GA 6

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RUDOLF STEINER

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GOETHES WELTANSCHAUUNG



GA 6

1990


Inhaltsverzeichnis

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VORREDE ZUR NEUEN AUSGABE

Die in dieser Schrift versuchte Schilderung der Goethe­schen Weltanschauung habe ich im Jahre 1897 unternom­men als zusammenfassende Darstellung dessen, was mit die Betrachtung des Goetheschen Geisteslebens im Laufe vieler Jahre gegeben hatte. Wie ich damals mein Ziel empfunden habe, davon gibt die «Vorrede zur ersten Auflage» ein Bild. Diese Vorrede würde ich, schriebe ich sie heute, keineswegs dem Inhalte, sondern nur dem Stile nach anders verfassen. Da aber kein mir ersichtlicher Grund vorliegt, ein Wesent­liches an diesem Buche sonst zu ändern, so erschiene es mir als eine Unaufrichtigkeit, von den Empfindungen, mit de­nen ich vor zwanzig Jahren das Buch in die Welt sandte, heute in einer anderen Tonart zu reden. Weder hat, was ich seit seiner Veröffentlichung in der Literatur über Goethe habe verfolgen können, noch was an Ergebnissen die neue­ste Naturforschung erbracht hat, meine in dem Buche aus­gesprochenen Gedanken geändert. Ich glaube nicht ohne Verständnis zu sein für die großen Fortschritte dieser For­schung in den letzten zwanzig Jahren. Daß durch sie ein Grund gegeben ist, über Goethes Weltanschauung gegen­wärtig anders zu sprechen, als ich es 1897 getan habe, glaube ich nicht. Was ich über das Verhältnis der Goetheschen Weltanschauung zu dem damaligen Stand der allgemein an­erkannten Natur-Ideen gesagt habe, scheint mir auch zu gelten mit Bezug auf die Naturwissenschaft unserer Tage. Die Haltung meines Buches wäre keine andere, wenn ich es in der Gegenwart erst geschrieben hätte. Nur mir wichtig erscheinende Erweiterungen und Ergänzungen an manchen Stellen unterscheiden die neue Ausgabe von der alten.

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Daß mich auch zu keiner wesentlichen Änderung des In­halts drängen kann, was ich seit sechzehn Jahren über Geisteswissenschaft veröffentlicht habe, darüber habe ich mich in dem dieser Neuausgabe angefügten «Nachwort» ausgesprochen.

Rudolf Steiner

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VORREDE ZUR ERSTEN AUFLAGE

Die Gedanken, die ich in diesem Buche ausspreche, sollen die Grundlage festhalten, die ich in der Weltanschauung Goethes beobachtet habe. Im Lauf vieler Jahre habe ich im­mer wieder und wieder das Bild dieser Weltanschauung be­trachtet. Besonderen Reiz hatte es für mich, nach den Offen­barungen zu sehen, welche die Natur über ihr Wesen und ihre Gesetze den feinen Sinnes- und Geistesorganen Goe­thes gemacht hat. Ich lernte begreifen, warum Goethe diese Offenbarungen als so hohes Glück empfand, daß er sie zu­weilen höher schätzte als seine Dichtungsgabe. Ich lebte mich in die Empfindungen ein, die durch Goethes Seele zo­gen, wenn er sagte, daß «wir durch nichts so sehr veranlaßt werden über uns selbst zu denken, als wenn wir höchst bedeutende Gegenstände, besonders entschiedene charak­teristische Naturszenen, nach langen Zwischenräumen end­lich wiedersehen und den zurückgebliebenen Eindruck mit der gegenwärtigen Einwirkung vergleichen. Da werden wir denn im ganzen bemerken, daß das Objekt immer mehr hervortritt, daß, wenn wir uns früher an den Gegenständen emp­fanden, Freud und Leid, Heiterkeit und Verwirrung auf sie übertrugen, wir nunmehr bei gebändigter Selbstigkeit ihnen das gebührende Recht widerfahren lassen, ihre Eigenhei­ten zu erkennen und ihre Eigenschaften sofern wir sie durch­dringen, in einem höhern Grade zu schätzen wissen. Jene Art des Anschauens gewährt der künstlerische Blick, diese eignet sich dem Naturforscher, und ich mußte mich, zwar an­fangs nicht ohne Schmerzen, zuletzt doch glücklich preisen, daß, indem jener Sinn mich nach und nach zu verlassen droh­te, dieser sich in Aug' und Geist desto kräftiger entwickelte.»

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Die Eindrücke, welche Goethe von den Erscheinungen der Natur empfangen hat, muß man kennen, wenn man den vollen Gehalt seiner Dichtungen verstehen will. Die Ge­heimnisse, die er dem Wesen und Werden der Schöpfung abgelauscht hat, leben in seinen künstlerischen Erzeugnis­sen und werden nur demjenigen offenbar, der hinhorcht auf die Mitteilungen, die der Dichter über die Natur macht. Der kann nicht in die Tiefen der Goetheschen Kunst hinuntertau­chen, dem Goethes Naturbeobachtungen unbekannt sind.

Solche Empfindungen drängten mich zu der Beschäfti­gung mit Goethes Naturstudien. Sie ließen zunächst die Ideen reifen, die ich vor mehr als zehn Jahren in Kürschners «Deutscher Nationallitteratur» mitteilte. Was ich damals in dem ersten anfing, habe ich ausgebaut in den drei folgenden Bänden der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes, von denen der letzte in diesen Tagen vor die Öffentlichkeit tritt. Dieselben Empfindungen leiteten mich, als ich vor mehre­ren Jahren die schöne Aufgabe übernahm, einen Teil der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes für die große Weimarische Goethe-Ausgabe zu besorgen. Was ich an Ge­danken zu dieser Arbeit mitgebracht und was ich während derselben ersonnen habe, bildet den Inhalt des vorliegenden Buches. Ich darf diesen Inhalt als erlebt im vollsten Sinne des Wortes bezeichnen. Von vielen Ausgangspunkten aus habe ich mich den Ideen Goethes zu nähern gesucht. Allen Wi­derspruch, der in mir gegen Goethes Anschauungsweise schlummerte, habe ich aufgerufen, um gegenüber der Macht dieser einzigen Persönlichkeit die eigene Individualität zu wahren. Und je mehr ich meine eigene, selbst erkämpfte Weltanschauung ausbildete, desto mehr glaubte ich Goethe zu verstehen. Ich versuchte ein Licht zu finden, das auch die

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Räume in Goethes Seele durchleuchtet, die ihm selbst dun­kel geblieben sind. Zwischen den Zeilen seiner Werke woll­te ich lesen, was mir ihn ganz verständlich machen sollte. Die Kräfte seines Geistes, die ihn beherrschten, deren er sich aber nicht selbst bewußt wurde, suchte ich zu entdec­ken. Die wesentlichen Charakterzüge seiner Seele wollte ich durchschauen.

Unsere Zeit liebt es, die Ideen da, wo von psychologi­scher Betrachtung einer Persönlichkeit die Rede ist, in einem mystischen Halbdunkel zu lassen. Die gedankliche Klarheit in solchen Dingen wird gegenwärtig als nüchterne Verstan­desweisheit verachtet. Man glaubt tiefer zu dringen, wenn man von einseitig mystischen Abgründen des Seelenlebens, von dämonischen Gewalten innerhalb der Persönlichkeit spricht. Ich muß gestehen, daß mir diese Schwärmerei für verfehlte mystische Psychologie als Oberflächlichkeit er­scheint. Sie ist bei Menschen vorhanden, in denen der Inhalt der Ideenwelt keine Empfindungen erzeugt. Sie können in die Tiefen dieses Inhaltes nicht hinabsteigen, sie fühlen die Wärme nicht, die von ihm ausströmt. Deshalb suchen sie diese Wärme in der Unklarheit. Wer imstande ist, sich ein­zuleben in die hellen Sphären der reinen Gedankenwelt, der empfindet in ihnen das, was er sonst nirgends empfinden kann. Persönlichkeiten wie die Goethes kann man nur er­kennen, wenn man die Ideen, von denen sie beherrscht sind, in ihrer lichten Klarheit in sich aufzunehmen vermag. Wer eine falsche Mystik in der Psychologie liebt, wird vielleicht meine Betrachtungsweise kalt finden. Ob es aber meine Schuld ist, daß ich das Dunkle und Unbestimmte nicht mit dem Tiefsinnigen für ein und dasselbe halten kann? So rein und klar, wie mir die Ideen erschienen sind, die in Goethe als

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wirksame Kräfte gewaltet haben, versuche ich sie darzustel­len. Vielleicht findet auch mancher die Linien, die ich gezo­gen habe, die Farben, die ich aufgetragen habe, zu einfach. Ich meine aber, daß man das Große am besten charakteri­siert, wenn man es in seiner monumentalen Einfachheit dar­zustellen versucht. Die kleinen Schnörkel und Anhängsel verwirren nur die Betrachtung. Nicht auf nebensächliche Gedanken, zu denen er durch dieses oder jenes Erlebnis von untergeordneter Bedeutung veranlaßt worden ist, kommt es mir bei Goethe an, sondern auf die Grundrichtung seines Geistes. Mag dieser Geist auch da und dort Seitenwege ein schlagen: eine Haupttendenz ist immer zu erkennen. Und sie habe ich zu verfolgen gesucht. Wer da meint, daß die Regio­nen, durch die ich gegangen bin, eisig sind, von dem meine ich, er habe sein Herz zu Hause gelassen.

Will man mir den Vorwurf machen, daß ich nur diejeni­gen Seiten der Goetheschen Weltanschauung schildere, auf die mich mein eigenes Denken und Empfinden weist, so kann ich nichts erwidern, als daß ich eine fremde Persön­lichkeit nur so ansehen will, wie sie mir nach meiner eigenen Wesenheit erscheinen muß. Die Objektivität derjenigen Darsteller, die sich selbst verleugnen wollen, wenn sie fremde Ideen schildern, schätze ich nicht hoch. Ich glaube, sie kann nur matte und farbenblasse Bilder malen. Ein Kampf liegt jeder wahren Darstellung einer fremden Weltanschauung zu Grunde. Und der völlig besiegte wird nicht der beste Darsteller sein. Die fremde Macht muß Achtung erzwingen; aber die eigenen Waffen müssen ihren Dienst tun. Ich habe deshalb rückhaltlos ausgesprochen, daß nach meiner An­sicht die Goethesche Denkweise Grenzen hat. Daß es Er­kenntnisgebiete gibt, die ihr verschlossen geblieben sind.

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Ich habe gezeigt, welche Richtung die Beobachtung der Welterscheinungen nehmen muß, wenn sie in die Gebiete dringen will, die Goethe nicht betreten hat, oder auf denen er, wenn er sich in sie begeben hat, unsicher herumgeirrt ist. So interessant es ist, einem großen Geiste auf seinen Wegen zu folgen; ich möchte jedem nur so weit folgen, als er mich selbst fördert. Denn nicht die Betrachtung, die Er­kenntnis, sondern das Leben, die eigene Tätigkeit ist das Wertvolle. Der reine Historiker ist ein schwacher, ein un­kräftiger Mensch. Die historische Erkenntnis raubt die Energie und Spannkraft des eigenen Wirkens. Wer alles verstehen will, wird selbst wenig sein. Was fruchtbar ist, allein ist wahr, hat Goethe gesagt. Soweit Goethe für unsere Zeit fruchtbar ist, soweit soll man sich in seine Gedanken- und Empfindungswelt einleben. Und ich glaube, aus der folgenden Darstellung wird hervorgehen, daß unzählige noch ungehobene Schätze in dieser Gedanken- und Emp­findungswelt verborgen liegen. Ich habe auf die Stellen hingedeutet, an denen die moderne Wissenschaft hinter Goethe zurückgeblieben ist. Ich habe von der Armut der gegenwärtigen Ideenwelt gesprochen und ihr den Reich­tum und die Fülle der Goetheschen entgegengehalten. In Goethes Denken sind Keime, welche die moderne Natur­wissenschaft zur Reife bringen sollte. Für sie könnte dieses Denken vorbildlich sein. Sie hat einen größeren Beobach­tungsstoff als Goethe. Aber sie hat diesen Stoff nur mit spär­lichem und unzureichendem Ideengehalt durchsetzt. Ich hoffe, daß aus meinen Ausführungen hervorgeht, wie we­nig Eignung die moderne naturwissenschaftliche Denk­weise dazu besitzt, Goethe zu kritisieren, und wie viel sie von ihm lernen könnte.

Rudolf Steiner

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EINLEITUNG

Will man Goethes Weltanschauung verstehen, so darf man sich nicht damit begnügen, hinzuhorchen, was er selbst in einzelnen Aussprüchen über sie sagt. In kristallklaren, scharf geprägten Sätzen den Kern seines Wesens auszusprechen, lag nicht in seiner Natur. Solche Sätze schienen ihm die Wirklichkeit eher zu verzerren als richtig abzubilden. Er hatte eine gewisse Scheu davor, das Lebendige, die Wirk­lichkeit in einem durchsichtigen Gedanken festzuhalten. Sein Innenleben, seine Beziehung zur Außenwelt, seine Be­obachtungen über die Dinge und Ereignisse waren zu reich, zu erfüllt von zarten Bestandteilen, von intimen Elementen, um von ihm selbst in einfache Formeln gebracht zu werden. Er spricht sich aus, wenn ihn dieses oder jenes Erlebnis da­zu drängt. Aber er sagt immer zu viel oder zu wenig. Die lebhafte Anteilnahme an allem, was an ihn herankommt, be­stimmt ihn oft, schärfere Ausdrücke zu gebrauchen, als es seine Gesamtnatur verlangt. Sie verführt ihn ebenso oft, sich unbestimmt zu äußern, wo ihn sein Wesen zu einer be­stimmten Meinung nötigen könnte. Er ist immer ängstlich, wenn es sich darum handelt, zwischen zwei Ansichten zu entscheiden. Er will sich die Unbefangenheit nicht dadurch rauben, daß er seinen Gedanken eine scharfe Richtung gibt. Er beruhigt sich bei dem Gedanken: «Der Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu su­chen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der Gren­ze des Begreiflichen zu halten. »Ein Problem, das der Mensch gelöst zu haben glaubt, entzieht ihm die Möglichkeit, tau­send Dinge klar zu sehen, die in den Bereich dieses Problems fallen. Er achtet auf sie nicht mehr, weil er über das Gebiet

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aufgeklärt zu sein glaubt, in das sie fallen. Goethe möchte lieber zwei Meinungen über eine Sache haben, die einander entgegengesetzt sind, als eine bestimmte. Denn jedes Ding scheint ihm eine Unendlichkeit einzuschließen, der man sich von verschiedenen Seiten nähern muß, um von ihrer ganzen Fülle etwas wahrzunehmen. «Man sagt, zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen liegt die Wahrheit mit­ten inne. Keineswegs! Das Problem liegt dazwischen, das Unschaubare, das ewig tätige Leben, in Ruhe gedacht.» Goethe will seine Gedanken lebendig erhalten, damit er in jedem Augenblicke sie umwandeln könne, wenn die Wirk­lichkeit ihn dazu veranlaßt. Er will nicht recht haben; er will stets nur aufs «Rechte losgehen». In zwei verschiedenen Zeitpunkten spricht er sich über dieselbe Sache verschieden aus. Eine feste Theorie, die ein für allemal die Gesetzmäßig­keit einer Reihe von Erscheinungen zum Ausdruck bringen will, ist ihm bedenklich, weil eine solche der Erkenntniskraft das unbefangene Verhältnis zur beweglichen Wirk­lichkeit raubt.

Wenn man dennoch die Einheit seiner Anschauungen überschauen will, so muß man weniger auf seine Worte hö­ren, als auf seine Lebensführung sehen. Man muß sein Ver­hältnis zu den Dingen belauschen, wenn er ihrem Wesen nachforscht und dabei das ergänzen, was er selbst nicht sagt. Man muß auf das Innerste seiner Persönlichkeit eingehen, das sich zum größten Teile hinter seinen Äußerungen ver­birgt. Was er sagt, mag sich oft widersprechen; was er lebt, gehört immer einem sich selber tragenden Ganzen an. Hat er seine Weltanschauung auch nicht in einem geschlossenen System aufgezeichnet; er hat sie in einer geschlossenen Per­sönlichkeit dargelebt. Wenn wir auf sein Leben sehen, so

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lösen sich alle Widersprüche in seinem Reden. Sie sind in seinem Denken über die Welt nur in dem Sinne vorhanden wie in der Welt selbst. Er hat über die Natur dies und jenes gesagt. In einem festgefügten Gedankengebäude hat er seine Naturanschauung niemals niedergelegt. Aber wenn wir seine einzelnen Gedanken auf diesem Gebiete überblicken, so schließen sie sich von selbst zu einem Ganzen zusammen. Man kann sich eine Vorstellung davon machen, welches Gedankengebäude entstanden wäre, wenn er seine Ansich­ten im Zusammenhang vollständig dargestellt hätte. Ich habe mir vorgesetzt, in dieser Schrift zu schildern, wie Goethes Persönlichkeit in ihrem innersten Wesen geartet gewesen sein muß, um über die Erscheinungen der Natur solche Gedanken äußern zu können, wie er sie in seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten niedergelegt hat. Daß manchem von dem, was ich sagen werde, Goethesche Sätze entgegengehalten werden können, die ihm widersprechen, weiß ich. Es handelt sich mir aber in dieser Schrift nicht darum, eine Entwicklungsgeschichte seiner Aussprüche zu geben, sondern darum, die Grundlagen seiner Persönlich­keit darzustellen, die ihn zu seinen tiefen Einsichten in das Schaffen und Wirken der Natur führten. Nicht aus den zahlreichen Sätzen, in denen er an andere Denkweisen sich anlehnt, um dadurch verständlich zu werden; oder in denen er sich der Formeln bedient, welche der eine oder der andere Philosoph gebraucht hat, lassen sich diese Grundlagen er­kennen. Aus den Äußerungen zu Eckermann könnte man sich einen Goethe konstruieren, der nie die Metamorphose der Pflanzen hätte schreiben können. An Zelter hatte Goe­the manches Wort gerichtet, das verführen könnte, auf eine wissenschaftliche Gesinnung zu schließen, die seinen gro­ßen

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Gedanken über die Bildung der Tiere widerspricht. Ich gebe zu, daß in Goethes Persönlichkeit auch Kräfte gewirkt haben, die ich nicht berücksichtigt habe. Aber diese Kräfte treten zurück hinter den eigentlich bestimmenden, die seiner Weltanschauung das Gepräge geben. Diese bestimmenden Kräfte so scharf zu charakterisieren, als mir möglich ist, habe ich mir zur Aufgabe gestellt. Man wird beim Lesen dieses Buches deshalb beachten müssen, daß ich nirgends die Absicht gehabt habe, etwa Bestandteile einer eigenen Weltanschauung durch die Darstellung der Goetheschen Vorstellungsart hindurchschimmern zu lassen. Ich glaube, daß man bei einem Buche dieser Art kein Recht hat, die eige­ne Weltanschauung inhaltlich zu vertreten, sondern daß man die Pflicht hat, dasjenige, was einem die eigene Weltanschau­ung gibt, zum Verstehen der geschilderten zu verwenden. Ich habe z. B. Goethes Verhältnis zur abendländischen Ge­dankenentwickelung so schildern wollen, wie sich dieses Verhältnis vom Gesichtspunkte der Goetheschen Weltan­schauung aus darstellt. Für die Betrachtung der Weltan­schauungen einzelner Persönlichkeiten scheint mir diese Art einzig die historische Objektivität zu verbürgen. Eine ande­re Art hat erst einzutreten, wenn eine solche Weltanschau­ung im Zusammenhange mit anderen betrachtet wird.

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GOETHES STELLUNG INNERHALB DER ABENDLÄNDISCHEN GEDANKENENTWICKLUNG

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GOETHE UND SCHILLER

Goethe erzählt von einem Gespräch, das sich einstmals zwischen ihm und Schillern entspann, nachdem beide einer Sitzung der naturforschenden Gesellschaft in Jena beige­wohnt hatten. Schiller zeigte sich wenig befriedigt von dem, was in der Sitzung vorgebracht worden war. Eine zer­stückelte Art, die Natur zu betrachten, war ihm entgegen getreten. Und er bemerkte, daß eine solche den Laien keines­wegs anmuten könne. Goethe erwiderte, daß sie den Ein­geweihten selbst vielleicht unheimlich bliebe, und daß es noch eine andere Weise geben könne, die Natur nicht ge­sondert und vereinzelt, sondern sie wirkend und lebendig, aus dem Ganzen in die Teile strebend darzustellen. Und nun entwickelte Goethe die großen Ideen, die ihm über die Pflan­zennatur aufgegangen waren. Er zeichnete «mit manchen charakteristischen Federstrichen eine symbolische Pflanze» vor Schillers Augen. Diese symbolische Pflanze sollte die Wesenheit ausdrücken, die in jeder einzelnen Pflanze lebt, was für besondere Formen eine solche auch annimmt. Sie sollte das sukzessive Werden der einzelnen Pflanzenteile, ihr Hervorgehen auseinander und ihre Verwandtschaft un­tereinander zeigen. Über diese symbolische Pflanzengestalt schrieb Goethe am 17. April 1787 in Palermo die Worte nie­der «Eine solche muß es denn doch geben! Woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflan­ze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wä­ren.» Die Vorstellung einer plastisch-ideellen Form, die dem Geiste sich offenbart, wenn er die Mannigfaltigkeit der Pflanzengestalten überschaut und ihr Gemeinsames be­achtet, hatte Goethe in sich ausgebildet. Schiller betrachtete

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dieses Gebilde, das nicht in einer einzelnen, sondern in allen Pflanzen leben sollte, und sagte kopfschüttelnd: «Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.» Wie aus einer fremden Welt kommend, erschienen Goethe diese Worte. Er war sich bewußt, daß er zu seiner symbolischen Gestalt durch dieselbe Art naiver Wahrnehmung gelangt war wie zu der Vorstellung eines Dinges, das man mit Augen sehen und mit Händen greifen kann. Wie die einzelne Pflanze, so war für ihn die symbolische oder Urpflanze ein objektives We­sen. Nicht einer willkürlichen Spekulation, sondern unbe­fangener Beobachtung glaubte er sie zu verdanken. Er konn­te nichts entgegnen als: «Das kann mir sehr lieb sein, wenn ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe.» Und er war ganz unglücklich, als Schiller daran die Worte knüpfte: «Wie kann jemals eine Erfahrung gegeben werden, die einer Idee angemessen sein sollte. Denn darin besteht das Eigentümliche der letzteren, daß ihr niemals eine Erfahrung kongruieren könne.»

Zwei entgegengesetzte Weltanschauungen stehen in die­sem Gespräche einander gegenüber. Goethe sieht in der Idee eines Dinges ein Element, das in demselben unmittel­bar gegenwärtig ist, in ihm wirkt und schafft. Ein einzelnes Ding nimmt, nach seiner Ansicht, bestimmte Formen aus dem Grunde an, weil die Idee sich in dem gegebenen Falle in einer besonderen Weise ausleben muß. Es hat für Goethe keinen Sinn zu sagen, ein Ding entspreche der Idee nicht. Denn das Ding kann nichts anderes sein, als das, wozu es die Idee gemacht hat. Anders denkt Schiller. Ihm sind Ideenwelt und Erfahrungswelt zwei getrennte Reiche. Der Erfahrung gehören die mannigfaltigen Dinge und Ereig­nisse an, die den Raum und die Zeit erfüllen. Ihr steht das

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Reich der Ideen gegenüber, als eine anders geartete Wirk­lichkeit, dessen sich die Vernunft bemächtigt. Weil von zwei Seiten dem Menschen seine Erkenntnisse zufließen, von außen durch Beobachtung und von innen durch das Denken, unterscheidet Schiller zwei Quellen der Erkennt­nis. Für Goethe gibt es nur eine Quelle der Erkenntnis, die Erfahrungswelt, in welcher die Ideenwelt eingeschossen ist. Für ihn ist es unmöglich, zu sagen: Erfahrung und Idee, weil ihm die Idee durch die geistige Erfahrung so vor dem geisti­gen Auge liegt, wie die sinnliche Welt vor dem physischen.

Schillers Anschauung ist hervorgegangen aus der Philo­sophie seiner Zeit. Die grundlegenden Vorstellungen, wel­che dieser Philosophie das Gepräge gegeben haben, und welche treibende Kräfte der ganzen abendländischen Gei­stesbildung geworden sind, muß man im griechischen Altertume suchen. Man kann von der besonderen Wesen­heit der Goetheschen Weltanschauung ein Bild gewinnen, wenn man sie ganz aus sich selbst heraus, gewissermaßen mit Ideen, die man bloß aus ihr entlehnt, zu kennzeichnen versucht. Das soll in den späteren Teilen dieser Schrift angestrebt werden. Einer solchen Kennzeichnung kann aber zu Hilfe kommen ein vorangehendes Betrachten der Tat­sache, daß sich Goethe über gewisse Dinge in der einen oder andern Art ausgesprochen hat, weil er sich in Überein Stimmung oder in Gegensatz fühlte mit dem, was andere über ein Gebiet des Natur- und Geisteslebens dachten. Mancher Ausspruch Goethes wird nur verständlich, wenn man die Vorstellungsarten betrachtet, denen er sich gegen­über gestellt fand, und mit denen er sich auseinandersetzte, um einen eigenen Gesichtspunkt zu gewinnen. Wie er über dies oder jenes dachte und empfand, gibt zugleich eine Aufklärung

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über das Wesen seiner eigenen Weltanschauung. Man muß, wenn man über dieses Gebiet Goetheschen We­sens sprechen will, manches zum Ausdruck bringen, was bei ihm nur unbewußte Empfindung geblieben ist. In dem hier angeführten Gespräch mit Schiller stand vor Goethes geistigem Auge eine der seinigen gegensätzliche Weltan­schauung. Und diese Gegensätzlichkeit zeigt, wie er emp­fand über diejenige Vorstellungsart, die, von einer Seite des Griechentums herkommend, einen Abgrund sieht zwischen der sinnlichen und der geistigen Erfahrung und wie er, ohne solchen Abgrund, die Erfahrung der Sinne und die Erfahrung des Geistes sich zusammenschließen sah in einem Weltbild, das ihm die Wirklichkeit vermittelte. Will man bewußt als Gedanken in sich beleben, was Goethe mehr oder weniger unbewußt als Anschauung über die Gestalt der abendländischen Weltanschauungen in sich trug, so werden diese Gedanken die folgenden sein. In einem ver­hängnisvollen Augenblicke bemächtigte sich eines griechi­schen Denkers ein Mißtrauen in die menschlichen Sinnes­organe. Er fing an zu glauben, daß diese Organe dem Men­schen nicht die Wahrheit überliefern, sondern daß sie ihn täuschen. Er verlor das Vertrauen zu dem, was die naive, unbefangene Beobachtung darbietet. Er fand, daß das Den­ken über die wahre Wesenheit der Dinge andere Aussagen mache als die Erfahrung. Es wird schwer sein zu sagen, in welchem Kopfe sich dieses Mißtrauen zuerst festsetzte. Man begegnet ihm in der eleatischen Philosophenschule, deren erster Vertreter der um 570 v.Chr. zu Kolophon geborene Xenophanes ist. Als die wichtigste Persönlichkeit dieser Schule erscheint Parmenides. Denn er hat mit einer Schärfe wie niemand vor ihm behauptet, es gäbe zwei Quellen der

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menschlichen Erkenntnis. Er hat erklärt, daß die Eindrücke der Sinne Trug und Täuschung seien, und daß der Mensch zu der Erkenntnis des Wahren nur durch das reine Denken, das auf die Erfahrung keine Rücksicht nimmt, gelangen kön­ne. Durch die Art, wie diese Auffassung über das Denken und die Sinnes-Erfahrung bei Parmenides auftritt, war vielen folgenden Philosophien eine Entwicklungskrankheit ein­geimpft, an der die wissenschaftliche Bildung noch heute leidet. Welchen Ursprung diese Vorstellungsart in orien­talischen Anschauungen hat, dies zu besprechen, ist inner­halb des Zusammenhanges der Goetheschen Weltanschau­ung nicht der Ort.

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DIE PLATONISCHE WELTANSCHAUUNG

Mit der ihm eigenen bewunderungswerten Kühnheit spricht Plato dieses Mißtrauen in die Erfahrung aus: Die Dinge die­ser Welt, welche unsere Sinne wahrnehmen, haben gar kein wahres Sein: sie werden immer, sind aber nie. Sie haben nur ein relatives Sein, sind insgesamt nur in und durch ihr Verhält­nis zueinander; man kann daher ihr ganzes Dasein ebensowohl ein Nichtsein nennen. Sie sind folglich auch nicht Objekte einer eigentlichen Erkenntnis. Denn nur von dem, was an und für sich und immer auf gleiche Weise ist, kann es eine solche geben; sie hingegen sind nur das Objekt eines durch Emp­findung veranlaßten Dafürhaltens. So lange wir nur auf ihre Wahrnehmung beschränkt sind, gleichen wir Menschen, die in einer finsteren Höhle so fest gebunden saßen, daß sie auch den Kopf nicht drehen könnten und nichts sehen, als beim Lichte eines hinter ihnen brennenden Feuers, an der Wand ihnen gegenüber die Schattenbilder wirklicher Dinge, welche zwischen ihnen und dem Feuer vorübergeführt wür­den, und auch sogar von einander, ja jeder von sich selbst, eben nur die Schatten an jener Wand. Ihre Weisheit aber wäre, die ans Erfahrung erlernte Reihenfolge jener Schatten vorherzusagen.

In zwei Teile reißt die platonische Anschauung die Vor­stellung des Weltganzen auseinander, in die Vorstellung einer Scheinwelt und in eine andere der Ideenwelt, der allein wahre, ewige Wirklichkeit entsprechen soll. «Was allein wahrhaft seiend genannt werden kann, weil es immer ist, aber nie wird, noch vergeht: das sind die idealen Urbilder jener Schattenbilder, es sind die ewigen Ideen, die Urfor­men aller Dinge. Ihnen kommt keine Vielheit zu; denn je­des ist seinem Wesen nach nur eines, indem es das Urbild

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selbst ist, dessen Nachbilder oder Schatten alle ihm gleich­namige, einzelne, vergängliche Dinge derselben Art sind. Ihnen kommt auch kein Entstehen und Vergehen zu; denn sie sind wahrhaft seiend, nie aber werdend, noch unterge­hend wie ihre hinschwindenden Nachbilder. Von ihnen allein daher gibt es eine eigentliche Erkenntnis, da das Ob­jekt einer solchen nur das sein kann, was immer und in je­dem Betracht ist, nicht das, was ist, aber auch wieder nicht ist, je nachdem man es ansieht.»

Die Unterscheidung von Idee und Wahrnehmung hat nur eine Berechtigung, wenn von der Art gesprochen wird, wie die menschliche Erkenntnis zustande kommt. Der Mensch muß die Dinge auf zweifache Art zu sich sprechen lassen. Einen Teil ihrer Wesenheit sagen sie ihm freiwillig. Er braucht nur hinzuhorchen. Dies ist der ideenfreie Teil der Wirklichkeit. Den andern aber muß er ihnen entlocken. Er muß sein Denken in Bewegung setzen, dann erfüllt sich sein Inneres mit den Ideen der Dinge. Im Innern der Persön­lichkeit ist der Schauplatz, auf dem auch die Dinge ihr ide­elles Innere enthüllen. Da sprechen sie aus, was der äußeren Anschauung ewig verborgen bleibt. Das Wesen der Natur kommt hier zu Worte. Aber es liegt nur an der menschlichen Organisation, daß durch den Zusammenklang von zwei Tönen die Dinge erkannt werden müssen. In der Natur ist ein Erreger da, der beide Töne hervorbringt. Der unbe­fangene Mensch horcht auf den Zusammenklang. Er er­kennt in der ideellen Sprache seines Innern die Aussagen, die ihm die Dinge zukommen lassen. Nur wer die Unbefan­genheit verloren hat, der deutet die Sache anders. Er glaubt, die Sprache seines Inneren komme aus einem andern Reich als die Sprache der äußeren Anschauung. Plato ist es zum

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Bewußtsein gekommen, welches Gewicht für die mensch­liche Weltanschauung die Tatsache hat, daß die Welt sich dem Menschen von zwei Seiten her offenbart. Aus der ein­sichtsvollen Wertung dieser Tatsache erkannte er, daß der Sinneswelt, allein für sich betrachtet, nicht Wirklichkeit zugesprochen werden darf. Erst wenn aus dem Seelenleben heraus die Ideenwelt aufleuchtet und im Anschauen der Welt der Mensch Idee und Sinnesbeobachtung als einheit­liches Erkenntniserlebnis vor seinen Geist stellen kann, hat er wahre Wirklichkeit vor sich. Was die Sinnesbeob­achtung vor sich hat, ohne daß es von dem Lichte der Ideen durchstrahlt wird, ist eine Scheinwelt. So betrachtet fällt von Platos Einsicht aus auch Licht auf die Ansicht des Par­menides von dem Trugcharakter der Sinnendinge. Und man kann sagen, die Philosophie Platos ist eines der erhabensten Gedankengebäude, die je aus dem Geiste der Menschheit entsprungen sind. Platonismus ist die Überzeugung, daß das Ziel alles Erkenntnisstrebens die Aneignung der die Welt tragenden und deren Grund bildenden Ideen sein müs­se. Wer diese Überzeugung in sich nicht erwecken kann, der versteht die platonische Weltanschauung nicht. - Insofern aber der Platonismus in die abendländische Ge­dankenentwickelung eingegriffen hat, zeigt er noch eine andere Seite. Plato ist nicht dabei stehen geblieben, die Er­kenntnis zu betonen, daß im menschlichen Anschauen die Sin­neswelt zu einem Schein wird, wenn das Licht der Ideenwelt nicht auf sie geworfen wird, sondern er hat durch seine Dar­stellung dieser Tatsache der Meinung Vorschub geleistet, als ob die Sinneswelt für sich, abgesehen von dem Menschen, eine Scheinwelt sei und nur in den Ideen wahre Wirklich­keit zu finden. Aus dieser Meinung heraus entsteht die

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Frage: wie kommen Idee und Sinnenwelt (Natur) außer­halb des Menschen zu einander? Wer außerhalb des Men­schen keine ideenlose Sinneswelt anerkennen kann, für den ist die Frage nach dem Verhältnis von Idee und Sinneswelt eine solche, die innerhalb der menschlichen Wesenheit ge­sucht und gelöst werden muß. Und so steht die Sache vor der Goetheschen Weltanschauung. Für diese ist die Frage:

«welches Verhältnis besteht außerhalb des Menschen zwischen Idee und Sinneswelt?» eine ungesunde, weil es für sie keine Sinneswelt (Natur) ohne Idee außerhalb des Menschen gibt. Nur der Mensch kann für sich die Idee von der Sinneswelt lösen und so die Natur ideenlos vorstellen. Deshalb kann man sagen: für die Goethesche Weltanschauung ist die Frage: «wie kommen Idee und Sinnendinge zu einander?» welche die abendländische Gedankenentwickelung durch Jahrhunderte beschäftigt hat, eine vollkommen überflüs­sige Frage. Und der Niederschlag dieser durch die abend­ländische Gedankenentwickelung laufenden Strömung des Platonismus, der Goethe z. B. in dem angeführten Ge­spräche mit Schiller, aber auch in anderen Fällen entgegentrat, wirkte auf seine Empfindung wie ein ungesundes Element des menschlichen Vorstellens. Was er nicht deut­lich mit Worten aussprach, was aber in seiner Empfindung lebte und ein mitgestaltender Impuls seiner eigenen Welt­anschauung wurde, das ist die Ansicht: was das gesunde menschliche Empfinden in jedem Augenblicke lehrt: wie die Sprache der Anschauung und des Denkens sich verbin­den, um die volle Wirklichkeit zu offenbaren, das wurde von den grübelnden Denkern nicht beachtet. Statt hinzu­sehen, wie die Natur zu dem Menschen spricht, bildeten sie künstliche Begriffe über das Verhältnis von Ideenwelt

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und Erfahrung aus. Um vollends zu überschauen, welch tiefe Bedeutung diese von Goethe als ungesund empfundene Denkrichtung in den Weltanschauungen hatte, die ihm ent­gegentraten und an denen er sich orientieren wollte, muß man bedenken, wie die angedeutete Strömung des Platonis­mus, welche die Sinnenwelt in Schein verflüchtigt, und die Ideenwelt dadurch in ein schiefes Verhältnis zu ihr bringt, durch eine einseitige philosophische Erfassung der christ­lichen Wahrheit im Laufe der abendländischen Gedankenentwicklung eine Verstärkung erfahren hat. Weil Goethe die christliche Anschauung, mit der von ihm als ungesund empfundenen Strömung des Platonismus verbunden, ent­gegentrat, konnte er nur unter Schwierigkeiten sein Ver­hältnis zu dem Christentum ausbilden. Goethe hat das Fortwirken der von ihm abgelehnten Strömung des Platonis­mus in der christlichen Gedankenentwicklung nicht im einzelnen verfolgt, aber er hat den Niederschlag dieses Fortwirkens in den Denkungsarten empfunden, die ihm ent­gegentraten. Daher wirft auf die Gestaltung seiner Vorstel­lungsart Licht eine Betrachtung, welche das Zustandekom­men dieses Niederschlages in den Gedankenrichtungen ver­folgt, welche sich durch die Jahrhunderte vor dem Auftre­ten Goethes ausgebildet haben. Die christliche Gedankenentwicklung war in vielen ihrer Vertreter bestrebt, sich aus­einanderzusetzen mit dem Jenseitsglauben und mit dem Werte, den das Sinnesdasein hat gegenüber der geistigen Welt. Gab man sich der Anschauung hin, daß das Verhält­nis der Sinneswelt zur Ideenwelt eine von dem Menschen abgesonderte Bedeutung hat, so kam man mit der daraus entstehenden Frage in die Anschauung der göttlichen Welt­ordnung hinein. Und Kirchenväter, an welche diese Frage

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herantrat, mußten sich Gedanken darüber machen, welche Rolle die platonische Ideenwelt innerhalb dieser göttlichen Weltordnung spielt. Damit stand man vor der Gefahr, das­jenige, was im menschlichen Erkennen durch unmittelbares Anschauen sich verbindet: Idee und Sinneswelt nicht nur für sich außer dem Menschen gesondert zu denken, sondern sie auseinander zu sondern, daß die Ideen außerhalb dessen, was dem Menschen als Natur gegeben ist, auch noch in einer von der Natur abgesonderten Geistigkeit für sich ein Dasein führen. Verband man diese Vorstellung, die auf einer unwahren Anschauung von Ideenwelt und Sinnenwelt beruhte mit der berechtigten Ansicht, daß das Gött­liche nie in der Menschenseele vollbewußt anwesend sein kann, so er gab sich ein völliges Auseinanderreißen von Ideenwelt und Natur. Dann wird, was immer im mensch­lichen Geiste gesucht werden sollte, außerhalb desselben in der Schöpfung gesucht. In dem göttlichen Geist werden die Urbilder aller Dinge enthalten gedacht. Die Welt wird der unvollkommene Abglanz der in Gott ruhenden vollkom­menen Ideenwelt. Es wird dann in Folge einer einseitigen Auffassung des Platonismus die Menschenseele von dem Verhältnis zwischen Idee und «Wirklichkeit» getrennt. Sie dehnt ihr berechtigt gedachtes Verhältnis zur göttlichen Weltordnung aus auf das Verhältnis, das in ihr lebt zwischen Ideenwelt und Sinnes-Scheinwelt. Augustinus kommt durch solche Vorstellungsart zu Ansichten wie diese: «Ohne jedes Schwanken wollen wir glauben, daß die denkende Seele nicht wesensgleich sei mit Gott, denn dieser gestattet keine Gemeinschaft, daß aber die Seele erleuchtet werden könne durch Teilnahme an der Gottesnatur.» Auf diese Art wird der Menschenseele dann, wenn diese Vorstellungsart einseitig

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übertrieben wird, die Möglichkeit entzogen, in der Naturbetrachtung die Ideenwelt als Wesen der Wirklich­keit mitzuerleben. Und es wird solches Miterleben als un­christlich gedeutet. Über das Christentum selbst wird die einseitige Anschauung des Platonismus gebreitet. Der Pla­tonismus als philosophische Weltanschauung hält sich mehr im Elemente des Denkens; das religiöse Empfinden taucht das Denken in das Gefühlsleben und befestigt es auf diese Art in der Menschennatur. So im Menschenseelenleben verankert konnte das Ungesunde des einseitigen Plato­nismus in der abendländischen Gedankenentwicklung tie­fere Bedeutung gewinnen, als wenn es bloß Philosophie geblieben wäre. Durch Jahrhunderte stand diese Gedankenentwicklung vor Fragen wie diese: wie steht, was der Mensch als Idee ausbildet, zu den Dingen der Wirklichkeit? Sind die in der Menschenseele durch die Ideenwelt lebenden Be­griffe nur Vorstellungen, Namen, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben? Sind sie selbst etwas Wirkliches, das der Mensch empfängt, indem er die Wirklichkeit wahr­nimmt und durch seinen Verstand begreift? Solche Fragen sind für die Goethesche Weltanschauung keine Verstandesfragen über irgend etwas, das außerhalb der menschlichen Wesenheit liegt. Im menschlichen Anschauen der Wirk­lichkeit lösen sich diese Fragen in immerwährender Leben­digkeit durch das wahre menschliche Erkennen. Und diese Goethesche Weltanschauung muß nicht nur finden, daß in den christlichen Gedanken der Niederschlag eines einsei­tigen Platonismus lebt, sondern sie empfindet sich selbst dem echten Christentum entfremdet, wenn dieses von sol­chem Platonismus getränkt, ihr entgegentritt. - Was in vie­len Gedanken lebt, die Goethe in sich ausgebildet hat, um

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sich die Welt verständlich zu machen, das war Ablehnung der von ihm als ungesund empfundenen Strömung des Platonismus. Daß er daneben einen freien Sinn hatte für die platonische Erhebung der Menschenseele zur Ideenwelt, das wird durch manchen Ausspruch bezeugt, den er in die­ser Richtung getan hat. Er fühlte in sich die Wirksamkeit der Ideenwirklichkeit, indem er in seiner Art der Natur be­trachtend und forschend gegenübertrat; er fühlte, daß die Natur selbst in der Sprache der Ideen redet, wenn sich die Seele solcher Sprache erschließt. Aber er konnte nicht zu­geben, daß man die Ideenwelt als Abgesondertes betrachtet, und sich dadurch die Möglichkeit schuf gegenüber einer Idee von dem Pflanzenwesen zu sagen: Das ist keine Er­fahrung, das ist eine Idee. Da empfand er, daß sein geistiges Auge die Idee als Wirklichkeit schaute, wie das sinnliche Auge den physischen Teil des Pflanzenwesens sieht. So stellte sich in Goethes Weltanschauung die auf die Ideen­welt gehende Richtung des Platonismus in ihrer Reinheit her, und es wird in ihr die von der Wirklichkeit ablenkende Strömung desselben überwunden. Wegen dieser Gestal­tung seiner Weltanschauung mußte Goethe auch ablehnen, was ihm sich als christliche Vorstellungen so gab, daß es ihm nur als umgewandelter einseitiger Platonismus erschei­nen konnte. Und er mußte empfinden, daß in den Formen mancher Weltanschauung, die ihm entgegentraten und mit denen er sich auseinandersetzen wollte, es nicht gelungen sei, die christlich-platonische, nicht natur- und ideengemäße Ansicht über die Wirklichkeit innerhalb der abendländi­schen Bildung zu überwinden.

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DIE FOLGEN DER PLATONISCHEN WELTANSCHAUUNG

Vergeblich hat sich Aristoteles gegen die platonische Spal­tung der Weltvorstellung aufgelehnt. Er sah in der Natur ein einheitliches Wesen, das die Ideen ebenso enthält, wie die durch die Sinne wahrnehmbaren Dinge und Erschei­nungen. Nur im menschlichen Geiste können die Ideen ein selbständiges Dasein haben. Aber in dieser Selbständigkeit kommt ihnen keine Wirklichkeit zu. Bloß die Seele kann sie abtrennen von den wahrnehmbaren Dingen, mit denen zu­sammen sie die Wirklichkeit ausmachen. Hätte die abend­ländische Philosophie an die richtig verstandene Anschau­ung des Aristoteles angeknüpft, so wäre sie bewahrt ge­blieben vor manchem, was der Goetheschen Weltanschau­ung als Verirrung erscheinen muß.

Aber dieser richtig verstandene Aristoteles war zunächst manchem unbequem, der eine Gedankengrundlage für die christlichen Vorstellungen gewinnen wollte. Mit einer Na­turauffassung, welche das höchste wirksame Prinzip in die Erfahrungswelt verlegt, wußte mancher, der sich für einen echt «christlichen» Denker hielt, nichts anzufangen. Man­che christliche Philosophen und Theologen deuteten des­halb den Aristoteles um. Sie legten seinen Ansichten einen Sinn unter, der nach ihrer Meinung geeignet war, dem christlichen Dogma zur logischen Stütze zu dienen. Nicht suchen sollte der Geist in den Dingen die schaffenden Ideen. Die Wahrheit ist ja den Menschen von Gott in Form der Offenbarung mitgeteilt. Nur bestätigen sollte die Vernunft, was Gott geoffenbart hat. Die aristotelischen Sätze wurden von den christlichen Denkern des Mittelalters so gedeutet,

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daß die religiöse Heilswahrheit durch sie ihre philosophi­sche Bekräftigung erhielt. Erst die Auffassung Thomas' von Aquino, des bedeutendsten christlichen Denkers, sucht die aristotelischen Gedanken in einer tiefgehenden Art in die christliche Ideenentwicklung so weit einzuweben, als es in der Zeit dieses Denkers möglich war. Nach dieser Auf­fassung enthält die Offenbarung die höchsten Wahrheiten, die Heilslehre der heiligen Schrift; aber es ist der Vernunft möglich, in aristotelischer Weise in die Dinge sich zu ver­tiefen und deren Ideengehalt aus ihnen herauszuholen. Die Offenbarung steigt so tief herab und die Vernunft kann sich so weit erheben, daß die Heilslehre und die menschliche Erkenntnis an einer Grenze in einander übergehen. Die Art des Aristoteles, in die Dinge einzudringen, dient also für Thomas dazu, bis zu dem Gebiete der Offenbarung zu kommen.

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Als mit Bacon von Verulam und Descartes eine Zeit anhob, in welcher der Wille sich geltend machte, die Wahrheit durch die eigene Kraft der menschlichen Persönlichkeit zu suchen, waren die Denkgewohnheiten in solche Richtungen ge­bracht, daß alles Streben zu nichts anderem führte als zur Aufstellung von Ansichten, die trotz ihrer scheinbaren Un­abhängigkeit von der vorangehenden abendländischen Vor­stellungswelt, doch nichts waren als neue Formen derselben. Auch Bacon und Descartes haben den bösen Blick für das Verhältnis von Erfahrung und Idee als Erbstück einer ent­arteten Gedankenwelt mitbekommen. Bacon hatte nur Sinn und Verständnis für die Einzelheiten der Natur. Durch Sammeln desjenigen, was durch die räumliche und zeit­liche Mannigfaltigkeit als Gleiches oder Ähnliches sich

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hindurchzieht, glaubte er zu allgemeinen Regeln über das Naturgeschehen zu kommen. Goethe spricht über ihn das treffende Wort: «Denn ob er schon selbst immer darauf hindeutet, man solle die Partikularien nur deswegen sam­meln, damit man aus ihnen wählen, sie ordnen und endlich zu Universalien gelangen könne, so behalten doch bei ihm die ein­zelnen Fälle zu viele Rechte, und ehe man durch Induktion, selbst diejenige, die er anpreist, zur Vereinfachung und zum Abschluß gelangen kann, geht das Leben weg, und die Kräfte verzehren sich.» Für Bacon sind diese allgemeinen Regeln Mittel, durch welche es der Vernunft möglich ist, das Ge­biet der Einzelheiten bequem zu überschauen. Aber er glaubt nicht, daß diese Regeln in dem Ideengehalte der Dinge be­gründet und wirklich schaffende Kräfte der Natur sind. Deshalb sucht er auch nicht unmittelbar in der Einzelheit die Idee auf, sondern abstrahiert sie aus einer Vielheit von Einzelheiten. Wer nicht daran glaubt, daß in dem einzelnen Dinge die Idee lebt, kann auch keine Neigung haben, sie in demselben zu suchen. Er nimmt das Ding so hin, wie es sich der bloßen äußeren Anschauung darbietet. Bacons Be­deutung ist darin zu suchen, daß er auf die durch den ge­kennzeichneten einseitigen Platonismus herabgewürdigte äußere Anschauungsweise hinwies. Daß er betonte, in ihr sei eine Quelle der Wahrheit. Er war aber nicht im Stande, der Ideenwelt in gleicher Weise zu ihrem Rechte gegenüber der Anschauungswelt zu verhelfen. Er erklärte das Ideelle für ein subjektives Element im menschlichen Geiste. Seine Denkweise ist umgekehrter Platonismus. Plato sieht nur in der Ideenwelt, Bacon nur in der ideenlosen Wahrneh­mungswelt die Wirklichkeit. In Bacons Auffassung liegt der Ausgangspunkt jener Denkergesinnung, von welcher

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die Naturforscher bis in die Gegenwart beherrscht sind. Sie leidet an einer falschen Ansicht über das ideelle Element der Erfahrungswelt. Sie konnte nicht zurechtkommen mit der durch eine einseitige Fragestellung erzeugten Ansicht des Mittelalters, die dahin ging, daß die Ideen nur Namen, keine in den Dingen liegenden Wirklichkeiten seien.

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Von anderen Gesichtspunkten aus, aber nicht minder be­einflußt durch einseitig platonisierende Denkungsarten, stellte drei Jahrzehnte nach Bacon Descartes seine Betrach­tungen an. Auch er krankt an der Erbsünde des abendlän­dischen Denkens, an dem Mißtrauen gegenüber der unbe­fangenen Beobachtung der Natur. Der Zweifel an der Existenz und Erkennbarkeit der Dinge ist der Anfang seines Forschens. Nicht auf die Dinge richtet er den Blick, um Zu­gang zur Gewißheit zu erlangen, sondern eine ganz kleine Pforte, einen Schleichweg, im vollsten Sinne des Wortes sucht er auf. In das intimste Gebiet des Denkens zieht er sich zurück. Alles, was ich bisher als Wahrheit geglaubt habe, kann falsch sein, sagt er sich. Was ich gedacht habe, kann auf Täuschung beruhen. Aber die eine Tatsache bleibt doch bestehen, daß ich über die Dinge denke. Auch wenn ich Lug und Trug denke, so denke ich doch. Und wenn ich denke, so existiere ich auch. Ich denke, also bin ich. Damit glaubt Descartes einen festen Ausgangspunkt für alles wei­tere Nachdenken gewonnen zu haben. Er fragt sich weiter: gibt es nicht in dem Inhalte meines Denkens noch anderes, das auf ein wahrhaftes Sein hindeutet? Und da findet er die Idee Gottes, als eines allervollkommensten Wesens. Da der Mensch selbst unvollkommen ist: wie kommt die Idee eines

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allervollkommensten Wesens in seine Gedankenwelt? Ein unvollkommenes Wesen kann eine solche Idee unmöglich aus sich selbst erzeugen. Denn das vollkommenste, das es zu denken vermag, ist eben ein unvollkommenes. Es muß also diese Idee von dem vollkommensten Wesen selbst in den Menschen gelegt sein. Also muß auch Gott existie­ren. Wie aber soll ein vollkommenes Wesen uns eine Täuschung vorspiegeln? Die Außenwelt, die sich uns als wirklich darstellt, muß deshalb auch wirklich sein. Sonst wäre sie ein Trugbild, das uns die Gottheit vormachte. Auf diese Weise sucht Descartes das Vertrauen zur Wirklichkeit zu gewinnen, das ihm wegen ererbter Empfindungen zu­erst fehlte. Auf einem äußerst künstlichen Wege sucht er die Wahrheit. Einseitig vom Denken geht er aus. Nur dem Denken gesteht er die Kraft zu, Überzeugung hervorzu­bringen. Über die Beobachtung kann nur eine Überzeugung gewonnen werden, wenn sie durch das Denken vermittelt wird. Die Folge dieser Ansicht war, daß es das Streben der Nachfolger Descartes wurde, den ganzen Umfang der Wahrheiten, die das Denken aus sich heraus entwickeln und beweisen kann, festzustellen. Die Summe aller Erkennt­nisse aus reiner Vernunft wollte man finden. Von den ein­fachsten unmittelbar klaren Einsichten wollte man ausge­hen, und fortschreitend den ganzen Kreis des reinen Den­kens durchwandern. Nach dem Muster der Euklidischen Geometrie sollte dieses System aufgebaut werden. Denn man war der Ansicht, auch diese gehe von einfachen, wah­ren Sätzen aus und entwickle durch bloße Schlußfolgerung, ohne Zuhilfenahme der Beobachtung, ihren ganzen Inhalt. Ein solches System reiner Vernunftwahrheiten zu liefern, hat Spinoza in seiner «Ethik» versucht. Eine Anzahl von

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Vorstellungen: Substanz, Attribut, Modus, Denken, Aus­dehnung usw. nimmt er vor und untersucht rein verstandes­mäßig die Beziehungen und den Inhalt dieser Vorstellun­gen. In dem Gedankengebäude soll das Wesen der Wirk­lichkeit sich aussprechen. Spinoza betrachtet nur die Er­kenntnis, die durch diese wirklichkeitsfremde Tätigkeit zu­stande kommt, als eine solche, die dem wahren Wesen der Welt entspricht, die adäquate Ideen liefert. Die aus der Sin­neswahmehmung entsprungenen Ideen sind ihm inadäquat, verworren und verstümmelt. Es ist leicht einzusehen, daß auch in dieser Vorstellungswelt die einseitig platonische Auffassungsweise von dem Gegensatz der Wahrnehmun­gen und der Ideen nachwirkt. Die Gedanken, die unabhän­gig von der Wahrnehmung gebildet werden, sind allein das Wertvolle für die Erkenntnis. Spinoza geht noch weiter. Er dehnt den Gegensatz auch auf das sittliche Empfinden und Handeln der Menschen aus. Unlustempfindungen können nur aus Ideen entspringen, die von der Wahrnehmung stam­men; solche Ideen erzeugen die Begierden und Leiden­schaften im Menschen, deren Sklave er werden kann, wenn er sich ihnen hingibt. Nur was aus der Vernunft entspringt, erzeugt unbedingte Lustempfindungen. Das höchste Glück des Menschen ist daher sein Leben in den Vernunftideen, die Hingabe an die Erkenntnis der reinen Ideenwelt. Wer überwunden hat, was aus der Wahrnehmungswelt stammt, und nur noch in der reinen Erkenntnis lebt, empfindet die höchste Seligkeit.

Nicht ganz ein Jahrhundert nach Spinoza tritt der Schotte David Hume mit einer Denkweise auf, die wieder aus der Wahrnehmung allein die Erkenntnis entspringen läßt. Nur einzelne Dinge in Raum und Zeit sind gegeben. Das Denken

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verknüpft die einzelnen Wahrnehmungen, aber nicht, weil in diesen selbst etwas liegt, was dieser Verknüpfung entspricht, sondern weil sich der Verstand daran gewöhnt hat, die Dinge in einen Zusammenhang zu bringen. Der Mensch ist gewohnt, zu sehen, daß ein Ding auf ein anderes der Zeit nach folgt. Er bildet sich die Vorstellung, daß es fol­gen müsse. Er macht das erste zur Ursache, das zweite zur Wirkung. Der Mensch ist ferner gewohnt zu sehen, daß auf einen Gedanken seines Geistes eine Bewegung seines Leibes folgt. Er erklärt sich dies dadurch, daß er sagt, der Geist habe die Leibesbewegung bewirkt. Denkgewohnheiten, nichts weiter sind die menschlichen Ideen. Wirklichkeit haben nur die Wahrnehmungen.

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Die Vereinigung der verschiedensten durch die Jahrhun­derte hindurch zum Dasein gelangten Denkrichtungen ist die Kantsche Weltanschauung. Auch Kant fehlt die natür­liche Empfindung für das Verhältnis von Wahrnehmung und Idee. Er lebt in philosophischen Vorurteilen, die er durch Studium seiner Vorgänger in sich aufgenommen hat. Das eine dieser Vorurteile ist, daß es notwendige Wahr­heiten gebe, die durch reines, von aller Erfahrung freies Denken erzeugt werden. Der Beweis davon ist, nach seiner Ansicht, durch die Existenz der Mathematik und der reinen Physik erbracht, die solche Wahrheiten enthalten. Ein an­deres seiner Vorurteile besteht darin, daß er der Erfahrung die Fähigkeit abspricht, zu gleich notwendigen Wahrheiten zu gelangen. Das Mißtrauen gegenüber der Wahrnehmungs­welt ist auch in Kant vorhanden. Zu diesen seinen Denkgewohnheiten tritt bei Kant der Einfluß Humes hinzu. Er

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gibt Hume recht in Bezug auf die Behauptung, daß die Ide­en, in die das Denken die einzelnen Wahrnehmungen zu­sammenfaßt, nicht aus der Erfahrung stammen. Sondern daß das Denken sie zur Erfahrung hinzufügt. Diese drei Vorurteile sind die Wurzeln des Kantschen Gedankengebäu­des. Der Mensch besitzt notwendige Wahrheiten. Sie kön­nen nicht aus der Erfahrung stammen, weil diese keine sol­chen darbietet. Dennoch wendet sie der Mensch auf die Er­fahrung an. Er verknüpft die einzelnen Wahrnehmungen diesen Wahrheiten gemäß. Sie stammen aus dem Menschen selbst. Es liegt in seiner Natur, daß er die Dinge in einen solchen Zusammenhang bringt, der den durch reines Den­ken gewonnenen Wahrheiten entspricht. Kant geht nun noch weiter. Er spricht auch den Sinnen die Fähigkeit zu, das was ihnen von außen gegeben wird, in eine bestimmte Ordnung zu bringen. Auch diese Ordnung fließt nicht mit den Eindrücken der Dinge von außen ein. Die räumliche und die zeitliche Ordnung erhalten die Eindrücke erst durch die sinnliche Wahrnehmung. Raum und Zeit gehören nicht den Dingen an. Der Mensch ist so organisiert, daß er, wenn die Dinge auf seine Sinne Eindrücke machen, diese in räum­liche oder zeitliche Zusammenhänge bringt. Nur Eindrük­ke, Empfindungen erhält der Mensch von außen. Die Anordnung derselben im Raum und in der Zeit, ihre Zusammen­fassung zu Ideen ist sein eigenes Werk. Aber auch die Emp­findungen sind nichts, was aus den Dingen stammt. Nicht die Dinge nimmt der Mensch wahr, sondern nur die Eindrüc­ke, die sie auf ihn ausüben. Ich weiß nichts von einem Din­ge, wenn ich eine Empfindung habe. Ich kann nur sagen: ich bemerke das Auftreten einer Empfindung bei mir. Durch welche Eigenschaften das Ding befähigt ist, in mir

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die Empfindungen hervorzurufen, darüber kann ich nichts erfahren. Der Mensch hat es, nach Kants Meinung, nicht mit den Dingen an sich zu tun, sondern nur mit den Ein­drücken, die sie auf ihn machen und mit den Zusammen­hängen, in die er selbst diese Eindrücke bringt. Nicht ob­jektiv von außen aufgenommen, sondern nur auf äußere Veranlassung hin, subjektiv von innen erzeugt, ist die Er­fahrungswelt. Das Gepräge, das sie trägt, geben ihr nicht die Dinge, sondern die menschliche Organisation. Sie ist folglich als solche unabhängig von dem Menschen gar nicht vorhanden. Von diesem Standpunkte aus ist die Annahme notwendiger, von der Erfahrung unabhängiger Wahrhei­ten möglich. Denn diese Wahrheiten beziehen sich bloß auf die Art, wie der Mensch von sich selbst aus seine Er­fahrungswelt bestimmt. Sie enthalten die Gesetze seiner Organisation. Sie haben keinen Bezug auf die Dinge an sich selbst. Kant hat also einen Ausweg gefunden, der es ihm gestattet, bei seinem Vorurteile stehen zu blei­ben, daß es notwendige Wahrheiten gebe, die für den Inhalt der Erfahrungswelt gelten, ohne doch daraus zu stammen. Allerdings mußte er, um diesen Ausweg zu finden, sich zu der Ansicht entschließen, daß der mensch­liche Geist unfähig sei, irgend etwas über die Dinge an sich zu wissen. Er mußte alles Erkennen auf die Erscheinungs­welt einschränken, welche die menschliche Organisation aus sich herausspinnt infolge der von den Dingen verur­sachten Eindrücke. Aber was kümmerte Kant das Wesen der Dinge an sich, wenn er nur die ewigen, notwendig-gültigen Wahrheiten in dem Sinne retten konnte, wie er sich dieselben vorstellte. Der einseitige Platonismus hat in Kant eine die Erkenntnis lähmende Frucht hervorgebracht.

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Plato hat sich von der Wahrnehmung abgewendet und den Blick auf die ewigen Ideen gerichtet, weil ihm jene das We­sen der Dinge nicht auszusprechen schien. Kant aber ver­zichtet darauf, daß die Ideen eine wirkliche Einsicht in das Wesen der Welt eröffnen, wenn ihnen nur die Eigenschaft des Ewigen und Notwendigen verbleibt. Plato hält sich an die Ideenwelt, weil er glaubt, daß das wahre Wesen der Welt ewig, unzerstörbar, unwandelbar sein muß, und er diese Eigenschaften nur den Ideen zusprechen kann. Kant ist zufrieden, wenn er nur diese Eigenschaften von den Ideen behaupten kann. Sie brauchen dann gar nicht mehr das Wesen der Welt auszusprechen.

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Die philosophische Vorstellungsart Kants wurde noch be­sonders genährt von seiner religiösen Empfindungsrich­tung. Er ging nicht davon aus, in der menschlichen Wesen­heit den lebendigen Zusammenklang von Ideenwelt und Sinneswahmehmung zu schauen, sondern er legte sich die Frage vor: Kann von dem Menschen durch das Erleben der Ideenwelt etwas erkannt werden, das niemals in den Bereich der Sinneswahrung eintreten kann? Wer im Sinne der Goetheschen Weltanschauung denkt, der sucht den Wirklichkeitscharakter der Ideenwelt dadurch zu erkennen, daß er das Wesen der Idee erfaßt, indem ihm klar wird, wie diese in der sinnlichen Scheinwelt Wirklichkeit anschauen läßt. Dann darf er sich fragen: In wie weit kann ich durch den so erlebten Wirklichkeitscharakter der Ideenwelt in die Gebiete dringen, in denen die übersinnlichen Wahrheiten der Freiheit, der Unsterblichkeit, der göttlichen Weltord­nung ihr Verhältnis zur menschlichen Erkenntnis finden?

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Kant verneinte die Möglichkeit, über die Wirklichkeit der Ideenwelt aus deren Verhältnis zur Sinneswahmehmung etwas wissen zu können. Aus dieser Voraussetzung heraus ergab sich für ihn als wissenschaftliches Ergebnis dasjenige, was, ihm unbewußt, von seiner religiösen Empfindungsrichtung gefordert wurde: daß das wissenschaftliche Er­kennen Halt machen müsse vor solchen Fragen, welche die Freiheit, die Unsterblichkeit, die göttliche Weltordnung betreffen. Ihm ergab sich, daß das menschliche Erkennen nur bis an die Grenzen gehen könne, die den Sinnesbereich umschließen, und daß für alles, was darüber hinausliegt, nur ein Glaube möglich sei. Er wollte das Wissen eingren­zen, um für den Glauben Platz zu erhalten. Im Sinne der Goetheschen Weltanschauung liegt es, das Wissen erst da­durch mit einer festen Grundlage zu versehen, daß die Ideenwelt in ihrem Wesen an der Natur geschaut wird, um dann in der befestigten Ideenwelt zu einer über die Sinnenwelt hinausliegenden Erfahrung zu schreiten. Auch dann, wenn Gebiete erkannt werden, die nicht im Bereich der Sinneswelt liegen, wird der Blick auf den lebendigen Zu­sammenklang von Idee und Erfahrung gelenkt und dadurch die Sicherheit des Erkennens gesucht. Kant konnte eine solche Sicherheit nicht finden. Deshalb ging er darauf aus, für die Vorstellungen von Freiheit, Unsterblichkeit und Gottesordnung außerhalb des Erkennens eine Grundlage zu finden. Im Sinne der Goetheschen Weltanschauung liegt es, von «Dingen an sich» so viel erkennen zu wollen, als das an der Natur erfaßte Wesen der Ideenwelt gestattet. Im Sinne der Kantschen Weltanschauung liegt es, der Erkennt­nis das Recht abzusprechen, in die Welt der «Dinge an sich» hineinzuleuchten. Goethe will in der Erkenntnis ein Licht

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anzünden, welches das Wesen der Dinge beleuchtet. Ihm ist auch klar, daß im Licht nicht das Wesen der beleuch­teten Dinge liegt; aber er will trotzdem nicht darauf ver­zichten, dieses Wesen durch die Beleuchtung mit dem Lich­te offenbar werden zu lassen. Kant hält daran fest: in dem Lichte liegt nicht das Wesen der beleuchteten Dinge; des­halb kann das Licht nichts offenbaren über dieses Wesen.

Vor der Goetheschen Weltanschauung kann diejenige Kants nur im Sinne der folgenden Vorstellungen stehen: Nicht durch Hinwegräumung alter Irrtümer, nicht durch eine freie, ursprüngliche Vertiefung in die Wirklichkeit ist diese Weltanschauung entstanden, sondern durch logische Verschmelzung anerzogener und ererbter philosophischer und religiöser Vorurteile. Sie konnte nur aus einem Geiste entspringen, in dem der Sinn für das lebendige Schaffen in­nerhalb der Natur unentwickelt geblieben ist. Und sie konn­te nur auf solche Geister wirken, die an dem gleichen Man­gel litten. Aus dem weitgehenden Einflusse, den Kants Denkweise auf seine Zeitgenossen ausübte, ist zu ersehen, wie stark diese in dem Banne des einseitigen Platonismus standen.

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GOETHE UND DIE PLATONISCHE WELTANSICHT

Ich habe die Gedankenentwickelung von Platos bis zu Kants Zeit geschildert, um zeigen zu können, welche Eindrücke Goethe empfangen mußte, wenn er sich an den Nie­derschlag der philosophischen Gedanken wandte, an die er sich halten konnte, um sein so starkes Erkenntnisbedürfnis zu befriedigen. Auf die unzähligen Fragen, zu denen ihn seine Natur drängte, fand er in den Philosophien keine Ant­worten. Ja, es zeigte sich, so oft er sich in die Weltanschau­ung eines Philosophen vertiefte, ein Gegensatz zwischen der Richtung, die seine Fragen einschlugen und der Gedan­kenwelt, bei der er sich Rat holen wollte. Der Grund liegt darin, daß die einseitig platonische Trennung von Idee und Erfahrung seiner Natur zuwider war. Wenn er die Natur beobachtete, so brachte sie ihm die Ideen entgegen. Er konnte sie deshalb nur ideenerfüllt denken. Eine Ideenwelt, welche die Dinge der Natur nicht durchdringt, ihr Entste­hen und Vergehen, ihr Werden und Wachsen nicht hervorbringt, ist ihm ein kraftloses Gedankengespinst. Das logi­sche Fortspinnen von Gedankenreihen, ohne Versenkung in das wirkliche Leben und Schaffen der Natur erscheint ihm unfruchtbar. Denn er fühlt sich mit der Natur innig ver­wachsen. Er betrachtet sich als ein lebendiges Glied der Natur. Was in seinem Geiste entsteht, das hat, nach seiner Ansicht, die Natur in ihm entstehen lassen. Der Mensch soll sich nicht in eine Ecke stellen und glauben, daß er da aus sich heraus ein Gedankengewebe spinnen könne, das über das Wesen der Dinge aufklärt. Er soll den Strom des Weltgeschehens beständig durch sich durchfließen lassen. Dann wird er fühlen, daß die Ideenwelt nichts anderes ist, als die

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schaffende und tätige Gewalt der Natur. Er wird nicht über den Dingen stehen wollen, um über sie nachzudenken, son­dern er wird sich in ihre Tiefen eingraben und aus ihnen herausholen, was in ihnen lebt und wirkt.

Zu solcher Denkweise führte Goethe seine Künstlernatur. Mit derselben Notwendigkeit, mit der eine Blume blüht, fühlte er seine dichterischen Erzeugnisse aus seiner Persönlichkeit herauswachsen. Die Art, wie der Geist in ihm das Kunstwerk hervorbrachte, schien ihm nicht ver­schieden von der zu sein, wie die Natur ihre Geschöpfe er­zeugt. Und wie im Kunstwerke das geistige Element von der geistlosen Materie nicht zu trennen ist, so war es ihm auch unmöglich, bei einem Dinge der Natur die Wahrneh­mung ohne die Idee vorzustellen. Fremd blickte ihn daher eine Anschauung an, die in der Wahrnehmung nur etwas Unklares, Verworrenes sah und die Ideenwelt abgesondert, gereinigt von aller Erfahrung betrachten wollte. Er fühlte in jeder Weltanschauung, in der die Elemente des einseitig verstandenen Platonismus lebten, etwas Naturwidriges. Des­halb konnte er bei den Philosophen nicht finden, was er bei ihnen suchte. Er suchte die Ideen, die in den Dingen leben, und die alle Einzelheiten der Erfahrung als hervorwachsend aus einem lebendigen Ganzen erscheinen lassen, und die Philosophen lieferten ihm Gedankenhülsen, die sie nach logischen Grundsätzen zu Systemen verbunden hatten. Immer wieder fand er sich auf sich selbst zurückgewiesen, wenn er bei andern Aufklärung suchte über die Rätsel, die ihm die Natur aufgab.

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Es gehört zu den Dingen, an denen Goethe vor seiner ita­lienischen Reise gelitten hat, daß sein Erkenntnisbedürfnis keine Befriedigung finden konnte. In Italien konnte er sich eine Ansicht bilden über die Triebkräfte, aus denen die Kunstwerke hervorgehen. Er erkannte, daß in den vollen­deten Kunstwerken das enthalten ist, was die Menschen als Göttliches, als Ewiges verehren. Nach dem Anblicke von künstlerischen Schöpfungen, die ihn besonders interessie­ren, schreibt er die Worte nieder: «Die hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht wor­den. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen; da ist Notwendigkeit, da ist Gott.» Die Kunst der Griechen ent­lockt ihm den Ausspruch: «Ich habe die Vermutung, daß sie (die Griechen) nach eben den Gesetzen verfuhren, nach welchen die Natur selbst verfährt und denen ich auf der Spur bin.» Was Plato in der Ideenwelt zu finden glaubte, was die Philosophen Goethe nie nahe bringen konnten, das blickt ihm aus den Kunstwerken Italiens entgegen. In der Kunst offenbart sich für Goethe zuerst das in vollkomme­ner Gestalt, was er als die Grundlage der Erkenntnis an­sehen kann. Er erblickt in der künstlerischen Produktion eine Art und höhere Stufe des Naturwirkens; künstleri­sches Schaffen ist ihm gesteigertes Naturschaffen. Er hat das in seiner Charakteristik Winckelmanns später ausge­sprochen: «... indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft und sich endlich zur Produktion des

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Kunstwerkes erhebt...». Nicht auf dem Wege logischer Schlußfolgerung, sondern durch Betrachtung des Wesens der Kunst gelangt Goethe zu seiner Weltanschauung. Und was er in der Kunst gefunden hat, das sucht er auch in der Natur.

Die Tätigkeit, durch die sich Goethe in den Besitz einer Naturerkenntnis setzt, ist nicht wesentlich von der künst­lerischen verschieden. Beide gehen ineinander über und greifen übereinander. Der Künstler muß, nach Goethes Ansicht, größer und entschiedener werden, wenn er zu seinem «Talente noch ein unterrichteter Botaniker ist, wenn er, von der Wurzel an, den Einließ der verschiedenen Teile auf das Gedeihen und das Wachstum der Pflanze, ihre Bestimmung und wechselseitige Wirkung erkennt, wenn er die sukzessive Entwicklung der Blumen, Blätter, Befruchtung, Frucht und des neuen Keimes einsieht und überdenkt. Er wird alsdann nicht bloß durch die Wahl aus den Erscheinungen seinen Geschmack zeigen, sondern er wird uns auch durch eine richtige Darstellung der Eigenschaften zugleich in Ver­wunderung setzen und belehren.» Das Kunstwerk ist dem­nach um so vollkommener, je mehr in ihm dieselbe Gesetzmäßigkeit zum Ausdruck kommt, die in dem Naturwerke enthalten ist, dem es entspricht. Es gibt nur ein einheitliches Reich der Wahrheit, und dieses umfaßt Kunst und Natur. Daher kann auch die Fähigkeit des künstlerischen Schaffens von der des Naturerkennens nicht wesentlich verschieden sein. Vom Stil des Künstlers sagt Goethe, daß er «auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis ruhe, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greifbaren Gestalten zu erkennen.» Die aus einseitig erfaß­ten platonischen Vorstellungen hervorgegangene Weltbe­trachtung zieht eine scharfe Grenzlinie zwischen Wissenschaft

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und Kunst. Die künstlerische Tätigkeit läßt sie auf der Phantasie, auf dem Gefühle beruhen; die wissenschaft­lichen Ergebnisse sollen das Resultat einer Phantastereien Begriffsentwicklung sein. Goethe stellt sich die Sache anders vor. Für ihn ergibt sich, wenn er das Auge auf die Natur richtet, eine Summe von Ideen; aber er findet, daß in dem einzelnen Erfahrungsgegenstande der ideelle Bestandteil nicht abgeschlossen ist; die Idee weist über das einzelne hin­aus auf verwandte Gegenstände, in denen sie auf ähnliche Weise zur Erscheinung kommt. Der philosophierende Be­obachter hält diesen ideellen Bestandteil fest und bringt ihn in seinen Gedankenwerken unmittelbar zum Ausdrucke. Auch auf den Künstler wirkt dieses Ideelle. Aber es treibt ihn ein Werk zu gestalten, in dem die Idee nicht bloß wie in einem Naturwerke wirkt, sondern zur gegenwärtigen Erscheinung wird. Was in dem Naturwerke bloß ideell ist und sich dem geistigen Auge des Beobachters enthüllt, das wird in dem Kunstwerke real, wird wahrnehmbare Wirklichkeit. Der Künstler verwirklicht die Ideen der Natur. Er braucht sich aber diese nicht in Form der Ideen zum Bewußtsein zu bringen. Wenn er ein Ding oder ein Ereignis betrachtet, so gestaltet sich in seinem Geiste unmittelbar ein anderes, das in realer Erscheinung enthält, was jene nur als Idee. Der Künstler liefert Bilder der Naturwerke, welche deren Ideengehalt in einen Wahrnehmungsgehalt umsetzen. Der Philo­soph zeigt, wie sich die Natur der denkenden Betrachtung darstellt; der Künstler zeigt, wie die Natur aussehen würde, wenn sie ihre wirkenden Kräfte nicht bloß dem Denken, sondern auch der Wahrnehmung offen entgegenbrächte. Es ist eine und dieselbe Wahrheit, die der Philosoph in Form des Gedankens, der Künstler in Form des Bildes darstellt.

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Beide unterscheiden sich nur durch ihre Ausdrucksmittel. Die Einsicht in das wahre Verhältnis von Idee und Erfah­rung, die sich Goethe in Italien angeeignet hat, ist nur die Frucht aus dem Samen, der in seiner Naturanlage verborgen war. Die italienische Reise brachte ihm jene Sonnenwärme, die geeignet war, den Samen zur Reife zu bringen. In dem Aufsatz «Die Natur», der 1782 im Tiefurter Journal er­schienen ist, und der Goethe zum Urheber hat (vgl. meinen Nachweis von Goethes Urheberschaft im VII. Bande der Schriften der Goethe-Gesellschaft), finden sich schon die Keime der späteren Goetheschen Weltanschauung. Was hier dunkle Empfindung ist, wird später klarer deutlicher Gedanke. «Natur! Wir sind von ihr umgeben und um­schlungen - unvermögend, aus ihr herauszutreten, und un­vermögend, tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen... Gedacht hat sie (die Natur) und sinnt be­ständig; aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur... Sie hat keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und Herzen, durch die sie fühlt und spricht... Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist und falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst! -» Als Goethe diese Sätze niederschrieb, war ihm noch nicht klar, wie die Natur durch den Menschen ihre ideelle Wesenheit aus­spricht; daß es aber die Stimme des Geistes der Natur ist, die im Geiste des Menschen ertönt, das fühlte er.

In Italien fand Goethe die geistige Atmosphäre, in der sich seine Erkenntnisorgane ausbilden konnten, wie sie es ihren

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Anlagen gemäß mußten, wenn er zur vollen Befriedigung kommen sollte. In Rom hat er «über Kunst und ihre theo­retischen Forderungen mit Moritz viel verhandelt »; auf der Reise hat sich in ihm bei Beobachtung der Pflanzenmeta­morphose eine naturgemäße Methode ausgebildet, die sich später für die Erkenntnis der ganzen organischen Natur fruchtbar erwiesen hat. «Denn als die Vegetation mir Schritt für Schritt ihr Verfahren vorbildete, konnte ich nicht irren, sondern mußte, indem ich sie gewähren ließ, die Wege und Mittel anerkennen, wie sie den eingehülltesten Zustand zur Vollendung nach und nach zu beför­dern weiß.» Wenige Jahre nach seiner Rückkehr aus Italien gelang es ihm, auch für die Betrachtung der unorganischen Natur ein aus seinen geistigen Bedürfnissen geborenes Ver­fahren zu finden. «Bei physischen Untersuchungen drängte sich mir die Überzeugung auf, daß, bei aller Betrachtung der Gegenstände, die höchste Pflicht sei, jede Bedingung, unter welcher ein Phänomen erscheint, genau aufzusuchen und nach möglichster Vollständigkeit der Phänomene zu trachten: weil sie doch zuletzt sich aneinanderzureihen, oder vielmehr übereinanderzugreifen genötigt werden, und vor dem Anschauen des Forschers auch eine Art Organi­sation bilden, ihr inneres Gesamtleben manifestieren müs­sen.»

Goethe fand nirgends Aufklärung. Er mußte sich selbst aufklären. Er suchte den Grund dafür und glaubte ihn darin zu finden, daß er für Philosophie im eigentlichen Sinne kein Organ hätte. Er ist aber darin zu suchen, daß die einseitig erfaßte platonische Denkweise, die alle ihm zugänglichen Philosophien beherrschte, seiner gesunden Naturanlage widersprach. In seiner Jugend hatte er sich wiederholt an

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Spinoza gewandt. Er gesteht sogar, daß dieser Philosoph auf ihn immer eine «friedliche Wirkung» hervorgebracht habe. Diese beruht darauf, daß Spinoza das Weltall als eine große Einheit ansieht, und alles Einzelne mit Notwendig­keit aus dem Ganzen hervorgehend sich denkt. Wenn sich Goethe aber auf den Inhalt der Spinozistischen Philosophie einließ, so fühlte er doch, daß dieser ihm fremd blieb. «Den­ke man aber nicht, daß ich seine Schriften hätte unterschrei­ben und mich dazu buchstäblich bekennen mögen. Denn, daß niemand den andern versteht, daß keiner bei denselben Worten dasselbe, was der andere, denkt, daß ein Gespräch, eine Lektüre bei verschiedenen Personen verschiedene Ge­dankenfolgen aufregt, hatte ich schon allzu deutlich einge­sehen, und man wird dem Verfasser von Werther und Faust wohl zutrauen, daß er, von solchen Mißverständnissen tief durchdrungen, nicht selbst den Dünkel gehegt, einen Mann vollkommen zu verstehen, der als Schüler von Descartes, durch mathematische und rabbinische Kultur sich zu dem Gipfel des Denkens hervorgehoben; der bis auf den heu­tigen Tag noch das Ziel aller spekulativen Bemühungen zu sein scheint.» Nicht der Umstand, daß Spinoza durch Descartes geschult worden ist, auch nicht der, daß er durch mathematische und rabbinische Kultur sich zu dem Gipfel des Denkens erhoben hat, machte ihn für Goethe zu einem Element, an das er sich doch nicht ganz hingeben konnte, sondern seine wirklichkeitsfremde, rein logische Art, die Erkenntnis zu behandeln. Goethe konnte sich dem reinen erfahrungsfreien Denken nicht hingeben, weil er es nicht zu trennen vermochte von der Gesamtheit des Wirklichen. Er wollte nicht einen Gedanken bloß logisch an den andern angliedern. Vielmehr erschien ihm eine solche Gedankentätigkeit

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von der wahren Wirklichkeit abzulenken. Er mußte den Geist in die Erfahrung versenken, um zu den Ideen zu kommen. Die Wechselwirkung von Idee und Wahrnehmung war ihm ein geistiges Atemholen. «Durch die Pendelschläge wird die Zeit, durch die Wechselbewe­gung von Idee und Erfahrung die sittliche und wissenschaft­liche Welt regiert.» Im Sinne dieses Satzes die Welt und ihre Erscheinungen zu betrachten, schien Goethe naturgemäß. Denn für ihn gab es keinen Zweifel darüber, daß die Natur dasselbe Verfahren beobachtet: daß sie « eine Entwicklung aus einem lebendigen geheimnisvollen Ganzen» zu den mannigfaltigen besonderen Erscheinungen hin ist, die den Raum und die Zeit erfüllen. Das geheimnisvolle Ganze ist die Welt der Idee. «Die Idee ist ewig und einzig; daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgetan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee; Begriffe sprechen wir aus, und insofern ist die Idee selbst ein Begriff.» Das Schaffen der Natur geht aus dem Ganzen, das ideeller Art ist, ins Einzel­ne, das als Reelles der Wahrnehmung gegeben ist. Deshalb soll der Beobachter: «das Ideelle im Reellen anerkennen und sein jeweiliges Mißbehagen mit dem Endlichen durch Erhebung ins Unendliche beschwichtigen». Goethe ist überzeugt davon, daß «die Natur nach Ideen verfahre, ingleichen, daß der Mensch in allem, was er beginnt, eine Idee verfolge». Wenn es dem Menschen wirklich gelingt, sich zu der Idee zu erheben, und von der Idee aus die Einzel­heiten der Wahrnehmung zu begreifen, so vollbringt er dasselbe, was die Natur vollbringt, indem sie ihre Geschöpfe aus dem geheimnisvollen Ganzen hervorgehen läßt. So­lange der Mensch das Wirken und Schaffen der Idee nicht

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fühlt, bleibt sein Denken von der lebendigen Natur abge­sondert. Er muß das Denken als eine bloß subjektive Tä­tigkeit ansehen, die ein abstraktes Bild von der Natur ent­werfen kann. Sobald er aber fühlt, wie die Idee in seinem Innern lebt und tätig ist, betrachtet er sich und die Natur als ein Ganzes, und was als Subjektives in seinem Innern erscheint, das gilt ihm zugleich als objektiv; er weiß, daß er der Natur nicht mehr als Fremder gegenübersteht, son­dern er fühlt sich verwachsen mit dem Ganzen derselben. Das Subjektive ist objektiv geworden; das Objektive von dem Geiste ganz durchdrungen. Goethe ist der Meinung, der Grundirrtum Kants bestehe darin, daß dieser «das sub­jektive Erkenntnisvermögen nun selbst als Objekt be­trachtet und den Punkt, wo subjektiv und objektiv zusam­mentreffen, zwar scharf aber nicht ganz richtig sondert.» (Sophien-Ausgabe, 2. Abteilung, Bd. XI, S.376.) Das Er­kenntnisvermögen erscheint dem Menschen nur so lange als subjektiv, als er nicht beachtet, daß die Natur selbst es ist, die durch dasselbe spricht. Subjektiv und objektiv tref­fen zusammen, wenn die objektive Ideenwelt im Subjekte auflebt, und in dem Geiste des Menschen dasjenige lebt, was in der Natur selbst tätig ist. Wenn das der Fall ist, dann hört aller Gegensatz von subjektiv und objektiv auf. Dieser Gegensatz hat nur eine Bedeutung, solange der Mensch ihn künstlich aufrecht erhält, solange er die Ideen als seine Ge­danken betrachtet, durch die das Wesen der Natur abge­bildet wird, in denen es aber nicht selbst wirksam ist. Kant und die Kantianer hatten keine Ahnung davon, daß in den Ideen der Vernunft das Wesen, das Ansich der Dinge un­mittelbar erlebt wird. Für sie ist alles Ideelle ein bloß Sub­jektives. Deshalb kamen sie zu der Meinung, das Ideelle

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könne nur dann notwendig gültig sein, wenn auch dasje­nige, auf das es sich bezieht, die Erfahrungswelt, nur sub­jektiv ist. Mit Goethes Anschauungen steht die Kantsche Denkweise in einem scharfen Gegensatz. Es gibt zwar ein­zelne Äußerungen Goethes, in denen er von Kants An­sichten in einer anerkennenden Art spricht. Er erzählt, daß er manchem Gespräch über diese Ansichten beigewohnt habe. «Mit einiger Aufmerksamkeit konnte ich bemerken, daß die alte Hauptfrage sich erneuere, wieviel unser Selbst und wieviel die Außenwelt zu unserm geistigen Dasein beitrage. Ich hatte beide niemals gesondert, und wenn ich nach mei­ner Weise über Gegenstände philosophierte, so tat ich es mit unbewußter Naivität und glaubte wirklich, ich sähe meine Meinungen vor Augen. Sobald aber jener Streit zur Sprache kam, mochte ich mich gern auf diejenige Seite stel­len, welche dem Menschen am meisten Ehre macht, und gab allen Freunden vollkommen Beifall, die mit Kant behaup­teten: wenn gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung angehe, so entspringe sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung.» Die Idee stammt auch, nach Goethes An­sicht, nicht aus dem Teile der Erfahrung, welcher der blo­ßen Wahrnehmung durch die Sinne des Menschen sich dar­bietet. Die Vernunft, die Phantasie müssen sich betätigen, müssen in das Innere der Wesen dringen, um sich der ide­ellen Elemente des Daseins zu bemächtigen. Insofern hat der Geist des Menschen Anteil an dem Zustandekommen der Erkenntnis. Goethe meint, es mache dem Menschen Ehre, daß in seinem Geiste die höhere Wirklichkeit, die den Sinnen nicht zugänglich ist, zur Erscheinung komme; Kant dagegen spricht der Erfahrungswelt den Charakter der höheren Wirklichkeit ab, weil sie Bestandteile enthält, die

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aus dem Geiste stammen. Nur wenn er die Kantschen Sätze erst im Sinne seiner Weltanschauung umdeutete, konnte Goethe sich zustimmend zu ihnen verhalten. Die Grund­lagen der Kantschen Denkweise widersprechen Goethes Wesen aufs schärfste. Wenn dieser den Widerspruch nicht scharf genug betonte, so liegt das wohl nur darin, daß er sich auf diese Grundlagen nicht einließ, weil sie ihm zu fremd waren. «Der Eingang (der Kritik der reinen Ver­nunft) war es, der mir gefiel, ins Labyrinth selbst konnte ich mich nicht wagen: bald hinderte mich die Dichtungs­gabe, bald der Menschenverstand, und ich fühlte mich nir­gends gebessert.» Über seine Gespräche mit den Kantianern mußte sich Goethe eingestehen: «Sie hörten mich wohl, konnten mir aber nichts erwidern, noch irgend förder­lich sein. Mehr als einmal begegnete es mir, daß einer oder der andere mit lächelnder Verwunderung zugestand: es sei freilich ein Analogon Kantscher Vorstellungsart, aber ein seltsames.» Es war, wie ich gezeigt, auch kein Analogon, sondern das entschiedenste Gegenteil der Kantschen Vor­stellungsart.

Es ist interessant zu sehen, wie Schiller sich über den Ge­gensatz der Goetheschen Denkweise und seiner eigenen auf­zuklären sucht. Er empfindet das Ursprüngliche und Freie der Goetheschen Weltanschauung. Aber er kann die ein­seitig erfaßten platonischen Gedankenelemente aus seinem eigenen Geiste nicht entfernen. Er kann sich nicht zu der Einsicht erheben, daß Idee und Wahrnehmung in der Wirklichkeit nicht getrennt vorhanden sind, sondern nur künstlich von dem durch falsch gelenkte Ideenrichtung ver­führten Verstand getrennt gedacht werden. Deshalb stellt er

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der Goetheschen Geistesart, die er als eine intuitive bezeich­net, die eigene als spekulative gegenüber und behauptet, daß beide, wenn sie nur kraftvoll genug wirken, zu einem gleichen Ziele führen müssen. Von dem intuitiven Geiste nimmt Schiller an, daß er sich an das Empirische, Individu­elle halte und von da aus zu dem Gesetze, zu der Idee aufsteige. Falls ein solcher Geist genialisch ist, wird er in dem Empirischen das Notwendige, in dem Individuellen die Gattung erkennen. Der spekulative Geist dagegen soll den umgekehrten Weg machen. Ihm soll zuerst das Gesetz, die Idee gegeben sein, und von ihr soll er zum Empirischen und Individuellen herabsteigen. Ist ein solcher Geist genialisch, so wird er zwar immer nur Gattungen im Auge haben, aber mit der Möglichkeit des Lebens und mit gegründeter Be­ziehung auf wirkliche Objekte. Die Annahme einer beson­deren Geistesart, der spekulativen gegenüber der intuitiven, beruht auf dem Glauben, daß der Ideenwelt ein abgesonder­tes ,von der Wahrnehmungswelt getrenntes Dasein zukom­me. Wäre dies der Fall, dann könnte es einen Weg geben, auf dem der Inhalt der Ideen über die Dinge der Wahrnehmung in den Geist käme, auch wenn ihn dieser nicht in der Erfah­rung aufsuchte. Ist aber die Ideenwelt mit der Erfahrungs­wirklichkeit untrennbar verbunden, sind beide nur als ein Ganzes vorhanden, so kann es nur eine intuitive Erkenntnis, die in der Erfahrung die Idee aufsucht und mit dem Indivi­duellen zugleich die Gattung erfaßt, geben. In Wahrheit gibt es auch keinen rein spekulativen Geist im Sinne Schil­lers. Denn die Gattungen existieren nur innerhalb der Sphäre, der auch die Individuen angehören; und der Geist kann sie anderswo gar nicht finden. Hat ein sogenannter spekulativer Geist wirklich Gattungsideen, so stammen

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diese aus der Beobachtung der wirklichen Welt. Wenn das lebendige Gefühl für diesen Ursprung, für den notwendi­gen Zusammenhang des Gattungsmäßigen mit dem Indi­viduellen verloren geht, dann entsteht die Meinung, solche Ideen können in der Vernunft auch ohne Erfahrung ent­stehen. Die Bekenner dieser Meinung bezeichnen eine Sum­me von abstrakten Gattungsideen als Inhalt der reinen Ver­nunft, weil sie die Fäden nicht sehen, mit denen diese Ideen an die Erfahrung gebunden sind. Eine solche Täuschung ist am leichtesten bei den allgemeinsten, umfassendsten Ideen möglich. Da solche Ideen weite Gebiete der Wirklichkeit umspannen, so ist in ihnen manches ausgetilgt oder abge­blaßt, was den zu diesem Gebiete gehörigen Individuali­täten zukommt. Man kann eine Anzahl solcher allgemeiner Ideen durch Überlieferung in sich aufnehmen und dann glauben, sie seien dem Menschen angeboren, oder man habe sie aus der reinen Vernunft herausgesponnen. Ein Geist, der einem solchen Glauben verfällt, kann sich als spekulativ ansehen. Er wird aus seiner Ideenwelt aber nie mehr herausholen können, als diejenigen hineingelegt ha­ben, von denen er sie überliefert erhalten hat. Wenn Schiller meint, daß der spekulative Geist, wenn er genialisch ist, «zwar immer nur Gattungen, aber mit der Möglichkeit des Lebens und mit gegründeter Beziehung auf wirkliche Ob­jekte» erzeugt (vgl. Schillers Brief an Goethe vom 23. Au­gust. 1794), so ist er im Irrtum. Ein wirklich spekulativer Geist, der nur in Gattungsbegriffen lebte, könnte in seiner Ideenwelt keine andere gegründete Beziehung zur Wirk­lichkeit finden, als diejenige, die schon in ihr liegt. Ein Geist, der Beziehungen zur Wirklichkeit der Natur hat und sich dennoch als spekulativ bezeichnet, ist in einer Täuschung

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über seine eigene Wesenheit befangen. Diese Täuschung kann ihn dazu verführen, seine Beziehungen zur Wirklich­keit, zum unmittelbaren Leben zu vernachlässigen. Er wird glauben, der unmittelbaren Beobachtung entraten zu kön­nen, weil er andere Quellen der Wahrheit zu haben meint. Die Folge davon ist immer, daß die Ideenwelt eines solchen Geistes einen matten abgeblaßten Charakter trägt. Die fri­schen Farben des Lebens werden seinen Gedanken fehlen. Wer im Bunde mit der Wirklichkeit leben will, wird aus einer solchen Gedankenwelt nicht viel gewinnen können. Nicht als eine Geistesart, die neben der intuitiven als gleich­berechtigt anzusehen ist, kann die spekulative gelten, son­dern als eine verkümmerte, an Leben verarmte Denkart. Der intuitive Geist hat es nicht bloß mit Individuen zu tun, er sucht nicht in dem Empirischen den Charakter der Not­wendigkeit auf. Sondern wenn er sich der Natur zuwendet, vereinigen sich bei ihm Wahrnehmung und Idee unmittel­bar zu einer Einheit. Beide werden ineinander geschaut und als Ganzheit empfunden. Er kann zu den allgemeinsten Wahrheiten, zu den höchsten Abstraktionen aufsteigen: das unmittelbar wirkliche Leben wird in seiner Gedanken­welt immer zu erkennen sein. Solcher Art war Goethes Denken. Heinroth hat in seiner Anthropologie ein treff­liches Wort über dieses Denken gesprochen, das Goethe im höchsten Grade gefiel, weil es ihn über seine Natur aufklärte. «Herr Dr. Heinroth ... spricht von meinem Wesen und Wirken günstig, ja er bezeichnet meine Verfahrungsart als eine eigentümliche: daß nämlich mein Denkvermögen gegenständlich tätig sei, womit er aussprechen will, daß mein Denken sich von den Gegenständen nicht sondere; daß die Elemente der Gegenstände, die Anschauungen in dasselbe

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eingehen und von ihm auf das innigste durchdrungen wer­den; daß mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei.» Im Grunde schildert Heinroth nichts als die Art, wie sich jedes gesunde Denken zu den Gegen­ständen verhält. Jede andere Verfahrungsart ist eine Abir­rung von dem naturgemäßen Wege. Wenn in einem Men­schen die Anschauung überwiegt, dann bleibt er an dem Individuellen hängen; er kann nicht in die tieferen Gründe der Wirklichkeit eindringen; wenn das abstrakte Denken in ihm überwiegt, dann erscheinen seine Begriffe unzureichend, um die lebendige Fülle des Wirklichen zu verstehen. Das Extrem der ersten Abirrung stellt den rohen Empiriker dar, der mit den individuellen Tatsachen sich begnügt; das Ex­trem der andern Abirrung ist in dem Philosophen gegeben, der die reine Vernunft anbetet und der nur denkt, ohne ein Gefühl davon zu haben, daß Gedanken ihrem Wesen nach an Anschauung gebunden sind. In einem schönen Bilde schildert Goethe das Gefühl des Denkers, der zu den höch­sten Wahrheiten aufsteigt, ohne die Empfindung für die lebendige Erfahrung zu verlieren. Er schreibt im Anfang des Jahres 1784 einen Aufsatz über den Granit. Er versetzt sich auf einen aus diesem Gestein bestehenden Gipfel, wo er sich sagen kann: «Hier ruhst du unmittelbar auf einem Grunde, der bis zu den tiefsten Orten der Erde hinreicht, keine neuere Schicht, keine aufgehäuften, zusammenge­schwemmten Trümmer haben sich zwischen dich und den festen Boden der Urwelt gelegt, du gehst nicht wie in jenen fruchtbaren Tälern über ein anhaltendes Grab, diese Gipfel haben nichts Lebendiges erzeugt und nichts Lebendiges verschlungen, sie sind vor allem Leben und über alles Le­ben. In diesem Augenblicke, da die innern anziehenden und

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bewegenden Kräfte der Erde gleichsam unmittelbar auf mich wirken, da die Einflüsse des Himmels mich näher umschweben, werde ich zu höheren Betrachtungen der Natur hinaufgestimmt, und wie der Menschengeist alles belebt, so wird auch ein Gleichnis in mir rege, dessen Erhabenheit ich nicht widerstehen kann. So einsam, sage ich zu mir selber, indem ich diesen ganz nackten Gipfel hinabsehe und kaum in der Ferne am Fuße ein gering wachsendes Moos erblickte, so einsam, sage ich, wird es dem Menschen zumute, der nur den ältesten, ersten, tiefsten Gefühlen der Wahrheit seine Seele eröffnen will. Ja, er kann zu sich sagen: Hier, auf dem älte­sten, ewigen Altare, der unmittelbar auf die Tiefe der Schöp­fung gebaut ist, bring ich dem Wesen aller Wesen ein Opfer. Ich fühle die ersten, festesten Anfänge unsers Daseins; ich überschaue die Welt, ihre schrofferen und gelinderen Täler und ihre fernen fruchtbaren Weiden, meine Seele wird über sich selbst und über alles erhaben und sehnt sich nach dem nähern Himmel. Aber bald ruft die brennende Sonne Durst und Hunger, seine menschlichen Bedürfnisse, zurück. Er sieht sich nach jenen Tälern um, über die sich sein Geist schon hinausschwang.» Solchen Enthusiasmus der Erkenntnis, solche Empfindungen für die ältesten, festen Wahrheiten kann nur derjenige in sich entwickeln, der immer und im­mer wieder aus den Regionen der Ideenwelt den Weg zu­rückfindet zu den unmittelbaren Anschauungen.

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PERSÖNLICHKEIT UND WELTANSCHAUUNG

Die Außenseite der Natur lernt der Mensch durch die Anschauung kennen; ihre tiefer liegenden Triebkräfte enthül­len sich in seinem eigenen Innern als subjektive Erlebnisse. In der philosophischen Weltbetrachtung und im künstle­rischen Empfinden und Hervorbringen durchdringen die subjektiven Erlebnisse die objektiven Anschauungen. Das wird wieder ein Ganzes, Was sich in zwei Teile spalten muß­te, um in den menschlichen Geist einzudringen. Der Mensch befriedigt seine höchsten geistigen Bedürfnisse, wenn er der objektiv angeschauten Welt einverleibt, was sie in sei­nem Innern ihm als ihre tieferen Geheimnisse offenbart. Erkenntnisse und Kunsterzeugnisse sind nichts anderes, als von menschlichen inneren Erlebnissen erfüllte Anschau­ungen. In dem einfachsten Urteile über ein Ding oder Er­eignis der Außenwelt können ein menschliches Seelener­lebnis und eine äußere Anschauung im innigen Bunde mit­einander gefunden werden. Wenn ich sage: ein Körper stößt den andern, so habe ich bereits ein inneres Erlebnis auf die Außenwelt übertragen. Ich sehe einen Körper in Be­wegung; er trifft auf einen andern; dieser kommt infolge­dessen auch in Bewegung. Mit diesen Worten ist der Inhalt der Wahrnehmung erschöpft. Ich bin aber dabei nicht be­ruhigt. Denn ich fühle: es ist in der ganzen Erscheinung noch mehr vorhanden, als was die bloße Wahrnehmung lie­fert. Ich greife nach einem inneren Erlebnis, das mich über die Wahrnehmung aufklärt. Ich weiß, daß ich selbst durch Anwendung von Kraft, durch Stoßen, einen Körper in Be­wegung versetzen kann. Dieses Erlebnis übertrage ich auf die Erscheinung und sage: der eine Körper stößt den andern.

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«Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist» (Goethe, Sprüche in Prosa. Kürschner Band 36,2,

S. 353). Es gibt Menschen, die aus dem Vorhanden­sein dieses subjektiven Bestandteiles in jedem Urteile über die Außenwelt die Folgerung ziehen, daß der ob­jektive Wesenskern der Wirklichkeit dem Menschen un­zugänglich sei. Sie glauben, der Mensch verfälsche den un­mittelbaren, objektiven Tatbestand der Wirklichkeit, wenn er seine subjektiven Erlebnisse in diese hineinlegt. Sie sagen:

weil der Mensch sich die Welt nur durch die Brille seines subjektiven Lebens vorstellen kann, ist alle seine Erkennt­nis nur eine subjektive, beschränkt-menschliche. Wem es aber zum Bewußtsein kommt, was im Innern des Menschen sich offenbart, der wird nichts mit solchen unfruchtbaren Behauptungen zu tun haben wollen. Er weiß, daß Wahrheit eben dadurch zustande kommt, daß Wahrnehmung und Idee sich im menschlichen Erkentnisprozeß durchdringen. Ihm ist klar, daß in dem Subjektiven das eigentlichste und tiefste Objektive lebt. «Wenn die gesunde Natur des Men­schen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Ent­zücken gewährt, dann würde das Weltal4 wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern.» (Kürschner, Band 27, S. 42.) Die der bloßen Anschauung zugängliche Wirklichkeit ist nur die eine Hälfte der ganzen Wirklichkeit; der Inhalt des menschlichen Geistes ist die andere Hälfte. Träte nie ein Mensch der Welt gegenüber, so käme diese zweite Hälfte nie zur lebendigen Erscheinung, zum vollen Dasein. Sie wirkte zwar als verborgene Kräftewelt; aber es

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wäre ihr die Möglichkeit entzogen, sich in einer eigenen Gestalt zu zeigen. Man möchte sagen, ohne den Menschen würde die Welt ein unwahres Antlitz zeigen. Sie wäre so, wie sie ist, durch ihre tieferen Kräfte, aber diese tieferen Kräfte blieben selbst verhüllt durch das, was sie wirken. Im Menschengeiste werden sie aus ihrer Verzauberung er­löst. Der Mensch ist nicht bloß dazu da, um sich von der fertigen Welt ein Bild zu machen; nein, er wirkt selbst mit an dem Zustandekommen dieser Welt.

Verschieden gestalten sich die subjektiven Erlebnisse bei verschiedenen Menschen. Für diejenigen, welche nicht an die objektive Natur der Innenwelt glauben, ist das ein Grund mehr, dem Menschen das Vermögen abzusprechen, in das Wesen der Dinge zu dringen. Denn wie kann Wesen der Dinge sein, was dem einen so, dem andern anders er­scheint. Für denjenigen, der die wahre Natur der Innenwelt durchschaut, folgt aus der Verschiedenheit der Innenerleb­nisse nur, daß die Natur ihren reichen Inhalt auf verschie­dene Weise aussprechen kann. Dem einzelnen Menschen er­scheint die Wahrheit in einem individuellen Kleide. Sie paßt sich der Eigenart seiner Persönlichkeit an. Besonders für die höchsten, dem Menschen wichtigsten Wahrheiten gilt dies. Um sie zu gewinnen, überträgt der Mensch seine geistigen, intimsten Erlebnisse auf die angeschaute Welt und mit ihnen zugleich das Eigenartigste seiner Persönlich­keit. Es gibt auch allgemeingültige Wahrheiten, die jeder Mensch aufnimmt, ohne ihnen eine individuelle Färbung zu geben. Dies sind aber die oberflächlichsten, die trivialsten. Sie entsprechen dem allgemeinen Gattungscharakter der

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Menschen, der bei allen der gleiche ist. Gewisse Eigen­schaften, die in allen Menschen gleich sind, erzeugen über die Dinge auch gleiche Urteile. Die Art, wie die Menschen die Dinge nach Maß und Zahl ansehen, ist bei allen gleich. Daher finden alle die gleichen mathematischen Wahrheiten. In den Eigenschaften aber, in denen sich die Einzelpersön­lichkeit von dem allgemeinen Gattungscharakter abhebt, liegt auch der Grund zu den individuellen Ausgestaltungen der Wahrheit. Nicht darauf kommt es an, daß in dem einen Menschen die Wahrheit anders erscheint als in dem andern, sondern darauf, daß alle zum Vorschein kommenden indi­viduellen Gestalten einem einzigen Ganzen angehören, der einheitlichen ideellen Welt. Die Wahrheit spricht im Innern der einzelnen Menschen verschiedene Sprachen und Dia­lekte; in jedem großen Menschen spricht sie eine eigene Sprache, die nur dieser einen Persönlichkeit zukommt. Aber es ist immer die eine Wahrheit, die da spricht. «Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahr­heit haben, und es ist doch immer dieselbige.» Dies ist Goe­thes Meinung. Nicht ein starres, totes Begriffssystem ist die Wahrheit, das nur einer einzigen Gestalt fähig ist; sie ist ein lebendiges Meer, in welchem der Geist des Menschen lebt, und das Wellen der verschiedensten Gestalt an seiner Oberfläche zeigen kann. «Die Theorie an und für sich ist nichts nütze, als insofern sie uns an den Zusammenhang der Er­scheinungen glauben macht», sagt Goethe. Er schätzt keine Theorie, die ein für allemal abgeschlossen sein will, und in dieser Gestalt eine ewige Wahrheit darstellen soll. Er will lebendige Begriffe, durch die der Geist des einzelnen nach seiner individuellen Eigenart die Anschauungen zusammenfaßt.

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Die Wahrheit erkennen heißt ihm in der Wahrheit leben. Und in der Wahrheit leben ist nichts anderes, als bei der Be­trachtung jedes einzelnen Dinges hinzusehen, welches in­nere Erlebnis sich einstellt, wenn man diesem Dinge gegen­übersteht. Eine solche Ansicht von dem menschlichen Er­kennen kann nicht von Grenzen des Wissens, nicht von einer Eingeschränktheit desselben durch die Natur des Menschen sprechen. Denn die Fragen, die sich nach dieser Ansicht das Erkennen vorlegt, entspringen nicht aus den Dingen; sie sind dem Menschen auch nicht von irgend einer andern außerhalb seiner Persönlichkeit gelegenen Macht auferlegt. Sie entspringen aus der Natur der Persönlichkeit selbst. Wenn der Mensch den Blick auf ein Ding richtet, dann ent­steht in ihm der Drang, mehr zu sehen, als ihm in der Wahr­nehmung entgegentritt. Und so weit dieser Drang reicht, so weit reicht sein Erkenntnisbedürfnis. Woher stammt dieser Drang? Doch nur davon, daß ein inneres Erlebnis sich in der Seele angeregt fühlt, mit der Wahrnehmung eine Verbindung einzugehen. Sobald die Verbindung vollzo­gen ist, ist auch das Erkenntnisbedürfnis befriedigt. Erken­nen wollen ist eine Forderung der menschlichen Natur und nicht der Dinge. Diese können dem Menschen nicht mehr über ihr Wesen sagen, als er ihnen abfordert. Wer von einer Beschränktheit des Erkenntnisvermögens spricht, der weiß nicht, woher das Erkenntnisbedürfnis stammt. Er glaubt, der Inhalt der Wahrheit liege irgendwo aufbewahrt, und in dem Menschen lebe nur der unbestimmte Wunsch, den Zugang zu dem Aufbewahrungsorte zu finden. Aber es ist das Wesen der Dinge selbst, das sich aus dem Innern des Menschen herausarbeitet und dahin strebt, wohin es gehört: zu der Wahrnehmung. Nicht nach einem Verbor­genen

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strebt der Mensch im Erkenntnisprozeß, sondern nach der Ausgleichung zweier Kräfte, die von zwei Seiten auf ihn wirken. Man kann wohl sagen, ohne den Menschen gäbe es keine Erkenntnis des Innern der Dinge, denn ohne ihn wäre nichts da, wodurch dieses Innere sich aussprechen könnte. Aber man kann nicht sagen, es gibt im Innern der Dinge etwas, das dem Menschen unzugänglich ist. Daß an den Dingen noch etwas anderes vorhanden ist, als was die Wahrnehmung liefert, weiß der Mensch nur, weil dieses andere in seinem eigenen Innern lebt. Von einem weiteren unbekannten Etwas der Dinge sprechen, heißt Worte über etwas machen, was nicht vorhanden ist.

*

Die Naturen, die nicht zu erkennen vermögen, daß es die Sprache der Dinge ist, die im Innern des Menschen gespro­chen wird, sind der Ansicht, alle Wahrheit müsse von außen in den Menschen eindringen. Solche Naturen halten sich entweder an die bloße Wahrnehmung und glauben, allein durch Sehen, Hören, Tasten, durch Auflesung der ge­schichtlichen Vorkommnisse und durch Vergleichen, Zäh­len, Rechnen, Wägen des aus der Tatsachenwelt Aufge­nommenen die Wahrheit erkennen zu können; oder sie sind der Ansicht, daß die Wahrheit nur zu dem Menschen kommen könne, wenn sie ihm auf eine außerhalb des Er­kennens gelegene Art offenbart werde, oder endlich, sie wollen durch Kräfte besonderer Natur, durch Ekstase oder mystisches Schauen in den Besitz der höchsten Einsichten kommen, die ihnen, nach ihrer Ansicht, die dem Denken zu­gängliche Ideenwelt nicht darbieten kann. Den im Kant­schen Sinne Denkenden und den einseitigen Mystikern reihen­

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sich noch besonders geartete Metaphysiker an. Diese suchen zwar durch das Denken sich Begriffe von der Wahr­heit zu bilden. Aber sie suchen den Inhalt für diese Begriffe nicht in der menschlichen Ideenwelt, sondern in einer hinter den Dingen liegenden zweiten Wirklichkeit. Sie meinen, durch reine Begriffe über einen solchen Inhalt entweder etwas Sicheres ausmachen zu können, oder wenigstens durch Hypothesen sich Vorstellungen von ihm bilden zu können. Ich spreche hier zunächst von der zuerst angeführ­ten Art von Menschen, von den Tatsachenfanatikern. Ihnen kommt es zuweilen zum Bewußtsein, daß in dem Zählen und Rechnen bereits eine Verarbeitung des Anschauungs­inhaltes mit Hilfe des Denkens stattfindet. Dann aber sagen sie, die Gedankenarbeit sei bloß das Mittel, durch das der Mensch den Zusammenhang der Tatsachen zu erkennen be­strebt ist. Was aus dem Denken bei Bearbeitung der Außen­welt fließt, gilt ihnen als bloß subjektiv; als objektiven Wahrheitsgehalt, als wertvollen Erkenntnisinhalt sehen sie nur das an, was mit Hilfe des Denkens von außen an sie herankommt. Sie fangen zwar die Tatsachen in ihre Ge­dankennetze ein, lassen aber nur das Eingefangene als ob­jektiv gelten. Sie übersehen, daß dieses Eingefangene durch das Denken eine Auslegung, Zurechtrückung, eine Inter­pretation erfährt, die es in der bloßen Anschauung nicht hat. Die Mathematik ist ein Ergebnis reiner Gedankenpro­zesse, ihr Inhalt ist ein geistiger, subjektiver. Und der Me­chaniker, der die Naturvorgänge in mathematischen Zu­sammenhängen vorstellt, kann dies nur unter der Voraus­setzung, daß diese Zusammenhänge in dem Wesen dieser Vorgänge begründet sind. Das heißt aber nichts anderes als:

in der Anschauung ist eine mathematische Ordnung ver­borgen,

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die nur derjenige sieht, der die mathematischen Gesetze in seinem Geiste ausbildet. Zwischen den mathe­matischen und mechanischen Anschauungen und den in­timsten geistigen Erlebnissen ist aber kein Art-, sondern nur ein Gradunterschied. Und mit demselben Rechte wie die Ergebnisse der mathematischen Forschung kann der Mensch andere innere Erlebnisse, andere Gebiete seiner Ideenwelt auf die Anschauungen übertragen. Nur schein­bar stellt der Tatsachenfanatiker rein äußere Vorgänge fest. Er denkt zumeist über die Ideenwelt und ihren Charakter, als subjektives Erlebnis, nicht nach. Auch sind seine inneren Erlebnisse inhaltsame, blutleere Abstraktionen, die von dem kraftvollen Tatsacheninhalt verdunkelt werden. Die Täuschung, der er sich hingibt, kann nur so lange bestehen, als er auf der untersten Stufe der Naturinterpretation stehen bleibt, solange er bloß zählt, wägt, berechnet. Auf den hö­heren Stufen drängt sich die wahre Natur der Erkenntnis bald auf. Man kann es aber an den Tatsachenfanatikern be­obachten, daß sie sich vorzüglich an die unteren Stufen hal­ten. Sie gleichen dadurch einem Ästhetiker, der ein Musikstück bloß danach beurteilen will, was an ihm berechnet und gezählt werden kann. Sie wollen die Erscheinungen der Natur von dem Menschen absondern. Nichts Subjektives soll in die Beobachtung einfließen. Goethe verurteilt dieses Verfahren mit den Worten: «Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann, und das ist eben das größte Unheil der neueren Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgeson­dert hat, und bloß in dem, was künstliche Instrumente zei­gen, die Natur erkennen, ja, was sie leisten kann, dadurch

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beschränken und beweisen will.» Es ist die Angst vor dem Subjektiven, die zu solcher Verfahrungsweise führt, und die aus einer Verkennung der wahrhaften Natur desselben herrührt. «Dafür steht ja aber der Mensch so hoch, daß sich das sonst Undarstellbare in ihm darstellt. Was ist denn eine Saite und alle mechanische Teilung derselben gegen das Ohr des Musikers? Ja man kann sagen, was sind die elemen­tarischen Erscheinungen der Natur selbst gegen den Men­schen, der sie alle erst bändigen und modifizieren muß, um sie sich einigermaßen assimilieren zu können?» (Kürsch­ner, Band 36, 2, S.351) Nach Goethes Ansicht soll der Naturforscher nicht allein darauf aufmerksam sein, wie die Dinge erscheinen, sondern wie sie erscheinen würden, wenn alles, was in ihnen als ideelle Triebkräfte wirkt, auch wirklich zur äußeren Erscheinung käme. Erst wenn sich der leibliche und geistige Organismus des Men­schen den Erscheinungen gegenüberstellt, dann enthül­len sie ihr Inneres.

Wer mit freiem, offenem Beobachtungsgeist und mit einem entwickelten Innenleben, in dem die Ideen der Dinge sich offenbaren, an die Erscheinungen herantritt, dem ent­hüllen diese, nach Goethes Meinung, alles, was an ihnen ist. Goethes Weltanschauung entgegengesetzt ist daher die­jenige, welche das Wesen der Dinge nicht innerhalb der Er­fahrungswirklichkeit, sondern in einer hinter derselben lie­genden zweiten Wirklichkeit sucht. Ein Bekenner einer sol­chen Weltanschauung trat Goethe in Fr. H. Jacobi entge­gen. Goethe macht seinem Unwillen in einer Bemerkung der Tag- und Jahreshefte (zum Jahre 1811) Luft: « Jacobi machte mir nicht wohl; wie konnte mir das Buch eines so herzlich geliebten Freundes

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willkommen sein, worin ich die These durchgeführt sehen sollte: die Natur verberge Gott. Mußte, bei meiner reinen, tiefen, angebotenen und geübten Anschauungsweise, die mich Gott in der Natur, die Natur in Gott zu sehen unver­brüchlich gelehrt hatte, so daß diese Vorstellungsart den Grund meiner ganzen Existenz machte, mußte nicht ein so seltsamer, einseitig-beschränkter Ausspruch mich dem Geiste nach von dem edelsten Manne, dessen Herz ich verehrend liebte, für ewig entfernen?» Goethes Anschau­ungsweise gibt ihm die Sicherheit, daß er in der ideellen Durchdringung der Natur ein ewig Gesetzmäßiges erlebe, und das ewig Gesetzmäßige ist ihm mit dem Göttlichen identisch. Wenn das Göttliche hinter den Naturdingen sich verbergen würde und doch das schöpferische Element in ihnen bildete, könnte es nicht angeschaut werden; der Mensch müßte an dasselbe glauben. In einem Briefe an Jacobi nimmt Goethe sein Schauen gegenüber dem Glauben in Schutz:

«Gott hat Dich mit der Metaphysik gestraft und dir einen Pfahl ins Fleisch gesetzt, mich mit der Physik gesegnet. Ich halte mich an die Gottesverehrung des Atheisten (Spinoza) und überlasse Euch alles, was ihr Religion heißt und heißen mögt. Du hältst aufs Glauben an Gott; ich aufs Schauen.» Wo dieses Schauen aufhört, da hat der menschliche Geist nichts zu suchen. In den Sprüchen in Prosa lesen wir: «Der Mensch ist wirklich in die Mitte einer wirklichen Welt gesetzt und mit solchen Organen begabt, daß er das Wirkliche und nebenbei das Mögliche erkennen und hervorbringen kann. Alle gesunden Menschen haben die Überzeugung ihres Da­seins und eines Daseienden um sich her. Indessen gibt es auch einen hohlen Fleck im Gehirn, d.h. eine Stelle, wo sich kein Gegenstand ab spiegelt, wie denn auch im Auge selbst

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ein Fleckchen ist, das nicht sieht. Wird der Mensch auf diese Stelle besonders aufmerksam, vertieft er sich darin, so ver­fällt er in eine Geisteskrankheit, ahnet hier Dinge einer andern Welt, die aber eigentlich Undinge sind und weder Gestalt noch Begrenzung haben, sondern als leere Nacht-Räumlichkeit ängstigen und den, der sich nicht losreißt, mehr als gespen­sterhaft verfolgen.» (Kürschner, Band 36, 2, S. 458.) Aus derselben Gesinnung heraus ist der Ausspruch: «Das Höchste wäre, zu begreifen, daß alles Faktische schon Theo­rie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grund­gesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phöno­menen; sie selbst sind die Lehre.»

Kant spricht dem Menschen die Fähigkeit ab, in das Ge­biet der Natur einzudringen, in dem ihre schöpferischen Kräfte unmittelbar anschaulich werden. Nach seiner Mei­nung sind die Begriffe abstrakte Einheiten, in die der menschliche Verstand die mannigfaltigen Einzelheiten der Natur zusammenfaßt, die aber nichts zu tun haben mit der lebendigen Einheit, mit dem schaffenden Ganzen der Natur, aus der diese Einzelheiten wirklich hervorgehen. Der Mensch erlebt in dem Zusammenfassen nur eine subjektive Operation. Er kann seine allgemeinen Begriffe auf die em­pirische Anschauung beziehen; aber diese Begriffe sind nicht in sich lebendig, produktiv, so daß der Mensch das Hervorgehen des Individuellen aus ihnen anschauen könnte. Eine tote, bloß im Menschen vorhandene Einheit sind für Kant die Begriffe. «Unser Verstand ist ein Vermögen der Begriffe, d. i. ein diskursiver Verstand, für den es freilich zufällig sein muß, welcherlei und wie verschieden das Be­sondere sein mag, das ihm in der Natur gegeben werden, und was unter seine Begriffe gebracht werden kann.» Dies

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ist Kants Charakteristik des Verstandes (§ 77 der «Kritik der Urteilskraft»). Aus ihr ergibt sich folgendes mit Notwendig­keit: «Es liegt der Vernunft unendlich viel daran, den Mechanismus der Natur in ihren Erzeugungen nicht fallen zu lassen und in der Erklärung derselben nicht vorbei zu gehen. weil ohne diesen keine Einsicht in die Natur der Dinge er­langt werden kann. Wenn man uns gleich einräumt: daß ein höchster Architekt die Formen der Natur, so wie sie von je her da sind, unmittelbar geschaffen, oder die, so sich in ihrem Laufe kontinuierlich nach eben demselben Muster bilden, prädeterminiert habe, so ist doch dadurch unsere Erkenntnis der Natur nicht im mindesten gefördert; weil wir jenes Wesens Handlungsart und die Ideen desselben, welche die Prinzipien der Möglichkeit der Naturwesen enthalten sol­len, gar nicht kennen, und von demselben als von oben herab (apriori) die Natur nicht erklären können» (§ 78 der «Kri­tik der Urteilskraft»). Goethe ist der Überzeugung, daß der Mensch in seiner Ideenwelt die Handlungsart des schöpfe­rischen Naturwesens unmittelbar erlebt. «Wenn wir ja im Sittlichen, durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterb­lichkeit uns in eine obere Region erheben und an das erste Wesen annähern sollen: so dürfte es wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten.» Ein wirkliches Hineinleben in das Schaffen und Walten der Natur ist für Goethe die Erkenntnis des Menschen. Ihr ist es gegeben: «zu erforschen, zu erfahren, wie Natur im Schaffen lebt.»

Es widerspricht dem Geist der Goetheschen Weltanschau­ung, von Wesenheiten zu sprechen, die außerhalb der dem menschlichen Geiste zugänglichen Erfahrungs- und Ideenwelt

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liegen und die doch die Gründe dieser Welt enthalten sollen. Alle Metaphysik wird von dieser Weltanschauung ab­gelehnt. Es gibt keine Fragen der Erkenntnis, die, richtig ge­stellt, nicht auch beantwortet werden können. Wenn die Wis­senschaft zu irgend einer Zeit über ein gewisses Erschei­nungsgebiet nichts ausmachen kann, so liegt das nicht an der Natur des menschlichen Geistes, sondern an dem zufälligen Umstande, daß die Erfahrung über dieses Gebiet zu dieser Zeit noch nicht vollständig vorliegt. Hypothesen können nicht über Dinge aufgestellt werden, die außerhalb des Ge­bietes möglicher Erfahrung liegen, sondern nur über solche, die einmal in dieses Gebiet eintreten können. Eine Hypo­these kann immer nur besagen: es ist wahrscheinlich, daß innerhalb eines Erscheinungsgebietes diese oder jene Er­fahrung gemacht werden wird. Über die Dinge und Vor­gänge, die nicht innerhalb der menschlichen sinnlichen oder geistigen Anschauung liegen, kann innerhalb dieser Den­kungsart gar nicht gesprochen werden. Die Annahme eines «Dinges an sich», das die Wahrnehmungen in dem Men­schen bewirkt, aber nie selbst wahrgenommen werden kann, ist eine unstatthafte Hypothese. «Hypothesen sind Ge­rüste, die man vor dem Gebäude aufführt, und die man abträgt, wenn das Gebäude fertig ist; sie sind dem Arbeiter unentbehrlich; nur muß er das Gerüste nicht für das Ge­bäude ansehen.» Einem Erscheinungsgebiete gegenüber, für das alle Wahrnehmungen vorliegen und das ideell durch­drungen ist, erklärt sich der menschliche Geist befriedigt. Er fühlt, daß sich in ihm ein lebendiges Zusammenklingen von Idee und Wahrnehmung abspielt.

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Die befriedigende Grundstimmung, die Goethes Weltan­schauung für ihn hat, ist derjenigen ähnlich, die man bei den Mystikern beobachten kann. Die Mystik geht darauf aus, in der menschlichen Seele den Urgrund der Dinge, die Gottheit zu finden. Der Mystiker ist gerade so wie Goethe davon überzeugt, daß ihm in inneren Erlebnissen das We­sen der Welt offenbar werde. Nur gilt manchem Mystiker die Versenkung in die Ideenwelt nicht als das innere Erleb­nis, auf das es ihm ankommt. Über die klaren Ideen der Ver­nunft hat mancher einseitige Mystiker ungefähr dieselbe Ansicht wie Kant. Sie stehen für ihn außerhalb des schaf­fenden Ganzen der Natur und gehören nur dem mensch­lichen Verstande an. Ein solcher Mystiker sucht deshalb zu den höchsten Erkenntnissen durch Entwicklung unge­wöhnlicher Zustände, z. B. durch Ekstase, zu einem Schau­en höherer Art zu gelangen. Er tötet die sinnliche Beob­achtung und das vernunftgemäße Denken in sich ab, und sucht sein Gefühlsleben zu steigern. Dann meint er in sich die wirkende Geistigkeit sogar als Gottheit unmittelbar zu fühlen. Er glaubt in Augenblicken, in denen ihm das ge­lingt, Gott lebe in ihm. Eine ähnliche Empfindung ruft auch die Goethesche Weltanschauung in dem hervor, der sich zu ihr bekennt. Nur schöpft sie ihre Erkenntnisse nicht aus Erlebnissen, die nach Ertötung von Beobachtung und Denken eintreten, sondern eben aus diesen beiden Tätig­keiten. Sie flüchtet nicht zu abnormen Zuständen des menschlichen Geisteslebens, sondern sie ist der Ansicht, daß die gewöhnlichen naiven Verfahrungsarten des Geistes einer solchen Vervollkommnung fähig sind, daß der Mensch das Schaffen der Natur in sich erleben kann. «Es sind am Ende doch nur, wie mich dünkt, die praktischen

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und sich selbst rektifizierenden Operationen des gemeinen Menschenverstandes, der sich in einer höheren Sphäre zu üben wagt.» (Vgl. Goethes Werke in der Sophien-Ausgabe. z. Abt., Band II, S. 41) In eine Welt unklarer Empfindun­gen und Gefühle versenkt sich mancher Mystiker; in die klare Ideenwelt versenkt sich Goethe. Die einseitigen My­stiker verachten die Klarheit der Ideen. Sie halten diese Klarheit für oberflächlich. Sie ahnen nicht, was Menschen empfinden, welche die Gabe haben, sich in die belebte Welt der Ideen zu vertiefen. Es friert einen solchen Mystiker, wenn er sich der Ideenwelt hingibt. Er sucht einen Weltinhalt, der Wärme ausströmt. Aber der, welchen er findet, klärt über die Welt nicht auf. Er besteht nur in subjektiven Erregungen, in verworrenen Vorstellungen. Wer von der Kälte der Ideenwelt spricht, der kann Ideen nur denken, nicht erleben. Wer das wahrhafte Leben in der Ideenwelt lebt, der fühlt in sich das Wesen der Welt in einer Wärme wirken, die mit nichts zu vergleichen ist. Er fühlt das Feuer des Weltgeheimnisses in sich auflodern. So hat Goethe empfunden, als ihm die Anschauung der wirkenden Natur in Italien aufging. Damals wußte er, wie jene Sehnsucht zu stillen ist, die er in Frankfurt seinen Faust mit den Worten aussprechen läßt:

Wo faß' ich dich, unendliche Natur?

Euch Brüste, wo? Ihr Quellen alles Lebens,

An denen Himmel und Erde hängt,

Dahin die welke Brust sich drängt...

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DIE METAMORPHOSE DER WELTERSCHEINUNGEN

Den höchsten Grad der Reife erlangte Goethes Weltan­schauung, als ihm die Anschauung der zwei großen Triebräder der Natur: die Bedeutung der Begriffe von Polarität und von Steigerung aufging. (Vgl. den Aufsatz: Erläuterung zu dem Aufsatz «Die Natur». Kürschner Band 34, S. 63 f.) Die Polarität ist den Erscheinungen der Natur eigen, inso­fern wir sie materiell denken. Sie besteht darin, daß sich alles Materielle in zwei entgegengesetzten Zuständen äußert, wie der Magnet in einem Nordpol und einem Südpol. Diese Zustände der Materie liegen entweder offen vor Augen, oder sie schlummern in dem Materiellen und können durch ge­eignete Mittel in demselben erweckt werden. Die Steige­rung kommt den Erscheinungen zu, insofern wir sie geistig denken. Sie kann beobachtet werden bei den Naturvorgän­gen, die unter die Idee der Entwicklung fallen. Auf den ver­schiedenen Stufen der Entwicklung zeigen diese Vorgänge die ihnen zu Grunde liegende Idee mehr oder weniger deut­lich in ihrer äußeren Erscheinung. In der Frucht ist die Idee der Pflanze, das vegetabilische Gesetz, nur undeutlich in der Erscheinung ausgeprägt. Die Idee, die der Geist erkennt, und die Wahrnehmung sind einander unähnlich. «In den Blüten tritt das vegetabilische Gesetz in seine höchste Erscheinung, und die Rose wäre nur wieder der Gipfel der Erscheinung.» In der Herausarbeitung des Geistigen aus dem Materiellen durch die schaffende Natur besteht das, was Goethe Steigerung nennt. Die Natur ist «in immerstre­bendem Aufsteigen» begriffen, heißt, sie sucht Gebilde zu schaffen, die, in aufsteigender Ordnung, die Ideen der Dinge auch in der äußeren Erscheinung immer mehr zur Darstel­lung

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bringen. Goethe ist der Ansicht, daß «die Natur kein Geheimnis habe, was sie nicht irgendwo dem aufmerksa­men Beobachter nackt vor die Augen stellt». Die Natur kann Erscheinungen hervorbringen, von denen sich die Ideen für ein großes Gebiet verwandter Vorgänge unmittelbar able­sen lassen. Es sind die Erscheinungen, in denen die Steige­rung ihr Ziel erreicht hat, in denen die Idee unmittelbare Wahrheit wird. Der schöpferische Geist der Natur tritt hier an die Oberfläche der Dinge; was an den grob-materiellen Erscheinungen nur dem Denken erfaßbar ist, was nur mit geistigen Augen geschaut werden kann: das wird in den ge­steigerten dem leiblichen Auge sichtbar. Alles Sinnliche ist hier auch geistig und alles Geistige sinnlich. Durchgeistigt denkt sich Goethe die ganze Natur. Ihre Formen sind da­durch verschieden, daß der Geist in ihnen mehr oder weni­ger auch äußerlich sichtbar wird. Eine tote geistlose Ma­terie kennt Goethe nicht. Als solche erscheinen diejenigen Dinge, in denen sich der Geist der Natur eine seinem ideel­len Wesen unähnliche äußere Form gibt. Weil ein Geist in der Natur und im menschlichen Innern wirkt, deshalb kann der Mensch sich zur Teilnahme an den Produktionen der Natur erheben. «... vom Ziegelstein, der dem Dache ent­stürzt, bis zum leuchtenden Geistesblitz, der dir aufgeht und den du mitteilst», gilt für Goethe alles im Weltall als Wirkung, als Manifestation eines schöpferischen Geistes. «Alle Wirkungen, von welcher Art sie seien, die wir in der Erfahrung bemerken, hängen auf die stetigste Weise zusam­men, gehen ineinander über; sie undulieren von der ersten bis zur letzten.» «Ein Ziegelstein löst sich vom Dache los: wir nennen dies im gemeinen Sinne zufällig; er trifft die Schultern eines Vorübergehenden doch wohl mechanisch;

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allein nicht ganz mechanisch, er folgt den Gesetzen der Schwere, und so wirkt er physisch. Die zerrissenen Lebensgefäße geben sogleich ihre Funktion auf; im Augenblicke wirken die Säfte chemisch, die elementaren Eigenschaften treten hervor. Allein das gestörte organische Leben wider­setzt sich ebenso schnell und sucht sich herzustellen; indes­sen ist das menschliche Ganze mehr oder weniger bewußtlos und psychisch zerrüttet. Die sich wiedererkennende Per­son fühlt sich ethisch im tiefsten verletzt; sie beklagt ihre ge­störte Tätigkeit, von welcher Art sie auch sei, aber ungern ergäbe der Mensch sich in Geduld. Religiös hingegen wird ihm leicht, diesen Fall einer höheren Schickung zuzuschrei­ben, ihn als Bewahrung vor größerem Übel, als Einleitung zu höherem Guten anzusehen. Dies reicht hin für den Lei­denden; aber der Genesende erhebt sich genial, vertraut Gott und sich selbst und fühlt sich gerettet, ergreift auch wohl das Zufällige, wendet's zu seinem Vorteil, um einen ewig frischen Lebenskreis zu beginnen.» Als Modifikationen des Geistes erscheinen Goethe alle Weltwirkungen, und der Mensch, der sich in sie vertieft und sie beobachtet von der Stufe des Zufälligen bis zu der des Genialen, durchlebt die Metamorphose des Geistes von der Gestalt, in der sich die­ser in einer ihm unähnlichen äußeren Erscheinung darstellt, bis zu der, wo er in seiner ihm ureigensten Form erscheint. Einheitlich wirkend sind im Sinne der Goetheschen Welt­anschauung alle schöpferischen Kräfte. Ein Ganzes, das sich in einer Stufenfolge von verwandten Mannigfaltigkei­ten offenbart, sind sie. Goethe war aber nie geneigt, die Ein­heit der Welt sich als einförmig vorzustellen. Oft verfallen die Anhänger des Einheitsgedankens in den Fehler, die Ge­setzmäßigkeit, die sich auf einem Erscheinungsgebiete be­obachten

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läßt, auf die ganze Natur auszudehnen. In diesem Falle ist z.B. die mechanistische Weltanschauung. Sie hat ein besonderes Auge und Verständnis für das, was sich me­chanisch erklären laßt. Deshalb erscheint ihr das Mechani­sche als das einzig Naturgemäße. Sie sucht auch die Erschei­nungen der organischen Natur auf mechanische Gesetzmä­ßigkeit zurückzuführen. Bin Lebendiges ist ihr nur eine komplizierte Form des Zusammenwirkens mechanischer Vorgänge. In besonders abstoßender Form fand Goethe eine solche Weltanschauung in Holbachs «Systeme de la nature» ausgesprochen, das ihm in Straßburg in die Hände fiel. Eine Materie sollte sein von Ewigkeit, und von Ewig­keit her bewegt, und sollte nun mit dieser Bewegung rechts und links und nach allen Seiten, ohne weiteres, die unend­lichen Phänomene des Daseins hervorbringen. «Dies alles wären wir sogar zufrieden gewesen, wenn der Verfasser wirklich aus seiner bewegten Materie die Welt vor unsern Augen aufgebaut hätte. Aber er mochte von der Natur so wenig wissen als wir: denn indem er einige allgemeine Be­griffe hingepfahlt, verläßt er sie sogleich, um dasjenige, was höher als die Natur, oder als höhere Natur in der Natur er­scheint, zur materiellen, schweren, zwar bewegten, aber doch richtungs- und gestaltlosen Natur zu verwandeln, und glaubt dadurch recht viel gewonnen zu haben. »(Dichtung und Wahrheit, II. Buch.) In ähnlicher Weise hätte sich Goe­the geäußert, wenn er den Satz Du Bois-Reymonds («Gren­zen des Naturerkennens», S.13) hätte hören können: «Na­turerkennen ... ist Zurückführung der Veränderungen in der Körperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren von der Zeit unabhängige Zentralkräfte bewirkt wer­den, oder Auflösung der Naturvorgänge in Mechanik der

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Atome.» Goethe dachte sich die Arten von Naturwirkungen miteinander verwandt und ineinander übergehend; aber er wollte sie nie auf eine einzige Art zurückführen. Er trach­tete nicht nach einem abstrakten Prinzip, auf das alle Natur­erscheinungen zurückgeführt werden sollen, sondern nach Beobachtung der charakteristischen Art, wie sich die schöp­ferische Natur in jedem einzelnen ihrer Erscheinungsge­biete durch besondere Formen ihrer allgemeinen Gesetz­mäßigkeit offenbart. Nicht eine Gedankenform wollte er sämtlichen Naturerscheinungen aufzwängen, sondern durch Einleben in verschiedene Gedankenformen wollte er sich den Geist so lebendig und biegsam erhalten, wie die Natur selbst ist. Wenn die Empfindung von der großen Einheit alles Naturwirkens in ihm mächtig war, dann war er Pan­theist. «Ich für mich kann, bei den mannigfaltigen Richtun­gen meines Wesens, nicht an einer Denkweise genug haben; als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist als Naturforscher, und eines so entschieden als das andere. Be­darf ich eines Gottes für meine Persönlichkeit, als sittlicher Mensch, so ist dafür auch schon gesorgt.» (An Jacobi, 6. Jan. 1813.) Als Künstler wandte sich Goethe an jene Na­turerscheinungen, in denen die Idee in unmittelbarer An­schauung gegenwärtig ist. Das Einzelne erschien hier un­mittelbar göttlich; die Welt als eine Vielheit göttlicher In­dividualitäten. Als Naturforscher mußte Goethe auch in den Erscheinungen, deren Idee nicht in ihrem individuellen Dasein sichtbar wird, die Kräfte der Natur verfolgen. Als Dichter konnte er sich bei der Vielheit des Göttlichen be­ruhigen; als Naturforscher mußte er die einheitlich wirken­den Naturideen suchen. «Das Gesetz, das in die Erschei­nung tritt, in der größten Freiheit, nach seinen eigensten

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Bedingungen, bringt das Objektiv-Schöne hervor, welches freilich würdige Subjekte finden muß, von denen es aufge­faßt wird.» Dieses Objektiv-Schöne im einzelnen Geschöpf will Goethe als Künstler anschauen; aber als Naturforscher will er «die Gesetze kennen, nach welchen die allgemeine Natur handeln will». Polytheismus ist die Denkweise, die in dem Einzelnen ein Geistiges sieht und verehrt; Pantheis­mus die andere, die den Geist des Ganzen erfaßt. Beide Denkweisen können nebeneinander bestehen; die eine oder die andere macht sich geltend, je nachdem der Blick auf das Naturganze gerichtet ist, das Leben und Folge ist aus einem Mittelpunkte, oder auf diejenigen Individuen, in denen die Natur in einer Form vereinigt, was sie in der Regel über ein ganzes Reich ausbreitet. Solche Formen entstehen, wenn z.B. die schöpferischen Naturkräfte nach «tausendfältigen Pflanzen», noch eine machen, worin «alle übrigen enthal­ten», oder «nach tausendfältigen Tieren ein Wesen, das sie alle enthält: den Menschen»

*

Goethe macht einmal die Bemerkung: «Wer sie (meine Schriften) und mein Wesen überhaupt verstehen gelernt, wird doch bekennen müssen, daß er eine gewisse innere Freiheit gewonnen.» (Unterhaltungen mit dem Kanzler von Müller, . Jan.1831.) Damit hat er auf die wirkende Kraft hingedeutet, die sich in allem menschlichen Erkenntnis­streben geltend macht. Solange der Mensch dabei stehen bleibt, die Gegensätze um sich her wahrzunehmen und ihre Gesetze als ihnen eingepflanzte Prinzipien zu betrachten, von denen sie beherrscht werden, hat er das Gefühl, daß sie ihm als unbekannte Mächte gegenüberstehen, die auf ihn

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wirken und ihm die Gedanken ihrer Gesetze aufdrängen. Er fühlt sich den Dingen gegenüber unfrei; er empfindet die Gesetzmäßigkeit der Natur als starre Notwendigkeit, der er sich zu fügen hat. Erst wenn der Mensch gewahr wird, daß die Naturkräfte nichts anderes sind als Formen desselben Geistes, der auch in ihm selbst wirkt, geht ihm die Einsicht auf, daß er der Freiheit teilhaftig ist. Die Naturge­setzlichkeit wird nur so lange als Zwang empfunden, so lange man sie als fremde Gewalt ansieht. Lebt man sich in ihre Wesenheit ein, so empfindet man sie als Kraft, die man auch selbst in seinem Innern betätigt; man empfindet sich als produktiv mitwirkendes Element beim Werden und We­sen der Dinge. Man ist Du und Du mit aller Werdekraft. Man hat in sein eigenes Tun das aufgenommen, was man sonst nur als äußeren Antrieb empfindet. Dies ist der Be­freiungs-Prozeß, den im Sinne der Goetheschen Weltan­schauung der Erkenntnisakt bewirkt. Klar hat Goethe die Ideen des Naturwirkens angeschaut, als sie ihm aus den italienischen Kunstwerken entgegenblickten. Eine klare Empfindung hatte er auch von der befreienden Wirkung, die das Innehaben dieser Ideen auf den Menschen ausübt. Eine Folge dieser Empfindung ist seine Schilderung derje­nigen Erkenntnisart, die er als die der umfassenden Geister bezeichnet. «Die Umfassenden, die man in einem stolzern Sinne die Erschaffenden nennen könnte, verhalten sich im höchsten Sinne produktiv; indem sie nämlich von Ideen ausgehen, sprechen sie die Einheit des Ganzen schon aus, und es ist gewissermaßen nachher die Sache der Natur, sich in diese Idee zu fügen.» Zu der unmittelbaren Anschauung des Be­freiungsaktes hat es aber Goethe nie gebracht. Diese Anschauung kann nur derjenige haben, der sich selbst in seinem

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Erkennen belauscht. Goethe hat zwar die höchste Er­kenntnisart ausgeübt; aber er hat diese Erkenntnisart nicht an sich beobachtet. Gesteht er doch selbst:

«Wie hast du's denn so weit gebracht?

Sie sagen, du habest es gut vollbracht!»

Mein Kind! Ich hab' es klug gemacht;

Ich habe nie über das Denken gedacht.

Aber so wie die schöpferischen Naturkräfte «nach tau­sendfältigen Pflanzen» noch eine machen, worin « alle übri­gen enthalten» sind, so bringen sie auch nach tausendfälti­gen Ideen noch eine hervor, worin die ganze Ideenwelt ent­halten ist. Und diese Idee erfaßt der Mensch, wenn er zu der Anschauung der andern Dinge und Vorgänge auch dieje­nige des Denkens fügt. Eben weil Goethes Denken stets mit den Gegenständen der Anschauung erfüllt war, weil sein Denken ein Anschauen, sein Anschauen ein Denken war: deshalb konnte er nicht dazu kommen, das Denken selbst zum Gegenstande des Denkens zu machen. Die Idee der Freiheit gewinnt man aber nur durch die Anschauung des Denkens. Den Unterschied zwischen Denken über das Denken und Anschauung des Denkens hat Goethe nicht ge­macht. Sonst wäre er zur Einsicht gelangt, daß man gerade im Sinne seiner Weltanschauung es wohl ablehnen könne, über das Denken zu denken, daß man aber doch zu einer Anschauung der Gedankenwelt kommen könne. An dem Zu­standekommen aller übrigen Anschauungen ist der Mensch unbeteiligt. In ihm leben die Ideen dieser Anschauungen auf. Diese Ideen würden aber nicht da sein, wenn in ihm nicht die produktive Kraft vorhanden wäre, sie zur Erschei­nung zu bringen. Wenn auch die Ideen der Inhalt dessen

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sind, was in den Dingen wirkt; zum erscheinenden Dasein kommen sie durch die menschliche Tätigkeit. Die eigene Natur der Ideenwelt kann also der Mensch nur erkennen, wenn er seine Tätigkeit anschaut. Bei jeder anderen An­schauung durchdringt er nur die wirkende Idee; das Ding, in dem gewirkt wird, bleibt als Wahrnehmung außerhalb seines Geistes. In der Anschauung der Idee ist Wirkendes und Bewirktes ganz in seinem Innern enthalten. Er hat den ganzen Prozeß restlos in seinem Innern gegenwärtig. Die Anschauung erscheint nicht mehr von der Idee hervorge­bracht; denn die Anschauung ist jetzt selbst Idee. Diese An­schauung des sich selbst Hervorbringenden ist aber die An­schauung der Freiheit. Bei der Beobachtung des Denkens durchschaut der Mensch das Weltgeschehen. Er hat hier nicht nach einer Idee dieses Geschehens zu forschen, denn dieses Geschehen ist die Idee selbst. Die sonst erlebte Ein­heit von Anschauung und Idee ist hier Erleben der anschau­lich gewordenen Geistigkeit der Ideenwelt. Der Mensch, der diese in sich selbst ruhende Tätigkeit anschaut, fühlt die Freiheit. Goethe hat diese Empfindung zwar erlebt, aber nicht in der höchsten Form ausgesprochen. Er übte in seiner Naturbetrachtung eine freie Tätigkeit; aber sie wurde ihm nie gegenständlich. Er hat nie hinter die Kulissen des menschlichen Erkennens geschaut und deshalb die Idee des Weltgeschehens in dessen ureigenster Gestalt, in seiner höchsten Metamorphose nie in sein Bewußtsein aufgenom­men. Sobald der Mensch zur Anschauung dieser Metamor­phose gelangt, bewegt er sich sicher im Reich der Dinge. Er hat in dem Mittelpunkte seiner Persönlichkeit den wahren Ausgangspunkt für alle Weltbetrachtung gewonnen. Er wird nicht mehr nach unbekannten Gründen, nach außer

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ihm liegenden Ursachen der Dinge forschen; er weiß, daß das höchste Erlebnis, dessen er fähig ist, in der Selbstbe­trachtung der eigenen Wesenheit besteht. Wer ganz durch­drungen ist von den Gefühlen, die dieses Erlebnis hervor­ruft, der wird die wahrsten Verhältnisse zu den Dingen ge­winnen. Bei wem das nicht der Fall ist, der wird die höchste Form des Daseins anderswo suchen, und, da er sie in der Erfahrung nicht finden kann, in einem unbekannten Gebiet der Wirklichkeit vermuten. Seine Betrachtung der Dinge wird etwas Unsicheres bekommen; er wird sich bei der Be­antwortung der Fragen, die ihm die Natur stellt, fortwäh­rend auf ein Unerforschliches berufen. Weil Goethe durch sein Leben in der Ideenwelt ein Gefühl hatte von dem festen Mittelpunkt, innerhalb der Persönlichkeit, ist es ihm ge­lungen, innerhalb bestimmter Grenzen im Naturbetrachten zu sicheren Begriffen zu kommen. Weil ihm aber die un­mittelbare Anschauung des innersten Erlebnisses abging, tastet er außer halb dieser Grenzen unsicher umher. Er redet aus diesem Grunde davon, daß der Mensch nicht geboren sei, die « Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des Begreiflichen zu halten». Er sagt: «Kant hat unstreitig am meisten genützt, indem er die Grenzen zog, wie weit der menschliche Geist zu dringen fähig sei, und daß er die un­auflöslichen Probleme liegen ließ.» Hätte ihm die Anschau­ung des höchsten Erlebnisses Sicherheit in der Betrachtung der Dinge gegeben, so hätte er auf seinem Wege mehr ge­konnt als «durch geregelte Erfahrung zu einer Art von be­dingter Zuverlässigkeit gelangen». Statt geradewegs durch die Erfahrung durchzuschreiten in dem Bewußtsein, daß das Wahre nur eine Bedeutung hat, insoweit es von der

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menschlichen Natur gefordert wird, gelangt er doch zu der Überzeugung, daß «ein höherer Einfluß die Standhaften, die Tätigen, die Verständigen, die Geregelten und Regelnden, die Menschlichen, die Frommen» begünstige, und daß sich «die moralische Weltordnung» am schönsten da zeige, wo sie «dem Guten, dem wacker Leidenden mittelbar zu Hilfe kommt».

*

Weil Goethe das innerste menschliche Erlebnis nicht kann­te, war es ihm unmöglich, zu den letzten Gedanken über die sittliche Weltordnung zu gelangen, die zu seiner Naturan­schauung notwendig gehören. Die Ideen der Dinge sind der Inhalt des in den Dingen Wirksamen und Schaffenden. Die sittlichen Ideen erlebt der Mensch unmittelbar in der Ideenform. Wer zu erleben imstande ist, wie in der An­schauung der Ideenwelt das Ideelle sich selbst zum Inhalt wird, sich mit sich selbst erfüllt, der ist auch in der Lage, die Produktion des Sittlichen innerhalb der menschlichen Na­tur zu erleben. Wer die Naturideen nur in ihrem Verhältnis zu der Anschauungswelt kennt, der wird auch die sittlichen Begriffe auf etwas ihnen Äußeres beziehen wollen. Er wird eine ähnliche Wirklichkeit für diese Begriffe suchen, wie sie für die aus der Erfahrung gewonnenen Begriffe vorhanden ist. Wer aber Ideen in ihrer eigensten Wesenheit anzu­schauen vermag, der wird bei den sittlichen gewahr, daß nichts Äußeres ihnen entspricht, daß sie unmittelbar im Geist-Erleben als Ideen produziert werden. Ihm ist klar, daß weder ein nur äußerlich wirkender göttlicher Wille, noch eine solche sittliche Weltordnung wirksam sind, um diese Ideen zu erzeugen. Denn es ist in ihnen nichts von einem Bezug auf solche Gewalten zu bemerken. Alles was

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sie aussprechen, ist in ihrer geistig erlebten reinen Ideenform auch eingeschlossen. Nur durch ihren eigenen Inhalt wirken sie auf den Menschen als sittliche Mächte. Kein ka­tegorischer Imperativ steht mit der Peitsche hinter ihnen und drängt den Menschen, ihnen zu folgen. Der Mensch empfindet, daß er sie selbst hervorgebracht hat und liebt sie, wie man sein Kind liebt. Die Liebe ist das Motiv des Han­delns. Die geistige Lust am eigenen Erzeugnis ist der Quell des Sittlichen.

Es gibt Menschen, die keine sittlichen Ideen zu produzie­ren vermögen. Sie nehmen diejenigen anderer Menschen durch Überlieferung in sich auf. Und wenn sie kein An­schauungsvermögen für Ideen als solche haben, erkennen sie den im Geiste erlebbaren Ursprung des Sittlichen nicht. Sie suchen ihn in einem übermenschlichen, ihnen äußer­lichen Willen. Oder sie glauben, daß eine außerhalb der menschlich erlebten Geistwelt bestehende objektive sitt­liche Weltordnung bestehe, aus der die moralischen Ideen stammen. In dem Gewissen des Menschen wird oft das Sprachorgan dieser Weltordnung gesucht. Wie über ge­wisse Dinge seiner übrigen Weltanschauung ist Goethe auch in seinen Gedanken über den Ursprung des Sittlichen unsicher. Auch hier treibt sein Gefühl für das Ideengemäße Sätze hervor, die den Forderungen seiner Natur gemäß sind. «Pflicht: wo man liebt, was man sich selbst befiehlt.» Nur wer die Gründe des Sittlichen rein in dem Inhalt der sittlichen Ideen sieht, sollte sagen: «Lessing, der mancher­lei Beschränkung unwillig fühlte, läßt eine seiner Personen sagen: niemand muß müssen. Ein geistreicher, frohgesinnter Mann sagte: Wer will, der muß. Ein dritter, freilich ein Ge­bildeter, fügte hinzu: Wer einsieht, der will auch. Und so glaubte

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man den ganzen Kreis des Erkennens, Wollens und Müs­sens abgeschlossen zu haben. Aber im Durchschnitt be­stimmt die Erkenntnis des Menschen, von welcher Art sie auch sei, sein Tun und Lassen; deswegen auch nichts schrecklicher ist, als die Unwissenheit handeln zu sehen.» Daß in Goethe ein Gefühl für die echte Natur des Sittlichen herrscht, welches sich nur nicht zur klaren Anschauung er­hebt, zeigt folgender Ausspruch: «Der Wille muß, um voll­kommen zu werden, sich im Sittlichen dem Gewissen, das nicht irrt ... fügen ... Das Gewissen bedarf keines Ahnherrn, mit ihm ist alles gegeben; es hat nur mit der innern eigenen Welt zu tun.» Das Gewissen bedarf keines Ahnherrn, kann nur heißen: der Mensch findet in sich keinen sittlichen In­halt ursprünglich vor; er gibt sich ihn selbst. Diesen Aus­sprüchen stehen andere gegenüber, die den Ursprung des Sittlichen in ein Gebiet außerhalb des Menschen verlegen:

«Der Mensch, wie sehr ihn auch die Erde anzieht mit ihren tausend und abertausend Erscheinungen, hebt doch den Blick sehnend zum Himmel auf... weil er es tief und klar in sich fühlt, daß er ein Bürger jenes geistigen Reiches sei, wor­an wir den Glauben nicht abzulehnen, noch aufzugeben ver­mögen.» «Was gar nicht aufzulösen ist, überlassen wir Gott als dem allbedingenden und allbefreienden Wesen.»

*

Für die Betrachtung der innersten Menschennatur, für die Selbstbeschauung fehlt Goethe das Organ. «Hierbei be­kenne ich, daß mir von jeher die große und so bedeutend klingende Aufgabe: erkenne dich selbst, immer verdächtig vorkam, als eine List geheim verbündeter Priester, die den Menschen durch unerreichbare Forderungen verwirren

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und von der Tätigkeit gegen die Außenwelt zu einer inneren falschen Beschaulichkeit verleiten wollten. Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird. Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf» Davon ist gerade das Umgekehrte wahr: der Mensch kennt die Welt nur, insofern er sich kennt. Denn in seinem Innern offenbart sich in ureigenster Gestalt, was in den Außendin­gen nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol als Anschauung vorhanden ist. Wovon der Mensch sonst nur als von einem Unergründlichen, Unerforschlichen, Göttlichen sprechen kann: das tritt ihm in der Selbstanschauung in wahrer Ge­stalt vor Augen. Weil er in der Selbstanschauung das Ideelle in unmittelbarer Gestalt sieht, gewinnt er die Kraft und Fä­higkeit, dieses Ideelle auch in aller äußeren Erscheinung, in der ganzen Natur aufzusuchen und anzuerkennen. Wer den Augenblick der Selbstanschauung erlebt hat, denkt nicht mehr daran, hinter den Erscheinungen einen «verborge­nen» Gott zu suchen: er ergreift das Göttliche in seinen verschiedenen Metamorphosen in der Natur. Goethe be­merkte in Beziehung auf Schelling: «Ich würde ihn öfters sehen, wenn ich nicht noch auf poetische Momente hoffte, und die Philosophie zerstört bei mir die Poesie, und das wohl deshalb, weil sie mich ins Objekt treibt, indem ich mich nie rein spekulativ erhalten kann, sondern gleich zu jedem Satze eine Anschauung suchen muß und deshalb gleich in die Natur hinaus fliehe.» Die höchste Anschauung, die Anschauung der Ideenwelt selbst, hat er eben nicht fin­den können. Sie kann die Poesie nicht zerstören, denn sie befreit den Geist nur von allen Vermutungen, daß in der Natur ein Unbekanntes, Unergründliches sein könne. Dafür

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aber macht sie ihn fähig, sich unbefangen ganz den Dingen hinzugeben; denn sie gibt ihm die Überzeugung, daß aus der Natur alles zu entnehmen ist, was der Geist von ihr nur wünschen kann.

Die höchste Anschauung befreit aber den Menschengeist auch von allem einseitigen Abhängigkeitsgefühl. Er fühlt sich durch ihren Besitz souverän im Reiche der sittlichen Weltordnung. Er weiß, daß die Triebkraft, die alles hervorbringt, in seinem Innern als in seinem eigenen Willen wirkt, und daß die höchsten Entscheidungen über Sittliches in ihm selbst liegen. Denn diese höchsten Entscheidungen fließen aus der Welt der sittlichen Ideen, bei deren Produktion die Seele des Menschen anwesend ist. Mag der Mensch im ein­zelnen sich beschränkt fühlen, mag er auch von tausend Dingen abhängig sein; im ganzen gibt er sich sein sittliches Ziel und seine sittliche Richtung. Das Wirksame aller übri­gen Dinge kommt im Menschen als Idee zur Erscheinung; das Wirksame im Menschen ist die Idee, die er selbst hervor­bringt. In jeder einzelnen menschlichen Individualität voll­zieht sich der Prozeß, der im Ganzen der Natur sich ab­spielt: die Schöpfung eines Tatsächlichen aus der Idee her­aus. Und der Mensch selbst ist der Schöpfer. Denn auf dem Grunde seiner Persönlichkeit lebt die Idee, die sich selbst einen Inhalt gibt. Über Goethe hinausgehend, muß man seinen Satz erweitern, die Natur sei «in dem Reichtum der Schöpfung so groß, nach tausendfältigen Pflanzen eine zu machen, worin alle übrigen enthalten sind, und nach tau­sendfältigen Tieren ein Wesen, das sie alle enthält, den Menschen». Die Natur ist in ihrer Schöpfung so groß, daß sie den Prozeß, durch den sie frei aus der Idee heraus alle Geschöpfe hervorbringt, in jedem Menschenindividuum

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wiederholt, indem die sittlichen Handlungen aus dem ideel­len Grunde der Persönlichkeit entspringen. Was der Mensch auch als objektiven Grund seines Handelns empfindet, es ist alles nur Umschreibung und zugleich Verkennung seiner eigenen Wesenheit. Sich selbst realisiert der Mensch in sei­nem sittlichen Handeln. In lapidaren Sätzen hat Max Stirner diese Erkenntnis in seiner Schrift «Der Einzige und sein Eigentum» ausgesprochen. «Eigner bin ich meiner Ge­walt, und ich bin es dann, wenn ich mich als Einzigen weiß. Im Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. Jedes höhere Wesen über mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewußtseins. Stell' ich auf mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem vergänglichen, dem sterb­lichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt, und ich darf sagen: ich hab' mein Sach' auf Nichts gestellt.» Aber zu­gleich darf der Mensch zu diesem Stirnerschen Geist, wie Faust zu Mephistopheles sagen: «In deinem Nichts hoff' ich das All zu finden», denn in meinem Innern wohnt in individueller Bildung die Wirkungskraft, durch welche die Natur das All schafft. So lange der Mensch in sich diese Wir­kungskraft nicht geschaut hat, wird er sich ihr gegenüber erscheinen wie Faust dem Erdgeist gegenüber. Sie wird ihm stets die Worte zurufen: «Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!» Erst die Anschauung des tiefsten Innenlebens zaubert diesen Geist hervor, der von sich sagt:

In Lebensfluten, im Tatensturm

Wall' ich auf und ab,

Webe hin und her!

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Geburt und Grab,

Ein ewiges Meer,

Ein wechselnd Weben,

Ein glühend Leben,

So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit

Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.

Ich habe in meiner «Philosophie der Freiheit» darzustel­len versucht, wie die Erkenntnis, daß der Mensch in seinem Tun auf sich selbst gestellt ist, hervorgeht aus dem inner­sten Erlebnis, aus der Anschauung der eigenen Wesenheit. Stirner hat 1844 die Ansicht verteidigt, daß der Mensch, wenn er sich wahrhaft versteht, nur in sich selbst den Grund für seine Wirksamkeit sehen könne. Bei ihm geht aber diese Erkenntnis nicht aus der Anschauung des innersten Erleb­nisses, sondern aus dem Gefühle der Freiheit und Ungebun­denheit gegenüber allen Zwang heischenden Weltmächten hervor. Stirner bleibt bei der Forderung der Freiheit stehen; er wird auf diesem Gebiete zu der denkbar schroffsten Be­tonung der auf sich selbst gestellten Menschennatur ge­führt. Ich versuche auf breiterer Basis das Leben in der Freiheit zu schildern, indem ich zeige, was der Mensch er­blickt, wenn er auf den Grund seiner Seele sieht. Goethe ist bis zu der Anschauung der Freiheit nicht gekommen, weil er eine Abneigung gegen die Selbsterkenntnis hatte. Wäre das nicht der Fall gewesen, so hätte die Erkenntnis des Men­schen als einer freien, auf sich selbst gegründeten Persön­lichkeit die Spitze seiner Weltanschauung bilden müssen. Die Keime zu dieser Erkenntnis treten uns bei ihm überall entgegen; sie sind zugleich die Keime seiner Naturansicht.

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Innerhalb seiner eigentlichen Naturstudien spricht Goethe nirgends von unerforschlichen Gründen, von verborgenen Triebkräften der Erscheinungen. Er begnügt sich damit, die Erscheinungen in ihrer Folge zu beobachten und sie mit Hilfe derjenigen Elemente zu erklären, die sich den Sinnen und dem Geiste bei der Beobachtung offenbaren. Am 5. Mai 1786 schreibt er in diesem Sinne an Jacobi, daß er den Mut habe, sein «ganzes Leben der Betrachtung der Dinge zu widmen, die er reichen» und von deren Wesenheit er sich « eine adäquate Idee zu bilden hoffen kann», ohne sich im mindesten zu bekümmern, wie weit er kommen werde und was ihm zugeschnitten ist. Wer sich dem Göttlichen in dem einzelnen Naturdinge zu nähern glaubt, der braucht sich nicht mehr eine besondere Vorstellung von einem Gotte zu bilden, der außer und neben den Dingen existiert. Nur wenn Goethe das Gebiet der Natur verläßt, dann hält auch sein Gefühl für die Wesenheit der Dinge nicht mehr stand. Dann führt ihn der Mangel an menschlicher Selbsterkenntnis zu Behauptungen, die weder mit seiner ihm angeborenen Denkweise, noch mit der Richtung seiner Naturstudien zu vereinigen sind. Wer Neigung hat, sich auf solche Behaup­tungen zu berufen, der mag annehmen, daß Goethe an einen menschenähnlichen Gott und eine individuelle Fortdauer derjenigen Lebensform der Seele geglaubt hat, die an die Bedingungen der physischen Leibesorganisation ge­bunden ist. Mit Goethes Naturstudien steht ein solcher Glaube im Widerspruch. Sie hätten nie die Richtung neh­men können, die sie genommen haben, wenn sich Goethe bei ihnen von diesem Glauben hätte bestimmen lassen. Im Sinne seiner Naturstudien liegt es durchaus, das Wesen der menschlichen Seele so zu denken, daß diese nach der Ablegung

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des Leibes in einer übersinnlichen Daseinsform lebt. Diese Daseinsform bedingt, daß ihr durch die andern Le­bensbedingungen auch eine andere Bewußtseinsart eigen wird als die ist, die sie durch den physischen Leib hat. So führt die Goethesche Metamorphosenlehre auch zu der Anschauung von Metamorphosen des Seelenlebens. Aber man wird diese Goethesche Unsterblichkeitsidee nur recht ins Auge fassen können, wenn man weiß, daß Goethe zu einer unmetamorphosierten Fortsetzung desjenigen Gei­steslebens, das durch den physischen Leib bedingt ist, durch seine Weltanschauung nicht hat geführt werden können. Weil Goethe in dem hier angedeuteten Sinn eine Anschau­ung des Gedankenlebens nicht versuchte, wurde er auch im Fortgang seiner Lebensführung nicht dazu veranlaßt, die­jenige Unsterblichkeitsidee besonders auszugestalten, wel­che die Fortsetzung seiner Metamorphosengedanken wäre. Diese Idee aber wäre in Wahrheit dasjenige, was in Bezug auf dieses Erkenntnisgebiet aus seiner Weltanschauung folgte. Was er im Hinblick auf die Lebensansicht dieses oder jenes Zeitgenossen, oder aus anderer Veranlassung als Aus­druck einer persönlichen Empfindung gab, ohne dabei an den Zusammenhang mit seiner an den Naturstudien ge­wonnenen Weltanschauung zu denken, darf nicht als cha­rakteristisch für Goethes Unsterblichkeitsidee angeführt werden.

Für die Wertung eines Goetheschen Ausspruches im Ge­samtbilde seiner Weltanschauung kommt auch in Betracht, daß die Stimmung seiner Seele in seinen verschiedenen Le­bensaltern solchen Aussprüchen besondere Nuancen gibt. Dieses Wandels in der Ausdrucksform seiner Ideen war er sich voll bewußt. Als Förster die Ansicht aussprach, die

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Lösung des Faust-Problems werde sich aus dem Worte er­geben: «Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewußt» entgegnete Goethe:

«Das wäre ja Aufklärung: Faust endet als Greis, und im Greisenalter werden wir Mystiker»(aus Försters Nachlaß, S.216). Und in den Prosasprüchen lesen wir: «Jedem Alter des Menschen antwortet eine gewisse Philosophie. Das Kind erscheint als Realist; denn es findet sich so überzeugt von dem Dasein der Birnen und Äpfel als von dem seinigen. Der Jüngling, von inneren Leidenschaften bestürmt, muß auf sich selbst merken, sich vorfühlen, er wird zum Ideali­sten umgewandelt. Dagegen ein Skeptiker zu werden, hat der Mann alle Ursache; er tut wohl zu zweifeln, ob das Mittel, das er zum Zwecke gewählt hat, auch das rechte sei. Vor dem Handeln, im Handeln hat er alle Ursache, den Ver­stand beweglich zu erhalten, damit er nicht nachher sich über eine falsche Wahl zu betrüben habe. Der Greis jedoch wird sich immer zum Mystizismus bekennen; er sieht, daß so vieles vom Zufall abzuhängen scheint; das Unvernünf­tige gelingt, das Vernünftige schlägt fehl, Glück und Un­glück stellen sich unerwartet ins gleiche; so ist es, so war es, und das hohe Alter beruhigt sich in dem, der da ist, der da war und der da sein wird» (Kürschner, Band 36,2 S. 454).

Ich habe in dieser Schrift die Weltanschauung Goethes im Auge, aus der seine Einsichten in das Leben der Natur hervorgewachsen sind und welche die treibende Kraft in ihm war von der Entdeckung des Zwischenknochens beim Menschen bis zur Vollendung der Farbenlehre. Und ich glaube gezeigt zu haben, daß diese Weltanschauung voll­kommener der Gesamtpersönlichkeit Goethes entspricht, als die Zusammenstellung von Aussprüchen, bei denen man

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vor allem Rücksicht nehmen müßte, wie solche Gedanken gefärbt sind, durch die Stimmung seiner Jugend- oder sei­ner Altersepoche. Ich glaube, Goethe hat in seinen Naturstudien, wenn auch nicht geleitet von einer klaren, ideengemäßen Selbsterkenntnis, so doch von einem richtigen Gefühle, eine freie, aus dem wahren Verhältnis der mensch­lichen Natur zur Außenwelt fließende Verfahrungsweise beobachtet. Goethe ist sich selbst darüber klar, daß in sei­ner Denkweise etwas Unvollendetes liegt: «Ich war mir edler, großer Zwecke bewußt, konnte aber niemals die Be­dingungen begreifen, unter denen ich wirkte; was mir mangelte, merkte ich wohl, was an mir zu viel sei, gleichfalls; deshalb unterließ ich nicht mich zu bilden, nach außen und von in­nen. Und doch blieb es beim alten. Ich verfolgte jeden Zweck mit Ernst, Gewalt und Treue; dabei gelang mir oft, widerspenstige Bedingungen vollkommen zu überwinden, oft aber auch scheiterte ich daran, weil ich nachgeben und umgehen nicht lernen konnte. Und so ging mein Leben hin unter Tun und Genießen, Leiden und Widerstreben, unter Liebe, Zufriedenheit, Haß und Mißfallen anderer. Hieran spiegele sich, dem das gleiche Schicksal geworden.»

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DIE ANSCHAUUNGEN ÜBER NATUR UND ENTWICKLUNG DER LEBEWESEN

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DIE METAMORPHOSENLEHRE

Man kann Goethes Verhältnis zu den Naturwissenschaften nicht verstehen, wenn man sich bloß an die Einzelentdec­kungen hält, die er gemacht hat. Ich sehe als leitenden Ge­sichtspunkt für die Betrachtung dieses Verhältnisses die Worte an, die Goethe am 18. August 1787 von Italien aus an Knebel gerichtet hat: «Nach dem, was ich bei Neapel, in Sizilien von Pflanzen und Fischen gesehen habe, würde ich, wenn ich zehn Jahre jünger wäre, sehr versucht sein, eine Reise nach Indien zu machen, nicht um etwas Neues zu ent­decken, sondern um das Entdeckte nach meiner Art anzusehen.» Auf die Art, wie Goethe die ihm bekannten Naturerschei­nungen in einer seiner Denkungsart gemäßen Naturansicht zusammengefaßt hat, scheint es mir anzukommen. Wenn alle die Einzelentdeckungen, die ihm gelungen sind, schon vor ihm gemacht gewesen wären, und er uns nichts als seine Na­turansicht gegeben hätte, so schmälerte dies die Bedeutung seiner Naturstudien nicht im geringsten. Ich bin mit Du Bois-­Reymond einer Meinung darüber, daß « auch ohne Goethe die Wissenschaft überhaupt so weit wäre, wie sie ist», daß die ihm gelungenen Schritte früher oder später andere ge­tan hätten. (Goethe und kein Ende, S.1) Ich kann diese Worte nur nicht, wie es Du Bois-Reymond tut, auf den gan­zen Umfang von Goethes naturwissenschaftlichen Arbei­ten beziehen. Ich beschränke sie auf die in ihrem Verlaufe gemachten Einzelentdeckungen. Keine einzige derselben würde uns wahrscheinlich heute fehlen, wenn Goethe sich nie mit Botanik, mit Anatomie usw. beschäftigt hätte. Seine Naturansicht aber ist ein Ausfluß seiner Persönlichkeit; kein anderer hätte zu ihr kommen können. Ihn interessier­ten

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auch nicht die Einzelentdeckungen. Sie drängten sich ihm während seiner Studien von selbst auf, weil über die Tatsachen, die sie betreffen, zu seiner Zeit Ansichten Gel­tung hatten, die unvereinbar mit seiner Art, die Dinge zu betrachten, waren. Hätte er mit dem, was die Naturwissen­schaft ihm überlieferte, seine Anschauung aufbauen kön­nen: so würde er sich nie mit Detailstudien beschäftigt haben. Er mußte ins Einzelne gehen, weil das, was ihm über das Einzelne von den Naturforschern gesagt wurde, seinen Forderungen nicht entsprach. Und nur wie zufällig ergaben sich bei diesen Detailstudien die Einzelentdeckun­gen. Ihn beschäftigte zunächst nicht die Frage: ob der Mensch wie die übrigen Tiere einen Zwischenkieferknochen in der oberen Kinnlade habe. Er wollte den Plan entdecken, nach dem die Natur die Stufenfolge der Tiere und auf der Höhe dieser Stufenfolge den Menschen bildet. Das gemein­same Urbild, das allen Tiergattungen und zuletzt in seiner höchsten Vollkommenheit auch der Menschengattung zu Grunde liegt, wollte er finden. Die Naturforscher sagten ihm: es besteht ein Unterschied im Bau des tierischen und des menschlichen Körpers. Die Tiere haben in der oberen Kinnlade den Zwischenknochen, der Mensch habe ihn nicht. Seine Ansicht war, daß sich der menschliche phy­sische Bau nur dem Grade der Vollkommenheit nach von dem tierischen unterscheiden könne, nicht aber in Einzel­heiten. Denn, wenn das letztere der Fall wäre, könnte nicht ein gemeinsames Urbild der tierischen und der mensch­lichen Organisation zu Grunde liegen. Er konnte mit der Behauptung der Naturforscher nichts anfangen. Des­halb suchte er nach dem Zwischenknochen bei dem Men­schen und fand ihn. Ähnliches ist bei allen seinen Einzelentdeckungen

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zu beobachten. Sie sind ihm nie Selbstzweck. Sie müssen gemacht werden, um seine Vorstellungen über die Naturerscheinungen als berechtigt erscheinen zu lassen.

Im Gebiete der organischen Naturerscheinungen ist das Bedeutsame in Goethes Ansicht die Vorstellung, die er vom Wesen des Lebens aus bildete. Nicht auf die Betonung der Tat­sache, daß Blatt, Kelch, Krone usw. Organe an der Pflanze sind, die miteinander identisch sind, und sich aus einem gemeinschaftlichen Grundgebilde entwickeln, kommt es an. Sondern darauf, welche Vorstellung Goethe von dem Ganzen der Pflanzennatur als einem Lebendigen hatte und wie er sich das Einzelne aus diesem Ganzen hervorge­hend dachte. Seine Idee von dem Wesen des Organismus ist seine ureigenste zentrale Entdeckung im Gebiete der Bio­logie zu nennen. Daß sich in der Pflanze, in dem Tiere etwas anschauen lasse, was der bloßen Sinnenbeobachtung nicht zugänglich ist, war Goethes Grundüberzeugung. Was das leibliche Auge an dem Organismus beobachten kann, scheint Goethe nur die Folge zu sein des lebendi­gen Ganzen durcheinander wirkender Bildungsgesetze, die dem geistigen Auge allein zugänglich sind. Was er mit dem geistigen Auge an der Pflanze, an dem Tier erschaut, das hat er beschrieben. Nur wer ebenso wie er zu sehen fähig ist, kann seine Idee von dem Wesen des Organismus nachdenken. Wer bei dem stehen bleibt, was die Sinne und das Experi­ment liefern, der kann Goethe nicht verstehen. Wenn wir seine beiden Gedichte lesen «Die Metamorphose der Pflan­zen» und «Die Metamorphose der Tiere», so scheint es zu­nächst, als ob die Worte uns nur von einem Glied des Or­ganismus zum andern führten, als ob bloß äußerlich Tat­sächliches verknüpft werden sollte. Wenn wir uns aber

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durchdringen mit dem, was Goethe als Idee des Lebewe­sens vorschwebt, dann fühlen wir uns in die Sphäre des Le­bendig-Organischen versetzt, und aus einer zentralen Vor­stellung wachsen die Vorstellungen über die einzelnen Organe hervor.

*

Als Goethe anfing, selbständig über die Erscheinungen der Natur nachzusinnen, nahm vor allem andern der Begriff des Lebens seine Aufmerksamkeit in Anspruch. In einem Briefe aus der Straßburger Zeit vom 14. Juli 1770 schreibt er von einem Schmetterling: «Das arme Tier zittert im Netz, streift sich die schönsten Farben ab; und wenn man es ja unver­sehrt erwischt, so steckt es doch endlich steif und leblos da; der Leichnam ist nicht das ganze Tier, es gehört noch etwas dazu, noch ein Hauptstück, und bei der Gelegenheit, wie bei jeder andern, ein sehr hauptsächliches Hauptstück: das Leben.-» Daß ein Organismus nicht wie ein totes Naturprodukt betrachtet werden kann, daß noch mehr darin steckt als die Kräfte, die auch in der unorganischen Natur leben, war Goethe von vornherein klar. Wenn Du Bois­-Reymond meint, daß «die rein mechanische Weltkonstruk­tion, welche heute die Wissenschaft ausmacht, dem Wei­marschen Dichterfürsten nicht minder verhaßt gewesen wäre, als einst Friederikens Freund das systeme de la na­ture», so hat er unzweifelhaft Recht; und nicht minder hat er Recht mit den andern Worten: von dieser Weltkonstruk­tion, die «durch die Urzeugung an die Kant-Laplace'sche Theorie grenzt, von der Entstehung des Menschen aus dem Chaos durch das von Ewigkeit zu Ewigkeit mathematisch be­stimmte 5piel der Atome, von dem eisigen Weltende - von diesen Bildern, welche unser Geschlecht so unfühlend ins

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Auge faßt, wie es an die Schrecknisse des Eisenbahnfahrens sich gewöhnte - hätte Goethe sich schaudernd abgewandt» (Goethe und kein Ende, S.35 f.). Gewiß hätte er sich schau­dernd abgewandt, weil er einen höheren Begriff des Leben­digen suchte und ihn auch fand als den eines komplizierten, mathematisch bestimmten Mechanismus. Nur wer unfähig ist, einen solchen höhern Begriff zu fassen und das Lebendige mit dem Mechanischen identifiziert, weil er am Organis­mus nur das Mechanische zu sehen vermag, der wird sich für die mechanische Weltkonstruktion und ihr Spiel der Atome erwärmen und unfühlend die Bilder ins Auge fassen, die Du Bois-Reymond entwirft. Wer aber den Begriff des Organischen im Sinne Goethes in sich aufnehmen kann, der wird über seine Berechtigung ebensowenig streiten wie über das Vorhandensein des Mechanischen. Man streitet ja auch nicht mit dem Farbenblinden über die Farbenwelt. Alle Anschauungen, welche das Organische sich mecha­nisch vorstellen, verfallen dem Richterspruch, den Goethe seinen Mephistopheles sagen läßt:

Wer will was Lebendig's erkennen und beschreiben,

Sucht erst den Geist herauszutreiben,

Dann hat er die Teile in der Hand.

Fehlt, leider! nur das geistige Band.

Die Möglichkeit, sich intimer mit dem Leben der Pflanzen zu beschäftigen, fand sich für Goethe, als ihm der Herzog Karl August am 21. April 1776 einen Garten schenkte. Auch durch die Streifzüge im Thüringerwald, auf denen er die Lebenserscheinungen der niederen Organismen beobach­ten konnte, wird Goethe angeregt. Moose und Flechten

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nehmen seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Am 31. 0ktober bittet er Frau von Stein um Moose von allen Sorten, womöglich mit den Wurzeln und feucht, damit er sie be­nützen könne, um die Fortpflanzung zu beobachten. Es ist wichtig, im Auge zu behalten, daß Goethe sich im Anfange seiner botanischen Studien mit den niederen Pflanzenformen beschäftigte. Denn er hat später bei der Konzeption seiner Idee der Urpflanze nur die höheren Pflanzen berücksich­tigt. Dies kann also nicht davon herrühren, daß ihm das Gebiet der niederen fremd war, sondern davon, daß er die Geheimnisse der Pflanzennatur an den höheren deutlicher ausgeprägt glaubte. Er wollte die Idee der Natur da auf­suchen, wo sie sich am klarsten offenbart und dann von dem Vollkommenen zum Unvollkommenen herabsteigen, um dieses aus jenem zu begreifen. Nicht das Zusammenge­setzte wollte er durch das Einfache erklären; sondern jenes mit einem Blick als wirkendes Ganzes überschauen und dann das Einfache und Unvollkommene als einseitige Ausbil­dung des Zusammengesetzten und Vollkommenen erklären. Wenn die Natur fähig ist, nach unzähligen Pflanzenformen noch eine zu machen, die sie alle enthält, so muß auch dem Geiste beim Anschauen dieser vollkommenen Form das Geheimnis der Pflanzenbildung in unmittelbarer Anschau­ung aufgehen, und er wird dann leicht das an dem Voll­kommenen Beobachtete auf das Unvollkommene anwen­den können. Umgekehrt machen es die Naturforscher, die das Vollkommene nur als eine mechanische Summe der einfachen Vorgänge ansehen. Sie gehen von diesem Ein­fachen aus und leiten das Vollkommene von demselben ab.

Als sich Goethe nach einem wissenschaftlichen Führer für seine botanischen Studien umsah, konnte er keinen andern

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finden als Linné. Wir erfahren von seiner Beschäfti­gung mit Linné zuerst aus den Briefen an Frau von Stein vom Jahre 1782. Wie ernst es Goethe mit seinen naturwis­senschaftlichen Bestrebungen war, geht aus dem Interesse hervor, das er an Linnés Schriften genommen hat. Er ge­steht, daß nach Shakespeare und Spinoza auf ihn die größte Wirkung von Linné ausgegangen ist. Aber wie wenig konnte ihn Linné befriedigen. Goethe wollte die verschie­denen Pflanzenformen beobachten, um das Gemeinsame, das in ihnen lebt, zu erkennen. Er wollte wissen, was alle diese Gebilde zu Pflanzen macht. Und Linné hatte sich da­mit begnügt, die mannigfaltigsten Pflanzenformen in einer bestimmten Ordnung nebeneinander zu stellen und zu be­schreiben. Hier stieß Goethes naive, unbefangene Naturbeobachtung in einem einzelnen Falle auf die durch einseitig aufgefaßten Platonismus beeinflußte Denkweise der Wis­senschaft. Diese Denkweise sieht in den einzelnen Formen Verwirklichungen ursprünglicher, nebeneinander beste­hender, platonischer Ideen oder Schöpfungsgedanken. Goethe sieht in dem einzelnen Gebilde nur eine besondere Ausgestaltung eines ideellen Urwesens, das in allen Formen lebt. Jene Denkweise will möglichst genau die einzelnen Formen unterscheiden, um die Vielgliedrigkeit der Ideenformen oder des Schöpfungsplanes zu erkennen; Goethe will die Vielgliedrigkeit des Besonderen aus der ursprünglichen Einheit erklären. Daß vieles in mannigfaltigen For­men da ist, ist für jene Denkungsart ohne weiteres klar, denn schon die idealen Urbilder sind für sie das Mannigfal­tige. Für Goethe ist das nicht klar, denn das Viele gehört nach seiner Ansicht nur zusammen, wenn sich Eines darin offenbart. Goethe sagt deshalb, was Linné «mit Gewalt auseinander

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zu halten suchte, mußte nach dem innersten Be­dürfnis meines Wesens zur Vereinigung anstreben». Linné nimmt die vorhandenen Formen einfach hin, ohne danach zu fragen, wie sie aus einer Grundform geworden sind:

«Spezies zählen wir so viele, als verschiedene Formen im Prinzip geschaffen worden sind »: dies ist sein Grundsatz. Goethe sucht im Pflanzenreich das Wirksame, das durch Spezifizierung der Grundform das Einzelne schafft.

Ein naiveres Verhältnis zur Pflanzenwelt als bei Linné fand Goethe bei Rousseau. Am i6. Juni 1782 schreibt er an Karl August: «In Rousseaus Werken finden sich ganz aller­liebste Briefe über die Botanik, worin er diese Wissenschaft auf das faßlichste und zierlichste einer Dame vorträgt. Es ist recht ein Muster, wie man unterrichten soll und eine Bei­lage zum Emil. Ich nehme daher Anlaß, das schöne Reich der Blumen meinen schönen Freundinnen aufs neue zu empfehlen.» In seiner «Geschichte meines botanischen Stu­diums»legt Goethe dar, was ihn zu Rousseaus botanischen Ideen hingezogen hat: «Sein Verhältnis zu Pflanzenfreun­den und -kennern, besonders zu der Herzogin von Portland, mag seinen Scharfblick mehr in die Breite gewiesen haben, und ein Geist wie der seinige, der den Nationen Ordnung und Gesetz vorzuschreiben sich berufen fühlt, mußte doch zur Vermutung gelangen, daß in dem unermeßlichen Pflanzenreiche keine so große Mannigfaltigkeit der Formen erscheinen könnte, ohne daß ein Grundgesetz, es sei auch noch so verborgen, sie wieder sämt­lich zur Einheit zurückbrächte.» Ein solches Grundgesetz, das die Mannigfaltigkeit zur Einheit zurückbringt, von der sie ursprünglich ausgegangen ist, sucht auch Goethe.

Zwei Schriften vom Freiherrn von Gleichen, genannt Rußwurm, fielen damals in Goethes geistigen Horizont. Sie

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behandeln beide das Leben der Pflanze in einer Weise, die für ihn fruchtbar werden konnte: «Das Neueste aus dem Reiche der Pflanzen»(Nürnberg 1764) und «Auserlesene mikroskopische Entdeckungen bei den Pflanzen» (Nürn­berg 1777-1781). Sie beschäftigen sich mit den Befruch­tungsvorgängen der Pflanzen. Blütenstaub, Staubfäden und Stempel sind in ihnen sorgfältig beschrieben, und in gut aus­geführten Tafeln die Vorgänge bei der Befruchtung darge­stellt. Goethe macht nun selbst Versuche, um die von Glei­chen-Rußwurm beschriebenen Ergebnisse mit eigenen Au­gen zu beobachten. Er schreibt am 12. Januar 1785 an Ja­cobi: «Ein Mikroskop ist aufgestellt, um die Versuche des v. Gleichen, genannt Rußwurm, mit Frühlingseintritt nach­zubeobachten und zu kontrollieren.» Zur selben Zeit stu­diert er die Wesenheit des Samens, wie aus einem Bericht an Knebel vom 2. April 1785 hervorgeht: «Die Materie vom Samen habe ich durchgedacht, so weit meine Erfahrungen reichen.» Diese Beobachtungen Goethes erscheinen erst im rechten Lichte, wenn man berücksichtigt, daß er schon da­zumal nicht bei ihnen stehen geblieben ist, sondern eine Ge­samtanschauung der Naturvorgänge zu gewinnen suchte, der sie zur Stütze und Bekräftigung dienen sollten. Am 8. April desselben Jahres meldet er Merck, daß er nicht nur Tatsachen beobachtet, sondern auch «hübsche Kombinatio­nen» über diese Tatsachen gemacht habe.

*

Von wesentlichem Einfluß auf die Ausbildung der Ideen Goethes über organische Naturwirkungen war der Anteil, den er an Lavaters großem Werke: «Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und

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Menschenliebe» nahm, das in den Jahren 1775-1778 er­schienen ist. Er hat selbst Beiträge zu diesem Werke gelie­fert. In der Art, wie er sich in diesen Beiträgen ausspricht, ist seine spätere Weise, das Organische anzusehen, schon vorgebildet. Lavater blieb dabei stehen, die Gestalt des menschlichen Organismus als Ausdruck der Seele zu behan­deln. Er wollte aus den Formen der Körper die Charaktere der Seelen deuten. Goethe fing bereits damals an, die äußere Gestalt um ihrer selbst willen zu betrachten, ihre eigene Ge­setzmäßigkeit und Bildungskraft zu studieren. Er beschäf­tigt sich zugleich mit den Schriften des Aristoteles über die Physiognomik und versucht es, auf Grundlage des Stu­diums der organischen Gestalt, den Unterschied des Men­schen von den Tieren festzustellen. Er findet diesen in dem durch das Ganze des menschlichen Baues bedingten Her­vortreten des Kopfes, in der vollkommenen Ausbildung des menschlichen Gehirns, zu dem alle Teile wie zu einem Organ hindeuten, auf das sie gestimmt sind. Im Gegenteil ist bei dem Tiere der Kopf an den Rückgrat bloß angehängt, das Gehirn, das Rückenmark haben nicht mehr Umfang als zur Auswirkung der untergeordneten Lebensgeister und zur Leitung der bloß sinnlichen Verrichtungen unbedingt not­wendig ist. Goethe sucht schon damals den Unterschied des Menschen von den Tieren nicht in irgend einem einzelnen, sondern in dem verschiedenen Grade der Vollkommenheit, den das gleiche Grundgebilde in dem einen oder anderen Fal­le erreicht. Es schwebt ihm bereits das Bild eines Typus vor, der sowohl bei den Tieren wie beim Menschen sich findet, der bei den ersteren so ausgebildet ist, daß der ganze Bau den animalischen Funktionen dient, während bei letzterem der Bau das Grundgerüste für die Entwicklung des Geistes abgibt.

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Aus solchen Betrachtungen heraus erwächst Goethes Spezialstudium der Anatomie. Am 22. Januar 1776 berich­tet er an Lavater: «Der Herzog hat mir sechs Schädel kom­men lassen, habe herrliche Bemerkungen gemacht, die Euer Hochwürden zu Diensten stehen, wenn dieselben Sie nicht ohne mich fanden.» Im Tagebuche Goethes lesen wir unter dem i Oktober 1781, daß er in Jena mit dem alten Einsie­del Anatomie trieb und in demselben Jahre fing er an, sich von Loder in diese Wissenschaft genauer einführen zu las­sen. Er erzählt davon in Briefen an Frau von Stein vom 29. Oktober 1781 und an den Herzog vom 4. November. Er hat auch die Absicht, den jungen Leuten an der Zeichenaka­demie «das Skelett zu erklären und sie zur Kenntnis des menschlichen Körpers anzuführen». - «Ich tue es», sagt er, «um meinet- und ihretwillen; die Methode, die ich gewählt habe, wird sie diesen Winter über völlig mit den Grundsäulen des Körpers bekannt machen. » Er hat, wie aus dem Tagebuch zu ersehen, diese Vorlesungen auch gehalten. Auch mit Lo­der hat er in dieser Zeit über den Bau des menschlichen Kör­pers manches Gespräch geführt. Und wieder ist es seine allge­meine Naturansicht, die als treibende Kraft und als eigentli­ches Ziel dieser Studien erscheint. Er behandelt die« Knochen als einen Text, woran sich alles Leben und alles Menschliche anhängen läßt» (Briefe an Lavater und Merck vom 14. No­vember 1781). Vorstellungen über das Wirken des Organi­schen, über den Zusammenhang der menschlichen Bildung mit der tierischen beschäftigen damals seinen Geist. Daß der menschliche Bau nur die höchste Stufe des tierischen ist, und daß er durch diesen vollkommeneren Grad des Tierischen die sittliche Welt aus sich hervorbringt, ist eine Idee, die bereits in der Ode «das Göttliche »vom Jahre 1782 niedergelegt ist.

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Edel sei der Mensch,

Hilfreich und gut!

Denn das allein

Unterscheidet ihn

Von allen Wesen,

Die wir kennen.

- - - - - - -

Nach ewigen, ehrnen,

Großen Gesetzen

Müssen wir alle

Unsers Daseins

Kreise vollenden.

Die «ewigen, ehrnen Gesetze» wirken im Menschen ge­rade so wie in der übrigen Organismenwelt; sie erreichen in ihm nur eine Vollkommenheit, durch die es ihm möglich ist, «edel, hilfreich und gut» zu sein.

Während in Goethe sich solche Ideen immer mehr fest­setzten, arbeitete Herder an seinen «Ideen zu einer Philoso­phie der Geschichte der Menschheit». Alle Gedanken dieses Buches wurden von den beiden durchgesprochen. Goethe war von Herders Auffassung der Natur befriedigt. Sie fiel mit seinen eigenen Vorstellungen zusammen. «Herders Schrift macht wahrscheinlich, daß wir erst Pflanzen und Tiere waren... Goethe grübelt jetzt gar denkreich in diesen Dingen und jedes, was erst durch seine Vorstellung gegan­gen ist, wird äußerst interessant», schreibt am 1. Mai 1784 Frau von Stein an Knebel. Wie sehr man berechtigt ist, von Herders Ideen auf die Goethes zu schließen, zeigen die Wor­te, die Goethe am 8. Dez. 1783 an Knebel richtet: «Herder schreibt eine Philosophie der Geschichte, wie Du Dir denken

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kannst, von Grund aus neu. Die ersten Kapitel haben wir vorgestern zusammen gelesen, sie sind köstlich.» Sätze wie die folgenden liegen ganz in Goethes Denkrichtung. «Das Menschengeschlecht ist der große Zusammenfluß niederer organischer Kräfte.» « Und so können wir den vierten Satz annehmen: daß der Mensch ein Mittelgeschöpf unter den Tie­ren, d. i. die ausgearbeitete Form sei, in der sich die Zuge aller Gat­tungen um ihn her im feinsten Inbegriff sammeln.»

Mit solchen Vorstellungen war allerdings die Ansicht der damaligen Anatomen nicht zu vereinigen, daß der kleine Knochen, den die Tiere in der oberen Kinnlade haben, der Zwischenkiefer, der die oberen Schneidezähne enthält, dem Menschen fehle. Sömmering, einer der bedeutendsten Ana­tomen der damaligen Zeit, schrieb am 8. Oktober 1782 an

Merck: «Ich wünschte, daß Sie Blumenbach nachsähen, wegen des ossis intermaxillaris, der ceteris paribus der ein­zige Knochen ist, den alle Tiere vom Affen an, selbst der Orang-Utang eingeschlossen, haben, der sich hingegen nie beim Menschen findet; wenn Sie diesen Knochen abrech­nen, so fehlt Ihnen nichts, um nicht alles vom Menschen auf die Tiere transferieren zu können. Ich lege deshalb einen Kopf von einer Hirschkuh bei, um Sie zu überzeugen, daß dieses os intermaxillare (wie es Blumenbach) oder os incisi­vum (wie es Camper nennt) selbst bei Tieren vorhanden ist, die keine Schneidezähne in der oberen Kinnlade haben.» Das war die allgemeine Meinung der Zeit. Auch der be­rühmte Camper, für den Merck und Goethe die innigste Verehrung hatten, bekannte sich zu ihr. Der Umstand, daß der Zwischenknochen beim Menschen links und rechts mit den Oberkieferknochen verwachsen ist, ohne daß bei einem normal gebildeten Individuum eine deutliche Grenze zu

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sehen ist, hat zu dieser Ansicht geführt. Hätten die Gelehr­ten recht gehabt mit derselben, dann wäre es unmöglich, ein gemeinsames Urbild für den Bau des tierischen und mensch­lichen Organismus aufzustellen; eine Grenze zwischen den beiden Formen müßte angenommen werden. Der Mensch wäre nicht nach dem Urbilde geschaffen, das auch den Tie­ren zu Grunde liegt. Dieses Hindernis seiner Weltanschau­ung mußte Goethe hinwegräumen. Es gelang ihm im Früh­ling 1784 in Gemeinschaft mit Loder. Nach seinem allge­meinen Grundsatze, «daß die Natur kein Geheimnis habe, was sie nicht irgendwo dem aufmerksamen Beobachter nackt vor die Augen stellt», ging Goethe vor. Er fand bei einzelnen abnorm gebildeten Schädeln die Grenze zwischen Ober- und Zwischenkiefer wirklich vorhanden. Freudig be­richtet er von dem Fund am 27. März an Herder und Frau von Stein. An Herder schreibt er: «Es soll Dich auch herz­lich freuen, denn es ist wie der 5chlußstein zum Menschen, fehlt nicht, ist auch da! Aber wie! Ich habe mirs auch in Verbindung mit Deinem Ganzen gedacht, wie schön es da wird.» Und als Goethe die Abhandlung, die er über die Sache geschrieben hat, im November 1784 an Knebel schickt, deutet er die Be­deutung, die er der Entdeckung für seine ganze Vorstel­lungswelt beilegt, mit den Worten an: «Ich habe mich ent­halten, das Resultat, worauf schon Herder in seinen Ideen deutet, schon jetzt merken zu lassen, daß man nämlich den Un­terschied des Menschen vom Tier in nichts einzelnem finden könne.» Goethe konnte erst Vertrauen zu seiner Naturansicht gewinnen, als die irrtümliche Ansicht über das fatale Knöchel­chen beseitigt war. Er gewann allmählich den Mut, seine Ideen über die Art, wie die Natur, mit einer Hauptform gleichsam spielend, das mannigfaltige Leben hervorbringt,

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«auf alle Reiche der Natur, auf ihr ganzes Reich auszudeh­nen». In diesem Sinne schreibt er im Jahre 1786 an Frau von Stein.

Immer lesbarer wird Goethe das Buch der Natur, nachdem er den einen Buchstaben richtig entziffert hat. «Mein langes Buchstabieren hat mir geholfen, jetzt wirkts auf einmal und meine stille Freude ist unaussprechlich», schreibt er der Frau von Stein am 15. Mai 1785. Er hält sich jetzt auch be­reits für fähig, eine kleine botanische Abhandlung für Kne­bel zu schreiben. Die Reise, die er 1785 nach Karlsbad mit diesem zusammen unternimmt, wird zu einer förmlichen botanischen Studienreise. Nach der Rückkehr werden mit Hilfe Linnés die Reiche der Pilze, Moose, Flechten und Al­gen durchgegangen. Er teilt am 9. November der Frau von Stein mit: «Ich lese Linné fort, denn ich muß wohl, ich habe kein anderes Buch. Es ist das die beste Art, ein Buch gewiß zu lesen, die ich öfters praktizieren muß, besonders da ich nicht leicht ein Buch auslese. Dieses ist aber vorzüglich nicht zum Lesen, sondern zum Rekapitulieren gemacht und tut mir nun treffliche Dienste, da ich über die meisten Punkte selbst gedacht habe.» Während dieser Studien be­kommt auch die Grundform, aus welcher die Natur alle mannigfaltigen Pflanzengebilde herausarbeitet, einzelne, wenn auch noch nicht deutliche Umrisse in seinem Geiste. In einem Briefe an die Frau von Stein vom 9. Juli 1786 sind die Worte enthalten: «Es ist ein Gewahrwerden der wesent­lichen Form, mit der die Natur gleichsam nur immer spielt und spielend das mannigfaltige Leben hervorbringt.»

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Im April und Mai 1786 beobachtete Goethe durch das Mi­kroskop die niederen Organismen, die sich in Aufgüssen verschiedener Substanzen (Pisangmark, Kaktus, Trüffeln, Pfefferkörnern, Tee, Bier usw.) entwickeln. Er notiert sorg­fältig die Vorgänge, die er an diesen Lebewesen beobachtet und verfertigt Zeichnungen dieser organischen Formen (vgl. Goethes naturwissenschaftliche Schriften in der So­phien-Ausgabe, 2. Abteilung, Band 7, S.289-309). Man kann auch aus diesen Notizen ersehen, daß Goethe der Er­kenntnis des Lebens nicht durch solche Beobachtung niede­rer und einfacher Organismen näher zu kommen sucht. Es ist ganz offenbar, daß er die wesentlichen Züge der Lebens­vorgänge an den höheren Organismen ebenso zu erfassen glaubt, wie an den niederen. Er ist der Ansicht, daß sich an dem Infusionstierchen dieselbe Art von Gesetzmäßigkeit wiederholt, die das Auge des Geistes an dem Hund wahr­nimmt. Die Beobachtung durch das Mikroskop lehrt nur Vorgänge kennen, die im Kleinen das sind, was das unbe­waffnete Auge im Großen sieht. Sie bietet eine Bereicherung der sinnlichen Erfahrung. Einer höheren Art des Anschauens, nicht einer Verfolgung der den Sinnen zugänglichen Vor­gänge bis in ihre kleinsten Bestandteile, offenbart sich das Wesen des Lebens. Goethe sucht dieses Wesen durch die Betrachtung der höheren Pflanzen und Tiere zu erkennen. Er würde diese Erkenntnis ohne Zweifel in derselben Weise gesucht haben, auch wenn zu seiner Zeit die Pflanzen- und Tieranatomie schon ebenso weit vorgeschritten gewesen wäre, wie sie gegenwärtig ist. Wenn Goethe die Zellen, aus denen sich der Pflanzen- und Tierkörper aufbaut, hätte be­obachten können, so würde er erklärt haben, daß sich an diesen elementaren organischen Formen dieselbe Gesetzmäßigkeit

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zeigt, die auch am Zusammengesetzten wahrzu­nehmen ist. Er hätte sich durch dieselben Ideen, durch die er sich die Lebensvorgänge der höheren Organismen er­klärte, auch die Erscheinungen an diesen kleinen Wesen be­greiflich gemacht.

Den lösenden Gedanken des Rätsels, das ihm die organi­sche Bildung und Umbildung aufgegeben hat, findet Goe­the erst in Italien. Am 3. September verläßt er Karlsbad, um nach dem Süden zu gehen. In wenigen, aber bedeutsamen Sätzen schildert er in seiner «Geschichte meines botani­schen Studiums » (Kürschner, Band 33, S. 61 ff.) die Gedan­ken, welche die Beobachtung der Pflanzenwelt in ihm aufregt bis zu dem Augenblicke, da ihm in Sizilien eine klare Vorstellung darüber sich offenbart, wie es möglich ist, daß den Pflanzenformen «bei einer eigensinnigen, generischen und spezifischen Hartnäckigkeit eine glückliche Mobilität und Biegsamkeit verliehen ist, um in so viele Bedingungen, die über dem Erdkreis auf sie einwirken, sich zu fügen und darnach bilden und umbilden zu können». Beim Übergang über die Alpen, im botanischen Garten von Padua und an anderen Orten zeigte sich ihm das «Wechselhafte der Pflan­zengestalten». «Wenn in der tiefern Gegend Zweige und Stengel stärker und mastiger waren, die Augen näher aneinander standen und die Blätter breit waren, so wurden hö­her ins Gebirge hinauf Zweige und Stengel zarter, die Au­gen rückten auseinander, so daß von Knoten zu Knoten ein größerer Zwischenraum stattfand und die Blätter sich lan­zenförmiger bildeten. Ich bemerkte dies bei einer Weide und einer Gentiana und überzeugte mich, daß es nicht etwa verschiedene Arten wären. Auch am Walchensee bemerkte ich längere und schlankere Binsen, als im Unterland» (Italienische­

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Reise, 8. Sept.). Am 8. Oktober findet er in Vene­dig am Meere verschiedene Pflanzen, an denen ihm die Wechselbeziehung des Organischen zu seiner Umgebung besonders anschaulich wird. «Sie sind alle zugleich mastig und streng, saftig und zäh, und es ist offenbar, daß das alte Salz des Sandbodens, mehr aber die salzige Luft ihnen diese Eigenschaften gibt; sie strotzen von Säften wie Wasser­pflanzen, sie sind fest und zäh wie Bergpflanzen; wenn ihre Blätterenden eine Neigung zu Stacheln haben, wie Disteln tun, sind sie gewaltig spitz und stark. Ich fand einen solchen Busch Blätter; es schien mir unser unschuldiger Huflattig, hier aber mit scharfen Waffen bewaffnet, und das Blatt wie Leder, so auch die Samenkapseln, die Stiele, alles mastig und fett» (Italienische Reise). Im botanischen Garten zu Pa­dua bekommt der Gedanke in Goethes Geiste eine bestimm­tere Gestalt, wie man sich alle Pflanzengestalten vielleicht aus einer entwickeln könne (Italienische Reise, 27. Sept.); im November teilt er Knebel mit: «So freut mich doch mein bißchen Botanik erst recht in diesen Landen, wo eine fro­here, weniger unterbrochene Vegetation zu Hause ist. Ich habe schon recht artige, ins allgemeine gehende Bemerkun­gen gemacht, die auch Dir in der Folge angenehm sein wer­den.» Am 25. März 1787 kommt ihm eine «gute Erleuch­tung über botanische Gegenstände». Er bittet Herdern zu sagen, daß er mit der Urpflanze bald zustande sei. Nur fürch­tet er, «daß niemand die übrige Pflanzenwelt darin wird er­kennen wollen » (Italienische Reise). Am ,7. April geht er mit dem «festen, ruhigen Vorsatz, seine dichterischen Träu­me fortzusetzen, nach dem öffentlichen Garten». Allein ehe er sichs versieht, erhascht ihn das Pflanzenwesen wie ein Gespenst. «Die vielen Pflanzen, die ich sonst nur in Kü­beln

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und Töpfen, ja die größte Zeit des Jahres nur hinter Glasfenstern zu sehen gewohnt war, stehen hier froh und frisch unter freiem Himmel, und indem sie ihre Bestimmung vollkommen erfüllen, werden sie uns deutlicher. Im Angesicht so vielerlei neuen und erneuten Gebildes, fiel mir die alte Grille wieder ein: ob ich nicht unter dieser 5char die Ur­pfianze entdecken könnte? Eine solche muß es denn doch geben! woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären.» Er bemüht sich, die abweichenden Gestalten zu unter­scheiden, aber immer wieder werden seine Gedanken zu dem einen Urbild, das ihnen allen zu Grunde liegt, hingelenkt (Italienische Reise, 7. April 1787). Goethe legt sich ein botanisches Tagebuch an, in dem er alle während der Reise über das Pflanzenreich gemachten Erfahrungen und Reflexionen einzeichnet (vgl. Sophien-Ausgabe, 2. Abt., Band 7, S.273 ff.). Diese Tagebuchblätter zeigen, wie un­ermüdlich er damit beschäftigt ist, Pflanzenexemplare aus­findig zu machen, die geeignet sind, auf die Gesetze des Wachstums und der Fortpflanzung hinzuleiten. Glaubt er irgend einem Gesetze auf der Spur zu sein, so stellt er es zu­nächst in hypothetischer Form auf, um es sich dann im Ver­lauf seiner weiteren Erfahrungen bestätigen zu lassen. Die Vorgänge der Keimung, der Befruchtung, des Wachstums notiert er sorgfältig. Daß das Blatt das Grundorgan der Pflanze ist, und daß die Formen aller übrigen Pflanzenor­gane am besten zu verstehen sind, wenn man sie als umge­wandelte Blätter betrachtet, leuchtet ihm immer mehr ein. Er schreibt in das Tagebuch: «Hypothese: Alles ist Blatt und durch diese Einfachheit wird die größte Mannigfaltig­keit möglich.» Und am ,7. Mai teilt er Herder mit: «Ferner

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muß ich Dir vertrauen, daß ich dem Geheimnis der Pflan­zenzeugung und Organisation ganz nahe bin, und daß es das Einfachste ist, was nur gedacht werden kann. Unter die­sem Himmel kann man die schönsten Beobachtungen ma­chen. Den Hauptpunkt, wo der Keim steckt, habe ich ganz klar und zweifellos gefunden; alles übrige sehe ich auch schon im Ganzen und nur einige Punkte müssen bestimm­ter werden. Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins unendliche erfinden, die konse­quent sein müssen, das heißt: die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten, und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden las­sen..... «Vorwärts und rückwärts ist die Pflanze immer nur Blatt, mit dem künftigen Keime so unzertrennlich vereint, daß man eins ohne das andere nicht denken darf Einen sol­chen Begriff zu fassen, zu ertragen, ihn in der Natur aufzu­finden, ist eine Aufgabe, die uns in einen peinlich süßen Zustand versetzt» (Italienische Reise).

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Goethe nimmt zur Erklärung der Lebenserscheinungen einen Weg, der gänzlich verschieden ist von denen, welche die Naturforscher gewöhnlich gehen. Diese scheiden sich in zwei Parteien. Es gibt Verteidiger einer in den organischen Wesen wirkenden Lebenskraft, die gegenüber anderen Na­turursachen eine besondere, höhere Kräfteform darstellt. Wie es Schwerkraft, chemische Anziehung und Abstoßung,

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Magnetismus usw. gibt, so soll es auch eine Lebenskraft geben, welche die Stoffe des Organismus in eine solche Wechselwirkung bringt, daß dieser sich erhalten, wachsen, nähren und fortpflanzen kann. Die Naturforscher, welche dieser Meinung sind, sagen: in dem Organismus wirken dieselben Kräfte wie in der übrigen Natur; aber sie wirken nicht wie in einer leblosen Maschine. Sie werden von der Lebenskraft gleichsam eingefangen und auf eine höhere Stufe des Wirkens gehoben. Den Bekennern dieser Mei­nung stehen andere Naturforscher gegenüber, welche glau­ben, daß in den Organismen keine besondere Lebenskraft wirke. Sie halten die Lebenserscheinungen für komplizierte chemische und physikalische Vorgänge und geben sich der Hoffnung hin, daß es einst vielleicht gelingen werde, einen Organismus ebenso durch Zurückführung auf unorgani­sche Kraftwirkungen zu erklären wie eine Maschine. Die erste Ansicht wird als Vitalismus, die andere als Mechanis­mus bezeichnet. Von beiden ist die Goethesche Auffassungs­weise durchaus verschieden. Daß in dem Organismus noch etwas anderes wirksam ist, als die Kräfte der unorganischen Natur, erscheint ihm selbstverständlich. Zur mechanischen Auffassung der Lebenserscheinungen kann er sich nicht be­kennen. Ebensowenig sucht er, um die Wirkungen im Or­ganismus zu erklären, nach einer besonderen Lebenskraft. Er ist überzeugt, daß zur Erfassung der Lebensvorgänge eine Anschauung gehört, die anderer Art ist als diejenige, durch welche die Erscheinungen der unorganischen Natur wahrgenommen werden. Wer zur Annahme einer Lebens­kraft sich entschließt, der sieht zwar ein, daß die orga­nischen Wirkungen nicht mechanisch sind, aber es fehlt ihm zugleich die Fähigkeit, jene andere Art der Anschauung­

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in sich auszubilden, durch die ihm das Organische er­kennbar werden könnte. Die Vorstellung der Lebenskraft bleibt dunkel und unbestimmt. Ein neuerer Anhänger des Vitalismus, Gustav Bunge, meint: «In der kleinsten Zelle - da stecken schon alle Rätsel des Lebens drin, und bei der Erforschung der kleinsten Zelle - da sind wir mit den bis­herigen Hilfsmitteln bereits an der Grenze angelangt» («Vi­talismus und Mechanismus», Leipzig 1886, S. 7). Es ist durchaus im Sinne der Goetheschen Denkweise, darauf zu antworten: Dasjenige Anschauungsvermögen, welches nur das Wesen der unorganischen Erscheinungen erkennt, ist mit seinen Hilfsmitteln an der Grenze angelangt, die über­schritten werden muß, um das Lebendige zu erfassen. Die­ses Anschauungsvermögen wird aber nie innerhalb seines Bereiches Mittel finden, die zur Erklärung des Lebens auch nur der kleinsten Zelle geeignet sein können. Wie zur Wahr­nehmung der Farbenerscheinungen das Auge gehört, so gehört zur Auffassung des Lebens die Fähigkeit, in dem Sinnlichen ein Übersinnliches unmittelbar anzuschauen. Dieses Übersinnliche wird demjenigen immer entschlüpfen, der nur die Sinne auf die organischen Formen richtet. Goe­the sucht die sinnliche Anschauung der Pflanzengestalten auf eine höhere Art zu beleben und sich die sinnliche Form einer übersinnlichen Urpflanze vorzustellen (vgl.« Geschich­te meines botanischen Studiums»in Kürschner, Band 33, S.80). Der Vitalist nimmt seine Zuflucht zu dem inhaltlee­ren Begriff der Lebenskraft, weil er das, was seine Sinne im Organismus nicht wahrnehmen können, überhaupt nicht sieht. Goethe sieht das Sinnliche von einem Über­sinnlichen so durchdrungen, wie eine gefärbte Fläche von der Farbe.

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Die Anhänger des Mechanismus sind der Ansicht, daß es einmal gelingen könne, lebende Substanzen auf künst­lichem Wege aus unorganischen Stoffen herzustellen. Sie sagen, vor noch nicht vielen Jahren wurde behauptet, daß es im Organismus Substanzen gebe, die nicht auf künst­lichem Wege, sondern nur durch die Wirkung der Lebens­kraft entstehen können. Gegenwärtig ist man bereits im­stande, einige dieser Substanzen künstlich im Laborato­rium zu erzeugen. Ebenso könne es dereinst möglich sein, aus Kohlensäure, Ammoniak, Wasser und Salzen ein leben­diges Eiweiß herzustellen, welches die Grundsubstanz der einfachsten Organismen ist. Dann, meinen die Mechanisten, werde unbestreitbar erwiesen sein, daß Leben nichts weiter ist, als eine Kombination unorganischer Vorgänge, der Organismus nichts weiter als eine auf natürlichem Wege entstandene Maschine.

Vom Standpunkte der Goetheschen Weltanschauung ist darauf zu erwidern: die Mechanisten sprechen ineiner Weise von Stoffen und Kräften, die durch keine Erfahrung ge­rechtfertigt ist. Und man hat sich an diese Weise zu sprechen so gewöhnt, daß es sehr schwer wird, diesen Begriffen ge­genüber die reinen Aussprüche der Erfahrung geltend zu machen. Man betrachte aber doch einen Vorgang der Au­ßenwelt unbefangen. Man nehme ein Quantum Wasser von einer bestimmten Temperatur. Wodurch weiß man etwas von diesem Wasser? Man sieht es an und bemerkt, daß es einen Raum einnimmt und zwischen bestimmten Grenzen eingeschlossen ist. Man steckt den Finger oder ein Thermo­meter hinein, und findet es mit einem bestimmten Grade von Wärme behaftet. Man drückt gegen seine Oberfläche und erfährt, daß es flüssig ist. Das sind Aussprüche, welche die

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Sinne über den Zustand des Wassers machen. Nun erhitze man das Wasser. Es wird sieden und zuletzt sich in Dampf verwandeln. Wieder kann man sich durch die Wahrneh­mung der Sinne von den Beschaffenheiten des Körpers, des Dampfes, in den sich das Wasser verwandelt hat, Kenntnis verschaffen. Statt das Wasser zu erhitzen, kann man es dem elektrischen Strom unter gewissen Bedingungen aussetzen. Es verwandelt sich in zwei Körper, Wasserstoff und Sauer­stoff. Auch über die Beschaffenheit dieser beiden Körper kann man sich durch die Aussagen der Sinne belehren. Man nimmt also in der Körperwelt Zustände wahr und beob­achtet zugleich, daß diese Zustände unter gewissen Be­dingungen in andere übergehen. Über die Zustände unter­richten die Sinne. Wenn man noch von etwas anderem als von Zuständen, die sich verwandeln, spricht, so beschränkt man sich nicht mehr auf den reinen Tatbestand, sondern man fügt zu demselben Begriffe hinzu. Sagt man, der Sauer­stoff und der Wasserstoff, die sich durch den elektrischen Strom aus dem Wasser entwickelt haben, seien schon im Wasser enthalten gewesen, nur so innig miteinander ver­bunden, daß sie in ihrer Selbständigkeit nicht wahrzu­nehmen waren, so hat man zu der Wahrnehmung einen Be­griff hinzugefügt, durch den man sich das Hervorgehen der beiden Körper aus dem einen erklärt. Und wenn man weiter­geht und behauptet, Sauerstoff und Wasserstoff seien Stoffe, was man schon durch die Namen tut, die man ihnen beilegt, so hat man ebenfalls zu dem Wahrgenommenen einen Be­griff hinzugefügt. Denn tatsächlich ist in dem Raume, der vom Sauerstoff eingenommen wird, nur eine Summe von Zuständen wahrzunehmen. Zu diesen Zuständen denkt man den Stoff hinzu, an dem sie haften sollen. Was man von

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dem Sauerstoff und dem Wasserstoff in dem Wasser schon vorhanden denkt, das Stoffliche, ist ein Gedachtes, das zu dem Wahmehmungsinhalt hinzugefügt ist. Wenn man Wasserstoff und Sauerstoff durch einen chemischen Prozeß zu Wasser vereinigt, so kann man beobachten, daß eine Summe von Zuständen in eine andere übergeht. Wenn man sagt: es haben sich zwei einfache Stoffe zu einem zusammen­gesetzten vereinigt, so hat man eine begriffliche Auslegung des Beobachtungsinhaltes versucht. Die Vorstellung« Stoff» erhält ihren Inhalt nicht aus der Wahrnehmung, sondern aus dem Denken. Ein ähnliches wie vom «Stoffe» gilt von der «Kraft». Man sieht einen Stein zur Erde fallen. Was ist der Inhalt der Wahrnehmung? Eine Summe von Sinneseindrücken, Zuständen, die an aufeinanderfolgenden Orten auftreten. Man sucht sich diese Veränderung in der Sinnenwelt zu erklären, und sagt: die Erde ziehe den Stein an. Sie habe eine «Kraft», durch die sie ihn zu sich hinzwingt. Wieder hat unser Geist eine Vorstellung zu dem Tatbestan­de hinzugefügt und derselben einen Inhalt gegeben, der nicht aus der Wahrnehmung stammt. Nicht Stoffe und Kräfte nimmt man wahr, sondern Zustände und deren Übergänge in einander. Man erklärt sich diese Zustandsän­derungen durch Hinzufügung von Begriffen zu den Wahr­nehmungen.

Man nehme einmal an, es gebe ein Wesen, das Sauerstoff und Wasserstoff wahrnehmen könnte, nicht aber Wasser. Wenn wir vor den Augen eines solchen Wesens den Sauerstoff und Wasserstoff zu Wasser vereinigten, so verschwän­den vor ihm die Zustände, die es an den beiden Stoffen wahrgenommen hat, in nichts. Wenn wir ihm nun die Zu­stände auch beschrieben, die wir am Wasser wahrnehmen:

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es könnte sich von ihnen keine Vorstellung machen. Das beweist, daß in den Wahrnehmungsinhalten des Sauerstoffes nichts liegt, aus dem der Wahrnehmungsinhalt Wasser ab­zuleiten ist. Ein Ding besteht aus zwei oder mehreren an­deren, heißt: es haben sich zwei oder mehrere Wahrneh­mungsinhalte in einen zusammenhängenden, aber den er­steren gegenüber durchaus neuen, verwandelt.

Was wäre also erreicht, wenn es gelänge, Kohlensäure, Ammoniak, Wasser und Salze künstlich zu einer lebenden Eiweißsubstanz im Laboratorium zu vereinigen? Man wüßte, daß die Wahrnehmungsinhalte der vielerlei Stoffe sich zu einem Wahmehmungsinhalt vereinigen können. Aber dieser Wahmehmungsinhalt ist aus jenen durchaus nicht abzuleiten. Der Zustand des lebenden Eiweißes kann nur an diesem selbst beobachtet, nicht aus den Zuständen der Kohlensäure, des Ammoniaks, des Wassers und der Salze herausentwickelt werden. Im Organismus hat man etwas von den unorganischen Bestandteilen, aus denen er aufgebaut werden kann, völlig verschiedenes vor sich. Die sinnlichen Wahrnehmungsinhalte verwandeln sich bei der Entstehung des Lebewesens in sinnlich-übersinnliche. Und wer nicht die Fähigkeit hat, sich sinnlich-übersinn­liche Vorstellungen zu machen, der kann von dem Wesen eines Organismus ebensowenig etwas wissen, wie jemand vom Wasser etwas erfahren könnte, wenn ihm die sinnliche Wahrnehmung desselben unzugänglich wäre.

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Die Keimung, das Wachstum, die Umwandlung der Or­gane, die Ernährung und Fortpflanzung des Organismus sich als sinnlich-übersinnlichen Vorgang vorzustellen, war

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Goethes Bestreben bei seinen Studien über die Pflanzen- und die Tierwelt. Er bemerkte, daß dieser sinnlich-über­sinnliche Vorgang in der Idee bei allen Pflanzen derselbe ist, und daß er nur in der äußeren Erscheinung verschiedene For­men annimmt. Dasselbe konnte Goethe für die Tierwelt feststellen. Hat man die Idee der sinnlich-übersinnlichen Urpflanze in sich ausgebildet, so wird man sie in allen ein­zelnen Pflanzenformen wiederfinden. Die Mannigfaltigkeit entsteht dadurch, daß das der Idee nach Gleiche in der Wahr­nehmungswelt in verschiedenen Gestalten existieren kann. Der einzelne Organismus besteht aus Organen, die auf ein Grundorgan zurückzuführen sind. Das Grundorgan der Pflanze ist das Blatt mit dem Knoten, an dem es sich ent­wickelt. Dieses Organ nimmt in der äußeren Erscheinung verschiedene Gestalten an: Keimblatt, Laubblatt, Kelch­blatt, Kronenblatt usw. «Es mag nun die Pflanze sprossen, blühen oder Früchte bringen, so sind es doch nur immer die selbigen Organe, welche in vielfältigen Bestimmungen und unter oft veränderten Gestalten die Vorschrift der Natur erfüllen.»

*

Um ein vollständiges Bild der Urpflanze zu erhalten, mußte Goethe die Formen im allgemeinen verfolgen, welche das Grundorgan im Fortgang des Wachstums einer Pflanze von der Keimung bis zur Samenreife durchmacht. Im Anfang ihrer Entwicklung ruht die ganze Pflanzengestalt in dem Samen. In diesem hat die Urpflanze eine Gestalt angenom­men, durch die sie ihren ideellen Inhalt gleichsam in der äußeren Erscheinung verbirgt.

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Einfach schlief in dem Samen die Kraft; ein beginnendes Vorbild

Lag, verschlossen in sich, unter die Hülle gebeugt,

Blatt und Wurzel und Keim, nur halb geformet und farblos

Trocken erhält so der Kern ruhiges Leben bewahrt,

Quillet strebend empor, sich milder Feuchte vertrauend,

Und erhebt sich sogleich aus der umgebenden Nacht.

Kürschner, Band 33, S.105

Aus dem Samen entwickelt die Pflanze die ersten Orga­ne, die Kotyledonen, nachdem sie «ihre Hüllen mehr oder weniger in der Erde» zurückgelassen und «die Wurzel in den Boden » befestigt hat. Und nun folgt im weiteren Verlau­fe des Wachstums Trieb auf Trieb; Knoten auf Knoten türmt sich übereinander, und an jedem Knoten findet sich ein Blatt. Die Blätter erscheinen in verschiedenen Gestalten. Die unteren noch einfach, die oberen mannigfach gekerbt, eingeschnitten, aus mehreren Blättchen zusammengesetzt. Die Urpflanze breitet auf dieser Stufe der Entwicklung ihren sinnlich-übersinnlichen Inhalt im Raume als äußere sinnliche Erscheinung aus. Goethe stellt sich vor, daß die Blätter ihre fortschreitende Ausbildung und Verfeinerung dem Lichte und der Luft schuldig sind. «Wenn wir jene in der verschlossenen Samenhülle erzeugten Kotyledonen, mit einem rohen Safte nur gleichsam ausgestopft, fast gar nicht oder nur grob organisiert und ungebildet finden, so zeigen sich uns die Blätter der Pflanzen, welche unter dem Wasser wachsen, gröber organisiert als andere, der freien Luft ausgesetzte; ja, sogar entwickelt die selbige Pflanzenart glättere und weniger verfeinerte Blätter, wenn sie in tiefen,

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feuchten Orten wächst, da sie hingegen, in höhere Gegen­den versetzt, rauhe, mit Haaren versehene, feiner ausgebil­dete Blätter hervorbringt.» (Kürschner, Band 33, S.25 f.) In der zweiten Epoche des Wachstums zieht die Pflanze wieder in einen engeren Raum zusammen, was sie vorher ausgebreitet hat.

Mäßiger leitet sie nun den Saft, verengt die Gefäße,

Und gleich zeigt die Gestalt zärtere Wirkungen an.

Stille zieht sich der Trieb der strebenden Ränder zurücke,

Und die Rippe des Stiels bildet sich völliger aus.

Blattlos aber und schnell erhebt sich der zärtere Stengel,

Und ein Wundergebild zieht den Betrachtenden an.

Rings im Kreise stellet sich nun, gezählet und ohne

Zahl, das kleinere Blatt neben dem ähnlichen hin.

Um die Achse gedrängt, entscheidet der bergende

Kelch sich,

Der zur höchsten Gestalt farbige Kronen entläßt.

Im Kelch zieht sich die Pflanzengestalt zusammen; in der Blumenkrone breitet sie sich wieder aus. Nun folgt die nächste Zusammenziehung in den Staubgefäßen und dem Stempel, den Organen der Fortpflanzung. Die Bildungskraft der Pflanze entwickelte sich in den vorhergehenden Wachstumsperioden in einerlei Organen als Trieb, das Grundgebilde zu wiederholen. Dieselbe Kraft verteilt sich auf dieser Stufe der Zusammenziehung auf zwei Organe. Das Getrennte sucht sich wieder zusammenzufinden. Dies geschieht im Befruchtungsvorgang. Der in dem Staub­gefäß vorhandene männliche Blütenstaub vereinigt sich mit der weiblichen Substanz, die im Stempel enthalten ist; und damit ist der Keim zu einer neuen Pflanze gegeben.

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Goethe nennt die Befruchtung eine geistige Anastomose und sieht in ihr nur eine andere Form des Vorgangs, der in der Entwicklung von einem Knoten zum andern stattfindet. «An allen Körpern, die wir lebendig nennen, bemerken wir die Kraft, ihresgleichen hervorzubringen. Wenn wir diese Kraft geteilt gewahr werden, bezeichnen wir sie unter dem Namen der beiden Geschlechter.» (Sophien-Ausgabe, 2. Abt., Band 6, S.36i.) Von Knoten zu Knoten bringt die Pflanze ihresgleichen hervor. Denn Knoten und Blatt sind die einfache Form der Urpflanze. In dieser Form heißt die Hervorbringung Wachstum. Ist die Fortpflanzungskraft auf zwei Organe verteilt, so spricht man von zwei Geschlech­tern. Auf diese Weise glaubt Goethe die Begriffe von Wachstum und Zeugung einander näher gerückt zu haben. In dem Stadium der Fruchtbildung erlangt die Pflanze ihre letzte Ausdehnung; in dem Samen erscheint sie wieder zu­sammengezogen. In diesen sechs Schritten vollendet die Natur einen Kreis der Pflanzenentwicklung, und sie be­ginnt den ganzen Vorgang wieder von vorne. In dem Sa­men sieht Goethe nur eine andere Form des Auges, das sich an den Laubblättern entwickelt. Die aus den Augen sich entfaltenden Seitenzweige sind ganze Pflanzen, die, statt in der Erde, auf einer Mutterpflanze stehen. Die Vor­stellung von dem sich stufenweise, wie auf einer «geistigen Leiter » vom Samen bis zur Frucht sich umbildenden Grundorgan ist die Idee der Urpflanze. Gleichsam um die Ver­wandlungsfähigkeit des Grundorgans für die sinnliche An­schauung zu beweisen, läßt die Natur unter gewissen Be­dingungen auf einer Stufe statt des Organs, das nach dem regelmäßigen Wachstumsverlaufe entstehen sollte, ein an­deres sich entwickeln. Bei den gefüllten Mohnen z. B. treten

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an der Stelle, wo die Staubgefäße entstehen sollten, Blu­menblätter auf Das Organ, das der Idee nach zum Staubge­fäß bestimmt war, ist ein Blumenblatt geworden. In dem Organ, das im regelmäßigen Fortgang der Pflanzenent­wicklung eine bestimmte Form hat, ist die Möglichkeit enthalten, auch eine andere anzunehmen.

Als Illustration seiner Idee von der Urpflanze betrachtet Goethe das Bryophyllum calicinum, die gemeine Keim-Zumpe, eine Pflanzenart, die von den Molukkeninseln nach Kalkutta und von da nach Europa gekommen ist. Aus den Kerben der fetten Blätter dieser Pflanzen entwickeln sich frische Pflänzchen, die, nach ihrer Ablösung, zu voll­ständigen Pflanzen auswachsen. Goethe sieht in diesem Vor­gang sinnlich-anschaulich dargestellt, daß in dem Blatte eine ganze Pflanze der Idee nach ruht (vgl. Goethes Bemerkun­gen über das Bryophyllum calicinum in der Sophien-Aus­gabe, 2. Abt., Band VI, S. 336 ff.).

Wer die Vorstellung der Urpflanze in sich ausbildet und so beweglich erhält, daß er sie in allen möglichen Formen denken kann, die ihr Inhalt zuläßt, der kann mit ihrer Hilfe sich alle Gestaltungen im Pflanzenreiche erklären. Er wird die Entwicklung der einzelnen Pflanze begreifen; aber er wird auch finden, daß alle Geschlechter, Arten und Varie­täten nach diesem Urbilde geformt sind. Diese Anschauung hat Goethe in Italien ausgebildet und in seiner 1790 erschie­nenen Schrift: «Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären» niedergelegt.

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Auch in der Entwicklung seiner Ideen über den mensch­lichen Organismus schreitet Goethe in Italien vor. Am

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20. Januar schreibt er an Knebel: «Auf Anatomie bin ich so ziemlich vorbereitet, und ich habe mir die Kenntnis des menschlichen Körpers, bis auf einen gewissen Grad, nicht ohne Mühe erworben. Hier wird man durch die ewige Be­trachtung der Statuen immerfort, aber auf eine höhere Weise, hingewiesen. Bei unserer medizinisch-chirurgischen Anatomie kommt es bloß darauf an, den Teil zu kennen, und hierzu dient auch wohl ein kümmerlicher Muskel. In Rom aber wollen die Teile nichts heißen, wenn sie nicht zu­gleich eine edle schöne Form darbieten. - In dem großen Lazarett San Spirito hat man den Künstlern zulieb einen sehr schönen Muskelkörper dergestalt bereitet, daß die Schönheit desselben in Verwunderung setzt. Er könnte wirklich für einen geschundenen Halbgott, für einen Mar­syas gelten. - So pflegt man auch, nach Anleitung der Alten, das Skelett nicht als eine künstlich zusammengereihte Kno­chenmasse zu studieren, vielmehr zugleich mit den Bändern, wodurch es schon Leben und Bewegung erhält.» Auch nach seiner Rückkehr aus Italien treibt Goethe fleißig anatomi­sche Studien. Es drängt ihn, die Bildungsgesetze der tieri­schen Gestalt ebenso zu erkennen, wie ihm dies für diejeni­gen der Pflanze gelungen war. Er ist überzeugt, daß auch die Einheit des Tier-Organismus auf einem Grundorgan be­ruht, welches in der äußeren Erscheinung verschiedene For­men annehmen kann. Verbirgt sich die Idee des Grund-Organs, so erscheint dieses ungeformt. Es stellt dann die ein­facheren Organe des Tieres dar; bemächtigt sich die Idee des Stoffes so, daß sie ihn sich völlig ähnlich macht, dann entstehen die höheren, die edleren Organe. Was in den ein­facheren Organen der Idee nach vorhanden ist, das schließt sich in den höheren nach außen auf. Es ist Goethe nicht geglückt­

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glückt, die Gesetzmäßigkeit der ganzen tierischen Gestalt in eine einzige Vorstellung zu fassen, wie er es für die Pflan­zenform erreicht hat. Nur für einen Teil dieser Gestalt hat er das Bildungsgesetz gefunden, für das Rückenmark und Gehirn mit den diese Organe einschließenden Knochen. In dem Gehirn sieht er eine höhere Ausbildung des Rücken­marks. Jedes Nervenzentrum der Ganglien gilt ihm als ein auf niederer Stufe stehengebliebenes Gehirn. (Vgl. Sophien­-Ausgabe, 2. Abt., Band 8, S. 36o.) Und die das Gehirn ein­schließenden Schädelknochen deutet er als Umformungen der Wirbelknochen, die das Rückenmark umhüllen. Daß er die hintern Schädelknochen (Hinterhauptbein, hinteres und vorderes Keilbein) als drei umgebildete Wirbel anzusehen hat, ist ihm schon früher aufgegangen; für die vorderen Schädelknochen behauptet er dasselbe, als er im Jahre 1790 auf den Dünen des Lido einen Schafschädel findet, der so glücklich geborsten ist, daß in dem Gaumbein, der oberen Kinnlade und dem Zwischenknochen drei Wirbel in ver­wandelter Gestalt unmittelbar sinnlich sich darzustellen scheinen.

Die Anatomie der Tiere war zu Goethes Zeit noch nicht so weit vorgeschritten, daß er ein Lebewesen hätte anführen können, welches wirklich an Stelle von entwickelten Schä­delknochen Wirbel hat und das also im sinnlichen Bilde das zeigt, was bei den vollkommenen Tieren nur der Idee nach vorhanden ist. Durch die Untersuchungen Carl Gegen­bauers, die im Jahre 1872 veröffentlicht worden sind, ist es gelungen, eine solche Tierform anzugeben. Die Urfische oder Selachier haben Schädelknochen und ein Gehirn, die sich deutlich als Endglieder der Wirbelsäule und des Rüc­kenmarkes erweisen. Nach dem Befund an diesen Tieren

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scheint allerdings eine größere Zahl von Wirbeln in die Kopfbildung eingegangen zu sein (mindestens neun), als Goethe angenommen hat. Dieser Irrtum über die Zahl der Wirbel und auch noch die Tatsache, daß im Embryonalzu­stand der Schädel der höheren Tiere keine Spur einer Zu­sammensetzung aus wirbelartigen Teilen zeigt, sondern sich aus einer einfachen knorpeligen Blase entwickelt, ist gegen den Wert der Goetheschen Idee von der Umwandlung des Rückenmarks und der Wirbelsäule angeführt worden. Man gibt zwar zu, daß der Schädel aus Wirbeln entstanden ist. Aber man leugnet, daß die Kopfknochen in der Form, in der sie sich bei den höheren Tieren zeigen, umgebildete Wirbel seien. Man sagt, daß eine vollkommene Verschmel­zung der Wirbel zu einer knorpeligen Blase stattgefunden habe, in der die ursprüngliche Wirbelstruktur vollständig verschwunden sei. Aus dieser Knorpelkapsel haben sich dann die Knochenformen herausgebildet, die an höheren Tieren wahrzunehmen sind. Diese Formen haben sich nicht nach dem Urbilde des Wirbels gebildet, sondern entspre­chend den Aufgaben, die sie am entwickelten Kopfe zu erfül­len haben. Man hätte also, wenn man nach einem Erklä­rungsgrund für irgendeine Schädelknochenform sucht, nicht zu fragen: wie hat sich ein Wirbel umgebildet, um zu dem Kopfknochen zu werden; sondern welche Bedingun­gen haben dazu geführt, daß sich diese oder jene Knochengestalt aus der einfachen Knorpelkapsel herausgetrennt hat? Man glaubt an die Bildung neuer Gestalten, nach neuen Bildungsgesetzen, nachdem die ursprüngliche Wirbelform in eine strukturlose Kapsel aufgegangen ist. Ein Wider­spruch zwischen dieser Auffassung und der Goetheschen kann nur vom Standpunkte des Tatsachenfanatismus aus

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gefunden werden. Was in der Knorpelkapsel des Schädels nicht mehr sinnlich wahrnehmbar ist, die Wirbelstruktur, ist in ihr gleichwohl der Idee nach vorhanden und tritt wieder in die Erscheinung, sobald die Bedingungen dazu vorhan­den sind. In der knorpeligen Schädelkapsel verbirgt sich die Idee des wirbelförmigen Grundorgans innerhalb der sinn­lichen Materie; in den ausgebildeten Schädelknochen tritt sie wieder in die äußere Erscheinung.

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Goethe hofft, daß sich ihm die Bildungsgesetze der übrigen Teile des tierischen Organismus in derselben Weise offen­baren werden, wie es diejenigen des Gehirns, Rückenmarks und ihrer Umhüllungsorgane getan haben. Über die am Lido gemachte Entdeckung läßt er am 30.April 1790 Her­dern durch Frau von Kalb sagen, daß er «der Tiergestalt und ihren mancherlei Umbildungen um eine ganze Formel näher ge­rückt ist, und zwar durch den sonderbarsten Zufall» (Goe­the an Frau von Kalb). Er glaubt, seinem Ziele so nahe zu sein, daß er noch in demselben Jahre, das ihm den Fund ge­bracht hat, eine Schrift über die tierische Bildung vollenden will, die sich der «Metamorphose der Pflanzen» an die Seite stellen läßt. (Briefwechsel mit Knebel, S. 98.) In Schlesien, wohin er im Juli 1790 reist, treibt er Studien zur verglei­chenden Anatomie und beginnt an einem Aufsatz « Über die Gestalt der Tiere» zu schreiben. (Sophien-Ausgabe, 2. Abt., Band 8, S. 261 ff.) Es ist Goethe nicht gelungen, von dem glücklich gewonnenen Ausgangspunkte aus zu den Bildungsgesetzen der ganzen Tiergestalt fortzuschreiten. So viel Ansätze er auch dazu macht, den Typus der tieri­schen Gestalt zu finden: etwas der Idee der Urpflanze Ana­loges

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ist nicht zustande gekommen. Er vergleicht die Tiere untereinander und mit dem Menschen und sucht ein allge­meines Bild des tierischen Baues zu gewinnen, nach welchem, als einem Muster, die Natur die einzelnen Gestalten formt. Eine lebendige Vorstellung, die sich nach den Grundgesetzen der tierischen Bildung mit einem Gehalt erfüllt und so das Urtier der Natur gleichsam nachschafft, ist dieses allgemeine Bild des tierischen Typus nicht. Ein allgemeiner Begriff ist es nur, der von den besonderen Erscheinungen abgezogen ist. Er stellt das Gemeinsame in den mannigfaltigen Tierformen fest; aber er enthält nicht die Gesetzmäßigkeit der Tierheit.

Alle Glieder bilden sich aus nach ew'gen Gesetzen,

Und die seltenste Form bewahrt im Geheimen das Urbild.

Gedicht «Die Metamorpbose der Tiere»

Wie dieses Urbild durch gesetzmäßige Umformung eines Grundgliedes sich als vielgliedrige Urform des tierischen Organismus entwickelt, davon konnte Goethe eine einheit­liche Vorstellung nicht entwickeln. Sowohl der Versuch über «die Gestalt der Tiere» als auch der 1795 in Jena ent­standene «Entwurf einer vergleichenden Anatomie, ausge­hend von der Osteologie» und seine spätere ausführlichere Gestalt «Vorträge über die drei ersten Kapitel des Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anato­mie» (1796) enthalten nur Anleitungen darüber, wie die Tiere zweckmäßig zu vergleichen sind, um ein allgemeines Schema zu gewinnen, nach dem die schaffende Gewalt die «organischen Naturen erzeugt und entwickelt »,eine Norm, nach welcher die «Beschreibungen auszuarbeiten» und auf welche, «indem solche von der Gestalt der verschiedenen

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Tiere abgezogen wäre, die verschiedensten Gestalten wie­der zurückzuführen» sind (vgl. die genannten «Vorträge»). Bei der Pflanze hingegen hat Goethe gezeigt, wie ein Urge­bilde durch aufeinanderfolgende Modifikationen sich ge­setzmäßig zu der vollkommenen organischen Gestalt aus­bildet.

Wenn er auch nicht die schaffende Naturgewalt in ihrer Bil­dungs- und Umbildungskraft durch die verschiedenen Glie­der des tierischen Organismus hindurch verfolgen konnte, so ist es Goethe doch gelungen, einzelne Gesetze zu finden, an die sich die Natur bei der Bildung der tierischen Formen hält, welche die allgemeine Norm zwar festhalten, doch aber in der Erscheinung verschieden sind. Er stellt sich vor, daß die Natur nicht die Fähigkeit habe, das allgemeine Bild be­liebig zu verändern. Wenn sie in einer Form ein Glied in besonders vollkommener Form ausbildet, so kann dies nur auf Kosten eines andern geschehen. Im Urorganismus sind alle Glieder enthalten, die bei irgendeinem Tiere vorkom­men können. Bei der einzelnen Tierform ist das eine ausge­bildet, das andere nur angedeutet; das eine besonders voll­kommen entwickelt, das andere vielleicht für die sinnliche Beobachtung gar nicht wahrzunehmen. Für den letzteren Fall ist Goethe überzeugt, daß in jedem Tiere das, was von dem allgemeinen Typus an ihm nicht sichtbar, doch in der Idee vorhanden ist.

Siehst du also dem einen Geschöpf besonderen Vorzug

Irgend gegönnt, so frage nur gleich, wo leidet es etwa

Mangel anderswo, und suche mit forschendem Geiste.

Finden wirst du sogleich zu aller Bildung den Schlüssel,

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Denn so hat kein Tier, dem sämtliche Zähne den obern

Kiefer umzäunen, ein Horn auf seiner Stirne getragen,

Und daher ist den Löwen gehörnt der ewigen Mutter

Ganz unmöglich zu bilden und böte sie alle Gewalt auf:

Denn sie hat nicht Masse genug, die Reihen der Zähne

Völlig zu pflanzen und auch ein Geweih und Hörner zu

treiben.

«Die Metamotphose der Tiere»

Im Urorganismus sind alle Glieder ausgebildet und hal­ten sich das Gleichgewicht; die Mannigfaltigkeit des Ein­zelnen entsteht dadurch, daß die Kraft der Bildung sich auf das eine Glied wirft und dafür ein anderes in der äußeren Erscheinung gar nicht oder nur andeutungsweise entwik­kelt. Dieses Gesetz des tierischen Organismus nennt man heute das von der Korrelation oder Kompensation der Organe.

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Goethe denkt sich in der Urpflanze die ganze Pflanzenwelt, in dem Urtiere die ganze Tierwelt der Idee nach enthalten. Aus diesem Gedanken entsteht die Frage: wie kommt es, daß in dem einen Falle diese bestimmten Pflanzen- oder Tierformen, in dem andern Falle andere entstehen? Unter welchen Bedingungen wird aus dem Urtiere ein Fisch? Un­ter welchen ein Vogel? Goethe findet zur Erklärung des Baues der Organismen in der Wissenschaft eine Vorstel­lungsart vor, die ihm zuwider ist. Die Anhänger dieser Vorstellungsart fragen bei jedem Organ: wozu dient es dem Lebewesen, an dem es vorkommt? Einer solchen Frage liegt der allgemeine Gedanke zugrunde, daß ein göttlicher Schöpfer oder die Natur jedem Wesen einen bestimmten

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Lebenszweck vorgesetzt und ihm dann einen solchen Bau gegeben habe, daß es diesen Zweck erfüllen könnte. Goethe findet eine solche Frage ebenso ungereimt, wie etwa die: zu welchem Zwecke bewegt sich eine elastische Kugel, wenn sie von einer anderen gestoßen wird? Eine Erklärung der Bewegung kann nur gegeben werden durch Auffinden des Gesetzes, nach welchem die Kugel durch einen Stoß oder eine andere Ursache in Bewegung versetzt worden ist. Man fragt nicht: wozu dient die Bewegung der Kugel, sondern:

woher entspringt sie? Ebenso soll man, nach Goethes Mei­nung, nicht fragen: wozu hat der Stier Hörner, sondern:

wie kann er Hörner haben. Durch welche Gesetze tritt in dem Stier das Urtier als hörnertragende Form auf? Goethe hat die Idee der Urpflanze und des Urtiers gesucht, um in ihnen die Erklärungsgründe für die Mannigfaltigkeit der organischen Formen zu finden. Die Urpflanze ist das schaf­fende Element in der Pflanzenwelt. Will man eine einzelne Pflanzenart erklären, so muß man zeigen, wie dieses schaf­fende Element in dem besonderen Falle wirkt. Die Vorstel­lung, ein organisches Wesen verdanke seine Gestalt nicht den in ihm wirkenden und bildenden Kräften, sondern sie sei ihm zu gewissen Zwecken von außen aufgedrängt, wirkt auf Goethe geradezu abstoßend. Er schreibt: «Neulich fand ich in einer leidig apostolisch-kapuzinermäßigen Deklama­tion des Züricher Propheten die unsinnigen Worte: Alles, was Leben hat, lebt durch etwas außer sich. Oder so ungefähr klang's. Das kann nun so ein Heidenbekehrer hinschreiben, und bei der Revision zupft ihn der Genius nicht beim Är­mel.» (Italienische Reise, 5.Oktober 1787.) Goethe denkt sich das organische Wesen als eine kleine Welt, die durch sich selbst da ist und sich nach ihren Gesetzen gestaltet.

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«Die Vorstellungsart, daß ein lebendiges Wesen zu gewis­sen Zwecken nach außen hervorgebracht und seine Gestalt durch eine absichtliche Urkraft dazu determiniert werde, hat uns in der philosophischen Betrachtung der natürlichen Dinge schon mehrere Jahrhunderte aufgehalten, und hält uns noch auf, obgleich einzelne Männer diese Vorstellungs­art eifrig bestritten, die Hindernisse, welche sie in den Weg legt, gezeigt haben... Es ist, wenn man sich so ausdrücken darf, eine triviale Vorstellungsart, die eben deswegen, wie alle trivialen Dinge, trivial ist, weil sie der menschlichen Natur im ganzen bequem und zureichend ist.» (Sophien­-Ausgabe, 2. Abt., Band 7, S. 217 f.) Es ist allerdings bequem zu sagen: ein Schöpfer hat bei Erschaffung einer organi­schen Art einen gewissen Zweckgedanken zu Grunde ge­legt, und ihr deswegen eine bestimmte Gestalt gegeben. Goethe will aber die Natur nicht aus den Absichten irgend­eines außer der Natur befindlichen Wesens, sondern aus den in ihr selbst liegenden Bildungsgesetzen erklären. Eine ein­zelne organische Form entsteht dadurch, daß Urpflanze oder Urtier in einem besonderen Falle sich eine bestimmte Gestalt geben. Diese Gestalt muß eine solche sein, daß die Form innerhalb der Bedingungen, in denen sie lebt, auch leben kann. «... die Existenz eines Geschöpfes, das wir Fisch nennen, sei nur unter der Bedingung eines Elementes, das wir Wasser nennen, möglich ...» (Sophien-Ausgabe, 2. Abt., Band 7, S. 221.) Will Goethe begreifen, welche Bil­dungsgesetze eine bestimmte organische Form hervorbrin­gen, so hält er sich an seinen Urorganismus. In ihm liegt die Kraft, sich in den mannigfaltigsten äußeren Gestalten zu verwirklichen. Um einen Fisch zu erklären, würde Goethe untersuchen, welche Bildungskräfte das Urtier anwendet,

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um von allen Gestalten, die der Idee nach in ihm liegen, ge­rade die Fischgestalt hervorzubringen. Würde das Urtier innerhalb gewisser Verhältnisse sich in einer Gestalt ver­wirklichen, in der es nicht leben kann, so ginge es zugrunde. Erhalten kann sich eine organische Form innerhalb gewisser Lebensbedingungen nur, wenn es denselben angepaßt ist.

Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Tieres,

Und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten

Mächtig zurück. So zeigt sich fest die geordnete Bildung,

Welche zum Wechsel sich neigt durch äußerlich wirkende

Wesen

«Die Metamorphose der Tiere»

Die in einem gewissen Lebenselemente dauernden organi­schen Formen sind durch die Natur dieses Elementes be­dingt. Wenn eine organische Form aus einem Lebensele­mente in ein anderes käme, so müßte sie sich entsprechend verändern. Das wird in bestimmten Fällen eintreten kön­nen, denn der ihr zugrunde liegende Urorganismus hat die Fähigkeit, sich in unzähligen Gestalten zu verwirklichen. Die Umwandlung der einen Form in die andere ist aber, nach Goethes Ansicht, nicht so zu denken, daß die äußeren Verhältnisse die Form unmittelbar nach sich umbilden, son­dern so, daß sie die Veranlassung werden, durch die sich die innere Wesenheit verwandelt. Veränderte Lebensbedingun­gen reizen die organische Form, sich nach inneren Gesetzen in einer gewissen Weise umzubilden. Die äußeren Einflüsse wirken mittelbar, nicht unmittelbar auf die Lebewesen. Un­zählige Lebensformen sind in Urpflanze und Urtier der Idee nach enthalten; diejenigen kommen zur tatsächlichen Exi­stenz, auf welche äußere Einflüsse als Reize wirken.

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Die Vorstellung, daß eine Pflanzen- oder Tierart sich im Laufe der Zeiten durch gewisse Bedingungen in eine andere verwandle, hat innerhalb der Goetheschen Naturanschau­ung ihre volle Berechtigung. Goethe stellt sich vor, daß die Kraft, welche im Fortpflanzungsvorgang ein neues Indivi­duum hervorbringt, nur eine Umwandlung derjenigen Kraftform ist, die auch die fortschreitende Umbildung der Organe im Verlaufe des Wachstums bewirkt. Die Fortpflan­zung ist ein Wachstum über das Individuum hinaus. Wie das Grundorgan während des Wachstums eine Folge von Veränderungen durchläuft, die der Idee nach gleich sind, so kann auch bei der Fortpflanzung eine Umwandlung der äußeren Gestalt unter Festhaltung des ideellen Urbildes stattfinden. Wenn eine ursprüngliche Organismenform vor­handen war, so konnten die Nachkommen derselben im Laufe großer Zeiträume durch allmähliche Umwandlung in die gegenwärtig die Erde bevölkernden mannigfaltigen Formen übergehen. Der Gedanke einer tatsächlichen Blutsverwandtschaft aller organischen Formen fließt aus den Grundanschauungen Goethes. Er hätte ihn sogleich nach der Konzeption seiner Ideen von Urtier und Urpflanze in vollkommener Form aussprechen können. Aber er drückt sich, wo er diesen Gedanken berührt, zurückhaltend, ja un­bestimmt aus. In dem Aufsatz: «Versuch einer allgemeinen Vergleichungslehre», der nicht lange nach der «Metamor­phose der Pflanzen» entstanden sein dürfte, ist zu lesen:

«Und wie würdig ist es der Natur, daß sie sich immer der­selben Mittel bedienen muß, um ein Geschöpf hervorzu­bringen und es zu ernähren! So wird man auf eben diesen Wegen fortschreiten und, wie man nur erst die unorgani­sierten, undeterminierten Elemente als Vehikel der unorga­nisierten

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Wesen angesehen, so wird man sich nunmehr in der Betrachtung erheben und wird die organisierte Welt wieder als einen Zusammenhang von vielen Elementen an­sehen. Das ganze Pflanzenreich zum Exempel wird uns wie­der als ein ungeheures Meer erscheinen, welches ebensogut zur bedingten Existenz der Insekten nötig ist als das Welt­meer und die Flüsse zur bedingten Existenz der Fische, und wir werden sehen, daß eine ungeheure Anzahl lebender Ge­schöpfe in diesem Pflanzenozean geboren und ernährt wer­de, ja wir werden zuletzt die ganze tierische Welt wieder nur als ein großes Element ansehen, wo ein Geschlecht auf dem andern und durch das andere, wo nicht entsteht, doch sich erhält.» Rückhaltloser ist folgender Satz der «Vorträge über die drei ersten Kapitel des Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie»(1796): «Dies also hätten wir gewonnen, ungeschult behaupten zu kön­nen: daß alle vollkommeneren organischen Naturen, wor­unter wir Fische, Amphibien, Vögel, Säugetiere und an der Spitze der letzten den Menschen sehen, alle nach einem Ur­bilde geformt seien, das nur in seinen beständigen Teilen mehr oder weniger hin- und hersieht und sich noch täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet.» Goethes Vorsicht dem Umwandlungsgedanken gegenüber ist begreiflich. Der Zeit, in welcher er seine Ideen ausbildete, war dieser Ge­danke nicht fremd. Aber sie hatte ihn in der wüstesten Weise ausgebildet. «Die damalige Zeit (schreibt Goethe 1807, vgl. Kürschner, Band 33, S. 15) jedoch war dunkler, als man es sich jetzt vorstellen kann. Man behauptete zum Beispiel, es hänge nur vom Menschen ab, bequem auf allen Vieren zu gehen, und Bären, wenn sie sich eine Zeitlang aufrecht hiel­ten, könnten zu Menschen werden. Der verwegene Diderot

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wagte gewisse Vorschläge, wie man ziegenfüßige Faune hervorbringen könne, um solche in Livre'e, zu besonderem Staat und Auszeichnung, den Großen und Reichen auf die Kutsche zu stiften.» Mit solchen unklaren Vorstellungen wollte Goethe nichts zu tun haben. Ihm lag daran, eine Idee von den Grundgesetzen des Lebendigen zu gewinnen. Da­bei wurde ihm klar, daß die Gestalten des Lebendigen nichts Starres, Unveränderliches, sondern daß sie in einer fortwäh­renden Umbildung begriffen sind. Wie diese Umbildung sich im einzelnen vollzieht, festzustellen, dazu fehlten ihm die Beobachtungen. Erst Darwins Forschungen und Haec­kels geistvolle Reflexionen haben einiges Licht auf die tat­sächlichen Verwandtschaftsverhältnisse einzelner organi­scher Formen geworfen. Vom Standpunkte der Goethe­schen Weltanschauung kann man sich den Behauptungen des Darwinismus gegenüber, soweit sie das tatsächliche Hervorgehen einer organischen Art aus der andern betref­fen, nur zustimmend verhalten. Goethes Ideen dringen aber tiefer in das Wesen des Organischen ein als der Darwinismus der Gegenwart. Dieser glaubt die im Organischen gelege­nen inneren Triebkräfte, die sich Goethe unter dem sinn­lich-übersinnlichen Bilde vorstellt, entbehren zu können. Ja, er spricht Goethe sogar die Berechtigung ab, von seinen Voraussetzungen aus von einer wirklichen Umwandlung der Organe und Organismen zu sprechen. Jul. Sachs weist Goe­thes Gedanken mit den Worten zurück, er übertrage «die vom Verstand vollzogene Abstraktion auf das Objekt selbst, indem er diesem eine Metamorphose zuschreibt, die sich im Grunde genommen nur in unserem Begriffe vollzo­gen hat.» Goethe soll, nach dieser Ansicht, nichts weiter ge­tan haben, als Laubblätter, Kelchblätter, Blumenblätter

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usw. unter einen allgemeinen Begriff gebracht und mit dem Namen Blatt bezeichnet haben. «Ganz anders freilich wäre die Sache, wenn ... wir annehmen dürften, daß bei den Vor­fahren der uns vorliegenden Pflanzenform die Staubfäden gewöhnliche Blätter waren usw.» (Sachs, «Geschichte der Botanik» 1875, S.169). Diese Ansicht entspringt dem Tat­sachenfanatismus, der nicht einsehen kann, daß die Ideen ebenso objektiv zu den Dingen gehören, wie das, was man mit den Sinnen wahrnehmen kann. Goethe ist der Ansicht, daß von Verwandlung eines Organes in das andere nur ge­sprochen werden kann, wenn beide außer ihrer äußeren Er­scheinung noch etwas enthalten, das ihnen gemeinsam ist. Das ist die sinnlich-übersinnliche Form. Das Staubgefäß einer uns vorliegenden Pflanzenform kann nur dann als das umgewandelte Blatt der Vorfahren bezeichnet werden, wenn in beiden die gleiche sinnlich-übersinnliche Form lebt. Ist das nicht der Fall, entwickelt sich an der uns vor­liegenden Pflanzenform einfach an derselben Stelle ein Staubgefäß, an der sich bei den Vorfahren ein Blatt ent­wickelt hat, dann hat sich nichts verwandelt, sondern es ist an die Stelle des einen Organes ein anderes getreten. Der Zoologe Oskar Schmidt fragt: «Was sollte denn auch nach Goethes Anschauung umgebildet werden? Das Urbild doch wohl nicht» («War Goethe Darwinianer?» Graz 1871, S. 22). Gewiß wandelt sich nicht das Urbild um, denn dieses Ist ja in allen Formen das gleiche. Aber eben weil dieses gleich bleibt, können die äußeren Gestalten verschieden sein und doch ein einheitliches Ganzes darstellen. Könnte man nicht in zwei auseinander entwickelten Formen das gleiche ideelle Urbild erkennen, so könnte keine Beziehung zwischen ihnen angenommen werden. Erst durch die Vorstellung

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der ideellen Urform kann man mit der Behauptung, die organischen Formen entstehen durch Umbildung aus­einander, einen wirklichen Sinn verbinden. Wer nicht zu dieser Vorstellung sich erhebt, der bleibt innerhalb der blo­ßen Tatsachen stecken. In ihr liegen die Gesetze der organi­schen Entwicklung. Wie durch Keplers drei Grundgesetze die Vorgänge im Sonnensystem begreiflich sind, so durch Goethes ideelle Urbilder die Gestalten der organischen Na­tur.

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Kant, der dem menschlichen Geiste die Fähigkeit abspricht, ein Ganzes ideell zu durchdringen, durch welches ein Man­nigfaltiges in der Erscheinung bestimmt wird, nennt es ein «gewagtes Abenteuer der Vernunft », wenn jemand die ein­zelnen Formen der organischen Welt aus einem Urorganis­mus erklären wolle. Für ihn ist der Mensch nur imstande, die mannigfaltigen Einzelerscheinungen in einen allgemei­nen Begriff zusammenzufassen, durch den sich der Ver­stand ein Bild macht von der Einheit. Dieses Bild ist aber nur im menschlichen Geiste vorhanden und hat nichts zu tun mit der schaffenden Gewalt, durch welche die Einheit wirklich die Mannigfaltigkeit aus sich hervorgehen läßt. Das «gewagte Abenteuer der Vernunft» bestände darin, daß jemand annehme, die Erde ließe aus ihrem Mutterschoß erst einfache Organismen von minder zweckmäßiger Bil­dung hervorgehen, die aus sich zweckmäßigere Formen ge­bären. Daß ferner aus diesen noch höhere sich entwickeln, bis hinauf zu den vollkommensten Lebewesen. Wenn auch jemand eine solche Annahme machte, meint Kant, so könne er doch nur eine absichtsvolle Schöpferkraft zu Grunde le­gen, welche der Entwicklung einen solchen Anstoß gege­ben

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hat, daß sich alle ihre einzelnen Glieder zweckmäßig entwickeln. Der Mensch nimmt eben eine Vielheit mannig­faltiger Organismen wahr; und da er nicht in sie hineindrin­gen kann, um zu sehen, wie sie sich selbst eine Form geben, die dem Lebenselement angepaßt ist, in dem sie sich ent­wickeln, so muß er sich vorstellen, sie seien von außen her so eingerichtet, daß sie innerhalb ihrer Bedingungen leben können. Goethe legt sich die Fähigkeit bei, zu erkennen, wie die Natur aus dem Ganzen das Einzelne, aus dem Innern das Äußere schafft. Was Kant «Abenteuer der Vernunft» nennt, will er deshalb mutig bestehen (vgl. den Aufsatz «Anschauende Urteilskraft», Kürschner, Bd. 33, S.115 f.). Wenn wir keinen anderen Beweis dafür hätten, daß Goethe den Gedanken einer Blutsverwandtschaft aller organischen Formen innerhalb der hier angedeuteten Grenzen als be­rechtigt anerkennt, wir müßten es aus diesem Urteil über Kants «Abenteuer der Vernunft» folgern.

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Ein noch vorhandener skizzenhafter «Entwurf einer Mor­phologie»läßt erraten, daß Goethe den Plan hatte, die be­sonderen Gestalten in ihrer Stufenfolge darzustellen, die seine Urpflanze und sein Urtier in den Hauptformen der Le­bewesen annehmen (vgl. Sophien-Ausgabe, z. Abt., Band 6, S.321). Er wollte zuerst das Wesen des Organischen schil­dern, wie es ihm bei seinem Nachdenken über Tiere und Pflanzen aufgegangen. Dann «aus einem Punkte ausge­hend» zeigen, wie das organische Urwesen sich nach der einen Seite zu der mannigfaltigen Pflanzenwelt, nach der anderen zu der Vielheit der Tierformen entwickelt, wie die besonderen Formen der Würmer, Insekten, der höheren

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Tiere und die Form des Menschen aus dem allgemeinen Ur­bilde abgeleitet werden können. Auch auf die Physiogno­mik und Schädellehre sollte ein Licht fallen. Die äußere Ge­stalt im Zusammenhange mit den inneren geistigen Fähig­keiten darzustellen, machte sich Goethe zur Aufgabe. Es drängte ihn, den organischen Bildungstrieb, der sich in den niederen Organismen in einer einfachen äußeren Erschei­nung darbietet, zu verfolgen in seinem Streben, sich stufen­weise in immer vollkommeneren Gestalten zu verwirkli­chen, bis er sich in dem Menschen eine Form gibt, die diesen zum Schöpfer der geistigen Erzeugnisse geeignet macht.

Dieser Plan Goethes ist ebensowenig zur Ausführung ge­kommen, wie ein anderer, zu dem das Fragment «Vorarbei­ten zu einer Physiologie der Pflanzen» ein Anlauf ist (vgl. Sophien-Ausgabe, 2. Abt., Band 6, S. 286 ff.). Goethe wollte zeigen, wie alle einzelnen Zweige des Naturerkennens: Na­turgeschichte, Naturlehre, Anatomie, Chemie, Zoonomie und Physiologie zusammenwirken müssen, um von einer höheren Anschauungsweise dazu verwendet zu werden, Gestalten und Vorgänge der Lebewesen zu erklären. Er wollte eine neue Wissenschaft, eine allgemeine Morpholo­gie der Organismen aufstellen, «zwar nicht dem Gegenstande nach, denn derselbe ist bekannt, sondern der Ansicht und der Methode nach, welche sowohl der Lehre selbst eine eigene Gestalt geben muß, als ihr auch gegen andere Wis­senschaften ihren Platz anzuweisen hat ...». Was die Anato­mie, Naturgeschichte, Naturlehre, Chemie, Zoonomie, Physiologie an einzelnen Naturgesetzen darbieten, soll von der lebendigen Vorstellung des Organischen ebenso aufge­nommen und auf eine höhere Stufe gestellt werden, wie das Lebewesen selbst die einzelnen Naturvorgänge in den Kreis

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seiner Bildung aufnimmt und auf eine höhere Stufe des Wir­kens stellt.

Goethe ist zu den Ideen, die ihm durch das Labyrinth der lebendigen Gestalten durchhalfen, auf eigenen Wegen ge­langt. Die herrschenden Anschauungen über wichtige Ge­biete des Naturwirkens widersprachen seiner allgemeinen Weltanschauung. Deshalb mußte er sich selbst über solche Gebiete Vorstellungen ausbilden, die seinem Wesen gemäß waren. Er war aber überzeugt, daß es nichts Neues unter der Sonne gebe, und daß man «gar wohl in Überlieferungen schon angedeutet finden könne, was man selbst gewahr wird». Er teilt gelehrten Freunden aus diesem Grund seine Schrift über die «Metamorphose der Pflanzen» mit und bittet sie, ihm darüber Auskunft zu geben, ob über den be­handelten Gegenstand schon etwas geschrieben oder über­liefert ist. Er hat die Freude, daß in Friedrich August Wolf auf einen «trefflichen Vorarbeiter», Kaspar Friedrich Wolff, aufmerksam macht. Goethe macht sich mit dessen 1759 er­schienenen «Theoria generationis» bekannt. Gerade an die­sem Vorarbeiter aber ist zu beobachten, wie jemand eine richtige Ansicht über die Tatsachen haben und doch nicht zur vollendeten Idee der organischen Bildung kommen kann, wenn er nicht fähig ist, sich durch ein höheres als das sinnliche Anschauungsvermögen in den Besitz der sinnlich­-übersinnlichen Form des Lebens zu setzen. Wolf ist ein ausge­zeichneter Beobachter. Er sucht durch mikroskopische Un­tersuchungen sich über die Anfänge des Lebens aufzuklä­ren. Er erkennt in dem Kelch, der Blumenkrone, den Staub­gefäßen, dem Stempel, dem Samen, umgewandelte Blätter. Aber er schreibt die Umwandlung einer allmählichen Abnahme

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der Lebenskraft zu, die in dem Maße sich vermin­dern soll, als die Vegetation länger fortgesetzt wird, um endlich ganz zu verschwinden. Kelch, Krone usw. sind ihm daher eine unvollkommene Ausbildung der Blätter. Wolf ist als Gegner Hallers aufgetreten, der die Präformations­- oder Einschachtelungslehre vertrat. Nach dieser sollten alle Glieder eines ausgewachsenen Organismus im Keim schon im Kleinen vorgebildet sein, und zwar in derselben Gestalt und gegenseitigen Anordnung wie im vollendeten Lebe­wesen. Die Entwicklung eines Organismus ist demzufolge nur eine Auswicklung des schon Vorhandenen. Wolf ließ nur das gelten, was er mit Augen sah. Und da der einge­schachtelte Zustand eines Lebewesens auch durch die sorg­fältigsten Beobachtungen nicht zu entdecken war, betrach­tete er die Entwicklung als eine wirkliche Neubildung. Die Gestalt eines organischen Wesens ist, nach seiner Ansicht, im Keime noch nicht vorhanden. Goethe ist derselben Mei­nung in Bezug auf die äußere Erscheinung. Auch er lehnt die Einschachtelungslehre Hallers ab. Für Goethe ist der Organismus im Keime zwar vorgebildet, aber nicht der äußeren Erscheinung, sondern der Idee nach. Die äußere Er­scheinung betrachtet auch er als eine Neubildung. Aber er wirft Wolf vor, daß dieser da, wo er nichts mit den Augen des Leibes sieht, auch mit Geistesaugen nichts wahr­nimmt. Wolf hatte keine Vorstellung davon, daß etwas der Idee nach doch vorhanden sein kann, auch wenn es nicht in die äußere Erscheinung tritt. «Deshalb ist er immer be­müht, auf die Anfänge der Lebensbildung durch mikrosko­pische Untersuchungen zu dringen, und so die organischen Embryonen von ihrer frühesten Erscheinung bis zur Aus­bildung zu verfolgen. Wie vortrefflich diese Methode auch

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sei, durch die er soviel geleistet hat, so dachte der treffliche Mann doch nicht, daß es ein Unterschied sei zwischen Sehen und Sehen, daß die Geistesaugen mit den Augen des Leibes in stetem lebendigen Bunde zu wirken haben, weil man sonst in Gefahr gerät zu sehen und doch vorbeizusehen. - Bei der Pflanzenverwandlung sah er dasselbige Organ sich immerfort zusammenziehen, sich verkleinern; daß aber die­ses Zusammenziehen mit einer Ausdehnung abwechsle, sah er nicht. Er sah, daß es sich an Volum verringere, und be­merkte nicht, daß es sich zugleich veredle, und schrieb da­her den Weg zur Vollendung, widersinnig, einer Verküm­merung zu» (Kürschner, Band 33, S.107 f.).

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Bis zu seinem Lebensende stand Goethe mit zahlreichen Na­turforschern in persönlichem und schriftlichem Verkehre. Er beobachtete die Fortschritte der Wissenschaft von den Lebewesen mit dem regsten Interesse; er sah mit Freuden, wie in diesem Erkenntnisgebiete Vorstellungsarten Ein­gang fanden, die sich der seinigen näherten und wie auch seine Metamorphosenlehre von einzelnen Forschern aner­kannt und fruchtbar gemacht wurde. Im Jahre 1817 begann er seine Arbeiten zu sammeln und in einer Zeitschrift, die er unter dem Titel «Zur Morphologie» begründete, her­auszugeben. Zu einer Weiterbildung seiner Ideen über or­ganische Bildung durch eigene Beobachtung oder Reflexion kam er trotz alledem nicht mehr. Zu einer eingehenderen Beschäftigung mit solchen Ideen fand er sich nur noch zweimal angeregt. In beiden Fällen fesselten ihn wissen­schaftliche Erscheinungen, in denen er eine Bestätigung sei­ner Gedanken fand. Die eine waren die Vorträge, die K. F.

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Ph. Martius über die «Vertikal- und Spiraltendenz der Ve­getation» auf den Naturforscherversammlungen in den Jahren i 8z8 und 1829 hielt und von denen die Zeitschrift «Isis» Auszüge brachte; die andere ein naturwissenschaft­licher Streit in der französischen Akademie, der im Jahre 1830 zwischen Geoffroy de Saint-Hilaire und Cuvier aus­brach.

Martius dachte sich das Wachstum der Pflanze von zwei Tendenzen beherrscht, von einem Streben in der senkrech­ten Richtung, wovon Wurzel und Stengel beherrscht wer­den; und von einem anderen, wodurch Blätter-, Blütenor­gane usw. veranlaßt werden, sich gemäß der Form einer Spirallinie an die senkrechten Organe anzugliedern. Goethe griff diese Ideen auf und brachte sie mit seiner Vorstellung von der Metamorphose in Verbindung. Er schrieb einen längeren Aufsatz (Kürschner, Band 33), in dem er alle seine Erfahrungen über die Pflanzenwelt zusammenstellte, die ihm auf das Vorhandensein der zwei Tendenzen hinzudeu­ten schienen. Er glaubt, daß er diese Tendenzen in seine Idee der Metamorphose aufnehmen müsse. «Wir mußten annehmen: es walte in der Vegetation eine allgemeine Spi­raltendenz, wodurch, in Verbindung mit dem vertikalen Streben, aller Bau, jede Bildung der Pflanzen nach dem Ge­setze der Metamorphose vollbracht wird.» Das Vorhanden­sein der Spiralgefäße in einzelnen Pflanzenorganen faßt Goethe als Beweis auf, daß die Spiraltendenz das Leben der Pflanze durchgreifend beherrscht. «Nichts ist der Natur ge­mäßer, als daß sie das, was sie im ganzen intentioniert, durch das einzelnste in Wirksamkeit versetzt.» «Man trete zur Sommerzeit vor eine im Gartenboden eingesteckte Stange, an welcher eine Winde (Konvolvel) von unten an sich fortschlängelnd

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in die Höhe steigt, sich fest anschließend ihr lebendiges Wachstum verfolgt. Man denke sich Konvolvel und Stange, beide gleich lebendig, aus einer Wurzel aufstei­gend, sich wechselweise hervorbringend und so unaufhalt­sam fortschreitend. Wer sich diesen Anblick in ein inneres Anschauen verwandeln kann, der wird sich den Begriff sehr erleichtert haben. Die rankende Pflanze sucht das außer sich, was sie sich selbst geben sollte und nicht vermag.» Dasselbe Gleichnis wendet Goethe am 5. März 1832 in einem Briefe an den Grafen Sternberg an und setzt die Worte hinzu: «Freilich paßt dies Gleichnis nicht ganz, denn im Anfang mußte die Schlingpflanze um den sich erhebenden Stamm in kaum merklichen Kreisen herauswinden. Je mehr sie sich aber der oberen Spitze näherte, desto schneller mußte die Schraubenlinie sich drehen, um endlich (bei der Blüte) in einem Kreise auf einen Diskus sich zu versammeln, dem Tanze ähnlich, wo man sich in der Jugend gar oft Brust an Brust, Herz an Herz mit den liebenswürdigsten Kindern selbst wider Willen gedrückt sah. Verzeih diese Anthropo­morphismen.» Ferdinand Cohn bemerkt zu dieser Stelle: «Hätte Goethe nur noch Darwin erlebt! ... wie würde er sich des Mannes erfreut haben, der durch streng induktive Methode klare und überzeugende Beweise für seine Ideen zu finden wußte ...» Darwin meint, von fast allen Pflanzenorganen zeigen zu können, daß sie in der Zeit ihres Wachs­tums die Tendenz zu schraubenförmigen Bewegungen ha­ben, die er circummutation nennt.

Im September 1830 spricht sich Goethe in einem Aufsatz über den Streit der beiden Naturforscher Cuvier und Geof­froy de Saint-Hilaire aus; im März 1832 setzt er diesen Auf­satz fort. Der Tatsachenfanatiker Cuvier trat im Februar

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und März 1830 in der französischen Akademie gegen die Ausführungen Geoffroy de Saint-Hilaires auf, der, nach Goethes Meinung, zu «einer hohen, der Idee gemäßen Denkweise gelangt» war. Cuvier ist ein Meister im Unter­scheiden der einzelnen organischen Formen. Geoffroy be­müht sich, die Analogien in diesen Formen aufzusuchen und den Nachweis zu führen, die Organisation der Tiere sei «einem allgemeinen, nur hier und da modifizierten Plan, woher die Unterscheidung derselben abzuleiten sei, unter­worfen». Er strebt die Verwandtschaft der Gesetze zu er­kennen und ist der Überzeugung, das Einzelne könne aus dem Ganzen nach und nach entwickelt werden. Goethe be­trachtet Geoffroy als Gesinnungsgenossen; er spricht das am 2August 1830 zu Eckermann mit den Worten aus:

«Jetzt ist nun auch Geoffroy de Saint-Hilaire entschieden auf unserer Seite und mit ihm alle seine bedeutenden Schü­1er und Anhänger Frankreichs. Dieses Ereignis ist für mich von ganz unglaublichem Wert und ich juble mit Recht über den endlichen Sieg einer Sache, der ich mein Leben gewid­met habe und die ganz vorzüglich auch die meinige ist.» Geoffroy übt eine Denkweise, die auch die Goethes ist, er sucht in der Erfahrung mit dem sinnlich Mannigfaltigen zugleich auch die Idee der Einheit zu ergreifen; Cuvier hält sich an das Mannigfaltige, an das Einzelne, weil ihm bei des­sen Betrachtung die Idee nicht zugleich aufgeht. Geoffroy hat eine richtige Empfindung von dem Verhältnisse des Sinnlichen zur Idee; Cuvier hat sie nicht. Deshalb bezeich­net er Geoffroys umfassendes Prinzip als anmaßlich, ja, er­klärt es sogar für untergeordnet. Man kann besonders an Naturforschern die Erfahrung machen, daß sie absprechend über ein «bloß»Ideelles, Gedachtes sprechen. Sie haben

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kein Organ für das Ideelle und kennen daher dessen Wir­kungskreise nicht. Goethe wurde dadurch, daß er dieses Organ in besonders vollkommener Ausbildung besaß, von seiner allgemeinen Weltanschauung aus zu seinen tiefen Einsichten in das Wesen des Lebendigen geführt. Seine Fä­higkeit, die Geistesaugen mit den Augen des Leibes in ste­tem lebendigen Bunde wirken zu lassen, machte es ihm möglich, die einheitliche sinnlich-übersinnliche Wesenheit anzuschauen, die sich durch die organische Entwicklung hindurchzieht, und diese Wesenheit auch da anzuerkennen, wo ein Organ sich aus dem andern herausbildet, durch Um­bildung seine Verwandtschaft, seine Gleichheit mit dem vorhergehenden verbirgt, verleugnet und sich in Bestim­mung wie in Bildung in dem Grade verändert, daß keine Vergleichung nach äußeren Kennzeichen mehr mit dem vorhergehenden stattfinden könne. (Vgl. den Aufsatz über Joachim Jungius, Kürschner, Band 33.) Das Sehen mit den Augen des Leibes vermittelt die Erkenntnis des Sinnlichen und Materiellen; das Sehen mit Geistesaugen führt zur An schauung der Vorgänge im menschlichen Bewußtsein, zur Beobachtung der Gedanken-, Gefühls- und Willenswelt; der lebendige Bund zwischen geistigem und leib­lichem Auge befähigt zur Erkenntnis des Organischen, das als sinnlich-übersinnliches Element zwischen dem rein Sinnlichen und rein Geistigen in der Mitte liegt.

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DIE BETRACHTUNG DER FARBENWELT

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DIE ERSCHEINUNGEN DER FARBENWELT

Goethe wird durch die Empfindung, daß «die hohen Kunstwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht» sind, fortwährend angeregt, diese wahren und natürlichen Gesetze des künstlerischen Schaffens auf­zusuchen. Er ist überzeugt, die Wirkung eines Kunstwerkes müsse darauf beruhen, daß aus demselben eine natürliche Gesetzmäßigkeit herausleuchtet. Er will diese Gesetzmä­ßigkeit erkennen. Er will wissen, aus welchem Grunde die höchsten Kunstwerke zugleich die höchsten Naturwerke sind. Es wird ihm klar, daß die Griechen nach eben den Ge­setzen verfuhren, nach denen die Natur verfährt, als sie «aus der menschlichen Gestalt den Kreis göttlicher Bil­dung» entwickelten (Italienische Reise, 28. Januar 1787). Er will sehen, wie die Natur diese Bildung zustande bringt, um sie in den Kunstwerken verstehen zu können. Goethe schildert, wie es ihm in Italien allmählich gelungen ist, zu einer Einsicht in die natürliche Gesetzmäßigkeit des künst­lerischen Schaffens zu kommen (vgl. «Konfession des Ver­fassers», Kürschner, Band 36). «Zum Glück konnte ich mich an einigen von der Poesie herübergebrachten, mir durch inneres Gefühl und langen Gebrauch bewährten Maximen festhalten, so daß es mir zwar schwer, aber nicht unmöglich ward, durch ununterbrochenes Anschauen der Natur und Kunst, durch lebendiges wirksames Gespräch mit mehr oder weniger einsichtigen Kennern, durch stetes Leben mit mehr oder weniger praktischen oder denkenden Künstlern, nach und nach mir die Kunst überhaupt einzuteilen, ohne sie zu zerstückeln, und ihre verschiedenen, lebendig inein­ander greifenden Elemente gewahr zu werden.» Nur ein

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einziges Element will ihm nicht die natürlichen Gesetze of­fenbaren, nach denen es im Kunstwerke wirkt: das Kolorit. Mehrere Gemälde werden «in seiner Gegenwart erfunden und komponiert, die Teile, der Stellung und der Form nach, sorgfältig durchstudiert». Die Künstler können ihm Re­chenschaft geben, wie sie bei der Komposition verfahren. Sobald aber die Rede aufs Kolorit kommt, da scheint alles von der Willkür abzuhängen. Niemand weiß, welcher Be­zug zwischen Farbe und Helldunkel, und zwischen den ein­zelnen Farben herrscht. Worauf es beruht, daß Gelb einen warmen und behaglichen Eindruck macht, Blau die Emp­findung der Kälte hervorruft, daß Gelb und Rotblau neben­einander eine harmonische Wirkung hervorbringen, dar­über kann Goethe keinen Aufschluß gewinnen. Er sieht ein, daß er sich mit der Gesetzmäßigkeit der Farbenwelt in der Natur erst bekannt machen muß, um von da aus in die Geheimnisse des Kolorits einzudringen.

Weder die Begriffe über die physische Natur der Farbenerscheinungen, die Goethe von seiner Studienzeit her noch im Gedächtnis hatte, noch die physikalischen Kompendien, die er um Rat fragte, erwiesen sich für seinen Zweck als fruchtbar. «Wie alle Welt war ich überzeugt, daß die sämt­lichen Farben im Licht enthalten seien; nie war es mir an­ders gesagt worden und niemals hatte ich die geringste Ur­sache gefunden, daran zu zweifeln, weil ich bei der Sache nicht weiter interessiert war» («Konfession des Verfas­sers »,Kürschner, Band 3 6/z). Als er aber anfing, interessiert zu sein, da fand er, daß er aus dieser Ansicht nichts für seinen Zweck entwickeln konnte. Der Begründer dieser Ansicht, die Goethe bei den Naturforschern herrschend fand und die heute noch dieselbe Stellung einnimmt, ist Newton. Sie behauptet,­

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das weiße Licht, wie es von der Sonne ausgeht, ist aus farbigen Lichtern zusammengesetzt. Die Farben ent­stehen dadurch, daß die einzelnen Bestandteile aus dem wei­ßen Lichte ausgesondert werden. Läßt man durch eine kleine runde Öffnung Sonnenlicht in ein dunkles Zimmer treten, und fängt es auf einem weißen Schirme, der senk­recht gegen die Richtung des einfallenden Lichtes gestellt wird, aut., so erhält man ein weißes Sonnenbild. Stellt man zwischen die Öffnung und den Schirm ein Glasprisma, durch welches das Licht durchstrahlt, so verändert sich das weiße runde Sonnenbild. Es erscheint verschoben, in die Länge gezogen und farbig. Man nennt dieses Bild Sonnenspektrum. Bringt man das Prisma so an, daß die oberen Par­tien des Lichtes einen kürzeren Weg innerhalb der Glasmasse zurückzulegen haben als die unteren, so ist das far­bige Bild nach unten verschoben. Der obere Rand des Bil­des ist rot, der untere violett; das Rote geht nach unten in Gelb, das Violette nach oben in Blau über; die mittlere Par­tie des Bildes ist im allgemeinen weiß. Nur bei einer gewissen Entfernung des Schirmes vom Prisma verschwindet das Weiße in der Mitte vollständig; das ganze Bild erscheint farbig, und zwar von oben nach unten in der Folge: rot, orange, gelb, grün, hellblau, indigo, violett. Aus diesem Versuche schließen Newton und seine Anhänger, daß die Farben ursprünglich in dem weißen Lichte enthalten seien, aber miteinander vermischt. Durch das Prisma werden sie voneinander gesondert. Sie haben die Eigenschaft, beim Durchgange durch einen durchsichtigen Körper verschie­den stark von ihrer Richtung abgelenkt, das heißt gebro­chen zu werden. Das rote Licht wird am wenigsten, das vio­lette am meisten gebrochen. Nach der Stufenfolge ihrer

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Brechbarkeit erscheinen sie im Spektrum. Betrachtet man einen schmalen Papierstreifen auf schwarzem Grunde durch das Prisma, so erscheint derselbe ebenfalls abgelenkt. Er ist zugleich breiter und an seinen Rändern farbig. Der obere Rand erscheint violett, der untere rot; das Violette geht auch hier ins Blaue, das Rote ins Gelbe über; die Mitte ist im allgemeinen weiß. Nur bei einer gewissen Entfernung des Prismas von dem Streifen erscheint dieser ganz farbig. In der Mitte erscheint wieder das Grün. Auch hier soll das Weiße des Papierstreifens in seine farbigen Bestandteile zerlegt sein. Daß nur bei einer gewissen Entfernung des Schirmes oder Streifens vom Prisma alle Farben erscheinen, während sonst die Mitte weiß ist, erklären die Newtonianer einfach. Sie sagen: in der Mitte fallen die stärker abgelenk­ten Lichter vom oberen Teil des Bildes mit den schwächer abgelenkten vom unteren zusammen und vermischen sich zu Weiß. Nur an den Rändern erscheinen die Farben, weil hier in die am schwächsten abgelenkten Lichtteile keine stärker abgelenkten von oben und in die am stärksten abge­lenkten keine schwächer abgelenkten von unten hineinfal­len können.

Dies ist die Ansicht, aus der Goethe für seinen Zweck nichts entwickeln kann. Er will deshalb die Erscheinungen selbst beobachten. Er wendet sich an Hofrat Büttner in Jena, der ihm die Apparate leihweise überläßt, mit denen er die nötigen Versuche anstellen kann. Er ist zunächst mit anderen Arbeiten beschäftigt und will, auf Büttners Drän­gen, die Apparate wieder zurückgeben. Vorher nimmt er doch noch ein Prisma zur Hand, um durch dasselbe auf eine völlig geweißte Wand zu sehen. Er erwartet, daß sie in ver­schiedenen Stufen gefärbt erscheine. Aber sie bleibt weiß.

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Nur an den Stellen, wo das Weiße an Dunkles stößt, treten Farben auf. Die Fensterstäbe erscheinen in den allerlebhaf­testen Farben. Aus diesen Beobachtungen glaubt Goethe zu erkennen, daß die Newtonsche Anschauung falsch sei, daß die Farben nicht im weißen Lichte enthalten seien. Die Grenze, das Dunkle, müsse mit der Entstehung der Farben etwas zu tun haben. Er setzt die Versuche fort. Weiße Flä­chen auf schwarzem und schwarze Flächen auf weißem Grunde werden betrachtet. Allmählich bildet er sich eine eigene Ansicht. Eine weiße Scheibe auf schwarzem Grunde erscheint beim Durchblicken durch das Prisma verschoben. Die oberen Partien der Scheibe, meint Goethe, schieben sich über das angrenzende Schwarz des Untergrundes; wäh­rend sich dieser Untergrund über die unteren Partien der Scheibe hinzieht. Sieht man nun durch das Prisma, so er­blickt man durch den oberen Scheibenteil den schwarzen Grund wie durch einen weißen Schleier. Besieht man sich den unteren Teil der Scheibe, so scheint dieser durch das übergelagerte Dunkel hindurch. Oben wird ein Helles über ein Dunkles geführt; unten ein Dunkles über ein Helles. Der obere Rand erscheint blau, der untere gelb. Das Blau geht gegen das Schwarze zu in Violett; das Gelbe nach un­ten in ein Rot über. Wird das Prisma von der beobachteten Scheibe entfernt, so verbreitern sich die farbigen Ränder; das Blau nach unten, das Gelb nach oben. Bei hinreichender Entfernung greift das Gelb von unten über das Blau von oben; durch das Übereinandergreifen entsteht in der Mitte Grün. Zur Bestätigung dieser Ansicht betrachtet Goethe eine schwarze Scheibe auf weißem Grunde durch das Pris­ma. Nun wird oben ein Dunkles über ein Helles, unten ein Helles über ein Dunkles geführt. Oben erscheint Gelb, unten­

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Blau. Bei Verbreiterung der Ränder durch Entfernung des Prismas von der Scheibe wird das untere Blau, das all­mählich gegen die Mitte zu in Violett übergeht, über das obere Gelb, das in seiner Verbreiterung nach und nach einen roten Ton erhält, geführt. Es entsteht in der Mitte Pfirsich­blüt. Goethe sagte sich: was für die weiße Scheibe richtig ist, muß auch für die schwarze gelten. «Wenn sich dort das Licht in so vielerlei Farben auflöst... so müßte ja hier auch die Finsternis als in Farben aufgelöst angesehen werden.» («Konfession des Verfassers »,Kürschner, Band 36/2.) Goe­the teilt nun seine Beobachtungen und die Bedenken, die ihm daraus gegen die Newtonsche Anschauung erwachsen sind, einem ihm bekannten Physiker mit. Dieser erklärt die Bedenken für unbegründet. Er leitete die farbigen Ränder und das Weiße in der Mitte, sowie dessen Übergang in Grün, bei gehöriger Entfernung des Prismas von dem be­obachteten Objekt, im Sinne der Newtonschen Ansicht ab. Ähnlich verhalten sich andere Naturforscher, denen Goe­the die Sache vorlegt. Er setzt die Beobachtungen, für die er gerne Beihilfe von kundigen Fachleuten gehabt hätte, allein fort. Er läßt ein großes Prisma aus Spiegelscheiben zusam­mensetzen, das er mit reinem Wasser anfüllt. Weil er be­merkt, daß die gläsernen Prismen, deren Querschnitt ein gleichseitiges Dreieck ist, wegen der starken Verbreiterung der Farbenerscheinung dem Beobachter oft hinderlich sind, läßt er seinem großen Prisma den Querschnitt eines gleich­schenkeligen Dreieckes geben, dessen kleinster Winkel nur fünfzehn bis zwanzig Grade groß ist. Die Versuche, welche in der Weise angestellt werden, daß das Auge durch das Prisma auf einen Gegenstand blickt, nennt Goethe subjektiv. Sie stellen sich dem Auge dar, sind aber nicht in der Außenwelt

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fixiert. Er will zu diesen noch objektive hinzufügen. Dazu bedient er sich des Wasserprismas. Das Licht scheint durch ein Prisma durch, und hinter dem Prisma wird das Farbenbild auf einem Schirme aufgefangen. Goethe läßt nun das Sonnenlicht durch die Öffnungen ausgeschnittener Pappen hindurchgehen. Er erhält dadurch einen erleuchte­ten Raum, der ringsherum von Dunkelheit begrenzt ist. Diese begrenzte Lichtmasse geht durch das Prisma und wird durch dasselbe von ihrer Richtung abgelenkt. Hält man der aus dem Prisma kommenden Lichtmasse einen Schirm entgegen, so entsteht auf demselben ein Bild, das im allgemeinen an den Rändern oben und unten gefärbt ist. Ist das Prisma so gestellt, daß sein Querschnitt von oben nach unten schmäler wird, so ist der obere Rand des Bildes blau, der untere gelb gefärbt. Das Blau geht gegen den dunklen Raum in Violett, gegen die helle Mitte zu in Hellblau über; das Gelbe gegen die Dunkelheit zu in Rot. Auch bei dieser Erscheinung leitet Goethe die Farbenerscheinung von der Grenze her. Oben strahlt die helle Lichtmasse in den dunk­len Raum hinein; sie erhellt ein Dunkles, das dadurch blau erscheint. Unten strahlt der dunkle Raum in die Lichtmasse hinein; er verdunkelt ein Helles und läßt es gelb erscheinen. Durch Entfernung des Schirmes von dem Prisma werden die Farbenränder breiter, das Gelbe nähert sich dem Blauen. Durch Einstrahlung des Blauen in das Gelbe erscheint bei hinlänglicher Entfernung des Schirmes vom Prisma in der Mitte des Bildes Grün. Goethe macht sich das Hineinstrah­len des Hellen in das Dunkle und des Dunklen in das Helle dadurch anschaulich, daß er in der Linie, in welcher die Lichtmasse durch den dunklen Raum geht, eine weiße feine Staubwolke erregt, die er durch feinen trockenen Haarpuder

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hervorbringt. «Die mehr oder weniger gefärbte Er­scheinung wird nun durch die weißen Atome aufgefangen und dem Auge in ihrer ganzen Breite und Länge darge­stellt.» (Farbenlehre, didaktischer Teil ~ 326.) Goethe findet seine Ansicht, die er an den subjektiven Erscheinungen ge­wonnen, durch die objektiven bestätigt. Die Farben werden durch das Zusammenwirken von Hell und Dunkel hervor­gebracht. Das Prisma dient nur dazu, Hell und Dunkel über­einander zu schieben.

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Goethe kann, nachdem er diese Versuche gemacht hat, die Newtonische Ansicht nicht zu der seinigen machen. Es geht ihm mit ihr ähnlich, wie mit der Hallerschen Einschachte­lungslehre. Wie diese den ausgebildeten Organismus be­reits mit allen seinen Teilen im Keime enthalten denkt, so glauben die Newtonianer, daß die Farben, die unter gewis­sen Bedingungen am Lichte erscheinen, in diesem schon eingeschlossen seien. Er könnte gegen diesen Glauben die­selben Worte gebrauchen, die er der Einschachtelungslehre entgegengehalten hat, sie «beruhe auf einer bloßen außersinnlichen Einbildung, auf einer Annahme, die man zu den­ken glaubt, aber in der Sinnenwelt niemals darstellen kann.» Vgl. den Aufsatz über K. Fr. Wolff, Kürschner, Band 33.) Ihm sind die Farben Neubildungen, die an dem Lichte ent­wickelt werden, nicht Wesenheiten, die aus dem Lichte bloß ausgewickelt werden. Wegen seiner «der Idee gemäßen Denkweise» muß er die Newtonsche Ansicht ablehnen. Diese kennt das Wesen des Ideellen nicht. Nur was tatsäch­lich vorhanden ist, erkennt sie an. Was in derselben Weise vorhanden ist wie das Sinnlich-Wahrnehmbare. Und wo sie die Tatsächlichkeit nicht durch die Sinne nachweisen kann,

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da nimmt sie dieselbe hypothetisch an. Weil am Lichte die Farben sich entwickeln, also der Idee nach schon in demselben enthalten sein müssen, glaubt sie, sie seien auch tatsächlich, materiell in demselben enthalten und werden durch das Pris­ma und die dunkle Umgrenzung nur hervorgeholt. Goethe weiß, daß die Idee in der Sinnenwelt wirksam ist; deshalb versetzt er etwas, was als Idee vorhanden ist, nicht in den Bereich des Tatsächlichen. In der unorganischen Natur wirkt das Ideelle ebenso wie in der organischen, nur nicht als sinnlich-übersinnliche Form. Seine äußere Erscheinung ist ganz materiell, bloß sinnlich. Es dringt nicht ein in das Sinnliche; es durchgeistigt dieses nicht. Die Vorgänge der unorganischen Natur verlaufen gesetzmäßig, und diese Ge­setzmäßigkeit stellt sich dem Beobachter als Idee dar. Wenn man an einer Stelle des Raumes weißes Licht und an einer andern Farben wahrnimmt, die an demselben entstehen, so besteht zwischen den beiden Wahrnehmungen ein gesetz-mäßiger Zusammenhang, der als Idee vorgestellt werden kann. Wenn aber jemand diese Idee verkörperlicht und als Tatsächliches in den Raum hinaus versetzt, das von dem Gegenstande der einen Wahrnehmung in den der andern hinüberzieht, so entspringt das aus einer grobsinnlichen Vorstellungsweise. Dieses Grobsinnliche ist es, was Goethe von der Newtonschen Anschauung zurückstößt. Die Idee ist es, die einen unorganischen Vorgang in den andern hin­überleitet, nicht ein Tatsächliches, das von dem einen zu dem andern wandert.

Die Goethesche Weltanschauung kann nur zwei Quellen für alle Erkenntnis der unorganischen Naturvorgänge an­erkennen: dasjenige, was an diesen Vorgängen sinnlich wahrnehmbar ist, und die ideellen Zusammenhänge des Sinnlich-Wahrnehmbaren,

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die sich dem Denken offenbaren. Die ideellen Zusammenhänge innerhalb der Sinneswelt sind nicht gleicher Art. Es gibt solche, die unmittelbar einleuch­tend sind, wenn sinnliche Wahrnehmungen nebeneinander oder nacheinander auftreten, und andere, die man erst durchschauen kann, wenn man sie auf solche der ersten Art zurückführt. In der Erscheinung, die sich dem Auge dar­bietet, wenn es ein Dunkles durch ein Helles ansieht und Blau wahrnimmt, glaubt Goethe einen Zusammenhang der ersten Art zwischen Licht, Finsternis und Farbe zu erken­nen. Ebenso ist es, wenn Helles durch ein Dunkles ange­schaut, gelb ergibt. Die Randerscheinungen des Spektrums lassen einen Zusammenhang erkennen, der durch unmittel­bares Beobachten klar wird. Das Spektrum, das in einer Stufenfolge sieben Farben vom Rot bis zum Violett zeigt, kann nur verstanden werden, wenn man sieht, wie zu den Bedingungen, durch welche die Randerscheinungen ent­stehen, andere hinzugefügt werden. Die einfachen Rand­erscheinungen haben sich in dem Spektrum zu einem kom­plizierten Phänomen verbunden, das nur verstanden wer­den kann, wenn man es aus den Grunderscheinungen ablei­tet. Was in dem Grundphänomen in seiner Reinheit vor dem Beobachter steht, das erscheint in dem komplizierten, durch die hinzugefügten Bedingungen, unrein, modifiziert. Die einfachen Tatbestände sind nicht mehr unmittelbar zu erkennen. Goethe sucht daher die komplizierten Phäno­mene überall auf die einfachen, reinen zurückzuführen. In dieser Zurückführung sieht er die Erklärung der unorgani­schen Natur. Vom reinen Phänomen geht er nicht mehr weiter. In demselben offenbart sich ein ideeller Zusammen­hang sinnlicher Wahrnehmungen, der sich durch sich selbst

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erklärt. Das reine Phänomen nennt Goethe Urphänomen. Er sieht es als mäßige Spekulation an, über das Urphäno­men weiter nachzudenken. «Der Magnet ist ein Urphäno­men, das man nur aussprechen darf, um es erklärt zu haben.» (Sprüche in Prosa, Kürschner, Band 36.) Ein zusammenge­setztes Phänomen wird erklärt, wenn man zeigt, wie es sich aus Urphänomenen aufbaut.

Die moderne Naturwissenschaft verfährt anders als Goe­the. Sie will die Vorgänge in der Sinnenwelt auf Bewegun­gen kleinster Körperteile zurückführen und bedient sich zur Erklärung dieser Bewegungen derselben Gesetze, durch die sie die Bewegungen begreift, die sichtbar im Raume vor sich gehen. Diese sichtbaren Bewegungen zu erklären, ist Aufgabe der Mechanik. Wird die Bewegung eines Körpers beobachtet, so fragt die Mechanik: Durch welche Kraft ist er in Bewegung versetzt worden; welchen Weg legt er in einer bestimmten Zeit zurück; welche Form hat die Linie, in der er sich bewegt usw. Die Beziehungen der Kraft, des zurückgelegten Weges, der Form der Bahn sucht sie mathe­matisch darzustellen. Nun sagt der Naturforscher: Das rote Licht kann auf eine schwingende Bewegung kleinster Kör­perteile zurückgeführt werden, die sich im Raume fortpflanzt. Begriffen wird diese Bewegung dadurch, daß man die in der Mechanik gewonnenen Gesetze auf sie anwendet. Die Wissenschaft der unorganischen Natur betrachtet es als ihr Ziel, allmählich vollständig in angewandte Mechanik über­zugehen.

Die moderne Physik fragt nach der Anzahl der Schwingun­gen in der Zeiteinheit, welche einer bestimmten Farbenquali­tät entsprechen. Aus der Anzahl der Schwingungen, die dem

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Rot entsprechen und aus derjenigen, welche dem Violett entsprechen, sucht sie den physikalischen Zusammenhang der beiden Farben zu bestimmen. Vor ihren Blicken ver­schwindet das Qualitative; sie betrachtet das Räumliche und Zeitliche der Vorgänge. Goethe fragt: Welcher Zu­sammenhang besteht zwischen Rot und Violett, wenn man vom Räumlichen und Zeitlichen absieht und bloß das Qua­litative der Farben betrachtet. Die Goethesche Betrach­tungsweise hat zur Voraussetzung, daß das Qualitative wirklich auch in der Außenwelt vorhanden ist und mit dem Zeitlichen und Räumlichen ein untrennbares Ganzes ist. Die moderne Physik muß dagegen von der Grundanschau­ung ausgehen, daß in der Außenwelt nur Quantitatives, licht- und farblose Bewegungsvorgänge vorhanden seien, und daß alles Qualitative erst als Wirkung des Quantitativen auf den sinn- und geistbegabten Organismus entstehe. Wäre diese Annahme richtig, dann könnten die gesetzmäßigen Zusammenhänge des Qualitativen auch nicht in der Außen­welt gesucht, sie mußten aus dem Wesen der Sinneswerk­zeuge, des Nervenapparates und des Vorstellungsorganes abgeleitet werden. Die qualitativen Elemente der Vorgänge wären dann nicht Gegenstand der physikalischen Untersu­chung, sondern der physiologischen und psychologischen. Dieser Voraussetzung gemäß verfährt die moderne Natur­wissenschaft. Der Organismus übersetzt, nach ihrer An­sicht, entsprechend der Einrichtung seiner Augen, seines Sehnervs und seines Gehirns einen Bewegungsvorgang in die Empfindung des Rot, einen andern in die des Violett. Daher ist alles Äußere der Farbenwelt erklärt, wenn man den Zusammenhang der Bewegungsvorgänge durchschaut hat, von denen diese Welt bestimmt wird.

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Ein Beweis für diese Ansicht wird in folgender Beobach­tung gesucht. Der Sehnerv empfindet jeden äußeren Ein­druck als Lichtempfindung. Nicht nur Licht, sondern auch ein Stoß oder Druck auf das Auge, eine Zerrung der Netz­haut bei schneller Bewegung des Auges, ein elektrischer Strom, der durch den Kopf geleitet wird: das alles bewirkt Lichtempfindung. Dieselben Dinge empfindet ein anderer Sinn in anderer Weise. Stoß, Druck, Zerrung, elektrischer Strom bewirken, wenn sie die Haut erregen, Tastempfin­dungen. Elektrizität erregt im Ohr eine Gehör-, auf der Zunge eine Geschmacksempfindung. Daraus schließt man, daß der Empfindungsinhalt, der im Organismus durch eine Einwirkung von außen auftritt, verschieden ist von dem äußeren Vorgange, durch den er veranlaßt wird. Die rote Farbe wird von dem Organismus nicht empfunden, weil sie an einen entsprechenden Bewegungsvorgang draußen im Raume gebunden ist, sondern weil Auge, Sehnerv und Ge­hirn des Organismus so eingerichtet sind, daß sie einen farb­losen Bewegungsvorgang in eine Farbe übersetzen. Das hiermit ausgesprochene Gesetz wurde von dem Physiolo­gen Johannes Müller, der es zuerst aufgestellt hat, das Ge­setz der spezifischen Sinnesenergien genannt.

Die angeführte Beobachtung beweist nur, daß der sinn- und geistbegabte Organismus die verschiedenartigsten Ein­drücke in die Sprache der Sinne übersetzen kann, auf die sie ausgeübt werden. Nicht aber, daß der Inhalt jeder Sinnes­empfindung auch nur im Innern des Organismus vorhan­den ist. Bei einer Zerrung des Sehnervs entsteht eine unbe­stimmte, ganz allgemeine Erregung, die nichts enthält, was veranlaßt, ihren Inhalt in den Raum hinaus zu versetzen. Eine Empfindung, die durch einen wirklichen Lichteindruck­

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entsteht, ist inhaltlich unzertrennlich verbunden mit dem Räumlich-Zeitlichen, das ihr entspricht. Die Bewe­gung eines Körpers und seine Farbe sind auf ganz gleiche Weise Wahmehmungsinhalt. Wenn man die Bewegung für sich vorstellt, so abstrahiert man von dem, was man noch sonst an dem Körper wahrnimmt. Wie die Bewegung, so sind alle übrigen mechanischen und mathematischen Vor­stellungen der Wahrnehmungswelt entnommen. Mathema­tik und Mechanik entstehen dadurch, daß von dem Inhalte der Wahrnehmungswelt ein Teil ausgesondert und für sich betrachtet wird. In der Wirklichkeit gibt es keine Gegen­stände oder Vorgänge, deren Inhalt erschöpft ist, wenn man das an ihnen begriffen hat, was durch Mathematik und Me­chanik auszudrücken ist. Alles Mathematische und Mecha­nische ist an Farbe, Wärme und andere Qualitäten gebun­den. Wenn der Physik nötig ist, anzunehmen, daß der Wahr­nehmung einer Farbe Schwingungen im Raume entspre­chen, denen eine sehr kleine Ausdehnung und eine sehr große Geschwindigkeit eigen ist, so können diese Bewe­gungen nur analog den Bewegungen gedacht werden, die sichtbar im Raume vorgehen. Das heißt, wenn die Körperwelt bis in ihre kleinsten Elemente bewegt gedacht wird, so muß sie auch bis in ihre kleinsten Elemente hinein mit Farbe, Wärme und andern Eigenschaften ausgestattet vorgestellt werden. Wer Farben, Wärme, Töne usw. als Qualitäten auf­faßt, die als Wirkungen äußerer Vorgänge durch den vorstellenden Organismus nur im Innern desselben existieren, der muß auch alles Mathematische und Mechanische, das mit diesen Qualitäten zusammenhängt, in dieses Innere ver­legen. Dann aber bleibt ihm für seine Außenwelt nichts mehr übrig. Das Rot, das ich sehe, und die Lichtschwingungen­

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die der Physiker als diesem Rot entsprechend nach­weist, sind in Wirklichkeit eine Einheit, die nur der abstra­hierende Verstand voneinander trennen kann. Die Schwin­gungen im Raume, die der Qualität «Rot» entsprechen, würde ich als Bewegung sehen, wenn mein Auge dazu orga­nisiert wäre. Aber ich würde verbunden mit der Bewegung den Eindruck der roten Farbe haben.

Die moderne Naturwissenschaft versetzt ein unwirk­liches Abstraktum, ein aller Empfindungsqualitäten entklei­detes, schwingendes Substrat in den Raum und wundert sich, daß nicht begriffen werden kann, was den vorstellenden mit Nervenapparaten und Gehirn ausgestatteten Orga­nismus veranlassen kann, diese gleichgültigen Bewegungs­vorgänge in die bunte, von Wärmegraden und Tönen durchsetzte Sinnenwelt zu übersetzen. Du Bois-Reymond nimmt deshalb an, daß der Mensch wegen einer unüber­schreitbaren Grenze seines Erkennens nie verstehen werde, wie die Tatsache: «ich schmecke Süßes, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Rot», zusammenhängt mit bestimmten Bewegungen kleinster Körperteile im Gehirn, welche Be­wegungen wieder veranlaßt werden durch die Schwingun­gen der geschmack-, geruch-, ton- und farbenlosen Ele­mente der äußeren Körperwelt. «Es ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, daß es einer Anzahl von Kohlen­stoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- usw. Atomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewe­gen, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden.» («Grenzen des Naturerkennens», Leipzig i88z, 5.33 £) Es liegt aber hier durchaus keine Er­kenntnisgrenze vor. Wo im Raume eine Anzahl von Ato­men in einer bestimmten Bewegung ist, da ist notwendig

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auch eine bestimmte Qualität (z.B. Rot) vorhanden. Und umgekehrt, wo Rot auftritt, da muß die Bewegung vorhan­den sein. Nur das abstrahierende Denken kann das eine von dem andern trennen. Wer die Bewegung von dem übrigen Inhalte des Vorganges, zu dem die Bewegung gehört, in der Wirklichkeit abgetrennt denkt, der kann den Übergang von dem einen zu dem andern nicht wieder finden.

Nur was an einem Vorgang Bewegung ist, kann wieder von Bewegung abgeleitet werden; was dem Qualitativen der Farben- und Lichtwelt angehört, kann auch nur auf ein ebensolches Qualitatives innerhalb desselben Gebietes zu­rückgeführt werden. Die Mechanik führt zusammenge­setzte Bewegungen auf einfache zurück, die unmittelbar be­greiflich sind. Die Farbentheorie muß komplizierte Farbenerscheinungen auf einfache zurückführen, die in gleicher Weise durchschaut werden können. Ein einfacher Bewe­gungsvorgang ist ebenso ein Urphänomen, wie das Entste­hen des Gelben aus dem Zusammenwirken von Hell und Dunkel. Goethe weiß, was die mechanischen Urphänomene für die Erklärung der unorganischen Natur leisten können. Was innerhalb der Körperwelt nicht mechanisch ist, das führt er auf Urphänomene zurück, die nicht mechanischer Art sind. Man hat Goethe den Vorwurf gemacht, er habe die mechanische Betrachtung der Natur verworfen und sich nur auf die Beobachtung und Aneinanderreihung des Sinn­lich-Anschaulichen beschränkt. Vgl. z.B. Harnack in sei­nem Buche «Goethe in der Epoche seiner Vollendung», S. 12) Du Bois-Reymond findet («Goethe und kein Ende», Leipzig 1883, S.29): «Goethes Theoretisieren beschränkt sich darauf, aus einem Urphänomen, wie er es nennt, andere Phänomene hervorgehen zu lassen, etwa wie ein Nebelbild

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dem andern folgt, ohne einleuchtenden ursächlichen Zu­sammenhang. Der Begriff der mechanischen Kausalität war es, der Goethe gänzlich abging.» Was tut aber die Mechanik an­deres, als verwickelte Vorgänge aus einfachen Ürphänome­nen hervorgehen lassen? Goethe hat auf dem Gebiete der Farbenwelt genau dasselbe gemacht, was der Mechaniker im Gebiete der Bewegungsvorgänge leistet. Weil Goethe nicht der Ansicht ist, alle Vorgänge in der unorganischen Natur seien rein mechanische, deshalb hat man ihm den Be­griff der mechanischen Kausalität aberkannt. Wer das tut, der zeigt nur, daß er selbst im Irrtum darüber ist, was me­chanische Kausalität innerhalb der Körperwelt bedeutet. Goethe bleibt innerhalb des Qualitativen der Licht- und Farbenwelt stehen; das Quantitative, Mechanische, das ma­thematisch auszudrücken ist, überläßt er andern. Er «hat die Farbenlehre durchaus von der Mathematik entfernt zu halten gesucht, ob sich gleich gewisse Punkte deutlich ge­nug ergeben, wo die Beihilfe der Meßkunst wünschenswert sein würde ... Aber so mag auch dieser Mangel zum Vorteil gereichen, indem es nunmehr des geistreichen Mathemati­kers Geschäft werden kann, selbst aufzusuchen, wo denn die Farbenlehre seiner Hilfe bedarf, und wie er zur Vollen­dung dieses Teils der Naturlehre das Seinige betragen kann.» (§ 727 des didaktischen Teiles der Farbenlehre.) Die qualitativen Elemente des Gesichtssinnes: Licht, Finsternis, Farben müssen erst aus ihren eigenen Zusammenhängen begriffen, auf Urphänomene zurückgeführt werden; dann kann auf einer höheren Stufe des Denkens untersucht wer­den, welcher Bezug besteht zwischen diesen Zusammen­hängen und dem Quantitativen, dem Mechanisch-Mathe­matischen in der Licht- und Farbenwelt.

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Die Zusammenhänge innerhalb des Qualitativen der Far­benwelt will Goethe in ebenso strengem Sinne auf die ein­fachsten Elemente zurückführen, wie das der Mathematiker oder Mechaniker auf seinem Gebiete tut. Die «Bedächtlich­keit, nur das Nächste ans Nächste zu reihen, oder vielmehr das Nächste aus dem Nächsten zu folgern, haben wir von den Mathe­matikern zu lernen und selbst da, wo wir uns keiner Rechnung bedienen, müssen wir immer so zu Werke gehen, als wenn wir dem strengsten Geometer Rechenschaft zu geben schuldig wä­ren. - Denn eigentlich ist es die mathematische Methode, wel­che wegen ihrer Bedächtlichkeit und Reinheit gleich jeden Sprung in der Assertion offenbart, und ihre Beweise sind ei­gentlich nur umständliche Ausführungen, daß dasjenige, was in Verbindung vorgebracht wird, schon in seinen einfachen Teilen und in seiner ganzen Folge da gewesen, in seinem gan­zen Umfange übersehen und unter allen Bedingungen rich­tig und unumstößlich erfunden worden.» (« Der Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt» Kürschner, Band 34).

*

Goethe entnimmt die Erklärungsprinzipien für die Er­scheinungen unmittelbar aus dem Bereich der Beobachtung. Er zeigt, wie innerhalb der erfahrbaren Welt die Er­scheinungen zusammenhängen. Vorstellungen, welche über das Gebiet der Beobachtung hinausweisen, lehnt er für die Naturauffassung ab. Alle Erklärungsarten, die das Feld der Erfahrung dadurch überschreiten, daß sie für die Naturerklärung Faktoren herbeiziehen, die ihrer Wesenheit nach nicht beobachtbar sind, widersprechen der Goetheschen Weltanschauung. Eine solche Erklärungsart ist diejenige, welche das Wesen des Lichtes in einem Lichtstoff

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sucht, der als solcher nicht selbst wahrgenommen, son­dern nur in seiner Wirkungsweise als Licht beobachtet werden kann. Auch gehört zu diesen Erklärungsarten die in der modernen Naturwissenschaft herrschende, nach welcher die Bewegungsvorgänge der Lichtwelt nicht von den wahr­nehmbaren Qualitäten, die dem Gesichtssinn gegeben sind, sondern von den kleinsten Teilen des nicht wahrnehmbaren Stoffes ausgeführt werden. Es widerspricht der Goethe­schen Weltanschauung nicht, sich vorzustellen, daß eine bestimmte Farbe mit einem bestimmten Bewegungsvor­gang im Raume verknüpft sei. Aber es widerspricht ihr durchaus, wenn behauptet wird, dieser Bewegungsvorgang gehöre einem außerhalb der Erfahrung gelegenen Wirklich­keitsgebiete an, der Welt des Stoffes, die zwar in ihren Wir­kungen, nicht aber ihrer eigenen Wesenheit nach beobach­tet werden kann. Für einen Anhänger der Goetheschen Weltanschauung sind die Lichtschwingungen im Raume Vorgänge, denen keine andere Art von Wirklichkeit zu­kommt als dem übrigen Wahmehmungsinhalt. Sie entzie­hen sich der unmittelbaren Beobachtung nicht deshalb, weil sie jenseits des Gebietes der Erfahrung liegen, sondern weil die menschlichen Sinnesorgane nicht so fein organisiert sind, daß sie Bewegungen von solcher Kleinheit noch un­mittelbar wahrnehmen. Wäre ein Auge so organisiert, daß es das Hin- und Herschwingen eines Dinges, das in einer Sekunde sich vierhundert billionenmal wiederholt, noch in allen Einzelheiten beobachten könnte, so würde sich ein sol­cher Vorgang genau so darstellen wie einer der grobsinnlichen Welt. Das heißt, das schwingende Ding würde die­selben Eigenschaften zeigen, wie andere Wahrnehmungs­dinge.

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Jede Erklärungsart, welche die Dinge und Vorgänge der Erfahrung aus anderen, nicht innerhalb des Erfahrungsfel­des gelegenen ableitet, kann zu inhaltvollen Vorstellungen von diesem jenseits der Beobachtung befindlichen Wirk­lichkeitsgebiete nur dadurch gelangen, daß sie gewisse Eigenschaften aus der Erfahrungswelt entlehnt und auf das Unerfahrbare überträgt. So überträgt der Physiker Härte, Undurchdringlichkeit auf die kleinsten Körperelemente, denen er außerdem noch die Fähigkeit zuschreibt, ihresgleichen anzuziehen und abzustoßen; dagegen erkennt er diesen Elementen Farbe, Wärme und andere Eigenschaften nicht zu. Er glaubt einen erfahrbaren Vorgang der Natur da­durch zu erklären, daß er ihn auf einen nicht erfahrbaren zurückführt. Nach Du Bois-Reymonds Ansicht ist Naturerkennen Zurückführen der Vorgänge in der Körperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren anziehende und abstoßende Kräfte bewirkt werden («Grenzen des Na­turerkennens», Leipzig 1882, S. 10). Als das Bewegliche wird dabei die Materie, der den Raum erfüllende Stoff, angenommen. Dieser Stoff soll von Ewigkeit her dagewesen sein und wird in alle Ewigkeit hinein da sein. Dem Gebiete der Beobachtung soll aber die Materie nicht angehören, son­dern jenseits desselben vorhanden sein. Du Bois-Reymond nimmt deshalb an, daß der Mensch unfähig sei, das Wesen der Materie selbst zu erkennen, daß er also die Vorgänge der Körperwelt auf etwas zurückführe, dessen Natur ihm immer unbekannt bleiben wird. «Nie werden wir besser als heute wissen, was hier im Raume, wo Materie ist, spukt.» («Grenzen des Naturerkennens», S.22.) Vor einer genauen Überlegung löst sich dieser Begriff der Materie in Nichts auf Der wirkliche Inhalt, den man diesem Begriffe gibt, ist

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aus der Erfahrungswelt entlehnt. Man nimmt Bewegungen innerhalb der Erfahrungswelt wahr. Man fühlt einen Zug, wenn man ein Gewicht in der Hand hält, und einen Druck, wenn man auf die horizontal hingehaltenene Handfläche ein Gewicht legt. Um diese Wahrnehmung zu erklären, bil­det man den Begriff der Kraft. Man stellt sich vor, daß die Erde das Gewicht anzieht. Die Kraft selbst kann nicht wahr­genommen werden. Sie ist ideell. Sie gehört aber doch dem Beobachtungsgebiete an. Der Geist beobachtet sie, weil er die ideellen Bezüge der Wahrnehmungen untereinander an­schaut. Zu dem Begriffe einer Abstoßungskraft wird man geführt, wenn man ein Stück Kautschuk zusammendrückt, und es sich dann selbst überläßt. Es stellt sich in seiner frühe­ren Gestalt und Größe wieder her. Man stellt sich vor, die zusammengedrängten Teile des Kautschuks stoßen sich ab und nehmen den früheren Rauminhalt wieder ein. Sol­che aus der Beobachtung geschöpfte Vorstellungen über­trägt die angedeutete Denkart auf das unerfahrbare Wirk­lichkeitsgebiet. Sie tut in Wirklichkeit also nichts, als ein Erfahrbares aus einem andern Erfahrbaren herleiten. Nur versetzt sie willkürlich das letztere in das Gebiet des Uner­fahrbaren. Jeder Vorstellungsart, die innerhalb der Naturanschauung von einem Unerfahrbaren spricht, ist nachzu­weisen, daß sie einige Lappen aus dem Gebiete der Erfah­rung aufnimmt und in ein jenseits der Beobachtung gelege­nes Wirklichkeitsgebiet verweist. Nimmt man die Erfah­rungslappen aus der Vorstellung des Unerfabrbaren her­aus, so bleibt ein inhaltloser Begriff, ein Unbegriff, zu­rück. Die Erklärung eines Erfahrbaren kann nur darin bestehen, daß man es auf ein anderes Erfahrbares zu­rückführt. Zuletzt gelangt man zu Elementen innerhalb

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der Erfahrung, die nicht mehr auf andere zurückgeführt werden können. Diese sind nicht weiter zu erklären, weil sie keiner Erklärungbedürftig sind. Sie enthalten ihre Erklärung in sich selbst. Ihr unmittelbares Wesen besteht in dem, was sie der Beobachtung darbieten. Ein solches Element ist für Goethe das Licht. Nach seiner Ansicht hat das Licht erkannt, wer es unbefangen in der Erscheinung wahrnimmt. Die Far­ben entstehen am Lichte und ihre Entstehung wird begriffen, wenn man zeigt, wie sie an demselben entstehen. Das Licht selbst ist in unmittelbarer Wahrnehmung gegeben. Was in ihm ideell veranlagt ist, erkennt man, wenn man beobachtet, welcher Zusammenhang zwischen ihm und den Farben ist. Nach dem Wesen des Lichtes zu fragen, nach einem Uner­fahrbaren, das der Erscheinung «Licht» entspricht, ist vom Standpunkte der Goetheschen Weltanschauung aus unmög­lich. «Denn eigentlich unternehmen wir umsonst, das Wesen eines Dinges auszudrücken. Wirkungen werden wir gewahr, und eine vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfaßte wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges.» Das heißt eine voll­ständige Darstellung der Wirkungen eines Erfahrbaren um­faßt alle Erscheinungen, die in ihm ideell veranlagt sind. «Ver­gebens bemühen wir uns, den Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine Handlungen, seine Taten zusammen, und ein Bild des Charakters wird uns entgegen­treten. - Die Farben sind Taten des Lichtes, Taten und Leiden. In diesem Sinne können wir von denselben Aufschlüsse über das Licht erwarten.» (Didaktischer Teil der Farbenlehre.

Vorwort.) *

Das Licht stellt sich der Beobachtung dar als « das einfachste, unzerlegteste, homogenste Wesen, Jas wir kennen.» (Briefwechsel

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mit Jacobi, 5. 167.) Ihm entgegengesetzt ist die Finsternis. Für Goethe ist die Finsternis nicht die vollkom­men kraftlose Abwesenheit des Lichtes. Sie ist ein Wirksames. Sie stellt sich dem Licht entgegen und tritt mit ihm in Wech­selwirkung. Die moderne Naturwissenschaft sieht die Fin­sternis an als ein vollkommenes Nichts. Das Licht, das in einen finstern Raum einströmt, hat, nach dieser Ansicht, keinen Widerstand der Finsternis zu überwinden. Goethe stellt sich vor, daß Licht und Finsternis sich zueinander. ähnlich verhalten wie der Nord- und Südpol eines Magneten Die Finsternis kann das Licht in seiner Wirkungskraft schwächen. Umgekehrt kann das Licht die Energie der Finsternis beschränken. In beiden Fällen entsteht die Farbe. Eine physikalische Anschauung, die sich die Finsternis als das vollkommen Unwirksame denkt, kann von einer sol­chen Wechselwirkung nicht sprechen. Sie muß daher die Farben allein aus dem Lichte herleiten. Die Finsternis tritt für die Beobachtung ebenso als Erscheinung auf wie das Licht. Das Dunkel ist in demselben Sinne Wahrnehmungs­inhalt wie die Helle. Das eine ist nur der Gegensatz des an­dern. Das Auge, das in die Nacht hinausblickt, vermittelt die reale Wahrnehmung der Finsternis. Wäre die Finsternis das absolute Nichts, so entstände gar keine Wahrnehmung, wenn der Mensch in das Dunkel hinaussieht.

Das Gelb ist ein durch die Finsternis gedämpftes Licht; das Blau eine durch das Licht abgeschwächte Finsternis.

Das Auge ist dazu eingerichtet, dem vorstellenden Organis­mus die Erscheinungen der Licht- und Farbenwelt und die Bezüge dieser Erscheinungen zu vermitteln. Es verhält sich

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dabei nicht bloß aufnehmend, sondern tritt in lebendige Wechselwirkung mit den Erscheinungen. Goethe ist be­strebt, die Art dieser Wechselwirkung zu erkennen. Er be­trachtet das Auge als ein durchaus Lebendiges und will seine Lebensäußerungen durchschauen. Wie verhält sich das Auge zu der einzelnen Erscheinung? Wie verhält es sich zu den Bezügen der Erscheinungen? Das sind Fragen, die er sich vorlegt. Licht und Finsternis, Gelb und Blau sind Ge­gensätze. Wie empfindet das Auge diese Gegensätze? Es muß in der Natur des Auges begründet sein, daß es die Wechselbeziehungen, die zwischen den einzelnen Wahrneh­mungen bestehen, auch empfinde. Denn «das Auge hat sein Dasein dem Lichte zu danken. Aus gleichgültigen tierischen Hilfsorganen ruft sich das Licht ein Organ hervor, das sei­nesgleichen werde; und so bildet sich das Auge am Lichte fürs Licht, damit das innere Licht dem äußern entgegentrete.» (Didaktischer Teil der Farbenlehre. Einleitung.)

So wie Licht und Finsternis sich in der äußeren Natur gegensätzlich verhalten, so stehen die beiden Zustände ein­ander entgegen, in die das Auge durch die beiden Erschei­nungen versetzt wird. Wenn man das Auge innerhalb eines finstern Raumes offen hält, so wird ein gewisser Mangel empfindbar. Wird es dagegen einer stark beleuchteten wei­ßen Fläche zugewendet, so wird es für eine gewisse Zeit unfähig, mäßig beleuchtete Gegenstände zu unterscheiden. Das Sehen ins Dunkle steigert die Empfänglichkeit; das­jenige in das Helle schwächt sie ab.

Jeder Eindruck aufs Auge bleibt eine Zeitlang in dem­selben. Wer ein schwarzes Fensterkreuz auf einem hellen Hintergrunde ansieht, wird, wenn er die Augen schließt, die Erscheinung noch eine Weile vor sich haben. Blickt

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man, während der Eindruck noch dauert, auf eine hellgraue Fläche, so erscheint das Kreuz hell, der Scheibenraum da­gegen dunkel. Es findet eine Umkehrung der Erscheinung statt. Daraus folgt, daß das Auge durch den einen Eindruck disponiert wird, den entgegengesetzten aus sich selbst zu erzeugen. Wie in der Außenwelt Licht und Finsternis in Be­ziehung zu einander stehen, so auch die entsprechenden Zu­stände im Auge. Goethe stellt sich vor, daß der Ort im Au­ge, auf den das dunkle Kreuz fiel, ausgeruht und empfäng­lich für einen neuen Eindruck ist. Deshalb wirkt auf ihn die graue Fläche lebhafter als auf die übrigen Orte im Auge, die vorher das stärkere Licht von den Fensterscheiben empfan­gen haben. Hell erzeugt im Auge die Hinneigung zum Dun­kel; Dunkel die zum Hellen. Wenn man ein dunkles Bild vor eine hellgraue Fläche hält und unverwandt, indem es vor­genommen wird, auf denselben Fleck sieht, so erscheint der Raum, den das dunkle Bild eingenommen hat, um vieles heller als die übrige Fläche. Ein graues Bild auf dunklem Grund erscheint heller als dasselbe Bild auf hellem. Das Au­ge wird durch den dunklen Grund disponiert, das Bild heller; durch den hellenes dunkler zu sehen. Goethe wird durch die­se Erscheinungen auf die große Regsamkeit des Auges ver­wiesen «und den stillen Widerspruch, den jedes Lebendige zu äußern gedrungen ist, wenn ihm irgend ein bestimmter Zustand dargeboten wird. So setzt das Einatmen schon das Ausatmen voraus und umgekehrt... Es ist die ewige Formel des Lebens, die sich auch hier äußert. Wie dem Auge das Dunkle geboten wird, so fordert es das Helle; es fordert Dunkel, wenn man ihm Hell entgegenbringt und zeigt eben dadurch seine Lebendigkeit, sein Recht, das Objekt zu fas­sen, indem es etwas, das dem Objekt entgegengesetzt ist,

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aus sich selbst hervorbringt.» (§ 38 des didaktischen Teiles der Farbenlehre.)

In ähnlicher Weise wie Licht und Finsternis rufen auch Farbenwahmehmungen eine Gegenwirkung im Auge her­vor. Man halte ein kleines Stück gelbgefärbten Papiers vor eine mäßig erleuchtete weiße Tafel, und schaue unverwandt auf die kleine gelbe Fläche. Nach einiger Zeit hebe man das Papier hinweg. Man wird die Stelle, die das Papier ausge­füllt hat, violett sehen. Das Auge wird durch den Eindruck des Gelb disponiert, das Violett aus sich selbst zu erzeugen. Ebenso wird das Blaue das Orange, das Rote das Grün als Gegenwirkung hervorbringen. Jede Farbenempfin­dung hat also im Auge einen lebendigen Bezug zu einer andern. Die Zustände, in die das Auge durch Wahrneh­mungen versetzt wird, stehen in einem ähnlichen Zu­sammenhange wie die Inhalte dieser Wahrnehmun­gen in der Außenwelt.

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Wenn Licht und Finsternis, Hell und Dunkel aufs Auge wirken, so tritt ihnen dieses lebendige Organ mit seinen For­derungen entgegen; wirken sie auf die Dinge draußen im Raume, so treten diese mit ihnen in Wechselwirkung. Der leere Raum hat die Eigenschaft der Durchsichtigkeit. Er wirkt auf Licht und Finsternis gar nicht. Diese scheinen durch ihn in ihrer eigenen Lebhaftigkeit durch. Anders ist es, wenn der Raum mit Dingen gefüllt ist. Diese Füllung kann eine solche sein, daß das Auge sie nicht gewahr wird, weil Licht und Finsternis in ihrer ursprünglichen Gestalt durch sie hindurch scheinen. Dann spricht man von durch­sichtigen Dingen. Scheinen Licht und Finsternis nicht un­geschwächt

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durch ein Ding hindurch, so wird es als trüb bezeichnet. Die trübe Raumausfüllung bietet die Möglich­keit, Licht und Finsternis, Hell und Dunkel in ihrem gegen­seitigen Verhältnis zu beobachten. Ein Helles durch ein Trübes gesehen, erscheint gelb, ein Dunkles blau. Das Trübe ist ein Materielles, das vom Lichte durchhellt wird. Gegen­über einem hinter ihm befindlichen helleren, lebhafteren Licht ist das Trübe dunkel; gegen eine durchscheinende Finsternis verhält es sich als Helles. Es wirken also, wenn ein Trübes sich dem Licht oder der Finsternis entgegenstellt, wirklich ein vorhandenes Helles und ein ebensolches Dunk­les ineinander.

Nimmt die Trübe, durch welche das Licht scheint, all­mählich zu, so geht das Gelb in Gelbrot und dann in Rubin­rot über. Vermindert sich die Trübe, durch die das Dunkel dringt, so geht das Blau in Indigo und zuletzt in Violett über. Gelb und Blau sind Grundfarben. Sie entstehen durch Zusammenwirken des Hellen oder Dunklen mit der Trübe. Beide können einen rötlichen Ton annehmen, jenes durch Vermehrung, dieses durch Verminderung der Trübe. Das Rot ist somit keine Grundfarbe. Es erscheint als Farbenton an dem Gelben oder Blauen. Gelb mit seinen rötlichen Nu­ancen, die sich bis zum reinen Rot steigern, steht dem Lichte nahe, Blau mit seinen Abtönungen ist der Finsternis ver­wandt. Wenn sich Blau und Gelb vermischen entsteht Grün; mischt sich das bis zum Violetten gesteigerte Blau mit dem zum Roten verfinsterten Gelb, so entsteht die Purpurfarbe.

Diese Grunderscheinungen verfolgt Goethe innerhalb der Natur. Die helle Sonnenscheibe durch einen Flor von trü­ben Dünsten gesehen, erscheint gelb. Der dunkle Weltraum

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durch die vom Tageslicht erleuchteten Dünste der Atmosphäre angeschaut, stellt sich als das Blau des Himmels dar. «Ebenso erscheinen uns auch die Berge blau: denn, indem wir sie in einer solchen Ferne erblicken, daß wir die Lokalfarben nicht mehr sehen, und kein Licht von ihrer Oberfläche mehr auf unser Auge wirkt, so gelten sie als ein reiner finsterer Gegenstand, der nun durch die dazwischen tretenden Dünste blau erscheint.» (§ 6 des didaktischen Teiles der Farbenlehre.)

Aus der Vertiefung in die Kunstwerke der Maler ist Goethe das Bedürfnis erwachsen, in die Gesetze einzu­dringen, denen die Erscheinungen des Gesichtssinnes un­terworfen sind. Jedes Gemälde gab ihm Rätsel auf. Wie verhält sich das Hell-Dunkel zu den Farben? In welchen Beziehungen stehen die einzelnen Farben zueinander? War­um bewirkt Gelb eine heitere, Blau eine ernste Stimmung? Aus der Newtonschen Farbenlehre war kein Gesichtspunkt zu gewinnen, von dem aus diese Geheimnisse zu lüften ge­wesen wären. Sie leitet alle Farben aus dem Licht ab, stellt sie stufenweise nebeneinander und sagt nichts über ihre Be­ziehungen zum Dunkeln und auch nichts über ihre leben­digen Bezüge zueinander. Aus den auf eigenem Wege ge­wonnenen Einsichten konnte Goethe die Rätsel lösen, die ihm die Kunst aufgegeben hatte. Das Gelb muß eine heitere, muntere, sanft reizende Eigenschaft besitzen, denn es ist die nächste Farbe am Licht. Es entsteht durch die gelindeste Mäßigkeit desselben. Das Blau weist auf das Dunkle hin, das in ihm wirkt. Deshalb gibt es ein Gefühl von Kälte, so wie «es auch an Schatten erinnert». Das rötliche Gelb ent­steht durch Steigerung des Gelben nach der Seite des Dunkeln. Durch diese Steigerung wächst seine Energie.

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Das Heitere, Muntere geht in das Wonnige über. Sobald die Steigerung noch weitergeht, vom Rotgelben ins Gelbrote, verwandelt sich das heitere, wonnige Gefühl in den Eindruck des Gewaltsamen. Das Violett ist das zum Hellen strebende Blau. Die Ruhe und Kälte des Blauen wird da­durch zur Unruhe. Eine weitere Zunahme erfährt diese Un­ruhe im Blauroten. Das reine Rot steht in der Mitte zwi­schen Gelbrot und Blaurot. Das Stürmische des Gelben er­scheint gemindert, die lässige Ruhe des Blauen belebt sich. Das Rote macht den Eindruck der idealen Befriedigung, der Ausgleichung der Gegensätze. Ein Gefühl der Befrie­digung entsteht auch durch das Grün, das eine Mischung von Gelb und Blau ist. Weil aber hier das Heitere des Gel­ben nicht gesteigert, die Ruhe des Blauen nicht gestört durch den rötlichen Ton ist, so wird die Befriedigung eine reinere sein als die, welche das Rot hervorbringt.

*

Das Auge fordert, wenn ihm eine Farbe entgegengebracht wird, sogleich eine andere. Erblickt es Gelb, so entsteht in ihm die Sehnsucht nach dem Violetten; nimmt es Blau wahr, so verlangt es Orange; sieht es Rot, so begehrt es Grün. Es ist begreiflich, daß das Gefühl der Befriedigung entsteht, wenn neben einer Farbe, die dem Auge dargeboten wird, eine andere gesetzt wird, die es seiner Natur nach erstrebt. Aus dem Wesen des Auges ergibt sich das Gesetz der Far­benharmonie. Farben, die das Auge nebeneinander fordert, wirken harmonisch. Treten zwei Farben nebeneinander auf, von denen die eine nicht die andere fordert, so wird das Auge zur Gegenwirkung aufgeregt. Die Zusammenstellung von Gelb und Purpur hat etwas Einseitiges, aber Heiteres

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und Prächtiges. Das Auge will Violett neben Gelb, um sich naturgemäß ausleben zu können. Tritt Purpur an die Stelle des Violetten, so macht der Gegenstand seine An­sprüche gegenüber denen des Auges geltend. Er fügt sich den Forderungen des Organs nicht. Zusammenstellungen dieser Art dienen dazu, auf das Bedeutende der Dinge hinzu­weisen. Sie wollen nicht unbedingt befriedigen, sondern charakterisieren. Zu solchen charakteristischen Verbindun­gen eignen sich Farben, die nicht in vollem Gegensatz zu­einander stehen, die aber doch auch nicht unmittelbar in­einander übergehen. Zusammenstellungen der letzteren Art geben den Dingen, an denen sie vorkommen, etwas Cha­rakterloses.

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Das Werden und Wesen der Licht- und Farbenerscheinun­gen hat sich Goethe in der Natur offenbart. Er hat es auch wiedererkannt in den Schöpfungen der Maler, in denen es auf eine höhere Stufe gehoben, ins Geistige übersetzt ist. Einen tiefen Einblick in das Verhältnis von Natur und Kunst hat Goethe durch seine Beobachtungen der Gesichtswahrnehmungen gewonnen. Daran mag er wohl gedacht haben, als er nach Vollendung der «Farbenlehre » über diese Beobachtungen an Frau von Stein schrieb: «Es reut mich nicht, ihnen soviel Zeit aufgeopfert zu haben. Ich bin da­durch zu einer Kultur gelangt, die ich mir von einer andern Seite her schwerlich verschafft hätte.»

Die Goethesche Farbenlehre ist verschieden von derjeni­gen Newtons und derjenigen Physiker, die auf Newtons Vorstellungen ihre Anschauungen aufbauen, weil der er­stere von einer andern Weltanschauung ausgeht als die letz­teren. Wer nicht den hier dargestellten Zusammenhang zwischen

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Goethes allgemeinen Naturvorstellungen und seiner Farbenlehre ins Auge faßt, der wird nicht anders können, als glauben, Goethe sei zu seinen Farbenanschauungen ge­kommen, weil ihm der Sinn für die echten Beobachtungs­methoden des Physikers gemangelt habe. Wer diesen Zu­sammenhang durchschaut, der wird auch einsehen, daß in­nerhalb der Goetheschen Weltanschauung keine andere Farbenlehre möglich ist als die seinige. Er würde über das Wesen der Farbenerscheinungen nicht anders haben denken können, als er es tat, auch wenn alle seit seiner Zeit gemach­ten Entdeckungen auf diesem Gebiete vor ihm wären ausge­breitet gewesen, und wenn er die gegenwärtig so vervoll­kommneten Versuchsmethoden hätte selbst exakt handha­ben können. Wenn er auch, nachdem er mit der Entdeckung der Frauenhoferschen Linien bekannt wird, diese auch im Sinne seiner Naturanschauung nicht völlig in diese einrei­hen kann, so sind doch weder sie noch sonst eine Entdek­kung auf optischem Gebiete ein Einwand gegen seine Auf­fassung. Es handelt sich bei alledem nur darum, diese Goe­thesche Auffassung so auszubauen, daß diese Erscheinun­gen in ihrem Sinne in sie sich einfügen. Zuzugeben ist, daß wer auf dem Gesichtspunkte der Newtonschen Auffassung steht, sich bei Goethes Farbenansichten nichts vorstellen könne. Das rührt aber nicht davon her, weil ein solcher Phy­siker Erscheinungen kennt, die der Goetheschen Auffas­sung widersprechen, sondern weil er sich in eine Naturan­schauung eingewöhnt hat, die ihn verhindert, zu erkennen, was die Goethesche Naturansicht eigentlich will.

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GEDANKEN ÜBER ENTWICKLUNGSGESCHICHTE DER ERDE UND LUFTERSCHEINUNGEN

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GEDANKEN ÜBER ENTWICKLUNGSGESCHICHTE DER ERDE

Durch seine Beschäftigung mit dem Ilmenauer Bergbau wurde Goethe angeregt, das Reich der Mineralien, Gesteine und Felsarten, sowie die übereinander geschichteten Mas­sen der Erdrinde zu betrachten. Im Juli 1776 begleitete er den Herzog Karl August nach Ilmenau. Sie wollten sehen, ob das alte Bergwerk wieder in Bewegung gesetzt werden könne. Goethe widmete dieser Bergwerksangelegenheit auch weiter seine Fürsorge. Dabei wuchs in ihm immer mehr der Trieb, zu erkennen, wie die Natur bei der Bildung der Stein- und Gebirgsmassen verfährt. Er bestieg die ho­hen Gipfel und kroch in die Tiefen der Erde, um «der gro­ßen formenden Hand nächste Spuren zu entdecken». Seine Freude, die schaffende Natur auch von dieser Seite kennen zu lernen, teilte er am 8. September 1780 von Ilmenau aus der Frau von Stein mit. «Jetzt leb' ich mit Leib und Seel in Stein und Bergen und bin sehr vergnügt über die weiten Aussichten, die sich mir auftun. Diese zwei letzten Tage ha­ben mir ein groß Fleck erobert und können auf vieles schlie­ßen. Die Welt kriegt mir nun ein neu ungeheuer Ansehen.» Immer mehr befestigt sich bei ihm die Hoffnung, daß es ihm gelingen werde, einen Faden zu spinnen, der durch die un­terirdischen Labyrinthe durchführen und eine Übersicht in der Verwirrung geben könne. (Brief an Frau von Stein vom 12. Juni 1784.) Allmählich dehnt er seine Beobachtungen über weitere Gebiete der Erdoberfläche aus. Auf seinen Harzreisen glaubt er zu erkennen, wie sich große anorgani­sche Massen gestalten. Er schreibt ihnen die Tendenz zu, sich, «in mannigfachen, regelmäßigen Richtungen zu tren­nen

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so daß Parallelepipeden entstehen, welche wieder in der Diagonale sich zu durchschneiden die Geneigtheit ha­ben.» (Vergl. den Aufsatz «Gestaltung großer anorganischer Massen», Kürschner, Band 34.) Er denkt sich die Steinmassen von einem ideellen Gitterwerk durchzogen, und zwar sechsseitig. Dadurch werden kubische, parallel­epipedische, rhombische, rhomboidische, säulen- und plat­tenförmige Körper aus einer Grundmasse herausgeschnit­ten. Er stellt sich innerhalb dieser Grundmasse Kräftewir­kungen vor, die sie in dem Sinne trennen, wie das ideelle Gitterwerk es veranschaulicht. Wie in der organischen Na­tur, so sucht Goethe auch in dem Steinreiche das wirksame Ideelle. Auch hier forscht er mit Geistesaugen. Wo die Tren­nung in regelmäßige Formen nicht in die Erscheinung tritt, da nimmt er an, daß sie ideell in den Massen vorhanden ist. Auf einer Harzreise, die er 1784 unternimmt, läßt er von dem ihn begleitenden Rat Kraus Kreidezeichnungen aus­führen, in denen das Unsichtbare, Ideelle durch das Sicht­bare verdeutlicht und zur Anschauung gebracht ist. Er ist der Ansicht, daß das Tatsächliche vom Zeichner nur dann wahrhaft dargestellt werden kann, wenn dieser auf die In­tentionen der Natur achtet, die in der äußeren Erscheinung oft nicht deutlich genug hervortreten.«... im Übergang aus dem Weichen in das Starre ergibt sich eine Scheidung, sie sei nun dem Ganzen angehörig oder sie ereigne sich im Inner­sten der Massen.» (Kürschner, Band 34. Aufsatz: «Gebirgs­-Gestaltung im ganzen und einzelnen.») In den organischen Formen ist, nach Goethes Ansicht, ein sinnlich-übersinn­liches Urbild lebendig gegenwärtig; ein Ideelles tritt in die sinnliche Wahrnehmung ein und durchsetzt sie. In der regel­mäßigen Gestaltung anorganischer Massen wirkt ein Ideelles,

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das als solches nicht in die sinnliche Form eingeht, aber doch eine sinnliche Form schafft. Die unorganische Form ist in der Erscheinung nicht sinnlich-übersinnlich, sondern nur sinnlich; sie muß aber als Wirkung einer übersinnlichen Kraft aufgefaßt werden. Sie ist ein Zwischending zwischen dem unorganischen Vorgang, dessen Verlauf noch von ei­nem Ideellen beherrscht wird, der aber von demselben eine geschlossene Form erhält, und dem Organischen, in dem das Idelle selbst zur sinnlichen Form wird.

Die Bildung zusammengesetzter Gesteine denkt sich Goethe dadurch bewirkt, daß die ursprünglich nur ideell in einer Masse vorhandenen Substanzen tatsächlich auseinan­der getrennt werden. In einem Briefe an Leonhard, vom 25. November 1807, schreibt er: «So gestehe ich gern, daß ich da noch oft simultane Wirkungen erblicke, wo andere schon eine sukzessive sehen; daß ich in manchem Gestein, das andere für ein Konglomerat, für ein aus Trümmern Zu­sammengeführtes und Zusammengebackenes halten, ein aus einer heterogenen Masse in sich selbst Geschiedenes und Getrenntes und sodann durch Konsolidation Festgehalte­nes zu schauen glaube.»

Goethe ist nicht dazu gekommen, diese Gedanken für eine größere Zahl unorganischer Formenbildungen fruchtbar zu machen. Es ist seiner Denkweise gemäß, auch die Anordnung der geologischen Schichten aus ideellen Bil­dungsprinzipien zu erklären, die dem Stoff, seinem Wesen nach, innewohnen. Den damals weit verbreiteten geologi­schen Ansichten Werners konnte er sich aus dem Grunde nicht anschließen, weil dieser solche Bildungsprinzipien nicht kannte, sondern alles auf die rein mechanischen Wirkun­gen des Wassers zurückführte. Noch unsympathischer war

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ihm der von Hutton aufgestellte und von Alexander von Humboldt, Leopold von Buch und anderen verteidigte Vul­kanismus, der die Entwicklung der einzelnen Erdperioden durch gewaltsame, von materiellen Ursachen bewirkte Re­volutionen erklärte. Durch vulkanische Kräfte läßt diese Anschauung große Gebirgssysteme plötzlich aus der Erde emporschießen. Solche unermeßliche Kraftleistungen schie­nen Goethe dem Wesen der Natur zu widersprechen. Er sah keinen Grund, warum die Gesetze der Erdentwicklung sich zu gewissen Zeiten plötzlich ändern und nach langandau­ernder allmählicher Wirksamkeit sich in einem gewissen Zeit­punkte durch «Heben und Drängen, Aufwälzen und Quet­schen, Schleudern und Schmeißen» äußern sollen. Die Na­tur erschien ihm in allen ihren Teilen konsequent, so daß selbst eine Gottheit an den ihr eingeborenen Gesetzen nichts ändern könnte. Ihre Gesetze hält er für unwandelbar. Die Kräfte, die heute an der Bildung der Erdoberfläche wirken, müssen dem Wesen nach, zu allen Zeiten gewirkt haben.

Von diesem Gesichtspunkte aus kommt er auch zu einer naturgemäßen Ansicht darüber, auf welche Weise die Ge­steinblöcke an ihre Plätze gelangt sind, die in der Nähe des Genfer Sees zerstreut sich vorfinden und die, ihrer Beschaf­fenheit nach, von weit entfernten Gebirgen abgetrennt sind. Es trat ihm die Meinung entgegen, daß diese Gesteinsmas­sen bei dem tumultarischen Aufstand der weit rückwärts im Lande gelegenen Gebirge an ihren jetzigen Ort geschleu­dert worden seien. Goethe suchte nach Kräften, die gegen­wärtig beobachtet werden können, und die geeignet sind, diese Erscheinung zu erklären. Er fand solche bei der Bil­dung der Gletscher tätig. Nun brauchte er nur anzunehmen, daß die Gletscher, die heute noch das Gestein vom Gebirge

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in die Ebenen befördern, einstmals eine ungeheuer viel grö­ßere Ausdehnung gehabt haben als gegenwärtig. Sie haben dann die Steinmassen viel weiter von den Gebirgen wegge­tragen, als sie es in der Gegenwart tun. Als die Gletscher wieder an Ausdehnung verloren, sind diese Gesteine liegen geblieben. In analoger Weise, dachte Goethe, müssen auch die in der norddeutschen Tiefebene umherliegenden Gra­nitblöcke an ihre jetzigen Fundorte gelangt sein. Um sich vorstellen zu können, daß die von erratischen Blöcken be­deckten Landesteile einst von Gletschereis bedeckt waren, bedarf es der Annahme einer Epoche großer Kälte. Ge­meingut der Wissenschaft wurde diese Annahme durch Agas­siz, der selbständig auf sie kam und sie 1837 in der Schwei­zerischen Gesellschaft für Naturforschung darlegte. In neue­rer Zeit ist diese Kälteepoche, die über die Kontinente der Erde hereinbrach, als bereits ein reiches Tier- und Pflanzenleben entwickelt war, zum Lieblingsstudium bedeutender Geologen geworden. Was Goethe im einzelnen über die Er­scheinungen dieser «Eiszeit» vorbringt, ist gegenüber den Beobachtungen, die spätere Forscher gemacht haben, be­langlos.

Ebenso wie zur Annahme einer Epoche großer Kälte wird Goethe durch seine allgemeine Naturanschauung zu einer richtigen Ansicht über das Wesen der Versteinerun­gen geführt. Zwar haben schon frühere Denker in diesen Gebilden Überreste vorweltlicher Organismen erkannt. Diese richtige Ansicht ist aber so langsam allgemein herr­schend geworden, daß noch Voltaire die versteinerten Mu­scheln als Naturspiele ansehen konnte. Goethe erkannte bald, nachdem er einige Erfahrung auf diesem Gebiete ge­wonnen hatte, daß die Versteinerungen als Reste von Or­ganismen

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in einem naturgemäßen Zusammenhange mit denjenigen Erdschichten stehen, in denen sie gefunden wer­den. Das heißt, daß diese Organismen in den Epochen der Erde gelebt haben, in denen sich die entsprechenden Schich­ten gebildet haben. In dieser Weise spricht er sich über Ver­steinerungen in einem Briefe an Merck vom 27. Oktober 1782 aus: «Alle die Knochentrümmer, von denen Du sprichst und die in dem oberen Sande des Erdreichs überall gefunden werden, sind, wie ich völlig überzeugt bin, aus der neuesten Epoche, welche aber doch gegen unsere gewöhn­liche Zeitrechnung ungeheuer alt ist. In dieser war das Meer schon zurückgetreten; hingegen flossen Ströme noch in gro­ßer Breite, doch verhältnismäßig zum Niveau des Meeres, nicht schneller und vielleicht nicht einmal so schnell als jetzt. Zu derselbigen Zeit setzte sich der Sand, mit Leimen ge­mischt, in allen breiten Tälern nieder, die nach und nach, als das Meer sank, von dem Wasser verlassen wurden und die Flüsse sich in ihrer Mitte nur geringe Beete gruben. Zu je­ner Zeit waren die Elefanten und Rhinozerosse auf den entblößten Bergen bei uns zu Hause, und ihre Reste konn­ten gar leicht durch die Waldströme in jene großen Stromtäler oder Seeflächen heruntergespült werden, wo sie mehr oder weniger mit dem Steinsaft durchdrungen sich erhiel­ten und wo wir sie nun mit dem Pfluge oder durch andere Zufälle ausgraben. In diesem Sinne sagte ich vorher, man finde sie in dem oberen Sande, nämlich in dem, der durch die alten Flüsse zusammengespült worden, da schon die Hauptrinde des Erdbodens völlig gebildet war. Es wird nun bald die Zeit kommen, wo man Versteinerungen nicht mehr durcheinander werfen, sondern verhältuismäßig zu den Epochen der Welt rangieren wird.»

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Goethe ist wiederholt ein Vorläufer der durch Lyell be­gründeten Geologie genannt worden. Auch diese nimmt nicht mehr gewaltsame Revolutionen oder Katastrophen an, um die Entstehung einer Erdperiode aus der andern zu erklären. Sie führt die früheren Veränderungen der Erd­oberfläche auf dieselben Vorgänge zurück, die sich auch jetzt noch abspielen. Es darf aber nicht außer acht gelassen werden, daß die moderne Geologie bloß physikalische und chemische Kräfte heranzieht, um die Erdbildung zu erklä­ren. Daß dagegen Goethe gestaltende Kräfte annimmt, die innerhalb der Massen wirksam sind und die eine höhere Art von Bildungsprinzipien darstellen, als die Physik und Che­mie sie kennen.

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BETRACHTUNGEN ÜBER ATMOSPHÄRISCHE ERSCHEINUNGEN

Im Jahre 1815 lernt Goethe Luke Howards «Versuch einer Naturgeschichte und Physik der Wolken» kennen. Er wird dadurch zu schärferem Nachdenken über Wolkenbildungen und Witterungsverhältnisse angeregt. Zwar hat er schon früher mancherlei Beobachtungen über diese Erscheinun­gen gemacht und aufgezeichnet. Das Erfahrene jedoch zu­sammenzustellen fehlten ihm «Umsicht und wissenschaft­liche Verknüpfungszweige». In dem Howardschen Auf­satze sind die mannigfaltigen Wolkenbildungen auf gewisse Grundformen zurückgeführt. Goethe findet nun einen Ein­gang in die Witterungskunde, die ihm bisher fremd geblie­ben ist, weil es seiner Natur unmöglich war, aus der Art, wie dieser Wissenszweig zu seiner Zeit behandelt wurde, etwas zu gewinnen. «Den ganzen Komplex der Witterungskunde, wie er tabellarisch durch Zahlen und Zeichen aufgestellt wird, zu erfassen ... war meiner Natur unmöglich; ich freute mich, einen integrierenden Teil derselben meiner Neigung und Lebensweise angemessen zu finden, und weil in diesem unendlichen All alles in ewiger, sicherer Beziehung steht, eins das andere hervorbringt oder wechselweise hervorge­bracht wird, so schärfte ich meinen Blick auf das dem Sinne der Augen Erfaßliche und gewöhnte mich, die Bezüge der atmosphärischen und irdischen Erscheinungen mit Baro­meter und Thermometer in Einklang zu setzen...»

Da der Stand des Barometers in genauem Bezug zu allen Witterungsverhälmissen steht, so tritt er auch bald für Goe­the in den Mittelpunkt seiner Beobachtungen über atmo­sphärische Verhältnisse. Je länger er diese Beobachtungen

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fortsetzt, um so mehr glaubt er zu erkennen, da das Steigen und Fallen des Quecksilbers im Barometer an verschiedenen «näher und ferner, nicht weniger in unterschiedenen Län­gen, Breiten und Höhen gelegenen Beobachtungsorten» so geschieht, daß einem Steigen oder Fallen an einem Orte ein fast gleich großes Steigen oder Fallen an allen andern Orten zu gleichen Zeiten entspricht. Aus dieser Regelmäßigkeit der Barometerveränderungen zieht Goethe die Folgerung, daß auf dieselben keine außerirdischen Einflüsse wirken können. Wenn man dem Monde, den Planeten, den Jahreszeiten einen solchen Einfluß zuschreibt, wenn man von Ebbe und Flut in der Atmosphäre spricht, so wird die Re­gelmäßigkeit nicht erklärt. Alle diese Einflüsse müßten sich zu gleichen Zeiten in der verschiedensten Weise an verschie­denen Orten geltend machen. Nur wenn innerhalb der Erde selbst die Ursache für diese Veränderungen liegt, sind sie erklärbar, meint Goethe. Da nun der Stand des Quecksil­bers von dem Druck der Luft abhängt, so stellt sich Goethe vor, daß die Erde abwechselnd die ganze Atmosphäre zu­sammenpreßt und wieder ausdehnt. Wird die Luft zusam­mengepreßt, so erhöht sich ihr Druck und das Quecksilber steigt; das Umgekehrte findet bei der Ausdehnung statt. Goethe schreibt diese abwechselnde Zusammenziehung und Ausdehnung der ganzen Luftmasse einer Veränderlich­keit zu, welcher die Anziehungskraft der Erde unterworfen ist. Das Vermehren und Vermindern dieser Kraft sieht er in einem gewissen Eigenleben der Erde begründet und ver­gleicht es mit dem Ein- und Ausatmen eines Organismus.

Demnach denkt sich Goethe auch die Erde nicht in bloß mechanischer Weise wirksam. So wenig er die geologischen Vorgänge rein mechanisch und physikalisch erklärt, ebensowenig

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tut er dies bei den Barometerschwankungen. Seine Naturansicht steht in scharfem Gegensatz zu der modernen. Diese sucht, ihren allgemeinen Grundsätzen gemäß, die at­mosphärischen Vorgänge physikalisch zu begreifen. Die Temperaturunterschiede in der Atmosphäre bewirken eine Verschiedenheit des Luftdrucks an verschiedenen Orten, erzeugen Luftströmungen von wärmeren nach kälteren Ge­bieten, vermehren oder vermindern den Feuchtigkeitsge­halt, bringen Wolkenbildungen und Niederschläge hervor. Aus solchen und ähnlichen Faktoren werden die Schwan­kungen des Luftdrucks und damit das Steigen und Fallen des Barometers erklärt. Auch widerspricht Goethes Vor­stellung von einer Vermehrung und Verminderung der An­ziehungskraft den modernen mechanischen Begriffen. Nach diesen ist die Stärke der Anziehungskraft an einem Orte stets dieselbe

Goethe wendet mechanische Vorstellungen nur so weit an, als es ihm durch die Beobachtung geboten erscheint.

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GOETHE UND HEGEL

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GOETHE UND HEGEL

Goethes Weltbetrachtung geht nur bis zu einer gewissen Grenze. Er beobachtet die Licht- und Farbenerscheinungen und dringt bis zum Urphänomen vor; er sucht sich innerhalb der Mannigfaltigkeit des Pflanzenwesens zurechtzufin­den und gelangt zu seiner sinnlich-übersinnlichen Urpflan­ze. Von dem Urphänomen oder der Urpflanze steigt er nicht zu höheren Erklärungsprinzipien auf. Das überläßt er den Philosophen. Er ist befriedigt, wenn «er sich auf der empi­rischen Höhe befindet, wo er rückwärts die Erfahrung in allen ihren Stufen überschauen, und vorwärts in das Reich der Theorie, wo nicht eintreten, doch einblicken kann». Goethe geht in der Betrachtung des Wirklichen so weit, bis ihm die Ideen entgegenblicken. In welchem Zusammenhange die Ideen untereinander stehen; wie innerhalb des Ideellen das eine aus dem andern hervorgeht; das sind Auf­gaben, die auf der empirischen Höhe erst beginnen, auf der Goethe stehen bleibt. «Die Idee ist ewig und einzig», meint er, « daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgetan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden kön­nen, sind nur Manifestationen der Idee.» Da aber doch in der Erscheinung die Idee als eine Vielheit von Einzelideen auftritt, z. B. Idee der Pflanze, Idee des Tieres, so müssen diese sich auf eine Grundform zurückführen lassen, wie die Pflanze sich auf das Blatt zurückführen läßt. Auch die ein­zelnen Ideen sind nur in ihrer Erscheinung verschieden; in ihrem wahren Wesen sind sie identisch. Es ist also ebenso im Sinne der Goetheschen Weltanschauung, von einer Meta­morphose der Ideen wie von einer Metamorphose der Pflan­zen zu reden. Der Philosoph, der diese Metamorphose der

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Ideen darzustellen versucht hat, ist Hegel. Er ist dadurch der Philosoph der Goetheschen Weltanschauung. Von der einfachsten Idee, dem reinen «Sein» geht er aus. In diesem verbirgt sich die wahrhafte Gestalt der Welterscheinungen vollständig. Deren reicher Inhalt wird zum blutarmen Ab­straktum. Man hat Hegel vorgeworfen, daß er aus dem reinen «Sein» die ganze inhaltvolle Welt der Ideen ableitet. Aber das reine Sein enthält «der Idee nach» die ganze Ideenwelt, wie das Blatt der Idee nach die ganze Pflanze enthält. Hegel verfolgt die Metamorphosen der Idee von dem reinen ab­strakten Sein bis zu der Stufe, in der die Idee unmittelbar wirkliche Erscheinung wird. Er betrachtet als diese höchste Stufe die Erscheinung der Philosophie selbst. Denn in der Philosophie werden die in der Welt wirksamen Ideen in ih­rer ureigenen Gestalt angeschaut. In Goethes Weise gespro­chen könnte man etwa sagen: die Philosophie ist die Idee in ihrer größten Ausbreitung; das reine Sein ist die Idee in ih­rer äußersten Zusammenziehung. Daß Hegel in der Philo­sophie die vollkommenste Metamorphose der Idee sieht, beweist, daß ihm die wahre Selbstbeachtung ebenso ferne liegt wie Goethe. Ein Ding hat seine höchste Metamorphose erreicht, wenn es in der Wahrnehmung, im unmittelbaren Leben seinen vollen Inhalt herausarbeitet. Die Philosophie aber enthält den Ideengehalt der Welt nicht in Form des Le­bens, sondern in Form von Gedanken. Die lebendige Idee, die Idee als Wahrnehmung, ist allein der menschlichen Selbstbeobachtung gegeben. Hegels Philosophie ist keine Weltanschauung der Freiheit, weil sie den Weltinhalt in sei­ner höchsten Form nicht auf dem Grunde der menschlichen Persönlichkeit sucht. Auf diesem Grunde wird aller Inhalt ganz individuell. Nicht dieses Individuelle sucht Hegel, son­dern

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das Allgemeine, die Gattung. Er verlegt den Ursprung des Sittlichen daher auch nicht in das menschliche Individu­um, sondern in die außer dem Menschen liegende Weltord­nung, welche die sittlichen Ideen enthalten soll. Der Mensch gibt sich nicht selbst sein sittliches Ziel, sondern er hat sich der sittlichen Weltordnung einzugliedern. Das Einzelne, In­dividuelle gilt Hegel geradezu als das Schlechte, wenn es in seiner Einzelheit verharrt. Erst innerhalb des Ganzen erhält es seinen Wert. Dies ist die Gesinnung der Bourgeoisie, meint Max Stirner «und ihr Dichter Goethe, wie ihr Philo­soph Hegel haben die Abhängigkeit des Subjekts vom Ob­jekte, den Gehorsam gegen die objektive Welt usw. zu ver­herrlichen gewußt». Damit ist wieder eine andere einseitige Vorstellungsart hingestellt. Hegel wie Goethe fehlt die An­schauung der Freiheit, weil beiden die Anschauung des in­nersten Wesens der Gedankenwelt abgeht. Hegel fühlt sich durchaus als Philosoph der Goetheschen Weltanschauung. Er schreibt am 20. Februar 1821 an Goethe: «Das Einfache und Abstrakte, was Sie sehr treffend das Urphänomen nen­nen, stellen Sie an die Spitze, zeigen dann die konkreteren Erscheinungen auf als entstehend durch das Hinzukommen weiterer Einwirkungsweisen und Umstände und regieren den ganzen Verlauf so, daß die Reihenfolge von den einfa­chen Bedingungen zu den zusammengesetztem fortschrei­tet und so rangiert, das Verwickelte nun durch diese De­komposition in seiner Klarheit erscheint. Das Urphänomen auszuspüren, es von den andern, ihm selbst zufälligen Um­gebungen zu befreien, - es abstrakt, wie wir dies heißen, aufzufassen, dies halte ich für eine Sache des großen geisti­gen Natursinns, sowie jenen Gang überhaupt für das wahr­haft Wissenschaftliche der Erkenntnis in diesem Felde.»

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«Darf ich Ew. usw. aber nun auch noch von dem besondern Interesse sprechen, welches ein so herausgehobenes Urphä­nomen für uns Philosophen hat, daß wir nämlich ein solches Präparat geradezu in den philosophischen Nutzen verwen­den können! - Haben wir nämlich endlich unser zunächst austernhaftes, graues oder ganz schwarzes ... Absolutes doch gegen Luft und Licht hingearbeitet, daß es desselben be­gehrlich geworden, so brauchen wir Fensterstellen, um es vollends an das Licht des Tages herauszuführen; unsere Schemen würden zu Dunst verschweben, wenn wir sie so geradezu in die bunte verworrene Gesellschaft der wider­hältigen Welt versetzen wollten. Hier kommen uns nun Ew. usw. Urphänomene vortrefflich zustatten; in diesem Zwie­lichte, geistig und begreiflich durch seine Einfachheit, sicht­lich oder greiflich durch seine Sinnlichkeit - begrüßen sich die beiden Welten, unser Abstruses und das erscheinende Dasein, einander.»

Wenn auch Goethes Weltanschauung und Hegels Philo­sophie einander vollkommen entsprechen, so würde man sich doch sehr irren, wenn man den Gedanken-Leistungen Goethes und denen Hegels den gleichen Wert zuerkennen wollte. In beiden lebt dieselbe Vorstellungsweise. Beide wollen die Selbstwahrnehmung vermeiden. Doch hat Goe­the seine Reflexionen auf Gebieten angestellt, in denen der Mangel der Wahrnehmung nicht schädlich wirkt. Hat er auch nie die Ideenwelt als Wahrnehmung gesehen; er hat doch in der Ideenwelt gelebt und seine Beobachtungen von ihr durchdringen lassen. Hegel hat die Ideenwelt ebenso­wenig wie Goethe als Wahrnehmung, als individuelles Geist-Dasein geschaut. Er hat aber gerade über die Ideen­welt seine Reflexionen angestellt. Diese sind daher nach vielen­

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Richtungen hin schief und unwahr. Hätte Hegel Beob­achtungen über die Natur angestellt, so wären sie wohl ebenso wertvoll geworden wie diejenigen Goethes; hätte Goethe ein philosophisches Gedankengebäude aufstellen wollen, so hätte ihn wohl die sichere Anschauung der wah­ren Wirklichkeit verlassen, die ihn bei seinen Naturbetrach­tungen geleitet hat.

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NACHWORT ZUR NEUAUFLAGE 1918

Von Beurteilern dieser Schrift wurde gleich nach ihrem Erscheinen gesagt, daß sie nicht ein Bild von Goethes «Weltanschauung», sondern nur von seiner «Naturanschauung» gebe. Ich bin nicht der Ansicht, daß dieses Urteil von einem berechtigten Gesichtspunkte aus gefällt ist, wenn auch, äu­ßerlich betrachtet, in dem Buche fast ausschließlich von Goethes Naturideen die Rede ist. Denn ich glaube im Ver­laufe meiner Ausführungen gezeigt zu haben, daß diese Na­turideen auf einer ganz bestimmten Art, die Welterschei­nungen anzusehen, beruhen. Und ich meine, durch die Schrift selbst, angedeutet zu haben, daß das Einnehmen ei­nes Gesichtspunktes gegenüber den Naturerscheinungen, wie ihn Goethe gehabt hat, zu bestimmten Ansichten, über psychologische, historische und weitergehende Weltener­scheinungen führen kann. Was sich in Goethes Naturan­schauung auf einem bestimmten Gebiete aus spricht, ist eben eine Weltanschauung, nicht eine bloße Naturanschauung, die auch eine Persönlichkeit haben könnte, deren Gedanken für ein weiteres Weltbild keine Bedeutung haben. Andrer­seits aber glaubte ich in diesem Buche nichts anderes dar­stellen zu sollen, als was sich in unmittelbarem Anschlusse an das Gebiet sagen läßt, das Goethe selbst aus dem Gesamtumfange seiner Weltanschauung herausgearbeitet hat. Das Weltbild zu zeichnen, das sich in Goethes Dichtungen, in seinen kunstgeschichtlichen Ideen usw. offenbart, ist selbstverständlich durchaus möglich und zweifellos von dem al­lerhöchsten Interesse. Wer die Haltung der vorliegenden Schrift ins Auge faßt, wird in derselben ein solches Weltbild aber nicht suchen. Ein solcher wird erkennen, daß ich mir

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zur Aufgabe gemacht habe, denjenigen Teil des Goethe­schen Weltbildes nachzuzeichnen, für den in seinen eigenen Schriften Ausführungen vorhanden sind, deren eine aus der anderen lückenlos hervorgeht. Ich habe ja auch an den ver­schiedensten Stellen angedeutet, wo die Punkte liegen, an denen Goethe steckengeblieben ist in dieser lückenlosen Herausarbeitung seines Weltbildes, die ihm für gewisse Na­turgebiete gelungen ist. Goethes Ansichten über die Welt und das Leben offenbaren sich in weitestem Umfange. Das Hervorgehen dieser Ansichten aus seiner ihm ureigenen Weltanschauung ist aber aus seinen Werken über das Ge­biet der Naturerscheinungen hinaus nicht in der gleichen Art anschaulich wie auf diesem Gebiete. Auf anderen Ge­bieten wird anschaulich, was Goethes Seele der Welt zu offenbaren hatte; auf dem Gebiete seiner Naturideen wird ersichtlich, wie der Grundzug seines Geistes eine Weltan­schauung bis zu einer gewissen Grenze Schritt für Schritt sich erobert. Gerade dadurch, daß man in der Zeichnung von Goethes Gedankenarbeit einmal nicht weiter geht als in der Ausführung desjenigen liegt, was sich in ihm selbst zu einem gedanklich geschlossenen Stück Weltanschauung herausgebildet hat, wird man ein Licht gewinnen für die be­sondere Färbung dessen, was sich sonst in seinem Lebenswerk offenbart. Deshalb wollte ich nicht das Weltbild ma­len, das aus Goethes Lebenswerk im Ganzen spricht, son­dern denjenigen Teil, der bei ihm selbst in der Form zu Tage tritt, in der man eine Weltanschauung gedanklich zum Aus­drucke bringt. Aus einer noch so großen Persönlichkeit hervorquellende Anschauungen sind noch nicht Teile eines in sich geschlossenen und von der Persönlichkeit selbst zu­sammenhängend gedachten Weltanschauungsbildes. Aber

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Goethes Naturideen sind ein solches in sich geschlossenes Stück eines Weltanschauungsbildes. Und sie sind als Be­leuchtung von Naturerscheinungen nicht eine bloße Naturansicht, sondern das Glied einer Weltanschauung.

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Daß man mir auch angesichts dieses Buches vorgeworfen hat, meine Anschauungen haben sich seit dem Erscheinen desselben geändert, wundert mich nicht, da ich nicht unbe­kannt bin mit den Voraussetzungen, von denen man sich bei solchen Urteilen leiten läßt. Ich habe mich in der Vor­rede zum ersten Bande meiner «Rätsel der Philosophie» und in einem Aufsatze in der Zeitschrift «Das Reich»(«Die Geisteswissenschaft als Anthroposophie und die zeitgenös­sische Erkenntnistheorie», 2. Jahrgang, 2. Buch des «Rei­ches») über dieses Suchen nach Widersprüchen in meinen Schriften ausgesprochen. Ein solches Suchen ist nur bei Be­urteilern möglich, die völlig verkennen, wie gerade meine Weltanschauung sich verhalten muß, wenn sie verschiedene Gebiete des Lebens ins Auge fassen will. Ich will hier nicht im allgemeinen auf diese Frage noch einmal eingehen, son­dern nur kurz einiges mit Bezug auf dieses Goethebuch be­merken. Ich selber sehe in der anthroposophisch orientier­ten Geisteswissenschaft, die ich in meinen Schriften seit 16 Jahren zur Darstellung bringe, diejenige Erkenntnisart für den dem Menschen zugänglichen geistigen Weltgehalt, zu welcher derjenige kommen muß, der die Goetheschen Natur­ideen als etwas ihm Gemäßes in seiner Seele belebt hat und von da ausgehend zu Erkennmiserlebnissen über das Geistgebiet der Welt strebt. Ich bin der Ansicht, daß diese Geisteswissenschaft eine Naturwissenschaft voraussetzt, die der

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Goetheschen entspricht. Nicht so nur meine ich das, daß die von mir zur Darstellung gebrachte Geisteswissenschaft die­ser Naturwissenschaft nicht widerspricht. Denn ich weiß, daß es wenig besagen will, wenn zwischen verschiedenen Behauptungen nur kein logischer Widerspruch ist. Sie könn­ten deshalb doch in der Wirklichkeit durchaus unverträglich sein. Sondern ich glaube einzusehen, daß Goethes Ideen über das Naturgebiet, wirklich erlebt, zu den von mir darge­legten anthroposophischen Erkenntnissen notwendig füh­ren müssen, wenn man, was Goethe noch nicht getan hat, die Erlebnisse im Naturgebiet überleitet zu Erlebnissen im Geistgebiet. Wie diese letzteren Erlebnisse geartet sind, das findet man in meinen geisteswissenschaftlichen Werken be­schrieben. Aus diesem Grunde findet man den wesentlichen Inhalt des vorliegenden Buches, das ich 1897 zum ersten Male veröffentlicht habe, als meine Wiedergabe der Goethe­schen Weltanschauung auch jetzt, nach der Veröffentli­chung meiner geisteswissenschaftlichen Schriften, wieder abgedruckt. Alle darin dargestellten Gedanken gelten mir unverändert auch heute. Ich habe nur an einzelnen Stellen Änderungen angebracht, die sich nicht auf die Haltung der Gedanken, sondern nur auf Stilisierung einzelner Ausfüh­rungen erstrecken. Und daß man, nach zwanzig Jahren, bei einem Buche da oder dort einiges anders zu stilisieren wünscht, kann am Ende begreiflich erscheinen. Was sonst in der Neuauflage anders ist als in der vorigen sind einige Erweiterungen, nicht Änderungen des Inhalts. Ich bin der Meinung, daß wer einen naturwissenschaftlichen Unterbau für die Geisteswissenschaft sucht, ihn durch Goethes Welt­anschauung finden kann. Deshalb scheint mir, daß eine Schrift über Goethes Weltanschauung auch dem von Bedeutung­

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sein kann, der sich mit der anthroposophisch orien­tierten Geisteswissenschaft beschäftigen will. Meine Schrift ist aber so gehalten, daß sie Goethes Weltanschauung ganz für sich, ohne Bezug zur eigentlichen Geisteswissenschaft, betrach­ten will. (Einiges von dem, was von besonderem geisteswis­senschaftlichen Gesichtspunkte über Goethe zu sagen ist, wird man in meiner Schrift über «Goethes Faust und das Märchen von der grünen Schlange» finden.)

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Nachträgliche Anmerkung: Ein Kritiker dieses meines Goe­thebuches (in den Kantstudien III, 1898) hat geglaubt, einen besonderen Fund in bezug auf meine «Widersprüche» zu machen, indem er, was ich in diesem Buche über den Plato­nismus sage (in der ersten Auflage 1897) zusammenstellt mit einem Ausspruche, dem ich fast ganz zur selben Zeit in meiner Einleitung zum 4. Band von Goethes naturwissen­schaftlichen Schriften (Kürschnersche Ausgabe) getan ha­be: «Die Philosophie Platos ist eines der erhabensten Ge­dankengebäude, die je aus dem Geiste der Menschheit ent­sprungen sind. Es gehört zu den traurigsten Zeichen unse­rer Zeit, daß platonische Anschauungsweise in der Philoso­phie geradezu für das Gegenteil von gesunder Vernunft gilt.» Es wird gewissen Geistern eben schwer begreiflich, daß ein jeglich Ding von verschiedenen Seiten betrachtet, verschieden sich darstellt. Daß meine verschiedenen Aus­sprüche über den Platonismus keinen wirklichen Wider­spruch darstellen, wird derjenige leicht einsehen, der nicht an die bloßen Wortklänge sich hält, sondern auf die ver­schiedenen Beziehungen eingeht, in die ich das eine und das andere Mal den Platonismus, durch seine eigene Wesenheit,

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bringen mußte. Es ist einerseits ein trauriges Zeichen, wenn man den Platonismus als der gesunden Vernunft widerstre­bend ansieht, weil man dieser nur gemäß findet das Stehen­bleiben bei der bloßen Sinnesanschauung als der einzigen Wirklichkeit. Und es ist auch einer gesunden Anschauung von Idee und Sinneswelt widerstrebend, wenn man den Pla­tonismus so wendet, daß durch ihn eine ungesunde Tren­nung von Idee und Sinnesanschauung bewirkt wird. Wer auf eine solche Art gedanklicher Durchdringung der Er­scheinungen des Lebens nicht eingehen kann, der bleibt, mit dem, was er begreift, immer außerhalb der Wirklichkeit stehen. Wer - um mit Goethe zu reden - einen Begriff hin­pfahlt, um einen reichen Lebensinhalt zu begrenzen, der hat keinen Sinn dafür, daß sich das Leben in Beziehungen aus­gestaltet, die nach den verschiedenen Richtungen hin ver­schieden wirken. Es ist allerdings bequemer, an die Stelle einer Ansicht des vollen Lebens einen schematischen Begriff zu setzen; man kann mit solchen Begriffen eben leicht sche­matisch urteilen. Man lebt aber durch einen solchen Vor­gang in wesenlosen Abstraktionen. Die menschlichen Be­griffe werden gerade dadurch zu solchen Abstraktionen, daß man meint, man könne sie im Verstande so behandeln, wie die Dinge einander behandeln. Aber diese Begriffe gleichen vielmehr Bildern, die man von verschiedenen Seiten her von einem Dinge aufnimmt. Das Ding ist eines; der Bilder sind viele. Und nicht die Einstellung auf ein Bild, sondern das Zusammenschauen mehrerer Bilder führt zu einer An­schauung des Dinges. Da ich nun leider sehen mußte, wie viel Neigung bei manchen Beurteilern vorhanden ist, aus einer solchen, nach Durchdringung mit der Wirklichkeit strebenden Betrachten einer Erscheinung unter verschiedenen­

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Gesichtspunkten «Widersprüche» zu konstruieren, so fühlte ich mich veranlaßt, in dieser Neuauflage bei den Aus­führungen über den Platonismus erstens durch eine etwas veränderte Stilisierung der in der ersten Auflage gegebenen Darstellung dasjenige noch besonders deutlich zu machen, was mir vor zwanzig Jahren wahrlich klar genug aus dem Zusammenhange, in dem er steht, zu sein schien; zweitens durch unmittelbares Setzen des Ausspruches aus meiner an­dern Schrift neben das, was in diesem Buche gesagt ist, zu zeigen, wie die beiden Aussprüche in vollem Einklang mit­einander stehen. Wer nun aber doch den Geschmack hat, in solchen Dingen Widersprüche zu finden, dem habe ich dadurch die Mühe erspart, sie erst aus zwei Büchern zusam­mensuchen zu müssen.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Originalausgaben