Wer in den Menschen, die Anthroposophie treiben, eine Sekte sieht, der wird leicht auch in die Bauformen des Goetheanums die Symbolik einer Sektenauffassung hineiner­klären.

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Aber die Anthroposophie ist eben das Gegenteil alles Sektiererischen. Sie strebt überall in voller Unbefangenheit das Rein-Menschliche an.

Der kleine Kuppeiraum des Goetheanums wurde so ausge­malt, daß dort nicht von ideenhaftem Figuralen ausgegangen worden ist, dem Farben aufgeklebt worden wären, sondern es war zuerst ein Farbenerlebnis da; und aus diesem heraus wurde das Figurale geboren. In der Ilingabe an das Farbenwesen er­kraftet sich das seelische Schaffen zu Figuralem, das die erleb­ten Farben fordern. Man fühlt sich da im Malen für die Augen­blicke des Schaffens so, als ob es in der Welt überhaupt nichts gebe als webend-lebende Farben, die aber schöpferisch sind und aus sich Wesenhaftes erzeugen.

Wenn man aus den Absichten, aus denen heraus das Goethe­anum entstanden ist, so über dasselbe sprechen muß, fühlt man den Schmerz über seinen Verlust, für den die Worte nicht da sind. Denn das ganze Wesen dieses Baues war auf die Anschau­unghingeordnet. Die Erinnerung schmerzt unsäglich. Denn man erinnert sich in Seelenerlebnissen, die nachAnschauung drängen. Aber die Möglichkeit der Anschauung ist seit der Sylvester-nacht hinweggenommen.

III

Am Goetheanum konnte man durch ein kunstlerisches Empfin­den zu der Einsicht kommen, daß Anthroposophie keine Sek­tenbildung oder Religionsbegründung ist. In diesem Stil kann man nicht eine Kirche oder einen Tempel bauen. Zwei Zylin­dermantel, mit verschieden großen Grundflächen, griffen an den Seiten, an denen sie ausgeschnitten waren, ineinander. Sie waren oben durch eine größere und eine kleinere Kuppel abge­schlossen. Die Kuppeln hatten Halbkugelform und griffen ebenfalls ineinander, indem da, wo sie sich berührten, Sektoren ausgeschnitten waren.

Der kleine Kuppeiraum sollte, nach der völligen Fertigstel­lung, als Bühnenraum für Mysterienaufführungen dienen.

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Doch war er dazu noch nicht eingerichtet. Bis jetzt hatten nur Eurhythmievorstellungen in diesem Raum stattgefunden. -Der größere Kuppelraum umschloß die Zuschauer- und Zu­hörerreihen. Irgend etwas, das diesem zweigliedrigen Raum den Charakter eines Tempel- oder Kuitgebäudes verliehen hätte, gab es nicht.

Die Sockel der zwölf Säulen, die im Umkreise des kleinen Kuppelraumes waren, hatte man zu zwölf Stühlen umgebildet. Man konnte einen Versammlungsraum für eine beschränkte Zahl von Teilnehmern erkennen; aber nicht etwas Kirchenar­tiges. Zwischen den Säulen sollte dereinst eine plastische Gruppe stehen, in deren Mittelpunkt eine Gestalt sich befin­det, in der man Christus erkennen kann. Es sollte das Wahrzei­chen dafür sein, daß echte Geistes-Erkenntnis zu Christus führt, also mit dern Religionsgehalt sich zusammenfindet.

Wer durch das Hauptportal eintrat, zu dem sollte das Ganze auf künstlerische Art sprechen: «Erkenne die wahre Men­schenwesenheit.» So wollte man den Bau zu einer Heimstätte der Erkenntnis gestalten, nicht zu einem Tempel.

Die beiden Räume waren durch einen Vorhang getrennt. Vor dem Vorhang war ein Rednerpult, das versenkt werden konnte, wenn der Bühnenraum benützt wurde.

Man brauchte nur auf die Formen dieses Rednerpultes zu schauen, um zu erkennen, wie wenig dabei an etwas Kirchen­artiges gedacht war. Alle diese Formen waren künstlerisch herausgeholt aus der Gesamtgestalt des Baues und aus dem Zu­sammentreffen der Gestaltungen, die nach dem Platze hiniie­fen, an dern der Redner stand.

Diese Formen waren kein architektonischer und plastischer Tempelinhalt, sondern die Umrahmung einer Pflegestätte der geistigen Erkenntnis. Wer etwas anderes darin sehen wollte, der mußte erst künstlerische Unwahrheit in sie hineininterpre­tieren. Es war mir aber immer befriedigend, wenn ich von Be­fugten hören durfte: diese Formen sprechen in wahrer Art von dem, was sie sein wollen. Und daß ich solche Rede hören konnte, das kam mehrere Male vor.

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Es soll aber nicht in Abrede gestellt werden, daß an dern Bau manches befremdlich sein mußte für denjenigen, der zunächst mit gewohnten Vorstellungen von Architektonik an ihn her­antrat. Das aber lag in seinem Wesen; und es konnte nicht an­ders sein.

Wenn der Mensch mit Anthroposophie bekannt wird, so ist für manchen an dieser auch etwas in dieser Art Befremdendes. Sie tritt zunächst als Menschen-Erkenntnis auf. Doch, indem sie ihre Menschen-Erkenntnis entwickelt, erweitert sie sich zur Welt-Erkenntnis. Der Mensch ergreift erkennend sein eigenes Wesen; doch dieses Ergreifen ist ein Zusammengehen mit dern Welt-Inhalte.

Wer das Goetheanum betrat, war von Wänden umschlossen Doch die Behandlung der Wand in ihrer plastischen Ausge­staltung hatte etwas, das dem Charakter der Wand wider­sprach. Man ist gewohnt, die Wand so behandelt zu sehen, daß sie einen Raum nach außen hin abschließt. Solch eine Wand ist künstlerisch undurchsichtig. Die Wände des Goetheanums mit ihren vorgebauten Säulenformen und den Gestaltungen, die von diesen Säulen getragen wurden, waren künstlerisch durch­sichtig gedacht. Sie sollten nicht von der Welt abschließen, sondern den Blick mit ihren künstlerischen Bildungen so tref­fen, daß sich der Beschauer mit den Weiten des Weltalls ver­bunden fühlte. Konnte man auf diese Eigentümlichkeit nicht sogleich die Aufmerksamkeit richten, so kamen einem diese Formen so vor, wie wenn man plötzlich unverständlich da ein Fenster gewahr wird, wo man eine undurchsichtige Wandtafel erwartet hatte.

Diesem Charakter der Wand waren auch die in die Außen­wand eingelassenen Glasfenster angepaßt. Diese waren zwi­schen je zwei Säulen sichtbar. Sie waren aus einfarbigem Glas, in das die künstlerischen Motive eingraviert waren. Man hatte es mit einer Art Glasradierung zu tun. Das Bild entstand durch die verschiedene Dicke, die das einfarbige Glas durch die Ra­dierung erhielt. Es war nur bei durchdringendem Sonnenlichte als Bild zu sehen. So war an diesen Fenstern auch physisch das

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erreicht, was bei der übrigen Wandbildung künstlerisch in For­trien gedacht war. Das Bild war nur da, wenn die Wand mit der äußeren Welt zusammenwirkte. Je zwei Fenster links und rechts waren gleichfarbig. Die vom Eingang bis zum Bühnen­Ian fan g gelegenen Fenster waren verschiedenfarbig, und zwar

so, daß die Farben in ihrer Aufeinanderfolge eine Farbenhar­monle ergaben.

Man konnte, was man als Bilder in den Fenstern sah, zu-nächst unverständlich finden. Doch für denjenigen, der sich in die anthroposophische Weltanschauung eingelebt hat, wird sich das erst Sonderbare alsbald rein im Anschauen, nicht in verstandesmäßig-symbolischer Ausdeutung, als vertraut erge­ben haben.Und das Ganze war ja eine Heimstätte für diejenigen, die Anthroposophie suchten. Wer beanspruchte, diese Bilder zu verstehen, ohne anthroposophisch orientierte Anschauung, der gliche dem, der ein Gedicht in einer Sprache künstlerisch genießen wollte, ohne die Sprache erst zu verstehen.

Das gleiche galt von den malerischen Motiven, welche die inneren beiden Kuppelflächen bedeckten. Man hat aber nicht recht, wenn man sagt: ja, das geht doch nicht an, daß man, um Bilder und Formen zu verstehen, erst eine Weltanschauung innehaben soll. Man brauchte eben, um für diese Bilder anthro­posophisch orientiert zu sein, nicht erst Bücher zu lesen, oder Vorträge zu hören, sondern man konnte diese Orientierung auch ohne das vorangehefide Wort durch das bloße Hineinsehen in die Bilder erlangen. Aber zu ihr kommen mußte man. Wollte man das nicht, so stand man davor, wie - ohne selbstverständ­lich einen künstlerischen Wertvergleich auch nur im entfern­testen damit anzudeuten - vor Raphaels Disputa, wenn man sich nicht auf das Geheimnis der Dreifaltigkeit dabei hinorien­tieren wollte.

Der Zuschauerraum war für neunhundert bis tausend Perso­nen berechnet. Am Westende desselben war erhöht der Raum für die eingebaute Orgel und andere Musikinstrumente.

Dieser ganze aus Holz errichtete Bau stand auf einem Beton­unterbau, der im Grundrisse größer war, so daß um den Zuschauerteil

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außen eine erhöhte Terrasse herumlief. In diesem Unterbau befanden sich unter dem Zuschauerraum die Stätten für das Ablegen der Kleider, unter dem Bühnenraum Maschi­nen. Auf diej enigen, welche den Inhalt dieses Betonunterbaues gesehen hatten, mußte es einen erheiternden Eindruck ma­chen, wenn sie hörten, daß Gegner der anthroposophischen Weltanschauung von allerlei Geheimnisvollem, sogar von un­terirdischen Versammlungsstätten in diesem Betonbau fabel­ten. Das Goetheanum hatte Ziele, die wahrhaftig keiner ver­dunkelten, geheimnisvollen Versammlungsorte und keiner Zauberinstrumente bedurften. Solche hätten in den Baugedan­ken des Ganzen auch gar nicht hineingepaßt. Sie wären künst­lerisch unmotiviert gewesen.

Die Kuppeln waren bedeckt mit nordischem Schiefer aus den Voß'schen Schieferbrüchen. Der bläulich-graue Glanz im Sonnenlichte gab mit der Holzfarbe zusammen ein Ganzes, das mancher sympathisch begrüßt hat, der den Dornacher Hügel hinauf an einem leuchtenden Sommertage den Weg zum Goe­theanum gemacht hat.

Jetzt trifft er einen Trümmerhaufen, aus dem eine niedrige Betonruine emporragt.

IV

Die eurythmische Kunst schien im Goetheanum-Bau beson­ders zur Geltung zu kommen. Sie ist sichtbare Sprache oder sichtbares Singen. Der einzelne Mensch führt Bewegungen durch seine Glieder, besonders die ausdrucksvollsten Bewe­gungen der Arme und Hände aus, oder auch Gruppen von Menschen bewegen sich, oder bringen sich in Stellungen zu­einander. Diese Bewegungen sind geberdenartig. Aber sie sind nicht Geberden in gewöhnlichem Sinne. Diese verhalten sich zu dem, was in der Eurythmie dargestellt wird, wie das kindliche Lallen zu der ausgebildeten Sprache.

Wenn der Mensch sich seelisch durch die Sprache oder den Gesang offenbart, dann ist er mit seinem ganzen Wesen dabei.

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Er ist gewissermaßen in der Anlage durch seinen ganzen Kör­I per in Bewegung. Aber er bringt diese Anlage nicht zum Ausdruck. Er hält diese Bewegung in der Entstehung fest und konzentriert sie auf die Sprach- oder Tonorgane. Man kann nun durch sinnlich-übetsinnliches Schauen - um diesen Goe­theschen Ausdruck zu gebrauchen - erkennen, welche Bewe­gungsanlage des ganzen körperlichen Menschen einem Ton, oder einem Sprachlaut, einer Harmonie, Melodie, einem ge­stalteten Sprachgebilde zugrunde liegt. Dadurch kann man Menschen oder Menschengruppen Bewegungen ausführen lassen, die genau ebenso auf sichtbare Art das Musikalische oder Sprachliche zur Darstellung bringen wie die Sprach- und Gesangsorgane auf hörbare. Der ganze Mensch, oder Men­schengruppen werden zum Kehlkopf; die Bewegungen spre­chen oder singen, wie der Kehlkopf tönt oder lautet.

Ebensowenig wie in der Sprache oder dem Gesang beruht in der Eurythmie etwas auf einer Willkür. Aber es hat ebenso­wenig Sinn zu sagen, Augenblicksgeberden seien der Euryth­mie vorzuziehen, wie ein Willkürton oder Willkürlaut seien besser als die in der gesetzmäßigen Sprach- oder Tongestal­tung liegenden Laute oder Töne.

Aber Eurythmie ist auch nicht mit Tanzkunst zu verwech­seln. Man kann Musikalisches, das gleichzeitig ertönt, eu­rythmisieren. Dann wird nicht zur Musik getanzt, sondern sichtbar gesungen.

Die eurythmischen Bewegungen sind ebenso gesetzmäßig aus dern ganzen menschlichen Organismus herausgeholt wie die Sprache oder der Gesang.

Wenn eine Dichtung eurythmisiert wird, dann offenbart sich auf der Bühne die sichtbare Sprache der Eurythmie und gleichzeitig ertönt die Dichtung durch Rezitation oder Dekla­mation. Man kann nun nicht so zur Eurythmie rezitieren, oder deklamieren, wie man das oft liebt, durch bloßes Pointie­ren des Prosagehaltes der Dichtung. Man muß die Sprache wirklich als Sprache künstlerisch behandeln. Takt, Rhythmus, melodiöse Motive und so weiter oder auch das Imaginative der

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Lautbildung müssen herausgearbeitet werden. Denn es liegt jeder wahren Dichtung eine verborgene (unsichtbare) Eu­rythmie zugrunde. Frau Marie Steiner hat diese Art der Re­zitation und Deklamation, die parallel der eurythmischen Darstellung gehen, besonders auszubilden versucht. Es scheint, als ob dadurch wirklich eine Art orchestralen Zusam­menwirkens des gesprochenen und sichtbar dargestellten Wor­tes erreicht wäre.

Es erweist sich nämlich als unkünstlerisch, wenn eine Person zugleich rezitiert und eurythmisiert. Es muß auf verschiedene Personen verteilt sein. Das Bild einer Person, die beides an sich offenbaren wollte, zerfiele für den unmittelbaren Eindruck.

Die Ausgestaltung der eurythmischen Kunst beruht auf der sinnlich-übersinnlichen Einsicht in die ausdrucksvolle Be­wegungsrnöglichkeit des menschlichen Körpers. Für diese Einsicht ist nur eine spärliche Überlieferung - so weit mir be­kannt - aus früheren Zeiten vorhanden. Aus Zeiten, in denen dern Menschenkörper das Durchscheinen des Seelisch-Geisti­gen noch in einem erhöhteren Maße angesehen worden ist als heute. Diese spärliche Überlieferung, die übrigens nach ganz anderen Absichten hinweist, als den in der Eurythmie vor­handenen, wurde selbstverständlich benützt. Doch mußte sie selbständig aus- und umgebildet, und vor allem in das Künst­lerische ganz und gar umgeprägt werden. Von der Formenbe­wegung der Menschengruppen, die wir in der Eurythmie nach und nach ausgebildet haben, ist mir keine Überlieferung bekannt.

Wenn nun diese eurytbmische Kunst auf der Bühne des Goetheanums auftrat, so sollte man das Gefühl haben, daß die ruhenden Formen der Innenarchitektur und der Plastik sich auf ganz naturgemäße Art zu den bewegten Menschen verhiel­ten. Die erstern sollten die letzterngewissermaßenwohlgefällig in sich aufnehmen. Bau und eurythmische Bewegung sollten zu einem Ganzen verwachsen. Dieser Eindruck konnte noch erhöht werden, indem die Folge der eurythmischen Gestal­tungen begleitet wurde von Lichtwirkungen, die im harmoni­schen

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Zusammenstrahlen und harmonischer Folge den Büh­nenraum durchfluteten. Was da versucht wird, ist Licht-Eu­rythmie.

Und wenn die Bauformen der Bühne die eurythmischen Gestaltungen gleichsam als etwas zu ihnen Gehöriges aufnah­men, so diejenigen des Zuschauerraumes die parallel mit der Eurythmie auftretende Rezitation oder Deklamation, die von einem Sitze an der Seite der Bühne, da wo diese mit dem Zu­schauerraum zusammenstößt, durch Marie Steiner erklangen. Vielleicht ist es nicht unzutreffend, zu sagen, der Zuhörer sollte in dern Bau selbst einen Genossen im Verstehen des gehörten Wortes oder Tones empfinden. Wenn man nicht mehr behaup­ten will, als daß eine solche Einheit von Bauform und Wort oder Musik erstrebt worden ist, so wird das Gesagte nicht allzu unbescheiden klingen. Denn keiner kann mehr überzeugt da­von sein, daß dieses alles nur höchst unvollkommen erreicht worden ist, als ich selbst. Aber ich habe versucht, so zu gestalten, daß man fühlen konnte,wie die Bewegung desWortes längs den Formen der Kapitäle und Architrave naturgemäß dahinhef.

Ich möchte damit nur andeuten, was man für einen solchen Bau versuchen kann: daß seine Formen das darin Dargestellte nicht bloß äußerlich umschließen, sondern es in lebendiger Einheit in sich im unmittelbaren Eindrucke enthalten.

Und würde ich damit nur meine Meinung aussprechen: ich hielte sie doch zurück. Aber ich habe das Gesagte von Andern gehört.

Ich weiß ja auch, daß ich die Formen des Baues aus der See­lenverfassung heraus empfindend gestaltet habe, aus der mir auch die Eurythmiebilder kommen.

Daß die Formen der Eurythmie fortlaufend im Erleben dessen gestaltet wurden, was im Zustandekommen der Baufor­men erlebt werden konnte, wird nicht als ein Widerspruch ge­gen das Gesagte empfunden werden können. Denn so ist das Zusammenstimmen beider nicht durch eine verstandesmäßige Absicht erstrebt worden, sondern durch einen gleichgearteten künstlerischen Impuls entstanden. Wahrscheinlich hätte die

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Eurythmie nicht ohne die Arbeit am Bau gefunden werden können. Vor dern Baugedanken war sie nur in ihren ersten Anfängen vorhanden.

Die Unterweisungen für die seelische Gestaltung der beweg­ten Sprachformen wurde den Schülern zuerst in dem Saal ge­geben, der in den Südflügel des Goetheanums eingebaut war. Die Innenarchitektur besonders dieses Saales sollte eine ru­hende Eurythmie sein, wie die eurythmischen Bewegungen darinnen bewegte plastische Formen, aus dern gleichen Geiste gestaltet wie diese ruhenden Formen selbst.

In diesem Saale wurde am 31. Dezember zuerst der Rauch entdeckt, welcher von dern Feuerkeim herrührte, der in seinem Erwachsen das ganze Goetheanum zerstörte. Man fühlt, wenn man mit dern Bau in Liebe verbunden war, die unbarmherzi­gen Flammen schmerzend durch die Empfindungen dringen, die in die ruhenden Formen und in die darin versuchte Arbeit skh ergossen haben.

V

Gegen die Stilformen des Goetheanums kann selbstverständ­lich manches eingewendet werden. Ich habe sie stets als einen ersten Versuch bezeichnet, etwas Künstlerisches in der Richtung zu unternehmen, die in den vorangehenden Ausführungen charakterisiert worden ist.

Wer gar keinen Übergang von der erkenntnismäßigen Dar­stellung des Weltenwesens und der Weltenvorgänge durch Ideen in die bildmäßig künstlerische Verkörperung gelten las­sen will, der muß diese Stilformen ablehnen. Aber worauf be­ruht es denn schließlich, daß man durch die Erkenntnis in der Seele etwas von den Weltinhalten in sich vergegenwärtigen will? Doch nur darauf. daß man im Erleben der Erkenntnis-ideen etwas gewahr wird, in dern man die äußere Welt in sich fortwirkend weiß. Die Welt spricht in der Menschenseele durch die Erkenntnis. Wer nur meint: er habe sich seine Ideen über die Welt gemacht, wer nicht die Welt in sich pulsieren

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fühlt, wenn er in Ideen lebt, der sollte nicht von Erkenntnis sprechen. Die Seele ist der Schauplatz, auf dern die Welt ihre Geheimnisse enthüllt.

Wer aber wirklichkeitsgemäß so von der Erkenntnis denkt, der muß zuletzt zu der Anschauung kommen, daß sein Denken in künstlerisches Gestalten übergehen muß, wenn er den Welt­inhalt auf gewissen Gebieten in sich erleben will. Man kann sich vor einer solchen Anschauung verschließen. Man kann die Forderung aufstellen, Wissenschaft müsse sich von einer künstlerischen Verbildlichung fernhalten und bloß in den Ideengestaltungen aussprechen, die von den logischen Geset­zen gefordert werden. Aber eine solche Forderung wäre bloße subjektive Willkür, wenn das schöpferische Naturverfahren sich so darstellte, daß es in gewissen Gebieten nur als Künstle­risches erfaßt werden könnte. Wenn die Natur als Künstierin verfährt, so muß der Mensch, um sie auszudrücken, zu künst­lerischen Formen greifen.

Es ist aber eben auch ein Erkenntniserlebnis, daß die Natur, um ihr in ihrem Schaffen zu folgen, die Überleitung der logisch geformten Ideen in künstlerische Bildgestalten fordert.

Man wird zum Beispiel den menschlichen Leibesbau bis zu einem gewissen Punkte durch logisches Denken zum Aus­drucke bringen können. Aber von diesem Punkte an wird man das Erfassen in künstlerische Gestaltungen eintreten lassen müssen, wenn man nicht einen Schemen, eine Art Gespenst vom Menschen, sondern diesen in seiner lebendigen Wirklich­keit haben will. Und man wird fühlen können, daß in der Seele, indem sie in sich die Leibesform künstlerisch-bildhaft erlebt, ebenso die Weltwirklichkeit sich offenbart wie in den logisch geformten Ideen.

Ich war der Meinung, Goethes Weltansicht richtig darzu­stellen, als ich Ende der achtziger Jahre sein Verhältnis zu Kunst und Wissenschaft so darstellte: «Unsere Zeit glaubt das Richtige zu treffen, wenn sie Kunst und Wissenschaft mög­lichst weit auseinanderhält. Sie sollen zwei vollkommen ent­gegengesetzte Pole in der Kulturentwickelung der Menschheit

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sein. Die Wissenschaft soll uns - so denkt man - ein möglichst objektives Weltbild entwerfen, sie soll uns die Wirklichkeit im Spiegel zeigen oder mit andern Worten: sie soll mit Entäuße­rung aller subjektiven Willkür sich rein an das Gegebene hal­ten. Für ihre Gesetze ist die objektive Welt maßgebend, ihr hat sie sich zu unterwerfen. Sie soll den Maßstab des Wahren und Falschen ganz und gar aus den Objekten der Erfahrung neh­men. - Ganz anders soll es bei den Schöpfungen der Kunst sein. Ihnen wird von der selbstschöpferischen Kraft des menschli­chen Geistes das Gesetz gegeben. Für die Wissenschaft wäre jedes Einmischen der menschlichen Subjektivität Verfäl­schung der Wirklichkeit, Überschreitung der Erfahrung; die Kunst dagegen wächst auf dem Felde genialischer Subjektivi­tät. Ihre Schöpfungen sind Gebilde der menschlichen Einbil­dungskraft, nicht Spiegelbilder der Außenwelt. Außer uns, im objektiven Sein liegt der Ursprung wissenschaftlicher Gesetze; in uns, in unserer Individualität der der ästhetischen. Daher haben die letzteren nicht den geringsten Erkenntniswert, sie erzeugen Illusionen ohne den geringsten Wirklichkeitsfak­tor. - Wer die Sache so faßt, wird nie Klarheit darüber gewin­nen, welches Verhältnis Goethesche Dichtung zu Goethescher Wissenschaft hat. Dadurch wird aber beides mißverstanden. Die welthistorische Bedeutung Goethes liegt ja gerade darin­nen, daß seine Kunst aus dem Urquell des Seins fließt, daß sie nichts Illusorisches, nichts Subjektives an sich trägt, sondern als die Künderin jener Gesetzlichkeit erscheint, die der Dich­ter in den Tiefen des Naturwirkens dem Weltgeiste abgelauscht hat. Auf dieser Stufe wir die Kunst die Interpretin der Weltge­heimnisse, wie es die Wissenschaft in anderem Sinne ist. - So hat Goethe auch stets die Kunst aufgefaßt. Sie war ihm eine Offenbarung des Urgesetzes der Welt, die Wissenschaft war ihm die andere. Für ihn entsprangen Kunst und Wissenschaft aus einer Quelle. Während der Forscher untertaucht in die Tie­fen der Wirklichkeit, um die treibenden Kräfte derselben in Form von Gedanken auszusprechen, sucht der Künstler die­selben treibenden Gewalten seinem Stoffe einzubilden. Goethe

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selbst spricht das so aus: «Ich denke, Wissenschaft könnte man die Kenntnis des Allgemeinen nennen, das abgezogene Wis­sen; Kunst dagegen wäre Wissenschaft zur Tat verwendet. Wissenschaft wäre Vernunft und Kunst ihr Mechanismus, des­halb man sie auch praktische Wissenschaft nennen könnte. Und so wäre denn endlich Wissenschaft das Theorem, Kunst das Pro­blem.» Und ein Ähnliches spricht Goethe mit den Worten aus:

«Der Stil ruht auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dern Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen.» (Vergleiche meine Ein­leitung zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, die als selbständiges Buch demnächst im Stuttgarter Kommenden Tag-Verlag erscheinen wird.)

Was ich damals meinte: daß Goethe recht hat, wenn er so das Verhältnis von Kunst zur Wissenschaft denkt, das er­scheint mir auch heute als das rechte. Deshalb durfte am Goe­theanum das in Kunstform dargestellt werden, was in seinem Raume in Erkenntnisform ausgedrückt wurde.

Anthroposophie hat zu ihrer Darstellung den übersinnlichen Inhalt der Welt, so weit er der menschlichen Anschauung zu­gänglich ist. Man fühlt, daß jeder Ausdruck dieses Gehaltes durch logisch geformte Ideen nur eine Art Gedanken-Geberde ist, die auf diesen Inhalt hindeutet. Und die künstlerische Ge­stalt erscheint wie die andere Geberde, durch die die geistige Welt auf die Gedanken-Geberde antwortet; oder wohl auch umgekehrt, die Welt offenbart die Idee als Antwort, wenn man sie durch das künstlerische Bild frägt.

Die Stilformen des Goetheanums konnten deshalb nicht na­turalistische Nachahmungen irgendeines äußerlich gegebenen Leblosen oder Lebendigen sein. Das Erleben des Geschehens in der geistigen Welt mußte die Hand führen, welche das Pla­stische formte, welche die Farbe auf die Fläche setzte. Man mußte den Geistgehalt der Welt in die Linienform sich ergie­ßen, sich in der Farbe offenbaren lassen.

Mag deshalb noch so viel gegen diese Stilformen des Goe­theanums eingewendet werden; der Versuch, der gemacht wur­de,

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war doch der, im Sinne Goethescher Intentionen einem Er­kenntnisstreben ein künstlerisches Heim zu schaffen, das aus demselben Geistquell war wie dle darin gepflegte Erkenntnis selbst. Der Versuch mag unvollkommen gelungen gewesen sein; er war als solcher da: und das Goetheanum ist im Sinne Goethescher Kunstanschauung gebaut worden.

So lernte man das Goetheanum als die Heimstätte der An­throposophie fühlen; so fühlt man sich aber auch, nach dem Unglücke vom 31. Dezember, nach der einen Seite hin, mit der Anthroposophie obdachios geworden. Teilnehmende Besu­cher fanden sich am 1. Januar bei der Brandstätte ein, die sag­ten: wir wollen, was in diesem Bau uns lebte, im Herzen un­sichtbar bewahren.

VI

Das Goetheanum hat nur neun größere Veranstaltungen er­lebt. Im September und Oktober 1920 fanden durch drei Wo­chen Vortragsreihen über die verschiedensten wissenschaftli­chen Gebiete statt. Die Anregung dazu wurde aus dem Kreise der in der Anthroposophischen Gesellschaft arbeitenden Wis­senschafter gegeben. In deren Händen lag auch die ganze Ein­richtung der Vortragszyklen. Lehrer der Freien Waldorfschule und andere in einzelnen Wissenschaften durchgebildete Per­sönlichkeiten - und auch Künstler - wirkten mit. Die Idee, die dieser Veranstaltung zugrunde lag, war, zu zeigen, in welcher Art die einzelnen wissenschaftlichen Gebiete von der anthro­posophischen Forschungsart aus beleuchtet werden können.

Mir fiel damals, als ich diese Zyklen miterlebte, auf, daß nicht alles sich so ausnahm wie ein aus dem Goetheanumgeiste heraus Geborenes. Wenn aus dem Geiste der anthroposophi­schen Gesamtvorstellungen, bei Beleuchtung einzelner Natur-oder Geschichtserkenntnisse, aus diesem Geiste heraus gespro­chen wurde, so fühlte man Harmonie zwischen Bau und Er-kenntnisdarstellung. Wenn Einzeifragen behandelt wurden, so war das nicht der Fall.

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Ich mußte daran denken, wie während des Bauens die an­throposophische Arbeit über das Stadium hinausgewachsen war, in dem sie sich befand, als man zu bauen begonnen hatte. 1913 war der Gedanke derjenigen Persönlichkeiten, die den Bau beschlossen hatten, den anthroposophischen Arbeiten im engern Sinn und denjenigen künstlerischen Darbietungen, die aus der anthroposophischen Empfindungsart herausgewach­sen waren, eine Stätte zu errichten. In die anthroposophische Erkenntnisarbeit fielen damals die wissenschaftlichen Einzelgebiete nur insofern, als sie sich naturgemäß in die umfassen­deren Darstellungen der geisteswissenschaftlichen Betrach­tung eingliederten.

Für dieses als den geistigen Inhalt war sachgemäß der Bau als das künstlerische Gefäß gedacht. Dieses Verhältnis war bei der Gestaltung des Baues zugrunde gelegt worden. Es durfte so sein. Denn darauf kam es an, künstlerisch auszusprechen, wie Anthroposophie in das menschliche Gesamtieben hinein­gestellt werden soll. Kam später die Bearbeitung einzelner wis­senschaftlicher Gebiete in Frage, so sollte dies in abgesonder­ten Zubauten geschehen.

Bei einem Wiederaufbau eines Goetheanums muß wohl an­ders gedacht werden. Die Errichtung einer Zentralstätte für das Anthroposophische im engern Sinne lag nahe, weil es der Wille der Persönlichkeiten, die sich für den Bau einsetzten, war, diese Stätte aus Holz aufzuführen. In diesem Materiale läßt sich eine solche Zentralstätte künstlerisch durchempfin­den. Für die Zubauten wäre dann ein anderes Material in Be­tracht gekommen. - An einen zweiten Holzbau ist ja nicht zu denken. Ich habe, bevor das Goetheanum in Angriffgenommen worden ist, den maßgebenden Persönlichkeiten nach memen Einsichten gesagt, was für künstlerische Empfindungen für Holz, was für ein anderes Material in Betracht kämen. Man entschied sich für Holz, weil man damals auf dem Standpunkt stand, so idealistisch als möglich vorzugehen. Dieser Idealis­mus hat die schöne Frucht gezeitigt, daß verständnisvolle See­len wenigstens kurze Zeit ein Heim der Anthroposophie vor

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Augen gehabt haben, das in dlesem Schwung der Linien, in die­ser Ausdrucksfähigkeit der Formen ihnen in einem anderen Materiale nicht hätte hergestellt werden können. Diese Frucht ist heute eine tragische Erinnerung. Für den Schmerz über den Verlust fehlen die Worte. Dern Idealismus derer, die mir den Auftrag gaben, in Holz zu bauen, muß deshalb doch alle mög­liche Anerkennung zuteil werden.

Der Bau ist gerade durch das Fehlen der gekennzeichneten Harmonie bei der ersten Veranstaltung eng mit dern Schicksal der anthroposophischen Entwickelung in den letzten Jahren verbunden. Die erste Vortragsreihe als Ganzes offenbart sich als etwas, das nicht ganz organisch aus derselben Idee heraus-gewachsen war wie der Bau selbst. Sie war wie etwas in den rein anthroposophischen Bau Hineingetragenes. - In der äuße­ren Wirklichkeit des menschlichen Zusammenlebens gehen eben die Dinge nicht immer den aus demlnnern eines geistigen Zusammenhanges geforderten Gang. Anthroposophie ist durchaus daraufhin veranlagt, ihre Entwickelungstendenzen bis dahin auszudehnen, wo diese auch in die speziellsten Er­kenntnisgebiete einmünden. Allein so ist es in der Anthropo­sophischen Gesellschaft nicht gekommen. Es ist ein anderer Weg genommen worden. Wissenschaftlich gebildete Persön­lichkeiten sind Mitglieder der Gesellschaft geworden. Die Wis­senschaft war ihr Lebensweg und ihre Erziehungssache. Die Anthroposophie ist ihnen Herzenssache geworden. Sie haben sich von ihr für ihre Wissenschaft anregen lassen. So haben wir wissenschaftliche Ausführungen von anthroposophisch den­kenden Persönlichkeiten bekommen, bevor die einzelnen Er­kenntuisgebiete aus der Anthroposophie selbst heraus gebo­ren worden sind. Manches wurde dadurch zustande gebracht, daß, als sich das Bedürfnis regte, über die verschiedensten Wis­sensgebiete Vortragszyklen aus anthroposophischem Geiste heraus vor engeren Kreisen gehalten wurden. Was dadurch entstanden ist, soll hier nicht als etwas hingestellt werden, was voreilig oder dergleichen war. Aber wie zum Beispiel auf päd­agogischem Gebiet die Erziehungsmethoden in gerader Linie

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aus der Anthroposophie hervorgegangen sind, wie es auf künstlerischem Gebiete durch die Eurhythmie geschieht, so ist es auf anderen Gebieten der Anthroposophischen Gesell­schaft vom Schicksal nicht bestimmt gewesen. Man forderte von der Anthroposophie auf gewissen Gebieten aus einer gut gesehenen zeitgemäßen Notwendigkeit heraus einen schnelle­ren Gang. Der bedingt, daß wissenschaftliche Einzelgebiete, die schon bearbeitet werden, und anthroposophische Entwik­kelung erst in einander wachsen müssen.

Das drückte sich auch in der geschilderten Disharmonie der ersten Veranstaltung 1920 aus. Kommt ein Wiederaufbau zu­stande, so wird er - in einem andern Materiale - Einzelsäle -zum Beispiel in einem ersten Stockwerk - für wissenschaftliche Veranstaltungen und künstlerische Wirksamkeit enthalten können und dabei den Raum für das Anthroposophische im engern Sinne. Ein solcher Bau wird dann auf der einen Seite seinem Materiale, auf der andern der Entwickelung entspre­chen, welche die anthroposophischen Bestrebungen in den letzten Jahren genommen haben.

Die Disharmonie war nur ein Ausdruck für das Bestreben, der Anthroposophie im engern Sinne ein Heim zu schaffen, das ihrem Entwickelungsstadium bis zum Jahre 1918 künstlerisch angemessen war. Vielleicht darf ich dieses anführen als Beweis dafür, wie Anthroposophie als Geistesinhalt und deren Heim­stätte als künstlerische. Einheit bei der Ausarbeitung der letz­tern empfunden worden ist.

Aber in einer merkwürdigen Harmonie mit diesem Bauge­danken des Goetheanums empfinde ich heute, was sich damals in mir sträubte, das Goetheanum selbst festlich zu eröffnen, als in ihm die erste Veranstaltung eingerichtet wurde. Es konnte eben das Programm jenerVortragsreihe nicht zum Anlaß eines solchen Festes genommen werden. Das sollte erst dann stattfin­den, wenn einmal eine Veranstaltung möglich geworden wäre, deren Ganzes mit der ursprünglichen Bauidee vollkommen im Einklang gestanden hätte. Es ist nicht dazu gekommen. Das Goetheanum ist vorher hinweggestorben. In den Herzen de­rer,

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die es geliebt haben, ist eine dauernde Trauerfeier gewor­den.

Über dle weiteren Veranstaltungen, die noch in dern lieben Bau stattfinden konnten, soll im nächsten Aufsatz gesprochen werden.

VII

Wenn nun auch die Eröffnungsfeier, die Baugedanke und Ver­anstaltung des Goetheanums in vollem Einklange geoffenbart hätte, uns nicht möglich geworden ist, so konnten doch im Verlaufe von mehr als zwei Jahren nach den verschiedenen Seiten hin Versuche gemacht werden, die anthroposophische Geistesart zur Wirksamkeit zu bringen.

Dern ersten dreiwöchentlichen Vortragszyklus folgte im April 1921 ein zweiter einwöchentlicher. Gerade bei dieser Ge­legenheit sollte gezeigt werden, wie die einzelnen menschli­chen Wissensgebiete eine wesentliche Erweiterung erfahren können, wenn ihre Forschungswege in das geistige Gebiet hinein fortgesetzt werden.

Mir gewährte es bei diesem Aniasse eine besondere Befrie­digung, durch meine eigenen Vorträge auf eine solch mögliche Erweiterung für eine Anzahl Wissensgebiete hinweisen zu können.

Bei diesen Veranstaltungen fiel mir auch immer die Aufgabe zu, die Besucher im Bau herumzuführen und dabei von dem Künstlerischen des Goetheanums zu sprechen. Auf der einen Seite widerstrebte es mir, theoretisch über Künstlerisches et­was zu sagen. Denn Kunst will angeschaut werden. Aber diese Führungen hatten noch eine andere Seite. Man konnte es ver­meiden, in unkünstlerischer Weise Kunst «erklären» zu wol­len. Das tat ich denn auch, so weit es mir von denen, die sich den Bau ansahen, gestattet schien. Aber es bot sich in Anknüp­fung an die zu sehenden Formen und Bilder reichlich Gelegen­heit, in freier fragmentarisch-aphoristischer Darstellung über Anthroposophisches zu sprechen. Und die Vorträge konnten

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dann mit dem, was bei der Führung gesprochen wurde, zu einem Ganzen verwoben werden. Dann fühlte man ganz intim, wie gut das anthroposophisch orientierte Wort geborgen war, wenn es an einer Säule, oder unter einem Bilde gesprochen wurde, die aus demselben Geiste stammten wie das Wort selbst.

Veranstaltungen dieser Art schlossen immer Eurythmie­darbietungen in sich. Man wurde bei ihnen gewahr, wie der Bau forderte, daß Erkenntnismäßiges, das in ihm vorgebracht wurde, durch Künstlerisches zu einem Ganzen gestaltet werden mußte. Der Innenraum des Goetheanums schien einen nicht durch Künstlerisches abgerundeten Vortragszyklus nicht zu dulden. Ich glaube, man empfand es wie eine Notwen­digkeit, wenn Frau Marie Steiner von dern Orgeiraum herab ihre Rezitations- und Deklamationskunst in die Vortragsver­anstaltungen einfügte.

Wir haben ja auch die Freude gehabt, wiederholt Frau Wer­beck-Svärdström von diesem Orgekaum herab, einmal mit ihren drei Schwestern zusammen, ihre herrliche Kunst entfal­ten zu hören. Den Teilnehmern wird, was sie da hören durften, gewiß unvergeßlich sein. Mir persönlich machte es auch immer die allergrößte Freude, Albert Steffen vom Vortragspodium des Goetheanums herab zu hören. Was er sagt, will ja immer in plastischen Formen empfunden werden. Er ist wie ein Bildhauer der Sprache; und zwar ein Bildhauer, der in Holz schnitzt. Ich nahm eine Har­monie wahr zwischen den Bauformen und seinen Sprachplasti­ken, die er zugleich bedächtig und sicher in den Bau hineinstellte.

Im August 1921 durften wir eine Veranstaltung haben, die dern englischen Maler Baron von Rosenkrantz zu verdanken war. Man fühlte sich mit dieser Veranstaltung in dern Bau be­sonders heimisch. Es trat dabei das Band vor das Seelenauge, das geisterstrebende Wissenschaft und geistoffenbarende Kunst verbindet. Daß gerade bei diesem Anlasse die Aufmerk­samkeit auf das gelenkt wurde, wofür der Bau ein Versuch sein wollte, ist begreiflich.

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Ende September und Anfang Oktober versammelten sich im Goetheanum eine Anzahl deutscher Theologen, die den Impuls zu einer christlich-religiösen Erneuerung in sich tru­gen. Was hier erarbeitet wurde, fand einen Abschluß im Sep­tember 1922. Ich selbst muß, was ich mit diesen Theologen in dern kleinen Saale des Südflügels, in dem später der Brand zu­erst entdeckt worden ist, im September 1922 erlebt habe, zu den Festen meines Lebens rechnen. Hier konnte mit einer Reihe edelbegeisterter Menschen der Weg gegangen werden, der Geist-Erkenntnis in das religiöse Erleben hineinführt.

Ende Dezember und Anfang Januar von 1921 auf 1922 fand sich im Goetheanum ein Kreis englischer Pädagogen ein. Daß dies sein konnte, verdankt man den aufopfernden Bemühun­gen von Frau Prof. M. Mackenzie. Sie und Prof. Mackenzie nahmen an dem Kursus teil, den Baron von Rosenkrantz im August veranstaltet hatte. Die bedeutende englische Pädago-gin faßte bei diesem Anlasse den Entschluß, englische Lehrer und Lehrerinnen für die Weihnachtsferien zu einem Besuche des Goetheanums einzuladen. Mit einer Anzahl von Lehrkräf­ten der Stuttgarter Waldorfschule zusammen durfte ich da­mals über Pädagogik, Erziehungs- und Unterrichtspraxis wie­der in dern Saal des Südflügels sprechen. Den englischen Päd­agogen hatten sich auch andere, aus Skandinavien, der Schweiz, Holland, Deutschland und so weiter zugesellt.

Im September 1922 durfte ich zehn Vorträge über «Kosmo­logie, Philosophie und Religion vorn Gesichtspunkte der An­throposophie» halten. Wieder rundeten den Zyklus meiner Vorträge Lehrkräfte der Waldorfschule und andere in der an­throposophischen Bewegung stehende Persönlichkeiten durch ihre Vorträge und die Diskussionen, die sie mit den Teilneh­mern pflegten, ab. Ich ging zu jedem meiner Vorträge hin und von ihnen weg mit einem innigen Dankbarkeitsgefühle gegen­über denjenigen, welche den Bau des Goetheanums veranlaßt haben. Denn gerade bei diesen Vorträgen, in denen ich ein wei­tes Gebiet der Erkenntnis vorn anthroposophischen Gesichts­punkte zu urufas sen hatte, mußte ich das Wohltuende tief emp­finden,

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Ideen aussprechen zu dürfen, die sich in dern Bau eine künstlerische Umrahmung haben schaffen dürfen.

Veranstaltungen wie der «Dramatische Kurs», den Marie Steiner im Juli 1922 gab und ein Nationalökonomischer Kur­sus, den ich selbst im Juli und August 1922 abgehalten habe, fanden zwar nicht innerhalb der Räume statt, die uns das Un­glück der Sylvesternacht genommen hat. Sie gehören aber in den Kreis dessen, wozu das Goetheanum die Anregung gege­ben hat.

Eurythmiedarstellungen fanden seit längerer Zeit fortlau­fend im Goetheanum statt. Ihren engen Zusammenschluß mit dern Wesen des Baues habe ich in einem früheren Artikel zu schildern versucht.

Für Ende Dezember und Anfang Januar 1922 auf 1923 war ein naturwissenschaftlicher Zyklus von Vorträgen in Aussicht genommen. Wieder sollten mit mir zusammen Persönlichkei­ten, die auf dern Felde der Anthroposophie arbeiten, Vorträge halten und Diskussionen veranstalten. Von mir wurden den Vorträgen über Naturerkenntnis andere über rein Anthropo­sophisches eingefügt. Nur der erste Teil dieser Veranstaltung konnte noch in dern Goetheanum stattfinden. Nach der Eu­rythmiedarbietung und meinem Vortrag am Sylvesterabend nahmen uns die Flammen den Bau, in dern wir so gern weiter­gewirkt hätten.

In einem Nebenraume mußten die Vorträge fortgesetzt wer­den, während draußen noch die Flammen die letzten Reste des von uns so geliebten Goetheanums verzehrten.

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GOETHE UND GOETHEANUM

Wer die Formen betrachtet hat, aus denen sich die Gesamtge­staltung des Goetheanums in lebendiger Gliederung zusam­menfügte, konnte ersehen, wie Goethes Metamorphosenideen in den Baugedanken eingegangen sind. Diese Metamorpho­senideen sind Goethe einleuchtend geworden, als er die Man­nigfaltigkeit der Pflanzenwelt in geistiger Einheit umspannen wollte. Er suchte, um dieses Ziel zu erreichen, nach der Ur­pflanze. Diese sollte eine ideelle Pflanzengestalt sein. In ihr konnte ein Organ zu besonderer Größe und Vollkommenheit entwickelt, andere klein und unansehnlich sein. Auf diese Art konnte man auch der ideellen Urpflanze spezielle Gestalten in unermeßlicher Zahl ersinnen; und dann konnte man den Blick über die äußeren Formen der Pflanzenwelt schweifen lassen. Man fand in der einen Form dies, in der andern jenes aus der Urpflanze abgeleitete Gedankenbild verwirklicht. Die ganze Pflanzenwelt war gewissermaßen eine Pflanze in den allerver schiedensten Formen.

Damit aber war von Goethe angenommen, daß in der Man­nigfaltigkeit der Organisationen ein Gestaltungsprinzip wal­tet, das vom Menschen in der innerlichen Beweglichkeit der Gedankenkräfte nachgebildet wird. Er hatte damit der mensch­lichen Erkenntnis etwas zugeschrieben, wodurch diese nicht bloß eine äußere Betrachtung der Weltwesen und Weltvor­gänge ist, sondern mit diesen zu einer Einheit zusammen­wächst.

Goethe hatte dasselbe für das Verständnis auch der einzel­nen Pflanze geltend gemacht. In dem Blatte sah er auf die ein­fachste Art schon ideell eine ganze Pflanze. Und in der vielge­stalteten Pflanze sah er ein Blatt auf komplizierte Weise ausge­bildet; gewissermaßen viele Blatt-Pflanzen wieder nach dem Blattprinzip zur Einheit verbunden. - Ebenso waren ihm die verschiedenen Organe der tierischen Bildung Umformungen eines Grundorgans; und das ganze Tierreich die mannigfaltig­sten Ausgesta]tungen eines ideellen «Urtiers».

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Goethe hat den Gedanken nicht allseitig ausgebildet. Die Gewissenhaftigkeit ließ ihn - insbesondere gegenüber der Tierwelt - auf unvollendeten Wegen Halt machen. Er gestattete sich nicht, in der bloßen Gedankenbildung allzu weit fortzu­schreiten, ohne das ideell Gebildete sich immer wieder von den sinnenfälligen Tatsachen bestätigen zu lassen.

Man kann nun zu diesen Goetheschen Metamorphosen-Ideen ein zweifaches Verhältnis haben. Man kann sie als inter­essante Eigenart des Goetheschen Geistes betrachten und da­bei stehen bleiben.

Man kann aber auch den Versuch machen, die eigene Ideen-tätigkeit in die Goethesche Richtung zu bringen. Da wird man finden, daß sich dadurch in der Tat Natutgeheinanisse offenba­ren, zu denen man auf eine andere Art keinen Zugang gewinnt.

Ich habe, als ich dies vor nun mehr als vierzig Jahren zu be­merken glaubte (in meinen Einleitungen zu Goethes naturwis­senschaftlichen Schriften in Kürschners Deutscher National-Literatur), Goethe den Kopernikus und Keppler der Wissen-schaft vom Organischen genannt. Ich ging dabei von der An­schauung aus, daß für das Leblose die Kopernikus-Tat in dem Bemerken eines vom Menschen unabhängigen Sachzusam­menhanges besteht; daß aber die entsprechende Tat für das Lebendige in dem Entdecken der rechten Geistesbetätigung liegt, durch die das Organische von dem Menschengeiste in seiner lebendigen Beweglichkeit erfaßt werden kann.

Goethe hat diese Kopernikus-Tat dadurch verrichtet, daß er die Geistesbetätigung, durch die er künstlerisch wirkte, in das Erkennen einführte. Er suchte den Weg vom Künstler zum Erkenner und fand ihn. Der Anthropologe Heinroth hat Goe­thes Denken deshalb ein gegenständliches genannt. Goethe hat sich darüber tief befriedigt ausgesprochen. Er nahm das Wort auf und nannte auch sein Dichten ein gegenständliches. Er sprach damit aus, wie nah in seiner Seele die künstlerische und die erkennende Betätigung wohnten.

Das Einleben in die Goethesche Geisteswelt konnte Mut dazu geben, gerade die Metamorphosenanschauung wieder in

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das Künstlerische zurückzuführen. Das half zu dem Baugedan­ken des Goetheanums. Die Natur schafft da, wo sie sich in der Lebendigkeit entfaltet, in Formen, die auseinander heraus-wachsen. Man kann in der künstlerisch-plastischen Gestal­tungskraft dem Schaffen der Natur nahe kommen, wenn man liebevoll nachfühlend ergreift, wie sie in Metamorphosen lebt.

Man wird nun einen Bau «Goetheanum» nennen dürfen, der in seiner Architektonik und Plastik so entstanden ist, daß in seinen Formen das Einleben in die Goethesche Metamor­phosenanschauung den Versuch gewagt hat, zur Verwirkli­chung zu kommen.

Und in der gleichen Art ist ja auch die Anthroposophie selbst in gerader Fortentwickelung der Goetheschen Anschauungen gelegen. Wer den Gedanken der Umbildung nicht nur der sinnlich-anschaulichen Formen - bei der Goethe in Gemäßheit seines besonderen Seelencharakters stehen geblieben ist -, son­dern auch des seelisch und geistig Erfaßbaren sich zugänglich macht, der ist bei der-Anthroposophie angelangt. Hier soli nur auf etwas ganz Elementares gedeutet werden. - Man beobach­tet in der menschlichen Seelenbetätigung Denken, Fühlen und Wollen. Wer diese drei Formen des Seeleniebens nur nebenein­ander, oder in ihrem Zusammenwirken zu sehen vermag, der kann nicht tiefer in das Wesen des Seelischen dringen. Wer aber Klarheit darüber gewinnt, wie das Denken eine Metamor­phose des Fühlens und Woliens, das Fühlen eine solche des Denkens und Wollens, das Wollen eine Umformung des Den­kens und Fühlens ist, der verbindet skh im Seelischen mit dem Wesen des Seelischen. Wenn Goethe, der auf das Sinnlich-An­schauliche vorzüglich orientiert sein wollte, es höchst befriedi­gend vernahm, daß sein Denken ein gegenständliches genannt wurde, so kann ein Geistesforscher eine ähnliche Befriedigung finden, wenn er gewahr wird, wie durch die Metamorphosen-anschauung sein Denken ein «geistbelebtes» wird. «Gegen­ständlich»ist das Denken, wenn es so mit dem Wesen der Sin­neserscheinungen verwachsen kann, daß dieses Wesen in ihm nachkingend erlebt wird. «Geistbelebt» wird das Denken,

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wenn es in sein eigenes Strömen und Wehen den Geist aufzu­nehmen vermag. Dann wird das Denken geisttragend, wie die auf die Sinneswelt gerichtete Vorstellung Farben- oder Ton-tragend wird. Das Denken metamorphosiert sich dann zur An­schauung.

Mit dieser Metamorphose ist aber das Denken leibbefreit geworden. Denn der Leib kann das Denken nur mit sinnlichem Inhalt durchtränken.

Man erobert sich durch die Metamorphosenanschauung das Lebendige. Man belebt damit das eigene Denken. Es wird aus einem toten zu einem lebendigen. Dadurch aber wird es fähig, das Leben des Geistes anschauend in sich aufzunehmen. Wer auf der Grundlage dessen, was Goethes Schriften enthalten, sich das Urteil bilden will: Goethe selbst würde die Anthropo­sophle abgelehnt haben, der mag äußerliche Gründe dafür ins Feld führen können. Und man mag ihm zugeben, daß Goethe im entsprechenden Falle sich sehr zurückhaltend würde verhal­ten haben, weil er selbst es unbehaglich würde empfunden ha­ben, die Metamorphose in Gebiete zu verfolgen, in denen sie der Kontrolle der sinnlichen Erscheinungen entbehrt. Allein die Goethesche Weltanschauung läuft ohne Künstelei in die Anthroposophie ein.

Deshalb durfte das, was auf Goethes Weltanschauung sich sicher ruhend fühlt, in einem Bau gepflegt werden, der im Ge­denken Goethes den Namen Goetheanum trug.

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DER STREIT MICHAELS MIT DEM DRACHEN

I

Wer den Blick zurück in ältere Zeiten der menschlichen See­lenentwickelung wendet, dem muß bemerklich werden, wie im Weltanschauungsleben die Bilder sowohl der Natur wie des Geistes sich gewandelt haben. Man braucht gar nicht allzuweit zurückzuschauen. Noch im achtzehnten Jahrhundert war es so, daß man die Kräfte und Substanzen der Natur geistähnli­cher, das Geistige mehr in Naturbildern gedacht hat als heute. Erst in der neuesten Zeit sind die Vorstellungen vom Geiste ganz abstrakt, die von der Natur so geworden, daß sie auf eine geistfremde Materie weisen, die für die menschliche Anschau­ung undurchdringlich ist. So fallen gegenwärtig Natur und Geist für das menschliche Auffassungsvermögen auseinander; und keine Brücke scheint von dem einen zu dem andern zu führen.

Es ist aus diesem Grunde, daß grandiose Weltanschauungsbilder, die vor Zeiten eine große Bedeutung hatten, wenn der Mensch seine Lage im Weltganzen erfassen wollte, ganz in das Reich dessen eingezogen sind, was man als luftige Phantastik empfindet. Eine Phantastik, der sich der Mensch nur hingeben durfte, so lange ihm keine wissenschaftliche Exaktheit dies verbot.

Ein solches Weltanschauungsbild ist der «Streit Michaels mit dem Drachen».

Es gehört dieses Bild zu den Seeleninhalten, die das mensch­liche Wesen anders in die Urzeiten zurückverfolgten als die gegenwärtigen. Heute will man von dem Menschen der Gegen­wart zu weniger menschenähnlichen Wesen als zu denen kom­men, von denen er abstammt. Man geht von mehr vergeistig­ten Wesen zu weniger vergeistigten zurück. - Ehedem wollte man, indem man das menschliche Werden zurückverfolgte, auf mehr Geistiges stoßen, als in der Gegenwart erscheint.

Man schaute einen vorirdischen Zustand, in dem die gegen­wärtige Form des Menschen noch nicht war. Wesen stellte

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man in dem damaligen Dasein vor, die in feinerer Substanziali­tät lebten, als sie der heutige Mensch hat. Sie waren «geistiger» als er. Von solcher Art war das Wesen, das als «Drache » von Michael bekämpft wird. Dieses war dazu bestimmt, einst in emer späteren Zeit die Menschenform anzunehmen. Dazu aber sollte es «seine Zeit» abwarten. Diese «Zeit» sollte nicht von ihm abhängen, sondern von dem Ratschluß über ihm stehen­der Geistwesen. Es sollte vorerst mit seinem eigenen Willen ganz in dem Willen dieser höheren Geistwesen beschlossen bleiben. - Da ging aber vor «seiner Zeit» der Hochmut in ihm auf. Es wollte einen «eigenenWillen »in der Zeit,in der es noch in dem höheren Willen leben sollte. Es bestand darin seine Wi­dersetzlichkeit gegen den höheren Willen. Selbständigkeit des Willens bei solchen Wesen ist nur möglich in dichterer Mate­rie, als sie damals vorhanden war. Sie müssen andere Wesen werden, wenn sie in ihrer Widersetzlichkeit beharren. Dem widersetzlichen Streben des gezeichnetenWesens war dasLeben in der Geistigkeit, in der es war, nicht mehr angemessen. Sein Dasein empfanden seine Genossen als störend (ja zerstörend) in ihrem Reiche. So empfand Michael. Er war in dem Willen der höheren Geistwesen geblieben. Er unternahm es, das wi­dersetzliche Wesen zu zwingen, die Form anzunehmen, die einem selbständigen Willen in der damaligen Weltlage allein möglich war, die der Tierheit - des Drachens, der «Schlange». Höhere Tiergestalten gab es noch nicht. Selbstverständlich wurde dieser «Drache» auch nicht sichtbar gedacht, sondern übersinnlich.

So steht vor dem Seelenauge des Menschen einer frühern Zeit der Kampf zwischen «Michael und dem Drachen». Er wurde als Tatsache gedacht, die sich abspielte, bevor es eine Natur gab, die Menschenaugen sehen können, und bevor noch der Mensch in seiner gegenwärtigen Form entstanden war.

Die gegenwärtige Welt ist aus derjenigen hervorgegangen, in der sich diese Tatsache abgespielt hat. Das Reich, in das der Drache verstoßen wurde, ist zur «Natur» geworden, die eine Materialität angenommen hat, durch die sie für Sinne sichtbar

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werden kann; es ist gewissermaßen der Bodensatz der früheren Welt. Das Reich, in dem Michael sich seinen geistergebenen Willen bewahrt hat, ist «oben» gereinigt geblieben, wie eine Flüssigkeit, aus der sich ein erst gelöster Zusatz als Bodensatz ergeben hat. Dieses Reich ist fortan bleibend ein solches, das Sinnen verborgen sein muß.

Die außermenschliche Natur ist aber der Drachenmacht nicht verfallen. Diese konnte in ihr nicht zur Sichtbarkeit sich erkraften. Sie blieb als unsichtbarer Geist in ihr. Der mußte sein Wesen von ihr absondern. Sie wurde ein Spiegel der höhe­ten Geistigkeit, von der er abgefallen war.

In diese Welt ward der Mensch hineingestellt. Er konnte teilnehmen an der Natur und an der höheren Geistigkeit. So ward er eine Art Doppelwesen. In der Natur selbst blieb der Drache machtlos. In dem, was im Menschen selbst als Natur lebt, erhielt er Macht. Im Menschen lebt, was dieser als Natur aufnimmt, als Begierde, als tierische Lust. In diese Sphäre hat der abgefallene Geist Zutritt. Damit war der «Fall des Men­schen» gegeben.

Der widersetzliche Geist ist in den Menschen verlegt. Mi­chael ist seinem Wesen treu geblieben. Wendet sich der Mensch zu ihm mit dem Teil seines Lebens, das aus der höheren Gei­stigkeit urständet, dann entsteht in des Menschen Seele der «innere Kampf Michaels mit dem Drachen».

Solch eine Vorstellung war noch im achtzehnten Jahrhun­dert vielen Menschen geläufig. Ihnen war die äußere Natur der «Spiegel höherer Geistigkeit», die «Natur im Menschen» der Sitz der Schlange, die die Seele durch Hingabe an Michaels Kraft zu bekämpfen habe.

Wie konnte eine Seele, in der solche Vorstellungen lebendig waren, die äußere Natur ansehen? Die Zeit, da der Herbst naht, mußte die Erinnerung an den «Drachenkampf» des Mi­chael bringen. Die Blätter entfallen den Bäumen, das blühend­sprossende Leben erstirbt. Wohlig nahm die Natur den Men­schen im Frühling auf; wohlig pflegte sie ihn während des Sommers in den warmstrahlenden Sonnengaben. Wenn der

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FIerbst beginnt, hat sie nichts mehr für ihn. Ihre Niedergangs-kräfte dringen in Bildern durch seine Sinne ein. Er muß sich aus seinem Menschen selbst geben, was die Natur ihm vorher gegeben hat. Ihre Macht in ihm wird schwächer. Er muß aus dem Geiste sich Kräfte schaffen, die ihm helfen, wo die Natur machtloser für ihn wird. Der Drache verliert mit der Natur seine Macht. Michaels Bild taucht vor der Seele auf Das Bild des Drachenbekämpfers. Es war abgelähmt, da die Natur und mit ihr der Drache mächtig war. Aus dem heranströmenden Froste taucht dieses Bild auf.

Aber das Bild ist für die Seele eine Realität. Es ist, als ob der Vorhang in die geistige Welt sich öffnete, der von der Sommer-wärme geschlossen war.

Der Mensch lebt das Leben des Jahreslaufes mit. Der Früh-,ing ist irdischer Wohltäter; aber er spinnt den Menschen in das Reich ein, in dem der «Widersacher» seine unsichtbare Macht in ihm als Häßlichkeit der Schönheit der Natur gegen­überstellt. Im Herb stb eginn erscheint der Geist der «starken Schönheit», da die Natur «ihre Schönheit» verbirgt und damit auch den Widersacher in die Verborgenheit treibt.

So waren die Empfindungen vieler, die in älteren Zeiten das Michaelfest in ihrem Herzen feierten. Was zu alledem der Mensch der Gegenwart zu sagen hat, der neben der Natur- eine Geist-Erkenntnis gelten läßt, das soll Inhalt einer Betrachtung in dem nächsten Aufsatz sein.

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DER MICHAELSTREIT VOR DEM BEWUSSTSEIN DER GEGENWART

II

In dem Bilde «der Streit Michaels mit dem Drachen» lebte ein starkes Bewußtsein davon, daß der Mensch durch seine eige­nen Kräfte der Seele eine Lebenstichtung geben müsse, die ihr die Natur nicht geben kann. Die heutige Seelenverfas sung ist geneigt, einem solchen Bewußtsein mit Mißtrauen zu begeg­nen. Sie fürchtet, durch dasselbe der Natur entfremdet zu wer­den. Sie möchte die Natur in ihrer Schönheit, in ihrem sprie­ßenden, sprossenden Leben genießen, und sich diesen Genuß nicht rauben lassen durch die Vorstellung von einem «Abfall der Natur vom Geiste». Sie möchte auch in dem Erkennen die Natur sprechen lassen und sich nicht in das Phantastische ver­lieren, indem sie dem Geist, der sich über die Naturanschauung erhebt, eine Stimme beim Erstreben der Wahrheit über das Wesen der Dinge zugesteht.

Goethe hat eine solche Furcht nicht gehabt. Er empfand ganz gewiß in der Natur nichts Geistfremdes. Sein Gemüt stand weit offen der Schönheit, der inneren Kraft alles Natür­lichen. Im Leben der Menschen berührte ihn vieles Unharmo­nische, Zerrissene, in Zweifel Werfende. Dem gegenüber fühlte er einen inneren Drang, mit der ewigen Konsequenz und Ausgeglichenheit der Natur zu leben. Aus solchem Leben hat er leuchtende Perlen seiner Dichtung herausgezaubert.

Aber in ihm war auch etwas von der Empfindung, das Werk des Menschen müsse durch eigenes Schaffen das Werk der Na­tur erst vollenden. Alle Schönheit der Pflanze empfand Goethe. Aber er empfand auch etwas Unvollendetes in dem Naturle­ben, das die Pflanze vor den Menschen hinstellt. Es liegt mehr in dem, was innerlich in der Pflanze webt und wirkt, als in dem, was in begrenzter Gestalt von ihr vor dem Auge steht.

Neben dem, was die Natur erreicht, empfand Goethe noch etwas wie «Absichten der Natur». Davon, daß man mit einer solchen Vorstellung die Natur personifiziere, ließ sich Goethe

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nicht beirren. Er war sich bewußt, daß er nicht aus einer per­sönlichen Willkür solche Absichten in das Pflanzenieben hin­einträume, sondern daß er sie völlig objektiv in demselben schaue, wie er die Farbe der Blüte schauen kann.

Deshalb war er ungehalten, als Schiller ihm sein Bild von dem inneren Werdestreben der Pflanze, das er einmal vor den Augen des Dichterfreundes mit wenigen Strichen hinzeich­nete, als «Idee» und nicht als «Erfahrung» bezeichnete. Er er­widerte dem Freunde, daß, wenn dieses eine «Idee» sei, er eben seine Ideen mit Augen schaue, wie er Farben und Formen mit Augen wahrnehme.

Goethe hatte eben eine Empfindung dafür, daß in der Natur nicht nur ein aufsteigendes, sondern auch ein absteigendes Le­ben ist. Er empfand das Keimen, Sprossen, Blühen, Fruchten; aber er empfand auch das Welken, Abblassen, Verdorren, Er-sterben. Er empfand den Frühling; aber er empfand auch den Herbst, er konnte im Sommer durch das eigene Gemüt die Ent­faltung der Natur in sich miterleben; aber er konnte auch im Winter mit demselben offenen Gemüte mit der Natur mitsterben.

Man wird in Goethes Werken diese zwiefältige Naturemp­findung mit Worten nicht vollinhaltlich ausgesprochen finden. Aber man kann sie aus seiner ganzen Seelenhaltung herausfüh­len. Es war in ihr noch ein Nachkkng der alten Empfindung vom «Streite Michaels mit dem Drachen». Aber diese Emp­findung war in das Bewußtsein des neuzeitlichen Menschen heraufgehoben.

Goethes Seelenhaltung hat nach dieser Richtung im neun­zehnten Jahrhundert keine Fortsetzung gefunden. Die neuere Geistesanschauung muß zu einer solchen Fortsetzung hinstreben.

Die Naturempfindung ist keine vollendete, wenn der Mensch nur das Keimen, Sprossen, Blühen, Fruchten in sei­nem Innern miterlebt; er muß auch den Sinri für das Welken, Ersterben haben. Er wird dadurch der Natur nicht entfremdet. Er verschließt sich vor ihrem Frühling und Sommer nicht. Aber er fühlt auch ihren Herbst und Winter.

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Der Frühling und der Sommer fordern Hingabe des Men­schen an die Natur; der Mensch lebt sich aus sich heraus und in die Natur hinein. Der Herbst und der Winter regen an, sich in das Menschliche zurückzuziehen und dem Absterben der Natur die Auferstehung der Seelen- und Geisteskräfte entge­genzustellen. Der Frühling und der Sommer sind die Zeiten des Naturbewufitseins der Menschenseele; der Herbst und der Winter sind die Zeiten der Erfühlung des menschlichen Selbst­bewußtseins.

Wenn der Herbst erscheint, dann nimmt die Natur ihr Leben in die Tiefen der Erde hinein; das Keimende, Fruchtende ent­zieht sie dem Auge des Menschen. In dem, was sie dem Auge zeigt, liegt nicht eine Erfüllung; da liegt eine Hoffnung: die Hoffnung auf den neuen Frühling. Die Natur läßt den Men­schen allein mit sich.

Da beginnt die Zeit, in welcher der Mensch durch seine eige­nen Kräfte sich beweisen muß, daß er lebe und nicht sterbe. Die Sommernatur hat dem Menschen gesagt: ich nehme dein «Ich» auf; ich lasse es mit den Blüten selber in meinem eigenen Schoße blühen. Die Herbstesnatur beginnt zum Menschen zu sagen: hole Kräfte aus den Tiefen deiner Seele, auf daß dein Ich in sich lebe, derweil ich mein Leben in die Tiefen der Erde verberge.

Goethe war unwillig, als sein Empfinden auf die Worte Hal­lers stieß: Ins Innere der Natur dringt kein erschaffner Geist; glückselig, wem sie nur die äußere Schale weist. Goethe fühlte:

Natur hat weder Kern noch Schale; alles ist sie mit einem Male.

Die Natur hat zum Leben das Sterben nötig; der Mensch kann auch das Sterben miterleben. Er kommt dadurch nur tiefer in das «Innere» der Natur hinein. Er erlebt in seinem organi­schen Innern seine Atmung, seinen Blutumlauf. Die sind sein Leben. Was in der Natur im Frühling keimt, es steht ihm in Wahrheit so nahe wie seine eigene Atmung; es lockt seine Seele in das Naturbewußtsein hinaus; was im Herbste erstirbt, es steht ihm nicht ferner als das Kreisen seines Blutes; es stähit in seinem Innern das Selbstbewußtsein.

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Das Fest des Selbstbewußtseins, das dem Menschen seine echte Menschlichkeit nahebringt: es ist da, wenn die Blätter fallen; der Mensch hat nur nötig, sich dessen bewußt zu wer­den. Es ist das Michaelfest, das Fest des Herbstbeginnes. Das Bild des siegenden Michaels kann da sein: es lebt in dem Men­schen, der im Sommer liebend in die Natur aufgegangen ist, der aber den Schwerpunkt seines Wesens verlieren müßte, wenn er aus dem Verlorensein in der Natur nicht aufsteigen könnte, zu dem Erkraften des eigenen Geisteswesens.

GOETHES GEISTIGE UMGEBUNG UND DIE GEGENWART

Die Betrachtungen, die hier über das Bild vom «Streite des Michael mit dem Drachen» gegeben worden sind, mußten den Blick zurücklenken in die menschliche Seelenverfassung einer verhältnismäßig noch nicht weit zurückliegenden Vergangen­heit. Es mußte darauf hingewiesen werden, wie noch im acht­zehnten Jahrhundert Ideen gelebt haben, die als eine Erkennt­nisgrundlage angesehen worden sind, während sie heute in das Gebiet menschlicher Phantasien geworfen werden.

Das Bild der Goetheschen Weltanschauung wird nur leben­dig vor der Seele des Gegenwartsmenschen stehen können, wenn diese Tatsache richtig gewürdigt wird. In den siebziger und achtziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts liegt der Punkt in Goethes Leben, in dem sich seine Weltanschauung die Richtung gegeben hat, die ihr dann für eine weitere reiche Entwicklung geblieben ist. Goethe hat da durch Aufnahme der Naturerkenntnis in seine Denkart sich den innerlichen Ruck gegeben, der für ihn charakteristisch ist. Nicht in Abkehr von einer echten Anschauung der Natur, sondern im Einklang mit ihr wollte er die Höhen geistiger Erfassung des Weltenwesens erreichen.

Man wird diesen Ruck nur recht verstehen können, wenn man auf die geistige Umgebung Goethes sieht. Wenn man

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sieht, wie innerhalb dieser Umgebung er mit seinem Streben allein stand.

Von den vielen Erscheinungen, die dies bezeugen, ist die folgende vielleicht die nicht am wenigsten bedeutsame.

Im Jahre 1782 erschien von dem so liebenswürdigen Mat­thias Claudius die Übersetzung des Buches «Des Erreurs et de la Vérité». Das Buch rührte von St. Martin, dem sogenannten «unbekannten Philosophen» her. Es stellt das Streben dar, durch Anknüpfung an Urweisheiten der Menschheit zu einer befriedigenden Weltanschauung zu kommen. Damit aber wird darauf gedeutet, daß diejenigen, welche sich in der Richtung dieses Buches mit ihrem Denken bewegten, keine Möglichkeit sahen, von den Gesichtspunkten aus, zu denen die naturwis­senschaftliche Denkungsart kommen kann, eine innerliche Er­kenntnisbefriedigung zu erlangen. Goethe wollte das aber mit aller Energie.

Heute darf insbesondere der Umstand interessieren, daß in Goethes Zeitgenossen ein Bedürfnis nach derjenigen Ideenrich­tung entstehen konnte, die in St. Martin verkörpert ist.

Die naturwissenschaftliche Denkungsart drängte nach einer Welt-erfassung hin, die für die eigentliche Erkenntnis die mo­ralischen Impulse ganz ausschließt. Diese können ihr nur als etwas gelten, das abseits von den Naturideen in der menschli­chen Seele aufleuchtet. Die natürliche Weltentwickelung, auf die der menschliche Blick gerichtet ist, muß ihr gemäß, nach Anfang und Ende ohne den Einschlag moralischer Ideen ge­dacht werden. In den Weltnebeln, aus denen Welten hervorge­hen, die zuletzt auch den natürlichen Menschen aus sich erste­hen lassen, wirken keine moralischen Impulse.

Abseits von dieser Naturanschauung standen - um Goethe herum - noch diejenigen, die nach so etwas verlangten, wie es ihnen Matthias Claudius durch die Übersetzung von St. Mar­tins Werk geben wollte*. Goethe aber stand in der Naturan­schauung

- - -

* Es darf hier darauf verwiesen werden, daß im Stuttgarter «Kommender Tag-Verlag» die schon selten gewordenen Werke St. Martins wieder erschie­nen sind.

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drinnen. Andere wollten außer der Naturan­schauung die Erkenntnis des Menschen mit der moralischen Weltordnung verbinden; er wollte dies innerhalb derselben er­reichen.

St. Martin redet von einer vorzeitlichen schweren Urschuld, einer Ursünde des Menschen. Dieser war einst aus einer über­sinnlichen Welt heraus in seinem wahren Wesen gestaltet. Er ist es nicht mehr. Erträgt jetzt ein anderes Wesen an sich. Er ist von sich selbst abgefallen. Er hat sich mit den Stoffen der sinn­lichen Welt so umkleidet, wie es seinem ursprünglichen Wesen nicht angemessen ist. Dieser Abfall erstreckt sich bis in die ein­zelnen Erscheinungen des Lebens hinein. Eine solche ist die Sprache. Wie der Mensch in den einzelnen Gebieten der Erde jetzt spricht, so kann er nicht mit seinen Worten das wahre We­sen der Dinge treffen. Er muß an ihrer Äußerlichkeit hängen bleiben. Für den noch nicht von sich abgefallenen Menschen war eine Ursprache bestimmt, welche mit den in den Dingen der Welt wirkenden Schöpferkräften eine Einheit bildete.

Mit solchen Ideen wird die Na>turordnung an eine morali­sche Ordnung angeknüpft. In einer Welt von rein natürlicher Entwickelung hat diese moralische Ordnung keinen Platz.

Im Grunde mußte für die Anhänger St. Martins alle Er­kenntnis darin bestehen, durch eine Entfaltung des menschli­chen Innern die ursprüngliche Seelenverfassung des Menschen wieder zu erringen.

Von einem solchen Streben sind die Werke St. Martins er­füllt. Sie konnten nur Menschen befriedigen, die auch in der Naturerkenntnis ein Ergebnis des menschlichen Abfalles von sich selbst erblickten. Die Urschuld hat diese Erkenntnis ge­zeugt, so mußten sie meinen; und wahre Erkenntnis kann nur errungen werden außerhalb der Naturanschauung.

Diese Gesinnung gibt diesen Werken für den heutigen Men­schen etwas Fremdes. Sie mußte das auch schon für Goethe. Wieviel ihm selbst gerade von St. Martin bekannt geworden ist, darauf kommt es nicht an. Sondern darauf, daß es in seiner Zeit Menschen gab, deren Geistesbedürfnisse durch die Hinneigung

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zu St. Martin befriedigt werden konnten. Das be­zeichnet die Seelenverfassung Vieler, denen gegenüber er sich innerlich behaupten mußte.

Er konnte sich nicht abseits von der Naturanschauung stel­len. Er konnte zum Anschauen des Geistes nur gelangen, wenn sich ihm durch die Beobachtung der Naturerscheinungen das Geistige erschloß. Für ihn ist der Mensch nicht von seiner ur­sprünglichen Wesenheit abgefallen, sondern er trägt sie in sich; nur zunächst für ihn selber unwahrnehmbar. Aber gerade durch diese Unwahrnehmbarkeit im Anfange seines Lebens ist der Mensch imstande, durch die eigenen Kräfte sich zu der An­schauung seines wahren Wesens hindurchzuringen. Naturan­schauung ist für Goethe nicht Ergebnis eines menschlichen Ab-falles, sondern die Grundlage des Aufstieges zu sich selbst, der in jedem Augenblicke möglich ist. Damit aber hat Goethe die wahre Idee der seelischen Freiheit seiner Weltanschauung ein­verleibt. Sie ist in seinen Werken wohl nirgends ganz deutlich ausgesprochen. Aber sie liegt verborgen in ihnen. Wer sie sucht, der findet sie, wenn er sich an die Denkungsart Goethes hingibt.

Man wird Goethe in die Gegenwart nur richtig hineinstel­len, wenn man dies bemerkt. Er hat in den achtziger Jahren in sich die unbesiegliche Sehnsucht empfunden, aus seiner geisti­gen Umgebung zu fliehen. Er hat in Italien nicht Italien ge­sucht: er hat durch die Anschauungen, die er da erlangen konnte, sich selbst, sein eigenes wahres Wesen gesucht. Ver­folgt man Goethe während seiner italienischen Reise, so sieht man den Goethe, der der Welt so wertvoll geworden ist, Stufe nach Stufe entstehen.

Darinnen liegt eben der Freiheitscharakter in einem wahren, echten menschlichen Streben. Bei Goethe liegt darinnen das ganz Neue, das mit ihm in die Seelenverfas sung der Menschen gekommen ist. Das ist in ihm auch eine Verbindung mit dem Michael-Impuls. Es ist diejenige, die er in einer ihm fremden Umgebung nicht gewinnen konnte, die er aber durch eine ein­zigartige Versenkung in sich selbst gewonnen hat.

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Dadurch ist er demjenigen so nahe, der heute nach Geist­Erkenntnis sucht. Er hat sich in seiner Zeit oft recht fremd ge­fühlt; der heutige Geist- Sucher fühlt sich bei ihm so heimisch.

VOM SEELENLEBEN

I. Das Seelenwesen im Dämmerdunkel des Traumes

Will der Mensch innerhalb des gewöhnlichen Erlebens sein Seelenwesen anschauen, so kann es nicht genügen, daß er den geistigen Blick nur gewissermaßen rückwärts wendet, um in sich hineinblickend das zu sehen, was er als ein in die Welt Hin­ausschauender ist. Er sieht auf diese Art nichts Neues. Er sieht, was er als Weltbetrachter ist, nur in einer andern Richtung. -Er ist im wachen Leben fast ganz an die Außenwelt hingege­ben. Er lebt in seinen Sinnen. In deren Eindrücken lebt die Außenwelt weiter fort in dem menschlichen Innern. In diese Eindrücke weben sich die Gedanken. Auch in ihnen lebt die Außenwelt. Nur die Kraft, mit der die Außenwelt in den Ge­danken ergriffen wird, kann als Eigenwesenheit des Menschen empfunden werden. Aber diese Empfindung einer Eigenkraft hat einen ganz allgemeinen, unbestimmten Charakter. Man kann in ihr mit dem gewöhnlichen Bewußtsein nichts unter­scheiden. Wäre man darauf angewiesen, in ihr das Seelenwesen zu erkennen, so hätte män von demselben nichts als eine unbe­stimmte Eigen-Empfindung, von der man nicht wußte, was sie ist.

Es ist das Unbefriedigende der auf diese Art zustande ge­kommenen Selbstbeobachtung, daß ihr das Seelenwesen sofort entschlüpft, da sie es fassen will. Menschen, die ernsthaft nach Erkenntnis streben, können durch dies Unbefriedigende zur Verzweiflung an aller Erkenntnis getrieben werden.

Deshalb haben sinnende Menschen fast immer auf an­dem Wegen als durch solche Selbstbeobachtung die Erkennt­nis des Seelenwesens gesucht. Sie fühlten im Sinnes-Anschauen und im gewöhnlichen Denken das Hingegebensein jener unbe­stimmten

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Eigen-Empfindung an den Körper. Sie erkannten, daß die Seele, solange sie in dieser Hingebung verharrt, durch Selbstbeobachtung nichts von ihrem Eigenwesen erkennen kann.

Ein Gebiet, auf das sie dies Gefühl lenkte, ist der Traum. Sie wurden gewahr, daß die Bilderwelt, die der Traum heranzau­bert, mit jener unbestimmten Eigen-Empfindung etwas zu tun habe. Diese stellte sich ihnen gewissermaßen als die leere Tafel dar, auf der der Traum seine Bilder malt. Und dann erkannten sie, daß die Tafel selbst der Maler ist, der an und in sich malt.

So wurde ihnen das Träumen die flüchtige Tätigkeit im Menschen-Innern, welche die unbestimmte Eigen-Empfin-dung des Seelenwesens mit Inhalt erfüllt. Ein fragwürdiger Inhalt; aber der einzige, den man zunächst vom Seelenwesen haben kann. Ein Anschauen, herausgehoben aus der Helligkeit des gewöhnlichen Bewußtseins, gestoßen in das Dämmerdun­kel das Halb-Bewußtseins; aber in der einzigen Gestalt, in der es für das alltägliche Leben zu erreichen ist.

Aber trotz dieses Dämmerdunkels ergibt sich, zwar nicht für die denkende Selbstbeobachtung, wohl aber für das innerliche Sich-Ertasten ein sehr Bedeutungsvolles. Eine Verwandtschaft des Träumens mit der schaffenden Phantasie läßt sich seelisch ertasten. Man fühlt, daß, was im Traume luftig webt, im Phan­tasie-Schaffen ergriffen wird vom Körper-Innern. Und dieses Körper4nnere zwingt die Traumbi]dnerkraft, abzulassen von ihrer Willkür und sich umzugestalten zu einer Tätigkeit, die in zwar freier Weise aber doch nachbildet, was in der Sinneswelt vorhanden ist.

Hat man sich bis zu einem solchen Ertasten der Innenwelt durchgerungen, so kommt man bald um einen Schritt weiter. Man wird gewahr, wie die traumbildende Kraft eine noch inni­gere Verbindung mit dem Körper eingehen kann. Man schaut diese ahnend in der Tätigkeit der Erinnerung, des Gedächtnis­ses. In diesem zwingt der Körper die traumbildende Kraft in eine noch stärkere Treue gegenüber der Außenwelt hinein als in der Phantasie.

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Ist dies durchschaut, dann bleibt nur noch ein Schritt dazu, anzuerkennen, daß auch im gewöhnlichen Denken und sinnli­chen Wahrnehmen die traumbildende Kraft als Seelenwesen zum Grunde liegt. Sie ist da ganz an den Körper hingegeben, während sie in Phantasie und Gedächtnis noch etwas von ihrem Eigenweben zurückbehält.

Das gibt dann ein Recht, im Träumen das Seelenwesen zu vermuten, das sich von dem Hingegebensein an den Körper befreit und in seiner Eigenheit lebt.

So wurde der Traum das Feld vieler Seelensucher.

Aber er verweist den Menschen in ein recht unsicheres Ge­biet. In der Hingabe an den Körper wird das Seelenwesen in die Gesetze eingespannt, von denen die Natur durchsetzt ist. Der Körper ist ein Teil dieset Natur. Indem sich das Seelenwesen an den Körper hingibt, verwebt es sich zugleich in die Gesetz-mäßigkeit der Natur. - Die Mittel, durch die es sich so dem Naturdasein anpaßt, empfindet es als Logik. In dem logischen Denken über die Natur fühlt die Seele sich sicher. In der traum-bildenden Kraft entreißt sie sich diesem logischen Denken über die Natur. Sie geht in ihr Eigenwesen zurück. Damit aber verläßt sie gleichsam die wohlgepflegten und gerichteten Landwege des inneren Lebens und begibt sich hinaus in das verfließende, weglose Meer des geistigen Daseins.

Die Schwelle zur geistigen Welt scheint überschritten; aber nach dem Überschreiten bietet sich nur das bodenlose, rich­tungslose geistige Element dar. Seelensucher, die so die Schwelle überschreiten wollen, finden das reizvolle, aber auch zweifel-erregende Gebiet des Seelenlebens.

Es ist voller Rätsel. Bald webt es aus den äußeren Erlebnis­sen luftige Zusammenhänge, die der Naturgesetzmäßigkeit spotten; bald gestaltet es Sinnbilder der inneren körperlichen Vorgänge und Organe. Das zu stark pochende Herz erscheint als kochender Ofen im Traume; die schmerzende Zahnreihe als ein Zaun mit schadhaften Pflöcken. - Und sich selbst lernt da der Mensch auf eine eigentümliche Art kennen. Sein trieb­haftes Leben gestaltet sich zu den Bildern bedenklicher Traumhandlungen,

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die er im wachen Dasein weit von sich weisen würde. Besonderes Interesse erregen bei den Seelensuchern diejenigen Träume, die prophetischen Charakter haben, oder in denen die Seele Fähigkeiten sich erträumt, die ihr im wachen Zustande ganz abgehen.

Die Seele erscheint da losgelöst von ihrem Eingespanntsein in die Körper- und Naturtätigkeit. Sie will selbständig sein. Sie schickt sich an zu dieser Selbständigkeit. Aber sofort, wenn sie sich entfalten will, zieht ihr die Körper- und Naturtätigkeit nach. Sie will nichts wissen von Naturgesetzlichkeit; aber die Tatsachen der Natur erscheinen im Traume als Naturwidrig­keiten. Sie will wissen von den inneren Körperorganen oder Körpertätigkeiten. Aber sie bringt es nicht zu klaren Bildern dieser Organe oder Tätigkeiten, sondern nur zu Sinnbildern, die den Charakter der Willkür an sich tragen. Das äußere Na-tur-Erleben wird aus der Bestimmtheit gerissen, in der es sich durch Sinnes-Wahrnehmung und Denken befindet; das Erle­ben des Menschen-Innern beginnt; es beginnt aber in einer dunklen Gestalt. Naturanschauung wird verlassen; Selbstan­schauung wird nicht wahrhaft erreicht. Die Erforschung des Traums versetzt den Menschen nicht in die Lage, das Seelen­wesen in seiner echten Gestalt zu schauen. Er hat es durch ihn zwar geistig faßbarer vor sich als in der denkenden Selbstbeob­achtung; aber doch so wie etwas, das man eigentlich sehen sollte, das man aber nur wie durch eine Hülle greifen kann.

Über das Sehen der Seele durch die Geist-Erkenntnis soll der zweite Teil des Artikels sprechen.

II. Das Seelenwesen in der Helligkeit der Geist-Anschauung

Nimmt man zu den Traumerscheinungen seine Zuflucht, um das Seelenwesen kennen zu lernen, so ist man zuletzt zu dem Geständnis gezwungen, daß man das Gesuchte mit einer Maske vor sich hat. Hinter den Verbildlichungen körperlicher Zustände und Vorgänge, hinter den naturwidrig zusammengestellten

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Erinnerungserlebnissen datf man die Tätigkeit der Seele vermuten. Nicht behaupten aber kann man, daß man der wirklichen Gestalt des Seelischen gegenübergestellt ist.

Nach dem Erwachen wird man gewahr, wie das Tätige des Traumes in die Wirksamkeit des Körpers eingesponnen und durch diesen an die sinnliche Außenwelt hingegeben ist. Durch den rückwärts gewendeten Blick der Selbstbeobachtung sieht man nur die Bilder der Außenwelt im seelischen Leben, nicht dieses selbst. Die Seele entschlüpft dem gewöhnlichen Be­wußtsein in dem Augenblicke, da man sie erkennend erfassen will.

Mit der Betrachtung des Traumes an die Wirklichkeit des Seelischen heranzukommen, kann man nicht hoffeni Man müßte durch eine starke innere Tätigkeit die Verbildlichungen der Körperzustände und Körpervorgänge, und die Erinne­rungserlebnisse austilgen, um die seelische Tätigkeit in ihrer ureigenen Gestalt zurückzubehalten. Und man müßte dann das Zurückbehaltene betrachten können. Das ist unmöglich. Denn der Träumende ist in einem passiven Zustande. Er kann keine Eigentätigkeit entfalten Mit dem Verschwinden der Seelenmaske verschwindet zugleich die Empfindung des eigenen Selbstes.

Anders steht es für das wache Seelenleben. In diesem kann die Eigentätigkeit nicht nur aufrechterhalten bleiben, wenn man austilgt, was man von der Außenwelt wahrnimmt; sie kann auch in sich selbst verstärkt werden.

Es geschieht dieses, wenn man wachend im Vorstellen sich so unabhängig von der sinnlichen Außenwelt macht, wie man im Traume ist. Man wird dann zum vollbesonnenen, wachen Nachahmer des Traumes. Damit aber fällt sogleich alles Illu­sorische des Traumes wegi Der Träumende hält seine Traum­bilder für Wirklichkeiten. Der Wache durchschaut ihre Un­wirklichkeit. Der gesunde Wachende als Nachahmer des Traumes kann seine Bilder nicht für Wirklichkeiten halten. Er bleibt sich bewußt, daß er in selbstgeschaffenen Illusionen lebt.

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Aber er wird diese Illusionen nicht zustande bringen, wenn er nur bei dem gewöhnlichen Grade des Bewußtseins stehen bleibt. Er muß für eine Erkraftung dieses Bewußtseins sorgen. Man kann dies erreichen durch ein stets vom Neuen von innen sich anfachendes Denken. Die innere seelische Aktivität wächst mit diesem fortgesetzten Anfachen. (Ich habe die ent­sprechende innere Betätigung in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» und in meiner «Ge­heimwissenschaft» in den Einzelheiten beschrieben.)

Man kann auf diese Art das, was durch die Seele im Däm­merdunkel des Traumes geschieht, in das helle Licht des Be­wußtseins rücken. Man vollzieht damit das Entgegengesetzte von dem, was durch Fremd- oder Autosuggestion geschieht. Bei diesem wird aus dem Halbdunkel und in diesem Halbdun­kel etwas in das Seelenleben gerückt, das man dann für Wirk­lichkeit ansieht. Bei der gekennzeichneten vollbesonnenen See­lentätigkeit wird mit hellem Bewußtsein etwas vor die innere Anschauung gestellt, das man im vollsten Sinne des Wortes nur als Illusion ansieht.

Man kommt so dazu, den Traum zu zwingen, sich in die Be­wußtseinshelle zu stellen. Er stellt sich sonst nur vor das abge­schwächte, halbwache Bewußtsein hin. Er scheut die Bewußt-seinshelle. Er verschwindet vor ihr. Das verstärkte Bewußtsein hält ihn fest.

In diesem Festhalten gewinnt er nicht an Kraft. Im Gegen­teil: er verliert an Kraft. Dafür aber wird das Bewußtsein ver­anlaßt, sich selbst Kraft zuzuführen. Es ist da im Seelischen, wie es im Körperlichen ist, wenn man einen festen Körper in Dampf verwandelt. Der feste Körper gibt sich seine Grenzen nach allen Seiten. Man kann diese Grenzen betasten. Sie beste­hen für sich. Verwandelt man den festen Körper in Dampf, dann muß man ihn, damit er sich nicht nach allen Seiten ver­flüchtigt, durch feste Wände einschließen. So muß die Seele, will sie den Traum wachend festhalten, sich gewissermaßen zum kräftigen Behälter gestalten. Sie muß sich in sich erkraften.

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Diese Erkraftung braucht sich die Seele nicht zu leisten, wenn sie in sich Bilder der äußeren Sinneswelt wahrnimmt. Da sorgt das Verhältnis des Körpers zur Außenwelt dafür, daß die Seele erregt ist, diese Bilder zu halten. Träumt die Seele wa­chend im sinnlich Unwirklichen, dann muß sie durch ihre ei­gene Kraft dieses sinnlich Unwirkliche halten.

An dem vollbewußten Vorstellen des sinnlich Unwirkli­chen bildet man die Kraft heran, das geistig Wirkliche zu schauen.

Im Traum ist die Eigentätigkeit des Seelenwesens schwach. Der flüchtige Trauminhalt überwältigt diese Eigentätigkeit. Diese Übermacht des Traumes bewirkt, daß die Seele ihn für Wirklichkeit hält. Im gewöhnlichen sinnlichen Bewußtsein fühlt sich die Eigentätigkeit als Wirklichkeit neben der Wirk­lichkeit der Sinnenwelt. Aber die Eigentätigkeit kann sich nicht anschauen; alle Anschauung wird von den Bildern der Sinneswirklichkeit in Anspruch genommen. Lernt die Eigen-tätigkeit sich aufrechterhalten, indem sie sich bewußt mit sinn­lich unwirklichem Inhalt erfüllt, so belebt sie nach und nach auch die Eigenanschauung in sich selbst. Sie lenkt nun nicht mehr bloß den Blick von der Außenanschauung in sich zurück; sie schreitet als Seelentätigkeit zurück und findet sich in ihrer geistigen Wesenheit; diese wird nun Inhalt ihrer Anschauung.

Während die Seele sich so in sich selber findet, wird ihr auch das Wesen des Träumens noch weiter beleuchtet. Sie wird deutlich gewahr, was sie vorher nur ahnen konnte, daß das Träumen im Wachen nicht aufhört. Es setzt sich fort. Aber der schwach wirkende Traum wird von dem sinnlichen Wahrneh­mungsinhalt übertönt. Hinter der Bewußtseinshelle, die mit den Bildern der Sinneswirklichkeit erfüllt ist, därnmert eine Traumeswelt. Und diese ist, während die Seele wacht, nicht illusorisch wie die Traumwelt des Halbwachen. Im Wachen träumt der Mensch - unter der Bewußtseinsschwelle - von den inneren Vorgängen seines Körpers. Während durch das Auge die Außenwelt gesehen und durch die Seele vorgestellt wird, lebt im Hintergrunde der schwache Traum des Innengesche­hens.

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Durch die Erstarkung der Eigentätigkeit der Seele wird allmählich die Anschauung der Außenwelt zur Traumschwä­che herabgediiipflpft; und die Anschauung der Innenwelt in ihrer Wirklichkeit erhellt.

Im Anschauen der Außenwelt ist die Seele empfangend; sie erlebt die Außenwelt als das Schaffende und ihren eigenen In­halt als das Nach-geschaffene. Für die Innenanschauung er­kennt sich die Seele als das Schaffendei Und der eigene Körper enthüllt sich als das Nach-geschaffene. Der Gedanke der Au­ßenwelt muß als Bild der Wesen und Vorgänge der Außenwelt empfunden werden. Der Menschenkörper kann vor der wirk­lichen Anschauung der Seele, die auf die geschilderte Art ge­wonnen wird, nur als Bild des geistigen Seelenwesens empfun­den werden.

Im Traume löst sich die seelische Tätigkeit aus dem festen Verbande mit dem Körper, in dem sie im gewohnlichen Wach-sein ist; aber sie hält noch das lose Verhältnis fest, das sie erfüllt mit den Sinnbildern des Körperlichen und mit den Erinne­rungserlebnissen, die auch durch den Körper gewonnen sind. Im geistigen Anschauen seiner selbst erkraftet sich das Seelen­wesen so, daß ihm seine eigene höhere Wirklichkeit empünd­bar und der Körper in seinem Charakter als Nach-Bild dieser Wirklichkeit erkennbar wird. (Die Fortsetzung dieser Betrach­tung soll im nächsten Aufsatz gegeben werden.)

III. Das Seelenwesen auf dem Wege zur Selbstbeobachtung

Im Traume erfaßt sich das Seelenwesen in einer flüchtigen Ge­stalt, die eine Maske ist. Im traumlosen Schlafe verliert es sich scheinbar ganz. In der geistigen Selbstanschauung, die durch die besonnene Nachbildung des Träumens gewonnen wird, gelangt die Seele zu sich als schaffendes Wesen, deren Nachbild der Körper ist.

Aber der Traum steigt aus dem Schlafe auf. Wer es unter­nimmt, den Traum heraufzuholen in das helle Licht des Be­wußtseins,

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der muß auch den Antrieb empfinden, noch weiter zu gehen. Er tut dies, wenn er versucht, den traumlosen Schlaf bewußt zu erleben.

Das scheint unmöglich zu sein. Denn im Schlafe hört eben die Bewußtheit auf. Und das Verlangen, bewußt die Bewußt­losigkeit erleben, erscheint wie eine Torheit.

Die Torheit tritt aber sogleich in eine andere Beleuchtung, wenn man sich den Erinnerungen gegenüberstellt, die man von einem gewissen Zeitpunkte an rückwärts bis zum letzten Auf­wachen verfolgen kann. Man muß dabei nur so verfahren, daß man die Erinnerungsbilder ganz lebendig anknüpft an das, woran sie erinnern. Versucht man dann - nach rückwärts -fortzuschreiten bis zum nächsten vorläufig bewußten Erinne­rungsbild, so liegt dies vor dem letzten Einschlafen. Hat man nun wirklich die Anknüpfung an das Erinnerte lebendig vollzo­gen, so entsteht eine innere Schwierigkeit. Man kann das Er­innerungsbild nach dem Aufwachen nicht an dasjenige vor dem Einschlafen heranbringen.

Das gewöhnliche Bewußtsein hilft sich über die Schwierig­keit dadurch hinweg, daß es die Anknüpfung an das Erinnerte nicht lebhaft vollzieht, und einfach das Aufwachebild an das Einschlafebild setzt. - Wer aber das Bewußtsein durch das be­sonnene Nachahmen des Träumens in seiner Empfindungsfä­higkeit gehoben hat, dem fallen die beiden Bilder auseinander. Für ihn liegt ein Abgrund zwischen beiden. Aber, indem er diesen Abgrund bemerkt, füllt dieser sich auch schon für ihn aus. Der traumlose Schlaf hört auf, im Selbstbewußtsein ein leerer Zeitverlauf zu sein. Aus ihm taucht wie eine Erinnerung eine geistige Erfüllung der « leeren Zeit» auf. Allerdings wie eine Erinnerung an etwas, das das gewöhnliche Bewußtsein vorher gar nicht in sich gehabt hat. Aber es trägt trotzdem diese Erinnerung geradeso den Hinweis auf ein Erleben der eigenen Seele in sich wie nur irgendeine gewöhnliche Erinnerung. Da­durch aber sieht die Seele wirklich in das hinein, was ihr für das gewöhnliche Erleben - im traumlosen Schlafe - als bewußtlos verläuft.

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Das ist der Weg, auf den das Seelenwesen noch tiefer in sich hineinschaut als in dem Zustand, der als Folge der bewußt­besonnenen Traum-Nachahmung eintritt. Durch diesen Zu­stand schaut die Seele auf ihr eigenes, den Körper gestaltendes Wesen. Durch das bewußte Durchdringen des traumlosen Schlafes schaut sie sich völlig losgelöst vom Körper in ihrem Eigenwesen.

Aber sie schaut nunmehr nicht nur auf das Gestalten des Körpers, sondern über dasselbe hinaus auf die Gestaltung des eigenen Wollens.

Das innere Wesen des Wollens bleibt für das gewöhnliche Bewußtsein so unbekannt wie die Erlebnisse des traumlosen Schlafens. Man erlebt einen Gedanken, der die Absicht des Wollens in sich schließt. Dieser Gedanke taucht unter in die undeutliche Welt der Gefühle und entschwindet in das Dunkel der körperlichen Vorgänge. Er taucht von außen wieder auf als der körperliche Vorgang der Armbewegung, die neuer­dings durch einen Gedanken erfaßt wird. Es liegt zwischen den beiden Gedankeninhalten etwas wie der Schlaf zwischen den Gedanken vor dem Einschlafen und denen nach dem Aufwa­chen.

Aber wie das innere Schaffen der Seele am Körper dem er­sten Schauen der Seele faßbar wird, so das Wollen über den Körper hinaus dem zweiten. Die Seele kann den Weg finden, ihr inneres Schaffen am Körper in seinem organischen Aufbau zu schauen; und sie kann auch auf den andern Pfad gelangen, wo ihr erfaßbar wird, wie sie am Körper schafft, um aus diesem das Wollen herauszuholen.

Und wie zwischen Schlafen und Wachen das Träumen liegt, so zwischen Wollen und Denken das Fühlen. Auf demselben Wege, der zur Durchleuchtung des Willensvorganges führt, liegt auch die Erhellung der Gefühlswelt.

Im ersten Schauen enthüllt sich die Seele ihr inneres Schaffen am Organismus. Im zweiten Schauen dringt sie zum Wollen. Aber der Offenbarung des Wollens nach außen muß ein inneres Schaffen vorangehen. Bevor der Arm gehoben wird, muß in

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ihn der Schaffens strom sich so ergießen, daß seinen Stoffwech­selvorgän gen, die in der Ruhe des Lebens erfolgen, solche ein­geschoben werden, die als Gefühlsverlauf offenbar werden. Das Fühlen ist ein Wollen, das innerhalb des Menschen be­schlossen bleibt; ein Wollen, das in der Entstehung festgehal­ten wird.

Die für das Fühlen und Wollen in den Körper eingeschobe­nen Vorgänge enthüllen sich für das zweite Schauen als Vor­gänge, die denen entgegengesetzt sind, welche das Leben un­terhalten. Es sind abbauende Vorgänge. In den aufbauenden Vorgängen gedeiht das Leben; aber es erstirbt in ihnen das Seelenwesen Das Leben des Körpers, das selbst von der Seele aufgebaut wird, muß abgebaut werden, damit das Wesen und Wirken der Seele aus dem Körper sich entfalten kann.

Für die geistige Anschauung ist das Schaffen der Seele am Körper wie eine Erinnerung an etwas, das sie erst vollbracht hat, bevor sie sich selber im Wirken darlebt.

Damit aber erlebt sich die Seele als rein geistiges Wesen, das seinem Wirken die Gestaltung des Körpers hat vorangehen lassen, um an demselben die Grundlage für die ureigene, rein geistige Entfaltung zu haben. Die Seele gibt erst ihr Schaffen an den Körper hin, um, nachdem sie diesem Genüge getan hat, sich in freier Geistigkeit zu offenbaren.

Und diese Entfaltung des Seelenwesens beginnt schon mit dem Denken selbst, das sich aus der Sinneswahinehmung her­aus ergibt. Nimmt man einen Gegenstand wahr, so tritt schon die Seele in Tätigkeit. Sie gestaltet den entsprechenden Kör­perteil so, daß er geeignet wird, in dem Gedanken ein Spiegel­bild des Gegenstandes zu entfalten. In dem Erleben dieses Spie­gelbildes schaut dann die Seele das Ergebnis ihrer eigenen Tä­tigkeit an.

Man wird das Geistwesen der Seele niemals finden, wenn man über die Gedanken philosophiert, die vor dem gewöhn­lichen Bewußtsein auftreten. Denn die Geisttätigkeit der Seele liegt nicht in diesen, sondern hinter ihnen. Es ist richtig, daß die Gedanken, welche die Seele erlebt, Ergebnisse der Gehlrntä­tigkeit

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sind. Aber die Gehirntätigkeit ist erst das Ergebnis der Geisttätigkeit der Seele. In der Verkennung dieser Tatsache liegt das Ungesunde der materialistischen Weltanschauung. Wenn diese aus allen möglichen wissenschaftlichen Voraus­setzungen beweist, daß die Gedanken Ergebnisse der Gehirn-tätigkeit sind, so hat sie recht. Und eine Anschauung, welche in diesem Punkte eine Widerlegung liefern will, wird stets ab­prallen an dem, was der Materialismus zu sagen hat. Aber die Gehirntätigkeit ist Ergebnis von Geisttätigkeit. Um das zu durchschauen, genügt nicht die Wendung der Anschauung nach rückwärts in den Menschen hinein. Da stößt man auf die Gedanken. Und diese haben nur eine Bildwirklichkeit. Diese ist das Ergebnis des Körperlichen. Man muß im Rückwärts-schauen erstarkte und erkraftete Seelenfähigkeiten ins Leben treten lassen. Man muß die träumende Seele dem Dämmerdun­kel des Traumes entreißen; da verflüchtigt sie sich nicht in Phantasmen, sondern legt ihre Maske ab, um als geistig im Körper schaffendes Wesen zu erscheinen. Man muß die schla­fende Seele der Finsternis des Schlafes entreißen; da ver­schwindet sie nicht vor sich selbst, sondern stellt sich vor sich hin als rein geistiges Wesen, das im Wollen durch den Körper über diesen hinausschafft. (Der Schiuß dieser Betrachtung soll im nächsten Aufsatz gegeben werden.)

IV. Das Seelenwesen in Seelenmut und Seelenangst

Die Denkgewohnheiten, die in der neueren Naturerkenntnis zur Anerkennung gekommen sind, können in der Seelener­kenntnis keine befriedigenden Ergebnisse liefern. Was man mit diesen Denkgewohnheiten erfassen will, muß entweder in Ruhe vor der Seele sich ausbreiten, oder, wenn es in Bewegung ist, muß die Seele sich selbst aus dieser Bewegung herausgeho­ben fühlen. Denn die Bewegung des Erkannten mitmachen, heißt, sich an dieses verlieren, in dasselbe gewissermaßen hinüberschlüpfen.

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Wie aber soll die Seele sich in einer Erkenntnis erfassen, in der sie sich verlieren muß? Sie kann Selbst-Erkenntnis nur er­warten in einer Betätigung, in der sie sich selbst Schritt für Schritt gewinnt.

Das kann nur eine Betätigung sein, die schaffend ist. Aber da tritt für den Erkennenden sofort eine Unsicherheit ein. Er glaubt der persönlichen Willkür zu verfallen.

Diese Willkür ist es gerade, die er in der Naturerkenntnis da-hingibt. Er schaltet sich aus und läßt die Natur in sich walten. Er sucht Sicherheit da, wo er mit dem seelisch-eigenen Wesen nicht hingelangt. In der Selbsterkenntnis kann er sich nicht so verhalten. Er muß sich überall dahin mitnehmen, wo er erken­nen will. Er kann deshalb auf seinen Wegen keine Natur fin­den. Denn wo sie ihm begegnen würde, da wäre er schon nicht mehr.

Das aber gibt gerade die Empfindung, die man dem Geiste gegenüber braucht. Man kann nichts anderes erwarten, als daß man ihn da findet, wo die Natur in der Selbstbetätigung gewis­sermaßen dahinschmilzt. Wo man sich in dem Grade stärker fühlt, als man dieses Dahinschmelzen fühlt.

Erfüllt man daher die Seele mit etwas, das sich nachher so erweist wie der Traum in seinem Illusionscharakter, und erlebt man das Illusionäre in seinem vollen Wesen, dann erstarkt man im Eigenempfinden. Dem Traum gegenüber korrigiert man denkend den Glauben, den man an seineWirklichkeit während des Träumens hat. In der Phantasietätigkeit hat man diese Kor­rektur nicht nötig, weil man diesen Glauben nicht hat. In der meditativen Seelenbetätigung, der man sich für die Geist-Er­kenntnis ergibt, kann man sich mit der bloßen Denk-Korrek­tur nicht zufrieden geben. Man muß erlebend korrigieren. Man muß das illusionäre Denken in einer Tätigkeit schaffen, und es dann in einer ebenso starken anderen Tätigkeit auslöschen.

In dieser auslöschenden Tätigkeit erwacht dann die andere, die geisterkennende Tätigkeit. Denn ist das Auslöschen ein wirkliches, dann muß die Kraft dazu von einer ganz anderen Seite kommen als von der Natur. Was diese geben kann, hat

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man in der erlebten Illusion verflüchtigt; was während der Ver­flüchtigung innerlich aufsteigt, ist nicht mehr Natur.

Bei dieser Betätigung muß sich etwas einstellen, das bei der Naturerkennmis gar nicht in Frage kommt: innerlicher Mut. Durch diesen muß man halten, was innerlich aufsteigt. In der Naturerkenntnis will man nichts innerlich halten. Man läßt sich von dem Äußeren halten. Man braucht den innerlichen Mut nicht. Man verlernt ihn daher an ihr. Dieses Verlernen bewirkt dann die Ängstlichkeit, wenn das Geistige in die Erkenntnis eintreten soll. Man hat Angst davor, daß man ins Leere greifen könnte, wenn man nicht mehr die Natur betasten soll.

Diese Angst steht an der Schwelle zur Geist-Erkenntnis. Und diese Angst bewirkt, daß man zurückzuckt vor dieser Erkennt­nis. Und man wird nun, statt imVorwärtsdringen, im Zurück-zucken schöpferisch. Man läßt nicht den Geist in sich schaffende Erkenntnis gestalten; man erfindet sich eine Scheinlogik, die die Berechtigung der Geist-Erkenntnis bestreitet. Alle mögli­chen Scheingründe stellen sich ein, die es einem ersparen, das Geistige anzuerkennen,weil man in Angst vor ihm zurückbebt.

Statt der Geist-Erkenntnis steigt aus dem Schöpferischen, das nun einmal in der Seele erscheint, wenn diese von der Na­tur sich zurückzieht, die Feindin der Geist-Erkenntnis auf: zu­erst der Zweifel an aller Erkenntnis, die über die Natur hinaus-liegt; und dann, wenn die Angst wächst, die Wider-Logik, wel­che alle Geist-Erkenntnis in das Gebiet des Phantastischen ver­weisen möchte.

Wer im Geist sich erkennend bewegen gelernt hat, der schaut in den Widerlegungen dieser Erkenntnis oftmals deren stärkste Beweise. Denn ihm wird klar, wie der Widerlegende Schritt vor Schritt seine Angst vor dem Geiste in der Seele hin­unterwürgt, und wie er im Würgen seine Scheinlogik erzeugt. Mit einem solchen Widerlegenden ist zunächst kaum zu reden. Denn die Angst, die ihn befällt, taucht im Unterbewußten auf. Das Bewußtsein will sich vor dieser Angst retten. Es fühlt zu­nächst, daß diese Angst, wenn sie käme, Schwachheit des Er-lebens über das ganze innere Sein ausgießen würde. Vor dieser

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Schwachheit kann die Seele allerdings nicht weglaufen; denn man fühlt sie aus dem Innern aufsteigen. Im Weglaufen würde man überall mitlaufen. Wer in der Natur-Erkenntnis weiter-schreitet und in der Hingabe an sie das eigene Selbst bewahren muß, der fühlt immer, wenn er den Geist nicht anzuerkennen vermag, diese Angst. Sie wird mitlaufen, wenn er mit der Geist-Erkenntnis nicht auch die Natur-Erkenntnis einstellen will. Er muß sie im Weiterschreiten in der Natur-Erkenntnis ir­gendwie loswerden. In der Realität kann er das nicht. Denn sie erzeugt sich imUnterbewußten während des Natur-Erkennens. Sie will stets herauf aus dem Unterbewußtsein in das Bewußt­sein. Deshalb widerlegt er in der Gedankenwelt, was er aus der Wirklichkeit des Seelen-Erlebens nicht fortschaffen kann.

Und diese Widerlegung: sie ist eine illusionäre Gedanken-schicht über der unterbewußten Angst. Der Widerleger hat nicht den Mut gefunden, da, wo er die Illusion im meditativen Leben austil gen sollte, um zur geistigen Wirklichkeit zu kom­men, dem Illusionären zu Leibe zu rücken. Deshalb schiebt er in diese nun auftauchende Region seines Seelenlebens die Scheingründe der Widerlegung hinein. Sie beruhigen sein Be­wußtsein; er fühlt seine im Unterbewußtsein doch bleibende Angst nicht mehr.

Die Ableugnung der geistigen Welt ist ein Weglaufenwollen vor dem eigenen Seelenwesen Das aber stellt eine Unmöglich­keit dar. Man muß bei sich selber bleiben. Und weil man wohl weglaufen, aber nicht sich entlaufen kann, sorgt man dafür, daß man im Weiterlaufen sich nicht mehr sieht. Es wird aber mit dem ganzen Menschenwesen seelisch, wie es mit dem Auge wird, wenn es der Star ergreift. Das Auge kann dann nicht mehr sehen. Es ist in sich verfinstert.

So verfinstert der Widerleger der Geist-Erkenntnis seine Seele. Er bewirkt ihre Trübung durch die aus der Angst gebo­renen Scheingründe. Er meidet die gesunde Seelen-Erhellung; er schafft sich eine ungesunde Seelenverfinsterung. Die Ableh­nung der Geist-Erkenntnis hat ihren Ursprung in der Starerkrankung der Seele.

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So wird man zuletzt auf die innere geistige Stärke der Seele geführt, wenn man die Berechtigung der Geist-Erkenntnis durchschauen will. Und der Weg zu einer solchen Erkenntnis kann nur durch die Erkraftung des Seelenwesens führen. Die für die Geistes-Erkenntnis vorbereitende meditative Tätigkeit der Seele ist ein stufenweises Besiegen der «Angst vor dem Leeren» des Seelenwesens. Aber diese Leere ist nur eine «Leere der Natur», in der sich die «Fülle des Geistes» offenbaren kann, wenn man sie ergreifen wili. Und in dieser «Fülle des Gei­stes» taucht die Seele nicht mit der Willkür ein, die ihr eignet, wenn sie sich durch den Körper im Naturdas ein betätigt; sie taucht in sie ein, indem ihr der Geist den schaffenden Willen zeigt, vor dem die nur innerhalb des Natürlichen bestehende Willkür so dahinschmilzt wie die Natur selbst.

DAS GEISTIGE IST DEM GEWÖHNLICHEN BEWUSSTSEIN «ENTFALLEN» UND KANN WIEDER ERINNERT WERDEN

Die Menschen könnten sich nicht ablehnend verhalten gegen eine solche Geist-Erkenntnis, wie sie in der Anthroposophie auftritt, wenn sie auf die eindringlich sprechenden Offenbarun­gen des alltäglichen eigenen Geisteslebens mit dem notwendi­gen Ernst achten wollten.

Da steht auf der einen Seite, nach dem menschlichen Innern zu, die Erinnerung, in welcher das Erleben mit den Dingen der Welt seelisch bewahrt wird. Auf die andre Seite stellt sich die Wahrnehnzung hin, hinter der das sinnende Seelenleben die Ge­heimnisse der Natur durch einen unwiderstehlichen inneren Antrieb vermuten und suchen muß.

Nach beiden Richtungen hin läuft der Mensch an ein «Nichts» in seinem Erleben heran.

Was in der Erinnerung sich offenbart, ist in der Außenwelt nicht mehr da. Die äußere Wahrnehmung kann die Erinnerung an Erlebtes anregen, aber sie kann diese nicht hervorbringen.

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Die Beobachtung des Erinnerungsvorganges zeigt aber, daß, um ihn zu erleben, der Mensch an sein Körperliches verwiesen wird. Man fühlt die Erinnerung aus dem Betätigen des Kör­perlichen aufsteigen. Die äußere Wissenschaft kann, was da ge­fühlt wird, wohl unterstützen; dessen Gewißheit ist aber auch ohne sie da. Sie kann zeigen, daß mit dem Erkranken gewisser Teile des Organismus die Erinnerung geschädigt wird. Sie be­wahrheitet damit, was dem naiven Bewußtsein sich unmittel­bar aufdrängt, wenn dieses die Naivität mit Treffsicherheit im Beobachten verbindet. Und das kann sehr wohl sein; denn Naivität braucht nicht oberflächlich zu sein, sondern kann durchaus in die Tiefe gehen. Diese Naivität erlebt es, daß aus dem Körper die Kräfte aufsteigen, die wie mit Geisthänden Tatsachen erfassen, die in der natürlichen Außenwelt nicht mehr da sind. Dieses Erleben ist zwar feiner als die anderen Er­fahrungen des unmittelbaren Lebensgefühles; aber es spricht, seiner Art nach, doch gar nicht anders als die Erfahrung eines Schmerzes, oder einer Lust, von denen die unmittelbare Ge­wißheit erlebt wird, daß sie durch den Körper erregt sind.

An der Wahrnehmung stößt sich das Seelenleben. Es dringt durch sie nicht hindurch zu dem, was sich offenbart. Es muß zunächst vermuten, daß sich etwas offenbart; es ist aber mit sei­ner eigenen Tätigkeit an der Wahrnehmung bei seinem «Nichts»angelangt. Es fühlt, wie es geistig ins Leere greift, da es doch mit seinen Vermutungen an der Grenze der «Fülle» stehen muß.

Man braucht nun nur einen Schritt weiter zu gehen. Hinter der Erinnerung beginnt das Gebiet, wo der eigene Körper für das gewöhniiche Bewußtsein in das Unbekannte verschwin­det. Hinter der Wahrnehmung tut ein Gleiches die Natur. Zu dem Menschen-Innern verhalten sich beide ganz gleichartig. In der Erinnerung ersteht auf der Grundlage der körperlichen Betätigung der Gedanke. Denn im Gedanken lebt das Erinnerte auf. An der Wahrnehmung entzündet sich ebenfalls der Ge­danke. In ihm wird das von außen sich Offenbarende inneres Erlebnis.

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Das menschliche Innere und das natürliche Äußere begeg­nen sich im Gedanken.

Und ist diese Begegnung nicht eine solche wie die von alten Bekannten? Wie vertraut mutet es doch die Seele an, wenn sie neu Wahrgenommenes an alt Erinnertem sich verständlich machen kann. Welch ein Gefühl vom Stehen im wirklichen Dasein tritt da in der Seele ein. Es sind nicht zwei Unbekannte, die sich begegnen. Es sind Freunde, die sich über Gleiches etwas zu sagen haben.

Nun aber kann, was an innerer Kraft in der Erinnerung lebt, verstärkt werden. Man kann durch Arbeit an der eigenen Seele die Kraft schärfen, die in der Erinnerung wirksam ist. Daß man das kann und wie es zu leisten ist, davon ist hier, in dieser Wochenschrift, öfters gesprochen worden.

Dadurch aber stößt man in das eigene Körperliche tiefer hin­ein als mit dem gewöhnlichen Bewußtsein. Man erkennt nun, daß man mit der vertieften Erinnerungskraft an das wirklich herandringt, was als Körperliches bei der gewöhnlichen Erin­nerung mitwirkt. Ja, man dringt an dieses nicht nur heran, man dringt in dasselbe ein. Man hat aber vor der Seele nicht etwa ein Körperliches; sondern man hat etwas, das sich so darstellt, wie wenn ein Schattenbild, das man an einer Wand sieht, Leben annähme und einem entgegenschritte.

Man kennt, was man vor der Seele hat, weil man den Ge­danken kennt. Denn es steht in der Seele, wie im gewöhn­lichen Bewußtsein der Gedanke in ihr steht. Aber der Ge­danke lebt nicht; und dieses lebt. Man hat eine Imagination vor sich. Sie hat ihre Berechtigung gegenüber einer Wirklich­keit, wie der Gedanke sie hat. Sie ist nicht im entferntesten das, was man im gewöhnlichen Leben eine Einbildung nennt. Man merkt an ihr, daß sie auf eine Wirklichkeit verweist. Und zwar geradeso wie der Gedanke, der in der Erinnerung lebt.

Aber dieser Gedanke weist auf etwas, das im Erleben einmal da war, und jetzt nicht mehr da ist. Die Imagination läßt ganz in derselben Art vor die Seele eine Wirklichkeit treten, die im

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gewöhnlichen Erleben noch nicht da war. Man hat damit das Gebiet der geistigen Wahrnehmung betreten.

Man ist in den eigenen Körper eingedrungen; aber man ist nicht auf «Körper», sondern auf « Geist » gestoßen. Auf den Geist, der dem Körper zugrunde liegt. Man umfaßt diesen Geist mit Geisterhänden wie in der gewöhnlichen Erinnerung das in der Vergangenheit Erlebte.

Und wie im Gedanken die äußere Natur und das Menschen-Innere sich begegnen, so in der Imagination der «Geist der Natur» mit dem Menschengeiste. Der Geist im Menschen, der mit der Imagination ergriffen wird, tritt an den Geist in der Natur heran, der nun auch als Imagination sich offenbart. Dem gewöhnlichen Bewußtsein ersteht in der Erinnerung und an der Wahrnehmung der Gedanke. Dem verschärften Bewußt­sein ersteht in dem inneren Seelen-Erleben und an dem Erle­ben der Außenwelt die Imagination.

Das alles kann sich im vollen Lichte des Bewußtseins voll­ziehen, ohne die Möglichkeit einer Selbsttäuschung, einer Sug­gestion oder Autosuggestion. Wer zur wahren Imagination gelangt, der lebt in ihr, wie er in einem gesicherten Gedanken lebt, der auf eine Wirklichkeit unzweideutig verweist. Hat man sich nie eine Unbewußtheit, oder Unklarheit im Erleben dieser Verweisung gestattet, so verfällt man auch gegenüber der ima­ginativen Erfahrung keiner Täuschung.

In dem Angedeuteten liegt auch der Grund, warum man von dem, was man imaginativ erfahren hat, zu einem Menschen spre­chen kann, der ein solches noch nicht erfahren hat, und warum dieser aus voller Überzeugung es annehmen kann, ohne daß er sich einem blinden Autoritätsglauben hingibt. Man spricht doch nur von dem, was der Zuhörende unter dem Niveau sei­ner Erinnerungen als seine eigene geistige Wirklichkeit in sich trägt. Bei der gewöhnlichen Erinnerung, auf die ihn ein andrer, nicht er selbst, bringt, sagt sich der Zuhörende: das habe ich wirklich erlebt im Verlauf dessen, was an mein gewöhnliches Bewußtsein herangetreten ist. Beim Hinhorchen auf das Ima­ginierte sagt sich dieser Zuhörende: das bin ich ja selbst mit

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meinen dem gewöhnlichen Bewußtsein bisher unbekannten Geist-Wahrnehmungen. Der Imaginierende hat mir nur dazu verholfen, das ins Bewußtsein heraufzurufen, was sich dieses noch nicht selbst heraufgerufen hat. Der Art nach steht mir der Imaginierende so gegenüber wie jemand, der mich im gewöhn­lichen Leben an etwas erinnert, das mir entfallen ist. Denn ei­gentlich ist die Geistes-Welt nur etwas, das dem gewöhnlichen Bewußtsein «entfallen »ist, und das bei Verstärkung desselben wie eine Erinnerung in ihm sich wieder finden kann.

DER WIEDERAUFBAU DES GOETHEANUMS

Da die Solothurner Regierung dem Modellentwurf des neuen Goetheanums im Prinzip ihre Genehmigung erteilt hat, so wurde bereits mit dessen Wiederaufbau durch die Anthropo­sophische Gesellschaft begonnen. Der neue Bau wird sich in seinen Formen allerdings stark von dem alten Goetheanum unterscheiden. Denn er wird ja nicht wie dieses aus Holz sein, sondern aus Beton. Dem hat sich das künstlerische Empfinden bei Ausgestaltung des Baugedankens zu fügen. Daß das Goe­theanum nicht in einem beliebigen, von außen bestimmten «Baustil» errichtet werden kann, ist klar. Denn es soll der An­throposophie dienen; und diese will nicht einseitig eine theo­retische Weltanschauung, sondern eine umfassende Gestal­tung der menschlichen Lebensführung aus dem Geiste heraus sein. Wenn sie künstlerisch vor die Welt tritt, so kann sie das nur so tun, daß ihre Geistanschauung den Kunststil hervor­bringt. Nicht in diesem eigenen Stil bauen, hieße das Wesen der Anthroposophie bei ihrem eigenen Haus verleugnen. Und die stärkste Verleugnung wäre, den Baugedanken durch einen Architekten ausführen zu lassen, der nicht Anthroposoph ist. Man wird bei unbefangener künstlerischer Betrachtung fin­den, daß der Goetheanumstil nichts ablehnt, was an geschicht­lichen Stilen heute noch Bedeutung hat; aber er geht nicht aus von dieser oder jener «Anregung» durch gegebene Stile, son­dern

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es handelt sich bei ihm um ein Schaffen aus den Grundbe­dingungen alles Stilgefühles heraus. Aber die Formen, in de­nen man einen Stil schaffen kann, sind eben auch vom Material abhängig. Der alte Bau konnte in der Weichheit des Holzes aus dem Geiste anthroposophischer Anschauung dem Raume, in dem gearbeitet wurde, in allen Einzelheiten seine Gestaltung geben; beim Beton mußten Formen gesucht werden, in denen der Raum aus seiner Natur heraus die Bildungen entfaltet, die die anthroposophische Arbeit aufnehmen können. Man be­kam im wesentlichen gerade verlaufende Linien und ebene Flächen für Umfassungsmauern und Bedachung, die in ihren Winkelneigungen sich zur Gesamtheit des Baugedankens zu­sammenschließen. Nur gegen die Portale hin und in denselben werden Linien- und Flächenformen etwas kleiner und in ihrer Gliederung etwas mannigfaltiger. Der ganze Bau erhebt sich auf einer Rampe, die allseitig einen künstlerischen Abschluß haben wird, und die ein Umschreiten des Baues möglich ma­chen wird. Bei diesem Umschreiten tritt das wunderbare Land­schaftsbild der Umgebung vor das Auge des Besuchers. - Die Formen des Baues werden zu umschließen haben: ein unteres Geschoß, in dem Ateliers, Vortrags-, Übungsräume, Arbeits­stätten und so weiter sein werden; und ein oberes Geschoß, in dem der für neunhundert bis tausend Zuschauer oder Zuhörer berechnete Raum sich befindet. Nach hinten schließt sich an das untere Geschoß eine Versuchsbühne, an das obere die Bühne, auf der die öffentlichen Vorführungen stattfinden wer­den. Außen soll der Bau die künstlerisch wahr sich gebende Umhüllung dessen sein, was darinnen an geistigem Erleben sich entfaltet. Zu den Portalen werden stilvolle Treppen vom Erdboden zur Rampe hinaufführen. Der notwendigen inneren Raumgestaltung der beiden Geschoße werden die Außenfor­men zu folgen haben; das Dach - diesmal nicht in Kuppelform - wird in seinen Linien- und Flächenformen auf der einen Seite dem ansteigenden Zuschauerraum zu folgen haben; auf der andern Seite wird es sich künstlerisch der Umhüllung der beiden Bühnen mit ihren Magazinräumen anzuschließen haben.

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Im Innern wird die Aufgabe zu lösen sein, die den Raum zugleich zum Vortragssaal wie auch zum Eurhythmie- und Mysterienaufführungsraum gestaltet. Man wird zum Beispiel das Dehnen des Raumes nach oben in der Konfiguration von Säulen sehen. So wird wieder, wie beim alten Goetheanum, das, was Anthroposophie zu sagen hat, auch in den Bauformen und in dem ganzen Baugedanken empfunden werden können, in denen sie das Haus errichtet, in dem sie wirken soll. Daß in dem Baugedanken etwas Monumentales sich herausgebildet hat, ist durch die Idee des Baues gekommen; was aber im ganzen und in jeder Einzelheit angestrebt worden ist, das ist, in der Bauge­staltung nicht unwahr zu sein, sondern in ihr ein künstlerisch völlig wahrheitsgetreues Abbild von dem zu schaffen, was inner­halb aus Geist-Erkenntnis heraus erarbeitet wird. Bei dem Er­bauer ist die Meinung vorhanden, daß damit etwas geschaffen wird, mit dem der allgemeine, unbefangene Geschmack, der nicht von Anthroposophie weiß oder wissen will, durchaus mitgehen kann.

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HINWEISE

Von den Aufsätzen Rudolf Steiners im «Goetheanum» wurden viele meist unmittelbar nach Erscheinen abgedruckt in «Anthroposophie», Stuttgart, Wo­chensehrift für freies Geistesleben; es sind folgende: aus Jahrgang II Nr.1 bis Jahrgang III Nr.20, ausgenommen Nrn. 8 und 17 aus Jahrgang II.

In «Anthroposophie», Österreichischer Bote von Menschengeist zu Men­schengeist, Wien, wurden wieder abgedruckt die Aufsätze aus Jahrgang I Nrn.45,46; aus Jahrgang II Nrn. 18/19,20/21,23-26, 28,30,32,34,35,38,40, 43-47, 51; aus Jahrgang III Nrn.4-6, 8-10, 16.

Zu Seite

11 der bedeutsame Ruf: die Einladung zur Abrüstungskonfererz in Washing­ton, die vom 11.November 1921 bis zum 6.Fehruar 1922 stattfand.

17 Washingtoner Konferenz: siebe den vorigen Hinweis.

17 Minister Smuts: Jan Christian Smuts, 1870-1950, kämpfte im Burenkrieg gegen England, setzte sich für die Union und die Versöhnung der Rassen ein, war 1919 1924 und 1939-1948 Ministerpräsident der Südafrikani­schen Union.

17 auf der Londoner Reichskonferenz: die Versammlung der Vertreter der engli­schen Regierung und der Dominions fand 1921 statt.

21 ein Friedeusdokument: Der Friedensvertrag zwischen den USA und Deutsch­land wurde am 25. August 1921 abgeschlossen und vom Deutschen Reichs­tag am 30.September 1921 angenommen.

21 Thomas Woodrow Wilson, 1856-1924, Professor der Rechts- und Staatswissenschaft in Prineeton, 1912-1920 Präsident der USA.

22 Wilson glaubte: Wilson verkündete am 8. Januar 1918 seine «Vierzehn Punkte» als Friedensprogramm der Entente; sie wurden im Versailler Vertrag 1919 nicht verwirklicht.

24 Matthias Etzberger, 1875-1921, Zentrumsabgeordneter, Oktoher 1918 Waffenstillstandsbevollmächtigter, 1919/1920 Reichs-Finanzminister, wur­de am 26. August 1921 von Nationalisten ermordet.

27 Ein Völkerbund: Liga der Nationen die Gründung wurde von den Sieger-staaten am 10 Januar 1920 vollzogen ohne die USA die UdSSR und Deutschland Diese Orgamsatlon sollte den Weltfrieden sichern

28 in seinem großen Werke. Dr. Woodrow Wilson, Der Staat Elemente histo rischer und praktischer Politik Berlin 1913 Seite 483

29 «es muß eine Lehre» ebd. Seite 477

32 Lord Robert Geeil geb 1864 1920 1924 Vertreter Englands im Volker bund, 1937 Friedensnobelpreis.

34 Otto, Fürst von Bismarck, 1815-1898, Gründer des Deutschen Reichs

1871, wurde am 20. März 1890 durch Wilhelm II. entlassen. Die beiden er­sten Bände von «Gedanken und Erinnerungen» erschienen 1898, der dritte Band 1921.

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37 Theobald von Bethmann-Hollweg, 1856-1921, von 1909-1917 Reichskanzler. «Betrachtungen zum Weltkrieg», Berlin 1919.

40 eine einzelne Persönlichkeit: Karl I., 1887-1922, 1916-1918 Kaiser von Öster­reich, versuchte zu Ostern und im Oktober 1921 durch einen Putsch den ungarischen Thron zu besteigen.

43 in dem berühmten alten römischen Gleichnis: das Menenius Agrippa den auf den Heiligen Berg ausgezogenen Plebejern erzählte, um sie zur Rückkehr in die Stadt Rom zu bewegen, 494v. Chr. «Als einst die Glieder des mensch­lichen Leibes wider den Magen rebellierten, die Hände ihm die Speise nicht mehr reichen und die Zähne nicht mehr für ihn kauen wollten, da fühlten sie alsbald, daß ihnen selbst die Kräfte ausgingen, und sie wußten nun, daß ohne den Magen sie selbst kraftlos und gelähmt seien.»

44 Konferenz in Washington: siehe Hinweis zu Seite 17.

47 Graf Conrad von Hötzendorf, 1852-1925, von 1906-1911 und 1912-1917 österreichischer Generalitabschef, trat Juli 1918 zurück.

56 Konferenz in Genua: die Weltwirtselsaftskonferenz in Genua, vom 10. April bis 19. Mai 1922.

59 Emile Boutroux, 1845-1921. Über ihn spricht Rudolf Steiner ausführlich in «Die Rätsel der Philosophie», Stuttgart 1955, Seiten 558-561.

62 Wladimir Solowjoff, 1853-1900.

65 West-Ost-Aphorismen: Diese Aphorismen sind von Rudolf Steiner anläß­lich des West-Ost-Kongresses der anthroposophisehen Bewegung, der vom I.-12.Juni 1922 in Wien tagte, geschrieben worden: sie ziehen das Fazit seiner Abendvorträge über «Westliche und östliche Weltgegensätz-lichkeit», die von durchschnittlich zweitausend Zuhörern besucht worden sind.

77 Friedrich Nietzsehe, «Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Le­ben », 1874. Zweites Stück der «Unzeitgenaßen Betrachtungen».

79 Heinrich Friedjung, 1851-1920, österreichischer Historiker.

79 «wenn sie am notwendigsten wäre»: Die ausgefallene Stelle im Zitat heißt:

«Die Athener verbannten durch das Scherbengericht die überragenden, der demokratischen Gleichheit gefährlichen Mitbürger; die marzistische Lehre...»

89 Oswald Spengler, 1880-1936, pessimistischer Kulturphilosoph. «Der Un­tergang des Abendlandes. U'urisse einer Morphologie der Weltgeschich­te.» Zweiter Band: «Welihistorisehe Perspektiven», München 1922.

100 Albert Schweitzer, geboren 1875, evangelischer Theologe, erst Privatdo­zent in Straßburg, Musikforseher, Orgelspieler, Philosoph, seit 1913 Mis­sionsarzt in Lambarene, Französisch Äquatorialafrika.

107 Karl Julius Schröer, 1825-1900, von 1866-1895 Dozent für Literaturge­sehichte an der Technischen Hochschule in Wien.

108 Ernst von Lasaulx, 1805-1861. Die wichtigsten Schriften gab Dr. H. E. Lauer unter dem Titel «Verschüttetes deutsches Schrifttum», Ausge­wählte Werke 1841-1860, Stuttgart 1925 wieder heraus.

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113 Von den volkstümlichen Weihnachtsspielen: Siehe «Weihnachtspiele aus altem Volkstum. Die Oberuferer Spiele.» Mitgeteilt von Karl Julius Sebröer, szenisch eingerichtet von Rudolf Steiner. Dornach 1957.

121 Karl Julius Schröer, «Die deutsche Dichtung des 19. Jahrhunderts in ihren bedeutenderen Erscheinungen.» Populäre Vorlesungen. Leipzig 1875.

125 drei Persönlichkeiten: Goethe an Zelter am 7.November 1816, und im Aufsatz «Geschichte meines botanischen Studiums», 1817 und 1831.

127 «Da ist die Notwendigkeit»: «Italien», Aus Rom, 6. September 1787.

128 «Eine Notwendigkeit »: in «Shakespeare und kein Ende», I1. Shakespeare, verglichen mit den Alten und Neusten.

128 dils von Goethe berichtete Gespräch: « Glüekliehes Ereignis», in «Zur Natur­wissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie.» Ersten Bandes er­stes Heft, 1817.

132 Henrik Steffens, 1773-1845. «Anthropologie.» Neu herausgegeben und mit einer Vorrede und Anmerkungen versehen von Dr. Hermann Poppel­baum, Stuttgart 1922.

140 Benedetto Croce, geboren 1866, italienischer Kultur- und Geschichtsphi­losoph. « Goethe», Zürich, Leipzig, Wien 1920.

147 Kunst eine Offenbarung: Sprüche in Prosa: «Das Schöne ist eine Manifesta­tion geheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen geblieben.»

152 Er hat den Satz ausgesprochen: in «Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt»: «Diese Bedächtlichkeit, nut das Nächste ans Nächste zu reihen, oder vielmehr das Nächste aus dem Nächsten zu folgern, haben wir von den Mathematikern zu lernen, und selbst da, wo wir uns keiner Rech­nung bedienen, müssen wir immer so zu Werke gehen, als wenn wir dem strengsten Geometer Rechenschaft zu geben schuldig wären.»

153 Franz Brentano, 1838-1917.

154 die Erklärung des Uufehlbarkeitsdogmas: 1870.

154 Wilhelm Freiherr von Ketteler, 1811-1877, Bischof von Mainz, anfangs Gegner des Unfehlbarkeitsdogmas.

166 der schöne Gedanke Goethes: Sprüche in Prosa. Siehe Anmerkung zu Seite 147.

169 Herman Grimm, 1828-1901.

181 Julian Schmidt. Bilder aus dem geistigen Leben unserer Zeit. Leipzig

1871-1873.

186 Wilhelm Jordan, 1819-1904.

191 Georg Gervinus, 1805-1871.

191 Karl Julius Sehröer, «Die deutsche Dichtung des 19. Jahrhunderts in ihren bedeutenderen Erscheinungen.» Populäre Vorlesungen. Leipzig 1875.

194 Der geistreiche Verfasser: siehe den Hinweis zu Seite 181 über Julian Schmidt.

197 Albert Steffen, geboren 1884.

225 Franz Werfel, 1890-1945.

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233 Fritz Mauthner, 1849-1923.

282 Ein Vortrag über Pädagogik: während des Französischen Kurses am Goethe­anum (Semaine française) vom 6.-1 5. September 1922.

294 in dem..... pädagogischen Kursus: «Die gesunde Entwickelung des Leiblich-Physischen als Grundlage der freien Entfaltung des Seelisch-Geistigen», Weihnachtskurs für Lehrer am Goetheanum vom 23.Dezemher 1921 bis zum 7. Januar 1922, Dornach 1949.

305 einen Vortragszyklus ... hielt: «Von Zarathustra his Nietzsche. Entwick­lungsgeschichte der Menschheit an der Hand der Weltanschauungen von den ältesten orientalischen Zeiten bis zur Gegenwart, oder Anthroposo­phie.» 27 Vorträge im Kreise der «Komrncnden» vom 6. Oktober 1902 bis 6.April 1903.

305 Robert Zimrnennann, 1824-1898, Ästhetiker und Philosoph. «Anthropo­sophie im Umriß. Entwurf eines Systems idealer Weltansicht auf realisti­scher Grundlage», Wien 1882.

306 in der Theosophischen Bibliothek: «Die Mystik», 27 Vorträge vom 6. Oktober

1900 bis 27. April 1901. - Für alle diese Vorträge siehe «Die Geschichte und die Bedingungen der antbroposophischen Bewegung im Verhältnis zur Anthroposophiscben Gesellschaft», Dornach 1959.

309 einen naturwissenschaftlichen Kursus: «Der Entstehungsmoment der Natur­wissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwickelung. »Neun Vorträge vom 24. Dezember 1922 bis 6.Januar 1923. Dornach 1937.

310 mein Vortrag: innerhalb des Zyklus «Das Verhältnis der Sternenwelt zum Menschen und des Menschen zur Sternenwelt. Die geistige Kommunion der Menschheit.» Zwölf Vorträge vom 26. November bis 31. Dezember 1922. Dornach 1955.

310 In der Eröffnungsrede.: Ansprache zur Eröffnung der Anthroposophischen Hochsehulkurse am Goetheanum, am 26. September 1920: in «Die Kunst der Rezitation und Deldamation», Dornach 1928, Seite 96 ff.: Kunst, Wis­senschaft und Religion.

313 Goethe spricht: in «Sprüche in Prosa».

325 «Ich dem.nke, Wassenschaft»: Goethe, aus Makariens Archiv.

326 Im September und Oktober 1920: Erster Anthroposophischcr Hochsehulkur­sus am Goetheanum, 26. September bis 16. Oktober 1920.

330 durch meine eigenen Vorträge: siehe «Ansprachen und Vorträge Rudolf Stei­ners im Zweiten Anthroposophischen Hochschulkurs » vom 3.-10. April 1921. Bern 1948.

331 1. August 1921: Sommnerkurs (Summer Art Course) vom 21.-27. August 1921.

332 im September1922: die hier gemeinte «Bewegung für religiöse Erneuerung» (Christen-Gemeinschaft) geht auf die Inltiative von Dr. Rittelmeyer zu­rück.

332 Ende Dezember und Anfang Janunr von 1921 auf 1922: siehe Hinweis zu Seite 294.

375

332 Im September 1922: siehe Hinweis zu Seite 282.

333 der « Dramatische Kurs»: vom 18.-21.Juli 1922. Dr. Steiner gab dazu an jedem der vier Tage Erläuterungen und Ergänzungen.

333 einen Natiotzalökonomischen Kursus: Vierzehn Vonräge, vom 24. Juli bis

6.August 1922. Dornach 1933.

333 für Ende Dezember und Anfang Januar: siehe Hinweis zu Seite 309.

335 Johann Christian August Heinroth, 1773-1843, Anthropologe und Psych­iater, Professor der psychischen Heilkunde an der Universität Leipzig. Sein «Lehrbuch der Anthropologie » erschien 1822.

335 Goethe hat sich darüber: im zweiten Bande « Zur Morphologie » in dem Auf­satz « Bedeutendes Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort».

346 Louis Glaude Marquis de Saint-Martin, 1743-1803, Theosoph. «Des er­reurs et de la vérité», 2.Ausgabe Lyon 1784, deutsch Hamburg 1782.

NACHWEIS FRÜHERER VERÖFFENTLICHUNGEN DER AUFSÄTZE

41 Aufsätze, aus Jahrgang 1 Nrn. II, 27, 28, 34, 35, 48, 49, aus Jahrgang II

Nrn. 1-5, 23-26, 28, 30, 32, 33, 37, 38, 40, 43-52, aus Jahrgang III Nrn. 1-4,

8-so, 16, erschienen in Goethe-Studien und goetbeanistische Denkmethoden. Der

Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis dem.r Gegenwart. Ein Goetbejahrbuch,

Dornach 1932.

14 Aufsätze,aus Jshrgang I Nrn. 1-4,7,8,10,12, 13,18,21,28, 33,ausJahrgang II, Nr.1, erschienen in Die Forderungen der Gegenwart an Mitteleuropa. Was man heute sehen müßte, Dornach 1951.

Als Einzelheftehen unter dem Gesamttitel Esoterisches und Meditatives, erschienen aus Jahrgang I Nrn. 45, 46 West- Ost-Aphorismen, aus Jahrgang 1 Nr.50 Sprache und Sprachgeist, aus Jahrgang III Nr.17 Das Geistige ist dem gewöhnlishen Bewußt­sein entfallen und kann wisder erinnert werden, Dornach 1932.

Die 4 Aufsätze aus Jahrgang III Nrn. 11-14 Vom Seelenleben, erschienen Dor­nach 1930.

Der Aufsatz aus Jahrgang II Nrn. 18/19 erschien in Weibnachtsspiele aus altem

Volkstum - Eine Christfest-Erinnerung. Dornach 1937. Dieser Aufsatz sowie der

Aufsatz aus Jahrgang II Nrn. 20/21, erschienen in Weihnachtsspiele aus altem

Volkstum. Dis Oberuftrer Spiele, Dornach 1957.

Die zwei Auto-Referate aus Jahrgang II Nrn. 34 und 35, erschienen in Pädago­gik und Kunst - Pädagogik und Moral, Stuttgart 1957.

Teile der 2 Aufsätze aus Jahrgang II Nrn. 23 und 33, erschienen unter dem Titel

Goethe und Goetheanum in Der Baugedanke des Goetheanum, Dornach 1932 und

Stuttgart 1958.

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NACHWEIS DER IN DIESEM BANDE NICHT AUFGENOMMENEN AUFSÄTZE

Die 10 Auto-Referate aus Jahrgang II Nrn. 6-9 und 11-16 zum Französischen

Kurs am Goetheanum liegen vor im Band Kosmologie, Religion und Philosophie,

Dornach 1930 und 1956 und sind daher hier weggelassen.

Die Aufsätze ab Jahrgang III Nr.18 Mein Lebensgang, liegen ebenfalls als Buch

vor.

Meine holländische und englische Reise (Jahrgang I Nrn. 39 und 40), Ein Stück aus meiner englischen Reise. Ein anderes Stück ans meiner englischen Reise (Jahrgang III Nrn. 5 und 6), Abwehr von Unwahrheiten (Jahrgang II Nr. 9), An die Mitglieder der Anthroposophischen und der Freien Anthroposophischen Gesellschaft (Jahrgang II Nr.45) erscheinen in dem Bande Zur Geschkhte der anthroposophischen Bewegung und der Anthroposophischen Gesellschaft der Gesammelten Aufsätze.

Neue Tatsachen über die Vorgeschichte des Weltkrieges (Jahrgang I Nr.9) erscheint in dem Bande In Aufführung der Dregliederung des sozialen Organismus der Ge­sammelten Aufsätze.

Luziferisches und Ahrimanisches in ihrem Verhältnis zum Menschen (Jahrgang I Nrn. 29/30, als Einzelheftehen in der Reihe Esoterisches und Meditatives, Dornach I 932) und Die Erkenntnis vom Zustand zwischen dem Tode und einer neuen Geburt (Jahrgang I Nrn.41-44) waren Wiederabdrueke aus «Das Reich», 1916/1918 und erscheinen in dem Bande Philosophie und Anthroposophie der Gesammelten Aufsätze.

Goethe und die Medizin (Jahrgang III Nr.15) war ein Wiederabdruck aus der Wiener Klinischen Randschau 1901 und erscheint in dem Bande Zur Naturwissen­schaft der Gesammelten Aufsätze.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.