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== ES DARF NICHT NEUER CZERNINISMUS DEN ALTEN ABLÖSEN ==
== ES DARF NICHT NEUER CZERNINISMUS DEN ALTEN ABLÖSEN ==
<nowiki>#</nowiki>G024-1961-SE137 Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus
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ES DARF NICHT NEUER CZERNINISMUS DEN ALTEN ABLÖSEN
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Die Weltkatastrophe hat bewirkt, daß heute gewisse Per­sönlichkeiten sich öffentlich in einer Richtung aussprechen, in der sie noch vor kurzem das Verschweigen ihrer Mei­nungen für ein Gebot der Klugheit gehalten hätten Aus den Veröffentlichungen der Männer, die vor und während
Die Weltkatastrophe hat bewirkt, daß heute gewisse Per­sönlichkeiten sich öffentlich in einer Richtung aussprechen, in der sie noch vor kurzem das Verschweigen ihrer Mei­nungen für ein Gebot der Klugheit gehalten hätten Aus den Veröffentlichungen der Männer, die vor und während


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der Unheilszeit in führenden Stellungen waren, kann die Welt erfahren, aus welchen Willensantrieben heraus «Ge­schichte gemacht» worden ist. Was da erfahren werden kann, scheint nun wahrhaft geeignet, Menschen zur Besin­nung zu bringen, die bisher dazu neigten, sich über diese Willensantriebe in Illusionen zu wiegen. In dem Buche «Im Weltkriege» von Ottokar Czernin kann man lesen: «Es ist bekannt, daß der rote Faden, welcher sich durch den Cha­rakter und den ganzen Gedankengang Wilhelms II. zog, seine feste Überzeugung von seinem und von den war. Auch Bismarck glaubte an das dynastische Gefühl der Deutschen. Mir scheint, daß es eben­sowenig ein allgemein dynastisches als ein allgemein repu­blikanisches Gefühl der Völker gibt, bei den Deutschen ebensowenig wie irgendwo anders, sondern nur ein Gefühl der Zufriedenheit oder Unzufriedenheit, welche sich je nach­dem für oder gegen die Dynastie und die Staatsform äußert . . . Die Monarchisten, die sich aus ihrer angestamm­ten Treue für das Herrscherhaus ein Verdienst vindizieren, täuschen sich selbst über ihre Gefühle; sie sind Monarchisten, weil sie diese Staatsform für die befriedigendste halten. Und die Republikaner, welche angeblich die verherrlichen, meinen de facto sich selbst dabei. Ein Volk aber wird sich auf die Dauer immer zu jener Staats­form bekennen, welche ihm am ehesten Ordnung, Arbeit, Wohlstand und Zufriedenheit bringt. Bei neunundneunzig Prozent der Bevölkerung ist der Patriotismus und ihre Begeisterung für die eine oder andere Staatsform immer nur eine Magenfrage.»
der Unheilszeit in führenden Stellungen waren, kann die Welt erfahren, aus welchen Willensantrieben heraus «Ge­schichte gemacht» worden ist. Was da erfahren werden kann, scheint nun wahrhaft geeignet, Menschen zur Besin­nung zu bringen, die bisher dazu neigten, sich über diese Willensantriebe in Illusionen zu wiegen. In dem Buche «Im Weltkriege» von Ottokar Czernin kann man lesen: «Es ist bekannt, daß der rote Faden, welcher sich durch den Cha­rakter und den ganzen Gedankengang Wilhelms II. zog, seine feste Überzeugung von seinem und von den war. Auch Bismarck glaubte an das dynastische Gefühl der Deutschen. Mir scheint, daß es eben­sowenig ein allgemein dynastisches als ein allgemein repu­blikanisches Gefühl der Völker gibt, bei den Deutschen ebensowenig wie irgendwo anders, sondern nur ein Gefühl der Zufriedenheit oder Unzufriedenheit, welche sich je nach­dem für oder gegen die Dynastie und die Staatsform äußert . . . Die Monarchisten, die sich aus ihrer angestamm­ten Treue für das Herrscherhaus ein Verdienst vindizieren, täuschen sich selbst über ihre Gefühle; sie sind Monarchisten, weil sie diese Staatsform für die befriedigendste halten. Und die Republikaner, welche angeblich die verherrlichen, meinen de facto sich selbst dabei. Ein Volk aber wird sich auf die Dauer immer zu jener Staats­form bekennen, welche ihm am ehesten Ordnung, Arbeit, Wohlstand und Zufriedenheit bringt. Bei neunundneunzig Prozent der Bevölkerung ist der Patriotismus und ihre Begeisterung für die eine oder andere Staatsform immer nur eine Magenfrage.»
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Das ist die Gesinnung eines Mannes, von dem man vielleicht
Das ist die Gesinnung eines Mannes, von dem man vielleicht


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sogar sagen kann, daß er unter den in öffentlichen Angelegenheiten Führenden nicht zu denjenigen gehört, die am wenigsten Geist gezeigt haben. So spricht sich der Mann aus, der im Auftrage seines Monarchen die österreichische Außenpolitik in den entscheidenden Augenblicken der Welt­geschichte geleitet hat. Ein helles Licht fällt von solchen Äußerungen auf die Frage: Wie müssen die Wege beschaffen gewesen sein, durch die in der ablaufenden Gegenwart Per­sönlichkeiten von solcher Lebensauffassung in führende Stellungen gekommen sind? Ein Mann, der so spricht, hat keine Empfindung für die Antriebe, durch die Menschen in die Gemeinschaften gedrängt worden sind, aus denen die Zivilisation hervorgegangen ist. Ihm fehlt jedes Gefühl für die Mächte, die in der Geschichte gewaltet haben. Er ist das Ergebnis einer Zeitentwickelung, welche in führende Stel­lungen gerade diejenigen Persönlichkeiten gebracht hat, die allen Zusammenhang mit den Menschheitsidealen verloren haben.
sogar sagen kann, daß er unter den in öffentlichen Angelegenheiten Führenden nicht zu denjenigen gehört, die am wenigsten Geist gezeigt haben. So spricht sich der Mann aus, der im Auftrage seines Monarchen die österreichische Außenpolitik in den entscheidenden Augenblicken der Welt­geschichte geleitet hat. Ein helles Licht fällt von solchen Äußerungen auf die Frage: Wie müssen die Wege beschaffen gewesen sein, durch die in der ablaufenden Gegenwart Per­sönlichkeiten von solcher Lebensauffassung in führende Stellungen gekommen sind? Ein Mann, der so spricht, hat keine Empfindung für die Antriebe, durch die Menschen in die Gemeinschaften gedrängt worden sind, aus denen die Zivilisation hervorgegangen ist. Ihm fehlt jedes Gefühl für die Mächte, die in der Geschichte gewaltet haben. Er ist das Ergebnis einer Zeitentwickelung, welche in führende Stel­lungen gerade diejenigen Persönlichkeiten gebracht hat, die allen Zusammenhang mit den Menschheitsidealen verloren haben.
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Czernin sagt auch: «Der verlorene Krieg hat die Mon­archen hinweggefegt.» Nun, die Zeitereignisse müssen auch Menschen seiner Art aus der Führung der öffentlichen An­gelegenheiten hinwegfegen. - Es handelt sich aber darum, daß möglichst viele Menschen zur Besinnung über dasjenige kommen, was der Grund davon ist, daß Menschen dieser Art «Geschichte machen» konnten. Die Entwickelungs­strömung der Menschheit, die solche Persönlichkeiten auf die wichtigsten Posten des öffentlichen Lebens getragen hat, sie hatte einmal ihre weltgeschichtlichen Ideen. Sie hat aus diesen heraus das jetzt untergehende Europa gestaltet. Man kann diese Ideen verfolgen von den Zeiten an, in denen sich aus der untergehenden römischen Welt dieses Europa
Czernin sagt auch: «Der verlorene Krieg hat die Mon­archen hinweggefegt.» Nun, die Zeitereignisse müssen auch Menschen seiner Art aus der Führung der öffentlichen An­gelegenheiten hinwegfegen. - Es handelt sich aber darum, daß möglichst viele Menschen zur Besinnung über dasjenige kommen, was der Grund davon ist, daß Menschen dieser Art «Geschichte machen» konnten. Die Entwickelungs­strömung der Menschheit, die solche Persönlichkeiten auf die wichtigsten Posten des öffentlichen Lebens getragen hat, sie hatte einmal ihre weltgeschichtlichen Ideen. Sie hat aus diesen heraus das jetzt untergehende Europa gestaltet. Man kann diese Ideen verfolgen von den Zeiten an, in denen sich aus der untergehenden römischen Welt dieses Europa


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gebildet hat. Es waren da geschichtliche Antriebe tätig, die sich wahrlich nicht als «Magenfragen» ergeben. Aber diese Antriebe haben in der neueren Zeit ihre Berechtigung ver­loren. Sie sind in der Wirklichkeit als geistige Antriebe seit langem nicht vorhanden. Aber die Institutionen, die aus ihnen entstanden sind, haben sich nach einem gewissen Trägheitsgesetze der Weltgeschichte erhalten. Man lebte in diesen Institutionen, nachdem sie eine leere Hülle geworden sind, in der einstmals Geist gewaltet hat. Und diese leeren Hüllen forderten für ihre Verwaltung Männer, die erfüllt waren von einer Lebensanschauung ohne Inhalt, ohne Ideen, ohne Glauben; Männer, die in Patriotismus machten mit der Überzeugung, daß er bei neunundneunzig Prozent der Bevölkerung eine «Magenfrage» sei. Die Wahrheit ist, daß aus geistigen Antrieben diejenigen Institutionen hervor­gegangen sind, die jetzt ihrer Auflösung entgegengehen, weil sie ihren alten Geist verloren haben, weil diejenigen, denen zuletzt die Wege zur Führerschaft offenstanden, bei dem völligen Bankerott einer Lebensanschauung angekom­men waren.
gebildet hat. Es waren da geschichtliche Antriebe tätig, die sich wahrlich nicht als «Magenfragen» ergeben. Aber diese Antriebe haben in der neueren Zeit ihre Berechtigung ver­loren. Sie sind in der Wirklichkeit als geistige Antriebe seit langem nicht vorhanden. Aber die Institutionen, die aus ihnen entstanden sind, haben sich nach einem gewissen Trägheitsgesetze der Weltgeschichte erhalten. Man lebte in diesen Institutionen, nachdem sie eine leere Hülle geworden sind, in der einstmals Geist gewaltet hat. Und diese leeren Hüllen forderten für ihre Verwaltung Männer, die erfüllt waren von einer Lebensanschauung ohne Inhalt, ohne Ideen, ohne Glauben; Männer, die in Patriotismus machten mit der Überzeugung, daß er bei neunundneunzig Prozent der Bevölkerung eine «Magenfrage» sei. Die Wahrheit ist, daß aus geistigen Antrieben diejenigen Institutionen hervor­gegangen sind, die jetzt ihrer Auflösung entgegengehen, weil sie ihren alten Geist verloren haben, weil diejenigen, denen zuletzt die Wege zur Führerschaft offenstanden, bei dem völligen Bankerott einer Lebensanschauung angekom­men waren.
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Morsch gewordene Teile werden die Gebilde sein, in
Morsch gewordene Teile werden die Gebilde sein, in


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denen nach einem beliebten Schlagworte auch die kleinsten Völker zu ihrem Selbstbestimmungsrecht kommen sollen. Denn morsch müssen sie sein, weil die geistigen Antriebe, die einstmals die Lebensstoßkraft in sie ergossen haben, aus ihnen gewichen sind. Man gründe noch so viele «Staaten» und verbinde sie durch einen abstrakt gedachten Völker­bund: man wird nur morsch gewordene Teile eines ehemals berechtigten Ganzen zusammenfügen, das einst von einem Geiste getragen war, der nicht mehr tragfähig ist.
denen nach einem beliebten Schlagworte auch die kleinsten Völker zu ihrem Selbstbestimmungsrecht kommen sollen. Denn morsch müssen sie sein, weil die geistigen Antriebe, die einstmals die Lebensstoßkraft in sie ergossen haben, aus ihnen gewichen sind. Man gründe noch so viele «Staaten» und verbinde sie durch einen abstrakt gedachten Völker­bund: man wird nur morsch gewordene Teile eines ehemals berechtigten Ganzen zusammenfügen, das einst von einem Geiste getragen war, der nicht mehr tragfähig ist.
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Die Czernine sind die Nachfolger derjenigen, die einst aus Ideen heraus Europa sein Gepräge gegeben haben. Aber die Czernine haben die alten Ideen aus ihren Überzeu­gungen, aus ihrem Glauben verloren und keine neuen sich erobert. Es fruchtet nicht, wenn die alten Czernine mit den alten Institutionen hinweggefegt werden, ohne daß an ihre Stelle Menschen treten, die einen Zusammenhang haben mit den geistigen Triebkräften der Weltgeschichte. In meinen «Kernpunkten der sozialen Frage» und wiederholt in dieser
Die Czernine sind die Nachfolger derjenigen, die einst aus Ideen heraus Europa sein Gepräge gegeben haben. Aber die Czernine haben die alten Ideen aus ihren Überzeu­gungen, aus ihrem Glauben verloren und keine neuen sich erobert. Es fruchtet nicht, wenn die alten Czernine mit den alten Institutionen hinweggefegt werden, ohne daß an ihre Stelle Menschen treten, die einen Zusammenhang haben mit den geistigen Triebkräften der Weltgeschichte. In meinen «Kernpunkten der sozialen Frage» und wiederholt in dieser


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Wochenschrift habe ich versucht, zu zeigen, wie mit Um­stellung der politischen und sozialen Denkrichtung die neuen Czernine als die getreuen Schüler der alten sich offen­baren. Es fruchtet nicht, wenn an die Stelle der alten Czer­nine neue demokratisch und sozialistisch drapierte treten, die im Grunde aus den gleichen Seelenantrieben heraus eine neue Weit gestalten möchten, aus denen jener das morsch gewordene Österreich zusammenhalten wollte. Czernin wirkte in dem Österreich, von dem er jetzt (auf Seite 41 seines Buches) sagt: «Österreich-Ungarns Uhr war abge­laufen.» Er glaubt, «daß der Zerfall der Monarchie auch ohne diesen Krieg eingetreten wäre». So kann, nachdem er eine Wirksamkeit wie Czernin hinter sich hat, nur ein Mann sprechen, der ohne wahren inneren Anteil in dem Getriebe stand, in dem er eine hervorragende Rolle hatte. Solcher innerer Anteil hätte ihm nur aus einem Gefühl für die Trieb­kräfte der geschichtlichen Menschheitsentwickelung erstehen können. Aber er wirkte aus Institutionen heraus, die ihren Sinn, ihren Geist verloren hatten. Aber sie hatten ihn ein­mal. So muß ihn haben, was auf den Trümmern des alten Europa entstehen soll. Zu dieser Überzeugung muß sich eine genügend große Anzahl von Menschen aufraffen. Ohne diese Überzeugung können nur die Bestandstücke des Alten zu einem in sich unmöglichen europäischen Ganzen werden.
Wochenschrift habe ich versucht, zu zeigen, wie mit Um­stellung der politischen und sozialen Denkrichtung die neuen Czernine als die getreuen Schüler der alten sich offen­baren. Es fruchtet nicht, wenn an die Stelle der alten Czer­nine neue demokratisch und sozialistisch drapierte treten, die im Grunde aus den gleichen Seelenantrieben heraus eine neue Weit gestalten möchten, aus denen jener das morsch gewordene Österreich zusammenhalten wollte. Czernin wirkte in dem Österreich, von dem er jetzt (auf Seite 41 seines Buches) sagt: «Österreich-Ungarns Uhr war abge­laufen.» Er glaubt, «daß der Zerfall der Monarchie auch ohne diesen Krieg eingetreten wäre». So kann, nachdem er eine Wirksamkeit wie Czernin hinter sich hat, nur ein Mann sprechen, der ohne wahren inneren Anteil in dem Getriebe stand, in dem er eine hervorragende Rolle hatte. Solcher innerer Anteil hätte ihm nur aus einem Gefühl für die Trieb­kräfte der geschichtlichen Menschheitsentwickelung erstehen können. Aber er wirkte aus Institutionen heraus, die ihren Sinn, ihren Geist verloren hatten. Aber sie hatten ihn ein­mal. So muß ihn haben, was auf den Trümmern des alten Europa entstehen soll. Zu dieser Überzeugung muß sich eine genügend große Anzahl von Menschen aufraffen. Ohne diese Überzeugung können nur die Bestandstücke des Alten zu einem in sich unmöglichen europäischen Ganzen werden.
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Was die Alten jetzt sagen, zeigt doch deutlich, wie die Neuen nicht denken dürfen. Die Czernine sind die Leute, in denen Monarchismus, Republikanismus, Demokratie, Patriotismus zur «Ideologie» geworden sind. Sie waren amtlich dazu verhalten, ihre Taten im Dienste der Mon­archie zu tun und sie können jetzt schreiben (Seite 70 des Czerninschen Buches): «Allen Monarchen sollte gelehrt werden,
Was die Alten jetzt sagen, zeigt doch deutlich, wie die Neuen nicht denken dürfen. Die Czernine sind die Leute, in denen Monarchismus, Republikanismus, Demokratie, Patriotismus zur «Ideologie» geworden sind. Sie waren amtlich dazu verhalten, ihre Taten im Dienste der Mon­archie zu tun und sie können jetzt schreiben (Seite 70 des Czerninschen Buches): «Allen Monarchen sollte gelehrt werden,


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daß ihr Volk sie gar nicht liebt, daß sie ihln im besten Falle ganz gleichgültig sind, daß es ihnen nicht aus Liebe nachläuft und sie nicht aus Liebe anstarrt, sondern aus Neu­gierde, daß es ihnen nicht aus Begeisterung zujubelt, sondern aus Unterhaltung und aus und genau so gern pfeifen würde, wie es jubelt - daß nicht der geringste Verlaß auf die ist, daß sie auch gar nicht die Absicht haben, treu zu sein, sondern zufrieden sein wollen, daß sie die Monarchen dulden, solange sie entweder durch die eigene Zufriedenheit hierzu veranlaßt werden, oder, falls nicht, solange sie nicht die Kraft haben, sie davonzu­jagen. Das wäre die Wahrheit.» Aller Geist ist «Ideologie» geworden in einem Manne, der im Dienste eines Monarchen mit der Meinung handelt, dies ist die Wahrheit.
daß ihr Volk sie gar nicht liebt, daß sie ihln im besten Falle ganz gleichgültig sind, daß es ihnen nicht aus Liebe nachläuft und sie nicht aus Liebe anstarrt, sondern aus Neu­gierde, daß es ihnen nicht aus Begeisterung zujubelt, sondern aus Unterhaltung und aus und genau so gern pfeifen würde, wie es jubelt - daß nicht der geringste Verlaß auf die ist, daß sie auch gar nicht die Absicht haben, treu zu sein, sondern zufrieden sein wollen, daß sie die Monarchen dulden, solange sie entweder durch die eigene Zufriedenheit hierzu veranlaßt werden, oder, falls nicht, solange sie nicht die Kraft haben, sie davonzu­jagen. Das wäre die Wahrheit.» Aller Geist ist «Ideologie» geworden in einem Manne, der im Dienste eines Monarchen mit der Meinung handelt, dies ist die Wahrheit.

Version vom 25. August 2023, 14:54 Uhr

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RUDOLF STEINER

SCHRIFTEN

GESAMMELTE AUFSÄTZE


AUFSÄTZE ÜBER DIE
DREIGLIEDERUNG
DES SOZIALEN ORGANISMUS
UND ZUR ZEITLAGE
1915-1921


GA 24

1982

Inhaltsverzeichnis


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IN AUSFÜHRUNG DER DREIGLIEDERUNG DES SOZIALEN ORGANISMUS

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VORBEMERKUNGEN

Anfang März 1919 ist mein «Aufruf an das deutsche Volk und an die Kulturwelt» erschienen. Er wollte in Kürze zum Ausdruck bringen, was nottut, um dem niedergehenden Leben, das in der Weltkatastrophe seine Krankheitserscheinungen enthüllt hatte, gesundende Kräfte zuzuführen. Zahlreiche Persönlichkeiten Deutschlands, Österreichs und eine Anzahl Schweizer haben unter diesen Aufruf ihre Unterschrift gesetzt und damit bezeugt, daß sie die in ihm ausgesprochenen Anregungen für etwas hielten, das auf die Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und der nächsten Zukunft hinweist. Eine weitere Ausführung habe ich dann diesen Anregungen in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft» gegeben. Um für sie in nachhaltiger Weise einzutreten und das Angeregte im praktischen Leben zur Durchführung zu bringen, ist dann in Stuttgart und auch in der Schweiz der «Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus» begründet worden. Unter den mancherlei Maßnahmen, die getroffen worden sind, um diese praktische Durchführung zu bewirken, ist auch die Begründung der in Stuttgart erscheinenden Wochenschrift «Dreigliederung des sozialen Organismus». Die folgenden Aufsätze bildeten die Leitartikel, die ich im Sommer 1919 und im Winter 1919-1920 für diese Wochenschrift geschrieben habe. Sie können als ergänzende Ausführungen dessen gelten, was ich in den «Kernpunkten» begründet habe. Man kann sie ebensogut als eine Vorbereitung zum Lesen dieses Buches ansehen. Alles, was ich sowohl in den «Kernpunkten» wie in die-

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sen Aufsätzen veröffentlichte, ist nicht aus theoretischer Gedankenarbeit erwachsen. Im Laufe von mehr als drei Jahrzehnten habe ich das geistige, politische und wirtschaftliche Leben Europas in seinen verschiedensten Verzweigungen verfolgt. Dabei ergab sich mir, wie ich glaube, die Einsicht in die Tendenzen, nach denen dieses Leben als zu seiner Gesundung hindrängt. Ich meine, daß die Gedanken, die ich ausspreche, nicht die eines einzelnen Menschen sind, sondern daß sie das unbewußte Wollen der europäischen Menschheit ausdrücken. Die besonderen Verhältnisse des Gegenwartslebens, auf die ich in den «Kernpunkten» und in diesen Aufsätzen wiederholt zu sprechen komme, haben es nicht dazu kommen lassen, daß dieses Wollen in klaren Umrissen und verbunden mit dem Streben nach praktischer Durchführung im vollen Bewußtsein einer genügend großen Anzahl von Menschen zutage getreten ist. Man möchte es die Tragik der Gegenwart nennen, daß zahllose Menschen sich durch Illusionen über das Erstrebenswerte die Einsicht in das wirklich Notwendige verbauen. Völlig veraltete Parteianschauungen verbreiten einen dichten Gedankennebel über dieses Notwendige. Sie ergehen sich in unpraktischen, undurchführbaren Tendenzen; das Wirkliche, das sie unternehmen, wird zur unfruchtbaren Utopie, und die Vorschläge, die aus wahrhaftiger Lebenspraxis heraus gemacht sind, werden von ihnen als Utopie angesehen. Mit dieser Tatsache hat das in den folgenden Aufsätzen Ausgesprochene zu kämpfen; zu ihr will es vollbewußt Stellung nehmen.

Aus dieser Tatsache heraus wird gegenwärtig in unserer Welt der Zivilisation noch immer Weltpolitik getrieben. Versailles und Spa sind die Etappen dieser Politik. Die Anzahl der Persönlichkeiten, die durchschauen, wie diese Etap-

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pen zum weiteren Niedergange der Zivilisation führen, die in der Weltkatastrophe die Unmöglichkeit ihres Fortschreitens erwiesen hat, ist noch eine geringe. Solche Persönlichkeiten sind heute zwar in den Ländern der Sieger und der Besiegten vorhanden. Aber sie sind erstens nicht zahlreich genug, zweitens sehen wohl auch die meisten von diesen dasjenige, was wirklich nottut, als utopistisch an.

Wenn der «Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus» von vielen als eine Gemeinschaft unpraktischer Leute genommen wird, so ist dies, meiner Meinung nach, deshalb, weil diese Vielen gerade von aller wahren Lebenspraxis abgekommen sind, und ihre Parteiillusionen und Lebensroutinen für Praxis halten. Man wird aber zu keiner Gesundung der Zivilisation gelangen, wenn man nicht das Wollen der Zeit, das so dicht in dem Gestrüppe der unpraktischen, illusionären Parteischablonen verborgen ist, zum vollen Bewußtsein bringt.

Für jemand, der nur zu gut weiß, daß er nicht an albernen Einbildungen leidet, ist es schwer, das hinzuschreiben, was ihm bei vielen heute den Ruf einträgt: «Der glaubt gescheiter zu sein als alle, die in praktischer Lebensbetätigung sich das Redit erworben haben, in den Angelegenheiten, um die es sich handelt, mitzureden.» Der Verfasser dieser Aufsätze glaubt aber, daß der falsche Vorwurf, der in solchen Worten liegt, nicht abhalten darf, auszusprechen, was man für das Notwendige hält, wenn man der Meinung ist, daß ein besonderes Verhältnis der eigenen Lebenslage zu dem Leben der Gegenwart durch mehr als drei Jahrzehnte das geistige Auge auf dieses Notwendige hingelenkt hat.

Es ist nun einmal meine in Lebensbeobachtung, die glaubt,

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alles Theoretische zu meiden und nur das Praktische ins Auge zu fassen, erworbene Überzeugung, daß das Wollen der Zeit nach «Dreigliederung des sozialen Organismus» drängt, und daß alles, was an Niedergangserscheinungen erlebt wird, seinen Ursprung darin hat, daß das öffentliche Bewußtsein der europäischen Zivilisation, statt diesem Drängen sich zuzuwenden, in den alten unmöglich gewordenen Bahnen fortschreiten möchte.

Die eine Gruppe von Menschen, aus der die führenden Persönlichkeiten vor dem Kriege hervorgegangen sind und aus der viele auch heute noch hervorgehen, lebt fort in den Anschauungen, die zum Niedergang geführt haben, und will den Zusammenhang zwischen diesen Anschauungen und dem Niedergang nicht sehen. Sie möchte aus den Kräften, die ihren Weg zum Tode gewiesen haben, ein neues Leben zimmern.

Die andere Gruppe setzt die Denkungsart fort, die aus der negativ wirkenden Kritik geboren ist; sie will nicht einsehen, daß in dieser Denkungsart zwar die Möglichkeit gegeben ist, Scheingebilde gesellschaftlicher Organisation mit den Trümmern des Alten zu einem vergänglichen, allerdings selbst in dieser Vergänglichkeit verheerenden Dasein zu bringen. Sie setzt auf umgekehrte Art das Alte fort, aber sie ist ohne Keime eines Neuen.

Zwischen diesen beiden Gruppen steuern die Kräfte, die die Bestrebungen für «Dreigliederung des sozialen Organismus» aus dem wirklich vorhandenen, aber vom Schutte des Alten bedeckten Wollen der Zeit entbinden möchten. Ihre Träger sind der Meinung, daß sie dasjenige enthalten, was heute nottut.

Mitte Juli 1920.

Rudolf Steiner

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DIE DREIGLIEDERUNG DES SOZIALEN ORGANISMUS, EINE NOTWENDIGKEIT DER ZEIT

Es ist an der Zeit, zu erkennen, daß die Parteiprogramme, die sich aus älterer oder jüngerer Vergangenheit in die Gegenwart herein erhalten haben, den Tatsachen gegenüber versagen müssen, welche aus der Weltkriegskatastrophe heraus entstanden sind. Diejenigen dieser Programme, deren Träger mitarbeiten durften an der Ordnung der gesellschaftlichen Zustände, sollte man durch diese Katastrophe für widerlegt halten. Diese Träger sollten sich klar darüber sein, daß ihre Gedanken unzulänglich waren, den Entwickelungsgang der Tatsachen zu beherrschen. Diese Tatsachen sind den Gedanken entglitten und haben in Verwirrung und gewaltsame Entladung hineingetrieben. Daß man streben müsse nach Gedanken, die dem wirklichen Gang der Tatsachenwelt mehr gewachsen sind, das sollte das Ergebnis solcher Erkenntnis sein.

Man hat Praxis genannt, was nur engherzige Routine war. Die sogenannten Praktiker hatten sich eingewöhnt in ein enges Lebensgebiet. Das beherrschten sie routiniert. Dieses Lebensgebiet in Zusammenhang zu sehen mit weiteren Lebensumkreisen, dazu fehlte die Neigung und das Interesse. Man war stolz darauf, in seinem engen Lebensgebiete ein «Praktiker» zu sein. Man tat, was die Routine erforderte, und ließ das Getane in die allgemeine Lebensmaschinerie einlaufen. Man kümmerte sich nicht darum, wie es darinnen lief. So lief zuletzt alles durcheinander; und aus dem Tatsachenknäuel entwickelte sich die Weltkatastrophe. Man hatte sich einer «Praxis» ohne beherr-

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schende Gedanken ergeben. Dies war das Schicksal der leitenden Kreise. — Jetzt, da man vor der Verwirrung steht, kann man von den alten Denkgewohnheiten nicht loskommen. Man hat sich gewöhnt, dies oder jenes für «praktisch notwendig» zu halten, und hat den Blick verloren zu durchschauen, wie das «praktisch notwendig» Geglaubte ein innerlich Zermürbtes ist.

In der Wirtschaftsordnung der neueren Zeit ist dieses Entgleiten der Tatsachen gegenüber den Menschengedanken am anschaulichsten zutage getreten. Auf diesem Lebensgebiete zeigte sich die innere Zermürbung durch die proletarisch-sozialistische Bewegung. Innerhalb dieser Bewegung entstand die andere Art von Parteiprogrammen: diejenige, welche aus dem unmittelbaren Erleben des Zermürbten hervorging und entweder kritisch nach Änderung des Hineintreibens in den Wirrwarr verlangte oder von der «Entwickelung» der entfesselten Tatsachen ein Heil erwartete. Diese Programme entstanden theoretisch, aus allgemeinen Menschheitsforderungen heraus, ohne praktisch mit den Tatsachen zu rechnen. Der Praxis, die nur eine Routine war, die Gedanken verachtete, stellten sich die sozialistischen Gedanken entgegen, die eine Theorie ohne Praxis sind. Jetzt, da die Tatsachen ein Eingreifen fruchtbarer, in der Tatsachenwelt selbst lebender Gedanken fordern, erweisen sich diese theoretischen «Gedanken ohne Praxis» als unzulänglich. Und sie werden ihre Unzulänglichkeit immer mehr erweisen, je mehr es nötig werden wird, mit Gedanken ordnend in die Wirklichkeit des verworrenen Lebens der Gegenwart einzugreifen.

Gegenüber der Routine ohne Gedanken und den theoretischen Programmen ohne Praxis ist heute bei Menschen,

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die wirklich praktisch denken wollen, ein guter Wille in einer gewissen Richtung notwendig. Die routinierten, aber doch in Wahrheit unpraktischen Praktiker sollten sich bemühen, einzusehen, daß plan- und gedankenloses Fortwirtschaften aus der Katastrophe nicht heraus-, sondern immer tiefer in sie hineintreiben wird. Man will sich gegenwärtig noch über die Einsicht hinwegbetäuben, daß die Gedankenlosigkeit, die man mit Lebenspraxis verwechselt hat, in die Verwirrung geführt hat. Man hat die Förderer der Gedanken als «unpraktische Idealisten» verachtet und man will nicht zugeben, daß man damit das Allerunpraktischste getan hat. Ja, daß man sich damit als «Idealisten« im allerschlimmsten Sinne erwiesen hat.

Auf der anderen Seite, wo die theoretische «Forderung ohne Praxis» herrscht, will man ein menschenwürdiges Dasein für diejenige Menschenklasse erkämpfen, die gegenwärtig sich noch nicht im Besitze eines solchen fühlt. Man sieht nicht, daß man es erkämpfen will ohne wirkliche Einsicht in die Lebensnotwendigkeiten einer sozialen Gesellschaftsordnung. Man glaubt, wenn man sich für die theoretisch erhobenen, aber unpraktischen Forderungen die Macht erkämpft, dann werde man, auch wie durch ein Wunder, herbeiführen können, was man anstrebt.

Und wer es mit der Menschheit auch in derjenigen Klasse ehrlich meint, die aus der proletarischen Gedrücktheit diese Forderungen erhebt und die vermeint, in der oben gekennzeichneten Art zum Ziele zu kommen, der muß sich beschäftigen mit der Frage: was soll werden, wenn auf der einen Seite beharrt wird auf Programmen, die durch den Weltgang widerlegt sind, und auf der andern Seite die Macht erkämpft werden soll für Forderungen, die keinen Zugang

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suchen zu dem, was das Leben selber für eine mögliche soziale Ordnung verlangt?

Man ist heute dem Proletariat gegenüber vielleicht gutmeinend, aber man ist nicht objektiv ehrlich, wenn man ihm nicht begreiflich macht, daß die Programme, zu denen es sich bekennt, es nicht zu dem Heile führen, das es erstrebt, sondern zum Untergange der europäischen Kultur, mit deren Untergang sein eigener Untergang besiegelt ist. Man ist heute nur ehrlich gegenüber dem Proletariat, wenn man in ihm Verständnis dafür erweckt, daß es, was es unbewußt anstrebt, nimmermehr mit den Programmen erreichen kann, die es zu den seinigen gemacht hat.

Das Proletariat lebt in einem furchtbaren Irrtume. Es hat gesehen, wie in den letzten Jahrhunderten die menschlichen Interessen allmählich ganz von dem Wirtschaftlichen aufgesogen worden sind. Es hat bemerken müssen, wie die Rechtsformen des menschlichen Gesellschaftslebens sich festsetzten aus den wirtschaftlichen Macht- und Bedürfnisformen heraus; es konnte sehen, wie das gesamte Geistesleben, insbesondere das Erziehungs- und Schulwesen sich auf gebaut hat aus den Verhältnissen heraus, die sich aus den wirtschaftlichen Unterlagen und aus dem von der Wirtschaft abhängigen Staate ergaben. In dem Proletariat hat sich der zerstörende Aberglaube festgelegt, daß alles Rechtsund alles Geistesleben naturnotwendig aus den Wirtschaftsformen entsteht. Große Kreise auch von Nichtproletariern sind heute schon von diesem Aberglauben befallen. — Was in den letzten Jahrhunderten als eine Zeiterscheinung sich entwickelt hat: die Abhängigkeit des Geistes- und Rechtslebens vom Wirtschaftsleben, das sieht man als eine Naturnotwendigkeit an. Man bemerkt nicht, was die Wahrheit

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ist: daß diese Abhängigkeit die Menschheit in die Katastrophe hineingetrieben hat; und man gibt sich dem Aberglauben hin, daß man nur eine andere Wirtschaftsordnung brauche, eine solche, die ein anderes Rechts- und Geistesleben aus sich selbst hervortreiben werde. Man will nur die Wirtschaftsordnung ändern, statt einzusehen, daß man die Abhängigkeit des Geistes- und des Rechtslebens von der Wirtschaftsform aufheben müsse.

Nicht darum kann es sich in dem gegenwärtigen Augenblicke weltgeschichtlicher Entwickelung handeln, eine andere Art der Abhängigkeit des Rechts- und Geisteslebens vom Wirtschaftsleben anzustreben, sondern darum, ein solches Wirtschaftsleben zu gestalten, in dem nur Gütererzeugung und Güterzirkulation sachgemäß verwaltet werden, in dem aber aus der Stellung des Menschen in dem Wirtschaftskreislauf nichts bewirkt wird für seine rechtliche Stellung zu andern Menschen und für die Möglichkeit, die in ihm veranlagten Fähigkeiten durch Erziehung und Schule zur Entfaltung zu bringen. In der abgelaufenen geschichtlichen Epoche waren das Rechtsleben und das Geistesleben ein «Überbau» des Wirtschaftslebens. In der Zukunft sollen sie selbständige Glieder des sozialen Organismus sein neben dem Wirtschaftskreislauf. Die Maßnahmen, die innerhalb des letzteren zu treffen sind, sollen aus der wirtschaftlichen Erfahrung und aus dem Verbundensein der Menschen mit den einzelnen Wirtschaftsgebieten sich ergeben. Assoziationen aus den Berufständen, aus den miteinander verschlungenen Interessen der Produzenten und der Konsumenten sollen sich bilden, die sich nach oben hin zu einer Zentralwirtschaftsverwaltung zuspitzen. Dieselben Menschen, welche dieser Wirtschaftsorganisation angehören, bilden auch

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eine in bezug auf Verwaltung und Vertretung selbständige Rechtsgemeinschaft, in der alles dasjenige geregelt wird, das in den Urteilsbereich jedes mündig gewordenen Menschen fällt. Da wird auf demokratischer Grundlage alles dasjenige gestaltet, was jeden Menschen zum gleichen gegenüber jedem andern Menschen macht. Innerhalb der Verwaltung dieser Gemeinschaft wird zum Beispiele das Arbeitsrecht (Art, Maß, Zeit der Arbeit) geregelt. Damit fällt diese Regelung aus dem Wirtschaftskreislauf heraus. Der Arbeiter steht im Wirtschaftsleben als freier Vertragschließender denen gegenüber, mit denen er gemeinsam produzieren muß. Über seine wirtschaftliche Mitarbeit an einem Produktionszweig muß wirtschaftliche Sachkunde entscheiden; in bezug auf die Ausnützung seiner Arbeitskraft entscheidet er mit, als mündiger Mensch auf dem demokratischen Rechtsboden außerhalb des Wirtschaftskreislaufes.

Wie das Rechtsleben (die Staatsverwaltung) im selbständigen, vom Wirtschaftsleben unabhängigen Rechtsgliede des sozialen Organismus geregelt wird, so das Geistesleben (das Erziehungs- und Schulleben) in völliger Freiheit in dem selbständigen Geistesgliede der sozialen Gemeinschaft. Denn so wenig ein gesundes Wirtschaftsleben in eins verschmolzen sein kann mit dem Rechtsgliede des sozialen Organismus, in dem alles erfolgen muß durch die Urteile aller einander gleichstehenden mündig gewordenen Menschen, so wenig kann die Verwaltung des Geisteslebens auf Gesetze, Verordnungen, eine Aufsicht oder dergleichen gestellt sein, die sich aus den Urteilen der einfach mündig gewordenen Menschen ergeben. Das Geistesleben bedarf der Selbstverwaltung, die nur aus menschheitspädagogischen Gesichtspunkten heraus sich gestaltet. Nur in einer solchen Selbstverwaltung

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können die in einer Menschengemeinschaft veranlagten individuellen Fähigkeiten zum Dienste des sozialen Lebens wahrhaft gepflegt werden.

Wer in wirklicher Lebenspraxis die Daseinsbedingungen des sozialen Organismus auf der gegenwärtigen Stufe der Menschheitsentwickelung unbefangen zu prüfen in der Lage ist, kann wohl zu keinem anderen Ergebnis kommen als dem, daß zur Gesundung dieses Organismus dessen Dreigliederung in einen selbständigen Geist-, einen solchen Rechts- und ebensolchen Wirtschaftsunterorganismus notwendig ist. Die Einheit des ganzen Organismus wird dadurch gewiß nicht gefährdet; denn diese Einheit ist in der Wirklichkeit dadurch begründet, daß jeder Mensch mit seinen Interessen allen drei Teilorganismen angehört, und daß die Zentralverwaltungen trotz ihrer Unabhängigkeit voneinander die Harmonisierung ihrer Maßnahmen bewirken können.

Daß die internationalen Verhältnisse kein Hindernis bilden, auch wenn nur ein Staat für sich zunächst sich zum dreigliedrigen sozialen Organismus gestaltet, davon soll im nächsten Aufsatz gesprochen werden.

INTERNATIONALE LEBENSNOTWENDIGKEITEN UND SOZIALE DREIGLIEDERUNG

Eine Einwendung, die oft gegen die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus gemacht wird, ist, daß ein Staat, der diese Dreigliederung durchführt, seine internationalen Beziehungen zu anderen Staaten stören müsse. Welche Bedeutung dieser Einwand hat, wird man nur er-

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kennen, wenn man das Wesen der internationalen Staatenverhältnisse in der Gegenwart ins Auge faßt. Am auffälligsten für eine dahingehende Beobachtung ist, daß die wirtschaftlichen Tatsachen in der neuesten Zeit Gestalten angenommen haben, die mit den Staatenabgrenzungen nicht mehr im Einklänge stehen. Die geschichtlichen Bedingungen, aus denen sich diese Staatenabgrenzungen ergeben haben, haben wenig zu tun mit den Interessen des Wirtschaftslebens, das die in den Staatsgebieten lebenden Völker führen. Die Folge davon ist, daß die Staatsleitungen die internationalen Beziehungen herstellen, für deren Herstellung das naturgemäßere wäre, wenn sie durch die wirtschaftenden Personen oder Personengruppen unmittelbar zustande käme. Ein Industriebetrieb, der ein Rohprodukt eines auswärtigen Staates braucht, sollte zum Erhalt dieses Rohproduktes nichts anderes nötig haben, als sich mit der Verwaltung desselben auseinanderzusetzen. Und alles, was zu dieser Auseinandersetzung gehört, sollte sich nur innerhalb des Wirtschaftskreislaufes abspielen. Man kann sehen, daß in der neuesten Zeit das Wirtschaftsleben Formen angenommen hat, die auf ein solches Abschließen in sich selbst hinweisen. Und daß in dieses in sich geschlossene Wirtschaftsleben, das allmählich dahin strebt, über die ganze Erde hin eine Einheit zu werden, die staatlichen Interessen sich hineinstellen als störendes Element. Was haben die historischen Bedingungen, unter denen England die Herrschaft über Indien bekommen hat, zu tun mit den wirtschaftlichen Bedingungen, aus denen heraus ein deutscher Fabrikant Waren aus Indien bezieht?

Die Weltkriegskatastrophe offenbart, daß das Leben der neueren Menschheit die Störung der nach Einheit streben-

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den Weltwirtschaft durch die Interessen der Staatsgebiete nicht verträgt. Die Konflikte, in die Deutschland mit den Ländern des Westens gekommen ist, haben zum Untergründe diese Störung. Und auch in die Konflikte mit den Ländern des Ostens spielt das gleiche hinein. Wirtschaftliche Interessen forderten eine Bahn aus dem österreichischungarischen Gebiete nach Südosten. Die Staatsinteressen Österreichs und diejenigen der Balkanländer machten sich geltend. Und es entstand die Frage, ob diesen Interessen nicht zuwiderläuft, was den wirtschaftlichen Forderungen entspricht. Das Kapital, das im Dienste der Wirtschaft stehen soll, wird dadurch in Zusammenhang gebracht mit den Staatsinteressen. Die Staaten wollen, daß ihre Kapitalisten in ihren Dienst sich stellen. Die Kapitalisten wollen, daß die im Staate konzentrierte Macht ihren wirtschaftlichen Interessen dienstbar werde. Das Wirtschaftsleben wird dadurch in die Staatsgebiete eingefangen, während es in seiner neueren Entwickelungsphase über alle Staatsgrenzen hinaus zu einem einheitlichen Wirtschaftsleben strebt.

Diese Internationalität des Wirtschaftslebens weist darauf hin, daß in der Zukunft die einzelnen Gebiete der Weltwirtschaft in Beziehungen treten müssen, die unbhängig sind von den Beziehungen, in denen die Völker durch die außer dem Wirtschaftsgebiete liegenden Lebensinteressen stehen werden. Die Staaten werden die Herstellung der Wirtschaftsbeziehungen den an der Wirtschaft beteiligten Personen oder Personengruppen überlassen müssen.

Sollen dadurch nicht die geistigen Kulturbeziehungen in restlose Abhängigkeit kommen von den Wirtschaftsinteressen, so müssen diese Beziehungen aus ihren eigenen Voraussetzungen heraus ihr internationales Leben entfalten.

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Es soll hier sicherlich nicht in Abrede gestellt werden, daß die wirtschaftlichen Beziehungen Grundlagen abgeben können auch für den geistigen Verkehr. Doch muß anerkannt werden, daß der in dieser Art bewirkte geistige Verkehr erst fruchtbar werden kann, wenn neben ihm sich Völkerbeziehungen bilden, die nur aus den Bedürfnissen des Geisteslebens selbst kommen. Im einzelnen Volke entringt sich das Geistesleben der Persönlichkeiten den wirtschaftlichen Untergründen. Es nimmt Gestaltungen an, die mit den Formen des Wirtschaftslebens nichts zu tun haben. Diese Gestaltungen müssen zu den entsprechenden bei andern Völkern in Beziehungen kommen können, die nur aus ihrem eigenen Leben hervorgehen. Es ist nicht zu leugnen, daß in dem gegenwärtigen Augenblicke der Menschheitsentwickelung der internationalen Gestaltung der geistigen Lebensgebiete der egoistische Drang der Völker nach Abschluß in ihrem Volkstum widerstrebt. Die Völker streben danach, sich Staatsgebilde zurechtzuzimmern, deren Grenzen die ihrer Volkstümer sind. Und dieses Streben erweitert sich zu dem andern, den geschlossenen Volksstaat auch zu einem geschlossenen Wirtschaftsgebiet zu machen.

Die gekennzeichnete Tendenz der Weltwirtschaft wird diesenVolksegoismen in der Zukunft entgegenarbeiten. Und sollen nicht aus diesem Entgegenarbeiten nie endende Konflikte entstehen, so werden sich die in den Volkstümern auslebenden geistigen Kulturinteressen aus ihrem eigenen Wesen heraus unabhängig von den Wirtschaftsverhältnissen verwalten und aus diesen Verwaltungen heraus internationale Beziehungen bilden müssen. Das wird nicht anders möglich sein, als wenn sich die Gebiete, in denen gemeinsames Geistesleben herrscht, Grenzen geben, die relativ unabhän-

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gig sind von den Gebietsgrenzen, die aus denVoraussetzungen des Wirtschaftslebens entstehen.

Es ist nun ganz selbstverständlich die Frage naheliegend, wie das Geistesleben aus dem Wirtschaftsleben seinen Unterhalt beziehen soll, wenn die Verwaltungsgrenzen der beiden Gebiete nicht zusammenfallen. Die Antwort ergibt sich, wenn man bedenkt, daß ein sich selbst verwaltendes Geistesleben dem selbständigen Wirtschaftsleben als eine Wirtschaftskorporation gegenübersteht. Diese letztere kann aber für ihre wirtschaftlichen Grundlagen mit den Wirtschaftsverwaltungen ihres Gebietes Beziehungen eingehen, gleichgültig, zu welchem größeren Wirtschaftsgebiete diese Verwaltungen gehören. Wer sich als praktisch möglich nur dasjenige vorstellt, was er bisher gesehen hat, der wird, was hier vorgebracht wird, für graue Theorie halten. Und er wird glauben, daß die Ordnung der entsprechenden Verhältnisse an der Kompliziertheit derselben scheitern müsse. Nun, ob die Verhältnisse kompliziert sein werden oder nicht: das wird lediglich von der Geschicklichkeit derjenigen Persönlichkeiten abhängen, die mit ihrer Ordnung zu tun haben werden. Niemand aber sollte, weil er vor einer solchen vermeintlichen Kompliziertheit zurückschreckt, sich Maßnahmen entgegenstellen, die von den weltgeschichtlichen Notwendigkeiten der Gegenwart gefordert sind. (Man vergleiche damit die Ausführungen meines Buches «Die Kernpunkte der sozialen Frage», S. 141.)

Das internationale Leben der Menschheit strebt darnach, die geistigen Beziehungen der Völker und die wirtschaftlichen der einzelnen Erdgebiete voneinander unabhängig zu gestalten. Dieser Notwendigkeit in der Entwickelung der Menschheit wird durch die Dreigliederung der sozialen

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Organismen Rechnung getragen. In dem dreigliedrigen sozialen Organismus bildet das Rechtsleben auf demokratischer Grundlage das Band zwischen dem Wirtschaftsleben, das aus seinen Bedürfnissen heraus internationale Beziehungen herstellt, und dem Geistesleben, das solche aus seinen Kräften gestaltet.

Man mag aus den Denkgewohnheiten, denen man aus den bisherigen Staatsverhältnissen heraus ergeben ist, noch so stark an dem Glauben hängen, daß die Umwandlung dieser Verhältnisse «praktisch undurchführbar» sei: Die geschichtliche Entwickelung wird über alles dasjenige zerstörend hinwegschreiten, das als Maßnahmen aus diesen Denkgewohnheiten sich erhalten oder neu entstehen will. Denn für die Lebensbedürfnisse der neueren Menschheit wird die weitere Verschmelzung des geistigen, des rechtlichen und wirtschaftlichen Gebietes eine Unmöglichkeit. Durch die Weltkriegskatastrophe hat sich diese Unmöglichkeit geoffenbart. Sie beruht darauf, daß wirtschaftliche und Geisteskulturkonflikte sich in der Gestalt der Staatsgegnerschaften ergaben und dadurch in einer Art zum Austrag kommen mußten, die nicht möglich ist, wenn nur Geistesleben dem Geistesleben und Wirtschaftsinteresse dem Wirtschaftsinteresse gegenüberstehen.

Daß es möglich ist, ohne mit dem internationalen Leben in Konflikt zu kommen, in einem einzelnen Staatsgebilde an die Durchführung der Dreigliederung zu gehen, auch wenn dieses Gebilde zunächst mit dieser Durchführung allein steht, das kann in folgender Art gezeigt werden.

Ein Wirtschaftsgebiet, das sich im Rahmen eines Staates als große Genossenschaft ausbilden wollte, könnte ökonomisch vorteilhafte Beziehungen zum Auslande, das

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kapitalistisch weiter wirtschaftet, nicht aufrechterhalten. Einrichtungen, die den staatlichen ähnlich sind und die Zentralwirtschaftsverwaltungen unterstellt sind, nehmen der Betriebsleitung die Möglichkeit, an das Ausland Produkte zu liefern, die dessen Forderungen entsprechen. Mag auch in bezug auf Entgegennahme von Bestellungen dem Betriebsleiter eine weitgehende Selbständigkeit zugestanden werden; in der Beschaffung von Rohstoffen müßte er sich an die genossenschaftlichen Verwaltungsinstanzen halten. In der Praxis gäbe dieses Eingeklemmtsein zwischen den Forderungen des Auslandes und dem Geschäftsgang der inneren Verwaltung unmögliche Verhältnisse. Den gleichen Schwierigkeiten wie die Ausfuhr müßte die Einfuhr begegnen. Wer beweisen will, daß ein ersprießlicher wirtschaftlicher Verkehr eines Landgebietes, das nach abstrakt sozialistischen Grundsätzen wirtschaften will, mit dem kapitalistischen Ausland nicht möglich ist, der hat nur nötig, auf diese Dinge hinzuweisen, und ihm wird von Unbefangenen Recht gegeben werden müssen.

Die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus kann von solchen Einwendungen nicht betroffen werden. Sie stülpt nicht einen staatsähnlichen Organisationsplan über die Beziehungen, die durch die wirtschaftlichen Interessen selbst gegeben sind. Es ist in ihrem Sinne, daß sich die Verwaltungen gleichgerichteter Wirtschaftszweige in Assoziationen zusammenschließen, und daß solche Assoziationen sich weiter angliedern an andere, durch die ihre Produkte die den Konsumbedürfnissen des Wirtschaftsgebietes entsprechende Verbreitung finden. Eine Betriebsleitung, die für den Export arbeitet, wird in dem Verkehr mit dem Auslande aus völlig freier Initiative handeln können; und

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sie wird in der Lage sein, im Inlande solche Verbindungen mit anderen Assoziationen einzugehen, die ihr in der Belieferung von Rohstoffen und ähnlichem am förderlichsten sind. Ein gleiches wird von einem Importbetrieb gelten. Maßgebend wird bei dieser Gestaltung des Wirtschaftskreislaufes nur sein, daß durch den Verkehr mit dem Auslande nicht Produkte hergestellt oder eingeführt werden, deren Herstellungskosten oder Kaufpreis die Lebenshaltung der arbeitenden Bevölkerung des Inlandes beeinträchtigen. Der Arbeiter, der für das Ausland arbeitet, wird als Entgelt für seine Produkte so viel erhalten müssen, als für seine Lebenshaltung notwendig ist. Und Produkte, die aus dem Auslande bezogen werden, müssen im allgemeinen zu Preisen zu haben sein, die dem inländischen Arbeiter, der dafür Bedürfnisse hat, es möglich machen, sie zu erwerben. Dabei kann sich allerdings durch die Verschiedenheit der wirtschaftlichen Verhältnisse des In- und Auslandes ergeben, daß für gewisse Produkte, die man aus dem Ausland beziehen muß, zu hohe Preise sich notwendig machen. Man wird finden, wenn man genau zusieht, daß in den Gedanken, welche der Dreigliederung des sozialen Organismus zugrunde liegen, solchen Tatsachen Rechnung getragen ist. Man lese, was S. 126 meiner «Kernpunkte der sozialen Frage» für eine Tatsache des Wirtschaftslebens, die der hier gekennzeichneten ähnlich ist, gesagt ist: «Auch wird eine Verwaltung, die es nur zu tun hat mit dem Kreislauf des Wirtschaftslebens, zu Ausgleichen führen können, die etwa aus diesem Kreislauf heraus als notwendig sich ergeben. Sollte zum Beispiel ein Betrieb nicht in der Lage sein, seinen Darleihern ihre Arbeitsersparnisse zu verzinsen, so wird, wenn er doch als einem Bedürfnis entsprechend anerkannt

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wird, aus andern Wirtschaftsbetrieben nach freier Übereinkunft mit allen an den letzteren beteiligten Personen das Fehlende zugeschossen werden können.» So auch wird der zu hohe Preis eines Auslandsproduktes durch Zuschüsse ausgeglichen werden können, die aus Betrieben herrühren, welche gegenüber den Bedürfnissen der in ihnen Arbeitenden zu hohe Erträgnisse liefern können.

Wer nach Gedanken über die leitenden Gesichtslinien des Wirtschaftslebens strebt, der wird gerade dann, wenn diese Gedanken praktisch sein sollen, nicht für alle Einzelheiten Angaben machen können. Denn dieser Einzelheiten des Wirtschaftslebens sind unermeßlich viele. Er wird aber die Gedanken so gestalten müssen, daß jeder, der sachgemäß diese Gedanken auf einen Einzelfall anwendet, damit praktisch zurecht kommt. Man wird bei den Vorschlägen, die in meinen «Kernpunkten der sozialen Frage» gemacht werden, finden, daß dieses «Zurechtkommen» um so besser sich gestaltet, je sachgemäßer man verfährt. Insbesondere wird man finden, daß die vorgeschlagene Struktur eines Wirtschaftskörpers, der dem dreigliedrigen sozialen Organismus angehört, einen hemmungslosen wirtschaftlichenVerkehr mit dem Auslande gestattet, auch wenn dieses Ausland die Dreigliederung nicht hat.

Daß sich dieser Verkehr als unmöglich erweisen könnte, wird derjenige nicht behaupten, der einsieht, daß die Selbstverwaltung des Wirtschaftskreislaufes ein Ergebnis sein muß der nach Einheit strebenden Wirtschaft über die ganze Erde hin. Es ist doch so, daß die in einzelne Staatsformen gezwängte Erdwirtschaft diese Staatsformen zu überwinden strebt. Ein Wirtschaftsgebiet, das diesem Streben zuerst gerecht wird, kann wohl unmöglich in Nachteil kommen

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gegenüber anderen Gebieten, die sich der allgemeinen Wirtschaftsentwickelung entgegenstellen. Was sich ergeben wird, kann vielmehr nur dieses sein. In dem dreigliedrigen sozialen Organismus wird das Erträgnis des Auslandshandels der Lebenshaltung der ganzen Bevölkerung zugute kommen können; in dem kapitalistischen Gemeinwesen wird es einigen Wenigen zukommen. Die Handelsbilanz selbst wird aber nicht dadurch beeinträchtigt werden, daß sie in dem dreigegliederten sozialen Organismus sich anders über die Bevölkerungskreise verteilt als in dem ungegliederten.

Man sieht hieraus, daß mit der Dreigliederung nicht eine weltfremde Utopie gegeben ist, sondern eine Summe von praktischen Impulsen, mit deren Verwirklichung in jedem Punkte des Lebens begonnen werden kann. Das unterscheidet diese «Idee» von den abstrakten «Forderungen» der verschiedenen sozialistischen Parteien. Diese Forderungen suchen Sündenböcke für dasjenige, was im sozialen Leben unerträglich geworden ist. Und sie sagen, wenn sie solche Sündenböcke gefunden haben, die müssen beseitigt werden. Die Idee der Dreigliederung spricht von dem, was aus dem Bestehenden heraus werden muß, wenn die Unzuträglichkeiten verschwinden sollen. Sie will aufbauen im Gegensatz zu andern Ideen, die wohl kritisieren, die auch abbauen können, die aber keinen Hinweis auf einen Aufbau geben. Besonders deutlich zeigt sich dem Unbefangenen dieses, wenn er bedenkt, wozu mit Bezug auf den wirtschaftlichen Auslandsverkehr ein Staatsgebiet geführt werden müßte, das sich im Sinne solcher bloß abbauenden Prinzipien gestalten wollte. Zu den Abbautendenzen im Innern kämen auch noch die das Leben untergrabenden Mißverhältnisse zum Ausland.

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Man kann wohl nicht zweifeln, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse eines einzelnen dreigliedrigen sozialen Organismus vorbildlich auf das Ausland wirken müßten. Die an einer sozial gerechten Güterverteilung beteiligten Kreise werden in ihrem Lande die Dreigliederung anstreben, wenn sie deren Zweckmäßigkeit bei anderen sehen. Und mit dieser Ausbreitung der Idee der Dreigliederung wird immer mehr das erreicht werden, wonach das Wirtschaftsleben der neueren Zeit nach in ihm selbst liegenden Tendenzen strebt. Daß diesen Tendenzen abgünstige Staatsinteressen heute in vielen Erdgebieten noch mächtig sind, braucht die Menschen eines Wirtschaftsgebietes, die Verständnis für diese Dreigliederung haben, nicht abzuhalten, sie einzuführen. Das hier Gesagte zeigt, daß ihnen internationale Schwierigkeiten im Wirtschaftsleben nicht erwachsen können.

MARXISMUS UND DREIGLIEDERUNG

Es ist unmöglich, aus den sozialen Wirrnissen, in denen Europa steckt, herauszukommen, wenn noch lange gewisse soziale Forderungen, die erhoben werden, in der Unklarheit bleiben, durch die sie gegenwärtig entstellt werden. Als eine solche Forderung lebt in weiten Kreisen diejenige, welche Friedrich Engels in seinem Buche «Die Entwickelung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft» mit den Worten ausgesprochen hat: «An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen.» Zahlreiche Führer des Proletariats und mit ihnen die proletarischen Massen selbst bekennen sich zu der Anschauung, welcher dieser Ausspruch

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entstammt. Sie ist von einem gewissen Gesichtspunkt aus richtig. Die Menschenzusammenhänge, aus denen die modernen Staaten sich entwickelt haben, haben Verwaltungen gebildet, von denen nicht nur Sachen und Produktionsprozesse geregelt, sondern auch die in den Produktionszweigen und mit den Sachen beschäftigten Menschen regiert werden. Die Verwaltung von Sachen und Produktionszweigen umfaßt das Wirtschaftsleben. Dieses hat in der neueren Zeit Formen angenommen, die notwendig machen, daß seine Verwaltung nicht mehr die Regierung der Menschen mitbesorgen kann. Das erkannten Marx und Engels. Sie wandten ihre Aufmerksamkeit darauf, wie im Wirtschaftskreislauf das Kapital und die menschliche Arbeitskraft wirksam sind. Sie empfanden, daß das Leben der neueren Menschheit über die Art, welche diese Wirksamkeit angenommen hat, hinausstrebt. Denn diese Art ist so, daß das Kapital zur Grundlage der Macht über die menschliche Arbeitskraft geworden ist. Es dient nicht nur der Verwaltung von Sachen und der Leitung von Produktionsprozessen ; es gibt die Richtschnur ab für die Regierung von Menschen. Daraus schlossen Marx und Engels, daß man aus dem Wirtschaftskreislauf die Regierung über Menschen entfernen müsse. Sie schlossen recht. Denn das neuere Leben gestattet nicht, daß die Menschen nur als Anhängsel der Sachen und Produktionsprozesse betrachtet und mit deren Verwaltung mitverwaltet werden.

Aber Marx und Engels glaubten, daß die Sache einfach damit abgetan sei, daß man aus dem Wirtschaftsprozeß das Regieren über Menschen herauswirft und die neue aus dem Staat sich entwickelnde gereinigte Wirtschaftsverwaltung fortbestehen lasse. Sie sahen nicht, daß in dem Regieren

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etwas lag, das Verhältnisse der Menschen zueinander regelt, die nicht ungeregelt bleiben können, und die sich auch nicht von selbst regeln, wenn sie nicht mehr aus den Forderungen des Wirtschaftslebens in der alten Art geregelt werden. Sie sahen auch nicht, daß in dem Kapital die Quelle lag, aus der die Kräfte flössen zur Verwaltung der Sachen und Leitung der Produktionszweige. Auf dem Umwege durch das Kapital leitet der Menschengeist das Wirtschaftsleben. Indem man Sachen verwaltet und Produktionszweige leitet, pflegt man noch nicht den Menschengeist, der aus immer neuer Daseinsschöpfung hervorgeht, und der dem Wirtschaftsleben auch immer neue Kräfte zuführen muß, wenn es nicht erst erstarren und dann völlig verkommen soll.

Richtig ist, was Marx und Engels gesehen haben: daß die Verwaltung des Wirtschaftskreislaufes nichts enthalten darf, was eine Regierung über Menschen bedeutet, und daß dem Kapital, das diesem Kreislauf dient, nicht die Macht zukommen darf über den Menschengeist, der ihm die Wege weist. Aber verhängnisvoll geworden ist, daß sie glaubten, beides, die durch das Regieren geregelten Verhältnisse der Menschen zueinander und die Leitung des Wirtschaftslebens durch den Menschengeist, werde dann von selbst da sein können, wenn es nicht mehr von der Wirtschaftsverwaltung ausgeht.

Die Reinigung des Wirtschaftslebens, das heißt seine Beschränkung auf die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen, ist nur möglich, wenn neben dem Wirtschaftsleben etwas besteht, das an die Stelle des alten Regierens tritt und etwas anderes, das den Menschengeist zum wirklichen Leiter des Wirtschaftskreislaufes macht. Dieser Forderung wird die Idee des dreigliedrigen

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sozialen Organismus gerecht. Die auf sich selbst gestellte Verwaltung des Geisteslebens wird dem Wirtschaftsleben die menschlichen Geisteskräfte zuführen, die es fortschreitend neu befruchten können, wenn sie auf ihrem eigenen Boden bloß Sachen verwaltet und Produktionszweige regelt. Und das von dem Geistes- und Wirtschaftsgebiet abgesonderte Rechtsglied des sozialen Organismus wird die Beziehungen der Menschen so regeln, wie sie demokratisch der mündig gewordene Mensch dem mündig gewordenen Menschen gegenüber regeln kann, ohne daß bei dieser Regelung die Macht mitspricht, die der eine Mensch über den anderen durch stärkere individuelle Kräfte oder durch wirtschaftliche Grundlagen haben kann.

Marx’ und Engels Gesichtspunkt war mit Bezug auf die Forderung einer Neugestaltung des Wirtschaftslebens richtig; aber einseitig. Sie sahen nicht, daß das Wirtschaftsleben nur dadurch frei werden kann, wenn sich neben dasselbe ein freies Rechtsleben und eine freie Geistespflege stellen. Welche Formen das Wirtschaftsleben der Zukunft annehmen muß, das kann allein derjenige sehen, der sich klar darüber ist, daß die wirtschaftlich-kapitalistische Orientierung in die unmittelbar geistige, die aus der Wirtschaftsmacht erfolgende Regelung der Menschenbeziehungen in die unmittelbar menschliche übergehen muß. Die Forderung eines Wirtschaftslebens, in dem nur Sachen verwaltet und Produktionsprozesse geleitet werden, kann nie erfüllt werden, wenn sie allein für sich erhoben wird. Wer sie dennoch erhebt, der will ein Wirtschaftsleben schaffen, das von sich auswirft, was es bisher als eine Daseinsnotwendigkeit in sich getragen hat, und das dennoch bestehen soll.

Aus anderen Lebensgrundlagen, aber aus gründlicher

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Erfahrung heraus hat Goethe zwei Sätze geprägt, die aber vollgültig für viele soziale Forderungen unserer Zeit sind. Der eine ist: «Ein unzulängliches Wahre wirkt eine Zeitlang fort; statt völliger Aufklärung aber tritt auf einmal ein blendendes Falsche herein; das genügt der Welt und so sind Jahrhunderte betört.» Der andere ist: «Allgemeine Begriffe und großer Dünkel sind immer auf dem Wege, entsetzliches Unglück anzurichten.» Wahrhaftig, der nicht von unseren Zeitverhältnissen belehrte Marxismus ist ein «unzulängliches Wahre», das trotz seiner Unzulänglichkeit in der proletarischen Weltanschauung wirkt; aber nach der Weltkriegskatastrophe wird es gegenüber den wahren Zeitforderungen ein «blendendes Falsches», das verhindert werden muß, «Jahrhunderte zu betören». Diesem Streben nach Verhinderung wird derjenige zuneigen, der erkennt, in welches Unglück das Proletariat durch sein «unzulängliches Wahres» rennt. Aus diesem «unzulänglichen Wahren» sind wirklich «allgemeine Begriffe» geworden, deren Träger aus einem wahrlich nicht kleinen Dünkel alles als Utopie ablehnen, was bemüht ist, an die Stelle ihrer utopischen Allgemeinheiten Wirklichkeiten des Lebens zu setzen.

FREIE SCHULE UND DREIGLIEDERUNG

Die öffentliche Pflege des Geisteslebens in Erziehung und Schule ist in der neueren Zeit immer mehr zur Staatssache geworden. Daß das Schulwesen eine vom Staat zu besor­gende Angelegenheit sei, wurzelt gegenwärtig so tief im Bewußtsein der Menschen, daß, wer an diesem Urteil rütteln zu müssen vermeint, als ein weltfremder «Ideologe»

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angesehen wird. Und doch liegt gerade auf diesem Lebens-gebiete etwas vor, das der allerernstesten Erwägung bedarf. Denn diejenigen, die in der angedeuteten Art über «Wek­fremdheit» denken, ahnen gar nicht, welch eine weltfremde Sache sie selbst verteidigen. Unser Schulwesen trägt ganz besonders die Charakterzüge an sich, die ein Abbild sind der niedergehenden Strömungen im Kulturleben der gegen­wärtigen Menschheit. Die neueren Staatsgebilde sind mit ihrer sozialen Struktur den Anforderungen des Lebens nicht gefolgt. Sie zeigen zum Beispiel eine Gestaltung, die den wirtschaftlichen Forderungen der neueren Menschheit nicht genügt. Sie haben diese Rückständigkeit auch dem Schulwesen aufgedrückt, das sie, nachdem sie es den Religionsgemeinschaften entrissen, ganz in Abhängigkeit von sich gebracht haben. Die Schule auf allen ihren Stufen bildet die Menschen so aus, wie sie der Staat für die Lei­stungen braucht, die er für notwendig hält. In den Ein­richtungen der Schulen spiegeln sich die Bedürfnisse des Staates. Man redet zwar viel von allgemeiner Menschenbildung und ähnlichem, das man anstreben will; aber der neuere Mensch fühlt sich unbewußt so stark als ein Glied der staatlichen Ordnung, daß er gar nicht bemerkt, wie er von der allgemeinen Menschenbildung redet und eigentlich die Ausbildung zum brauchbaren Staatsdiener meint.

In dieser Beziehung verspricht die Gesinnung der soziali­stisch Denkenden von heute nichts Gutes. Man will den alten Staat umwandeln in eine große Wirtschaftsorganisation. In diese hinein soll sich fortsetzen die Staatsschule. Diese Fortsetzung würde alle Fehler der gegen­wärtigen Schule in bedenklichster Art vergrößern. Bisher steckte in dieser Schule noch manches, was Zeiten ent­stammte,

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in denen der Staat noch nicht Beherrscher des Unterrichtswesens war. Man kann natürlich die Herrschaft des Geistes nicht zurückwünschen, der aus diesen alten Zeiten stammt. Aber man müßte bestrebt sein, den neuen Geist der fortentwickelten Menschheit in die Schule hinein-zutragen. Dieser Geist wird nicht darinnen sein, wenn man den Staat in eine Wirtschaftsorganisation umwandelt und die Schule so umgestaltet, daß aus ihr Menschen hervor­gehen, die die brauchbarsten Arbeitsmaschinen in dieser Wirtschaftsorganisation sein können. Man spricht heute viel von einer «Einheitsschule». Daß man sich theoretisch unter dieser Einheitsschule etwas sehr Schönes vorstellt, darauf kommt es nicht an. Denn, wenn man die Schule als ein organisches Glied einer Wirtschaftsorganisation aus-gestaltet, so kann sie nicht etwas Schönes sein.

Worauf es der Gegenwart ankommen muß, das ist, die Schule ganz in einem freien Geistesleben zu verankern. Was gelehrt und erzogen werden soll, das soll nur aus der Er­kenntnis des werdenden Menschen und seiner individuellen Anlagen entnommen sein. Wahrhaftige Anthropologie soll die Grundlage der Erziehung und des Unterrichtes sein. Nicht gefragt soll werden: Was braucht der Mensch zu wissen und zu können für die soziale Ordnung, die besteht; sondern: Was ist im Menschen veranlagt und was kann in ihm entwickelt werden? Dann wird es möglich sein, der sozialen Ordnung immer neue Kräfte aus der heranwach­senden Generation zuzuführen. Dann wird in dieser Ordnung immer das leben, was die in sie eintretenden Vollmenschen aus ihr machen; nicht aber wird aus der heranwachsenden Generation das gemacht werden, was die bestehende soziale Organisation aus ihr machen will.

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Ein gesundes Verhältnis zwischen Schule und sozialer Organisation besteht nur, wenn der letzteren immer die in ungehemmter Entwickelung herangebildeten neuen indi­viduellen Menschheitsanlagen zugeführt werden. Das kann nur geschehen, wenn die Schule und das Erziehungswesen innerhalb des sozialen Organismus auf den Boden ihrer Selbstverwaltung gestellt werden. Das Staats- und Wirt­schaftsleben sollen die von dem selbständigen Geistesleben herangebildeten Menschen empfangen; nicht aber sollen sie, nach ihren Bedürfnissen, deren Bildungsgang vorschrei­ben können. Was ein Mensch in einem bestimmten Lebens­alter wissen und können soll, das muß sich aus der Men­schennatur heraus ergeben. Staat und Wirtschaft werden sich so gestalten müssen, daß sie den Forderungen der Men­schennatur entsprechen. Nicht der Staat oder das Wirtschaftsleben haben zu sagen: So brauchen wir den Menschen für ein bestimmtes Amt; also prüft uns die Menschen, die wir brauchen und sorgt zuerst dafür, daß sie wissen und können, was wir brauchen; sondern das geistige Glied des sozialen Organismus soll aus seiner Selbstverwaltung heraus die entsprechend begabten Menschen zu einem gewissen Grade der Ausbildung bringen, und Staat und Wirtschaft sollen sich gemäß den Ergebnissen der Arbeit im geistigen Gliede einrichten.

Da das Leben des Staates und der Wirtschaft nichts von der Menschennatur Abgesondertes sind, sondern das Er­gebnis dieser Natur, so ist niemals zu befürchten, daß ein wirklich freies, auf sich selbst gestelltes Geistesleben wirk­lichkeitsfremde Menschen ausbildet. Dagegen entstehen solche lebensfremde Menschen gerade dann, wenn die be­stehenden Staats- und Wirtschaftseinrichtungen das Erziehungs-

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und Schulwesen von sich aus regeln. Denn in Staat und Wirtschaft müssen die Gesichtspunkte innerhalb des Bestehenden, Gewordenen eingenommen werden. Zur Ent­wickelung des werdenden Menschen braucht man ganz andere Richtlinien des Denkens und Empfindens. Man kommt als Erzieher, als Unterrichtender nur zurecht, wenn man in einer freien, individuellen Weise dem zu Erziehen­den, zu Unterrichtenden gegenübersteht. Man muß sich für die Richtlinien des Wirkens nur abhängig wissen von Erkenntnissen über die Menschennatur, über das Wesen der sozialen Ordnung und ähnliches, nicht aber von Vorschriften oder Gesetzen, die von außen gegeben werden. Will man ernstlich die bisherige Gesellschaftsordnung in eine solche nach sozialen Gesichtspunkten überleiten, so wird man nicht davor zurückschrecken dürfen, das geistige Leben - mit dem Erziehungs- und Schulwesen - in seine eigene Ver­waltung zu stellen. Denn aus einem solchen selbständigen Gliede des sozialen Organismus werden Menschen hervor­gehen mit Eifer und Lust zum Wirken im sozialen Orga­nismus; aus einer vom Staat oder vom Wirtschaftsleben geregelten Schule können aber doch nur Menschen kommen, denen dieser Eifer und diese Lust fehlen, weil sie die Nach­wirkung einer Herrschaft wie etwas Ertötendes empfinden, die nicht hätte über sie ausgeübt werden dürfen, bevor sie vollbewußte Mitbürger und Mitarbeiter dieses Staates und dieser Wirtschaft sind. Der werdende Mensch soll erwachsen durch die Kraft des von Staat und Wirtschaft unabhän­gigen Erziehers und Lehrers, der die individuellen Fähig­keiten frei entwickeln kann, weil die seinigen in Freiheit walten dürfen.

In meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage in

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den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft» habe ich mich bemüht, zu zeigen, daß in der Lebensauf­fassung der parteimäßig führenden Sozialisten im wesent­lichen nur die nach einem gewissen Extrem getriebene Gedankenwelt des Bürgertums der letzten drei bis vier Jahrhunderte weiterlebt. Es ist die Illusion dieser Sozialisten, daß ihre Ideen einen völligen Bruch mit dieser Gedanken­welt darstellen. Nicht ein solcher liegt vor, sondern nur die besondere Färbung der bürgerlichen Lebensauffassung aus dem Fühlen und Empfinden des Proletariats heraus. Dies zeigt sich ganz besonders stark in der Stellung, welche diese sozialistischen Führer zum Geistesleben und seiner Einglie­derung in den gesellschaftlichen Organismus einnehmen. Durch die hervorragende Bedeutung des Wirtschaftslebens in der bürgerlichen Gesellschaftsorganisation der letzten Jahrhunderte ist das Geistesleben in eine starke Abhängig­keit von dem Wirtschaftsleben gekommen. Das Bewußtsein von einem in sich selbst gegründeten Geistesleben, an dem die Menschenseele Anteil hat, ist verloren gegangen. Naturanschauung und Industrialismus haben diesen Verlust mitbewirkt. Damit hängt zusammen, wie man in der neueren Zeit die Schule in den gesellschaftlichen Organismus eingliederte. Den Menschen für das äußere Leben in Staat und Wirtschaft brauchbar zu machen, wurde die Hauptsache. Daß er in erster Linie als seelisches Wesen erfüllt sein solle mit dem Bewußtsein seines Zusammenhanges mit einer Geistesordnung der Dinge und daß er durch dieses sein Bewußtsein dem Staate und der Wirtschaft, in denen er lebt, einen Sinn gibt, daran wurde immer weniger gedacht. Die Köpfe richteten sich immer weniger nach der geistigen Weltordnung und immer mehr nach den wirtschaftlichen

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Produktionsverhältnissen. Beim Bürgertum wurde dieses zu einer empfindungsgemäßen Richtung des Seelenlebens. Die proletarischen Führer machten daraus eine theoretische Lebensauffassung, ein Lebensdogma.

Verheerend würde dieses Lebensdogma werden, wenn es grundlegend sein wollte für den Aufbau des Schulwesens in die Zukunft hinein. Da in Wirklichkeit ja doch aus einer noch so vortrefflichen wirtschaftlichen Gestaltung des sozialen Organismus sich keine Pflege eines wahren Geistes­lebens, insbesondere auch keine produktive Einrichtung des Schulwesens ergeben kann, so müßte zunächst diese Ein­richtung durch die Fortführung der alten Gedankenwelt herbeigeführt werden. Die Parteien, die Träger einer neuen Lebensgestaltung sein wollen, müßten das Geistige in den Schulen von den Trägern der alten Weltanschauungen fortpflegen lassen. Da aber unter solchen Verhältnissen ein innerer Zusammenhang der heranwachsenden Generation zu dem fortgepflegten Alten doch nicht aufkommen kann, müßte das geistige Leben immer mehr versumpfen. Die Seelen dieser Generation würden veröden durch das un­wahrhaftige Stehen in einer Lebensauffassung, die ihnen nicht innerer Kraftquell werden könnte. Die Menschen würden seelenleere Wesen innerhalb der aus dem Indu­strialismus hervorgehenden Gesellschaftsordnung.

Damit dieses nicht geschehe, erstrebt die Bewegung nach dem dreigliedrigen sozialen Organismus die völlige Los­lösung des Unterrichtswesens von dem Staats- und Wirt­schaftsleben. Die soziale Gliederung der am Unterrichts­wesen beteiligten Persönlichkeiten soll von keinen anderen Mächten abhängen als nur von dem an diesem Wesen mit-beschäftigten Menschen. Die Verwaltung der Unterrichtsanstalten,

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die Einrichtung der Lehrgänge und Lehrziele soll nur von Personen besorgt werden, die zugleich lehren, oder sonst produktiv im Geistesleben sich betätigen. Jede solche Person würde ihre Zeit teilen zwischen Unterrichten oder sonstigem geistigen. Schaffen und Verwalten des Unter­richtswesens. Wer sich vorurteilslos in eine Beurteilung des geistigen Lebens einzulassen vermag, der kann einsehen, daß die lebendige Kraft, die man zum Organisieren und Ver­walten des Erziehungs- und Unterrichtswesens braucht, nur in der Seele erwachsen kann, wenn man tätig im Unterrich­ten oder sonstigem geistigen Hervorbringen drinnen steht.

Voll zugeben wird dieses für unsere Gegenwart wohl nur derjenige, der unbefangen sieht, wie eine neue Quelle des Geisteslebens sich eröffnen muß zum Aufbau unserer zusammengebrochenen Gesellschaftsordnung. Im Aufsatz «Marxismus und Dreigliederung» habe ich auf den richtigen, aber einseitigen Gedanken Engels hingewiesen: «An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen.» So richtig das ist, so wahr ist das andere, daß in den gesell­schaftlichen Ordnungen der Vergangenheit das Leben der Menschen nur möglich war, weil mit der Leitung der wirt­schaftlichen Produktionsprozesse zugleich die Menschen mitregiert wurden. Hört dieses Mitregieren auf, so müssen die Menschen aus dem frei auf sich gestellten Geistesleben die Lebensantriebe empfangen, welche durch die bisherigen Regierungsimpulse in ihnen wirkten.

Zu alledem kommt noch ein anderes. Das Geistesleben gedeiht nur, wenn es als Einheit sich entfalten kann. Aus derselben Entwickelung der Seelenkräfte, aus der eine be­friedigende, den Menschen tragende Weltauffassung stammt,

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muß auch die produktive Kraft kommen, die den Menschen zum rechten Mitarbeiter im Wirtschaftsleben macht. Prak­tische Menschen für das äußere Leben werden doch nur aus einem solchen Unterrichtswesen hervorgehen, das in gesun­der Art auch die höheren Weltanschauungstriebe zu ent­wickeln vermag. Eine Gesellschaftsordnung, die nur Sachen verwaltet und Produktionsprozesse leitet, müßte nach und nach auf ganz schiefe Wege kommen, wenn ihr nicht Men­schen mit gesund entwickelten Seelen zugeführt würden.

Ein Neuaufbau unseres gesellschaftlichen Lebens muß daher die Kraft gewinnen, das selbständige Unterrichts­wesen einzurichten. Wenn nicht mehr Menschen über Men­schen in der alten Art «regieren» sollen, so muß die Mög­lichkeit geschaffen werden, daß der freie Geist in jeder Menschenseele so kraftvoll, als es in den menschlichen Indi­vidualitäten jeweilig möglich ist, zum Lenker des Lebens wird. Dieser Geist läßt sich aber nicht unterdrücken. Ein­richtungen, die aus den bloßen Gesichtspunkten einer wirt­schaftlichen Ordnung das Schulwesen regeln wollten, wären der Versuch einer solchen Unterdrückung. Sie würde dazu führen, daß der freie Geist aus seinen Naturgrundlagen heraus fortdauernd revoltieren würde. Die kontinuierliche Erschütterung des Gesellschaftsbaues wäre die notwendige Folge einer Ordnung, die aus der Leitung der Produktions­prozesse zugleich das Schulwesen organisieren wollte.

Wer diese Dinge überschaut, für den wird die Begrün­dung einer Menschengemeinschaft, welche die Freiheit und Selbstverwaltung des Erziehungs- und Schulwesens energisch erstrebt, zu einer der wichtigsten Zeitforderungen. Alle anderen notwendigen Zeitbedürfnisse werden ihre Befrie­digung nicht finden können, wenn auf diesem Gebiete das

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Rechte nicht eingesehen wird. Und es bedarf eigentlich nur des unbefangenen Blickes auf die Gestalt unseres gegen­wärtigen Geisteslebens mit seiner Zerrissenheit, mit seiner geringen Tragkraft für die menschlichen Seelen, um dieses Rechte einzusehen.

WAS NOTTUT

Man wird den Wirklichkeitssinn, der in der Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus lebt, nicht finden, wenn man diese mit den Gedanken vergleicht, die man sich über das praktisch Mögliche aus den Überlieferungen heraus angeeignet hat, in welche man durch Erziehung und Lebensgewohnheiten hineingewachsen ist. Daß diese Überlieferungen zu Denk- und Empfindungsgewohnheiten geführt haben, über welche das Leben hinausgewachsen ist, dies ist ja gerade der Grund unserer gesellschaftlichen und staatlichen Wirrnis. Wer daher sagt: die Dreigliederung berücksichtige nicht, aus welchen Antrieben bisher die menschlichen Einrichtungen erwachsen sind, der lebt in dem Wahn, die Überwindung dieser Antriebe sei eine Sünde wider jede mögliche Gesellschaftsordnung. Die Idee von der Dreigliederung ist aber auf der Erkenntnis aufgebaut, daß der Glaube an die weitere Tragkraft dieser Antriebe das stärkste Hemmnis bildet für einen gesunden, mit der gegenwärtigen Entwickelungsstufe der Menschheit rechnenden Fortschrittsimpuls.

Daß die alten Antriebe nicht weiter fortgepflegt werden können, das sollte man aus der Tatsache erkennen, daß sie ihre Stoßkraft für das produktive Arbeiten der Menschen

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verloren haben. Die alten wirtschaftlichen Antriebe der Kapitalrentabilität und des Lohnerträgnisses konnten ihre Stoßkraft nur so lange behaupten, als von den alten Lebensgütern noch genügend übriggeblieben war von dem, für das der Mensch Neigung und Liebe entwickeln konnte. Diese Lebensgüter zeigen sich deutlich in dem abgelaufenen Zeitalter erschöpft. Und immer zahlreicher wurden die Menschen, die als Kapitalisten nicht mehr wußten, wofür sie Kapital anhäufen sollten; immer zahlreicher auch wurden die Menschen, die, im Lohnverhältnis stehend, nicht wußten, wofür sie arbeiteten.

Die Erschöpfung der im Staatsgefüge wirkenden Antriebe zeigte sich darin, daß es in der neuesten Zeit für viele Menschen fast zu einer Selbstverständlichkeit wurde, den Staat für einen Selbstzweck anzusehen und zu vergessen, daß der Staat um der Menschen willen da ist. Man kann den Staat nur als einen Selbstzweck ansehen, wenn man die innere individuelle Selbstbehauptung des Menschenwesens so weit verloren hat, daß man für diese Selbstbehauptung und aus ihr heraus nicht die entsprechenden Staatseinrichtungen fordert. Dann muß man nämlich in allerlei Einrichtungen des Staates dessen Wesen suchen, die seiner eigentlichen Aufgabe zuwiderlaufen. Man wird erfüllt werden, mehr in die Einrichtungen des Staates hineinzulegen, als für die Selbstbehauptung der in ihm vereinigten Menschen notwendig ist. Jedes solche Mehr des Staates ist aber ein Zeugnis für ein Weniger der den Staat tragenden Menschen.

Im geistigen Leben offenbart sich die Unfruchtbarkeit der alten Antriebe in dem Mißtrauen, das man dem Geiste überhaupt entgegenbringt. Was aus den ungeistigen Lebensverhältnissen erwächst, dafür hat man Interesse; darüber

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bildet man sich Anschauungen und Gedanken. Was aus geistiger Produktion stammt, das betrachtet man am liebsten als persönliche Angelegenheit des produzierenden Menschen. Man behindert es eher, als daß man es förderte, wenn es in das öffentliche Leben aufgenommen werden will. Es gehört zu den verbreitetsten Eigentümlichkeiten unserer zeitgenössischen Menschen, daß ihnen ein offener Sinn für individuelle Geistesleistungen ihrer Mitmenschen fehlt.

Die Gegenwart bedarf des Hinschauens auf diese ihre Abgebrauchtheit in bezug auf die wirtschaftlichen, die staatlichen, die geistigen Antriebe. Aus diesem Hinschauen muß sich ein energisches soziales Wollen entzünden. Ehe man nicht erkennt, daß in unserer wirtschaftlichen, staatlichen, geistigen Not nicht bloß äußere Lebensverhältnisse wirksam sind, sondern die Seelenverfassung des neueren Menschen, ist die Grundlage zu dem notwendigen Neubau noch nicht gegeben.

Es ist ein Zwiespalt in die Seelenverfassung der Menschheit eingetreten. In den instinktiven, unbewußten Regungen der Menschennatur rumort ein Neues. In dem bewußten Denken wollen die alten Ideen den instinktiven Regungen nicht folgen. Wenn aber die besten instinktiven Regungen nicht von Gedanken erleuchtet sind, die ihnen entsprechen, dann werden sie barbarisch, animalisch. In eine gefährliche Lage treibt die Menschheit der Gegenwart hinein durch die Animalisierung ihrer Instinkte. Rettung ist nur zu finden durch Erstreben neuer Gedanken für eine neue Weltlage.

Ein Ruf nach Sozialisierung, der dieses nicht berücksichtigt, kann zu nichts Heilsamem führen. Die Scheu, den Menschen als seelisches, als geistiges Wesen zu betrachten, muß überwunden werden. Einseitige Umwandlung des

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Wirtschaftslebens, einseitige Neugestaltung der staatlichen Struktur ohne die Pflege einer sozial gesunden und fruchtbaren Seelenverfassung ist geeignet, die Menschheit in Illusionen zu wiegen, statt sie mit Wirklichkeitssinn zu durchdringen. Und weil nur wenige sich entschließen können, die Lebensfrage der Gegenwart und der nächsten Zukunft in dem umfassenden Sinne einer Frage der äußeren Einrichtung und der inneren Erneuerung zu sehen, darum kommen wir auf dem Wege zur sozialen Neugestaltung so langsam vorwärts. Wenn viele sagen: die innere Erneuerung erfordere eine lange Zeit, man dürfe sie nicht überstürzen, so lauert hinter solchen Reden eben die Scheu vor dieser Erneuerung. Denn die rechte Stimmung kann nur die sein: alles tatkräftig ins Auge zu fassen, was zur Erneuerung führen kann, und dann zuzusehen, wie langsam oder wie schnell die Lebensfahrt vorwärts kommen wird.

Die Ereignisse der letzten Jahre haben eine gewisse Ermüdung über die Seelenverfassungen der Zeitgenossen ausgegossen. Um der kommenden Generationen willen, um der Kultur der nächsten Zukunft willen, muß diese Ermüdung bekämpft werden. Aus solchen Empfindungen heraus ist die Idee der Dreigliederung an die Öffentlichkeit getreten. Sie mag vielleicht unvollkommen, sie mag ganz schief sein; ihre Träger werden verstehen, wenn man sie vom Gesichtspunkte anderer neuer Ideen bekämpft. Daß man sie oft «unverständlich» findet, weil sie dem gewohnten Alten widerspricht, das können sie aber nicht als ein Zeichen betrachten, daß bei solchen Bekämpfern der Ruf gehört wird, der aus der Entwickelung der Menschheit für unsere Zeit sich doch, wie man glauben sollte, deutlich genug vernehmen läßt.

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ARBEITSFÄHIGKEIT, ARBEITSWILLE UND DREIGLIEDRIGER SOZIALER ORGANISMUS

Sozialistisch denkende Persönlichkeiten sehen in der bis­herigen Form des Gewinnes innerhalb des Wirtschaftslebens einen Arbeitsantrieb, von dessen Beseitigung die Herbeiführung gesünderer sozialer Zustände, als die bisherigen sind, abhängt. Für solche Persönlichkeiten wird die Frage drängend: Was wird die Menschen veranlassen, ihre Fähig­keiten in einem notwendigen Stärkegrade in den Dienst des wirtschaftlichen Produzierens zu stellen, wenn der Egois­mus, der im Gewinn seine Befriedigung findet, sidl nicht mehr ausleben kann? Man kann nicht sagen, daß dieser Frage genügend Sorgfalt bei denen zugewandt wird, die an Sozialisierung denken. Die Forderung: in Zukunft dürfe der Mensch nicht mehr für sich, sondern er müsse «für die Gemeinschaft» arbeiten, bleibt wesenlos, solange man nicht wirklichkeitsgemäße Erkenntnisse darüber entwickeln kann, auf welche Art man Menschenseelen dazu bestimmen kann, daß sie «für die Gemeinschaft» ebenso willig arbeiten, wie für sich selbst. Man könnte sich allerdings der Meinung hingeben, eine zentrale Verwaltung werde jeden Menschen an seinen Arbeitsplatz stellen, und dann werde durch diese Organisation der Arbeit auch möglich sein, die Arbeitsprodukte in gerechter Art von der Zentralverwaltung aus zu verteilen. Allein eine solche Meinung fußt auf einer Illusion. Sie rechnet zwar damit, daß die Menschen Kon­sumbedürfnisse haben und daß diese befriedigt werden müssen; aber sie rechnet nicht damit, daß das bloße Bewußtsein vom Vorhandensein dieser Konsumbedürfnisse in dem Menschen nicht eine Hingabe an die Produktion hervorruft,

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wenn er nicht für sich, sondern für die Gemeinschaft produzieren soll. Er wird durch dieses bloße Bewußtsein, für die Gesellschaft zu arbeiten, keine Befriedigung empfin­den. Deshalb wird ihm daraus kein Arbeitsantrieb erstehen können.

Man sollte durchschauen, daß man in dem Augenblicke einen neuen Arbeitsantrieb schaffen muß, in dem man daran denkt, den alten des egoistischen Gewinnes zu beseitigen. Eine Wirtschaftsverwaltung, welche diesen Gewinn nicht innerhalb der in ihrem Kreislauf wirkenden Kräfte hat, kann von sich aus überhaupt keine Wirkung auf den mensch­lichen Arbeitswillen ausüben. Und gerade dadurch, daß sie dies nicht kann, erfüllt sie eine soziale Forderung, bei der ein großer Teil der Menschheit auf der gegenwärtigen Stufe seiner Entwickelung angelangt ist. Dieser Teil der Mensch­heit will nicht mehr durch den wirtschaftlichen Zwang an die Arbeit gebracht werden. Er möchte aus Antrieben heraus arbeiten, welche der Würde des Menschen mehr entsprechen. Zweifellos ist diese Forderung bei vielen Menschen, an die man bei ihrer Erhebung denken muß, eine mehr oder weniger unbewußte, instinktive; aber im sozialen Leben bedeuten solche unbewußte, instinktive Impulse etwas weit Wichtigeres als die Ideen, die man bewußt vorbringt. Diese bewußten Ideen verdanken ihren Ursprung oft nur der Tatsache, daß die Menschen nicht die geistige Kraft haben, wirklich zu durchschauen was in ihnen vorgeht. Befaßt man sich mit solchen Ideen, so bewegt man sich im Wesenlosen. Es ist deshalb notwendig, trotz dem Täuschenden solcher Oberflächenideen auf wahre Forderungen der Menschen, wie die gekennzeichnete, die Aufmerksamkeit zu richten. Andererseits ist auch nicht in Abrede zu stellen, daß niedrige

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menschliche Instinkte in einer Zeit, in welcher, wie in der Gegenwart, das soziale Leben wilde Wogen wirft, ihr Wesen treiben. Man wird aber die Forderung nach einem menschenwürdigen Dasein, die berechtigt in obigem Sinne erhoben wird, nicht ertöten, wenn man das Walten nied­riger menschlicher Instinkte benützt, um auch sie anzu­klagen.

Wenn eine Organisation des Wirtschaftswesens entstehen soll, die keine Wirkung auf den Arbeitswillen der Men­schen haben kann, so muß diese Wirkung von einer anderen Organisation kommen. Die Idee vom dreigliedrigen sozialen Organismus trägt der Tatsache Rechnung, daß das Wirt­schaftsleben auf der gegenwärtigen Entwickelungsstufe der zivilisierten Menschheit nur im Wirtschaften sich erschöpfen soll. Die Verwaltung eines solchen Wirtschaftslebens wird durch ihre Organe feststellen können, welches der Umfang der Konsumbedürfnisse ist; wie in bester Art die Erzeug­nisse an die Konsumenten gebracht werden können; in welchem Umfange das eine oder andere Produkt erzeugt werden soll. Allein sie wird kein Minel haben, in dem Menschen den Produktionswillen zu erzeugen; und sie wird auch nicht in der Lage sein, die Erziehungs- und Unter­richtseinrichtungen zu treffen, durch die jene individuellen Fähigkeiten der Menschen gepflegt werden, welche die Quelle des Wirtschaftens bilden müssen. In dem alten, bis in die Gegenwart reichenden Wirtschaftssystem pflegten die Menschen diese Fähigkeiten, weil sie sich eben der Hoffnung auf persönlichen Gewinn hingeben konnten. Es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, wenn man glauben wollte, daß das bloße Gebot von Wirtschaftsverwaltungen, die nur das Wirtschaften im Auge haben, lusterweckend auf die Ausbildung

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von individuellen menschlichen Fähigkeiten wirken könne, und daß ein solches Gebot Kraft genug hätte, den Menschen zur Einsetzung seines Arbeitswillens zu veran­lassen. Daß man sich diesem Irrtum nicht hingebe, das will die Idee vom dreigliedrigen sozialen Organismus. Sie will in dem freien, auf sich selbst gestellten Geistesleben ein Gebiet schaffen, in dem der Mensch lebensvoll verstehen lernt, was die menschliche Gesellschaft ist, für die er arbeiten soll; ein Gebiet, in dem er die Bedeutung einer Einzelarbeit im Gefüge der ganzen gesellschaftlichen Ordnung so durch­schauen lernt, daß er diese Einzelarbeit wegen ihres Wertes für das Ganze lieben lernt. Sie will in dem freien Geistes­leben die Grundlagen schaffen, die ein Ersatz sein können für den Antrieb, der aus der persönlichen Gewinnsucht kommt. Nur in einem freien Geistesleben kann eine solche Liebe zur menschlichen gesellschaftlichen Ordnung entstehen, wie sie etwa der Künstler zu dem Entstehen seiner Werke hat. Will man aber nicht daran denken, in einem freien Geistesleben eine solche Liebe zu pflegen, so gebe man nur alles Streben nach einem Neubau der sozialen Ordnung auf. Wer daran zweifelt, daß die Menschen zu solcher Liebe erziehbar sind, der muß auch zweifeln an der Möglichkeit, den persönlichen Gewinn aus dem Wirtschaftsleben auszu­schalten. Wer nicht daran glauben kann, daß ein freies Geistesleben in dem Menschen solche Liebe erzeugt, der weiß eben nicht, daß die Abhängigkeit des Geisteslebens von Staat und Wirtschaft die Sucht nach persönlichem Ge­winn hervorbringt, und daß diese Sucht nicht ein elemen­tarisches Ergebnis der Menschennatur ist. Auf diesem Irr­tum beruht es, daß so häufig gesagt wird, zur Verwirklichung der Dreigliederung seien andere Menschen als die gegenwärtigen

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nötig. Nein, die Menschen werden durch den drei­gliedrigen Organismus so erzogen, daß sie anders werden, als sie bisher durch die Staatswirtschaftsordnung waren.

Und wie das freie Geistesleben die Antriebe zur Aus­bildung der individuellen Fähigkeiten erzeugen wird, so wird das demokratisch orientierte Rechtsstaatsleben dem Arbeitswillen die notwendigen Impulse geben. In den wirk­lichen Beziehungen, die sich herstellen werden zwischen den in einem sozialen Organismus vereinigten Menschen, wenn jeder Mündige gegenüber jedem Mündigen seine Rechte regeln wird, kann es liegen, daß der Wille sich entzündet, «für die Gemeinschaft» zu arbeiten. Man sollte daran den­ken, daß durch solche Beziehungen ein wahres Gemein­samkeitsgefühl erst entstehen und aus diesem Gefühl der Arbeitswille erwachsen kann. Denn in der Wirklichkeit wird ein solcher Rechtsstaat die Folge haben, daß ein jeder Mensch lebendig, mit vollem Bewußtsein, in dem gemein­samen Arbeitsfelde darinnen steht. Er wird wissen, wofür er arbeitet; und er wird arbeiten wollen innerhalb der Arbeitsgemeinschaft, in die er sich durch seinen Willen ein­gegliedert weiß.

Wer die Idee des dreigliedrigen sozialen Organismus an­erkennt, der durchschaut, daß die Großgenossenschaft mit staatsgemäßer Struktur, die von dem marxistischen Sozia­lismus angestrebt wird, keine Antriebe erzeugen kann für Arbeitsfähigkeit und Arbeitswillen. Er will, daß über der Wirklichkeit der äußeren Lebensordnung nicht die wirk­liche Wesenheit des Menschen vergessen werde. Denn Lebenspraxis kann nicht bloß die Rechnung machen mit äußeren Einrichtungen; sie muß in die Rechnung einstellen, was der Mensch ist und werden kann.

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SOZIALISTISCHE SEELENBLINDHEIT

Es scheint, daß viele Menschen deshalb sich in die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus nicht hineinfinden können, weil sie fürchten, diese Idee wolle in der Organisation des gesellschaftlichen Lebens auseinanderreißen, was in der Wirklichkeit in ungetrennter Einheit Zusammenwirken muß. Nun ist richtig, daß der im wirtschaftlichen Leben tätige Mensch durch sein Wirtschaften in rechtliche Verhältnisse zu seinem Mitmenschen kommt, und daß sein geistiges Leben von diesen Rechtsverhältnissen abhängig ist und auch bedingt ist von seiner wirtschaftlichen Lage. Im Menschen sind diese drei Lebensbetätigungen vereinigt; indem er sein Leben führt, ist er in alle drei verstrickt.

Gibt dies aber auch einen Grund ab, daß diese drei Lebensbetätigungen von einem Mittelpunkte her verwaltet werden? Und bedingt es, daß alle drei nach denselben Prinzipien verwaltet werden? Im Menschen und seiner Tätigkeit fließt doch vieles zusammen, was aus den verschiedensten Quellen stammt. Er ist abhängig von den Eigenschaften, die ihm von seinen Vorfahren vererbt sind. Er denkt und handelt aber auch im Sinne dessen, was die Erziehung anderer Menschen, die nicht mit ihm verwandt sind, aus ihm gemacht hat. Wie sonderbar wäre es, wenn jemand behaupten wollte, der Mensch als Einheit würde zerrissen, weil von verschiedenen Seiten her Vererbung und Erziehung auf ihn wirken? Muß nicht vielmehr gesagt werden, daß der Mensch unvollkommen bliebe, wenn die Vererbung und die Erziehung aus einem Quell heraus an der Gestaltung seines Lebens arbeiteten?

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Was so von Natur aus von verschiedenen Seiten her auf den Menschen einströmen muß, um gerade durch diese Verschiedenheit den Bedürfnissen seines Wesens zu entsprechen, das versteht man, weil das Nicht-Verstehen absurd wäre. Aber man will sich nicht einlassen auf die Erkenntnis, daß Entwickelung der geistigen Fähigkeiten, Ordnung der rechtlichen Verhältnisse, Gestaltung des wirtschaftlichen Lebens nur dann den Menschen recht in ihre Kreise aufnehmen können, wenn sie innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung, in der er lebt, von verschiedenen Mittelpunkten her, nach verschiedenen Gesichtspunkten geregelt werden. Ein Wirtschaftsleben, das von sich aus die Rechte der wirtschaftenden Menschen ordnet und nach den in ihm waltenden Interessen die Menschen erziehen und unterrichten läßt, macht den Menschen zu einem Rade im Wirtschaftsmechanismus. Es verkümmert seinen Geist, der sich nur frei entfalten kann, wenn er sich seinen eigenen Impulsen gemäß entfaltet. Es verkümmert auch die gefühlsmäßigen Beziehungen zu seinen Mitmenschen, die nicht berührt sein wollen von der Stellung zu diesen Mitmenschen, die er durch seine wirtschaftliche Lage einnimmt; die vielmehr nach einer Regelung drängen im Sinne der Gleichheit aller Menschen in bezug auf das Reinmenschliche. - Ein Rechts- oder Staatsleben, das die Entwickelung der individuellen menschlichen Fähigkeiten verwaltet, drückt auf diese Entwickelung wie eine schwere Last; denn es wird aus den sich in ihm ergebenden Interessen heraus naturgemäß auch dann die Tendenz entwickeln, diese Fähigkeiten nach seinen Bedürfnissen, nicht nach deren eigener Natur zu entfalten, wenn anfangs der beste Wille dazu vorhanden ist, den Eigenartigkeiten der Menschen Rechnung zu tragen. Und ein

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solches Rechtsleben drängt den von ihm betriebenen Wirtschaftszweigen einen Charakter auf, der nicht aus den Wirtschaftsbedürfnissen selbst kommt. Der Mensch wird innerhalb eines solchen Rechtslebens geistig beengt und wirtschaftlich durch Bevormundung an der Entfaltung von Interessen behindert, die seinem Wesen angemessen sind. — Ein Geistesleben, das von sich aus Rechtsverhältnisse feststellen wollte, müßte aus der Ungleichheit der menschlichen Fähigkeiten heraus auch zu einer Ungleichheit der Rechte kommen; und es müßte seine wahre Natur verleugnen, wenn es durch die Hingabe an wirtschaftliche Interessen sich in seiner Betätigung bestimmen ließe. Der Mensch könnte in einer so gearteten Geisteskultur nicht zu einem rechten Bewußtsein davon kommen, was der Geist seinem Leben wahrhaft sein kann; denn er sähe den Geist durch Ungerechtigkeit sich entwürdigen und durch wirtschaftliche Ziele sich verfälschen.

Es ist die Menschheit der zivilisierten Welt in ihre gegenwärtige Lage dadurch gekommen, daß die drei Lebensgebiete in bezug auf vieles im Laufe der letzten Jahrhunderte zum Einheitsstaate zusammengewachsen sind. Und es besteht die Unruhe der gegenwärtigen Zeit darinnen, daß eine unübersehbar große Menge von Menschen unbewußt des eigentlichen Charakters ihres Strebens darnach drängt, diese drei Lebensgebiete im sozialen Organismus als besondere Glieder so auszubilden, daß das Geistesleben frei aus seinen eigenen Impulsen heraus sich gestalten kann; das Rechtsleben demokratisch auf die Auseinandersetzung - die unmittelbare oder mittelbare - einander gleichgeltender Menschen gebaut werde; das Wirtschaftsleben nur in Warenerzeugung, Warenkreislauf und Warenkonsum sich entfalte.

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Man kann von verschiedenen Ausgangspunkten her zu der Einsicht kommen, daß die Dreigliederung des sozialen Organismus notwendig sei. Einer dieser Ausgangspunkte ist die Erkenntnis der Menschennatur in der Gegenwart. Man mag es vom Gesichtspunkte einer gewissen sozialen Theorie und Parteimeinung recht unwissenschaftlich und unpraktisch finden, wenn gesagt wird, daß bei der Einrichtung des menschlichen Zusammenlebens die Psychologie gefragt werden muß, insofern diese Psychologie erkennt, was der Menschennatur angemessen ist. Es wäre aber doch ein unermeßliches Unglück, wenn alle die Menschen mundtot gemacht würden, welche dieser «sozialen Psychologie» ihr Recht bei Ausgestaltung des sozialen Lebens wahren wollen. Wie es farbenblinde Menschen gibt, welche die Welt «grau in grau» sehen, so gibt es psychologieblinde Sozialreformer und Sozialrevolutionäre, welche den sozialen Organismus als Wirtschaftsgenossenschaft ausgestalten möchten, in der die Menschen selber wie mechanisierte Wesen leben. Und diese psychologieblinden Agitatoren wissen selbst nichts von ihrer Blindheit. Sie wissen ja nur das, daß es ein Rechts- und ein Geistesleben neben dem Wirtschaftsleben immer gegeben hat; und sie glauben, wenn sie das Wirtschaftsleben nach ihrem Ermessen gestalten, dann komme alles andere «von selbst». Es wird nicht kommen; es wird ruiniert werden. Darum ist die Verständigung mit den Psychologie-Blinden recht schwierig; darum ist es leider auch notwendig, daß der Kampf mit ihnen aufgenommen werde, der nicht von den Psychologie-Sehenden, sondern von ihnen ausgeht.

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SOZIALISTISCHE ENTWICKELUNGSHEMMUNGEN

Ideen, die mit der Wirklichkeit rechnen, aus der die heutigen aufgeregten Menschheitsforderungen entsprungen sind, und die mit den Bedingungen im Einklang stehen, unter denen Menschen geistig, politisch und wirtschaftlich zusammenleben können, werden gegenwärtig übertönt von solchen, die nach beiden Richtungen hin lebensfremd sind. Die Menschen, die sich aus den bisherigen Lebensverhältnissen heraus nach anderen sehnen, oder die durch die Weltereignisse aus diesen Verhältnissen schon tatsächlich herausgerissen sind: sie waren bis jetzt den Kräften, welche diese Verhältnisse an die geschichtliche Oberfläche getrieben haben, so ferne gestanden, daß ihnen die Einsicht in die Wirkungs­weise und Bedeutung dieser Kräfte gänzlich fehlt. Die pro­letarischen Massen verlangen, aus einem dumpfen Bewußt­sein heraus, nach einer Änderung derjenigen Lebensverhält­nisse, in welche sie sich versetzt sehen, und in denen sie eine Wirkung des von kapitalistischen Kräften verwalteten neueren Wirtschaftslebens sehen. Aber sie sind durch die Art ihrer bisherigen Mitarbeit an diesem Wirtschaftsleben nicht eingeweiht worden in die Wirkungsweise dieser Kräfte. Deshalb können sie nicht zu fruchtbaren Vorstellungen dar­über kommen, in welchem Sinne diese Wirkungsweise eine Umwandlung erfahren muß. Und die intellektuellen Füh­rer und Agitatoren der proletarischen Massen sind verblen­det durch theoretisch-utopistische Ideen, welche durchaus einer sozialen Wissenschaft entstammen, die sich noch an Wirtschaftsanschauungen orientierte, die einer Umwand­lung dringend bedürfen. Diese Agitatoren haben noch nicht einmal ein ahnendes Bewußtsein davon, daß sie über Politik,

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Wirtschaft und Geistesleben keine anderen Gedanken haben, als die «bürgerlichen Denker», die sie bekämpfen, und daß sie im Grunde nichts anderes anstreben, als die bisherigen Gedanken nicht von den Menschen verwirk­lichen zu lassen, die sie bis jetzt verwirklicht haben, sondern von anderen. Aber es entsteht nicht ein wahrhaft Neues da­durch, daß das Alte von anderen Menschen in einer etwas anderen Art als früher getan wird.

Zu den «alten Gedanken» gehört, das Wirtschaftsleben mit politisch-rechtlichen Machtmitteln beherrschen zu wollen. Dies ist deshalb ein «alter Gedanke», weil er einen großen Teil der Menschheit in eine Lage gebracht hat, deren Un­haltbarkeit die Weltkriegskatastrophe tatsächlich erwiesen hat. Der neue Gedanke, durch den dieser alte ersetzt wer­den muß, ist: die Befreiung der Wirtschaftsverwaltung von jedem politisch-rechtlichen Machteinschlag; ist: die Leitung der Wirtschaft nach Richtlinien, die sich nur aus den Quellen der Wirtschaft und aus deren Interessen heraus ergeben.

Man könne sich doch eine Gestaltung des Wirtschafts­lebens nicht denken, ohne daß die wirtschaftenden Men­schen in politisch-rechtlichen Beziehungen dieses Leben ab­wickeln. So wird von Leuten eingewendet, die zu glauben vorgeben, wer von der Dreigliederung des sozialen Orga­nismus rede, der habe keine Einsicht in eine solche Selbst­verständlichkeit. In Wahrheit will aber derjenige, der diese Einwendung erhebt, nicht darüber eine Einsicht gewinnen, welche bedeutungsvolle Tragweite es für die Umwandlung des Wirtschaftslebens haben muß, wenn die in ihm waltenden politisch-rechtlichen Anschauungen und Einrichtungen nicht innerhalb der Wirtschaft selbst nach deren Interessen geregelt werden, sondern durch eine außerhalb ihrer stehende

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Leitung, die sich nur von Gesichtspunkten bestimmen lassen kann, welche im Urteilsbereich jedes mündig gewordenen Menschen liegen. Wo liegt der Grund dafür, daß auch viele sozialistisch Denkende eine solche Einsicht nicht gewinnen wollen? Er liegt darin, daß sie durch ihre Teilnahme am politischen Leben sich wohl Vorstellungen gebildet haben über die Art, wie politisch-rechtlich geleitet wird, nicht aber, wie die dem Wirtschaftsleben ureigenen Kräfte beschaffen sind. Deshalb können sie sich zwar ein Wirtschaften den­ken, dessen Leitung nach politisch-rechtlichen Verwaltungsgrundsätzen verfährt, nicht aber ein solches, das aus seinen eigenen Voraussetzungen und Bedürfnissen sich ordnet, und in das die von anderer Seite stammenden Rechtssatzungen hineinwirken. In einer Lage, die hiermit gekennzeichnet ist, sind die meisten Führer und Agitatoren des Proletariats. Ist dessen Masse durch die Tatsachen, die oben angeführt sind, ohne genügende Einsicht in die mögliche Umwand­lungs form des Wirtschaftslebens, so sind dessen Führer nicht besser daran. Sie entfremden sich einer solchen Einsicht da­durch, daß sie ihr ganzes Denken aus dem Umkreis des Politischen nicht heraustreten lassen.

Eine Folge dieser Einspannung des Denkens in das ein­seitig Politische ist die Art, wie man auf verschiedenen Seiten die Einrichtung der Betriebsräte ins Leben rufen will. Das Streben nach einer solchen Einrichtung in der Gegenwart muß entweder im Sinne des gekennzeichneten «neuen Gedankens» erfolgen, oder es wird alle Arbeit, die auf dieses Streben gewendet wird, vergeudet sein. Der «neue Gedanke» aber verlangt, daß man in der Betriebsräteschaft eine erste Institution entstehen lasse, um die sich der «Staat» nicht kümmere, die sich bilden kann aus dem rein wirtschaftlichen

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Denken der am Wirtschaftsleben beteiligten Per­sonen heraus. Und man überlasse es der in einer solchen Art entstehenden Körperschaft, die Anregung zu den Asso­ziationen zu geben, durch deren soziales Zusammenwirken in der Wirtschaft fortan geschehen soll, was vorher durch den egoistischen Wettbewerb Einzelner geschaffen worden ist. Auf die freie soziale Zusammengliederung der einzelnen Produktions- und Konsumtionszweige kommt es an, nicht auf die Verwaltung von Zentralstellen aus nach politischen Verwaltungsgesichtspunkten. Um die durch solche Zusam­mengliederung geförderte wirtschaftliche Initiative der ar­beitenden Menschen, nicht um deren Bevormundung durch Ämter und Oberämter handelt es sich. Ob eine Verwaltung nach politischen Gesichtspunkten durch ein Staatsgesetz über das Wirtschaftsleben gestülpt wird, oder ob von Menschen ein «Rätesystem» für die Wirtschaft ausgedacht wird, die nur nach politischen Gesichtspunkten denken und nur nach solchen Gesichtspunkten organisieren können: das läuft auf dasselbe hinaus. Es mag unter den letzteren Menschen sogar solche geben, die theoretisch eine gewisse Selbständigkeit des Wirtschaftslebens fordern; praktisch kann sich aus ihren Forderungen nur ein Wirtschaftssystem ergeben, das in ein politisches System eingeschnürt ist; denn es ist aus poli­tischem Denken heraus geplant. In einer den gegenwär­tigen Lebensbedingungen der Menschheit entsprechenden Weise wird man über eine solche Einrichtung nur denken, wenn man eine genaue Vorstellung davon hat, wie sich neben dem Wirtschaftssystem das staatlich-rechtliche und das geistige Glied des sozialen Organismus sachgemäß ent­wickeln sollen. Denn man wird sich ein Bild des selbstän­digen Wirtschaftslebens nur machen können, wenn man in

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der Gesamtgestalt des sozialen Organismus das an seinem rechten Orte sieht, was in dem Wirtschaftskreislauf nicht sein soll. Sieht man die rechten Orte für die Entfaltung des geistigen und des rechtlichen Lebens nicht, so wird man immer versucht sein, beides in irgendeiner Art mit dem Wirtschaftsleben zu verschmelzen.

WAS «NEUER GEIST» FORDERT

An den unfruchtbaren Diskussionen, die gegenwärtig in vielen Kreisen über die Betriebsräte gepflogen werden, kann man deutlich wahrnehmen, wie wenig noch Verständnis vorhanden ist für die Forderungen, die der Menschheit aus ihrer geschichtlichen Entwickelung heraus für Gegenwart und nächste Zukunfl erwachsen sind. Von der Einsicht, daß in Demokratie und sozialer Lebensgestaltung zwei im Menschenwesen der neueren Zeit selbst liegende Antriebe sich ausleben wollen, davon ahnen die meisten von denen, die in solchen Diskussionen mitreden, nichts. Beide Antriebe werden so lange beunruhigend und zerstörend im öffent­lichen Leben wirken, bis man es zu Einrichtungen bringt, in denen sie sich entfalten können, aber der soziale Antrieb, der im Wirtschaftskreislauf wird leben müssen, kann sich, seinem Wesen nach, nicht demokratisch offenbaren. Ihm kommt es darauf an, daß die Menschen im wirtschaftlichen Produzieren den rechtmäßigen Bedürfnissen ihrer Mitmen­schen Rechnung tragen. Eine von diesem Antrieb geforderte Regelung des Wirtschaftskreislaufes muß auf das gebaut sein, was die wirtschaftenden Personen füreinander tun. Diesem Tun aber müssen Verträge zugrunde liegen, die herauswachsen

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aus den wirtschaftlichen Positionen der wirt­schaftenden Menschen. Zum Abschluß dieser Verträge ist, wenn sie sozial wirken sollen, zweierlei nötig. Erstens müssen sie entspringen können aus der freien, auf Einsicht ruhenden Initiative der Einzelmenschen; zweitens müssen diese einzelnen Menschen in einem Wirtschaftskörper leben, in dem die Möglichkeit gegeben ist, durch solche Verträge die Leistung des Einzelnen in der denkbar besten Weise der Gesamtheit zuzuführen. Die erste Forderung kann nur erfüllt werden, wenn sich kein politisch gearteter Verwal­tungseinfluß zwischen den wirtschaftenden Menschen und sein Verhältnis zu den Quellen und Interessen des Wirt­schaftslebens stellt. Der zweiten Forderung wird Rech­nung getragen, wenn Verträge nicht nach den Forderungen des ungeregelten Marktes, sondern nach den Bedingungen geschlossen werden, die sich ergeben, indem sich den Be­dürfnissen gemäß Betriebszweige untereinander und mit Konsumgenossenschaften assoziieren, so daß die Warenzirkulation im Sinne dieser Assoziationen verläuft. Durch das Bestehen dieser Assoziationen ist den wirtschaftenden Personen der Weg vorgezeichnet, den sie in jedem einzelnen Falle zur vertraglichen Regelung ihrer Tätigkeit nehmen sollen.

Für ein in dieser Art gestaltetes Wirtschaftsleben gibt es kein Parlamentarisieren. Es gibt nur das fachkundige und fachtüchtige Stehen in einem Betriebszweige und das Ver­bundensein der eigenen Position mit andern in der sozial zweckmäßigsten Weise. Was innerhalb eines solchen Wirt­schaftskörpers geschieht, das wird nicht durch «Abstimmun­gen» geregelt, sondern durch die Sprache der Bedürfnisse, die durch ihr eigenes Wesen auf das eingeht, was durch den

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fachkundigsten und fachtüchtigsten Menschen geleistet und durch föderativen Zusammenschluß an den rechten Ort seines Verbrauches geleitet wird.

Aber wie im natürlichen Organismus das eine Organ­system sich durch seine eigene Tätigkeit auflösen müßte, wenn es nicht durch ein anderes reguliert würde, so muß auch das eine Glied des sozialen Organismus durch andere reguliert werden. Was durch die wirtschaftenden Menschen im Wirtschaftskörper geschieht, müßte im Laufe der Zeit zu den seiner Wesenheit entsprechenden Schädigungen füh­ren, wenn nicht durch die politisch-rechtliche Organisation, -die ebenso sicher auf demokratischer Grundlage ruhen muß, wie dies das Wirtschaftsleben nicht kann - der Entstehung solcher Schädigungen entgegengearbeitet würde. Im demo­kratischen Rechtsstaate ist das Parlamentarisieren berech­tigt. Was da entsteht, das wirkt in der wirtschaftenden Be­tätigung der Menschen ausgleichend auf die Neigung des Wirtschaftslebens, zu Schädigungen zu führen. Wollte je­mand das Wirtschaftsleben selbst in die Verwaltung der Rechtsstruktur einspannen, so benähme er ihm seine Tüch­tigkeit und seine Beweglichkeit. Das Recht muß von den wirtschaftenden Menschen von einer außerhalb des Wirt­schaftslebens liegenden Stelle empfangen und im Wirt­schaftsleben nur angewendet werden.

Die Erörterung über solche Dinge müßte da gepflogen werden, wo man sich mit der Einrichtung von Betriebsräten beschäftigt. Statt dessen herrscht da ein Herumreden von Gesichtspunkten aus, die dem alten Prinzip entsprechen, die politische Gesetzgebung nach den Interessen der wirtschaftenden Gruppen zu gestalten. Daß gegenwärtig eben andere Gruppen nach diesem Prinzip verfahren wollen als

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früher, das ändert nichts an der Tatsache, daß ein neuer Geist heute da noch fehlt, wo man seiner schon dringend bedürftig ist.

Es liegen die Verhältnisse heute so, daß erst dann eine Gesundung des öffentlichen Lebens eintreten kann, wenn von einer genügend großen Anzahl von Menschen die wah­ren sozialen, politisch-rechtlichen und geistigen Forderun­gen der Gegenwart durchschaut werden. Von Menschen, die den guten Willen und die Kraft haben, anderen das auf diesem Felde notwendige Verständnis zu vermitteln. Aber die Dinge stehen auch so, daß die noch vorhandenen Hemm­nisse für diese Gesundung verschwinden werden in dem Maße, als sich die hier charakterisierte Einsicht verbreitet. Denn es ist nur ein politisch-sozialer Aberglaube, daß diese Hemmnisse objektiver, außerhalb der menschlichen Einsicht liegender Wesenheit sind. Das behaupten nur diejenigen, die niemals begreifen, welches das wirkliche Verhältnis von Idee und Praxis ist. Solche Menschen sagen: die Idealisten haben ja wohl gute oder gutgemeinte Ideen; aber, «sowie die Dinge einmal liegen, lassen sich diese Ideen nicht verwirk­lichen». Nein, so ist es nicht, sondern so, daß für die Ver­wirklichung gewisser Ideen in der Gegenwart das einzigeHin­dernis diejenigen Menschen bilden, welche den eben gekenn­zeichneten Glauben und dazu die Macht haben, im Sinne dieses Glaubens hemmend zu wirken. Und eine solche Macht haben auch diejenigen, mit denen die Volksmassen aus früheren Parteigruppierungen heraus als mit ihren «Führern» zusammengeschlossen sind, und denen sie gehorsam folgen. Daher ist eine Grundbedingung der Gesundung die Auf­lösung dieser Parteigruppierungen und die Hebung des Verständnisses für Ideenbildungen, die aus der praktischen

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Einsicht selbst herauswachsen ohne allen Zusammenhang mit Partei- und Gruppenmeinungen von ehemals. Es ist eine brennende Frage der Gegenwart, daß Mittel und Wege gefunden werden, an die Stelle der Parteimeinungen diese unabhängigen Ideenbildungen zu setzen, die Kristallisa­tionskerne abgeben können für den Zusammenschluß von Menschen von allen Parteiseiten her. Von solchen Menschen, die in der Lage sind, zu erkennen, daß die bestehenden Par­teien sich überlebt haben, und daß die sozialen Zustände der Gegenwart ein vollgültiger Beweis für diese Überlebt­heit sind.

Es ist begreiflich, daß den Menschen, denen diese Er­kenntnis nottut, sie nicht leicht wird. Den Massen nicht, weil deren Angehörige nicht Zeit und Muße und oftmals nicht die Vorschulung haben, die erforderlich sind. Den Führern nicht, weil ihre Vorurteile und ihre Macht in dem wurzeln, was sie bisher vertreten haben. Daß dieses beides besteht, macht die Verpflichtung nur um so dringlicher, über die Parteitraditionen der Gegenwart hinaus> nicht innerhalb derselben, den wahren Fortschritt der Mensch­heit zu suchen. Es genügt heute nicht, bloß zu wissen, was an die Stelle des Bisherigen an Einrichtungen treten soll; es ist notwendig, daran zu arbeiten, die neuen Ideenbildun­gen in eine solche Richtung zu bringen, daß sie die Auflösung des alten Parteiwesens so schnell als möglich be­wirken und zum Streben der Menschen nach neuen Zielen führen. Wer dazu nicht den Mut hat, der kann nichts bei­tragen zur Gesundung des sozialen Lebens; und wer den Aberglauben hat, solches Streben sei eine Utopie, der baut auf einen Boden, der im Einsinken ist.

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WIRTSCHAFTLICHER PROFIT UND ZEITGEIST

Über den Profit des wirtschaftlichen Unternehmers be­stehen einander bekämpfende Ansichten. Seine Verteidiger sagen, der Mensch ist so geartet, daß er für irgendeine der Gesamtheit dienende Unternehmung seine Fähigkeiten nur einsetzt, wenn er durch die Aussicht auf den Profit dazu veranlaßt wird. Daher entspringe zwar der Profit aus dem Egoismus; aber er leiste der Gesamtheit Dienste, die sie entbehren müßte, wenn sie ihn aus dem Wirtschaftskreislauf ausschalten würde. Die Bekämpfer dieser Ansicht sagen, es soll nicht produziert werden, um zu profitieren, sondern um zu konsumieren. Man müsse Einrichtungen treffen, deren Wesen darin besteht, daß Menschen ihre Kräfte zum Nutzen der Gesamtheit gebrauchen, auch wenn sie dazu nicht durch die Aussicht auf Profit verlockt werden.

Mit solchen sich widerstreitenden Meinungen geht es im öffentlichen Leben zumeist so, daß man sie nicht zu Ende denkt, sondern die Macht über sie entscheiden läßt. Ist man demokratisch gestimmt, so findet man berechtigt, daß Ein­richtungen verwirklicht werden, oder, wenn sie bestehen, verwirklicht bleiben, die den Interessen und Wünschen der Mehrheit entsprechen. Ist man eigensinnig von der Rechtmäßigkeit dessen überzeugt, was den eigenen Wünschen und Interessen gemäß ist, so strebt man nach einer autori­tativen Zentralgewalt, welche Einrichtungen trifft, die im Sinne dieser Wünsche und Interessen gehalten sind. Man will dann nur selbst auf diese Zentralgewalt so viel Einfluß gewinnen, daß durch sie geschieht, was man erstrebt. Was man heute «Diktatur des Proletariats» nennt, entspringt die­ser Gesinnung. Die es fordern, tun dies aus ihren Wünschen

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und Interessen heraus; sie versuchen nicht durch ein wirklich­keitsgemäßes Denken zu erfahren, ob ihre Forderung auf Einrichtungen hinzielt, die in sich sachlich möglich sind.

Die Menschheit steht gegenwärtig in einem Punkte ihrer Entwickelung, in dem ein solches Wirken im Zusammen­leben der Menschen, das nur auf Geltendmachung des Ge­wünschten geht, nicht mehr möglich ist. Ganz unabhängig von dem, was dieser oder jener Mensch, diese oder jene Menschengruppe will: im Bereich des öffentlichen Lebens werden von der Gegenwart an nur Bestrebungen gesund wirken, die von Gedanken ausgehen, welche zu Ende ge­dacht sind. Wie stark man sich auch aus der menschlichen Leidenschaft heraus wehren mag, dieses von dem Geiste der Menschheit geforderte Wirken zu Ende gedachter Ideen in das Leben eintreten zu lassen: man wird sich zuletzt zu ihm wenden müssen, weil man sehen wird, daß sein Gegen­teil sozial ungesunde Folgen hat.

In dem Sinne von zu Ende gedachten Gedanken ist die Ansicht von der notwendigen Dreigliederung des sozialen Organismus gehalten. Mit dieser Absicht stimmt es aller­dings schlecht zusammen, daß unter den Bekämpfern dieser Ansicht viele sind, die sie unklar finden. Dies rührt davon her, daß solche Bekämpfer für ihre eigenen Gedanken nicht Klarheit erstreben, sondern lediglich die Übereinstimmung mit ihren Interessen, Wünschen und Vorurteilen. Stehen sie dann Gedanken gegenüber, die Sachliches zu Ende denken, dann tritt ihnen nichts anderes vor Augen, als der Wider­streit mit dem von ihnen Gemeinten; und sie rechtfertigen sich unklar vor sich selbst, indem sie das ihnen Widerstrei­tende unklar finden.

In die Beurteilung der wirtschaftlichen Bedeutung des

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Profites drängen sich Meinungen ein, die sachlich nicht be­rechtigt sind. Gewiß ist auf der einen Seite, daß das Profitstreben egoistisch ist. Unzulänglich aber ist, mit diesem Egoismus als mit einem Urteilsgrunde zu rechnen, wenn man daran denkt, den Profit aus dem Wirtschaftskreislauf auszuschalten. Denn in diesem Kreislauf muß etwas sein, an dem man erkennt, ob für ein erzeugtes Gut ein Bedürfnis vorhanden ist. In der gegenwärtigen Wirtschaftsform kann diese Erkenntnis einzig aus der Tatsache geschöpft werden, daß das Gut Profit abwirft. Ein Gut, das Profit abwirft, der im wirtschaftlichen Zusammenhang genügend groß ist, kann produziert werden; ein solches, das keinen Profit abwirft, soll nicht erzeugt werden, denn es muß ein Stören­fried werden in der Preisausgleichung der zirkulierenden Güter. Der Profit mag in ethischer Beziehung was immer bedeuten; in wirtschaftlicher Beziehung ist er in der her­gebrachten Wirtschaftsform das Erkennungszeichen für die Notwendigkeit der Erzeugung eines Gutes.

Für die Fortentwickelung des Wirtschaftslebens handelt es sich darum, den Profit aus dem Grunde auszuschalten, weil er die Gütererzeugung dem Zufall des Marktes ausliefert, den zu beseitigen eine Forderung des Geistes der Zeit ist. Man umnebelt sich aber das gesunde Urteil, wenn man in die Bekämpfung des Profits den Hinweis auf seine egoi­stische Natur einfließen läßt. Denn im Leben kommt es darauf an, daß man in einem Wirklichkeitsgebiete diejeni­gen Gründe geltend macht, die in diesem Gebiete sachlich berechtigt sind. Gründe, die aus einem andern Gebiete kommen, mögen noch so richtig an sich sein: das notwen­dige Urteil können sie nicht in die sachlich bedingte Richtung bringen.

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Für das Wirtschaftsleben handelt es sich darum, daß das Erkennungszeichen des Profits abgelöst werde durch das Wirken von Personen, die in dem Wirtschaftskreislauf mit der Aufgabe eingeschaltet werden, die Vermittlung zwi­schen Konsum und Produktion in vernunftgemäßer Weise zu besorgen, so daß der Zufall des Marktes wegfällt. Die rechte Einsicht in diese Umwandlung von Profiterkennungszeichen in vernunftgemäßes Handeln ergibt, daß diejenigen Motive, die bisher in unklarer Weise das Urteil auf diesem Felde getrübt haben, aus dem Wirtschaftsleben ausgeschieden und auf die Gebiete des Rechts- und des Geisteslebens übergeführt werden.

Erst wenn man einsehen wird, wie die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus ihre Gestaltung aus dem Streben erhalten hat, für ein sach- und fach­gemäßes Handeln auf den verschiedenen Gebieten des Lebens die gesunden Grundlagen zu schaffen, wird man diese Idee gerecht beurteilen und ihren praktischen Wert richtig einschätzen. Solange ungeordnet rechtsgemäße und geistgetragene Antriebe aus Verwaltungseinrichtungen des Wirtschaftslebens kommen sollen, die nur praktisch sein können, wenn in ihnen nichts als sachliches und fachtüch­tiges Urteilen und Handeln herrscht, kann das soziale Leben nicht gesunden. In den Parteigruppierungen der Gegenwart walten Motive, die sich von den gekennzeichneten Forde­rungen des Geistes der Zeit noch ferne halten. Das bewirkt, daß die in diesen Parteigruppierungen bestehenden Mei­nungen die Idee von der Dreigliederung des sozialen Orga­nismus mit Vorurteilen aufnehmen müssen. Aber notwendig ist, daß der Glaube schwinde, man könne eine Umwand­lung ungesunder sozialer Zustände heute bewirken durch

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die weitere Betätigung der alten Parteibestrebungen. Woran man vielmehr zu allererst zu denken hat, ist die Umwand­lung der Parteimeinungen selbst. Dazu ist aber nicht das der Weg, daß sich von den bestehenden Parteien Teile abspalten, deren Angehörige dann vorgeben, die «rechte» Parteimeinung zu vertreten, und die den anderen vorwer­fen, die «rechte Anschauung» verlassen zu haben. Denn dies führt aus dem Streit um Parteimeinungen zu dem noch übleren um die Macht bestimmter Personengruppen. Ge­braucht aber wird in der Gegenwart unbefangene Einsicht in die Forderungen des «Geistes der Zeit».

GEISTESPFLEGE UND WIRTSCHAFTSLEBEN

Von «Sozialisierung» reden heute viele Menschen so, als ob damit eine Summe von äußeren Einrichtungen im Staate oder in dem gesellschaftlichen Zusammenleben gemeint sein könnte, durch die gewisse Forderungen der neueren Mensch­heit ihre Erfüllung finden sollen. Man stellt sich vor, diese Einrichtungen seien jetzt noch nicht da; deswegen herrsche soziale Unzufriedenheit und Wirrnis. Wenn sie einmal da sein werden, dann müsse ein geordnetes soziales Zusammenleben und Zusammenwirken der Menschen eintreten. Daß sich viele einer solchen Meinung, mehr oder weniger deutlich bewußt, hingeben, ist der Grund, aus dem heraus sich viele schädliche Vorstellungen über die «soziale Frage» entwickeln. Denn man kann nicht äußere Einrichtungen so gestalten, daß diese durch sich den Menschen ein sozial be­friedigendes Leben ermöglichen. Solche Einrichtungen wer­den technisch gut sein, wenn durch sie in der zweckmäßigsten

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Art Güter erzeugt und dem menschlichen Gebrauche zugeführt werden können. Sozial gut werden sie aber erst dann, wenn in ihnen sozial gesinnte Menschen die erzeugten Güter im Dienste der Gemeinschaft verwalten. Wie auch die Einrichtungen sein mögen: es ist immer ein Wirken von Menschen oder Menschengruppen denkbar, das antisozialen Charakter trägt.

Man sollte sich nicht der Illusion hingeben, daß ohne «sozial gestimmte» Menschen ein sozial befriedigender Lebenszustand herbeigeführt werden könne. Denn eine solche Illusion ist für die wirklich praktischen sozialen Ideen ein Hindernis. Die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus strebt nach völliger Freiheit von einer derartigen Illusion. Es ist daher begreiflich, daß sie von allen denen heftig befehdet wird, die heute noch im trüben Nebel diese Illusion leben. In dem einen der drei Glieder des sozialen Organismus strebt diese Idee ein Zusammenwirken von Menschen an, das ganz auf den freien Verkehr und die freie Vergesell­schaftung von Individualität zu Individualität begründet ist. In keine vorbestimmte Einrichtung werden da die Individualitäten hineingezwängt. Wie sie einander stützen und fördern, das soll lediglich daraus sich ergeben, was der eine dem andern durch seine Fähigkeiten und Leistungen sein kann. Es ist nicht weiter verwunderlich, daß sich viele Menschen gegenwärtig noch gar nichts anderes vorstellen können, als daß bei solch freier Gestaltung der menschlichen Verhältnisse im geistigen Gliede des sozialen Organismus nur anarchische Zustände innerhalb desselben sich ergeben müßten. Wer so denkt, der weiß eben nicht, welche Kräfte der innersten Menschennatur dadurch an ihrer Entfaltung verhindert werden, daß der Mensch in die Schablonen hinein

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entwickelt wird, die ihn vom Staats- oder Wirtschaftsleben aus formen. Solche Kräfte der innersten Menschennatur können nicht durch Einrichtungen entfaltet werden, sondern allein dadurch, daß Menschenwesen auf Menschenwesen in völliger Freiheit wirkt. Und was da entfaltet wird, das wirkt nicht antisozial, sondern sozial. Das sozial wirksame, menschliche Innere wird nur verkümmert, wenn Instinkte vererbt oder anerzogen werden, die von staat­licher Bevorrechtung oder wirtschaftlicher Übermacht herrühren.

Der dreigliedrige soziale Organismus wird durch sein geistiges Glied fortwährend Quellen bloßlegen für soziale Antriebe. Diese werden die rechtlichen Beziehungen der Menschen, die im demokratischen Staate ihre Regelung finden sollen, mit sozialem Geiste durchtränken, und sie werden auch in die Führung des Wirtschaftslebens diesen Geist hineintragen.

Im Wirtschaftskreislauf wird durch die Lebensformen der neueren Zeit die Tendenz nach dem Antisozialen nicht zu verhindern sein. Denn es wird der Gemeinschaft am besten gedient, wenn ungehemmt der einzelne seine Fähig­keit zum Gedeihen dieser Gemeinschaft anwenden kann. Dazu aber ist notwendig, daß dieser einzelne Kapital an­sammeln, und daß er auch mit andern sich frei vereinigen kann zur wirtschaftlichen Auswertung dieses Kapitales. Sozialistische Illusion hat geglaubt, daß diese immer mehr angesammelten Kapitalmassen zuletzt von ihren Privatbesitzern einfach an die Gemeinschaft übergehen könnten und sich dadurch eine sozialistische Gesellschaftsordnung verwirklichen müßte. In Wahrheit müßte durch solchen Übergang die wirtschaftliche Fruchtbarkeit des Kapitals

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verlorengehen; denn diese beruht auf den individuellen Fähigkeiten der einzelnen. Man sollte sich rückhaltlos ein­gestehen: Der Wirtschaftskreislauf wird dann am lebenskräftigsten sein, wenn ihm auf seinem eigenen Gebiete die Tendenz zum Antisozialen nicht genommen wird; dafür ihm aber fortdauernd aus einem anderen Gebiete, dem gei­stigen Gliede des sozialen Organismus, Kräfte zugeführt werden, welche das entstehende Antisoziale wieder zum Sozialen zurückbringen.

In meinen «Kernpunkten der sozialen Frage» habe ich versucht, zu zeigen, daß eine wahrhaft soziale Denkungsart nicht anstreben kann die Überführung der Kapitalverwal­tung durch den einzelnen oder durch die Menschengruppe in diejenige durch die Gemeinschaft; sondern daß, im Ge­genteil, der einzelne die Möglichkeit haben müsse, unge­hemmt seine Fähigkeiten durch Kapitalverwertung in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen, und daß, wenn dieser einzelne seine Fähigkeiten nicht mehr auf die Kapitalver­wertung wenden will oder kann, diese übertragen werden müsse auf einen andern, der gleiche Fähigkeiten hat. Diese Übertragung soll nicht durch staatliche Bevorreditung oder wirtschaftliche Macht bewirkt werden, sondern durch das auf Grund der Erziehung im freien Geistesleben erworbene Herausfinden desjenigen als Nachfolger, der vom sozialen Gesichtspunkte der geeigneteste ist.

Der in dieser Art von der Heilung unserer sozialen Zu­stände spricht, sieht im Geiste den Hohn aller derer, die sich heute als Lebenspraktiker ansehen. Er muß diesen Hohn zunächst ertragen, obwohl er weiß, daß die Ge­sinnung der also Höhnenden die furchtbare Menschheits­katastrophe der letzten Jahre heraufgeführt hat. Dieser

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Hohn wird noch einige Zeit andauern können. Dann aber werden selbst die verbohrtesten Menschen dieser Art nicht mehr standhalten gegenüber der Lehre der sozialen Tat­sachen. Die Phrase wird dann verstummen müssen, daß Vorschläge wie der von der Dreigliederung gut gemeint sein mögen, daß aber zu ihrer Durchführung die «Menschen nicht da sind». Die Präger dieser Phrase sind allerdings nicht «dazu da». So mögen sie sich doch zurückziehen und durch ihre brutale Macht diejenigen am fruchtbaren Ar­beiten nicht hindern, die gerne dafür sorgen möchten, daß in einem freien Geistesleben die sozialen Triebe der Men­schen zur Entfaltung kommen.

RECHT UND WIRTSCHAFT

Unter den mancherlei Einwendungen, welche gegen die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus gemacht werden können, ist eine, die man etwa in der folgen­den Art vorbringen kann. Die Anstrengungen der politisch Denkenden in der neueren Zeit liefen auf einem gewissen Felde darauf hinaus, Rechtszustände zu schaffen, welche den wirtschaftlichen Produktionsverhältnissen, die sich im Laufe dieser Zeit ergeben haben, Rechnung tragen. All die Arbeit, welche nach dieser Richtung geleistet worden ist, so kann man sagen, läßt die Idee von der Dreigliederung unberücksichtigt und will einfach das Rechtsleben loslösen vom Wirtschaftsleben.

Wer diesen Einwand erhebt, der glaubt mit ihm diese Idee von der Dreigliederung als etwas abfertigen zu können, das die Erfahrungen der Lebenspraktiker in den

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Wind schlägt und das ohne diese Erfahrungen an der Ge­staltung des sozialen Lebens mitwirken will. In Wahrheit ist aber das Umgekehrte vorliegend. Die Gegner der Dreigliederung sagen: Man sollte die Schwierigkeiten in Erwägung ziehen, die sich bei allen Versuchen ergeben haben, für die modernen Produktionsverhältnisse entsprechende Rechtszustände zu finden. Man sollte bedenken, welche Widerstände diejenigen gefunden haben, die solche Ver­suche gemacht haben. Der Bekenner der Dreigliederung aber muß sagen: Gerade diese Schwierigkeiten sind ein Be­weis dafür, daß man auf dem unrichtigen Wege gesucht hat. Man wollte durchaus eine solche Gestaltung des ge­sellschaftlichen Lebens finden, in der sich aus dem einheit­lich geordneten Wirtschafts- und Rechtswesen heraus die Erfüllung gewisser neuzeitlicher Forderungen ergibt. Aber man sollte sehen, daß im Wirtschaftsleben, wenn es zweckmäßig geführt wird, Zustände entstehen, die dem Rechtsbewußtsein entgegenwirken müssen, wenn nicht außerhalb des Wirtschaftskreislaufes dieser Wirkung entgegengearbeitet wird. Für das Wirtschaftsleben besteht ein Interesse daran, daß Personen oder Personengruppen, die für einen Produk­tionsbetrieb besonders befähigt sind, zu Kapitalansammlungen für diesen Betrieb kommen können. Denn nur durch das, was von befähigten Menschen durch die Verwaltung großer Kapitalmassen auf gewissen Gebieten geleistet wird, kann in der Gegenwart der Allgemeinheit am besten ge­dient werden. Aber dieser Dienst kann, nach dem Wesen des Wirtschaftslebens, nur darin bestehen, daß für diese Allgemeinheit am besten die Güter erzeugt werden, die sie braucht. Mit dieser Gütererzeugung wird nun den Men­schen, die ihr dienen, eine gewisse wirtschaftliche Macht in

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die Hände gespielt. Daß dies nicht anders sein kann, damit rechnet die Idee von der Dreigliederung. Deshalb will sie, daß soziale Zustände erstrebt werden, in denen diese Macht zwar entstehen kann, aber in denen durch sie keine sozialen Schäden sich bilden können. Die Ansammlung von Kapitalmassen bei einzelnen will sie nicht unterbinden, weil sie einsieht, daß damit auch die Möglichkeit verschwinden würde, die Fähigkeiten dieser einzelnen in den sozialen Dienst der Allgemeinheit zu stellen. Aber sie will, daß in dem Augenblicke, in dem der einzelne nicht mehr die Ver­waltung der in seinem Machtbereich befindlichen Produk­tionsmittel besorgen kann, diese übergeleitet werden auf einen anderen Befähigten. Dieser soll sie nicht durch seine wirtschaftlichen Machtmittel erwerben können, sondern durch die Tatsache, daß er der Befähigtste ist. Das läßt sich aber nur verwirklichen, wenn die Übertragung nach Ge­sichtspunkten erfolgt, die mit den wirtschaftlichen Macht­mitteln nichts zu tun haben. Solche Gesichtspunkte können sich nur ergeben, wenn die Menschen mit ihren Interessen auch noch in anderen als in den wirtschaftlichen Lebenskreisen drinnenstehen. Ist Mensch und Mensch verbunden auf einem Rechtsboden, der andere als wirtschaftliche In­teressen erzeugt, so werden sich diese Interessen geltend machen können. Geht der Mensch ganz auf in den Inter­essen, die nur das Wirtschaftsleben erzeugt, so entstehen jene anderen Interessen gar nicht. Soll der im Besitze von Produktionsmitteln Befindliche überhaupt das Gefühl ent­wickeln, daß nicht derjenige in einer wirtschaftlichen Posi­tion am besten wirkt, der diese durch seine wirtschaftliche Macht erwirbt, sondern durch seine Befähigung, so muß dieses Gefühl heranwachsen auf einem Lebensboden, der

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neben dem wirtschaftlichen geschaffen wird. Auf seinem eigenen Boden erzeugt das Wirtschaftsleben wohl den Sinn für wirtschaftliche Macht, aber nicht zugleich denjenigen für soziales Recht. Deshalb mußten die Versuche scheitern, aus dem wirtschaftlichen Denken selbst das soziale Recht hervorzuzaubern.

Mit solchen in der Wirklichkeit des Lebens begründeten Dingen rechnet die Idee von der Dreigliederung des so­zialen Organismus. Für sie ist die Erfahrung maßgebend, welche diejenigen gemacht haben, die moderne Rechtsver­hältnisse für die modernen Wirtschaftsformen schaffen wollten. Aber sie wird durch diese Erfahrungen nicht dazu geführt, zu den vielen gescheiterten Versuchen einen neuen hinzuzufügen, der in demselben Sinne gehalten ist. Sie will soziale Rechte nicht aus einem Lebensgebiete entstehen lassen, aus denen sie nicht entstehen können, sondern sie will, daß das Leben sich bilde, aus dem heraus diese Rechte erst hervorgehen können. Der Wirtschaftskreislauf hat in der neueren Zeit dieses Leben verschlungen; es muß aus ihm erst wieder befreit werden. Die Idee von der Dreigliederung kann nur durchschaut werden, wenn man sich darauf einläßt, zu verstehen, wie das Wirtschaftsleben fort­während die Korrektur seiner eigenen Kräfte von außen braucht, wenn es in sich nicht Wirkungen erzeugen soll, die es hemmen. Eine solche Korrektur wird ihm zugeführt, wenn neben ihm ein selbständiges Geistesleben und ein selbständiger Rechtsboden für die Zuführung sorgen. Da­durch wird nicht die Einheit des gesellschaftlichen Lebens zerstört, sondern in Wahrheit erst im rechten Sinne hervor­gerufen. Diese Einheit wird nicht dadurch bewirkt, daß man sie durch eine zentrale Macht ordnet, sondern dadurch,

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daß man sie aus dem Zusammenwirken derjenigen Kräfte entstehen läßt, die als einzelne für sich leben wollen, um das Leben eines Ganzen zu bewirken. Man sollte die Er­fahrungen, die man mit den Versuchen gemacht hat, für das neuere Wirtschaftsleben aus diesem selbst heraus Rechts­verhältnisse zu schaffen, also nicht so betrachten, daß man aus ihnen Einwände gegen die Dreigliederung formt; son­dern man sollte einsehen, daß diese Erfahrungen auf ge­radem Wege dahin führen, die Idee der Dreigliederung als die von dem modernen Leben geforderte anzuerkennen.

SOZIALER GEIST UND SOZIALISTISCHER ABERGLAUBE

Wenn die Ursachen der modernen sozialen Bewegung besprochen werden, so weist man unter anderem darauf hin, daß weder der Besitzer der Produktionsmittel noch der Arbeiter an denselben in der Lage ist, dem Erzeugnis etwas mitzuteilen, was aus einem unmittelbaren persönlichen In­teresse an demselben stammt. Der Besitzer der Produktionsmittel läßt die Erzeugnisse herstellen, weil sie ihm Gewinn bringen; der Arbeiter, weil er seinen Lebensunter­halt verdienen muß. Eine Befriedigung an dem hergestellten Produkte als solchem hat weder der eine noch der andere. Man trifft in der Tat einen wesentlichen Teil der sozialen Frage, indem man in dieser Art auf den Mangel eines per­sönlichen Verhältnisses der Erzeuger zu ihren Erzeugnissen in der modernen Wirtschaftsordnung hindeutet. Aber man wird sich auch bewußt werden müssen, daß dieser Mangel die notwendige Folge der neueren Technik und der damit

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verbundenen Mechanisierung der Arbeitsweise ist. Er kann innerhalb des Wirtschaftslebens selbst nicht beseitigt wer­den. Was im Großbetrieb bei weitgehender Arbeitsteilung hergestellt wird, kann dem Hersteller nicht so nahe liegen wie dem mittelalterlichen Handwerker sein Produkt. Man wird sich damit abfinden müssen, daß für einen großen Teil der menschlichen Arbeit die Art des Interesses, die früher vorhanden war, dahin ist. Man sollte aber auch darüber sich klar sein, daß der Mensch nicht ohne Interesse arbeiten kann. Zwingt ihn das Leben dazu, so fühlt er sein Dasein als öde und unbefriedigend.

Wer es ehrlich mit der sozialen Bewegung meinen will, der muß daran denken, für das hingeschwundene Interesse ein anderes zu finden. Man wird dazu aber nicht imstande sein, wenn man den Wirtschaffsprozeß zum alleinigen In­halt des sozialen Organismus und die rechtliche Ordnung und das geistige Leben zu einer Art Anhang desselben machen will. In einer marxistisch geregelten wirtschaftlichen Großgenossenschaft mit Rechtsordnung und Geistesleben als «ideologischen Überbau» müßte die völlige Interesselosig­keit an aller Arbeit das Menschenleben zur Qual machen. Die eine solche Großgenossenschaft herbeiführen wollen, bedenken nicht, daß zwar einige Begeisterung erweckt wer­den kann, durch den Reiz des Strebens nach einem solchen Ziele, daß aber, sobald es verwirklicht ist, dieser Reiz auf­hört und das Eingespanntsein in einen unpersönlichen Ge­sellschaftsmechanismus alles aus den Menschen auspumpen müßte, das im Lebenswillen sich offenbart. Daß ein der­artiges Ziel breite Volksmassen begeistern kann, ist nur ein Ergebnis davon, daß mit dem Schwinden des Interesses an den Arbeitsprodukten nicht das Wachstum eines anderen

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Interesses Platz gegriffen hat. - Die Erweckung eines solchen Interesses müßten sich diejenigen zur Aufgabe machen, die gegenwärtig durch ihren vererbten Anteil an der Geistes­bildung noch in der Lage sind, über die bloß wirtschaft­lichen Bedürfnisse des Menschen hinaus an gesellschaftliche Güter denken zu können. Diese müßten zur Einsicht sich bequemen, daß zwei Interessenkreise an die Stelle des alten an der Arbeit treten müssen. In einer auf Arbeitsteilung beruhenden Gesellschaftsordnung kann die Arbeit auch dann, wenn sie um ihrer selbst willen nicht befriedigt, dies dadurch, daß man sie verrichtet um des Interesses willen, das man an denen hat, für welche man sie leistet. Dieses Interesse aber muß in lebendiger Gemeinschaft entwickelt werden. Eine Rechtsordnung, in welcher der einzelne Mensch als gleicher unter gleichen darinnen steht, erweckt das In­teresse für die Mitmenschen. Man arbeitet in einer solchen Ordnung für die andern, weil man das Verhältnis seiner selbst zu ihnen lebendig begründet. Aus der Wirtschafts­ordnung heraus wird man nur gewahr, was die andern von einem verlangen; in der lebendigen Rechtsordnung wird der eine dem andern wertvoll aus Quellen der Menschennatur heraus, die sich damit nicht erschöpfen, daß die Menschen einander brauchen, um für die Bedürfnisse die entsprechenden Güter zu schaffen.

Zu diesem Interessenkreis, der aus einer gegenüber dem Wirtschaftsleben selbständigen Rechtsordnung sich ergibt, muß noch ein anderer treten. Ein Menschendasein, dessen geistiger Inhalt aus der Wirtschaftsordnung sich ergeben soll, kann bei mangelndem Interesse an den Arbeitsproduk­ten auch dann noch nicht befriedigen, wenn das Interesse des einen Menschen an dem andern durch die Rechtsordnung

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gepflegt wird. Denn es müßte zuletzt doch die Er­kenntnis aufdämmern, daß man gegenseitig für einander bloß um des Wirtschaftens wirtschafte. Das Wirtschaften erhält seinen Sinn nur, wenn es sich dienstbar zeigt einem Inhalt des Menschenlebens, der über das Wirtschaften hin­aus liegt, und welcher von dem Wirtschaften ganz unab­hängig sich offenbart. Die Arbeit, die um ihrer selbst willen nicht befriedigt, wird wertvoll, wenn sie in einem Leben verrichtet wird, das von einem höheren geistigen Gesichts­punkte aus so aufgefaßt werden kann, daß der Mensch Zielen zustrebt, zu denen das Wirtschaftsleben nur das Mittel ist. Ein solcher geistiger Gesichtspunkt ist nur aus einem selbständigen Geistesgliede des sozialen Organismus heraus zu gewinnen. Ein Geistesleben, das der «Überbau» der Wirt­schaftsordnung ist, erscheint nur als das Mittel des Wirt­schaftslebens.

Die Kompliziertheit des modernen Wirtschaftens mit seiner Mechanisierung der menschlichen Arbeit macht als Gegenpol das freie selbständige Geistesleben notwendig. Frühere Lebensepochen der Menschheit vertrugen die Ver­schmelzung von Wirtschaftsinteressen mit geistigen Antrie­ben, weil die Wirtschaft der Mechanisierung noch nicht ver­fallen war. Soll der Mensch in dieser Mechanisierung nicht untergehen, so muß seine Seele sich jederzeit, während er in der mechanischen Arbeitsordnung drinnen steht, frei er­heben können zu den Zusammenhängen, in die er aus einem freien Geistesleben heraus sich versetzt fühlt.

Kurzsichtig ist, wer dem Hinweis auf das freie Geistes­leben und die von der Menschengleichheit geforderte selbständige Rechtsordnung die Meinung entgegenstellt: diese beiden können doch die vor allem bedrückende wirtschaftliche

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Ungleichheit nicht überwinden. Denn die Wirtschafts­ordnung der neueren Zeit hat zu dieser Ungleichheit dadurch geführt, daß sie die Rechtsordnung und die Geistespflege, auf die sie angewiesen ist, noch nicht zur Seite gehabt hat. Das marxistische Denken glaubt, daß jede wirtschaftliche Produktionsform durch sich selbst die folgende als die höhere vorbereitet, und daß, wenn dieser Vorbereitungsprozeß ab­geschlossen ist, durch die «Entwickelung» diese höhere an die Stelle der niederen treten müsse. In Wahrheit hat die neuere Produktionsform sich nicht aus dem alten Wirt­schaften heraus entwickelt, sondern aus den Rechtsformen und den geistigen Vorstellungsarten einer alten Zeit. Diese selbst aber sind, während sie die Wirtschaftsform erneuert haben, veraltet und bedürfen der Verjüngung. Von allen Arten des Aberglaubens ist derjenige der schlimmste, der behauptet, man könne Recht und Geist aus der wirtschaft­lichen Produktionsform hervorzaubern. Denn er verdunkelt nicht bloß das menschliche Vorstellen, sondern das Leben selbst. Er verhindert, daß der Geist sich zu seinem Quell wende, weil er ihm einen Scheinquell in dem Ungeistigen entdecken will. Der Mensch aber läßt sich nur allzu leicht täuschen, wenn man ihm davon spricht, daß der Geist aus dem Ungeist von selbst entstehe; denn durch diese Täuschung glaubt er sich von der Anstrengung befreit, die er als not­wendig anerkennen muß, wenn er einsieht, daß der Geist nur durch den Geist erarbeitet werden kann.

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DIE PÄDAGOGISCHE GRUNDLAGE DER WALDORFSCHULE

Die Absichten, die Emil Molt durch die Waldorfschule verwirklichen will, hängen zusammen mit ganz bestimmten Anschauungen über die sozialen Aufgaben der Gegenwart und der nächsten Zukunft. Aus diesen Anschauungen her­aus muß der Geist erstehen, in dem diese Schule geführt werden soll. Sie ist angegliedert an eine industrielle Unter­nehmung. Die Art, wie sich die moderne Industrie in die Entwickelung des menschlichen Gesellschaftslebens hineingestellt hat, gibt der Praxis der neueren sozialen Bewegung ihr Gepräge. Die Eltern, die ihre Kinder dieser Schule anvertrauen werden, können nicht anders, als erwarten, daß diese Kinder in dem Sinne zur Lebenstüchtigkeit er­zogen und unterrichtet werden, der dieser Bewegung volle Rechnung trägt. Das macht notwendig, daß bei der Begrün­dung der Schule von pädagogischen Prinzipien ausgegangen wird, die in den Lebensforderungen der Gegenwart wur­zeln. Die Kinder sollen zu Menschen erzogen und für ein Leben unterrichtet werden, die den Anforderungen ent­sprechen, für die jeder Mensch, gleichgültig aus welcher der herkömmlichen Gesellschaftsklassen er stammt, sich ein­setzen kann. Was die Praxis des Gegenwartslebens von dem Menschen verlangt, es muß in den Einrichtungen dieser Schule sich widerspiegeln. Was als beherrschender Geist in diesem Leben wirken soll, es muß durch Erziehung und Unterricht in den Kindern angeregt werden.

Verhängnisvoll müßte es werden, wenn in den pädago­gischen Grundanschauungen, auf denen die Waldorfschule aufgebaut werden soll, ein lebensfremder Geist waltete. Ein

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solcher tritt heute nur allzu leicht dort hervor, wo man ein Gefühl dafür entwickelt, welchen Anteil an der Zerrüttung der Zivilisation das Aufgehen in einer materialistischen Lebenshaltung und Gesinnung während der letzten Jahr­zehnte hat. Man möchte, durch dieses Gefühl veranlaßt, in die Verwaltung des öffentlichen Lebens eine idealistische Gesinnung hineintragen. Und wer seine Aufmerksamkeit der Entwickelung des Erziehungs- und Unterrichtswesens zuwendet, der wird diese Gesinnung vor allem andern da verwirklicht sehen wollen. In einer solchen Vorstellungsart gibt sich viel guter Wille kund. Daß dieser anerkannt wer­den soll, ist selbstverständlich. Er wird, wenn er sich in der rechten Art betätigt, wertvolle Dienste leisten können, wenn es sich darum handelt, menschliche Kräfte für ein soziales Unternehmen zu sammeln, für das neue Voraussetzungen geschaffen werden müssen. - Dennoch ist gerade in einem solchen Falle nötig, darauf hinzuweisen, wie der beste Wille versagen muß, wenn er an die Verwirklichung von Absichten geht, ohne die auf Sacheinsicht begründeten Vor­aussetzungen in vollem Maße zu berücksichtigen.

Damit ist eine der Forderungen gekennzeichnet, die heute bei Begründung einer solchen Anstalt in Betracht kommen, wie die Waldorfschule eine sein soll. In ihrem pädagogischen und methodischen Geiste muß Idealismus wirken; aber ein Idealismus, der die Macht hat, in dem aufwachsenden Men­schen die Kräfte und Fähigkeiten zu erwecken, die er im weiteren Lebensverlauf braucht, um für die gegenwärtige Menschengemeinschaft Arbeitstüchtigkeit und für sich einen ihn stützenden Lebenshalt zu haben.

Die Pädagogik und Schulmethodik wird eine solche For­derung nur erfüllen können mit wirklicher Erkenntnis des

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heranwachsenden Menschen. Einsichtige Menschen verlan­gen heute eine Erziehung und einen Unterricht, die nicht auf einseitiges Wissen, sondern auf Können, nicht auf bloße Pflege der intellektuellen Anlagen, sondern auf Ertüchti­gung des Willens hinarbeiten. Die Richtigkeit dieses Ge­dankens kann nicht angezweifelt werden. Allein man kann den Willen und das ihm zugrunde liegende gesunde Gemüt nicht erziehen, wenn man nicht die Einsichten entwickelt, die in Gemüt und Willen tatkräftige Antriebe erwecken. Ein Fehler, der nach dieser Richtung hin in der Gegenwart häufig gemacht wird, besteht nicht darin, daß man zu viel an Einsicht in den aufwachsenden Menschen hineinträgt, sondern darin, daß man Einsichten pflegt, denen die Stoß­kraft für das Leben mangelt. Wer glaubt, den Willen bilden zu können, ohne die ihn belebende Einsicht zu pflegen, der gibt sich einer Illusion hin. - In diesem Punkte klar zu sehen, ist Aufgabe der Gegenwarts-Pädagogik. Dieses klare Sehen kann nur aus einer lebensvollen Erkenntnis des ganzen Menschen hervorgehen.

So wie sie vorläufig gedacht ist, wird die Waldorfschule eine Volksschule sein, die ihre Zöglinge so erzieht und unterrichtet, daß Lehrziele und Lehrplan aufgebaut sind auf die in jedem Lehrer lebendige Einsicht in das Wesen des ganzen Menschen, soweit dies unter den gegenwärtigen Verhältnissen schon möglich ist. Es ist selbstverständlich, daß die Kinder in den einzelnen Schulstufen so weit ge­bracht werden müssen, daß sie den Anforderungen ent­sprechen können, die man nach den heutigen Anschauungen stellt. Innerhalb dieses Rahmens sollen aber Lehrziele und Lehrpläne so gestaltet werden, wie sie sich aus der gekenn­zeichneten Menschen- und Lebenserkenntnis ergeben.

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Der Volksschule wird das Kind anvertraut in einem Lebensabschnitte, in dem die Seelenverfassung in einer be­deutungsvollen Umwandlung begriffen ist. In der Zeit von der Geburt des Menschen bis zum sechsten oder siebenten Lebensjahre ist der Mensch dazu veranlagt, sich für alles, was ihm nächststehende menschliche Umgebung ist, hinzu­geben, und aus dem nachahmenden Instinkt heraus die eigenen werdenden Kräfte zu gestalten. Von diesem Zeit­punkte an wird die Seele offen für ein bewußtes Hinnehmen dessen, was vom Erzieher und Lehrer auf der Grundlage einer selbstverständlichen Autorität auf das Kind wirkt. Die Autorität nimmt das Kind hin aus dem dunklen Ge­fühl heraus, daß in dem Erziehenden und Lehrenden etwas lebt, das in ihm auch leben soll. Man kann nicht Erzieher oder Lehrer sein, ohne mit voller Einsicht sich so zu dem Kinde zu stellen, daß dieser Umwandlung des Nach­ahmungstriebes in die Aneignungsfähigkeit auf Grund selbstverständlichen Autoritätsverhältnisses im umfäng­lichsten Sinne Rechnung getragen wird. Die auf bloße Natureinsicht begründete Lebensauffassung der neueren Menschheit geht nicht mit vollem Bewußtsein an solche Tatsachen der Menschenentwickelung heran. Ihnen kann nur die notwendige Aufmerksamkeit zuwenden, wer Sinn hat für die feinsten Lebensäußerungen des Menschenwesens. Ein solcher Sinn muß in der Kunst des Erziehens und Unterrichtens walten. Er muß den Lehrplan gestalten; er muß in dem Geiste leben, der Erzieher und Zöglinge ver­einigt. Was der Erzieher tut, kann nur in geringem Maße davon abhängen, was in ihm durch allgemeine Normen einer abstrakten Pädagogik angeregt ist; er muß vielmehr in jedem Augenblicke seines Wirkens aus lebendiger Erkenntnis

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des werdenden Menschen heraus neu geboren sein. Man kann natürlich einwenden, solch ein lebensvolles Erziehen und Unterrichten scheitere an Schulklassen mit großer Schülerzahl. Innerhalb gewisser Grenzen ist dieser Einwand gewiß berechtigt; wer ihn über diese Grenzen hinaus macht, der beweist aber dadurch nur, daß er von dem Gesichtspunkte einer abstrakten Norm-Pädagogik aus spricht, denn eine auf wahrer Menschenerkenntnis be­ruhende lebendige Erziehungs- und Unterrichtskunst durch­zieht sich mit einer Kraft, die in dem einzelnen Zögling die Anteilnahme anregt, so daß man nicht nötig hat, ihn durch das unmittelbare, «individuelle» Bearbeiten entsprechend bei der Sache zu halten. Man kann, was man im Erziehen und Unterrichten wirkt, so gestalten, daß der Zögling im Aneignen es selbst individuell für sich faßt. Dazu ist nur nötig, daß, was der Lehrende tut, genügend stark lebt. Wer den Sinn für echte Menschenerkenntnis hat, dem wird der werdende Mensch in einem solch hohen Maße zu einem von ihm zu lösenden Lebensrätsel, daß er in der versuchten Lösung das Mitleben der Zöglinge weckt. Und ein solches Mitleben ist ersprießlicher als ein individuelles Bearbeiten, das den Zögling nur allzu leicht in bezug auf echte Selbst-betätigung lähmt. Wiederum innerhalb gewisser Grenzen gemeint, darf behauptet werden, daß größere Schulklassen mit Lehrern, die voll des von wahrer Menschenerkenntnis angeregten Lebens sind, bessere Erfolge erzielen werden als kleine Klassen mit Lehrern, die, von einer Normpädagogik ausgehend, solches Leben nicht zu entfalten vermögen.

Weniger deutlich ausgeprägt, aber für Erziehungs- und Unterrichtskunst gleich bedeutungsvoll, wie die Umwand­lung der Seelenverfassung im sechsten oder siebenten Lebensjahre,

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findet eine eindringliche Menschenerkenntnis eine solche um den Zeitpunkt der Vollendung des neunten Lebensjahres herum. Da nimmt das Ich-Gefühl eine Form an, welche dem Kinde ein solches Verhältnis zur Natur und auch zur andern Umgebung gibt, so daß man zu ihm mehr von den Beziehungen der Dinge und Vorgänge zu­einander sprechen kann, während es vorher fast ausschließ­lich Interesse entwickelt für die Beziehungen der Dinge und Vorgänge zum Menschen. Solche Tatsachen der Men­schenentwickelung sollen von dem Erziehenden und Unter­richtenden ganz sorgfältig beachtet werden. Denn wenn man in die Vorstellungs- und Empfindungswelt des Kindes hineinträgt, was in einem Lebensabschnitt gerade mit der Richtung der Entwickelungskräfte zusammenfällt, so er­starkt man den ganzen werdenden Menschen so, daß die Erstarkung das ganze Leben hindurch ein Kraftquell bleibt. Wenn man gegen die Entwickelungseinrichtung in einem Lebensabschnitt arbeitet, so schwächt man den Menschen.

In der Erkenntnis der besonderen Anforderungen der Lebensabschnitte liegt die Grundlage für einen sachgemäßen Lehrplan. Es liegt darinnen aber auch die andere Grund­lage für die Art der Behandlung des Lehrstoffes in den aufeinanderfolgenden Lebensabschnitten. Man wird das Kind bis zum vollendeten neunten Lebensjahre in allem, was durch die Kulturentwickelung in das menschliche Leben eingeflossen ist, bis auf eine gewisse Stufe gebracht haben müssen. Man wird gerade die ersten Schuljahre deshalb mit Recht zum Schreibe- und Leseunterricht verwenden müssen; aber man wird diesen Unterricht so gestalten müssen, daß die Wesenheit der Entwickelung in diesem Lebensabschnitt ihr Recht findet. Lehrt man die Dinge so, daß einseitig

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der Intellekt des Kindes und nur ein abstraktes Aneignen von Fertigkeiten in Anspruch genommen werden, so ver­kümmert die Willens- und Gemütsnatur. Lernt dagegen das Kind so, daß sein ganzer Mensch an seiner Betätigung An­teil hat, so entwickelt es sich allseitig. Im kindlichen Zeich­nen, ja selbst im primitiven Malen kommt der ganze Mensch zur Entfaltung eines Interesses an dem, was er tut. Man sollte deshalb das Schreiben aus dem Zeichnen heraus ent­stehen lassen. Aus Formen, an denen der kindlich-künst­lerische Sinn des Kindes zur Geltung kommt, entwickele man die Buchstabenformen. Aus einer Beschäftigung, die als künstlerisch den ganzen Menschen zu sich heranzieht, entwickele man das Schreiben, das zum Sinnvoll-Intellek­tuellen hinführt. Und erst aus dem Schreiben heraus lasse man das Lesen erstehen, das die Aufmerksamkeit stark in das Gebiet des Intellektuellen zusammenzieht.

Durchschaut man, wie stark aus der kindlich-künstle­rischen Erziehung das Intellektuelle herauszuholen ist, so wird man der Kunst im ersten Volksschulunterricht die an­gemessene Stellung zu geben geneigt sein. Man wird die musikalische und auch die bildnerische Kunst in das Unter­richtsgebiet richtig hineinstellen und mit dem Künstlerischen die Pflege der Körperübungen entsprechend verbinden. Man wird das Turnerische und die Bewegungsspiele zum Ausdrucke von Empfindungen machen, die angeregt werden von dem Musikalischen oder von Rezitiertem. Die eurhyth­mische, die sinnvolle Bewegung wird an die Stelle derjenigen treten, die bloß auf das Anatomische und Physiologische des Körpers sich aufbaut. Und man wird finden, welch starke willen- und gemütbildende Kraft in der künstle­rischen Gestaltung des Unterrichtes liegt. Wirklich fruchttragend

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werden aber nur solche Lehrer in der hier an­gedeuteten Art erziehen und unterrichten können, die durch eindringliche Menschenerkenntnis den Zusammenhang durchschauen, der besteht zwischen ihrer Methode und den in einem bestimmten Lebensabschnitt sich offen­barenden Entwickelungskräften. Der ist nicht wirklicher Lehrer und Erzieher, der Pädagogik sich angeeignet hat als Wissenschaft von der Kindesbehandlung, sondern der­jenige, in dem der Pädagoge erwacht ist durch Menschenerkenntnis.

Bedeutungsvoll für die Gemütsbildung ist, daß das Kind vor Vollendung des neunten Lebensjahres die Beziehung zur Welt so entwickelt, wie der Mensch geneigt ist, sie in phantasievoller Art auszugestalten. Wenn der Erziehende selbst nicht Phantast ist, so macht er auch das Kind nicht zum Phantasten, indem er in märchen-fabelartiger und ähnlicher Darstellung die Pflanzen- und Tier-, die Luft- und Sternenwelt in dem Gemüte des Kindes leben läßt.

Wenn man aus einer materialistischen Gesinnung heraus den gewiß innerhalb gewisser Grenzen berechtigten An­schauungsunterricht auf alles mögliche ausdehnen will, so beachtet man nicht, daß in der menschlichen Wesenheit auch Kräfte entwickelt werden müssen, die nicht durch Anschau­ung allein vermittelt werden können. So steht das rein gedächtnismäßige Aneignen gewisser Dinge im Zusammen­hang mit den Entwickelungskräften vom sechsten oder sie­benten bis zum vierzehnten Lebensjahre. Und auf diese Eigenschaft der menschlichen Natur soll der Rechenunter­richt aufgebaut sein. Er kann geradezu zur Pflege der Er­innerungskraft verwendet werden. Berücksichtigt man dieses nicht, so wird man vielleicht gerade im Rechenunterricht

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das anschauliche Element gegenüber dem gedächtnisbilden­den unpädagogisch bevorzugen.

In den gleichen Fehler kann man verfallen, wenn man ängstlich bei jeder Gelegenheit über ein richtiges Maß hin­aus anstrebt, daß das Kind alles verstehen müsse, was man ihm übermittelt. Diesem Bestreben liegt gewiß ein guter Wille zugrunde. Aber dieser rechnet nicht damit, was es für den Menschen bedeutet, wenn er in einem späteren Lebensalter in seiner Seele wieder erweckt, was er sich in einem früheren rein gedächtnismäßig angeeignet hat, und nun findet, daß er durch die errungene Reife jetzt zum Ver­ständnisse aus sich selbst kommt. Allerdings wird notwen­dig sein, daß die bei dem gedächtnismäßigen Aneignen eines Lernstoffes gefürchtete Teilnahmslosigkeit des Zöglings durch die lebensvolle Art des Lehrers verhindert wird. Steht der Lehrer mit seinem ganzen Wesen in seiner Unterrichtstätigkeit drinnen, dann darf er dem Kinde auch beibringen, wofür es im späteren Nacherleben mit Freude das volle Ver­ständnis findet. Und in diesem erfrischenden Nacherleben liegt dann stets Stärkung des Lebensinhaltes. Kann der Lehrer für solche Stärkung wirken, dann gibt er dem Kinde ein unermeßlich großes Lebensgut mit auf den Daseinsweg. Und er wird dadurch auch vermeiden, daß sein «Anschau­ungsunterricht» durch das Übermaß an Einstellen auf das «Verständnis » des Kindes in Banalität verfällt. Diese mag der Selbstbetätigung des Kindes Rechnung tragen; allein ihre Früchte sind mit dem Kindesalter ungenießbar ge­worden; die weckende Kraft, die das lebendige Feuer des Lehrers in dem Kinde entzündet bei Dingen, die in ge­wisser Beziehung noch über sein «Verständnis» hinaus lie­gen, bleibt wirksam durch das ganze Leben hindurch.

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Wenn man mit Naturbeschreibungen aus der Tier- und Pflanzenwelt nach dem vollendeten neunten Lebensjahre beginnt und dieselben so hält, daß aus den Formen und Lebensvorgängen der außermenschlichen Welt die mensch­liche Form und die Lebenserscheinungen des Menschen verständlich werden, so kann man diejenigen Kräfte im Zögling wecken, die in diesem Lebensabschnitt nach ihrem Entbundenwerden aus den Tiefen des Menschenwesens stre­ben. Dem Charakter, den das Ich-Gefühl in dieser Lebensepoche annimmt, entspricht es, das Tier- und Pflanzenreich so anzusehen, daß, was in ihnen an Eigenschaften und Ver­richtungen auf viele Wesensarten verteilt ist, in dem Men­schenwesen als dem Gipfel der Lebewelt wie in einer har­monischen Einheit sich offenbart.

Um das zwölfte Lebensjahr herum ist abermals ein Wende­punkt in der Menschenentwickelung eingetreten. Der Mensch wird da reif, diejenigen Fähigkeiten zu entwickeln, durch die er in einer für ihn günstigen Art zum Begreifen dessen gebracht wird, was ganz ohne Beziehung zum Menschen aufgefaßt werden muß: des mineralischen Reiches, der physikalischen Tatsachenwelt, der Witterungserscheinungen und so weiter.

Wie aus der Pflege solcher Übungen, die ganz aus der Natur des menschlichen Betätigungstriebes heraus gestaltet sind ohne Rücksicht auf die Ziele des praktischen Lebens, sich andere entwickeln sollen, die eine Art Arbeitsunterricht sind, das ergibt sich aus der Erkenntnis des Wesens der Lebensabschnitte. Was hier für einzelne Teile des Lehrstoffes angedeutet ist, läßt sich ausdehnen auf alles, was dem Zögling bis in sein fünfzehntes Lebensjahr hinein zu geben ist.

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Man wird nicht zu befürchten haben, daß der Zögling in einer dem äußeren Leben fremden Seelen- und Körperverfassung aus der Volksschule entlassen wird, wenn in der geschilderten Art auf dasjenige gesehen wird, was aus der inneren Entwickelung des Menschenwesens als Unterrichts- und Erziehungsprinzipien sich ergibt. Denn das menschliche Leben ist selbst aus dieser inneren Entwickelung heraus ge­staltet, und der Mensch wird in der besten Art in dieses Leben eintreten, wenn er durch die Entwickelung seiner Anlagen mit dem zusammenfindet, was aus den gleichgear­teten menschlichen Anlagen heraus Menschen vor ihm der Kulturentwickelung einverleibt haben. Allerdings, um bei­des, die Entwickelung des Zöglings und die äußere Kulturentwickelung, zusammenzustimmen, bedarf es einer Lehrerschaft, die sich nicht mit ihrem Interesse in einer fachmäßigen Erziehungs- und Unterrichtspraktik abschließt, sondern die mit vollem Anteil sich hineinstellt in die Weiten des Lebens. Eine solche Lehrerschaft wird die Möglichkeit finden, in den heranwachsenden Menschen den Sinn für die geistigen Lebensinhalte zu wecken, aber nicht weniger das Verständnis für praktische Gestaltung des Lebens. Bei solcher Haltung des Unterrichtes wird der vierzehn- oder fünfzehnjährige Mensch nicht verständnislos sein für das Wesentliche, was aus der Landwirtschaft, der Industrie, dem Verkehre, dem Gesamtleben der Menschheit dient. Die Einsichten und die Fertigkeiten, die er sich angeeignet hat, werden ihn be­fähigen, sich orientiert zu fühlen in dem Leben, das ihn aufnimmt. Soll die Waldorfschule die Ziele erreichen, die ihrem Begründer vorschweben, so wird sie auf der hier ge­kennzeichneten Pädagogik und Methodik aufgebaut sein müssen. Sie wird dadurch einen Unterricht und eine Erziehung

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geben können, die den Leib des Zöglings seinen Bedürfnissen gemäß sich gesund entwickeln läßt, weil die Seele, deren Ausdruck dieser Leib ist, in der Richtung ihrer Entwickelungskräfte entfaltet wird. Es ist vor der Eröff­nung der Schule versucht worden, mit der Lehrerschaft in einer solchen Art zu arbeiten, daß nach einem Ziele, wie es hier angegeben ist, durch die Schule gestrebt werden kann. Durch diese Zielrichtung glauben diejenigen, die an der Einrichtung der Schule beteiligt sind, in das pädagogische Lebensgebiet zu tragen, was der sozialen Denkungsart der Gegenwart entsprechend ist. Sie fühlen die Verantwortlich­keit, die mit einem solchen Versuch verbunden sein muß; aber sie meinen, daß gegenüber den sozialen Anforderungen der Gegenwart es eine Pflicht ist, derartiges zu unternehmen, wenn eine Möglichkeit dazu vorhanden ist.

DER GRUNDIRRTUM IM SOZIALEN DENKEN

Einer Idee wie derjenigen von der Dreigliederung des sozialen Organismus werden viele Menschen immer wieder entgegenhalten: die soziale Bewegung strebt doch nach Überwindung der wirtschaftlichen Ungleichheiten der Men­schen; wie soll diese erreicht werden durch die Wandlungen, die im Geistesleben und in der Rechtsordnung eintreten, wenn diese gegenüber dem Wirtschaftskreislauf selbständige Verwaltungen haben?

Dieser Einwurf wird von denjenigen gemacht, die zwar sehen, daß die wirtschaftlichen Ungleichheiten vorhanden sind, nicht aber, wie sie von den Menschen, die im sozialen Organismus zusammenleben, hervorgebracht werden. Man

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sieht, daß die ökonomische Ordnung der Gesellschaft sich ausdrückt in der Lebenshaltung der Menschen. Man strebt darnach, daß für viele Menschen die Möglichkeit einer ihnen würdiger erscheinenden Lebenshaltung eintrete. Und man glaubt, diese Möglichkeit werde da sein, wenn gewisse Anderungen in der ökonomischen Ordnung, die man in Aussicht nimmt, eingetreten sein werden.

Der tiefer in die menschlichen Lebensverhältnisse Blickende muß den Hauptgrund der sozialen Mißstände in der Gegenwart darin sehen, daß die eben gekennzeichnete Vorstellungsart die herrschende geworden ist. Es liegt für die Einsicht vieler Menschen die ökonomische Lebens-ordnung zu weit ab von dem, was sie an Vorstellungen über das Geistes- und Rechtsleben haben, als daß sie durch­schauen könnten, wie im Menschenzusammenhange die eine mit den anderen in Beziehung steht. Die ökonomische Lage der Menschen ist ein Ergebnis dessen, wie sie sich durch ihre geistigen Fähigkeiten und durch die unter ihnen bestehende

Rechtsregelung zueinander stellen. Wer das durchschaut, -der wird nicht glauben, er könne ein Wirtschaftssystem

finden, das durch sich die in demselben lebenden Menschen in ihnen würdig erscheinende Lebenshaltungen bringen könne. Ob man innerhalb eines Wirtschaftssystems für seine Leistung die zu einer solchen Lebenshaltung notwendige Gegenleistung finde, das hängt davon ab, wie die Menschen in demselben geistig gestimmt sind und wie sie ihre Ver­hältnisse zueinander aus ihrem Rechtsbewußtsein heraus ordnen.

In den letzten drei bis vier Jahrhunderten hat sich die zivilisierte Menschheit aus Antrieben heraus entwickelt, welche dieses Durchschauen des wahren Verhältnisses zwi­schen

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Wirtschaftsleben und Geistesleben außerordentlich schwierig machen. Der Mensch ist eingesponnen worden in Lebenszusammenhänge, die durch die Errungenschaften der Technik auf wirtschaftlichem Gebiete ein Gepräge ange­nommen haben, das nicht mehr dem entspricht, was er aus vorangehenden Entwickelungszeiten als Geistespflege und Rechtsvorstellungen herangebildet hat. Man ist gewohnt geworden, die geistigen Fortschritte der neueren Zeit mit ungeteilter Anerkennung anzusehen. Man übersieht dabei aber doch, daß diese geistigen Fortschritte hauptsächlich auf den Gebieten gemacht worden sind, die mit dem tech­nisch-wirtschaftlichen Leben unmittelbar zusammenhängen. Gewiß, die Wissenschaft hat gewaltige Errungenschaften aufzuweisen, aber ihre Errungenschaften sind da am größten, wo sie herausgefordert worden sind durch die Anforde­rungen des technisch-wirtschaftlichen Lebens.

Unter dem Einflusse eines solchen geistigen Fortschrittes hat sich in den führenden Kreisen der Menschheit die Denkgewohnheit ausgebildet, alle Lebensverhältnisse aus ökono­mischen Unterlagen heraus zu beurteilen. Sie sind sich in den meisten Fällen dieser Beurteilungsart nicht bewußt. Sie üben sie unbewußt aus. Sie glauben aus allerlei ethischen, ästhetischen Antrieben heraus zu leben; aber sie folgen un­bewußt ihrem aus der technisch-wirtschaftlichen Lebens-ökonomie heraus bestimmten Urteile. Sie denken ökono­misch, während sie glauben, ästhetisch, religiös, ethisch zu leben.

Diese Denkgewohnheit der führenden Klassen ist nun im Laufe der neuesten Zeit bei den sozialistisch Denkenden zum Dogma geworden. Diese meinen alles Leben sei öko­nomisch bedingt, weil diejenigen, von denen sie ihre Mei­nungen

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geerbt haben, die ökonomische Denkart zu ihrer ihnen größtenteils unbewußten Gewohnheit gemacht haben. Und so wollen diese sozialistisch Denkenden die Wirt­schaftsordnung aus einer Anschauung heraus umgestalten, die gerade das herbeigeführt hat, was sie einer Umwand­lung für dringend bedürftig halten. Sie bemerken nicht, daß sie, was sie nicht wollen, in einem verschärften Grade herbeiführen würden, wenn sie unter dem Einfluß von Ideen handelten, aus denen das Umzuwandelnde sich ergeben hat. Das rührt davon her, daß die Menschen an ihren Ideen und Denkgewohnheiten viel zäher festhalten wollen, als an den äußeren Einrichtungen.

Nun aber ist die menschliche Entwickelung an einem Punkte angelangt, in dem diese selbst durch ihre Wesenheit einen Fortschritt nicht nur der Einrichtungen, sondern der Gedanken und Anschauungen fordert. Ob diese Forderung, welche die Menschheitsgeschichte stellt, empfunden wird oder nicht, davon ist das Schicksal der sozialen Bewegung abhängig. So sonderbar es heute auch noch für viele Men­schen klingt: es ist doch richtig, das moderne Leben hat eine Gestalt angenommen, die nicht mehr mit den alten Vor­stellungsarten zu bemeistern ist.

Viele sagen mit Recht: Die soziale Frage muß anders angefaßt werden als sie etwa St. Simon, Owen, Fourier angefaßt haben. Mit deren geistigen Antrieben könne man das wirtschaftliche Leben nicht umgestalten. Aber solche ziehen daraus die Folgerung, daß geistige Antriebe über­haupt keinen wandelnden Einfluß auf die sozialen Lebens­verhältnisse haben können. In Wahrheit liegt die Sache so, daß die genannten Denker ihre Vorstellungen aus einem Geistesleben heraus gebildet haben, das seiner Natur nach

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dem modernen Wirtschaftsleben nicht mehr gewachsen . Statt nun zu der gesunden Einsicht sich zu bekennen: Also bedarf es einer Erneuerung des Geisteslebens - und des Rechtslebens -, ist man zu der Meinung gekommen, die ersehnten sozialen Zustände müßten aus dem Wirtschafts­leben heraus von selbst sich ergeben. Aber nicht sie werden sich ergeben, sondern nur wirtschaftliche Wirrnis, wenn nicht die Fortentwickelung aus einem von der neueren Zeit geforderten Fortschritt des Geistes- und Rechtslebens her­aus geschehen wird.

Von dem Mute zu diesem Fortschritt der Geistespflege und Rechtsordnung wird getragen sein müssen, was auf sozialem Gebiete in der Gegenwart und in der nächsten Zukunft geschehen soll. Was nicht aus diesem Mute heraus geschaffen werden wird, das wird gut gemeint sein können, es wird aber nicht zu haltbaren Zuständen führen. Deshalb ist heute auf diesem Gebiete das Wichtigste, in weitesten Kreisen Aufklärung darüber hervorzurufen, daß die neue Geistespflege die Grundlage einer gedeihlichen Weiterent­wickelung der zivilisierten Menschheit ist. Die Früchte dieser Geistespflege werden in der Wirtschaftsordnung aufgehen; ein Wirtschaftsleben, das sich aus sich selbst neugestalten will, wird seine alten Schäden nur - in Ver­schärfung - fortpflanzen. Solange man von dem Wirt­schaftsleben verlangen wird, es solle aus den Menschen machen, was in ihnen veranlagt ist, wird man zu den alten Schäden neue hinzufügen; erst, wenn man sich zu der Ein­sicht durchringen wird, daß der Mensch aus seinem Geiste dem Wirtschaftsleben geben muß, was es braucht, wird man bewußt erstreben können, was man unbewußt fordert.

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DIE WURZELN DES SOZIALEN LEBENS

In meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage» ist der Vergleich des sozialen Organismus mit dem natür­lichen menschlichen wohl herangezogen; zugleich aber dar­auf aufmerksam gemacht, wie irreführend es ist, wenn man glaubt, Anschauungen, die man an dem einen gewonnen hat, auf den andern ohne weiteres übertragen zu können. Wer die Wirksamkeit der Zelle oder eines Organes im menschlichen Leibe nach den Ansichten der Naturwissen­schaft ins Auge faßt und dann nach der «sozialen Zelle» oder den «sozialen Organen» sucht, um den Bau und die Lebensbedingungen des «sozialen Organismus» kennenzu­lernen, der wird nur allzuleicht in ein wesenloses Analogiespiel verfallen.

Anders liegt die Sache, wenn man, wie es in den «Kern-punkten» geschehen ist, darauf hinweist, daß an einer gesunden Betrachtung des menschlichen Organismus man sein Denken so erziehen kann, wie man es braucht für eine wirklichkeitsgemäße Auffassung des sozialen Lebens. Man wird durch eine solche Erziehung sich dazu befähigen, die sozialen Tatsachen nicht nach vorgefaßten Meinungen, son­dern nach ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit beurteilen zu lernen. Und dies ist in unserer Zeit vor allem andern not­wendig. Denn man steckt gegenwärtig in bezug auf das soziale Urteil tief in Parteimeinungen drinnen. Diese sind nicht gebildet aus dem, was in den Lebensbedingungen des sozialen Organismus begründet ist, sondern aus den dunklen Gefühlen einzelner Menschen und namentlich Menschen­gruppen. Würde man die Urteilsart, die man in den Parteiprogrammen anwendet, auf die Erforschung des menschlichen

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Organismus übertragen, so müßte man bald einsehen, daß man dessen Verständnis nicht fördert, sondern daß man demselben Hemmnisse schafft.

In dem Organismus muß die eingeatmete Luft fortwährend in Unbrauchbares umgewandelt werden. Der Sauerstoff muß zur Kohlensäure umgewandelt werden. Deshalb müssen Einrichtungen da sein, die das Umgewan­delte, unbrauchbar Gewordene durch Brauchbares ersetzen. Wer sachgemäß sein am menschlichen Organismus geschultes Urteil bei einer unbefangenen Betrachtung des sozialen Organismus anwendet, der findet, daß das eine Glied dieses Organismus, der Wirtschaftskreislauf, gerade dann, wenn er sachgemäß eingerichtet ist, fortdauernd Verhältnisse her­vorbringen muß, die durch andere Einrichtungen wieder auszugleichen sind. So wenig man von der Organeinrichtung, die im menschlichen Organismus darauf hingeordnet ist, daß sie den eingeatmeten Sauerstoff unbrauchbar macht, verlangen kann, daß sie ihn wieder brauchbar mache, so wenig sollte man von dem Wirtschaftskreislauf voraus­setzen, daß in ihm selbst die Einrichtungen entstehen kön­nen, die ausgleichend auf dasjenige wirken, was er aus dem Leben heraus Leben-Hemmendes erzeugen muß.

Diesen Ausgleich können nur bewirken ein neben dem Wirtschaffskreis bestehender, aus seiner eigenen Wesenheit heraus sich gestaltender Rechtsorganismus und ein Geistes­leben, das in Unabhängigkeit von Wirtschafts- und Rechtsorganisation frei aus seinen eigenen Wurzeln erwächst. Nur oberflächliche Beurteilung kann sagen: Soll denn die Pflege des Geisteslebens nicht an die bestehenden Rechtsverhält­nisse gebunden sein? Das muß sie gewiß sein. Aber etwas anderes ist, ob die Menschen, welche das Geistesleben pflegen,

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abhängig sind von dem Rechtsleben; etwas anderes ob aus den Einrichtungen des Rechtslebens heraus diese Pflege selbst erfolgt. Man wird finden, daß die Idee von der Dreigliede­rung des sozialen Organismus eine solche ist, die leicht Ein­wendungen möglich macht, wenn man sie an vorgefaßte Meinungen hält, daß aber die Einwendungen in nichts zer­fallen, wenn man sie zu Ende denkt.

Der Wirtschaftskreislauf hat sein eigenes Lebensgesetz Durch dieses schafft er Zustände, die den sozialen Organis­mus zerstören, wenn sie in diesem die einzig wirksamen sind. Will man aber diese Zustände durch wirtschaftliche Einrichtungen hinwegsehaffen, so zerstört man den Wirt­schaftskreislauf selbst. Im modernen Wirtschaftskreislauf sind Schäden entstanden durch die privatkapitalistische Ver­waltung der Produktionsmittel. Will man die Schäden aus­rotten durch die wirtschaftliche Einrichtung der Gemein­schaftsverwaltung der Produktionsmittel, so untergräbt man die moderne Wirtschaft. Aber man wirkt den Schäden ent­gegen, wenn man neben dem Wirtschaftskreislauf ein von ihm unabhängiges Rechtssystem und ein freies Geistesleben schafft. Die fortwährend aus dem Wirtschaftsleben sich er­gebenden Schäden werden dadurch schon im Entstehen auf­gehoben. Es wird nicht etwa so sein, daß sich die Schäden erst ergeben, und die Menschen unter ihnen leiden müssen, bevor sie verschwinden. Sondern durch die neben den Wirt­schaftseinrichtungen bestehenden Organisationen werden die Mißstände abgeleitet.

Die Parteimeinungen der neueren Zeit haben das Urteil von den Lebensbedingungen des sozialen Organismus abgelenkt. Sie haben es in die Strömungen der Leidenschaften von Menschengruppen hinübergeführt. Es ist dringend notwendig,

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daß diese Meinungen eine Korrektur erfahren von einer Seite her, auf der sich die Menschen Unbefangenheit aneignen können. Das werden sie imstande sein, wenn das Gedankenleben sich selbst korrigiert an der Betrachtung solcher Verhältnisse, die durch ihr eigenes Wesen die Un­befangenheit herausfordern. Der natürliche Organismus stellt solche Anforderungen.

Wer allerdings nur die gebräuchlichen naturwissenschaft­lichen Vorstellungen für diese Korrektur anwendet, der wird nicht weit kommen. Denn diesen Vorstellungen fehlt in vielen Beziehungen diejenige Schlagkraft, die tief genug in die Naturtatsachen hineindringt. Wenn man aber ver­sucht, sich nicht an diese Vorstellungen, sondern an die Natur selbst zu halten, so wird man in der Lage sein, sich da eher Unbefangenheit zu holen, als innerhalb der Parteianschauungen. Trotz des guten Willens vieler Naturforscher, über den Materialismus in der Denkergesinnung hinauszu­kommen, sind auch gegenwärtig noch die gebräuchlichen naturwissenschaftlichen Vorstellungen von materialistischen Einschlägen durchsetzt. Eine geistgemäße Betrachtung der Natur kann diese Einschläge abstreifen. Und sie wird die Grundlage abgeben können für eine Gedankenschulung, die in ihren Ergebnissen auch der Erfassung des sozialen Orga­nismus gewachsen ist.

Die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organis­mus nimmt nicht Naturkenntnisse einfach herüber aus dem Naturgebiet ins soziale Lebensfeld. Sie will nur an der Naturbetrachtung die Kraft gewinnen, die soziale Tat­sachenwelt unbefangen anzusehen. Das sollten diejenigen bedenken, die in oberflächlicher Art sich davon unterrichten, daß diese Idee von einer Dreigliederung des sozialen Lebens

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spricht, ähnlich wie man sprechen kann von einer Dreigliederung des natürlichen menschlichen Organismus. Wer diese letztere in ihrer Eigenart ernst nimmt, der wird gerade durch sie gewahr werden, daß das eine nicht auf das andere übertragen werden kann. Aber er wird durch die Betrach­tungsweise, die er für den natürlichen Organismus anzu­wenden genötigt ist, sich die Denkrichtung schaffen, die ihm ermöglicht, sich auch in den sozialen Tatsachen zurechtzu­finden.

Man wird glauben, daß durch eine solche Anschauungsart die sozialen Ideen auf das Feld der «grauen Theorien» ab­geschoben werden. Es darf vielleicht gesagt werden, daß man eine solche Meinung nur so lange hat, als man das «Abschieben» von außen sich ansieht. Da wird man aller­dings als «grau» empfinden, was man undeutlich in der Ferne sieht. Und farbig wird man dagegen empfinden, was man aus der «nahen» Leidenschaft heraus gebiert. Aber man trete dem «Grauen» näher. Man wird finden, daß dann etwas der Leidenschaft ähnliches sich regt. Aber dieses wird gehen auf alles wirklich Menschliche, das man aus dem Auge verliert auf den Standpunkten der Partei- und Grup­penmeinungen.

Und bitter not tut es der Gegenwart, dem wirklich Menschlichen näherzutreten. Denn die Kampfesstellungen der sich absondernden Menschengruppen haben Schaden genug angerichtet. Und die Einsicht sollte reifen, daß nicht neue Kampfesstellungen den Schaden gutmachen können, sondern die Beobachtung dessen, was im gegenwärtigen Augenblicke der Menschheitsentwickelung die Geschichte selber fordert. Es ist naheliegend, Schäden zu sehen und deren Abschaffung programmäßig zu fordern; aber notwendig

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ist, bis an die Wurzeln des sozialen Lebens vorzu­dringen, und durch ihre Gesundung diejenige der Blüten und Früchte zu bewirken.

DER BODEN DER DREIGLIEDERUNG

Das Wesentliche des Dreigliederungsgedankens ist, daß er die sozialen Verhältnisse ohne Partei- und Klassenbefan­genheit von dem Gesichtspunkte aus ansieht, der ihm durch die Frage gegeben wird: Was ist im gegenwärtigen Zeit­punkte der Menschenentwickelung zu tun, um zu einer lebensmöglichen Gestaltung der Gesellschaftsorganismen zu gelangen? Wer es ernst und ehrlich mit dem Ringen nach einer Antwort auf diese Frage meint, der kann nicht achtlos an einer Tatsache vorbeigehen, wie die ist, daß in der neue­ren Zeit das wirtschaftliche und das politisch-rechtliche Leben in einen zerstörungsbringenden Widerstreit gekom­men sind. Die Klassenschichtung der Menschheit, in der gegenwärtig gelebt wird, ist aus wirtschaftlichen Grund­lagen heraus entstanden. Innerhalb der wirtschaftlichen Entwickelung und aus dieser heraus ist der eine zum Prole­tarier, der andere zum Unternehmer, ein dritter zum Arbeiter an der geistigen Kultur geworden. Sozialistisch Denkende werden nicht müde, diese Tatsache in den Vor­dergrund ihrer Forderungen zu stellen, um diese dann hinter ihr wie etwas Selbstverständliches erscheinen lassen zu kön­nen. Man bedenkt dabei nur nicht, daß es darauf ankommt, zu sehen, warum das Wirtschaftsleben übermächtig hat auf die Schichtung der Menschheit einwirken können. Man sieht nicht, wie diese Schichtung sich deshalb vollzogen hat, weil

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dem wirtschaftlichen Wirken kein politisch-rechtliches gegen­überstand, das ihm entgegengewirkt hätte. Der Mensch wurde durch den wirtschaftlichen Kreislauf auf einen Boden gestellt, der ihn isolierte. Er konnte sich nur in den Ver­hältnissen einleben, die ihm aus dem Wirtschaften heraus geboten wurden. Einer verstand so den andern nicht mehr. Er konnte sich mit ihm nicht verständigen; er konnte nur noch hoffen, ihn mit Hilfe derjenigen zu überstimmen, oder zu überwältigen, die auf gleichem Lebensboden standen. Aus den Tiefen der Menschheitsentwickelung ist kein poli­tisch-rechtliches Leben heraufgezogen, das die isolierten Menschengruppen hätte zusammenführen können. Man hat nicht gesehen, daß ein Fortdenken in den alten politisch-rechtlichen Antrieben den neuen Wirtschaftskräften widerstrebt.

Man kann aber nicht so wirtschaften, wie es die Verhält­nisse der beiden letzten Jahrhunderte notwendig machten, und dabei die Menschen in soziale Lagen kommen lassen, die einem Denken aus politisch-rechtlichen Untergründen entsprechen, wie sie den vorangegangenen Zeitaltern eigen waren. Man sollte aber auch nicht hoffen, daß die Klassenschichtung, die ohne neues politisches Streben entstanden ist, den Ausgangspunkt für eine Neugestaltung des Gesell­schaftsorganismus bilden könne. Es ist selbstverständlich, daß die sich unterdrückt fühlenden Klassen diese Behaup­tung nicht als eine berechtigte anerkennen. Ihre Angehörigen sagen: Wir haben seit mehr als einem halben Jahrhundert ein neues politisches Streben. In meinen «Kernpunkten der sozialen Frage» bildet der Nachweis, daß dies nicht der Fall ist, die Unterlage für die weiteren, einen sozialen Auf­bau kennzeichnenden Gedanken. Karl Marx und seine Anhänger

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haben wohl die Menschen einer Lebensklasse zum Kampfe aufgerufen; aber sie haben diesen Menschen nur die Gedanken gegeben, die erlernt waren von den An­gehörigen derjenigen Klassen, die bekämpft werden sollen. Deshalb würde, wenn auch der Kampf zu dem von vielen erwünschten Ende führen könnte, nichts Neues entstehen, sondern das Alte mit Menschen in der Führerschaft, die einer andern Klasse angehören als diejenigen, die bisher diese Führerschaft behaupteten.

Zu dem Dreigliederungsgedanken führt die Einsicht in diese Tatsache wohl noch nicht; allein sie muß den Weg zu ihm vorbereiten. Solange sie nicht einer genügend großen Anzahl von Menschen einleuchtet, wird man fortfahren wollen, aus den alten politisch-rechtlichen Gedanken An­triebe herauspressen zu wollen, die den wirtschaftlichen Verhältnissen der Gegenwart gewachsen sein sollen. Man wird ohne dieses Einleuchten vor der Dreigliederung des sozialen Organismus zurückschrecken, weil man auf sie stößt mit dem, was man zu denken gewohnt ist.

Es ist begreiflich, daß in einer Zeit, die so viel des Un­heiles gebracht hat, die Menschen zurückschrecken vor dem Ansinnen zu eigenem, aus der Tiefe des Menschenlebens heraus geborenem Denken. Viele fühlen sich niedergedrückt durch diese Zeit und verzweifeln an der Kraft der schaffen­den Ideenkräfte. Sie «warten», bis die «Verhältnisse » eine günstigere Lage schaffen. Allein nie werden die «Verhält­nisse» etwas anderes schaffen, als was von menschlichen Ideen ihnen eingepflanzt ist.

Aber - so sagen viele - die besten Ideen können doch praktisch nichts ausrichten, wenn sie von den Lebensverhältnissen zurückgewiesen werden. Gerade mit diesem Einwande

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rechnet der Dreigliederungsgedanke. Er geht von der Einsicht aus, daß weder die ideenlose Praxis noch die un­praktische Idee zu einem lebensfähigen sozialen Organismus kommen können. Deshalb stellt er nicht in der alten Form ein Programm auf. Solcher Programme gibt es genug, um zu lernen, daß sie zwar «gut», oder «edel», oder «geistvoll» gedacht sind, daß aber die Wirklichkeit sie zurückweist. Die Dreigliederungsidee rechnet auf dem wirtschaft­lichen Gebiete mit den durch Natur und Menschenleben gegebenen Wirklichkeiten der neueren Zeit. Sie rechnet mit dem Rechtsbewußtsein der Menschheit, wie es sich im Laufe der letzten Jahrhunderte durch die Entwickelung ergeben hat. Und sie rechnet mit einem Geistesleben, das Menschen in den sozialen Organismus hineinstellt, die seine Lebensbedingungen verstehen und sie fördern, so daß ihm die Daseinsmöglichkeit geschaffen werde. Sie vermeint zu durdi­schauen, daß in einem dreigliedrigen sozialen Organismus die Menschen im Leben so zusammenwirken werden kön­nen, daß aus diesem Zusammenwirken entstehe, was eine abstrakte Programmidee nicht bewirken kann.

Wer diesen prinzipiellen Unterschied der Dreigliede­rungsidee und gebräuchlicher Programmgedanken nicht ins Auge fassen will, der wird sich von der Fruchtbarkeit der ersteren nicht überzeugen lassen. Diese ist eine Wirklichkeitsidee, weil sie das Leben nicht im Sinne eines Program­mes tyrannisieren will, sondern zuerst die Grundlage zu schaffen bestrebt ist, auf der dasjenige Leben frei erwachsen kann, aus dem die sozialen Antriebe sich entwickeln. Die Fragen der Gegenwart und der nächsten Zukunft sind nicht solche, die an den Intellekt gestellt werden können, sondern die aus einem Leben sich ergeben müssen, das erst herbeizuführen

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ist. Die gegenwärtige Menschheit ahnt eigentlich erst die sozialen Fragen. Ihre wirkliche Gestalt wird sich ergeben, wenn die Struktur des sozialen Organismus so be­schaffen sein wird, daß die drei in dem Menschendasein liegenden Lebenskräfte ihre wahre Wirklichkeit aus einem instinktartigen Empfinden in bewußtes Denken heben kön­nen. Vieles, was heute über sie gesagt wird, macht einer wirklichen Erkenntnis des Lebens gegenüber den Eindruck des Unreifen. Da sagt man, die Menschen seien unreif, nach Ideen ihr Leben zu gestalten. Nein, die Menschen werden reif für Antworten sein, wenn die Fragen erst unverhüllt durch uralte Vorurteile ihnen gegenübertreten werden.

So sieht derjenige die Lage der Gegenwart, der sich zur Dreigliederungsidee aus dem Erleben der vollen Wirklich­keit durchringt. Und aus diesem Sehen möchte er, daß gehandelt werde. Der Worte aber werden erst genug gewech­selt sein, wenn aus den Worten die Tat wird geboren sein.

WAHRE AUFKLÄRUNG ALS GRUNDLAGE SOZIALEN DENKENS

Die Zahl derjenigen Menschen nimmt stetig zu, die be­tonen, daß aus der sozialen Wirrnis unserer Zeit nur her-auszukommen sei, wenn in das Denken und Empfinden ein Zug nach dem Geistigen komme. Die Enttäuschungen, welche «volkswirtschaftliche» Ideen gebracht haben, die ihre Grund­lagen nur in der Erzeugung von materiellen Gütern und deren Verteilung suchten, führen bei vielen zu einem solchen Bekenntnis.

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Man kann aber auch deutlich sehen, wie wenig fruchtbar in unserer Zeit ein solches Bekenntnis zum Geiste wirkt. Soll es volkswirtschaftliche Anschauungen hervorbringen, so versagt es. Denn mit dem bloßen Hinweis auf den Geist ist es nicht getan. Er drückt zunächst bloß ein Bedürfnis aus. Er ist ratlos, wenn er über die Befriedigung dieses Be­dürfnisses sprechen soll. In dieser Tatsache sollte man eine Aufgabe für die Gegenwart erkennen. Man sollte sich fra­gen: Warum kommen selbst diejenigen, die heute eine Hin­wendung zum Geiste für das soziale Leben notwendig halten, nicht darüber hinaus, diese Notwendigkeit zu besprechen? Warum kommen sie nicht dazu, das volkswirtschaftliche Denken wirklich zu durchgeistigen?

Man wird dieser Frage die Antwort finden, wenn man die Entwickelung des Denkens innerhalb der zivilisierten Menschheit in der neueren Zeit betrachtet. Diejenigen Per­sönlichkeiten, die sich aus der Zeitbildung heraus zu einer Weltanschauung durchgerungen haben, betrachten es als ein Zeichen ihrer höheren « Geisteskultur », von dem « Uner­kennbaren » hinter den Dingen zu reden. Es ist allmählich ein weitverbreiteter Glaube geworden, daß nur ein Befan­gener noch über das «Wesen der Dinge», über «die unsicht­baren Gründe der sichtbaren Dinge» sprechen könne. Nun läßt sich eine solche Denkergesinnung für eine Weile gegen­über dem Naturerkennen aufrecht erhalten. Die Natur­erscheinungen bieten sich dar; und auch der, welcher von einem Nachforschen über ihre Gründe nichts wissen will, kann sie beschreiben und dadurch zu einem gewissen Inhalte seines Denkens kommen.

In volkswirtschaftlichen Dingen muß aber eine solche Denkergesinnung versagen. Denn da werden die Erschei­nungen

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zuletzt von Menschen hervorgebracht; es gehen die Forderungen von den Menschengemütern aus. In den Men­schen aber lebt gerade dasjenige als Wesenheit, wofür man sich die Einsicht vermauert, wenn man sich gewöhnt, der Natur gegenüber von einem solchen «Unerkennbaren» zu sprechen, wie es bei vielen Bekennern neuerer Lebensanschauungen zu finden ist. So ist es gekommen, daß die jüngste Vergangenheit Denkgewohnheiten in die Gegen­wart herein entwickelt hat, die in volkswirtschaftlichen Dingen völlig versagen. Man kann das Gefrieren des Was­sers, die Entwickelung des Embryos betrachten und dabei von dem «Unerkennbaren» in der Welt «vornehm» spre­chen und die Zeitgenossen ermahnen, sich nicht in Phanta­sien über dieses «Unerkennbare» zu verlieren. Aber man kann nicht mit einem Denken, das an solcher Seelenver­fassung sich schult, volkswirtschaftliche Aufgaben bewäl­tigen. Diese erfordern ein Eingehen auf das volle Menschen­leben. Und in diesem waltet das Geistig-Seelische, auch wenn es nur in der Forderung nach der Befriedigung materieller Bedürfnisse sich offenbart.

Man wird erst eine Volkswirtschaftswissenschaft haben, wie die Gegenwart sie braucht, wenn man auf den Geist und die Seele nicht bloß «hinweisen» wird, sondern wenn man die Bestrebungen, zu einer wirklichen Geist-Erkenntnis zu kommen, nicht mehr als «unwissenschaftlich» und eines aufgeklärten Menschen unwürdig brandmarken wird. Denn über die Seele des Menschen wird man nur urteilen können, wenn man ihren Zusammenhang mit dem durchschaut, was man in der Naturerkenntnis meiden möchte.

Menschen, die heute aus ihren Anschauungen heraus von übersinnlichen Dingen sprechen und die den Glauben

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äußern, daß nur durch solche dem Übersinnlichen Zuge­wandte Erkenntnis der herrschende Materialismus über­wunden werden könne, wird erwidert: der Materialismus sei «wissenschaftlich» überwunden. Es gäbe genügend Aus­einandersetzungen, die, auf dem Boden «echter» Wissenschaft erwachsen, beweisen, daß der Materialismus zur Er­klärung des natürlichen Geschehens nicht ausreicht. Dem­gegenüber muß gesagt werden: Solche Auseinandersetzun­gen mögen theoretisch interessant sein; den Materialismus können sie aber nicht überwinden. Der wird nur überwun­den, wenn man nicht bloß theoretisch beweist, daß es in den Tatsachen der Welt mehr gibt, als was die Sinne sehen; der wird nur überwunden, wenn in die Betrachtung des Weltgeschehens lebendiger Geist einzieht. Nur dieser in der menschlichen Anschauung waltende Geist kann die Zusam­menhänge auch überschauen, die im materiellen Leben der menschlichen Gemeinschaften wirksam sind. Man kann lange beweisen, daß das «Leben» nicht ein bloßer chemischerVor­gang sei; man wird damit dem Materialismus nicht wehe tun. Man wird ihn erst dann wirksam bekämpfen, wenn man auch den Mut hat, nicht nur zu sagen, es müsse Geist in den Weltanschauungen wirken, sondern diesen Geist wirklich zum Inhalte seines Bewußtseins macht.

Die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organis­mus wendet sich an Menschen, die diesen Mut haben. Dieser Mut sucht vorzudringen von den Äußerlichkeiten des Lebens zu dessen innerer Wesenheit. Er erfaßt die Notwendigkeit der Pflege des freien, unabhängigen Geisteslebens, weil er einsieht, daß ein gefesseltes Geistesleben es höchstens bis zum «Hinweis» auf den Geist, nicht aber zu einein Leben im Geiste bringen kann. Er erfaßt auch die Notwendigkeit

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eines selbständigen Rechtslebens, weil er sich die Einsicht erringt, daß das Rechtsbewußtsein in Gebieten der Men­schenseele wurzelt, die nur in einem Menschenzusammenhange wirksam sein können, der in Unabhängigkeit vom Geist- und Wirtschaftsleben sich entfaltet. Solche Einsicht kann nur erlangt werden durch die Erkenntnis des Seeli­schen im Menschen. Eine Lebensanschauung, die sich heranerzogen hat an der Meinung vom «Unerkennbaren» in dem Sinne vieler heutiger Gedankenrichtungen, wird zu dem Irrtum neigen, man könne eine soziale Struktur der Men­schengesellschaften finden, die nur aus den materiellen Tat­sachen des Wirtschaftslebens sich gestaltet.

Der Mut, von dem hier die Rede ist, kann nicht vor der Meinung haltmachen, die Menschen seien nicht «reif» für eine solch gründliche Umwandlung ihres Denkens und Emp­findens. Sie werden nur so lange «unreif» sein, als ihnen die Einsicht in das Geistige als Vorurteil «wissenschaftlich» dargelegt wird. Nicht die Unreife ist in der gegenwärtigen Wirrnis das Wirksame, sondern der Glaube, daß Geist-Erkenntnis das Zeichen eines unaufgeklärten Menschen sei. Alle Gestaltungsversuche im sozialen Leben, die aus dieser ungeistigen «Aufklärung» hervorgehen, müssen scheitern, weil sie im Gestalten den Geist ausschalten; dieser aber in dem Augenblicke seine Ansprüche im Unbewußten geltend macht, in dem der Mensch ihn aus seinem Bewußtsein ver­bannt. Nur wenn der Mensch nicht gegen den Geist wirkt, kann das Geistige die menschlichen Handlungen fördern. Mit dem Geiste aber wirkt nur derjenige, der ihn in sein Bewußtsein aufnimmt. Überwindung derjenigen falschen «Aufklärerei», die aus einer mißverstandenen Natureinsicht hervorgegangen ist und die in der neuesten Zeit zu einem

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weltlichen Evangelium weiter Menschenmassen geworden ist, wird allein die Grundlage geben können für ein soziales Wissen, das fruchtbar auf das wirkliche Leben einwirken kann.

DER WEG ZUR RETTUNG DES DEUTSCHEN VOLKES

Im Jahre 1858 schrieb Herman Grimm einen Aufsatz: «Schiller und Goethe.» Der beginnt mit den Sätzen: «Die wahre Geschichte Deutschlands ist die Geschichte der gei­stigen Bewegungen im Volke. Nur da, wo die Begeisterung für einen großen Gedanken die Nation erregte und die erstarrten Kräfte ins Fließen brachte, geschehen Taten, die groß und leuchtend sind.» Und im weiteren Verlaufe des Aufsatzes kann man noch lesen: «... die Namen der deut­schen Kaiser und Könige sind keine Meilensteine für den Fortschritt des Volkes.»

Die Belebung der Seelenverfassung, aus der heraus solches geschrieben ist, scheint allein geeignet, Licht zu bringen in die Zeit der Not, die über das deutsche Volk gekommen ist. Daß noch etwas von dieser Seelenverfassung sich in das Wirken und Arbeiten der Gegenwart erheben könne, darauf nur kann die Hoffnung beruhen, die derjenige hegt, welcher gerade für das deutsche Volk notwendig findet, daß es sich jetzt zu rettenden Gedanken wende. Wer heute sagt: man müsse erst abwarten, was sich an Beziehungen zu den West- und Ostvölkern aus der entstandenen Weltlage heraus ergibt, bevor man an einen fruchtbaren Grund zu einer sozialen Neukultur denken könne, der hat keine Ahnung von den Notwendigkeiten der Zeit. Aus solcher Anschauung

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ist hervorgegangen, was in diesen Blättern über die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus gesagt worden ist. Der Schreiber dieser Zeilen meint, er habe in seinen bisherigen Aufsätzen hinlänglich denen geantwortet, die immer wieder mit dem Einwand kommen: es müsse doch erst an das gedacht werden, was sich aus dem gegen­wärtigen Verhältnisse zu den andern Völkern ergebe, bevor man auf soziale Ideen die Aufmerksamkeit wenden könne, wie sie die Dreigliederung darstellt. Dieser Einwand beruht auf einem Irrtum, der zum bittersten Verhängnis des deut­schen Volkes werden kann. Denn Deutschland ist aus der Weltkatastrophe so hervorgegangen, daß es die Grundlage für ein künftiges Verhältnis zu den anderen Völkern erst schaffen muß. Die Gestalt, welche das Wirtschaftsleben annehmen würde, wenn es, aus dem politisch-rechtlichen und dem geistigen Gebiete herausgelöst, sich entfalten wollte, könnte es in die Weltwirtschaft eingliedern. Daß die Ein­gliederung eines solchen Wirtschaftslebens in die Weltwirt­schaft im Interesse der andern Völker liegt, das ist versucht worden, in diesen Aufsätzen zu zeigen. Ein freies Geistes­leben kann von keinem andern Volke als Grundlage für Feindseligkeit betrachtet werden. Und ein politisches Rechtsleben, das auf der Gleichheit der mündigen Menschen be­ruht, könnte bei dem deutschen Volke ein anderes nur dann als ein feindliches Element ansehen, wenn dieses sich selbst verhöhnen wollte.

Nur müßte eine Idee, wie es die von der Dreigliederung ist, als der Antrieb des Wollens in öffentlichen Angelegenheiten sich vor die Welt hinstellen. In dem Augenblicke, in dem sich diese Idee auf dem Wege zur Tat zeigt, kann sie die Offenbarung des deutschen Wesens werden, mit dem die

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übrige Welt sich als auf einem festen Grunde auseinander­setzen wird. Gegenüber den heutigen Verhältnissen, gegen­über dem Unglauben an die praktische Wirksamkeit lebens­voller Ideen aber möchte man fragen: Wo ist das deutsche Wesen? Von den besten Geistern seiner Vergangenheit kön­nen dem deutschen Volke solche Ideen ertönen, wie die­jenigen sind, die Herman Grimm vor sechzig Jahren nieder­geschrieben hat. Diese Geister haben mit diesen Ideen das tiefste Wollen ihres Volkes auszusprechen beabsichtigt. Soll­ten die Nachkommen dieser Geister keine Ohren haben, um den Sinn dieser Ideen zu vernehmen?

Diese Nachkommen sind in einer Lage, in der es wahrlich nicht genügt, sich der Ideen der Vorfahren bloß zu erinnern, in der es vielmehr notwendig ist, in neuer, der Gegenwart angepaßter Art, diese Ideen fortzuentwickeln. Will der Deutsche sich selbst verlieren, indem er durch den Ideenunglauben sein eigenes Wesen verleugnet? Denn der beste Teil dieses Wesens kann nur in dem Glauben an die Wirk­samkeit der Ideen bestehen. Und die Welt muß rechnen mit einer Offenbarung des deutschen Wesens, wenn dieses in seiner Echtheit sich vor sie hinstellt.

Eine genügende Anzahl von Menschen innerhalb des deut­schen Volkes, die das angestammte Erbe des Glaubens an die Ideenwelt mit den Kräften der Seele durchdränge, muß die Rettung dieses Volkes werden. Aus keiner Auseinander­setzung mit der Außenwelt wird den Deutschen Heil erblühen, die im Zeichen des Unglaubens an die praktische Wirksamkeit der Ideen vollzogen wird. Denn in jeder sol­chen Auseinandersetzung fehlt die Mitwirkung des deut­schen Wesenskernes.

Verstummen sollten alle Einwände, die von der Ansicht

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ausgehen: es sei jetzt nicht die Zeit, sich an Ideen hinzu­geben. Denn von einer Zeit, die für das deutsche Volk die Keime wirklicher Lebensmöglichkeit enthält, kann erst gesprochen werden, wenn die Kraft der Ideen von einer hinlänglich großen Menschenzahl erkannt sein wird. Nicht nach dem, was sonst geschieht, darf der Ideenglaube eingerichtet werden; sondern in allem, was durch Deutsche ge­schieht, muß dieser Ideenglaube die treibende Kraft sein. Was unter seinem Einflusse geschehen wird, kann im Ver­trauen zu ihm abgewartet werden; untätig warten, indem man ihn beiseite schiebt, in scheinbar praktischem Geschäf­tigsein das Verhängnis seinen Lauf nehmen lassen: das alles ist bei dem Deutschen Sünde wider das eigene Wesen, Sünde wider den Geist der Weltenstunde, Sünde wider die Forde­rung echter Selbstbesinnung.

Ist das Walten dieser Sünde nicht deutlich genug wahr­zunehmen? Sind die traurigen Wirkungen dieser Sünde noch nicht da? Tönt die Not nicht in Tönen, welche diese Sünde verständlich machen? Ist nicht mehr die Kraft im deutschen Volke, die Sünde gegen den Geist des eigenen Wesens als Sünde zu erkennen? Diese Fragen können Striemen drücken in die Seelen, welche das öffentliche Leben des deutschen Volkes betrachten. Der Schmerz müßte zum Erwachen füh­ren. Waren die Geister deutscher Vergangenheit mit ihrem Ideenglauben Träumer? Solche Fragen löst nur das wirk­liche Leben. Und wie kann die Lösung lauten? Ja, sie waren Träumer, wenn ihre Nachkommen ihre Ideen verträumen; sie waren aber leuchtende Wirklichkeitsgeister, wenn diese Nachkommen in das lebendig wache Wollen die Kraft ihrer Ideen aufnehmen.

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DER DURST DER ZEIT NACH GEDANKEN

Gutgemeinte Gedanken schaffen doch kein Brot. Das ist der Kern der Weisheit, die heute oftmals zu hören ist, wenn von Ideen gesprochen wird, wie sie der Forderung nach Dreigliederung des sozialen Organismus zugrunde liegen. Man möchte angesichts des Ernstes der Zeit diese Weisheit zu einer anderen stellen, die man heute auch des öfteren ver­nehmen kann: wenn die Leute erst wieder arbeiten werden, dann wird die soziale Frage ein anderes Gesicht bekommen.

Wem diese beiden Weisheiten gegenwärtig nicht in den Ohren klingen, der hat keine Ohren für die Sprache, die in vielen Kreisen zur alltäglichen geworden ist. Werden sie auch nicht unmittelbar ausgesprochen, so klingen sie doch hindurch durch vieles, das öffentlich geredet wird.

Man kommt gegen Einwände, die aus diesen Weisheitsquellen stammen, mit den von der Zeit geforderten Ideen deshalb so schwer zur Geltung, weil sie ja so unvergleichlich «einleuchtend» sind. Es braucht jemand nur zu sagen: widerlege mir doch diese Einwände; und der beste Denker wird seine Ohnmacht bekennen müssen. Denn sie sind natürlich nicht zu widerlegen. Sie sind selbstverständlich richtig.

Aber kommt es denn im Leben nur darauf an, daß man in irgendeiner Lage etwas Richtiges sagt? Hängt nicht viel­mehr alles davon ab, daß man die Gedanken findet, die Tatbestände in Bewegung bringen können? Es ist eine Er­scheinung im heutigen öffentlichen Leben, die diesem zum schwersten Schaden gereicht, daß man mit dem Denken nicht Wirklichkeitssinn verbinden will.

Nur dieser Mangel an Wirklichkeitssinn ist es, der sich hemmend entgegenwälzt, wenn man den sozialen Nöten der

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Gegenwart beikommen will durch fruchtbare Ideen. Aber man hat sich lange gewöhnt an ein Denken im Zeichen dieses Mangels. Jetzt tut es wahrlich not, gerade an dieser Stelle des menschlichen Lebens gründlich umzulernen.

Man muß nur erst sehen, wie man in ein solches Denken sich hat hineingleiten lassen. Man muß sich beliebte Ge­dankengänge der neueren Zeit vor Augen führen.

Ein solch beliebter Gedankengang ist im Gebiete des Sozialen derjenige, der sich aus den Lebensgewohnheiten primitiver Völker ergibt. Man sucht zu erforschen, wie in «Urzeiten» ein gewisser Kommunismus und dergleichen ge­herrscht hat, und zieht daraus gewisse Schlüsse für dasjenige, was man heute machen soll. In Schriften, die von der sozialen Frage handeln, ist ein solcher Gedankengang sehr gebräuch­lich geworden. Und er hat sich von da aus breiter Kreise bemächtigt. Er lebt heute in vielem, was in der «sozialen Frage» gerade von den Massen gedacht wird.

Man hätte diesen Gedankengang wirklich billiger haben können, als man ihn auf vielen Seiten errungen hat. Man hätte das soziale Leben der Menschen vergleichen können mit den Lebensgewohnheiten wild lebender Tierformen. Da hätte man gefunden, wie Instinkteinrichtungen zur Befrie­digung der Lebensbedürfnisse führen, und wie diese In­stinkteinrichtungen auf die entsprechende Aneignung des­jenigen gehen, was die Natur den Lebensbedürfnissen ent­gegenbringt.

Das Wesentliche ist, daß der Mensch die Instinkteinrich­tung durch das bewußte, zielgetragene Denken ersetzen muß. Auf die Naturgrundlage muß er bauen, wie jedes Wesen, das zu seinem Leben essen muß. In der Brotfrage steckt eine Frage der Naturgrund lage. Aber die ist für jedes

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nahrungsbedürftige Wesen vorhanden. In bezug auf sie kann von «sozialem Denken» gar nicht gesprochen werden. Dieses beginnt erst bei den Verrichtungen, denen der Mensch die Naturgrundlage durch sein Denken unterwirft. Durch sein Denken bemeistert er die Naturkräfte, durch sein Denken bringt er sich mit andern Menschen in einen Arbeitszusam­menhang, der das der Natur abgerungene «Brot» in das soziale Leben hineinwebt. Für dieses Leben ist die Brotfrage eine Gedankenfrage. Es kann sich nur darum handeln, zu antworten auf die Frage: Welches sind die fruchtbaren Ge­danken, die, zur Verwirklichung gebracht, aus der Men­schenarbeit die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse hervorgehen lassen?

Man kann jedem Recht geben, der nun, nachdem er der­gleichen Auseinandersetzungen gehört hat, sagt: das ist doch wahrlich eine primitive Weisheit. Wozu spricht man der­gleichen Selbstverständlichkeiten erst aus? Oh, man unterließe das Aussprechen recht gerne, wenn nicht diejenigen Menschen, welche finden, daß sie auszusprechen überflüssig ist, dieselben wären, die zum Schaden des gesunden sozialen Denkens sie in den Wind schlagen mit ihrer Weisheit, daß «doch Gedanken kein Brot erzeugen können».

Und so steht es auch mit der anderen Weisheit, durch die man sich von dem Ernste der sozialen Frage hinwegdrücken möchte: es handle sich vor allem darum, daß die Leute wie­der arbeiten. Der Mensch arbeitet, wenn in seiner Seele der Gedanke keimt, der ihn zur Arbeit treibt. Soll er im Zusammenhange des sozialen Lebens arbeiten, so empfindet er sein Dasein nur als menschenwürdig, wenn in diesem Leben Gedanken walten, die ihm sein Mitarbeiten im Lichte dieser Menschenwürde erscheinen lassen. Gewisse, auch sozialistisch

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orientierte Kreise möchten allerdings diesen Antrieb zur Ar­beit durch den Arbeitszwang ersetzen. Das ist eben ihre Art, sich von der Einsicht in die Notwendigkeit fruchtbarer so­zialer Ideen hinwegzudrücken.

Die Welt ist in die Lage, in der sie sich befindet, durch diejenigen gekommen, welche die Wirksamkeit der Ideen unmöglich machen durch ihre Flucht vor denselben. Eine Rettung ist nur möglich, wenn diejenigen zu einer starken Macht sich sammeln, die noch in sich ein hinlängliches Be­wußtsein von diesem Tatbestande entwickeln können. Diese dürfen in dieser ernsten Zeit nicht kleinmütig werden. Sie werden heute noch die Hohnworte: unpraktischer Idealist, phantastischer Utopist umbrausen. Sie werden ihre Pflicht tun, wenn sie bauen, während die Höhnenden zerstören. Denn fallen wird, worinnen es «so herrlich weit gebracht» haben diejenigen, die im Zeichen der Ideenflucht ihre «Praxis» auf den Sumpfboden einer täuschenden «Wirklichkeit» ge­baut haben oder noch bauen wollen. Deren einziges Denken erschöpft sich heute darinnen, sich über ihre «Praxis» Illu­sionen zu machen, und sich durch das Verhöhnen wahrer Lebenspraxis eine billige innere Befriedigung zu schaffen. Klar in das zu schauen, was sich dem unbefangenen Ver­stande in dieser Richtung darbietet, ist heute wichtigste Lebensaufgabe all derer, die nicht davor zurückschrecken, über vieles umzudenken. Nach schaffenden Gedanken dür­stet das Leben der Zeit; der Durst wird nicht verschwinden, wenn das gedankenlose Sich-Gebärden der Gedankenfeinde auch noch so laut für seine Betäubung sorgen möchte.

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EINSICHT TUT NOT

Einem Ideenzusammenhang wie dem von der Dreigliede­rung des sozialen Organismus wird oft als Einwand ent­gegengeworfen: er könne nieht für diese oder jene Einzelheit mit «praktischen Vorschlägen» auftreten. Man sagt etwa: Da ist die Zerrüttung der Valuta. Was hat der Anhänger der Dreigliederung als Mittel zu ihrer Verbesserung anzu­geben? Dieser muß erwidern: Der Gang der wirtschaftlichen Weltverhältnisse ist in der neueren Zeit ein solcher gewesen, der durch den Konkurrenzkampf der Staaten zur Entwer­tung des Geldes im einzelnen geführt hat. Eine Verbesserung kann nur eintreten, wenn nicht einzelne Maßnahmen für dieses oder jenes als Heilmittel angesehen werden, sondern wenn dieser Gang des Wirtschaftslebens in seinem ganzen Wesen durch die Dreigliederung zu etwas anderem gemacht wird. Einzelne Maßnahmen können ja manches im einzelnen vorübergehend bessern; wenn aber das Wesen des Wirt­schaftens dasselbe bleibt, so kann eine einzelne Verbesserung nichts helfen; sie muß sogar eine Verschlechterung auf einem anderen Gebiete zur Folge haben.

Das wirklich praktische Mittel zu einem Neuaufbau des Zerstörten ist eben die Dreigliederung selbst. Wollte man gerade in einem Gebiet, in dem zum Beispiel das Wirtschafts­leben durch die Entwertung der Valuta seufzt, umfassende Einrichtungen im Sinne der Dreigliederung schaffen, so müßte sich durch den Gang der Ereignisse das Übel bessern. Der gekennzeichnete Einwand kommt daher, daß derjenige, der ihn macht, aus irgendwelchen Gründen vor einer prak­tischen Arbeit im Sinne der Dreigliederung zurückschreckt und verlangt, die Träger dieser Dreigliederungsidee sollen

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ihm Mittel zu einer Gesundung dieser oder jener Verhält­nisse angeben, ohne diese Verhältnisse selbst im Sinne ihrer Idee zu gestalten.

In diesem Punkte besteht eben ein wesenhafter Gegensatz zwischen dem Träger der Dreigliederungsidee und allen denen, die da glauben, man könne das alte einheitsstaatliche soziale Leben beibehalten und innerhalb desselben zu einem Neuaufbau kommen. Die Idee von der Dreigliederung ruht eben gerade auf der Einsicht, daß diese einheitsstaatliche Orientierung die katastrophale Weltlage herbeigeführt hat; und daß man sich deshalb entschließen muß, sie aus den­jenigen Verhältnissen heraus neu aufzubauen, die sich aus der Dreigliederung ergeben.

Ehe nicht dieser Mut zu einem Durchgreifenden bei einer genügend großen Anzahl von Menschen erwacht, kann eine Heilung des kranken sozialen Lebens nicht kommen. Das einzige, das ohne dieses Durchgreifende möglich ist, kann nur sein das An-sich-reißen der wirtschaftlichen und politischen Macht durch die siegenden Staaten und die Unterdrückung der Besiegten. Die Sieger können vorläufig das alte System beibehalten, denn die Schäden, die sich bei ihnen aus dem­selben ergeben, können für sie ausgeglichen werden durch die Vorteile, die sich durch die Beherrschung der Besiegten herausstellen. Die Besiegten aber sind gegenwärtig in einer Lage, die augenblickliches Handeln im Sinne des hier ge­meinten Durchgreifenden notwendig macht. Auch für die Sieger wäre naturgemäß Einsicht das Bessere. Denn der Zustand, den sie bei sich hervorrufen, muß im Laufe der Zeit zur Wahrnehmung der unerträglichen Lage bei dem Besiegten und damit zu neuen Katastrophen führen. Die Besiegten aber können nicht warten, denn

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jede Versäumnis vergrößert das Unmögliche ihrer Lebens­verhältnisse.

Die Dreigliederungsidee ist allerdings eine solche, die den Denk- und Empfindungsgewohnheiten aller derer zu­widerläuft, die ihre Seelenverfassung in Anpassung an die einheitsstaatliche Orientierung gebildet haben. Sich rück­haltlos zu sagen, die zutage tretenden Übel sind die Folge dieser Orientierung, ist gegenwärtig für viele Menschen so, als ob man von ihnen verlangen wollte, sie sollten ohne Boden unter den Füßen stehen. Der Boden, auf dem sie stehen wollen, ist der Einheitsstaat. Ihn möchten sie hin­nehmen, und auf dem Grund desselben Einrichtungen treffen, von denen sie sich eine Besserung der Zustände erhoffen. Worauf es aber ankommt, das ist, einen neuen Boden zu gewinnen. Dazu fehlt es am Mut.

Die Grundforderung für die Wirksamkeit der Dreiglie­derungsidee muß daher die Sorge dafür sein, daß bei möglichst vielen Menschen die Einsicht erwachse, wie nur ein Durchgreifendes gegenwärtig helfen könne. Viel zu viele Menschen haben bisher ihre Urteilsfähigkeit über öffentliche Verhältnisse nur aus den engsten Lebenskreisen heraus gebildet. Gerade diejenigen, die im Großbetriebe unseres Wirtschaftslebens drinnen stehen, sind in dieser Lage. Sie schreiben sich Urteilsmöglichkeit über umfassende Verhältnisse zu; und sie kennen nur dasjenige, was sich ihnen aus ihrem engen Lebenskreise heraus ergeben hat.

Die Aufklärung über die Zusammenhänge des öffent­lichen Lebens, die heute in so geringem Maße vorhanden ist, muß gefördert werden. Die Dreigliederungsidee wird um so weniger Widerstände finden, je mehr Menschen wissen werden, wie die Kräfte des öffentlichen Lebens bisher wirk­sam

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waren und wie sie zur gegenwärtigen Katastrophe führen mußten. Alles, was zur Verbreitung einer nach die­ser Richtung gehenden Einsicht führen kann, bereitet den Boden für die praktische Wirksamkeit der Dreigliederungs-idee vor.

Man sollte sich deshalb wenig versprechen von Ausein­andersetzungen mit den Angehörigen dieser oder jener Partei, die zumeist, solange sie in der Partei stehen bleiben wollen, doch jeden Gedanken eines Trägers des Dreiglie­derungsimpulses in ihrem Sinne umdeuten möchten. Man sollte, sobald man die Fruchtbarkeit dieses Impulses ein­gesehen hat, für dessen Verständnis in weitesten Kreisen sorgen. Denn nicht mit denen, welche die Dreigliederung nicht wollen, läßt sich etwas anfangen, sondern allein mit denen, die von ihr durchdrungen sind. Mit ihnen allein läßt sich auch nur über Einzelheiten des öffentlichen Lebens sprechen. Man sollte sich doch klar sein, daß mit Erzberger nicht über die Heilung des öffentlichen Lebens zu reden ist, solange Erzberger - Erzberger ist.

Ich schreibe dieses nieder, weil ich sehe, daß in dieser Richtung nicht jeder, der von der Dreigliederungsidee etwas hält, im rechten Fahrwasser segelt. Die Idee von der Drei-gliederung ist eben eine solche, der man ganz dienen muß, wenn man ihr überhaupt dienen will. Sie macht möglich, mit jedem sich auseinanderzusetzen; aber die Auseinandersetzung darf nichts von dem Durchgreifenden der Idee auf­geben. Man wird in diesem Sinne handeln, wenn man ein­sieht, welches die wirklichen Gründe des Niederganges sind. Aus dieser Einsicht muß der Mut zum Durchgreifenden kommen. Denn die herrschende Ratlosigkeit ist doch nur die Folge der mangelnden Einsicht.

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WEITERE AUFSÄTZE ZUR DREIGLIEDERUNG DES SOZIALEN ORGANISMUS

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DAS GOETHEANUM UND DIE STIMME DER GEGENWART

Das Goetheanum in dem schweizerischen Dornach bei Basel soll eine Hochschule für Geisteswissenschaft und eine Pflegestätte eines solchen künstlerischen Lebens sein, das im Sinne dieser Wissenschaft gehalten ist. Sein Bau ist im Frühjahr 1914 begonnen worden. Während des Krieges ist an ihm gearbeitet worden. Die Umfassungswände mit der Doppelkuppel sind vollendet. Ihre architektonisch-plastischen Formen, die Malereien des Innenraumes, die nach neuen Methoden hergestellten Glasfenster zeigen bereits dem Besucher, welche Umhüllung der wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeit zugedacht ist, die an diesem Orte geleistet werden soll.

Nicht ein Gebäude in einer geschichtlich überlieferten Kunstform ist in Dornach errichtet worden; was heute schon zu sehen ist, zeigt, daß eine neue Stilart und Form der künstlerischen Durchführung versucht wird. Das Ganze des Baues und jede Einzelheit sind aus demselben Geiste heraus erflossen, der an diesem Orte einen Mittelpunkt seines Wirkens sich schaffen möchte.

Und dieser Geist will dem Neuaufbau wissenschaftlichen, seelischen und sozialen Lebens dienen. Er ist erwachsen aus der Überzeugung, daß die menschliche Seelenverfassung, die im Beginne des zwanzigsten Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht hatte, innerlich verwoben ist mit den zerstörenden Kräften, die in der Weltkatastrophe ihre wahre Gestalt geoffenbart haben.

Wie der Bau in seiner Gestaltung eine Einheit darstellen will mit allem, was in ihm geleistet werden soll, so wird

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erstrebt, daß das von Dornach ausgehende geistige Wirken die seelische Stoßkraft entwickele, die gestaltend sein kann für eine wahre sittliche, soziale und technische Lebenspraxis.

Für den modernen Menschen bestand ein Abgrund zwi­schen seinem seelischen Erleben und der Praxis des Lebens. Durch Illusionen täuschte er sich über diesen Abgrund hin­weg. Er glaubte, Wissenschaft und Kunst aus der Lebenswirklichkeit zu schöpfen und diese Wirklichkeit mit seinem Geiste zu durchdringen. Diese Illusionen sind die wahren Ursachen der verheerenden Weltkatastrophe und der so­zialen Nöte der Gegenwart. Der moderne Mensch fand in Wissenschaft und Kunst nicht den Geist; deshalb wurde seine Lebenspraxis zur geistleeren Routine.

Der sozialen Lebenspraxis, der mechanisch orientierten Technik, dem veräußerlichten Rechtsleben fehlen die An­triebe, die nur entstehen können, wenn im Innern der Menschen die Seelen den Geist erleben.

Die im Goetheanum zu Dornach zu pflegende Geistes­wissenschaft hat aus sich heraus eine soziale Lebensansicht getrieben, den Impuls von der Dreigliederung des sozialen Organismus, der echte Lebenspraxis aus wirklicher Geist-Erkenntnis gewinnen möchte. Der alles Utopistische dadurch vermeiden möchte, daß er aus der Geist-Wirklichkeit heraus schafft.

Was die Seelen brauchen, um ihr volles Menschentum zu erleben, soll in Dornach ebenso gepflegt werden wie das Technische des äußeren Lebens. Die Geistesrichtung, die hier ihren Mittelpunkt sich bilden will, möchte für die Werkstätte lebensfördernder Technik, für die soziale Ge­staltung der Menschenarbeit ebenso schaffen wie für den Aufbau des Seelenlebens. Sie bedarf der Mitarbeit aller

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derer, die unbefangen genug sind, um zu sehen, daß dem modernen Leben fehlt, was sie schaffen möchte.

Um den Dornacher Bau zu vollenden, ist noch fast eben­soviel Opfersinn solch Unbefangener notwendig, wie sich schon geoffenbart hat in der Möglichkeit, ihn bis zu seinem gegenwärtigen Stande zu bringen. Aber auch mit der Voll­endung dieses Baues wäre noch nichts erreicht für die Ziele, denen mit ihm gedient werden soll. Mit dieser Vollendung parallel gehen müssen praktische Lebensinstitutionen, die in der Richtung der von ihm repräsentierten Geistesarbeit gestaltet sind. Ganz praktische Lebensinstitutionen, wie technische und soziale Unternehmungen, müssen das Lebenfördernde seiner Kräfte erweisen. Es muß dahin kommen, daß es nicht mehr lächerlich wirkt, wenn der Geist, der eine Weltanschauung schaffen will, auch in der Begründung technischer Betriebe, finanzieller Institute, wissenschaftlicher Versuchsanstalten sich betätigt.

In der Freien Waldorfschule zu Stuttgart wirkt bereits die hier gemeinte Geistesrichtung. Auch Menschen, die sie da noch dulden, weil sie sich auf «geistigem» Felde betätigt, werden heute noch fordern, daß sie die «Finger weglasse» von Einrichtungen, über die nur der «Praktiker» urteils­fähig sein soll.

Auf diesem Gebiete ist eines der mächtigsten Vorurteile zu überwinden. Die Persönlichkeiten, die sich heute schon gefunden haben, um an dieser Überwindung durch prak­tische Arbeit mitzuwirken, setzen sich dem Vorwurf der lebensfremden Schwärmerei aus. Sie glauben zu wissen, daß die Menschheit aus manchen Nöten erst herauskommen wird, wenn die Schwärmerei derer durchschaut sein wird, die sie heute der Schwärmerei fälschlich bezichtigen. Aber

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die Zahl solcher Persönlichkeiten, die gegenwärtig trotz solchen Vorwurfs ihre Kräfte in den Dienst echter Lebenspraxis stellen, ist noch gering. Einrichtungen sind im Wer­den, die dieser Lebenspraxis Grundlagen schaffen wollen. Ob es gelingen kann, das wird davon abhängen, daß mög­lichst viele Menschen sich finden, die sich mit den wenigen zusammentun wollen.

Auf internationaler Grundlage nur kann Günstiges in dieser Richtung gewirkt werden. Denn dem Geiste, der hier gemeint ist, liegt engherziges Errichten von Menschheits­schranken, seinem Wesen nach, ferne. Notwendig aber ist ihm das einheitliche Umfassen des seelischen und des prak­tisch-materiellen Lebens. Aus diesem Untergrunde heraus möchte er seine Arbeit an der Bewältigung auch der «sozialen Frage» leisten. Er glaubt, in aller Bescheidenheit sagen zu dürfen, daß er aus dieser Grundlage heraus in engen Kreisen schon gewirkt hat, bevor im Ausbruch der Weltkatastrophe sein Widerpart das wahre Antlitz gezeigt hat. Er versteht, daß er vor dieser laut sprechenden Tat­sache nur von wenigen gehört werden konnte. Er glaubt, daß jetzt aus den Nöten der Zeit heraus ihm Verständnis entgegengebracht werden müßte. Mit Völkerbünden aus dem alten Geiste heraus wird des neuen Lebens Wachstum nicht gefördert; aus dem neuen Geiste wird der Völker­bund als etwas Selbstverständliches erwachsen. Die alten Seelenverfassungen werden kein neues soziales Leben tra­gen; aus der Erneuerung des Seelenlebens wird der soziale Aufbau sich mit innerer Notwendigkeit ergeben.

Gar mancher spricht heute schon: Eine Belebung erstor­bener oder abgedämpfter Menschenkräfte aus dem Geiste heraus tut not. Doch sieht man näher zu, so bleibt die Frage

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ohne Antwort: Welches ist der Inhalt des neuen Geistes. Im Goetheanum zu Dornach möchte man aber gerade von diesem Inhalt sprechen, möchte für diesen Inhalt arbeiten. Denn nicht der bloße Appell an den Geist kann in dieser Zeit helfen, sondern allein der erkannte und in die Lebensarbeit aufgenommene Geist. Aber dieser Geist will selbst erarbeitet sein. Er will alles wissenschaftliche Forschen durchdringen; nicht bloß von einer sich von ihm selbst fernehaltenden Wissenschaft als Nebenerscheinung geduldet sein. Er will nicht da sein, damit der im Fabrikbetrieb Arbeitende ihn finde, wenn er die Fabrik verläßt; er will in der Arbeit der Fabrik selbst, in ihrer ökonomischen und technischen Orientierung leben. Er will nicht eine Lebenspraxis, die auch für geistige Interessen «Zeit übrig läßt»; er will keine Zeit übrig lassen, in der er nicht wirkt. Er will nicht eine Kunst, die das «nüchterne» Leben verschönt; er ist sich klar darüber, daß echtes Leben sich naturgemäß künstlerisch gestaltet.

So ist Dornach und was mit ihm zusammenhängt gedacht; es kann eine volle Wirklichkeit werden, wenn erkannt wird, wie dieser «Gedanke» aus den Wurzeln des wirk­lichen Lebens heraus arbeiten will.

IDEENABWEGE UND PUBLIZISTENMORAL

Bemerkenswert ist ein Bekenntnis, zu dem sich der soziali­stische Theoretiker Karl Kautsky in seinem soeben erschienenen Buch «Wie der Weltkrieg entstand» gezwungen sieht. Kautsky spricht über die Schuldfrage. Er kann selbstverständlich nicht anders als auf Personen und Institutionen

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deuten, bei denen die Ursachen der fürchterlichen Weltkatastrophe zu suchen sind. Er fühlt, wie er damit gegen einen Glaubenssatz einer sozialistischen Theorie verstößt, deren Verteidiger er seit Jahrzehnten ist. Er sagt: «Marx hat gelehrt, nicht durch einzelne Personen und Institutionen werde der Gang der Geschichte bestimmt, sondern in der letzten Linie durch die ökonomischen Verhältnisse. Der Kapitalismus erzeuge in seiner höchsten Form, der des Finanzkapitales, überall den Imperialismus, das Streben nach gewaltsamer Ausdehnung des Staatsgebietes... Nicht einzelne Personen und Institutionen seien schuldig, sondern der Kapitalismus als Ganzes; diesen müsse man bekämpfen.»

Wer die Entwickelung der marxistisch gefärbten soziali­stischen Parteiströmung kennt, der weiß, wie die in obigen Sätzen kristallisierte Doktrin den breiten Massen des Pro­letariats in die Köpfe eingehämmert worden ist. Man kann mit einer solchen Doktrin trefflich agitieren. Man kann mit ihr Parteiprogramme schmieden. Wie man mit ihr der Wirklichkeit des Lebens gegenübersteht, das zeigt sich nun bei Kautsky in dem Augenblicke, wo er nicht etwa mit der Doktrin an dem Aufbau des sozialen Organismus arbeiten soll, sondern wo er nur ein sachgemäßes Urteil über die zerstörenden Mächte dieses Organismus gewinnen will. Er findet sich gedrängt, über das Urteil, der Kapitalismus sei der Schuldige am Weltkriege, zu sagen: «Dies klingt sehr radikal und wirkt doch sehr konservativ überall dort, wo es das praktische Arbeiten beherrscht. Denn der Kapitalis­mus ist nichts als eine Abstraktion, die gewonnen wird aus der Beobachtung zahlreicher Einzelerscheinungen... Bekämpfen kann man eine Abstraktion nicht, außer theoretisch; nicht aber praktisch.» Und dann gesteht er, daß

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man in der Lebenspraxis gezwungen sei, das Augenmerk zu richten «gegen bestimmte Institutionen und Personen als Träger bestimmter gesellschaftlicher Funktionen».

Es verlohnte sich nicht, auf solche Geständnisse hinzu­weisen, wenn sie bei Dutzendagitatoren auftreten. Aber Kautsky ist kein Dutzendagitator. Er ist ein gewissenhafter, wissenschaftlich verfahrender Sozialist. Er ist unter seines­gleichen einer der allerbesten.

Er sieht sich veranlaßt, den Schritt von einer lebensfeind­lichen Parteidogmatik in die Wirklichkeit des Lebens zu machen, da er ausfindig machen will, «wie der Weltkrieg entstand». Alle beliebten Parteiabstraktionen müssen da zerflattern. Der tatsächliche Beweis ist geliefert, daß man mit solchen Abstraktionen Parteien begründen kann, daß man aber mit ihnen der Lebenspraxis völlig fremd gegen­übersteht. Sollte eine solche Tatsache nicht ein helles Licht werfen auf die zerstörende Wirkung, welche Parteien haben müssen, die das Leben nach ihren Abstraktionen modeln wollen?

Die Antriebe zur Dreigliederung des sozialen Organis­mus finden ihre hauptsächlichste Gegnerschaft an den Partei­dogmatismen, die in Abstraktionen wurzeln. Denn diese Antriebe gehen von der Einsicht in die Unfruchtbarkeit solcher Abstraktionen aus. Sie stellen sich bei Behandlung der sozialen Fragen auf den Gesichtspunkt möglichst aus­gebreiteter Lebensbeobachtung. Man kann natürlich nicht behaupten, daß bei Betrachtung und Gestaltung des Lebens Abstraktionen nicht notwendig seien. Aber es kommt auf den Geist an, in dem man abstrahiert. Man sollte beim Abstrahieren nie den Blick verlieren für «bestimmte Insti­tutionen und Personen als Träger bestimmter gesellschaftlicher

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Funktionen». Das Abstrahieren kann ein Instrument sein, um an das Leben heranzukommen; aber es wird für den, der es so ansieht, nie zum Hemmschuh werden für die Arbeit innerhalb der wirklichen Lebenspraxis.

Es widerlegt das hier Gesagte nicht, wenn Kautsky dann weiter (siehe Seite 14 seines Buches) fortfährt: «Es ist . . . keineswegs Marxismus, wenn man von der Nachforschung nach den schuldigen Personen durch den Hinweis auf die unpersönliche Schuld des Kapitalismus ablenken will.» Denn dieser Satz ist auch weiter nichts als ein Ausfluß der lebensfremden Parteidogmatik. In einem besonderen Falle sieht sich Kautsky zum Uminterpretieren dieser Dogmatik gezwungen, weil er ohne dieses sein Buch nicht hätte schrei­ben können. Wenn es sich aber darum handeln würde, daß solch ein Parteimann über die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus urteilen sollte, dann würden die «Abstraktionen» von der Art des «Kapitalismus» sofort wieder wie auf militärisches Kommando aufmarschieren und von einer lebensgemäßen Arbeit den Blick «ablenken». Ob man theoretisch behaupten kann, irgend etwas sei «Marxismus» oder nicht, das ist belanglos für das wirkliche Leben; belangvoll ist allein, welchen Geist der Marxismus in seine Träger gießt.

Für dasjenige, was hier gemeint ist, kann der Marxismus nur ein Beispiel sein. Denn andere Parteidoktrinen tragen einen gleich wirklichkeitsfremden Charakter. Die Schäden unseres sozialen Lebens beruhen auf der krankhaften Zeit­erscheinung, auf die hier gedeutet wird. - Man kann sich nun denken, wie jemand, der unter dem Einflusse dieser Zeitkrankheit steht, mit Einwänden gegen das Gesagte leicht sich einfinden wird. Er kann sagen: Ja, Kautsky kann

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natürlich nicht den abstrakten Kapitalismus anklagen; wie soll man aber auf bestimmte Personen deuten, wenn man eine allgemeine soziale Lebensanschauung ausarbeiten will? Das kann man selbstverständlich nicht. Was man aber kann, das ist, eine solche Anschauung so auf die Erkenntnis der Wirklichkeit aufbauen, daß in ihrer Folge Institutionen entstehen, in denen Personen leben können. Und baut man eine solche Anschauung auf, dann wird sie ohne künstliche Umdeutung im Sinne des Kautskyschen Geständnisses auf Verhältnisse der Wirklichkeit anwendbar sein. Die Abstrak­tionen, mit denen auch eine solche Anschauung arbeiten muß, werden gar nicht nötig machen, zu betonen, daß man gegen sie nicht praktisch kämpfen kann; denn sie werden durch ihre eigene Wesenheit überall auf das Wirkliche hin­weisen, das man zu bekämpfen hat.

Unter dem Einflusse der wirklichkeitsfremden Ideen, die sich gegenwärtig oft für die allein praktischen halten, steht fast alles, was sich ablehnend zu der Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus verhält. Wer sich auf den Boden wirklicher Lebensbeobachtung stellte, mit dem ließe sich diskutieren. Denn selbstverständlich sollte nie­mand, der sich zur Idee von der Dreigliederung bekennt, behaupten, daß alles, was von den Trägern dieser Idee an Vorschlägen für dies oder jenes vorgebracht wird, unan­fechtbar sei. Was aber behauptet werden muß, das ist, daß sich diese Träger auf den Boden einer Lebensansicht stellen, gegen die alle diejenigen gesündigt haben, welchen durch die schmerzlichen Ereignisse der letzten Jahre das Lebens­fremde ihrer Ideen erwiesen ist.

Ein weiter Weg ist von der Schädlichkeit, die den Zeit­strömungen von der geschilderten Art anhaftet, bis zu derjenigen,

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die in der gegenwärtigen Zeit ihre widerwärtigen Blüten dadurch treibt, daß in das öffentliche Leben hinein Dinge gesagt werden, denen jeder Zusammenhang mit der Wirklichkeit fremd ist. Und dennoch, ein Geschlecht, das, solange es geht, in wesenlosen Abstraktionen sich erzieht, das verliert nach und nach das Verantwortlichkeitsgefühl für den Zusammenhang dessen, was man glaubt, sagen zu können, mit dem, was wirklich ist. Das tritt demjenigen so recht vor Augen, der selbst davon betroffen wird. - In diesen Tagen ist durch eine Reihe deutscher Zeitungen eine Notiz gegangen: «Der Theosoph Steiner als Handlanger der Entente.» Alles, was in dieser Notiz steht, ist vom An­fang bis zum Ende eine verleumderische Unwahrheit. Die Verleumdung geht sogar so weit, daß von Briefstellen ge­redet wird, die Angaben herausfordern sollen, durch die man der Entente dienen will. Das alles ist weiter nichts als die unsinnigste Unwahrheit.

Ich werde viel angefeindet. Ich habe bisher über fast alles geschwiegen. Ich halte es für unfruchtbar, mich mit Persön­lichkeiten herumzustreiten, die es mit ihrem Verantwort­lichkeitsgefühl vereinbar halten, den Unsinn zu schreiben: «Über Steiner . . . klagte man in der letzten Zeit unter seiner Umgebung, daß er steril werde, keine neuen mehr habe und immer nur dasselbe vortrage; er werde vermutlich sich bald auf etwas Neues werfen.» Was hat es für einen Wert, sich mit jemandem auseinanderzu­setzen, dem seine Geistesverfassung erlaubt, einen Weg zur Wahrheit auf solchen Grundlagen zu suchen! Wurde doch sogar behauptet, ich sei einmal katholischer Priester ge­wesen, und dann diese unwahre Behauptung von der glei­chen Seite, von der sie weiterverbreitet wurde, mit den

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Worten zurückgenommen: dies lasse sich wohl jetzt nicht mehr halten. Ich polemisiere nicht gerne gegen Leute, die nicht, bevor sie eine Sache behaupten, sich erst überzeugen, ob sie wahr ist.

Doch man muß heute selbst von gelehrten Leuten es er­fahren, daß sie Behauptungen ungeprüft nachsprechen und sagen: Die Sache sei nicht widerlegt worden.

Für diesmal möchte ich gegenüber der oben gekennzeich­neten verleumderischen Unwahrheit nur das folgende sagen: Man kennt die trüben Quellen, aus denen solche Dinge stammen. Man kennt auch den Boden, auf dem die Ab­sichten wachsen, die aus ihnen sprechen. Man weiß aber auch, daß ein Nachweis, daß solche Dinge objektiv unwahr sind, nichts fruchtet gegenüber diesen Absichten. Wünschen möchte man nur, daß möglichst viele Menschen die Naivität ablegen, die sie verhindert, derlei Dinge zu durchschauen. Denn nur dadurch könnte manches besser werden, das in unserer Zeit gar sehr der Besserung bedarf. Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß ich trotz dieser Auseinander­setzung die irrenden Abstraktlinge nicht mit denen zusam­menwerfe, die ich zuletzt hier charakterisiert habe.

ES DARF NICHT NEUER CZERNINISMUS DEN ALTEN ABLÖSEN

Die Weltkatastrophe hat bewirkt, daß heute gewisse Per­sönlichkeiten sich öffentlich in einer Richtung aussprechen, in der sie noch vor kurzem das Verschweigen ihrer Mei­nungen für ein Gebot der Klugheit gehalten hätten Aus den Veröffentlichungen der Männer, die vor und während

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der Unheilszeit in führenden Stellungen waren, kann die Welt erfahren, aus welchen Willensantrieben heraus «Ge­schichte gemacht» worden ist. Was da erfahren werden kann, scheint nun wahrhaft geeignet, Menschen zur Besin­nung zu bringen, die bisher dazu neigten, sich über diese Willensantriebe in Illusionen zu wiegen. In dem Buche «Im Weltkriege» von Ottokar Czernin kann man lesen: «Es ist bekannt, daß der rote Faden, welcher sich durch den Cha­rakter und den ganzen Gedankengang Wilhelms II. zog, seine feste Überzeugung von seinem und von den war. Auch Bismarck glaubte an das dynastische Gefühl der Deutschen. Mir scheint, daß es eben­sowenig ein allgemein dynastisches als ein allgemein repu­blikanisches Gefühl der Völker gibt, bei den Deutschen ebensowenig wie irgendwo anders, sondern nur ein Gefühl der Zufriedenheit oder Unzufriedenheit, welche sich je nach­dem für oder gegen die Dynastie und die Staatsform äußert . . . Die Monarchisten, die sich aus ihrer angestamm­ten Treue für das Herrscherhaus ein Verdienst vindizieren, täuschen sich selbst über ihre Gefühle; sie sind Monarchisten, weil sie diese Staatsform für die befriedigendste halten. Und die Republikaner, welche angeblich die verherrlichen, meinen de facto sich selbst dabei. Ein Volk aber wird sich auf die Dauer immer zu jener Staats­form bekennen, welche ihm am ehesten Ordnung, Arbeit, Wohlstand und Zufriedenheit bringt. Bei neunundneunzig Prozent der Bevölkerung ist der Patriotismus und ihre Begeisterung für die eine oder andere Staatsform immer nur eine Magenfrage.»

Das ist die Gesinnung eines Mannes, von dem man vielleicht

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sogar sagen kann, daß er unter den in öffentlichen Angelegenheiten Führenden nicht zu denjenigen gehört, die am wenigsten Geist gezeigt haben. So spricht sich der Mann aus, der im Auftrage seines Monarchen die österreichische Außenpolitik in den entscheidenden Augenblicken der Welt­geschichte geleitet hat. Ein helles Licht fällt von solchen Äußerungen auf die Frage: Wie müssen die Wege beschaffen gewesen sein, durch die in der ablaufenden Gegenwart Per­sönlichkeiten von solcher Lebensauffassung in führende Stellungen gekommen sind? Ein Mann, der so spricht, hat keine Empfindung für die Antriebe, durch die Menschen in die Gemeinschaften gedrängt worden sind, aus denen die Zivilisation hervorgegangen ist. Ihm fehlt jedes Gefühl für die Mächte, die in der Geschichte gewaltet haben. Er ist das Ergebnis einer Zeitentwickelung, welche in führende Stel­lungen gerade diejenigen Persönlichkeiten gebracht hat, die allen Zusammenhang mit den Menschheitsidealen verloren haben.

Czernin sagt auch: «Der verlorene Krieg hat die Mon­archen hinweggefegt.» Nun, die Zeitereignisse müssen auch Menschen seiner Art aus der Führung der öffentlichen An­gelegenheiten hinwegfegen. - Es handelt sich aber darum, daß möglichst viele Menschen zur Besinnung über dasjenige kommen, was der Grund davon ist, daß Menschen dieser Art «Geschichte machen» konnten. Die Entwickelungs­strömung der Menschheit, die solche Persönlichkeiten auf die wichtigsten Posten des öffentlichen Lebens getragen hat, sie hatte einmal ihre weltgeschichtlichen Ideen. Sie hat aus diesen heraus das jetzt untergehende Europa gestaltet. Man kann diese Ideen verfolgen von den Zeiten an, in denen sich aus der untergehenden römischen Welt dieses Europa

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gebildet hat. Es waren da geschichtliche Antriebe tätig, die sich wahrlich nicht als «Magenfragen» ergeben. Aber diese Antriebe haben in der neueren Zeit ihre Berechtigung ver­loren. Sie sind in der Wirklichkeit als geistige Antriebe seit langem nicht vorhanden. Aber die Institutionen, die aus ihnen entstanden sind, haben sich nach einem gewissen Trägheitsgesetze der Weltgeschichte erhalten. Man lebte in diesen Institutionen, nachdem sie eine leere Hülle geworden sind, in der einstmals Geist gewaltet hat. Und diese leeren Hüllen forderten für ihre Verwaltung Männer, die erfüllt waren von einer Lebensanschauung ohne Inhalt, ohne Ideen, ohne Glauben; Männer, die in Patriotismus machten mit der Überzeugung, daß er bei neunundneunzig Prozent der Bevölkerung eine «Magenfrage» sei. Die Wahrheit ist, daß aus geistigen Antrieben diejenigen Institutionen hervor­gegangen sind, die jetzt ihrer Auflösung entgegengehen, weil sie ihren alten Geist verloren haben, weil diejenigen, denen zuletzt die Wege zur Führerschaft offenstanden, bei dem völligen Bankerott einer Lebensanschauung angekom­men waren.

Eine Erkenntnis sollte aufleuchten aus der Erfahrung, die aus Veröffentlichungen Czerninscher Art hervorgehen kann. Diese Erkenntnis ist noch nicht da bei denen, welche, ohne an eine neue Geistigkeit zu appellieren, das zusammen-stürzende Europa wieder aufbauen möchten. Die Trümmer des alten Bestandes gleichen den Teilen eines auseinander­gefallenen Schrankes. Man steht vor dem Auseinander­gefallenen. Man möchte durch allerlei Bänder und Riemen das Ganze wieder gestalten. Aber man bemerkt nicht, daß die Teile selbst morsch geworden sind.

Morsch gewordene Teile werden die Gebilde sein, in

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denen nach einem beliebten Schlagworte auch die kleinsten Völker zu ihrem Selbstbestimmungsrecht kommen sollen. Denn morsch müssen sie sein, weil die geistigen Antriebe, die einstmals die Lebensstoßkraft in sie ergossen haben, aus ihnen gewichen sind. Man gründe noch so viele «Staaten» und verbinde sie durch einen abstrakt gedachten Völker­bund: man wird nur morsch gewordene Teile eines ehemals berechtigten Ganzen zusammenfügen, das einst von einem Geiste getragen war, der nicht mehr tragfähig ist.

Die Einsicht in diesen weltgeschichtlichen Zusammenhang ist die notwendige Vorbedingung für eine Besserung der europäischen Zustände. Völkerstaaten können nicht ge­deihen, wenn sie nicht auf der Erkenntnis aufgebaut sind, daß der Geist erstorben ist, aus dem die zu ihnen gehörigen Menschen ihr seelisches Leben gefristet haben.

Von dieser Erkenntnis möchten diejenigen ausgehen, welche in der «Dreigliederung des sozialen Organismus» den Rettungsweg aus den Wirren der Gegenwart sehen. Sie sind davon überzeugt, daß diese Dreigliederung mit der neuen Geistigkeit rechnet, die in den Völkern erst leben muß, bevor daran gedacht werden kann, ein neues Europa aufzubauen.

Die Czernine sind die Nachfolger derjenigen, die einst aus Ideen heraus Europa sein Gepräge gegeben haben. Aber die Czernine haben die alten Ideen aus ihren Überzeu­gungen, aus ihrem Glauben verloren und keine neuen sich erobert. Es fruchtet nicht, wenn die alten Czernine mit den alten Institutionen hinweggefegt werden, ohne daß an ihre Stelle Menschen treten, die einen Zusammenhang haben mit den geistigen Triebkräften der Weltgeschichte. In meinen «Kernpunkten der sozialen Frage» und wiederholt in dieser

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Wochenschrift habe ich versucht, zu zeigen, wie mit Um­stellung der politischen und sozialen Denkrichtung die neuen Czernine als die getreuen Schüler der alten sich offen­baren. Es fruchtet nicht, wenn an die Stelle der alten Czer­nine neue demokratisch und sozialistisch drapierte treten, die im Grunde aus den gleichen Seelenantrieben heraus eine neue Weit gestalten möchten, aus denen jener das morsch gewordene Österreich zusammenhalten wollte. Czernin wirkte in dem Österreich, von dem er jetzt (auf Seite 41 seines Buches) sagt: «Österreich-Ungarns Uhr war abge­laufen.» Er glaubt, «daß der Zerfall der Monarchie auch ohne diesen Krieg eingetreten wäre». So kann, nachdem er eine Wirksamkeit wie Czernin hinter sich hat, nur ein Mann sprechen, der ohne wahren inneren Anteil in dem Getriebe stand, in dem er eine hervorragende Rolle hatte. Solcher innerer Anteil hätte ihm nur aus einem Gefühl für die Trieb­kräfte der geschichtlichen Menschheitsentwickelung erstehen können. Aber er wirkte aus Institutionen heraus, die ihren Sinn, ihren Geist verloren hatten. Aber sie hatten ihn ein­mal. So muß ihn haben, was auf den Trümmern des alten Europa entstehen soll. Zu dieser Überzeugung muß sich eine genügend große Anzahl von Menschen aufraffen. Ohne diese Überzeugung können nur die Bestandstücke des Alten zu einem in sich unmöglichen europäischen Ganzen werden.

Was die Alten jetzt sagen, zeigt doch deutlich, wie die Neuen nicht denken dürfen. Die Czernine sind die Leute, in denen Monarchismus, Republikanismus, Demokratie, Patriotismus zur «Ideologie» geworden sind. Sie waren amtlich dazu verhalten, ihre Taten im Dienste der Mon­archie zu tun und sie können jetzt schreiben (Seite 70 des Czerninschen Buches): «Allen Monarchen sollte gelehrt werden,

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daß ihr Volk sie gar nicht liebt, daß sie ihln im besten Falle ganz gleichgültig sind, daß es ihnen nicht aus Liebe nachläuft und sie nicht aus Liebe anstarrt, sondern aus Neu­gierde, daß es ihnen nicht aus Begeisterung zujubelt, sondern aus Unterhaltung und aus und genau so gern pfeifen würde, wie es jubelt - daß nicht der geringste Verlaß auf die ist, daß sie auch gar nicht die Absicht haben, treu zu sein, sondern zufrieden sein wollen, daß sie die Monarchen dulden, solange sie entweder durch die eigene Zufriedenheit hierzu veranlaßt werden, oder, falls nicht, solange sie nicht die Kraft haben, sie davonzu­jagen. Das wäre die Wahrheit.» Aller Geist ist «Ideologie» geworden in einem Manne, der im Dienste eines Monarchen mit der Meinung handelt, dies ist die Wahrheit.

Man bedenke, was werden soll, wenn die öffentlichen Institutionen aus einer Lebensanschauung heraus gebildet würden, die schon aufgebaut ist auf der Meinung, alles Geistige sei «Ideologie». Bei den alten Czerninen hat sich diese Meinung halb unbewußt ausgebildet; sie sind in sie hineingeschlittert, wie, nach Tirpitz' Meinung, Deutschland in den Weltkrieg. Die neuen Czernine möchten Europa gleich vom Anfang an aus dieser Meinung heraus neu auf­bauen. Es wird nichts helfen, daß viele von ihnen - gewiß nicht alle - dabei keinen schlechten Willen haben. Im welt-geschichtlichen Werden entscheidet nicht ein abstrakter guter Wille, der von den wirklichen Triebkräften des Lebens nichts ahnt, sondern die lebendige Einsicht in die Wirk­lichkeit.

ZERSTÖRUNG UND AUFBAU

#G024-1961-SE144 Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus

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ZERSTÖRUNG UND AUFBAU

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John Maynard Keynes hat eben in London ein Buch er­scheinen lassen über die wirtschaftlichen Folgen des Ver­sailler Friedens (The economic consequences of the peace by John Maynard Keynes C. B. Fellow of King's ColIege, Cambridge. Macmillan and Co., London). Er gibt in der Vorrede an, daß er während des Krieges zeitweilig im britischen Schatzamt tätig und dessen amtlicher Bevoll­mächtigter bei der Friedenskonferenz bis zum 7. Juni1919 war. Er resignierte von diesem Amte, als ihm jede Hoffnung schwand, es könne aus dem, was unter dem Einflusse der auf dieser Konferenz maßgebenden Persönlichkeiten als «Friede» zustande kommt, eine gedeihliche Entwickelung des wirtschaftlichen Lebens in Europa sich ergeben. Er spricht als Engländer. Aber als ein solcher, der nüchtern sich die Frage vorlegte: Ist es möglich, daß aus dem Wollen Wilsons, Clemenceaus, Lloyd Georges etwas sich ergibt, das als wirtschaftliche Gestaltung Europas Lebensfähigkeit in sich trägt? Die Ausführungen seines Buches zeigen, daß er sich am 7. Juni1919 sagte: Wilson ist ein Mann, der, in lebensfremden, abstrakten Begriffen lebend, keinen maß­gebenden Einfluß auf die Absichten Clemenceaus und Lloyd Georges haben kann; Clemenceau ist eine Persönlichkeit, die einzig und allein von dem leidenschaftlichen Willen beseelt ist, Europa einen Frieden zu diktieren, der mit Außerachtlassung der Entwickelung seit 1870 Frankreich in die Lage versetzt, sich als «Nation» in der Welt so zu fühlen, wie es sich vor 1870 hat fühlen wollen; Lloyd George ist schlau und mit Menschenkenntnis begabt, aber nur auf Augenblickserfolge bedacht. Und Keynes beantwortete

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sich die oben angeführte Frage mit dem Gedanken: Was unter dem Einflusse dieser drei Persönlichkeiten ge­schehen kann, muß die wirtschaftliche Zerstörung Europas herbeiführen. Und er trat von seinem Amte zurück. Ausblicke auf etwas, was Hoffnung gibt für einen Neuaufbau dieser wirtschaftlichen Verhältnisse, kann ich in seinem Buche nicht finden, wohl aber am Schlusse einen Satz, der sagt, daß ein Heil nur zu erwarten sei, wenn diejenigen Kräfte der Erkenntnis und Lebensanschauung in Bewegung gesetzt werden, welche die herrschenden Meinungen umge­stalten. Man mißversteht Keynes wohl nicht, wenn man sagt, das Buch ist aus der Sorge und Angst entsprungen, England habe an einem Werke mitgearbeitet, aus dem die Zerstörung Europas in einem solchen Maße erfolgen müsse, daß es dabei England selbst böse ergehen könne.

Die Ausführungen Keynes' sind ein voller Beweis dafür, daß aus den politischen Anschauungen, die bis in die Gegen­wart herrschend waren und die von den noch immer maß­gebenden führenden Persönlichkeiten auch in das sogenannte «Friedenswerk» hineingetragen worden sind, nichts hervor­gehen kann von dem, was die Zukunft der zivilisierten Menschheit braucht.

Die Angehörigen des deutschen Volkes erleben in dieser Weltenstunde in der denkbar bittersten Art, wozu es unter den herrschenden Antrieben der neueren Zivilisation gekommen ist. Man fordert von ihm etwas, an dessen Ver­wirklichung keinen Augenblick gedacht werden kann. Die es fordern, würden Berge von Haß auftürmen, gegen die die bisher errichteten winzige Hügel wären, wenn das deutsche Volk nach einem Machterfolge sich hätte einfallen lassen, dergleichen zu ersinnen. Dahin also ist man gelangt,

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daß man das offenbar ganz Unmögliche als eine Bedingung eines Friedenswerkes ansehen kann.

Leute, die sich nüchternen Blick bewahren wollen, sagen, die führenden Persönlichkeiten arbeiten an der Zerstörung Europas; diese führenden Persönlichkeiten ersinnen als ein Stück ihres «Friedenswerkes» etwas, aus dem Maßnahmen hergeleitet werden, welche zu der wirtschaftlichen Zer­störung die völlige seelische Selbstvernichtung des deut­schen Volkes herbeiführen sollen. (An der Beurteilung des «Geistes», der in solchen Maßnahmen wirkt, ändert es nichts, wenn etwa später Ahänderungen erfolgen. Und auf diesen «Geist» kommt es an.)

Sind wir nicht an dem Punkte angelangt, an dem nun endlich von einer genügend großen Anzahl von Menschen eingesehen werden könnte, daß der Rettungsweg aus der Sackgasse Europas durch ganz andere Mittel gefunden wer­den muß, als diejenigen sind, die sich aus einer Fortsetzung der abgelebten öffentlichen Ideen ergeben? Wird man noch weiter glauben, daß man «Frieden» machen könne, wenn die öffentlichen Ansichten, die das zwanzigste Jahrhundert eingeleitet haben, für die Gestaltung der zivilisierten Welt maßgebend bleiben sollen? Man wird nichts «unterzeichnen» können, was einen «Frieden» einleitet, solange nicht aus einem neuen Geiste heraus anders geurteilt wird, als bei 9rdnung der öffentlichen Angelegenheiten bisher geurteilt worden ist. Eine Diskussion darüber, ob ein solcher neuer Geist notwendig sei, müßte unter Urteilsfähigen eigentlich angesichts dessen, was aus dem alten heraus geschieht, heute schon ausgeschlossen sein. Der Mut, die Entschlossenheit zu diesem neuen Geiste sollte in eine genügend große Anzahl von Seelen einziehen. Daraus müßte eine Aufbau-Arbeit

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erfolgen, welche dem zerstörenden Geiste wirksam ent­gegengerichtet sein kann. Der Einwand, daß das deutsche Volk allein mit solchem Geiste in seiner gegenwärtigen Lage gegenüber den mächtigen Siegern nicht aufkommen könne, müßte in seiner Bedeutungslosigkeit durchschaut werden. Denn was gut ist, wird von der ganzen Welt zuletzt doch entgegengenommen, wenn die Einsicht in die Ersprießlich­keit über die Vorurteile siegt.

Es ist in Wirklichkeit auch gar nicht dieser Einwand, der die Gegner einer neuen Geistigkeit zu ihrer Ablehnung der­selben treibt. Es ist der Mangel an Mut, den sie sich nicht eingestehen und über den sie sich durch Scheinurteile hin­wegtäuschen wollen. Es ist die geringe Meinung, die bei vielen von der Wirksamkeit des Geistigen in der neuesten Zeit heranerzogen worden ist und die jetzt die übelsten Früchte zeitigt. Die materialistische Utopie, die Wirklich­keit geworden ist, und die, als Utopie, in Zerstörungen sich ausleben muß, läßt das wirklich Praktische, das heute nur aus einer neuen Geistigkeit geholt werden kann, weiten Kreisen als «Utopie» erscheinen.

Für viele steht die Sache so, daß ihnen die äußeren Erfolge dieser neuesten Zeit ein Erleben gebracht haben, das ihnen nur allzu sympathisch war. Das verhindert sie, zu sehen, daß auf dem Grunde der Entwickelung zu diesen Erfolgen jener Ungeist war, der die Schrecknisse der letzten fünf Jahre bewirkt hat. Sie möchten aus diesen Schreck-nissen heraus einen «Frieden» machen, der diese nur als Episode erscheinen läßt und die alten Zustände wieder an die Stelle des Chaos setzt. Doch zukunftverheißend kann nur ein Handeln aus dem Urteil heraus sein, das durch-schaut, wie die äußeren Erfolge der neuesten Zeit auf

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einem zerstörten Boden der Ideenlosigkeit sich aufbauten, wie jede Rückkehr zu dem Alten ohne geistige Erneuerung auch die alten Samen für ein Wiederkehren der Schrecknisse neu säen müßte. Ohne die wirksame Hilfe dieses Urteils bei einer genügend großen Zahl von Menschen kommen wir aus Wirrnis und Chaos nicht heraus.

EINSICHTIGER WILLE TUT NOT

#G024-1961-SE148 Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus

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EINSICHTIGER WILLE TUT NOT

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Als im Dezember 1916 die Mittelmächte ihr Friedensangebot an die Entente ergehen ließen, enthielt dieses nichts, was in bestimmter Art die Kriegsziele zum Ausdrucke brachte. Und auch in der Folgezeit ließen sich die mittel-europäischen Staatsmänner nicht dazu herbei, eine deutliche Willensmeinung der Welt kundzugeben. Man wollte nur die Möglichkeit herbeiführen, sich «an den Versamm­lungstisch zu setzen». Dann, so dachte man wohl, wird sich finden, was man wollen kann oder soll. Wer heute die zu so großer Zahl angeschwollenen Veröffentlichungen dieser Staatsmänner liest, der kann sehen, warum das so war. Diese Männer konnten aus den Gedanken, die sich in ihren Köpfen bewegten, während sie Führerstellen einnahmen, nichts herausentwickeln, was Licht in das Chaos hätte brin­gen können, das sie hereinbrechen sahen. Und deshalb war­teten sie auf eine Zukunft, in der sich finden werde, was sie denken sollten.

Wohin man mit diesem Warten hat kommen können, das lehren die traurigen Verhältnisse der Gegenwart. Aber sie haben noch die wenigsten gelehrt, daß mit dieser Art des Verhaltens endlich gebrochen werden müsse. Daß es notwen­dig

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sei, daß gerade in dem schwergeprüften Mitteleuropa eine bestimmte, klarumschriebene Zielsetzung aufleuchten müsse, wenn die Wirrnis nicht noch größer werden soll.

Man sehe doch auf die internationalen Folgen dieses Mangels an einer Zielsetzung. Immer klarer wird es, daß führende Persönlichkeiten der Westmächte eine wahre Angst ergreift vor dem, was aus den Ländern noch werden kann, die sie besiegt haben. Alpdrücke verursacht es ihnen, wenn sie vor dem, was in Deutschland noch alles an die Ober­fläche der Ereignisse treiben kann, mit ihren Gedanken stehen. Denn dieses Deutschland erscheint ihnen wie ein großes Unbekanntes. Sie fürchten, daß aus ihm etwas wer­den könnte, das die Grundfesten ihrer eigenen Länder erschüttert, nachdem sie durch den Sieg die Möglichkeit gehabt haben, einen «Frieden» zu erzwingen, der ihnen die «Sicherungen» gegeben hat, die man sich nach der alten Staatskunst eben vorstellen kann.

Man denke sich, was in dieser internationalen Lage ge­schehen könnte, wenn nun wenigstens jetzt in Deutschland sich etwas zur Geltung brächte, das nicht auf ein Warten und Sich-Treiben-Lassen von den Ereignissen hinausliefe, sondern das klares Wollen offenbarte. Die geschichtliche Entwickelung des deutschen Volkes rechtfertigt ja doch den Glauben, daß in diesem Volk Verständnis erweckt werden könne für Antriebe, die nach dem Wiederaufbau des ver­wüsteten Europas hinzielen, wenn die Gedanken, die von solchen Antrieben sprechen, nicht niedergeschrieen werden von denen, die unfähig sind, Entwickelungsnotwendig­keiten der Menschheit einzusehen.

Von diesem Glauben ist ausgegangen alles, was sich als Bewegung zur Dreigliederung des sozialen Organismus vor

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die Welt hinstellt. Der erste Schritt war der im Frühjahr 1919 erschienene Aufruf «An das deutsche Volk und an die Kulturwelt!». Der Glaube an die Kraft der deutschen Volkskräfte lag diesem Aufruf zugrunde. Ohne ihn hätte er nicht abgefaßt werden können. Aber man konnte sogar finden, daß der Inhalt dieses Aufrufes das deutsche Empfinden verletze. Man konnte in ihm eine Beleidigung des deutschen Volkes sehen. Andere, die weniger kurzsichtig waren, fan­den ihn «unverständlich». Das bedeutet aber nichts anderes, als daß sie ihn oberflächlich gelesen hatten und sich dann fragten, ob er denn übereinstimme mit dem, was sie gewohnt waren, über geistige, staatliche und wirtschaftliche Verhält­nisse zu denken. Sie fanden, daß er etwas anderes sagte. Da antworteten sie sich: «Unverständlich». Niemand wollte bedenken, daß die altgewohnten Gedanken Europa zuletzt in den schrecklichsten Kampf getrieben und innerhalb dieses Kampfes sich nichts ergeben hatte als das «Warten» und «Sich-Treiben-Lassen» von den Ereignissen.

Dieser schreckliche Krieg hat Europa vor das Chaos ge­stellt. In dem Chaos befinden sich Völkerzusammenschlüsse, die nun weiterleben wollen. Sie wollen es aber mit den Ideenkräften, die in das Chaos hineingeführt haben. Vor dem Kriege entwickelte sich in diesem Europa ein Wirt­schaftsleben, das geführt wurde von den Staatsmächten, die sich aus nationalgeistigen, aus allerlei rechtlichen Grund­lagen gestaltet hatten. Diese Gestaltungen haben erwiesen und erweisen mit jedem Tage aufs neue, daß sie die Wirt­schaft Europas nicht führen können. Die geistigen und recht­lichen Verhältnisse aber können sich nicht entfalten, wenn das von ihnen geführte Wirtschaftsleben unter ihrem Ein­flusse zusammenbricht. Die verwüstenden Ereignisse sprechen

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die allerdeutlichste Sprache: Gebet das Wirtschafts­leben den aus ihm selbst herauswachsenden Kräften! Schaffet ein Rechtsleben, dessen Inhalt nicht von den wirtschaft­lichen Mächten bestimmt wird! Befreiet die Verwaltung der geistigen Angelegenheiten von den wirtschaftlichen und staatlichen Fesseln, damit sie, auf sich selbst gestellt, die anderen Zweige des Lebens befruchten können! Die Leute schreien «Utopie» und nennen Wirklichkeit, was für jeden, der sehen will, in seine eigene Vernichtung hineintreibt.

Die jetzt Führer sein möchten, sind die getreuen Schüler derer, die mit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in eine unmögliche Weltlage hineingetrieben haben. Diese sahen den «Aufschwung» und meinten, daß das so fort­gehen könne; und ihre Schüler sehen die Vernichtung und möchten ihr entgegenarbeiten mit den Gedanken, die den «Aufschwung» gebracht, das heißt in die Vernichtung hineingetrieben haben.

Wie oft wurde von dem Schreiber dieses Aufsatzes betont, daß die Anmaßung nicht besteht, mit den vor die Welt hingestellten Ideen der Dreigliederung sei etwas gemeint, das der Verbesserung nicht bedürfe. Je mehr erfahrene Men­schen an dieser Verbesserung mitarbeiten, desto Besseres wird daraus werden. Was aber gemeint ist, das ist, daß die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus von den wirklichen Lebensnotwendigkeiten im öffentlichen Da­sein der Gegenwart ausgeht. Und daß diese Lebensnot­wendigkeiten nur derjenige sehen kann, der durchschaut, wie die hergebrachten Vorstellungsarten durch die Schreckensereignisse der Gegenwart tatsächlich widerlegt sind. Auf den Willen zu solcher Einsicht kommt es heute an. Alles «Warten» kann nichts bringen als Ereignisse, die

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neuerdings widerlegen, was schon widerlegt genug ist. Nur wird jede neue Widerlegung begleitet sein von einer neuen Welle der Verelendung.

Von gesunden Gedanken muß der Aufbau Europas aus­gehen. Gesunde Gedanken, die im öffentlichen Leben wirk­sam sein sollen, bedürfen einer genügend großen Anzahl von Menschen, die ihnen soviel Verständnis entgegenbringt, daß ihr Wollen dadurch zu einer wirklichen Lebenskraft umgewandelt wird. Ohne dieses gibt es kein Fortschreiten. Verhandlungen führen zu nichts, wenn nicht in den Ver­handlungen der notwendige Wille wirkt. Wo Menschen-wille wirkt, da sind nicht Utopien, denn alles, was im Men­schendasein sich entwickelt hat, sind zuletzt Ergebnisse des Menschenwillens. Ergebnisse solcher Art sind die Geistes-gemeinschaften, die je entstanden sind, sind auch die Staa­ten, sind ebenso die wirtschaftlichen Produktionsverhält­nisse. Solange von Menschen, die in sich nicht die Kraft finden, dieses zu durchschauen, diejenigen Ideen nieder­geschrieen werden, die von dieser Einsicht ausgehen möch­ten, kommen wir keinen Schritt weiter in der Überwindung der Wirrnisse Europas.

DIE ZEITFORDERUNGEN VON HEUTE UND DIE GEDANKEN VON GESTERN

#G024-1961-SE152 Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus

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DIE ZEITFORDERUNGEN VON HEUTE UND DIE GEDANKEN VON GESTERN

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Während der Waffenkrieg tobte, konnte man sehen, wie führende Persönlichkeiten Mitteleuropas immer wieder ihren politischen Scharfsinn darauf wendeten, herauszu­finden, daß da oder dort bei den Gegnern Uneinigkeit herrsche. An solche Uneinigkeiten wollten sie anknüpfen,

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um für einen günstigen Fortgang des eigenen «Staats­geschäftes» zu sorgen. Durch diese Art diplomatischen Den­kens hat man es nach und nach dahin gebracht, nicht zu sehen, wie sich fast die ganze Welt darin einigte, Mittel­europa zu überwinden.

Wie so vieles, wird auch diese Art von «Diplomatie» jetzt weitergedacht von Persönlichkeiten, die durchaus nicht von den Ereignissen lernen wollen. Man sieht, wie England auf den Wunsch Frankreichs nach einem genau umrissenen militärischen Allianzvertrag nicht eingehen will; man be­merkt, wie man in London nicht geneigt ist, die wirtschaft­lich-finanziellen Anforderungen, die von Paris ausgehen, ohne weiteres zu erfüllen, und wie man in England nicht mit unbedingtem Wohlwollen das Begehren Frankreichs bezüglich der Rheingrenze behandelt. Man wendet seine Aufmerksamkeit auf Wilsons politisches Verhalten nach dem Friedensschlusse und auf ähnliche Dinge mehr.

Man möchte nun wieder sich von diesen Uneinigkeiten einen Weg weisen lassen für dasjenige, was man in Mittel­europa zu tun hat. Man ist wieder so weise, daß man nicht sieht, wie einig die andern sein werden, wenn man selbst sich anschickt, den Weg zu gehen, den man durch ihre Uneinigkeit vorgezeichnet meint.

Wie lange wird es dauern, bis man die Fruchtlosigkeit einer solchen Denkungsart durchschaut? In den Tiefen der europäischen Menschheit walten Kräfte, die eine Fortsetzung dieser Denkart unmöglich machen. In den Ländern des Westens sind durch den vorläufigen Ausgang der Kriegsereignisse Verhältnisse geschaffen, die es gestatten, daß dort führende Persönlichkeiten sich mit ihrem Denken noch eine Weile in den alten Bahnen halten können. An diese Gebiete

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werden Forderungen der Menschheitsentwickelung erst nach einiger Zeit herantreten, die in Mitteleuropa schon heute brennend sind. Man wird dort das Wirtschaftsleben noch für kurze Zeit mit dem Staatsleben verbunden halten können.

In Mitteleuropa kann nur eines zu einem heilsamen Fort­gang führen: die Einsicht in die Neugestaltung der ganzen sozialen Organisation. Die Westländer haben sich durch ihren Zusammenschluß und durch den Sieg die Möglichkeit erkämpft, für eine Zeitspanne den alten sozialen Organismus zu erhalten. Diese Erhaltung ist an ihren Sieg gebunden. Die Länder Mitteleuropas sind in einer Lage, die eine solche Erhaltung unmöglich macht. Hier muß eingesehen werden, daß die alten sozialen Gebilde keine Institutionen haben, die aus dem Chaos herausführen können.

Soziale Gebilde veralten; aus den Tiefen der Menschen­seelen müssen die Triebkräfte zu Neugestaltungen kommen. Ohne das Vertrauen zu dem, was in diesen Tiefen waltet, kann man nicht weiterkommen. Auf diejenigen sollte nicht weiter gerechnet werden, die dieses Vertrauen als Ausfluß eines phantastischen Idealismus hinstellen und als das Prak­tische nur das predigen, was sie als das Übliche gewohnt geworden sind zu denken. Wenn heute in London das An­sinnen der französischen Regierung nach einer militärischen Allianz wegen der britischen Traditionen nicht mit offener Seele aufgenommen wird, wenn England seine Kassen den französischen Wirtschaftsbedürfnissen nicht ganz bereit­willig öffnet, so sind das Dinge, auf die nur die «schlauen» Schüler oder Nachtreter des alten diplomatischen Denkens ihre Blicke richten. Diejenigen, die die «Zeichen der Zeit» verstehen, sollten einsehen, daß aus diesen Dingen für den Fortgang der mitteleuropäischen Verhältnisse ebensowenig

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zu gewinnen ist, wie vor dem Kriege dadurch zu gewinnen war, daß es «unvereinbar» war mit den Gepflogenheiten Englands, auf einen militärischen Bündnisvertrag mit Frankreich einzugehen. Auf solches waren die Augen derer ge­richtet, die nach den Anschauungen Czernins mit «euro­päischer Bildung» in den Gesandtschaftspalästen der Welt sitzen sollten. Aber diese «europäische Bildung» hat die Schrecknisse der letzten Jahre gezeitigt. Diese «europäische Bildung» hat in Salons «Stimmungen» erforscht und nichts davon bemerkt, wie die Welt zusammenbricht, während sie Politik macht. Für gewisse Leute sind diese alten Stimmung-Hörer abgetan; deren Methode aber soll nicht einer neuen Denkungsart weichen. Wird man nicht aufhören, auf solche «Praktiker» etwas zu geben, so wird man weiter träumen, was Mitteleuropa tun solle in dem Augenblicke, da sich zwischen der Kreditbedürftigkeit des einen und der Kreditbereitschaft des andern im Westen eine «tiefe Kluft» auftut. Man wird nichts anderes damit erreichen, als daß der Traum eines Tages zu dem Erwachen führt, das zeigen wird, wie man selbst in die «tiefe Kluft» hineingefallen ist.

Die Idee von der «Dreigliederung des sozialen Organis­mus» wendet sich an Menschen, die mit unbefangenem Blicke erkennen, wie die Weltkatastrophe aus den Anschauungen hervorgegangen ist, die von der oben gekennzeichneten Art sind. Die Träger dieser Anschauungen glauben heute, daß der Weltkrieg vermeidlich gewesen wäre, wenn das Ver­hältnis zwischen Deutschland und England sich nach ihrem Sinne vor 1914 entwickelt hätte. Sie vergessen dabei nur, daß dieses Verhältnis sich so nicht hat gestalten können in einer Welt, die von ihren Denkgewohnheiten beherrscht war. Auf diese Art von «Praktikern» hat die Welt nun

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lange genug hingehört; sie haben auch lange genug als «utopistisch» und «phantastisch» verschreien dürfen, was den Versuch machte, mit ihren Denkgewohnheiten zu bre­chen. Die Zeit sollte gekommen sein, in der man das Phan­tastische durchschaut, das in solchen Praktikern lebt, und sich detq Wirklichen zuwendet, das mit den Forderungen des weltgeschichtlichen Augenblickes rechnet.

IDEEN UND BROT

#G024-1961-SE156 Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus

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IDEEN UND BROT

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Kann die Verbreitung einer Idee, wie sie die von der Dreigliederung des sozialen Organismus ist, heute gegenüber den wirtschaftlichen Nöten ein fruchtbares öffentliches Wollen bewirken? Diese Frage wird von vielen gestellt. Und nur allzu oft ist die Antwort: Zunächst hat man doch um das bloße Brot zu kämpfen; dann, wenn man zu diesem gekommen sein wird, kann man sich wieder Ideen zu­wenden.

Gerade gegen diese Anschauung mußte in dieser Zeitschrift immer wieder gesprochen werden. Daß uns das Brot fehlt, daran trägt doch wahrlich nur die Schuld, daß die Ideen, durch die wir es bisher uns zu erarbeiten versuchten, sich als unfähig erwiesen haben, es uns weiter zu verschaffen. Es ist doch nicht das Brot, das sich uns entzogen hat und an das man appellieren kann; es ist die Arbeit, die man herbei­rufen muß, um das Brot zutage zu bringen. Die Arbeit aber kann ohne die Idee, die ihr Richtung und Ziel gibt, nicht in fruchtbarer Art geleistet werden. Man möchte sich eine ein­fache Tatsache nicht eingestehen: Die bisher führenden Per­sönlichkeiten haben der Arbeit aus Ideen heraus Richtungen

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und Ziele gegeben, zu denen die Arbeitenden das Vertrauen verloren haben. Dadurch sind wir zusammengebrochen. Wenn wir zu diesem Geständnis nicht kommen wollen, wird der Niedergang weiter wüsten. Macht man sich dieses Ge­ständnis rückhaltlos, dann muß man einsehen, daß eine Rettung vor dem Niedergange nur in dem Erfassen neuer Ideen liegen kann.

Heute liegen die Dinge so, daß man doch wahrlich keinen besonderen Grund hat, sich stark dafür zu interessieren, ob Erzberger dem Helfferich oder der Helfferich dem Erzberger die schlimmeren Dinge an den Kopf zu werfen hat. Die Hauptsache ist doch, daß alle beide aus Verhähnissen heraus erwachsen sind und im Sinne solcher Verhältnisse weiter denken, die den Zusammenbruch unseres öffentlichen Lebens herbeigeführt haben. Daß die Ideen, die in allen Köpfen Erzbergerischer und Helfferichscher Art spuken, durch andere abgelöst werden, darauf kommt es an. Heliferich hat den Kampfruf erhoben: Erzberger ist ein Schädling des öffentlichen deutschen Lebens; er muß aus demselben entfernt werden. Den Inhalt dieses Rufes zu bezweifeln, ist kein Grund. Seine Vertretung durch die Leute mit Helfferichschen Gedanken führt aber zu nichts. Weiter kommen wir erst, wenn wir Ideen von einer sozialen Ordnung pflegen können, die alle Helfferichsche und Erzbergerische Politik aus der Welt schaffen. Ob der eine oder der andere schuldiger ist, hat gewiß ein bedeutendes juri­stisches Interesse; daß die Ideen beider an dem Niedergange des öffentlichen Lebens schuld sind, darüber muß eine neue Einsicht keinen Zweifel lassen.

Was verhindert das Aufkeimen solch einer neuen Ein­sicht? Es könnte doch unschwer einleuchten dem, der aus

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den Tatsachen lernen wollte. Aber wie viele haben aus den Tatsachen des Krieges gelernt; wie viele sind geneigt, aus denen zu lernen, die sich zunächst nach dem Waffenkriege ergeben haben? Die «echt» marxistische und auch die abge­schwächt marxistische sozialistische Lehre sind tief durch­drungen, daß in der Wirtschaftsgrundlage der sozialen Ordnung das Heilmittel für einen gedeihlichen Fortgang in der Zukunft gesucht werden müsse. In dem weltgeschicht­lichen Augenblicke, in dem die Träger des Sozialismus vor­rücken in die Stellen, die früher von Leuten eingenommen worden sind, welche sie bekämpfen, wird an der Seite von Sozialisten die Leitung eines wesentlichen Teiles des Wirt­schaftslebens von - Erzberger besorgt.

Über diese Dinge wird man nicht hinauskommen, solange man nicht das Vertrauen zu Ideen gewinnt, die sich nicht mehr ihre praktische Durchführung von den alten Rou­tiniers besorgen lassen wollen, sondern die geeignet sind, selbst an diese Durchführung heranzutreten. Den Willen zur Lebenspraxis, die sich aus neuen Ideen ergibt, ihn möch­ten diejenigen pflegen, die von der Dreigliederung des sozialen Organismus reden. Sie fragt man oft: Ja, wie denkt ihr euch denn dieses oder jenes durchgeführt? Sie müssen antworten: Zur Durchführung ist vorerst notwendig, daß die Idee der Dreigliederung selbst als praktische Grundlage erfaßt und in ihreni Sinne gehandelt werde. Dann weisen sie darauf hin, welche Gestalt diese oder jene Einrichtung gewinnen müsse, wenn die Dreigliederung im öffentlichen Leben wirksam werden solle. Wenn sie so reden, dann rufen diejenigen, die nicht selbst nach dem Vorgebrachten urteilen mögen, die alten «Praktiker» auf irgendeinem Gebiete zu Hilfe. Diese haben «bisher keine Zeit gehabt»,

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sich mit den neuen Ideen zu beschäftigen. Sie hören sich im Fluge an, was denn die Träger dieser Ideen eigentlich wollen, verstehen ganz selbstverständlich aus einer herausgerissenen Einzelheit nicht das allergeringste und fällen das Urteil: - «Utopie», «gutgemeinter Idealismus», aber für die Praxis wesenlos.

Man muß diesen Tatsachen ganz vorurteilslos ins Auge schauen, wenn man die Grundbedingungen erkennen will, unter denen eine Idee wie die von der Dreigliederung des sozialen Organismus vorwärtskommen kann, und wenn man die Hindernisse werten will, welchen diese Idee begegnet. Die Träger der Dreigliederungsidee mögen noch so praktische Vorschläge im einzelnen machen: man wird sie bekämpfen auf der Seite derjenigen, die auf diese Idee selbst nicht eingehen. Deshalb ist gegenwärtig notwendig, daß das Verständnis für diese Idee moglichst verbrietet werde. Alle speziellen Einrichtungen, welche von Trägern dieser Idee getroffen werden, müssen dieser Verbreitung der Idee zunächst dienen.

Die wirkliche Erkenntnis fruchtbarer neuer Ideen kann allein die Wege finden lassen, auf denen wir wieder zu Brot kommen. Die Flucht vor diesen Ideen wird uns völlig brotlos machen. Helfen kann nur die Einsicht, daß dem Brotmangel der Ideenmangel vorangegangen ist, daß der letztere die Ursache des ersteren ist. Der Weg, den wir gemacht haben, ist: Ideenmangel, Brotlosigkeit. Der Weg den wir gehen müssen, ist: in den Ideen den Willen zur Arbeitsgestaltung finden. Auf diesem Wege wird - das Brot erzeugt werden.

DIE FÜHRER UND DIE GEFÜHRTEN

#G024-1961-SE160 Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus

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DIE FÜHRER UND DIE GEFÜHRTEN

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Wer ohne Voreingenommenheit die Ereignisse im heutigen öffentlichen Leben Mitteleuropas beobachtet, dem wird nicht entgehen können, wie die breiten Massen des Volkes in blindem Autoritätsglauben zu führenden Persönlich­keiten aufsehen, wie sie stets von neuem von diesen Persön­lichkeiten irgend etwas erhoffen, auch wenn diese Hoff­nungen in früheren Fällen sich als unbegründet erwiesen haben. - Diese Erscheinung erweist sich in einem so hohen Maße als charakteristisch für unsere Zeit, daß mit ihr rechnen muß, wer mit seinen Ideen in der Wirklichkeit stehen will. Sie bezeugt, daß die Massenstimmung darauf eingestellt ist, weniger auf die Ideen selbst hinzusehen, welche in den Bereich des öffentlichen Lebens getragen wer­den, als auf die Personen, von denen sie kommen.

Vorläufig wenden sich die Menschen, welche geführt sein wollen, noch an diejenigen, welche vor dem Zusammen­bruche aus diesem oder jenem Grunde einen autoritativen Einfluß gehabt haben. Man hört aufmerksam darauf hin, was Graf Bernstorff zu sagen hat über die maßgebenden Tatsachen, die den Eintritt Amerikas in den Krieg bewirkt haben. Man tut dies, weil man glaubt, daß man auf ihn bei einer Neugestaltung der Dinge zählen könne. Was aber hat Graf Bernstorff aus seinen Erfahrungen zu sagen? Im Grunde etwas durchaus Negatives. Amerika wäre vom Eingreifen in den Krieg abgehalten worden, wenn Deutsch­land den uneingeschränkten Unterseebootkrieg nicht ge­führt hätte. Diese Meinung kann richtig sein. Fruchtbar für die Gegenwart kann sie aber nicht sein. Denn was in dieser Art geschehen ist, was getan worden ist, kann eben

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nicht mehr geändert werden. Getan aber sollte wenigstens jetzt werden, was in der Zeit des schreckensvollen Krieges nicht getan worden ist; den öffentlichen Angelegenheiten aus Ideen heraus eine zielvolle Richtung zu geben, das ist unterlassen worden; das sollte jetzt getan werden. Von Amerika aus kamen die vierzehn Wilsonschen Schein-Ideen. Wer mit den wirklichen Tatsachen rechnen kann, mußte wissen, daß aus diesen Schein-Ideen sich eine Neugestal­tung der in die Zerstörung treibenden Zivilisation nicht ergeben könne. Die konnte nur erhofft werden, wenn aus den Reihen der führenden Persönlichkeiten den Schein­Ideen wirkliche entgegengestellt wurden. Es wurde damals versucht, solchen führenden Persönlichkeiten in Mittel­europa diejenigen Ideen nahezubringen, die jetzt in der Bewegung für die Dreigliederung des sozialen Organismus leben. Bei der Einstellung der Massen auf die Autorität der führenden Persönlichkeiten hätte es damals, als die Kriegsereignisse noch unentschieden waren, viel bedeuten können, wenn auch nur wenige den Willen zur Prüfung dieser Ideen gehabt hätten und dazu den Mut, im Sinne des Prüfungsergebnisses sich zu verhalten. Haben doch die Schein-Ideen Wilsons die breitesten Kreise von Menschen wie eine neue Offenbarung ergriffen.

Der Gang der Ereignisse, die immer mehr der Auflösung entgegentreiben, macht es leicht, pessimistische Stimmungen zu rechtfertigen. Man sollte aber doch auch das Gute in der hier gekennzeichneten Tatsache, der Einstellung der Massen auf führende Persönlichkeiten, sehen. Vorläufig nimmt diese Einstellung noch eine falsche Richtung an. Sie wendet sich nach den alten Führern. Aber es kann nicht ausbleiben, daß eines Tages den Geführten klar wird, die

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Leute mit den alten Ideen, die nicht umlernen wollen, führen in den weiteren Niedergang. Dann wird die Zeit sein für die Leute mit den neuen Ideen. Aber es wird alles, was geschehen sollte, davon abhängen, daß diese Leute in einer genügend großen Anzahl vorhanden sind. Dahin muß gearbeitet werden. Die Möglichkeit muß erstrebt werden, daß das Vertrauen, das sich heute noch in den ausgetretenen Bahnen zu den alten Führern hinbewegt, sich den Trägern der neuen Ideen zuwende.

Es wird nichts fruchten, wenn man heute noch so oft wiederholt, Amerika wäre nicht in den Krieg eingetreten, wenn Deutschland sich nicht zu dem uneingeschränkten Unterseebootkrieg entschlossen hätte. Es wird dieses Ge­ständnis keinen erheblichen Eindruck in Amerika machen. Denn dort glaubt man, in Mitteleuropa wird auch künftig nur das Machtprinzip wirken, wie es in dem Entschluß gewirkt hat, der einen so tiefen Eindruck gemacht hat. Wäh­rend des Krieges fürchtete man in Amerika das monarchi­stische Ausleben des Machtprinzips. Jetzt fürchtet man das bolschewistisch geartete. Von jener Furcht hat man nicht verstanden, Amerika zu heilen. Man sollte nun doch jetzt sich energisch aufraffen, der Welt zu zeigen, daß in Mittel­europa eine Ideenrichtung leben kann, die in der bolsche­wistisch gefärbten Denkweise nur eine Fortsetzung des alten Machtwesens sieht, und daß diese Ideenrichtung mit dem neuen Machtprinzip nichts zu tun haben will. Solange man in der Welt nichts derartiges vernimmt, wird man die Mei­nung nicht aufgeben, man müsse Mitteleuropa so behandeln, daß es völlig ohnmächtig werde.

Während des Krieges konnten die führenden Persönlich­keiten sich nicht zu Ideen entschließen. Daher war es nicht

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möglich, den Ereignissen eine Richtung zu geben, die von der völligen Niederlage weggeführt hätte. Ideenmangel jetzt, nach der Niederlage, müßte die Tatsachen zum völ­ligen Niedergange hinleiten. Nichts könnte es nützen, wenn aus der Flucht vor den Ideen heraus die leitenden Kreise sich abfänden mit der Oberherrschaft der Westmächte. Denn wenn dieses Abfinden ohne die Ideenarbeit erfolgte, dann hätte es zu seinem Schatten stets die ideenlose revolutionäre Machtpolitik der Massen. Die Welt müßte einem Zustand entgegengehen, in dem das regiert, was sich ergibt aus den gedankenlosen Instinkten und der Furcht vor diesen. Man sieht diesen Zustand bereits sehr deutlich heraufziehen. Man sollte die Augen vor der unermeßlichen Gefahr nicht ver­schließen, die in ihm liegt. Wird ihm nicht entgegengewirkt, so könnte nur der völlige Zusammenbruch der Zivilisation erfolgen. Pessimistische Stimmungen sind gerechtfertigt, so­lange man ihnen nicht den Willen entgegensetzen kann. Nicht von dieser oder jener «glücklichen Wendung» darf in den heutigen Verhältnissen etwas gehofft werden; allein auf den Willen, der aus den Ideen befruchtet ist, darf gebaut werden.

DER FATALISMUS ALS ZEITSCHÄDLING

#G024-1961-SE163 Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus

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DER FATALISMUS ALS ZEITSCHADLING

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Man wird nicht leugnen können, daß in Mitteleuropa die Zahl der Menschen immer größer wird, deren kulturpoli­tisches Glaubensbekenntnis in den Fatalismus einmündet. Sie sagen: Wir müssen durch die weitere Zerstörung, durch das noch größere Chaos durch, bevor wir wieder zu einer fruchtbaren Entwickelung des öffentlichen Lebens kommen

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können. Sie sehen aus der Ratlosigkeit, aus der Verworren­heit, in die wir mit jeder Woche mehr hineintreiben, daß aus den Meinungen der alten Parteiführer, aus den An­schauungen derjenigen, welche bisher aus dem Gang der Ereignisse in leitende Stellungen geschoben worden sind, nichts Fruchtbares geschaffen werden kann. Das veranlaßt sie aber nicht, die Zuflucht zu suchen bei Ideen, die aus den Grundbedingungen des sozialen Lebens erkennend einen Neu-Aufbau herbeiführen wollen, sondern es bringt sie nur dazu, auf ein Nebelhaftes, Unbestimmtes zu hoffen, das dann eintreten werde, wenn die Not, die Verwirrung noch größer geworden sein werden.

Wer solche Ideen vorbringt, dem entgegnen sie: Die Erlösung kann nicht von den Gedanken einzelner Träumer kommen, sie muß aus den Tiefen des Volkswillens heraus sich ergeben. Es ist, als ob sich solche Menschen loskaufen möchten von der Mühe des Durchdenkens fruchtbarer Ideen durch diesen Ruf nach dem «Volkswillen». Sie durchschauen nicht, was aus diesem «Volkswillen» heute sich entwickelt. Sie erkennen nicht, wie dieser Volkswille, um nicht in das Wesenlose seine Kraft zu zersplittern, der Befruchtung durch die leitenden Ideen bedarf. Sie wollen die Ideen nicht; deshalb warten sie auf das Wunder des ideenlosen Volks­willens.

In der letzten Zeit konnte man noch einen anders aus­gedrückten politischen Wunderglauben ausgesprochen hören. Man bemerkte, daß aus alten Parteigedanken keine aus­sichtsvollen politischen Handlungen sich ergeben. Man er­kannte die Unfruchtbarkeit in dem Tun oder eigentlich in dem Nicht-tun der führenden Persönlichkeiten, die aus dem Schoße des Parteiwesens zur Führung aufsteigen. Aus dieser

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Erkenntnis heraus ruft man nach «Fachleuten», die aus irgendwelchen parteifreien Einsichten die Tatenlosigkeit durch Schöpfungen fruchtbarer Art ersetzen sollen.

Man hat also die Vorstellung, daß es solche «Fachleute» gibt. Man brauche sich nur an sie zu wenden, ihnen die «Geschäfte» zu übertragen. Wenn sie, unbeeinflußt durch die Parteiworte von links und rechts die Räder des politisch-sozialen Lebens lenken, dann werde es zu etwas führen. Man sieht nicht, daß unsere Not gerade dadurch veranlaßt ist, daß die Ideen der alten Fachleute in eine Sackgasse gekommen sind. Dieses «Fachwissen» hat doch die völlige Richtungslosigkeit bewirkt.

Es tritt da derselbe Irrtum zutage, der auf einem andern Gebiete, dem der Volkserziehung, wirkt. Man redet von der Notwendigkeit, Aufklärung durch «Volkshochschulen» zu schaffen. Man setzt voraus, daß die Erkenntnisse, welche durch die bisherige Entwickelung an die Oberfläche des öffentlichen Lebens getrieben worden sind, nur verbreitet werden sollen. Dann werden sie aus den breiten Massen heraus das Wunder der Besserung wirken. Man sollte sich sagen, daß aus diesen «Erkenntnissen» unsere trostlose Lage sich ergeben hat und daß die Trostlosigkeit nicht schwinden, sondern zunehmen werde, wenn das, was bei einer führen­den Schicht nichts gefruchtet hat, in den breiten Massen sein Unwesen wuchern lassen werde. Zu «Volkshochschulen» hat man eine Erneuerung des Wissens vor allem nötig, einen geistigen Neubau. Erst muß an den Umschwung dessen gedacht werden, was in den Volkshochschulen gelehrt wer­den soll, bevor man an diese selbst herangehen kann.

Daß eine Wandlung in den Gedanken eintreten müsse, dazu will man sich nicht bekennen. Man möchte sich damit

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begnügen, neue Formen für die Pflege der alten Gedanken zu gewinnen. Es ist, als ob man mit allen Mitteln darnach suchte, die neuen Gedanken keiner Prüfung unterwerfen zu müssen. Die nach «Fachleuten» für die leitenden Stellen rufen, sagen wohl auch, nach solchen müsse man sich umsehen, damit das Vertrauen im Auslande wiederhergestellt werde. Man glaubt, in England und Amerika werde man uns Kredite gewähren, wenn erst solche Fachleute Bürgen sein können für die rechte Verwendung dieser Kredite.

Das Ausland wird sich ganz gewiß nicht darum kümmern, ob die Persönlichkeiten, die mit ihm von Mitteleuropa aus zu verhandeln haben, aus den alten Verhältnissen heraus als «Fachleute» abgestempelt sind. Es hat sich vor 1914 um diese «Fachleute» nicht gekümmert und wird dies auch 1920 nicht tun. Das Ausland wird erst anfangen aufzuhorchen, wenn aus dem mitteleuropäischen Gebiet fruchtbare Ideen aufleuchten. Aber auch diese ganze heutige Rederei vom Vertrauenherstellen im Auslande ist nur eine Folge der Flucht vor den Ideen bei uns selber. Man will sich nicht auf­raffen zur Stellungnahme gegenüber den Ideen. Aus diesem Grunde ruft man nach Leuten, die man nicht daraufhin an­sieht, was sie zu sagen haben, sondern die aus ungeprüften Verhältnissen heraus als «Fachleute» abgestempelt sind. Man will nicht suchen, wie man einen Neu-Aufbau bewirken könne; man will auf die erlösende Wendung warten, die wie eben ein Wunder kommen soll. Man wird nur erleben, daß die «Fachleute» nach einiger Zeit die Unfruchtbarkeit ihrer «Fächer» zur Offenbarung bringen werden und daß in der bis dahin verfließenden Zeit das Chaos ein noch größeres geworden ist.

Gegen diese Flucht und Furcht vor Ideen kämpft die Be­wegung

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für die Dreigliederung des sozialen Organismus, seit sie es versucht hat, sich in das öffentliche Leben hineinzustellen. Deren Träger mußten von Anfang an sagen, daß alle die Experimente, die im sozialen Leben versucht wer­den in Anlehnung an die Ideen, die unser Unglück mitver­schuldet haben, zu nichts führen können. Wer sehen will, wie sich die Verhältnisse nach dem sogenannten Friedens-schlusse entwickelt haben, der müßte doch endlich zu der Einsicht geführt werden, daß die Art, wie sich diese Träger der Dreigliederungs-Idee zu den hoffnungslosen Neubau-Versuchen gestellt haben, durch die Tatsachen eine gewisse Bestätigung gefunden hat.

Nicht das Warten auf ein Wunder, das - niemand weiß woher - kommen soll, sondern allein der Wille zu leitenden Ideen kann uns weiterführen. Der Fatalismus, bei dem wir angekommen sind, ist das allerbedenklichste Zeichen der Zeit. Denn er lähmt den Willen zu den leitenden Ideen. Und geht diese Lähmung weiter, dann treten die zerstören­den Instinkte an die Stelle der aufbauenden Vernunft. Und aus dieser Willenslähmung kann zuletzt nur der völlige Untergang kommen. Weiter, als sich viele gestehen, sind wir bereits auf dem Wege, den die zerstörenden Instinkte gehen. Es gibt einen Punkt auf diesem Zerstörungswege, auf dem nicht das «Wunder» entstehen wird, sondern auf dem so viele Ohren taub sein werden für die Vernunft, daß diese sich nicht mehr wird hörbar machen können. Heute sind wohl noch nicht die Ohren taub; aber der Wille läßt die Hörkraft nicht zur Geltung kommen. Deshalb muß im­mer von neuem betont werden: Die Rettung kann nur kom­men, wenn eine genügend große Anzahl von Menschen von dem Willen ergriffen wird, an der Umwandlung der Denkungsart

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mitzuarbeiten. Wer vor dieser Arbeit zurück­schreckt, kann nicht in Betracht kommen gegenüber dem, was in der Gegenwart für die Entwickelung der Menschheit notwendig ist.

DIE DREIGLIEDERUNG UND DIE INTELLEKTUELLEN

#G024-1961-SE168 Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus

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DIE DREIGLIEDERUNG UND DIE INTELLEKTUELLEN

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Es ist zweifellos, daß unter den sogenannten Intellektuellen Europas eine genügend große Anzahl von Leuten vorhan­den ist, die in dem Wege, der aus dem sozialen Chaos zu einer Neugestaltung durch die Dreigliederung des sozialen Organismus versucht werden soll, etwas Fruchtbares sehen würden, wenn sie sich nur erst darauf einließen, die Grundgedanken dieses Versuchs sich zu eigen zu machen. Es ist ja hier oft gesagt worden, daß bei den Trägern dieser Gedanken nicht der Glaube vorhanden sein kann, in dem, was bisher dargestellt worden ist, seien unumstößliche Wahrheiten bis ins einzelne gegeben. Gewiß wird sich manches als verbesse­rungsbedürftig erweisen, wenn einmal weitere Kreise fach- und sachtüchtiger Personen ernstlich und mit praktischem Sinn mitarbeiten. Aber die soziale Denkrichtung, die in der Forderung der Dreigliederung sich ausspricht, ist aus den unbefangen angesehenen Entwickelungsnotwendigkeiten der Menschheit in unserer Zeit herausgebildet, so daß in ihr lebt, was gegenwärtig not tut und durch dessen Vernachlässigung die Schrecknisse entstanden sind, in denen wir leben.

Wer als Intellektueller vergleicht, was vor dem Hereinbrechen der Weltkatastrophe war, mit dem, was zur Gesun­dung von der Idee der Dreigliederung verlangt wird, der müßte einsehen, wie diese Idee eine Wiedergabe dessen ist,

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was die Tatsachen selber aussprechen. Aber eben zu diesem Vergleichen und zu einem auch nur wenig eingehenden Be­trachten dieser Idee bringen es nur wenige.

Der Grund für diese Tatsache liegt in der Art, wie durch unsere Schulen diese Intellektuellen erzogen worden sind. Der Betrieb der Wissenschaften hat im Laufe der neuesten Zeit eine Form angenommen, durch die das selbständige zusammenfassende Denken geradezu untergraben worden ist. Wer nach einem Beruf drängte, zu dem eine höhere Schulbildung gehört, wurde eingespannt in das Aneignen von Spezialkenntnissen, die ihm nirgends Anregung gaben, sein «Fach» im Zusammenhange mit dem wirklichen Leben zu betrachten. Man kann als Empfänger der Erkenntnisse in einem Spezialgebiete sogar ein bedeutender Erfinder, ein Bahnbrecher werden, ohne daß man durch dieses Gebiet sich die Fähigkeit erwirbt, in tragfähigen Gedanken ein größeres Wirklichkeitsgebiet zu durchschauen. Wer an der Chemie denken lernt, der wird dazu geführt, die Bedeutung der Gedanken, die in diesem Fache leben, für das ganze menschliche Leben zu überschauen. Denn die Gedanken aller Wirklichkeitsgebiete hängen zusammen; und hat man diejenigen des einen Gebietes, so erwecken sie Verständnis für das Leben in seiner Gesamtheit. Ist man bloß Chemiker, ohne an der Chemie denken gelernt zu haben, so kann man so urteilsunfähig wie ein Kind gegenüber den Anfor­derungen des Lebens sein.

Das Verständnis der Grundgedanken der Dreigliederung hängt von der Fähigkeit ab, die sozialen Tatsachen denkend zu durchdringen. Man kann dieses gleichzeitig, ob man das zusammenfassende Denken an der Chemie, an der Biologie oder an der - Politik gelernt hat. Aber man gelangt nicht

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zu diesem Verständnis, wenn man Politik als Wähler oder auch als Staatsmann nur so getrieben hat, wie man in der neueren Zeit gewohnt geworden ist, an den Schulen Chemie oder Biologie zu treiben.

Wer diese Verhältnisse durchschaut, der wird erkennen, welchen Anteil an dem Niedergange der europäischen Zivi­lisation das verfehlte Geistesleben hat. Und er wird die Gesundung sich nur von einer Wandlung dieses Geistes­lebens versprechen können.

Aber daran wird am wenigsten gedacht. Denn im Kreise der Intellektuellen müßte vor allem der vorliegende Mangel empfunden werden. Es müßte zum Beispiel der Drang ent­stehen, die Art des Denkens zu erfassen, durch welche die Dreigliederung zu ihrem Ideengebäude kommt, statt einfach oberflächlich diese Ideen mit der eigenen Meinung zu ver­gleichen, und wenn sie mit dieser nicht übereinstimmen, sie ablehnen. Hat man sich für das zusammenfassende Denken nicht geschult, so ist allerdings dies die einzige Stellung, die man zu einem Ideengebäude einnehmen kann, das einem solch zusammenfassenden Denken über echte Wirklichkeiten seinen Ursprung verdankt.

Es gibt wohl Leute, die sagen, diejenigen Intellektuellen, die heute im reifen Lebensalter stehen, werden sich zu der nötigen Selbsterkenntnis nicht mehr bereit finden. Sie sind zu stark an das gedankenfreie Spezialistentum gewöhnt. Man müsse auf die Jugend warten. Aber ein großer Teil dieser Jugend trägt in seiner Seelenverfassung die Früchte der verfehlten Geistigkeit. Dieser Teil der Jugend wird zur Umkehr erst bewogen werden, wenn er an dem völligen Zerfall des sozialen Lebens sehen wird, wie notwendig ein aus der Wirklichkeit schöpfendes zusammenfassendes Denken -

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früher gewesen wäre. Und der Teil der Jugend, der eines solchen Beweises nicht bedarf, ist klein.

Soll man deshalb die Arbeit ruhen lassen? Nein, man muß sie in der Not der Gegenwart als eiserne Pflicht be­trachten. Hinausrufen kraftvoll in die Welt diejenigen Ideen, von denen man Gesundung erwartet. Es werden vielleicht zunächst doch nur wenige sein, die ihnen ver­ständnisvoll entgegenkommen. Aber diese wenigen muß es geben. Sie werden tauben Ohren predigen, solange der völlige Zerfall noch nicht da ist. Aber je mehr er sich naht, desto mehr von den andern werden ihre Hilflosigkeit offen­baren; desto mehr wird auch der Tag herankommen, an dem man sehen wird, daß man die wenigen braucht. Bis dahin werden noch viele Politiker mit den alten Partei­schlagworten in führende Stellen geschoben werden; viele alte «Praktiker» werden in den ausgetretenen Geleisen durch das zerfahrene Wirtschaftsleben stolpern; viele Leitartikler werden von der Uneinigkeit des Auslands schwärmen, die das Inland ausnützen sollte, oder auch davon, daß der Krieg nicht entstanden wäre, wenn man das Verhältnis zu diesem oder jenem Lande so hergestellt hätte, wie es ihnen - nach dem Kriege eingefallen ist.

Unbeirrt durch alles dieses muß derjenige, welcher die Fruchtbarkeit der Dreigliederungsidee einzusehen vermag, an deren Verbreitung arbeiten. Denn allein durch diese Arbeit wird erreicht werden, daß im rechten Augenblicke genug geistig aufgeklärte Menschen vorhanden sein können. Geistige Aufklärung auf allen Gebieten, die zum zusammen­fassenden Denken führt, die zur Einsicht in die Wirklich­keitsmacht dieses Denkens leitet: die ist nötig. Auf sie allein kann gebaut werden; aber auf sie darf auch gebaut werden.

SCHATTENPUTSCHE UND IDEENPRAXIS

#G024-1961-SE172 Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus

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SCHATTENPUTSCHE UND IDEENPRAXIS

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Über den Wandel, der sich in allen öffentlichen Angelegen­heiten seit 1914 vollzogen hat, erstreben heute noch wenig Menschen eine klare Einsicht. Man erlebt die Not der Zeit. Man hofft auf dieses und jenes. Aber man ist weit entfernt von einer wirklichen Besinnung auf das, was sich unter unseren Augen vollzieht. Man hat in Deutschland eine auf­ständische Bewegung hinter sich. Man fürchtet neue ähnliche Bewegungen. - Kann aber jemand in klarer Art sagen, was diejenigen eigentlich wollen, die hinter einer solchen Bewe­gung stehen? Man nennt sie eine solche der rechtsstehenden Parteien. Nun, vor noch nicht langer Zeit konnte man einen vernünftigen Sinn verbinden mit dem Worte «rechtsstehende Partei». Diese Partei hatte ein genau umschriebenes Programm. Ihm stand gegenüber das Programm der linksstehenden Parteien.

Man sollte sich doch endlich eingestehen, daß diese Pro­gramme seit 1914 völlig bedeutungslos geworden sind. Wer ehedem rechts gestanden hat, der kann heute von seinem Programm gegenüber dem Wandel der Tatsachen nicht mehr im Ernste sprechen. Hat er Wirklichkeitssinn in sich, so muß er einsehen, daß er das nicht mehr wollen kann, was den Inhalt seines Programms noch vor kurzer Zeit bildete. Ebensowenig kann es der Linksstehende. Er hat durch Jahr­zehnte seine Zukunftshoffnungen in seinem Programm zum Ausdruck gebracht. Er muß jetzt sehen, daß sich über dieses Programm wohl politisch reden ließ, solange man damit einem andern opponieren wollte; daß es sich aber als Phrase erweist, da man aus ihm heraus eine soziale Wirklichkeit gestalten soll.

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Kämpfen denn heute noch in Wirklichkeit Parteien gegen­einander im Sinne ihrer alten Programme? Nein. Die Pro­gramme sind zur Phrase geworden und nur die Personen sind noch geblieben, die ehedem an diesen Programmen etwas gehabt haben. Es gibt eigentlich keine «rechtsstehen­den» und keine «linksstehenden» Parteien mehr, sondern nur noch ihre Schatten. Denn Parteien sind ohne Parteiprogramme nichtig.

Die Personen, die sich vor noch kurzer Zeit unter dem sachlichen Inhalt einer bestimmten Willensrichtung ver­einigt gehalten haben, stehen aus alter Gewohnheit noch zusammen. Sie bilden Gruppen. Aber ihr Zusammenhalt ist im Grunde nur noch ein persönlicher. Der ehemals Reak­tionär war, hat den Inhalt seines Wollens verloren, aber er hält noch zusammen mit denen, die auch Reaktionäre waren. Er hofft, daß er mit ihnen zusammen zur Herrschaft gelangen werde. Der vor kurzer Zeit Marxist war, hält an seinem Marxismus noch fest, weil er doch von irgend etwas reden muß, um sich auszusprechen. Einen vernünftigen Sinn zieht er aus seinem Marxismus nicht. Aber er findet sich, mehr oder weniger radikal, mit andern zusammen, die auch Marxisten waren; er bildet mit ihnen Gruppen, die bloß zusammengehalten werden durch die persönliche Verwandt­schaft, die aus ihrem früheren Marxismus stammt. Auch die Personen dieser Gruppen hoffen, daß sie mit Leuten, die solche persönliche Verwandtschaft mit ihnen haben, zur Herrschaft gelangen werden.

Den hiermit gekennzeichneten Charakter tragen heute die Kämpfe des öffentlichen Lebens. Auch die Urteile, die sich in diesen Kämpfen geltend machen, tragen diesen Cha­rakter. Gewisse Personen geraten in Aufregung, wenn sie

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über den «militaristischen Putsch» sprechen. Sie merken gar nicht, wieviel Nebuloses da in ihre Vorstellungen einfließt. Im Grunde wüßten die Putschisten, wenn sie zur Herr­schaft gelangten, heute so wenig, was sie tun sollen, wie es ihre Gegner in dem gleichen Fall wissen. Man kann sich eigentlich gar nicht vor irgendeinem bestimmten Wollen einer solchen Gruppe fürchten; man kann nur eine unbe­stimmte Furcht vor den Personen haben, die ehemals ein bestimmtes Wollen hatten.

Richtig betrachtet liegt die Sache wesentlich anders, als sie gegenwärtig zumeist betrachtet wird. Die Personen, die ehemals die Herrschaft geübt haben, sind dadurch gekenn­zeichnet, daß sie aus einer Willensrichtung heraus gehandelt haben, die durch die Schreckensjahre, die Europa hinter sich hat, als eine unmögliche sich dargestellt hat. Die andern Personen, die sie ablösen wollen, haben aus den Lebenslagen heraus, in denen sie bisher waren, Ideen noch nicht gefunden, die in der Verwirklichung mögliche soziale Ver­hältnisse liefern könnten.

Personengruppen, zusammengehalten durch alte Gewohn­heiten, durch Sympathien und Antipathien, kämpfen heute um die Macht. Beiden gemeinsam ist, daß sie mit der Macht nichts anfangen können, wenn sie sie haben, weil ihnen eine den Tatsachen gewachsene Zielsetzung fehlt.

Diese Sachlage nimmt immer weitere Dimensionen an. Die öffentlichen Kämpfe verlieren immer mehr ihren geistigen Inhalt. Demokratie, Konservatismus, Liberalis­mus, Sozialismus, sind Worte, die ehemals einen Inhalt ge­habt haben, die ihn aber verloren haben. Das Leben aber wird unter diesen Umständen richtungslos, barbarisiert sich.

Die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus

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trägt dieser Sachlage Rechnung. Sie spricht von Impulsen, die aus dem Wesen der Menschheit selbst stammen; die aus den Tiefen der Menschenwesenheit herauf sich zur sozialen Wirklichkeit gestalten wollen. Sie redet wieder von einer Realität, von einer solchen, die in den Tatsachen des gegen­wärtigen Lebens sich ganz deutlich offenbart. Für diese Idee ist es durchsichtig, daß die alten Parteiprogramme ihre In­halte verloren haben und daß von ihnen nur noch die Er­innerungen an sie in den Personen übrig geblieben sind, die sich früher ihnen verschrieben hatten. «Rechts- und links­stehend» bedeutet heute keine Wirklichkeit; eine solche sucht die Idee von der Dreigliederung. Man kann für sie Verständnis anstreben, gleichgültig, ob man ein wesenloses «Rechtsstehen» oder ein wesenloses «Linksstehen» aus alter Gewohnheit noch im Leibe mit sich herumträgt wie einen toten Fremdkörper in einem lebendigen Organismus. Mit alten Gewohnheiten, mit den Schatten der Vergangenheit müssen kämpfen die Träger der Dreigliederungs-Idee. Sie möchten inmitten der immer mehr zum Streben nach persönlicher Macht ausartenden öffentlichen Instinkthandlungen die von der Idee getragene Willensrichtung setzen. Sie möchten dem Leben die Richtung geben nicht im Sinne alter Schattenphrasen, sondern im Sinne der von der Zeit geforderten Wirklichkeit.

DAS GEISTIGE ERBE UND DIE GEGENWARTSFORDERUNGEN

#G024-1961-SE176 Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus

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DAS GEISTIGE ERBE UND DIE GEGENWARTSFORDERUNGEN

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Vor einem halben Jahrhundert ungefähr blühte in Europa der Materialismus als Weltanschauung. Der Mensth sollte bis in die Tiefen seines Seelenwesens hinein nach denselben Gesetzen erkannt werden, die man sich für das natürliche Geschehen zurechtgelegt hatte. Man berief sich dabei wohl auch auf Ideen wie die Goethesche: «Nach ewigen, ehernen Gesetzen müssen wir alle unseres Daseins Kreise vollenden.» Nur bemerkte man nicht, wie diejenigen Gesetze, die Goethe dem naturwissenschaftlichen Erkennen zugrunde gelegt wissen wollte, ihn in den heftigsten Kampf brachten mit der zu seiner Zeit herrschenden Naturwissenschaft. Er strebte nach einer Naturwissenschaft, die, konsequent aus­gestaltet, zum Begreifen des Menschenwesens als eines geistig-seelischen führen kann. Aber nicht diese seine natur-wissenschaftliche Vorstellungsart harten die Materialisten im Auge, sondern in allem wesentlichen die seiner Geg­ner. Es war die geistlose Anschauung von der Natur, die niemals zu einem Erfassen der Menschenwesenheit führen kann.

Aus dieser geistlosen Anschauung heraus sprachen sich einige konsequente Persönlichkeiten auch über das Moralische des Menschen aus. Man konnte vor einem halben Jahrhundert in dieser Richtung ganz merkwürdige Urteile hören. In dem Briefwechsel einer solchen konsequent den­kenden Persönlichkeit mit einem materialistischen Gelehrten findet sich zum Beispiel die Ansicht, daß der verbrecherisch handelnde Mensch genau so nach den ihm eingeborenen Naturgesetzen verfahre wie der sogenannte moralische.

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Und daß, wer zum Lügner, Mörder und so weiter natur­gesetzlich veranlagt sei, nur dann ein in sich abgeschlossener, vollendeter Charakter werden könne, wenn er seine lüg­nerische, mörderische Anlage auslebe. Dergleichen Gedanken waren in jener Zeit der materialistischen Theorien durchaus nicht vereinzelt.

Diese moralisch-sozialen Konsequenzen der materiali­stischen Denkungsart wurden von vielen nicht mit dem nötigen Ernste betrachtet. Man sah sie als Schrullen an. Sie sind es nicht. Sie sind vielmehr ein Beweis für die Tatsache, daß die naturwissenschaftliche Vorstellungsart, die sich im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts herangebildet hat, keine moralisch-sozialen Ideen hervorbringen kann. Es entstand deshalb unter dem Einfluß dieser Vorstellungen das Zeitalter, das völlig inhaltlose moralisch-soziale Phrasen an die Stelle der ethisch-sozialen Ideen setzte. Mit diesen moralisch-sozialen Phrasen lebte die zivilisierte Menschheit in das zwanzigste Jahrhundert herein.

Über diesen Tatbestand versucht eine gewisse Wissen­schaftsrichtung sich selbst und ihre Anhänger hinwegzu­täuschen. Von dieser Seite her kann man hören: Der Mate­rialismus des neunzehnten Jahrhunderts ist wissenschaftlich tot. Er ist aber nicht tot. Der Unterschied zwischen den­jenigen, die heute so reden, und den Materialisten des neun­zehnten Jahrhunderts besteht lediglich darin, daß die letz­teren den vollen Mut hatten, sich zu ihrem Materialismus zu bekennen; die heutigen aber, die ihn abweisen, denken geradeso wie diese; nur bilden sie sich ein, ihre geistlosen Naturerklärungen seien kein Materialismus. An die Stelle der gefährlichen Konsequenz ist die viel gefährlichere in­konsequente Halbheit getreten.

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Im Zeichen dieser Halbheit steht unser öffentliches Leben. Es leben in den Gedanken, die man für fähig hält, eine Weltanschauung zu begründen, keine moralisch-sozialen Antriebe. Man hat versucht, aus der Naturwissenschaft her­aus sich ein soziales Weltbild zurechtzuzimmern. Man konnte dies so lange, als gewohnheitsmäßig die Menschen in Gemäßheit der alten sozial-ethischen Traditionen lebten und ihre Gedanken keinen Einfluß auf die Entfaltung des öffentlichen Lebens hatten.

Mit dieser Sachlage hat schon die Kriegskatastrophe auf­geräumt; es räumt mit ihr mit jedem Monat mehr auf das, was seit dieser Katastrophe geschieht. Die Menschen, in denen die alten Traditionen abgestorben sind, gewinnen immer mehr an Einfluß. In ihnen leben allein die Ideen, die unfruchtbar für ein sozial-ethisches Weltbild sind.

Jeder unbefangene Blick in das öffentliche Leben der gesamten zivilisierten Welt zeigt diesen Tatbestand. Er muß erst zum Bewußtsein einer genügend großen Anzahl von Menschen kommen, bevor eine Möglichkeit des Aufbaus der zerstörten gesellschaftlichen Verhältnisse eintreten kann. Von der Weltanschauung allein ist diese Besserung abhängig.

Wer heute noch bei der Ansicht beharrt, Weltanschauung sei etwas, was die abstrakten Denker miteinander ausmachen mögen, sie habe in der Praxis nichts zu schaffen, der arbeitet mit an der Zerstörung, er mag noch so stark glauben, daß er für einen sozialen Neubau wirke. Es ist heute auch für die kleinste wirtschaftliche Einrichtung nötig, daß derjenige, der sich leitend an ihr beteiligt, sich Gedanken darüber machen könne, wie sich diese Einrichtung in den Gesamt-prozeß der Menschheitsentwickelung hineinstelle. Solche Gedanken können niemals in ehrlicher, aufrichtiger Art bei

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dem sich einstellen, der mehr oder weniger bewußt sein Denken nach der materialistischen Richtung der neuen Zeit orientiert. Er bemerkt eben zumeist gar nicht, wie dieses materialistische Denken in die Antriebe seines sozialen Wir­kens hineinarbeitet.

Man kann nicht stark genug betonen, daß die Tatsachen des öffentlichen Lebens heute gerade in diesem Lichte gesehen werden müssen. Nur diejenigen, die sie so sehen, denken in der Richtung einer Gesundung. Ihnen muß es selbstver­ständlich erscheinen, keine Kompromisse mit dem einzu­gehen, das aus der materialistischen Vorstellungsart heraus in die Zerstörung des sozialen Lebens geführt hat. Es er­scheint vielen schwer, so zu denken, weil sie vermeinen: Wenn man warten solle, bis die Besserung aus der Den­kungsart komme, werde man lange warten müssen. Die so denken, denen muß gesagt werden: gerade ihr Denken gehört zu dem schlimmsten. Denn es kommt darauf an, daß wir uns durch ein solches fatalistisches Denken nicht selbst erst die Fesseln anlegen, die eben bewirken, daß wir «lange warten müssen». Ein jeder, der sich sagt: Ich werde bis in meine Denkart hinein die soziale Umwandlung bewirken, verkürzt die Wartezeit, die ihn so bedenklich macht.

Deshalb muß immer wieder betont werden: Auf jenen inneren Mut kommt es heute an, der sich dazu aufrafft, in dem Wege zu einem neuen Geiste eine wahre Lebenspraxis und in der Abirrung von diesem Wege die Ursachen unseres Niedergangs zu sehen. Die so urteilen können, sind allein die Zukunftsmenschen; die andern sind die Reaktionäre, und wenn sie sich auch noch so marxistisch-radikal gebärden. Aber das Urteil muß bereit sein, zur Tat, zur energischen Lebenspraxis zu werden. - Die «Praktiker» werden fragen:

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«Kann man denn mit solchen Ansichten nach Spa gehen?» o ja, man könnte gehen; man würde ruhig abwarten kön­nen, was geschehe, wenn man damit ginge; aber man wird ganz sicher mit unfruchtbaren Ergebnissen zurückkommen, wenn man mit den alten Gedanken dahin geht. Man sollte heute ein Urteil darüber haben, daß diese alten Gedanken in Spa zu nichts anderem führen werden, als wozu sie seit Jahrzehnten geführt haben.

DIE DREIGLIEDERUNG WÄHREND DES KRIEGS UND NACH DEMSELBEN

#G024-1961-SE180 Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus

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DIE DREIGLIEDERUNG WÄHREND DES KRIEGS UND NACH DEMSELBEN

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Im Jahre 1917 sprach ich in engeren Kreisen mit einer Anzahl von Persönlichkeiten über die Dreigliederung des sozialen Organismus. Meine Absicht dabei war, politisch Denkende dafür zu gewinnen, der Politik Wilsons eine andere entgegenzusetzen. Wilsons Gedanken schienen mir kein Ausweg aus der Wirrnis, in der sich die Welt befand. Man konnte, indem man diese Gedanken als Schlagworte weithin hörbar machte, Armeen in Bewegung setzen, man konnte Kriegsschiffe über das Weltmeer senden, aber sie enthielten nichts von dem, was in der Menschheit der Gegenwart unbewußt nach einem Herauskommen aus den alten Verhältnissen rang, und was, weil es sich vernünftig nicht äußern konnte, sich in der Unvernunft des Weltkriegs entladen hatte.

Wilsons vierzehn Punkte waren abstrakt und wirklich­keitsfremd. Man kann solchen Ideen eine Scheinwirklichkeit geben, weil Menschen auch das ausführen können, was in der Ausführung sich als bestandsunmöglich erweist. Aus

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diesen vierzehn Punkten konnte nie ein wahrer Friede wer­den. Denn die zivilisierte Menschheit ist an einem Punkte ihrer Entwickelung angekommen, in dem, was als geistiges Leben, als Rechtsverhältnisse im weitesten Sinn und als wirtschaftliche Daseinsbedingungen aus den Bereichen der überkommenen Staaten heraus sich ergeben hatte, nicht mehr weiterzubringen war im Rahmen dieser Staaten. Bis in die Gegenwart bedurfte es der einheitlichen Staatsgebilde, um durch sie im Rechtszusammenleben der Menschen das Geistesleben zu pflegen und die neueren Wirtschaftsformen zu gebären. Aber sowohl das Geistesleben, wie auch die Weltwirtschaft sind zu Gestaltungen gelangt, die durch diese Staatsgebilde nicht weiterzubringen sind. Unbefangen er­faßt war der Weltkrieg doch nichts anderes als der Ausdruck dafür, daß die Staaten aufeinanderprallten, weil diejenigen Kräfte nach einem unvernünftigen Ausweg suchten, deren wahre Natur darin bestand, für Geistesleben und Wirtschaft neue Formen zu suchen.

Man konnte sich diese wahre Natur nicht zum Bewußt­sein bringen, und so ließ man das Verheerende hereinbrechen. Wilsons Politik war nur eine abstrakte Zusammenfassung der alten Staatsgedanken. Die Menschen sollten sich in einer gewissen Art Staatsgebilde schaffen. Dadurch sollten die Kriegsursachen aus der Welt geschafft werden. Aber diese Art war eben die, welche die Kriegsursachen hervorgebracht hatte. Meine Absicht im Jahre 1917 war, den vierzehn Punkten Wilsons dasjenige entgegenzustellen, was an die Stelle dieser Art jene andere setzt, die den Kräften des Geistes- und Wirtschaftslebens die Selbstver­waltung gibt, deren Nicht-Vorhandensein in die Verwir­rung getrieben hat. Ohne daß diese Art zur Seele der auswärtigen

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Politik der Völker wird, kann kein wahrer Ausweg aus diesen Wirren gefunden werden.

Der Weltkrieg hat zu Versailles, zu Spa geführt. Das unbewußte Streben der Menschheit hat aber nicht den ver­nünftigen Weg gefunden, dem Geistesleben und der Welt­wirtschaft die Formen zu schaffen, die sie notwendig brau­chen. Und deshalb ist die Fortsetzung des Weltkriegs der verheerende Bolschewismus in Rußland und dasjenige, was diesem ähnlich durch die Menschheit geht, um weiter zu zerstören, was der Krieg noch übrig gelassen hat.

Wie man 1917 auf die Dreigliederung des sozialen Organismus weisen mußte, um den ohnmächtigen vierzehn Punkten Wilsons etwas entgegenzustellen, was zu einem wirklichen Friedensausweg führen konnte, so muß man jetzt auf dieselbe Dreigliederung zeigen, um dem Gespenst zu begegnen, das der Zivilisation droht. Wie ohnmächtig die «Vierzehn Punkte» waren, das hat die Hilflosigkeit ihres Trägers in Versailles erwiesen. John Maynard Keynes, der bei den Versailler Verhandlungen zugegen war, hat das in seinem Buche über die wirtschaftlichen Folgen des Krieges deutlich genug gesagt.

Aber so ohnmächtig Wilson in Versailles sich zeigte, so ohnmächtig werden sich alle diejenigen zeigen, welche den internationalen sozialen Erschütterungen mit den alten Vorstellungsweisen entgegentreten. Man ist froh, wenn sich irgendwo etwas offenbart, auf Grund dessen man sagen kann: Der Bolschewismus ist im Abflauen; er wird dem­nächst seinen Zusammenbruch erleiden. Hat man denn keine Vorstellung davon, wie solche Dinge nur scheinbar unter­gehen, um in anderen Formen wieder aufzuleben? Die sich an solche Ausfluchtsphrasen halten, sollten sich erinnern,

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wie oft «Staatsmänner» vor 1914 davon gesprochen haben, daß die politische Lage sich «entspannt» habe.

Die Bewegung für Dreigliederung des sozialen Organis­mus wird zu dem führen, wozu sie führen muß, wenn eine genügend große Anzahl von Menschen sich in ihrem Urteile frei machen von denjenigen, die nicht hinsehen wollen auf dasjenige, was der Menschheit nottut, sondern die nur in diese oder jene Weltenecke blicken, ob sich da oder dort etwas «entspannt», damit sie nicht nötig haben, auf Ideen zu sinnen, die nicht «entspannen», was nachher wild auf­einanderprallt, sondern die entwickeln, was nach dem Ent­wickelungsgange der Menschheit entwickelt sein will.

STAATSPOLITIK UND MENSCHHEITSPOLITIK

#G024-1961-SE183 Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus

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STAATSPOLITIK UND MENSCHHEITSPOLITIK

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Wer heute sich ein politisches Urteil bilden will, der muß von den Ideen und Programmen Abschied nehmen, mit denen man noch vor kurzer Zeit Parteien gebildet und öffentliche Diskussionen geführt hat. Und wo solche Par­teien fortbestehen, wo solche Diskussionen fortgeführt wer­den, da bleiben sie hinter den Ereignissen weit zurück.

Man darf die mächtige sozialistische Bewegung, welche die moderne Zivilisation erschütterte, nicht in die Begriffe einfangen wollen, mit denen man vor einem Jahrzehnt an sie herantrat. Da dachte man, mit Staatspolitik sie bewäl­tigen zu können. Man gestaltete diese Staatspolitik ver­schieden, je nachdem man konservativ, liberal oder sozia­listisch war, aber man zweifelte nicht daran, daß Staatspolitik in irgendeiner Art die öffentlichen Angelegenheiten bewältigen müsse.

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Doch diese Angelegenheiten zeigen gegenwärtig mit aller Deutlichkeit, daß sie überall der Staatspolitik sich nicht fügen wollen. Und sieht man genauer auf den Gang der Ereignisse hin, so wird man finden können, daß die An­schauungen über den Staat, die man heute geltend machen will, nirgends mit den Gesamtbestrebungen der Menschheit zusammenfallen. Im europäischen Osten wollen Fanatiker einen Staat in der Form Zimmern, die ihnen als Wirtschafts­gemeinschaft vorschwebt. Zwar versichern sie, daß ihr ent­ferntes Ziel die Hinwegräumung jeglichen Staatsgebildes sei. Vorläufig aber wollen sie einen militaristisch organisier­ten Wirtschaftsstaat gestalten. Er trägt die Keime des Ver­falls in sich. Denn in der Menschheit wirkt gegenwärtig ein politisch-demokratischer Trieb, der sich in einem militari­sierten Wirtschaftsstaat nicht zur Geltung bringen kann. Die «Diktatur» des Proletariats könnte für kurze Zeit die-sen Trieb lähmen; austilgen kann sie ihn nicht. Ebensowenig kann der bloß wirtschaftlich orientierte Staat ein Geistes­leben schaffen, das für die Bedürfnisse der Menschheit Be­friedigung bringen könnte.

Das letztere sehen idealistisch veranlagte Menschen ein. Deshalb bemühen sie sich, die religiösen und geistigen Ideen neu zu beleben. Katholiken, Protestanten und freireligiös empfindende Personen kann man auf dem Wege nach die­sem Ziele sehen. Aber ihre oft kraftvollen und wohlgemein­ten Bestrebungen zeigen sich ohnmächtig. Sie dringen nicht bis in diejenigen Seelentiefen der Menschen, in denen die Kräfte wirken, die Krieg und Frieden bestimmen, oder die haltbare wirtschaftliche Zustände schaffen. In der Schweiz reden amerikanische Vertreter des Geisteslebens, um von ihren Gesichtspunkten aus den Völkerbunds-Ideen Tragkraft

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zu geben. Der Unbefangene muß zu der Überzeugung kom­men: sie werden vergebens reden. Denn ihre Worte werden keinen Zugang finden zu den Herzen derer, bei denen die Instinkte nur nach einer Umgestaltung des Wirtschafts­lebens hindrängen.

In England hat der Bergarbeiterstreik die Gemüter auf­gewühlt. Auch wenn es dem Parlament gelingt, augenblick­lich seiner Herr zu werden, so wird dies durch Einrichtungen geschehen müssen, mit denen sich in einigen Jahren der Gang der Wirtschaft wird nicht aufrechterhalten lassen. Was in diesem Falle das Parlament getan hat, das zeigt mit voller Klarheit, daß ein Staatsparlament zwar die öffentlichen Angelegenheiten bereden und durch das Bereden in einer vorläufigen Weise ordnen kann, daß es aber doch ohnmäch­tig ist, das Wirtschaftsleben zu bemeistern.

Europa hat aufgeatmet, weil es dem Bolschewismus nicht gelungen ist, die Polen zu besiegen. Es würden viele noch befriedigter atmen, wenn es den «Sieg» der einen oder der anderen Macht über das bolschewistische Rußland erlebte. Die so denken, ahnen nicht, daß sie, wenn sie fortfahren, im alten Sinne «staatspolitisch» zu wirken, aus dem unter­gehenden Bolschewismus in nicht ferner Zeit ein an­deres Schreckgebilde aufstehen sehen würden. Ein sol­ches, das ihnen wohl näher wäre als der russische Bolsche­wismus.

Die Staatspolitik, die ihr Bereich über das Geistes- und das Wirtschaftsleben ausgedehnt hat, die den Menschen zu­gleich erziehen und unterrichten und auch seine Wirtschaft besorgen will, hat es dazu gebracht, so zu erziehen, daß das Geistesleben ohnmächtig ist gegenüber der Gestaltung des sozialen Lebens. Sie lebt durch Parlamente und administrative

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Einrichtungen, die an dem wirklichen Gang des Geisteslebens vorbeireden und vorbeihandeln. Sie führt zuletzt bei den breiten Massen und deren Führern zu einem Staats-Ideal, das einen tyrannischen und noch dazu un­genügenden Wirtschafts-Dilettantismus verkörpern will.

Warum ist das Geistesleben ohnmächtig? Weil es ohnmäch­tig werden muß, wenn Staaten die Erziehungs- und Unter­richtsnormen festsetzen. Denn der Geist kann zu der ihm gebührenden Macht nur gelangen, wenn er in voller Frei­heit seine eigenen Ziele verfolgen kann. Die Selbstverwal­tung des vom Staate emanzipierten Geisteslebens, nament­lich seines wichtigsten Gebietes, des Unterrichts- und Er­ziehungswesens, kann allein den geistigen Impulsen den Zugang zu den Menschenherzen eröffnen. Schulen, die vom Staate und vom Wirtschaftsleben ganz unabhängig sind, werden Menschen aus sich hervorgehen lassen, deren Gei­steskraft gestaltend auf Staat und Wirtschaft wirken kann. Man wendet ein: das führt zur Unbildung zurück. Denn wo kein Staats-Schul-Zwang, da werden die meisten Kin­der auch nicht in die Schule geschickt. Man sollte vielmehr gerade an die Lösung der Aufgabe gehen: wie bringt man die Kinder ohne Staatszwang in die Schulen hinein?

Die gleiche Absonderung vom Staate und die Selbstver­waltung wie das Geistesleben fordert das Wirtschaftsleben. Der Staat kann nur über diejenigen Angelegenheiten sich erstrecken, in denen alle mündig gewordenen Menschen als einander gleiche urteilsfähig sind. Der demokratische Parla­mentarismus ist sein Lebenselement. Aber dieser Parlamen­tarismus muß zu seiner organischen Ergänzung ein sich selbst verwaltendes Geistes- und ein ebensolehes Wirt­schaftsleben haben. In beiden müssen andere Kräfte walten

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als diejenigen, die in demokratischen Parlamenten sich ent­falten können.

Die alten Staatsgebilde, die sich das Geistesleben und die Wirtschaft in weitem Umfange einverleibt haben, werden keine Gebilde der Menschengemeinschaft sein, in denen sich die modernen Menschheitsfragen lösen lassen. Die Unruhe der modernen Zivilisation hat ihren Ursprung in dem Her­ausstreben des Geistes- und Wirtschaftslebens aus diesen Staatsgebilden.

Im Osten herrscht das Chaos. Im Westen sollten sich genug urteilsfähige Köpfe finden, welche durch die Befrei­ung des Geistes- und des Wirtschaftslebens den Weg suchen aus der immer mehr um sich greifenden Lähmung der öffent­lichen Geisteskräfte. Solange nicht genügend Menschen da sind, die mit solchen Anschauungen Erfolg haben können, wird die moderne Zivilisation in Unruhen erbeben, und die Drohung wird bestehen bleiben, daß aus dem Chaos des Ostens das Weltenchaos sich entwickeln werde.

DER WEG IN DEN WIRREN DER GEGENWART

#G024-1961-SE187 Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus

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DER WEG IN DEN WIRREN DER GEGENWART

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Es wächst gegenwärtig die Zahl der Menschen, die zugeben, daß eine Gesundung der staatlichen und wirtschaftlichen Zustände nur durch Anregungen von seiten des geistigen Lebens kommen könne Es ist ja auch offenkundig genug, wie wenig das in den alten Bahnen sich fortbewegende «staatsmännische» Denken den Aufgaben gewachsen ist, die sich aus den Wirren der letzten Jahre ergeben. Man hat Versailles, Spa, St. Germain und so weiter erlebt. Der «Völkerbund» spukt wie eine Heils-Idee in zahlreichen

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Köpfen. Die Völker der zivilisierten Welt sind durch alles dieses zu keiner aussichtsvollen Idee darüber gebracht wor­den, was sie in ihren eigenen Gebieten anfangen sollen oder wie sie sich zueinander stellen können. Im Osten Europas wirkt der Aberglaube sein Unheil, daß man von einseitig wirtschaftlich organisatorischen Gesichtspunkten aus ein Reich zimmern könne. Die staatsmännische Ohn­macht des Westens, der zerstörende Aberglaube des Ostens, der in einen wirtschaftlichen Militarismus hineinführt: Sie tragen wohl ihr gut Teil dazu bei, daß manche um die Zukunft der Menschheit besorgte Persönlichkeit nach dem geistigen Leben hinblickt, um bei ihm Hilfe zu suchen.

Die Pfleger amerikanischer Weltanschauungen erheben ihre Stimmen. In neutralen Ländern kann man diese Stim­men schon hören. Warum sollten sie demnächst nicht auch nach Europas Mitte dringen? Der Sinn, den man aus diesen Stimmen vernehmen kann, ist etwa dieser: Der «Völker­bund» muß kommen. Denn er wird segensvoll sein. Aber was aus dem Hirn der «Staatsmänner» kommt, wird ihm keine aussichtsvolle Gestalt geben können. Er muß in den Herzen der Menschen, nicht bloß in äußeren Einrichtungen seine Wurzeln haben. Die können ihm nur werden, wenn die sittlichen, die geistigen Empfindungen der Menschen zu einer Verständigung über die zivilisierte Welt hin führen. Also fache man zu einem neuen Leben die gelähmten religiösen Gefühle, die lässig gewordenen geistigen Mächte an. - Man kann nicht leugnen, daß aus solchen Gesinnungen heraus heute manches schöne Wort gesprochen, manche gut­gemeinte Rede gehalten wird. Wer aber unbefangen beob­achten kann, der muß sehen, daß solchen Worten heute der Zugang zu den Menschenherzen verschlossen ist. Sie haben

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nicht die Kraft, um aus den Menschengemütern heraus das zu erwecken, was zu der Idee des Völkerbundes kommen müßte, um ihr Leben, Daseinsmacht zu geben. Und will man die Ursache davon erkennen, warum sie diese Kraft nicht haben, so muß man bedenken, in welche Abhängigkeit Weltanschauungsfragen in der neueren Zeit von Staat und Wirtschaft gekommen sind. Die Staaten haben durch das von ihnen völlig okkupierte Unterrichts- und Erziehungs­wesen das geistige Leben ihrer eigenen Gestaltung so an­gepaßt, daß dieses in alle ihre Krisen mit hineingezogen ist. Wo soll ein Geistesleben sein, das einer Erneuerung des staatlichen Wesens dient, da doch die Staaten nur dasjenige haben in die Höhe kommen lassen, was ihrer nun in Frage gestellten Form angemessen war?

In Mitteleuropa ruft man aus der Not und dem Elend heraus nach einer Sammlung der Bekenntnisse, nach einer Wiederbelebung und Verständigung im religiösen Leben. Alles dieses ist gut gemeint. Aber auch hier ist in Worten und Reden keine Kraft. Die staatlichen Formen wollen erneuert sein; und was man sammeln, was man wieder­beleben will, war mit dem Wesen des Alten so verbunden, daß es in seinen Niedergang mit hineingezogen wird.

Nicht eine Erneuerung des staatlichen, des wirtschaftlichen Lebens durch die alten Geistesmächte kann ein aussichts­volles Ziel sein, sondern allein die Erneuerung des Geistes­lebens selbst. Man wird den Mut aufbringen müssen, sich zu gestehen, daß neue Quellen des Geisteslebens erschlossen werden müssen.

Die Anschauung von der Dreigliederung des sozialen Organismus schließt diesen Mut in sich ein. Sie möchte ein unbefangenes Urteil darüber erwecken, daß der vorwaltende

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intellektuelle Wissenschaftsgeist der Gegenwart eine Folge der Verstaatlichung des Unterrichts- und Erziehungswesens und damit des überwiegenden Teiles des öffentlichen geistigen Lebens ist. Dieser Wissenschaftsgeist aber ist es allein, an den die Menschheit der Gegenwart so stark glaubt, daß sie ihm eine Geltung zuschreibt in den Dingen des öffentlichen Lebens. Neben diesem Wissen­schaftsgeist haben die alten Lebensansichten keine Macht für dieses Leben. Nur lebensfremde Personen können sich darüber einer Täuschung hingeben. Nur sie können glau­ben, aus alten Bekenntnissen Kraftreden zu schöpfen, die auf Staat oder Wirtschaft einen bestimmenden Einfluß haben. Man kann durch solche Reden einen gewissen Teil der Seelenverfassung der Menschen in Stimmung versetzen. Aber mit dem Gewinnst, den diese Menschen von solchen Einflüssen erzielen, werden sie im öffentlichen Leben nicht wirken.

Wer sich keiner Illusion hingeben will, der muß sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß die neuere Menschheit eine Lebensansicht braucht, die nicht alte Bekenntnisse neben dem neueren Wissenschaftsgeist bewahrt, sondern die aus diesem Geist heraus selbst erwächst. Es ist das Streben der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft, eine solche Lebensansicht zu gestalten. Die moderne Wissenschaft pflegt nur das verstandesmäßige Begreifen der Natur­erscheinungen. Dieses hat keine Kraft, um auf Gemüt und Wille des Menschen zu wirken. Es ist deshalb für eine soziale Gestaltung des Lebens ungeeignet. Die anthropo­sophische Geisteswissenschaft schöpft nicht allein aus dem Verstande, sondern aus allen Seelenkräften des Menschen. Sie wirkt deshalb auch auf alle diese Seelenkräfte wieder

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zurück. Sie kann befruchtende Ideen dem Staats- und Wirt­schaftsleben geben.

Die heutigen Staaten haben, was sie ihrem eigenen und dem Wirtschaftsleben geben können, noch aus den alten Bekenntnissen und Weltanschauungen. Es ist da nur so ver­wässert, daß man es nicht mehr als Erbschaft des Alten erkennt. Deshalb gibt man diese Tatsache nicht zu. Die neuere, rein intellektualistische Wissenschaft kann Großes leisten in der Naturerkenntnis; auf dem Gebiete des Sozialen kann sie nur lebensfremde, sozialistische Theorien oder lebenzerstörende soziale Experimente hervorbringen. Sie ist aber fähig, zur Geistanschauung fortgebildet zu werden. Wird sie dieses, dann kann sie auch Ideen zu lebensfähigen sozialen Gestaltungen erzeugen.

Die bloße Forderung nach geistiger Anregung für das öffentliche Leben genügt heute nicht. Es bedarf des Mutes zu einer geistigen Neugeburt. Die Gegenwart lebt in Krisen der Staaten und des Wirtschaftslebens. Sie sind nicht zu lösen durch die Kräfte des alten Geisteslebens. Sie werden nur gelöst werden, wenn die Krisis des Geisteslebens selbst durchschaut und auf dem eigenen Gebiete des Geistes die Lösung gesucht wird.

TOTE POLITIK UND LEBENDE IDEEN

#G024-1961-SE191 Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus

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TOTE POLITIK UND LEBENDE IDEEN

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Von der Politik, zu der es die moderne Zivilisation gebracht hat, wurde in meinen «Kernpunkten der sozialen Frage» gesagt, daß sie 1914 am Nullpunkte ihres Könnens ange­langt war. Sie hat diesen Punkt seither nicht verlassen. Der Weg von Versailles bis London ist der unmögliche Versuch,

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auf diesem Punkte stehenzubleiben und doch zugleich weiterzukommen. Der entsetzliche Krieg hat den Beweis geliefert, daß eine Fortsetzung der bis dahin betriebenen Politik nicht möglich war. Man segelte in die Entscheidungen durch die Gewalt hinein. Man ist durch die Verhandlungen in Lon­don über diese Art, Entscheidungen herbeizuführen, nicht hinausgelangt.

Man wird nicht hinausgelangen, wenn man sich nicht im Sinne der Einsicht bewegen wird, daß über die Zu­kunft der modernen Zivilisation Ideen entscheiden werden. Welche Ideen das sein müssen, ist in dieser Zeitschrift oft gesagt worden. Ehe das, was hier gesagt worden ist, nicht von einer genügend großen Anzahl von Menschen in den Bereich des einsichtsvollen Wollens eingeführt worden ist, werden wir im Zeichen der Gewalt weiterleben müssen.

Ein Verband von Staaten hat einen Sieg errungen. In Amerika hat vor der Erringung dieses Sieges Woodrow Wilson gesagt, was die Sieger mit dem Sieg anfangen wollen. Amerika hat durch Versailles sich überzeugen müssen, daß das Gesagte wesenlose Worte sind. Mit wesenlosen Worten kann man keine Wirklichkeiten gestalten. Lloyd George soll kürzlich gesagt haben, daß man niemals wisse, wie weit man geführt werde, wenn man zur Gewalt greifen müsse. In Amerika ist Harding auf den Stuhl gesetzt worden, auf dem vorher Woodrow Wilson wesenlose, wirkungslose Worte gesprochen hat. Harding hat nun auch gesprochen. Für alles dasjenige, was für die moderne Zivilisation in Betracht kommt, sind diese neuen Worte nichts anderes als eine Fortsetzung der Wilsonschen.

Der Sieg wird für die moderne Zivilisation nichts ent­scheiden.

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Denn Ideen müssen entscheiden. Und diese Ideen werden entscheiden, gleichgültig ob sie beim Sieger oder dem Besiegten auftreten und sich Anerkennung verschaffen. Die Situation innerhalb der modernen Völker ist eine solche, daß die notwendigen Ideen über Sieg oder Niederlage hin­wegschreiten können.

Es ist traurig, wenn demjenigen, der heute so von Ideen spricht, erwidert wird: Die Sieger haben die Macht, und den Besiegten können Ideen nichts helfen. Die Sieger wer­den ohne die Ideen mit dem Siege nur ein Leben in der Gewalt und durch die Gewalt herbeiführen können. Sie werden mit diesem Leben die Welt und damit auch sich in den Niedergang führen. Der Besiegte könnte durch Ideen die Welt zu Aufgangskräften führen. Er könnte mit Ideen aus der Niederlage viel, die Sieger werden ohne die Ideen aus dem Siege nichts machen können. Es ist doch, von der Mitte Europas aus gesehen, wahrhaft tragisch, wenn der Sieger Lloyd George nach einem tüchtigen deutschen Staats­mann lechzt. Von dem Londoner Gesichtspunkte aus sollte man es aber - tragikomisch finden, denn komisch kann man es doch nicht finden, weil dazu die Weltlage zu ernst ist.

Die Verhandlungen in London, die Antrittsrede Hardings sind ein Beweis dafür, daß die Sieger in allem hilflos sind außer in der Anwendung der Gewalt. Wo immer man dieses einsieht, wird man am Anfang stehen der Einsicht, daß nur neue Ideen helfen können. Denn die Hilflosigkeit ist nur eine Folge der Tatsache, daß man in London wie in Ver­sailles mit den alten Ideen eine neue Welt zimmern will und nicht einsieht, daß unter den Toten, welche der Krieg gebracht hat, vor allem auch diese alten Ideen sind. Der Krieg stand im Zeichen dieser alten Ideen. Er verdankte

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sein Dasein dem Umstande, daß diese Ideen schon 1914 Leichname waren.

In London verhandelte man über Wirtschaftliches. Wollen die modernen Einheits-Staatsgebilde im Wirtschaftlichen Entscheidungen herbeiführen, so können sie das nur durch die Gewalt. Die wahren Entscheidungen müssen durch das von diesen Gebilden losgelöste Weltwirtschaftsleben ge­bracht werden. Das ist einer der Punkte, von denen die Dreigliederung ausgeht. Sie muß dies tun, weil sie aus der Wirklichkeit heraus sprechen will. In Versailles und Lon­don wollte man handeln aus Unwirklichkeiten heraus.

Immer wieder kommen die Leute und sagen zu den Trä­gern der Dreigliederungs-Ideen: Macht uns doch praktische Vorschläge. Man sieht nicht, daß die zunächst notwendigen längst gemacht sind. Man kann nur mit der Dreigliederung vorwärtskommen. Ohne sie kann man nach Versailles, nach London, auch noch nach Italien, auch nach Amerika gehen; es wird zu nichts helfen.

Dies ist schon oft hier gesagt worden. Heute muß nur darauf gedeutet werden, daß die Geschehnisse in London und ihre Folgen dieselbe Sprache führen.

Und der Osten? Man schaut sehnsüchtig nach ihm; man ersehnt Lenins und Trotzkis Sturz. Man nehme an, daß diese Fanatiker für Zerstörungskräfte morgen vom Schau-platze verschwinden. Es wird der modernen Zivilisation doch nur helfen, wenn Aufbauideen über dasjenige hin­strömen, auf dem sie mit Niedergangskräften gearbeitet haben.

Davon spricht man, daß Wirtschaftsverbindungen mit dem Osten gesucht werden müssen. Die müssen gewiß ent­stehen. Aber der Osten sucht vor allem die geistige Verstän­digung

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mit Mitteleuropa. Das hat ihm dieses bisher nicht dargeboten. Bringt es ihm erst die befruchtenden Ideen, dann wird die Wirtschaftsverbindung sich als die Folge ein­stellen. Von dieser letzteren reden, ohne die erstere zu wollen, heißt sich außerhalb der Bedingungen des wirklichen Lebens stellen.

DIE WIRKLICHEN KRÄFTE IN DEM SOZIALEN LEBEN DER GEGENWART

#G024-1961-SE195 Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus

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DIE WIRKLICHEN KRÄFTE IN DEM SOZIALEN LEBEN DER GEGENWART

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Die Gruppe von Menschen, die im Frühling 1919 damit begann, den Gedanken der Dreigliederung des sozialen Organismus zu propagieren, wollte in ehrlicher Weise an der Besserung der menschlichen Lebensverhältnisse arbeiten. Sie konnte aus dieser Ehrlichkeit heraus der Arbeiterbevöl­kerung nicht die alten Schlagworte und Phrasen bringen, welche seit Jahrzehnten in der sozialistischen Agitation ihr Wesen getrieben hatten. Mit diesen Phrasen und Schlagworten konnte man die bisherige gesellschaftliche Ordnung wohl kritisieren, man konnte den führenden Klassen sagen, was sie unterlassen haben, aber man konnte nichts auf­bauen. Man konnte damit Utopien ausdenken, aber man konnte der sozialen Wirklichkeit nicht Kräfte zuführen, welche dem Leben so dienen, daß darinnen jeder Mensch ein menschenwürdiges Dasein findet.

Die Träger des Dreigliederungsgedankens gingen nicht von solchen Phrasen und Schlagworten aus. Sie begrün­deten ihr Wollen auf den festen Lehren, die das Leben selbst gibt. Sie sprachen von dem Standpunkt dieser Lebenslehren aus sowohl zu den Persönlichkeiten der führenden

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Klassen wie auch zu den Proletariern. Sie sind bisher von keiner Seite verstanden worden. Aber sie wissen gerade deshalb, weil sie ihre Gedanken aus dem wirklichen Leben geholt haben, daß von einer Besserung der Zustände erst die Rede sein kann, wenn man diese Lebenslehren verstehen wird. Sie können nichts anderes tun, als diese Lehren so lange zu wiederholen, bis sie ein geneigtes Ohr finden.

Warum hat man dieTräger des Dreigliederungsgedankens nicht verstanden? Das Proletariat fand, daß sie zu kompli­ziert sprachen. Es konnte nicht sogleich sehen, wie durch ihre Gedanken sich wirklich nicht bloß ein Ziel, sondern auch ein Weg zeigte aus den geistigen, staatlichen und wirt­schaftlichen Unmöglichkeiten heraus. Man wollte, daß sie einfacher sprächen. Aber man bedachte dabei nicht, daß das Leben selbst kompliziert ist. Der Träger des Dreigliede­rungsgedankens ist in derselben Lage wie ein Arzt. Dieser soll seine Ratschläge geben. Er wird das nur tun können, wenn er den ganzen komplizierten menschlichen Organis­mus kennt. Kann man von ihm verlangen, daß er zu jedem Menschen von diesem Organismus so spricht, wie es zu ver­stehen ist, wenn man sich nicht auf das einläßt, was über das Leben des Organismus gelernt werden muß? Man kann das nicht verlangen, weil er durch das Befolgen dieses Ver­langens zum Schlagwort und zur Phrase greifen müßte. Das aber konnten diese Träger nicht. Denn sie wollten nur sagen, was in jedem Satze von Ehrlichkeit durchdrungen war. Was sie zu sagen haben, kann verstanden werden. Aber man muß sich erst durchringen zu diesem Verständnis.

Der Proletarier wird sagen: Also wollt ihr allerlei ge­lehrtes Zeug zu uns sprechen, wir aber wollen die einfache Sprache des Volkes hören. Darauf ist zu erwidern: Nein,

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gelehrtes Zeug wollen wir nicht sprechen, sondern die Sprache des wirklichen Lebens. Wir wollen nur von Kapital und Arbeit sprechen vom Gesichtspunkte der Sachkenntnis wie der Arzt oder Naturkenner vom menschlichen Organismus und nicht wie der Kurpfuscher. Aber wenn man so sprechen will, dann wird man nur verstanden, wenn auch der andere den rechten Weg des Verstehens beschreiten will. Es wird dieser Weg nur gefunden werden, wenn er durch Herz und Seele zum Verstande gehen will. Der Schreiber dieser Zeilen ist von der Überzeugung durchdrungen, daß die Träger des Dreigliederungsgedankens so sprechen, daß man ihnen Ver­ständnis für die wahre Lage des Proletariats ansieht, wenn man sie vom Herzen und von der Seele aus beurteilen will. Das Proletariat hat bis jetzt diesen Weg durch Herz und Seele nicht genügend gesucht. Es hat geurteilt nach den Ver­standeslehren, die es durch den landläufigen Sozialismus eingesogen hat. Es hat verlangt, daß die Träger des Drei­gliederungsgedankens auch so sprechen sollen, wie es bisher nach diesen Verstandeslehren gewohnt war. Das konnten diese nicht, weil sie wissen, daß diese Lehren dem Leben widersprechen und deshalb zu nichts führen.

Der Schreiber dieser Zeilen will nicht einer wüsten Phan­tastik das Wort reden. Er sagt deshalb nicht, daß der Ver­stand abgesetzt werden soll und nur durch Herz und Seele ein Weg gesucht werden könne. Gewiß, der Verstand muß der sichere Führer sein, aber in sozialen Dingen gibt es keinen andern Weg zu dem richtigen Verstandesgebrauch als den durch Herz und Seele. Auf einen solchen Weg rechnen meine «Kernpunkte der sozialen Frage» und mein Buch «In Ausführung der Dreigliederung des sozialen Orga­nismus». Ich glaube nicht, daß in diesen Büchern jemand die

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Lebensbeurteilung vom Standpunkt des Verstandes aus ver­mißt, aber ich habe mich im Interesse der Sache doch gefreut, als ich vor kurzem in einer Besprechung des ersten Buches von fremder Seite her las, daß darinnen die soziale Frage ebenso durch die Kräfte des Herzens wie des Verstandes erfaßt sei.

Ebensowenig wie von proletarischer Seite ist der Drei­gliederungsgedanke von Persönlichkeiten der bisher füh­renden Kreise verstanden worden. Diese sind mit ihren Gedanken so eingesponnen in die bisherigen wirtschaftlichen Routinen, daß sie sich von vornherein auf etwas nicht ein­lassen, das nicht in ihren gewohnten Bahnen läuft. Manche von ihnen sehen ein, daß etwas geschehen müsse; wenn man aber mit bestimmten Gedanken herausrückt über das, was geschehen soll, so schrecken sie davor zurück, weil sie glau­ben, daß sie die Wirklichkeit haben und daß ihnen diese durch eine Phantastik gestört werden soll. Die meisten sagen, sie haben keine Zeit, um sich mit solchen Ideen zu beschäftigen. Und wer nicht von vornherein ungerecht sein will, der muß sogar zugeben - sie haben wirklich keine Zeit. Sie haben von morgens bis abends zu tun, um im alten Sinne fortzuarbeiten, sie kommen abends aus dem Büro mit ermüdetem Kopf, der nichts mehr aufnehmen will, selbst dann, wenn sie mit gutem Willen sich einmal hinsetzen -um sich das Ding anzusehen. So beschränken sie sich dar­auf, die Brüche, die im Hergebrachten entstehen, zu leimen. Sie werden so lange nicht Zeit haben, bis sie werden ein­sehen müssen, daß die Zeit, die sie ausgefüllt haben, doch vergeudet war, und daß die viel besser angewendet gewesen wäre, die sie sich nicht glaubten gönnen zu dürfen. Ich rede dabei von denen, die wenigstens einigen guten Willen haben.

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Auf die andern - ach, sie sind so zahlreich - kann im Ernste doch nicht gerechnet werden.

Wer den Dreigliederungsgedanken verstehen will, der muß sich die Mühe nehmen, zu verfolgen, wie befruchtende Gedanken für das Rechts- und Wirtschaftsleben nur von einem auf sich selbst gestellten Geistesleben kommen können. Er muß vom Leben sich darüber belehren lassen, wie ein vom Rechts- und Wirtschaftswesen aus verwaltetes Erzie­hungs- und Unterrichtssystem diejenige Regsamkeit ver­liert, die zur Aufrechterhaltung des sozialen Organismus notwendig ist. Von da aus wird er dann auch zum Ver­ständnis eines assoziativ gestalteten Wirtschaftslebens und eines wirklich demokratischen Rechtslebens kommen. Der Schreiber dieser Zeilen hat versucht, in den obengenannten Büchern diesen Weg des Verständnisses sachgemäß, so gut er es konnte, zu zeigen.

Will man auf einen solchen Weg weisen, so muß man von den sozialen Kräften ausgehen, die in dem gegenwär­tigen Zeitalter wirksam sind. Die moderne Technik hat das Leben umgestaltet; die neuere Wissenschaft ist durch das entwickelte Schulwesen in die Seelen weitester Kreise als Lebensansicht gedrungen. Das hat neue Vorstellungen von einem menschenwürdigen Dasein geschaffen. Mit diesen bei­den sehr realen Kräften der Gegenwart rechnen die Träger der Dreigliederung. Man wird deren Ideen dann verstehen, wenn man fühlen wird, was diese Kräfte bedeuten. Viele rechnen zwar mit der Technik, aber nicht mit dem Leben der Menschen, die in diese Technik eingespannt sind. Andere rechnen mit dem Wissenschaftsgeist. Sie wollen ihn - mit Recht - in den Schulen gepflegt haben. Aber sie rechnen nicht mit den Seelenstimmungen, die er erzeugt. Der Dreigliederungsgedanke

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rechnet mit dem, was sie aus der Rech­nung herausfallen lassen.

Der Proletarier hat das Vertrauen verloren, weil er emp­findet, wie so viele weder mit seinem Leben, noch mit seiner Seele rechnen. Es wird erst besser werden können, wenn er durch Herz und Seele den Weg findet zu den sozialen Ideen, die mit beiden rechnen, und die ihm eben deshalb seine lieb­gewordenen Schlagworte nicht weiter bieten können, weil sie einen wirklichen Weg und nicht das Berauschen mit utopistischen Gedanken wollen.

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FÜNF AUFSÄTZE AUS DER ZEITSCHRIFT «SOZIALE ZUKUNFT»

DIE DREIGLIEDERUNG DES SOZIALEN ORGANISMUS, DIE DEMOKRATIE UND DER SOZIALISMUS

#G024-1961-SE201 Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus

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Vier Aufsätze aus der Zeitschrifl «Soziale Zukunft»

DIE DREIGLIEDERUNG DES SOZIALEN ORGANISMUS, DIE DEMOKRATIE UND DER SOZIALISMUS

#TX

Unter den bedeutsamen Fragen, die in der Gegenwart, aus der Weltkriegskatastrophe heraus, die Umwandlung in ganz neue Formen durchmachen, ist die der Demokratie. Daß Demokratie restlos das Völkerleben durehdringen muß, sollte eine selbstverständliche Erkenntnis für alle sein, die einen offenen Sinn für das geschichtlich Gewordene haben. Die Weltkriegskatastrophe hat die Unmöglichkeit einer Weiterentwickelung alles dessen erwiesen, was der Demo­kratie widerstrebt. Alles Anti-Demokratische hat sich selbst in die Vernichtung hineingeführt. Für diejenigen, welche in irgendeiner Form an Wiederaufrichtung eines solchen Anti-Demokratischen denken, wird es sich nur darum handeln können, daß ihrer Einsicht das als Beweis aufgeht, was die Wirklichkeit mit Strömen von Blut bewiesen hat.

Aber die Frage, Wie ist Demokratie zu verwirklichen, fordert gegenwärtig eine Stellungnahme heraus, die in ver­flossenen Zeiten nicht in derselben Art da sein konnte. Bevor die soziale Bewegung in das geschichtliche Stadium einge­treten war, in dem sie heute ist, konnte man über Demo­kratie anders denken, als man es jetzt muß. Die Frage wird immer drängender: Wie kann die soziale Bewegung dem demokratischen Leben einverleibt werden?

Es kann sich gegenwärtig wahrlich nicht darum handeln, in unbestimmten politischen Forderungen sich auszuleben

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und aus dem heraus, was einseitige Lebensinteressen dieser oder jener Menschengruppen als solche Forderungen in ganz begreiflicher Weise erheben, politische Ideale zu formen. Ein wirkliches Verständnis des sozialen Organismus wird mit jedem Tage notwendiger.

Es waren nicht immer bloß die Knechte des Kapitalismus, in deren Seele die Sorge sich einnistete, wenn sie daran dachten, was werden soll, wenn die soziale Welle das neu­zeitliche Leben überfluten werde. Neben den allerdings in der Mehrzahl sich geltend machenden Egoisten waren ver­einzelte ehrliche Persönlichkeiten, die in der Form, welche diese Welle annahm, gerade eine Gefahr für den wahren Demokratismus sahen. Wie soll noch eine wahrhaftige Ent­faltung der menschlichen Individualitäten möglich sein, wenn alles geistige Leben auch in der Lebenspraxis ein ideologischer Überbau des Wirtschaftslebens wird, wie es ein solcher im Denken derjenigen geworden ist, welche die soziale Gestaltung des Lebens von der Durchdringung aller Menschen mit materialistischer Geschichtsauffassung abhängig machen? Denn ohne ctie freie Entfaltung der menschlichen Individualitäten möglich zu machen, wird eine sozialistische Lebensgestaltung die Kultur nicht herausholen aus ihrem kapitalistischen Gefängnis, sondern sie zum Ab­sterben ohne die Aussicht auf Neubelebung bringen.

Wer die Forderungen, welche in der sozialen Bewegung liegen, nicht nach den Interessen beurteilt, die sich aus seiner bisherigen Lebenslage ergeben, sondern wer vermag, in ihnen eine geschichtliche Notwendigkeit zu sehen, der nicht zu entgehen ist, vor den stellt sich mit größtem Ernste die Frage hin: Wie können diese Forderungen erfüllt werden, ohne zur Unterdrückung der individuellen menschlichen

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Begabungen zu führen, auf deren freier Entfaltung auch in der Zukunft alle Lebensentwickelung beruhen muß? In einer auf kapitalistische Wirtschaftsformen gegründeten ge­sellschaftlichen Lebensordnung war Demokratisierung etwas anderes, als sie wird sein müssen in einer von sozialen Im­pulsen durchtränkten.

Man wird das Bedürfnis immer drängender empfinden müssen, für das menschliche Geistesleben Entwickelungs­möglichkeiten zu suchen, die sich durchsetzen können neben den sozialen Impulsen. Man wird sich nicht durch das Dogma hypnotisieren lassen dürfen: Sozialismus im Wirtschafts­leben wird als Überbau von selbst ein gesundes Geistesleben hervorbringen. Einem solchen Dogma kann nur zustimmen, wer nicht begreift, daß ein auf sich selbst gestelltes Wirt­schaftsleben ohne fortdauernde Befruchtung durch ein auf die freien Menschenindividualitäten begründetes Geistes­leben nicht in fortschreitender Entwickelung erhalten wer­den kann, sondern in sich erstarren muß. Was aus der menschlichen Individualität heraus in das soziale Leben befruchtend eingreifen soll, muß aus der Menschenwesen­heit durch Impulse herausgeholt werden, welche aus dem Wirtschaftsleben heraus sich nicht ergeben können. Die Wirtschaft bildet die Grundlage des Menschenlebens; aber das Menschenwesen ragt über das Wirtschaftliche hinaus. Die Kräfte des Wirtschaftslebens sind in engere Grenzen eingeschlossen als die Entfaltung der Gesamt-Menschen-natur. So selbstverständlich auch dieses ist für das Begreifen des einzelnen Menschen, es ist diese Selbstverständlichkeit in dem neuzeitlichen Leben nicht verwirklicht; und es kommt immer mehr eine Denkungsart an die Oberfläche der öffent­lichen Meinung und vor allem des öffentlichen Tuns, die dieser

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Selbstverständlichkeit widerstrebt. Die Menschen leben sich in Daseinsbedingungen ein und fordern Daseinsbedin­gungen, die, wenn sie sie wahrhaft überdenken wollten, ihnen unmöglich erscheinen müßten. Sie helfen sich dadurch, daß sie sich über den Lebenswiderspruch hinwegbetäuben, daß sie vermeiden, ihn sich zum Bewußtsein zu bringen.

Eine bedeutungsvolle Lebenstatsache enthüllt sich aus diesem Widerspruch heraus. Die Urteils- und Empfindungskräfte, die in der menschlichen Persönlichkeit veranlagt sind und die in einer gesunden Pflege des öffentlichen Geistes­lebens zur Entwickelung kommen müßten: sie finden nicht den Weg in die sozialen Einrichtungen, in denen der moderne Mensch lebt. Diese Einrichtungen erdrücken die freie Ent­wickelung des individuellen Menschen.

Von zwei Seiten her macht sich diese Unterdrückung geltend. Von der Seite des Staates und von derjenigen des Wirtschaftslebens. Und der Mensch stürmt bewußt oder unbewußt gegen die Bedrückung an. In diesem Anstürmen liegt die wirkliche Ursache der sozialen Forderungen un­serer Gegenwart. Alles andere, das in diesen Forderungen lebt, ist an die Oberfläche getriebene Welle, die verbirgt, was in den Untergründen der Menschennaturen waltet.

Der Ansturm gegen die Bedrückung des Staates spricht sich aus in dem Streben nach wahrer Demokratie; der Ansturm gegen die Bedrückung des Wirtschaftslebens in dem anderen Streben, nach sozialer Gliederung des Wirtschaftslebens.

Für das, was seit drei bis vier Jahrhunderten zum moder­nen Staate geworden ist, fordert die Menschheit die Demo­kratie. Soll diese Demokratie wahrhaftige Tatsache werden, dann muß sie auf diejenigen Kräfte der Menschennatur aufgebaut sein, die sich wirklich demokratisch ausleben

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können. Sollen aus Staaten Demokratien werden, dann müssen diese Einrichtungen sein, in denen die Menschen zur Geltung bringen können, was das Verhältnis eines jeden erwachsenen, mündig gewordenen Menschen zu jedem anderen regelt. Und jeder erwachsene, mündig gewordene Mensch muß gleichen Anteil haben an dieser Regelung. Ver­waltung und Volksvertretung müssen so gehalten sein, daß sich in ihnen auslebt, was aus dem Bewußtsein eines Men­schen sich ergibt einfach dadurch, daß er ein seelisch gesun­der, mündiger Mensch ist.

Kann eine solche Volksvertretung und eine solche Ver­waltung auch das Geistesleben regeln, das die volle Ent­faltung der individuellen menschlichen Anlagen bewirken muß, wenn diese Entfaltung nicht zum Unheil des sozialen Lebens verkümmern und unterbunden werden soll? Diese Entfaltung beruht darauf, daß sie auf einem Boden gepflegt wird, auf dem nur so gehandelt wird, wie es sich aus den Impulsen des Geisteslebens heraus selbst ergibt. Spezifische Anlage wird nur von spezifisch entwickelter Anlage wirk­lich erkannt und richtig gepflegt. Und sie wird nur richtig auf den Weg in das Leben hineingewiesen, wenn der Wei­sende aus den Erfahrungen heraus handelt, die ihm die Erfahrung aus dem Lebenskreise heraus gibt, in den er weisen soll. Für die rechte Pflege eines sozial gesunden Ge­meinschaftslebens sind Persönlichkeiten notwendig, welche einzelne Zweige des Lebens durch eine in diesen ausgebildete Erfahrung genau kennen, und die in sich den Sinn dafür entwickeln, innerhalb des Geisteslebens ihre Erfahrung zur Offenbarung zu bringen. Man denke an den sozial bedeu­tungsvollsten Zweig des Geisteslebens: an die Schule auf jeder Stufe. Kann denn die Entfaltung der individuellen

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Menschenkräfte und ihre Vorbereitung für das Leben auf einem bestimmten Gebiete gedeihlich nicht nur von einer Persönlichkeit besorgt werden, die individuelle Erfahrung auf diesem Gebiete hat? Und kann jemals etwas sozial Heilsames entstehen, wenn für die Stellung einer solchen Persönlichkeit an ihren Platz etwas anderes maßgebend ist als das Walten ihrer individuellen Fähigkeiten selbst? Was in der Demokratie sich auslebt, kann nur auf dasjenige sich beziehen, was jeder mündige Mensch mit jedem mündigen Menschen gemein hat. Es gibt keine Möglichkeit, durch das­jenige, was in der Demokratie sich ausleben kann, eine Re­gelung darüber zu finden, was ganz im Kreise des indivi­duellen Menschenwesens liegt. Will man ehrlich und wahr die Demokratie durchführen, so muß man von ihrem Boden ausschließen alles, was in diesen Kreis gehört. Auf demo­kratischem Boden und innerhalb der Verwaltungseinrich­tungen, die auf diesem Boden auswachsen können, kann kein Impuls entstehen, der richtunggebend sein darf für eine menschliche Betätigung, die frei aus der individuellen Begabung des Menschen fließen soll. Die Demokratie muß sich für unfähig zu einem solchen Impulse erklären gerade dann, wenn sie wahre Demokratie sein will. Will man aus dem bisherigen Staate eine wahre Demokratie herausge­stalten, so muß man aus dieser alles dasjenige herausnehmen und es seiner vollen Selbstverwaltung überliefern, über das nur die individuelle Entwickelung des besonderen Men­schen die rechten Impulse entwickeln kann, und das keine Regelung erfahren kann durch dasjenige, was in jedem Menschen einfach dadurch lebt, daß er ein mündiger Mensch geworden ist.

Die sozialen Verhältnisse, über die jeder mündig gewordene

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Mensch urteilsfähig ist, sind die Rechtsbeziehungen von Mensch zu Mensch. Es sind dies zugleich diejenigen Lebensverhältnisse, die ihren sozialen Charakter nur da­durch erhalten können, daß sie in demokratischen Einrich­tungen sich als ein Gesamtwille aus dem wirklichen Zu­sammenwirken der gleichen menschlichen Einzelwillen er­geben. Bei allem, was auf dem Boden der individuellen menschlichen Fähigkeiten erwachsen soll, kann nicht ein Gesamtwille in den Einrichtungen zum Ausdruck kommen; sondern diese Einrichtungen müssen solche sein, in denen die Einzelwillen sich voll zur Geltung bringen können. Der einzelne Mensch muß gewissermaßen wie eine Naturgrund­lage sich verhalten können. Man kann nicht über eine Landfläche hin aus Bedürfnissen heraus, die abgesehen von den einzelnen Teilen dieser Landfläche gefaßt sind, diese be­wirtschaften; man muß aus dem Wesen der einzelnen Teile kennenlernen, was sie besonders hervorbringen können. So muß auf geistigem Gebiete die auf den individuellen Fähig­keiten beruhende Einzelinitiative sich sozial auswirken können; sie darf nicht bestimmt werden durch den Inhalt eines Gesamtwillens. Dieser Gesamtwille muß unsozial wir­ken, denn er entzieht der Gemeinschaft die Früchte der in­dividuellen menschlichen Fähigkeiten.

Es gibt keinen anderen Weg, die Früchte dieser indivi­duellen Fähigkeiten zur Entfaltung zu bringen, als ihre Selbstverwaltung. Innerhalb dieser Selbstverwaltung kann allein der Zustand eintreten, durch den nicht ein die Fruchtbarkeit der Einzelmenschen für das soziale Leben unter-drückender Gesamtwille entsteht, sondern durch den in das Gesamtleben die menschlichen Einzelleistungen zu dessen Wohle aufgenommen werden.

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Innerhalb einer solchen Selbstverwaltung werden sich aus dem Geistesleben heraus die Gesichtspunkte ergeben, durch welche die rechten Menschen an die rechten Stellen gebracht werden und durch welche an die Stelle von Gesetz und Ver­ordnung das unmittelbar lebendige Vertrauen gesetzt wer­den kann. Den an der Volkserziehung beteiligten Personen werden solche Gesetze und Verordnungen keine Erziehungs­ziele weisen; dafür werden sie zu Beobachtern des Lebens werden und diesem abzulauschen suchen, was sie heranzu­bilden haben. Es wird die Tendenz entstehen können, im praktischen Leben stehende Personen, die in irgendeinem Zweige des Wirtschafts- oder Rechtslebens durch Jahre Er­fahrung gesammelt haben, in die geistige Organisation auf­zunehmen. In dieser werden sie die Menschen finden, mit denen, im lebendigen Verkehre, sie das praktisch Erfahrene in erzieherisch Fruchtbares werden umgestalten können. Andererseits werden in der geistigen Verwaltung stehende Personen den Antrieb empfinden, aus dieser Verwaltung zeitweise hinüberzutreten in das praktische Leben, um in diesem das Errungene lebenswirklich zu verwerten.

Eine Gliederung des sozialen Organismus in der Art, daß in ihm ein sich selbst verwaltendes Geistesleben zur Ent­faltung kommt, wird nicht die lebendige Einheit dieses Or­ganismus zerstören, sondern, im Gegenteil, erst recht be­gründen. Gegliedert wird nur die Verwaltung; in dem Leben des Menschen wird die Einheit zur Entwickelung kommen können. Der Mensch wird nicht mehr nötig haben, in einem erstarrten Stand von dem Leben sich abzuschließen und einzukapseln. Ein Hinüber- und Herübergehen aus dem gei­stigen in die anderen Glieder des sozialen Organismus wird stattfinden können. Denn in dem Leben, das sich als Tra­dition

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und öffentliche Meinung in dem Geistesorganismus ausgestaltet hat, wird etwas weit Fruchtbareres liegen als in dem starren System, das sich herausbildet, wenn sich Men­schen als Stand abgliedern. Die Gliederung des sozialen Organismus sollte in der Zukunft in dem Sachlichen liegen; und dieses Sachliche sollte durch seine Selbstverwaltung die Kraft entwickeln, die auch dann wirkt, wenn es nicht den Menschen tyrannisch in seine Netze einspannt.

Es sollte nicht bezweifelt werden, daß ein soziales Wirt­schafts- und Rechtsleben nur entstehen kann, wenn die Men­schen sozial denken und empfinden können. Daß das bis­herige mit dem Rechtsstaate verschmolzene Geistesleben dies nicht kann, sollte eine unbefangene Erfahrung der gegenwärtigen Zustände zeigen. Wer gegenwärtig aus dem vollen Leben heraus urteilt, wird schwer verstanden, denn er stößt auf die Seelenverfassung von Menschen, in denen nicht Saiten anklingen, die aus der Lebenserfahrung in Denk- und Empfindungsart gespannt sind, sondern auf solche, denen die Staatserziehung eine abstrakte, lebensfremde Art gegeben hat. Diejenigen Menschen, die sich für die am meisten praktischen halten, sind die am wenig­sten praktischen. Sie haben sich in dem engen Lebensgebiete, in das sie sich eingesponnen haben, eine gewisse Routine erworben. Diese nennen sie ihren praktischen Sinn und sehen, aus dieser Seelenverfassung heraus, auf jeden mit Hochmut als einen unpraktischen Menschen, der in diese Routine sich nicht eingepfercht hat. In ihrem ganzen übrigen Denken, Empfinden und Wollen herrscht aber ein lebens-fremdes, von abstrakten Richtungskräften getragenes Wesen. Ein solches Wesen wird großgezogen durch die im Staate verankerte Erziehung, in die nicht Lebenserfahrung einfließen

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kann, sondern nur das abstrakte Denken und Empfinden, die ohne spezielle Erfahrung auf irgendeinem Gebiete jedem mündig gewordenen Menschen durch die menschliche Natur eigen sein können, wenn sie einen Boden haben, auf dem nur sie wirksam sind. In dieser Tatsache liegt begründet, daß von vielen Seiten den sozialen Forde­rungen der Gegenwart ein solch geringes Verständnis ent­gegengebracht wird. Schon die Ausgangspunkte der sozialen Empfindungen zeigen sich den Forderungen des sozialen Organismus nicht gewachsen. Man denkt: viele Menschen fordern eine soziale Neugestaltung des Lebens. Man komme ihnen entgegen, meinen manche, und schaffe Gesetze und Verordnungen. Doch das soziale Neugestalten kann sich so nicht vollziehen. Die sozialen Forderungen der Gegenwart sind solche, die nicht in einer zeitweiligen Gewaltumwäl­zung ihre Erfüllung finden können. Die «soziale Frage» ist an die Oberfläche der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit getreten, und sie wird von jetzt an immer da sein. Und sie wird eine Denk- und Empfindungsrichtung fordern, welche die volle Anpassung des Geisteswesens an das soziale Gesamtleben und die fortwährende Befruchtung dieses Geisteswesens aus den Impulsen des Gesamtlebens zur Voraussetzung haben werden. Man wird nicht sozialisieren können, damit dann sozialisiert sei, man wird immer von Neuem sozialisieren müssen; oder auch: man wird das Gesell­schaftsleben im Zustande des Sozialisierens erhalten müssen.

Aus den im bisherigen Geisteswesen, insbesondere im Er­ziehungs- und Schulwesen begründeten Richtungen ist das unsoziale, ja oft antisoziale Empfinden derjenigen entstan­den, die gegenwärtig sich gerade als sozialistisch Denkende gebärden. Das lebensfremde Geistesleben hat eine verkehrte

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Anschauung über das Geistesleben selbst hervorgerufen. Weite Kreise denken heute, die wahren Impulse des Men­schenlebens liegen in den Wirtschaftsformen; auch das Geistes­leben sei bloß eine Art aus dem Wirtschaftsleben sich er­gebender «Überbau», eine Ideologie, die aus der Art des Wirtschaftens aufsteigt. Zu einer solchen Anschauung be­kennt sich mehr oder weniger unbewußt oder bewußt fast das gesamte, die gegenwärtigen Zeitforderungen tragende Proletariat. Dieses Proletariat hat sich in einem Zeitalter entwickelt, in dem das Geisteswesen darauf verzichtet hat, sich Richtung und Ziel aus sich selbst heraus zu geben, in dem die äußere, soziale Ausgestaltung dieses Geisteswesens zu einem Ergebnis des Staats- und Wirtschaftslebens gewor­den ist. Dieses Geistesleben hat sich in einen Zustand ge­bracht, aus dem es nur durch seine Selbstverwaltung heraus­kommen kann. Das Proletariat, das durch Technik und Kapitalsystem ganz in das Wirtschaftsleben eingespannt ist, glaubt nun: eine bloße Umgestaltung des Wirtschaftslebens werde auch die notwendigen neuen Rechts- und Geistes-formen «von selbst» erbringen. Dieses Proletariat hat er­fahren müssen, daß das neuzeitliche Geistesleben zu einem Anhängsel des Staats- und Wirtschaftslebens geworden ist, und hat sich die Meinung gebildet: jedes Geistesleben sei ein solches Anhängsel. Es würde, wenn es diese Anschauung in einem sozialen Organismus verwirklicht sähe, zu seiner allerbittersten Enttäuschung wahrnehmen müssen, daß ein Geistesleben, das aus einer sozialen Gestaltung hervorge­gangen ist, die nur auf wirtschaftlicher Grundlage ruht, zu noch kläglicheren Zuständen geführt hätte, als die gegen­wärtigen sind. Das Proletariat wird sich durchringen müssen zu der Erkenntnis, daß die gegenwärtige Lage nicht gebessert

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werden kann durch die bloße Umgestaltung des Wirtschaftslebens, sondern durch die Loslösung des Gei­steswesens und Rechtswesens von dem Wirtschaftsleben in dem dreigliedrigen gesunden sozialen Organismus. Erst dann wird die proletarische Bewegung auf dem rechten Boden stehen, wenn sie nicht mehr sagen wird: Das neuere Wirtschaftsleben hat ein Geistes- und Rechtsleben erzeugt, die unsozial wirken; man muß ein anderes Wirt­schaftsleben herbeiführen, das dann auch ein anderes Gei­stes- und Rechtswesen aus sich hervorbringen wird; son­dern wenn es sagen wird: Das neuere Kulturleben hat zu einem Wirtschaftssystem geführt, das nur umgewandelt werden kann, wenn das neue das Rechts- und Geistesleben von sich loslöst und ihrer Selbstverwaltung übergibt, um auf diese Art auch zu seiner Selbstverwaltung zu kommen. Denn dieses neuere Kulturleben hat zur Abhängigkeit alles Nicht-Wirtschaftlichen vom Wirtschaftlichen geführt: in der Aufhebung dieser Abhängigkeit, nicht in einer noch grö­ßeren Abhängigkeit, liegt die Gesundung. Die Einspannung des modernen Proletariats in das bloße Wirtschaftsleben hat zu dem Glauben geführt, daß in einer Umgestaltung des Wirtschaftslebens allein die Gesundung liegt. Der Tag, der das Proletariat von diesem Aberglauben befreien wird, der seine Instinkte erkennen lassen wird, daß das Geistes- und Rechtsleben nicht eine aus dem Wirtschaftswesen geborene Ideologie sein darf, sondern daß das Unheilvolle der neue­ren Zeit eben darin liegt, daß eine solche Ideologie geboren worden ist: dieser Tag wird die Morgenröte bringen, auf die so viele Menschen warten.

Ein Wirtschaftsleben, an dem der Staat nicht mitwirt­schaftet, wird hervorgehen können aus den unbeeinflußten

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wirtschaftlichen Erfahrungen auf der einen Seite und aus den besonderen wirtschaftlichen Untergründen, auf denen das wirtschaftliche Leben von Personen und Personengrup­pen ruht. Wirtschaftliche Erfahrung kann nicht auf dem Boden sich ausleben, auf dem sich offenbaren soll, was in jedem mündig gewordenen Menschen liegt, sondern nur auf dem Boden des aus sich selbst sich gestaltenden Wirtschafts­körpers. Und die Geltung, die ein Mensch dadurch hat, daß er in einem besonderen Zweige des Wirtschaftslebens drin­nensteht, kann sich nicht äußern in der Struktur des Staats­lebens, in der sich verwirklichen soll, was für alle Menschen gleich gilt, sondern nur in der Wirkung, die von diesem Menschen ausgeht auf andere Zweige des Wirtschaftslebens. Die Menschen, die einem Wirtschaftszweig angehören, wer­den sich in sich zusammenschließen müssen; sie werden sich zusammengliedern müssen zu Assoziationen mit Menschen aus anderen Wirtschaftszweigen. Konsumtions- und Pro­duktionsinteressen werden in dem lebendigen Verkehr sol­cher Assoziationen und Genossenschaften sich organisieren können. Im Wirtschaftskreislauf werden dadurch nur wirt­schaftliche Impulse ihre Verwirklichung finden können.

Der Handarbeiter wird dem Geistesarbeiter so gegen­überstehen, daß zwischen ihnen nur wirtschaftliche Fragen werden in Betracht kommen, weil das Rechtsverhältnis auf dem abgesonderten Rechtsboden seine Regelung findet. Ein freier Gesellschafter wird der Handarbeiter dem geistigen Leiter seines Betriebes sein können, weil nur die aus der Wirtschaftsgrundlage heraus sich ergebende Aufteilung des gemeinsam Erarbeiteten wird in Betracht kommen können und nicht ein wirtschaftlicher Zwang, der durch die wirt­schaftlich bessere Lage des Arbeitsleiters hervorgerufen

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wird. Die assoziative Gliederung des Wirtschaftskörpers wird den Handarbeiter in Zusammenhänge des Lebens brin­gen, welche in sein Vertragsverhältnis zum geistigen Ar­beitsleiter ganz andere Gesichtspunkte bringen werden als seine gegenwärtige Stellung, die ihn nicht zum Teilnehmer des Produktionsergebnisses, sondern zum Kämpfer gegen die Interessen seines Unternehmers macht. Der Handarbei­ter wird aus den Erkenntnissen, die er gewinnt aus seiner wirtschaftlichen Lage als Konsument, das gleiche Interesse, nicht das entgegengesetzte, gewinnen an seinem Produk­tionszweige wie sein geistiger Leiter. Das kann sich nicht ergeben in einem Wirtschaftsleben, dessen Impuls die Ren­tabilität des Kapitalbesitzes ist, sondern allein in einem solchen, das die Werte der Erzeugnisse aus den sich aus­gleichenden Konsum- und Produktionsverhältnissen der sozialen Gesamtheit regeln kann. Eine solche soziale Ge­meinschaft ist aber nur möglich, wenn die speziellen Berufs-, Konsum- und Produktionsinteressen ihren Ausdruck fin­den in Assoziationen, die aus den einzelnen Zweigen des Wirtschaftslebens selbst hervorgehen und die in der Gesamtgliederung des Wirtschaftskörpers sich miteinander verstän­digen. Aus den speziellen Interessen der einzelnen Wirt­schaftszweige werden sich die Einzelassoziationen ergeben; in dem Zusammenschluß dieser Assoziationen und in dem Zentralverwaltungskörper, der sich aus den Wirtschafts­interessen herausgliedern wird, werden die sozialen Im­pulse der Güterwertbildung liegen können. Man kann einen einzelnen Betrieb nicht sozialisieren, denn die Sozialisierung kann nur darin liegen, daß die Güterwertbildung, mit der ein einzelner Betrieb in dem Gesamtwirtschaftsleben drin­nensteht, nicht unsozial wirkt. Durch eine in dieser Richtung

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liegende wahre Sozialisierung wird dem Kapitalsystem völlig diejenige Grundlage entzogen, durch die es als Pri­vatbesitz schädlich wirkt. (Die besondere Gestaltung des Kapitalwesens in dem gesunden dreigliederigen Organis­mus habe ich in meinem Buche «Die Kernpunkte der so­zialen Frage» geschildert.) Es sollte doch klar sein, daß man das Kapital nicht «abschaffen» kann, insofern es in nichts anderem besteht als in den für die soziale Gemeinschaft arbeitenden Produktionsmitteln. Schädlich wirkt nicht das Kapital, sondern seine Verwaltung aus den Privatbesitz-verhältnissen heraus, wenn diese Privatbesitzverhältnisse die soziale Struktur des Wirtschaftskörpers von sich abhän­gig machen können. Geht diese Struktur auf die gekenn­zeichnete Art aus dem wirtschaftlichen Assoziationswesen hervor, dann wird dem Kapital jede Möglichkeit entzogen, antisozial zu wirken. Eine solche soziale Struktur wird stets verhindern, daß der Kapitalbesitz sich loslöst von dem Verwalten der Produktionsmittel und zum Strebensimpuls derer wird, die nicht durch Anteilnahme an dem Wirt­schaftsprozeß ihr Leben gestalten wollen, sondern ohne Anteilnahme aus diesem heraus. Man kann allerdings ein­wenden, daß für diejenigen, die am Wirtschaftsprozeß mit­arbeiten, nichts herauskommen würde, wenn man die Er­werbungen der Nichtarbeitenden «aufteilen» würde. Das besticht, weil es richtig ist, und es verhüllt doch die Wahr­heit, weil seine Richtigkeit für die Gestaltung des sozialen Organismus keine Bedeutung hat. Denn nicht darauf beruht die Schädlichkeit der nichtarbeitenden Rentenbesitzer, daß sie ein verhältnismäßig Weniges den Arbeitenden entziehen, sondern darauf, daß sie durch die Möglichkeit, arbeitsloses Einkommen zu erzielen, dem ganzen Wirtschaftskörper ein

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Gepräge geben, das antisozial wirkt. Derjenige ganze Wirt­schaftskörper ist etwas anderes, in dem arbeitsloses Ein­kommen unmöglich ist, als der andere, in dem ein solches erzeugt werden kann, wie ein menschlicher Organismus etwas anderes ist, bei dem sich an keiner Stelle ein Geschwür bilden kann, als ein solcher, in dem sich das Ungesunde in einer Geschwürbildung an einer Stelle entlädt.

Ein gesunder sozialer Organismus macht aus den gekenn­zeichneten sozialen Assoziationsbildungen heraus allerdings Einrichtungen notwendig, vor denen die gegenwärtigen wirtschaftlichen Vorurteile noch zurückschrecken. In einem gesunden sozialen Organismus wird eine Summe von Pro­duktionsmitteln dasjenige erschöpft haben, was sie kosten darf, wenn sie für den Betrieb fertiggestellt ist. Sie wird dann verwaltet werden können von dem Hersteller nur so lange, als er mit seinen individuellen Fähigkeiten wird da­bei sein können. Dann wird sie überzugehen haben nicht durch Kauf oder Vererbung auf einen anderen, sondern durch kaufloses Übertragen an den, welcher wieder die in­dividuellen Fähigkeiten für die Verwaltung hat. Einen Kaufwert wird sie nicht haben, folglich auch keinen Wert in den Händen eines nichtarbeitenden Erben. Kapital mit selb­ständiger wirtschaftlicher Kraft wird in der Herstellung von Produktionsmitteln arbeiten; es wird sich auflösen in dem Augenblick, in dem die Produktion der Produktionsmittel abgeschlossen ist. Das gegenwärtige Kapital besteht aber im wesentlichen gerade in «produzierten Produktionsmitteln».

Der sozial richtige Wert eines Gutes (einer Ware) kann sich nur im Vergleich mit anderen Gütern ergeben. Er muß gleich sein dem Wert aller anderen Güter, welche der Her­steller zur Befriedigung seiner Bedürfnisse braucht bis zu

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dem Zeitpunkte, in dem er ein gleiches Gut wieder her­gestellt hat, unter Berücksichtigung derjenigen Bedürfnisse, die durch ihn bei anderen Menschen befriedigt werden müssen. (In die letzteren Bedürfnisse sind einzurechnen zum Beispiel die seiner Kinder, der Teil, den er zur Erhaltung erwerbsunfähiger Menschen zu leisten hat usw.) Daß ein solcher Güterwert zustande komme, muß durch die Ein­richtungen eines gesunden Wirtschaftslebens vermittelt wer­den. Diese Einrichtungen können nur durch ein Netz von Korporationen geschaffen werden, welche aus den Erfah­rungen der Konsumtion die Produktion regeln. Es kann selbstverständlich nicht von einer Beurteilung der Berech­tigung von Bedürfnissen die Rede sein, sondern nur von einer durch die wirtschaftliche Erfahrung und die wirk­lichen wirtschaftlichen Verhältnisse gestützten Vermittelung zwischen Konsum und Produktion. Entstehende Bedürf­nisse, die von der Gesamtheit eines Wirtschaftskreises nicht getragen werden können, werden keinen Gegenwert finden können in den Gütern, welche derjenige herstellt, der die Bedürfnisse hat.

Nur ein solcher Wirtschaftskreislauf wird in dieser Art seine Regelung finden können, der aus den sich gegenseitig stützenden auf Sacherkenntnis und Sachunterlagen beru­henden Maßnahmen der einzelnen Wirtschaftskorporationen heraus entsteht. Jedes Hineinwirken einer Demokratie müßte unterdrückend auf das Ausleben der Sacherkenntnis wirken. Ebenso aber muß auf alles, was aus dem Einflusse der Demokratie hervorgehen soll, das Interesse des Wirt­schaftlichen zerstörend wirken.

In der Dreigliederung des sozialen Organismus in ein selbständiges Geistesglied, ein ebensolches Rechtsglied und

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Wirtschaftsglied liegt die Gesundung dieses Organismus. Die Gliederung wird ja nicht so sein, daß sie die Menschen in drei Stände trennt, sondern so, daß ein Mensch mit seinen gesamtmenschlichen Interessen an allen drei Gliedern teil hat. Es wird die Trennung nur eben so vollzogen sein, daß zum Beispiel im Rechtsorganismus oder im Geistes-Organismus nichts zu beschließen sein wird, was aus den Interessen des Wirtschaftskreises entspringt. Im Einheits­staate, in dem die drei Glieder des Lebens ineinander ver­fließen, wird eine wirtschaftliche Gruppe ihre Interessen zum Gesetz, zum öffentlichen Recht machen können. In dem dreigliedrigen Organismus wird dies nicht geschehen können, weil wirtschaftliche Interessen nur im Wirtschafts­kreislauf sich ausleben können und keine Möglichkeit be­steht, sie in das Recht hinüberfließen zu lassen.

Der Zusammenschluß der drei Glieder durch eine Ge­samtkörperschaft, die aus den Delegierten der drei Zentralverwaltungen und Zentralvertretungen sich ergibt, wird die denkbar größte Gewähr dafür bieten, daß nicht das eine Gebiet durch das andere vergewaltigt werde. Denn diese Zentralverwaltungen und Zentralvertretungen werden zu rechnen haben mit dem, was sich in ihren Gebieten auf Grund sachlicher Maßnahmen ergibt. Sie werden nicht in die Lage kommen, zum Beispiel das Rechts- oder das Geistes­leben von dem Wirtschaftsleben unberechtigt beeinflussen zu lassen, denn sie setzten sich dadurch in Widerspruch mit dem, was sachgemäß in jedem einzelnen Gebiete unabhängig von dem andern sich vollzieht. Ist eine Einflußnahme des einen Gebietes auf das andere nötig, so wird die sachliche Grund­lage dazu nicht im Interessenkreise einer Gruppe, sondern nur in dem des ganzen Gebietes liegen können.

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Niemand sollte den Glauben haben, daß durch irgend­eine soziale Einrichtung das entstehen könne, was er sich vielleicht als einen «Idealzustand» vorstellt. Was erreicht werden kann, ist der lebensfähige gesunde soziale Organis­mus. Was darüber hinausgeht, müssen die Menschen durch anderes finden als durch die soziale Gestaltung. Die Auf­gabe dieser Gestaltung kann nicht darin liegen, das «Glück» zu begründen, sondern die Lebensbedingungen des gesun­den sozialen Organismus zu finden. In einem solchen aber müssen die Menschen das suchen können, was sie zu einem menschenwürdigen Dasein nötig finden. Auch der natürliche gesunde Organismus schafft von sich aus nicht, was die Seele an innerer Kultur entfalten muß; ein kranker natürlicher Organismus verhindert sie daran. Und ein gesunder sozialer Organismus kann nur die Voraussetzungen schaffen für dasjenige, was die Menschen in ihm durch ihre individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse entwickeln wollen.

Wer als Utopie oder Ideologie verketzert, was sich als Richtlinie für eine soziale Gestaltung ergibt, und alles der Entwickelung überlassen will, die durch sich selbst herbei­führt, was sein kann, der gleicht einem Menschen, der un­päßlich wird, weil er in einem Zimmer mit dumpfer Luft sitzt, und der nicht ein Fenster öffnen will, sondern abwartet, bis sich die dumpfe Luft «von selbst» zu einer frischen « entwickelt».

Wer wirklich Demokratie will, der kann an deren wahre Begründung nicht anders denken, als daß er der Selbstver­waltung zuteilt, was diese Begründung durch Verschmel­zung mit dem Rechtsstaat unmöglich macht: das Geistes­leben und den Wirtschaftskreislauf.

INTERNATIONALE WIRTSCHAFT UND DREIGLIEDRIGER SOZIALER ORGANISMUS

#G024-1961-SE220 Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus

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INTERNATIONALE WIRTSCHAFT UND DREIGLIEDRIGER SOZIALER ORGANISMUS

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Eine der bedeutsamsten Tatsachen in der neuesten Ent­wickelungsgeschichte der Menschheit ist der Widerspruch, der sich allmählich herausgebildet hat zwischen den Auf­gaben, die sich die Staaten gegeben haben, und der Ten­denz, die das Wirtschaftsleben angenommen hat. Die Staaten strebten darnach, in den Kreis ihrer Obliegenheiten die Ordnung des Wirtschaftslebens innerhalb ihrer Grenzen aufzunehmen. Die Personen und Personengruppen, welche das Wirtschaftsleben besorgen, suchen in der staatlichen Macht eine Stütze für ihre Betätigung. Ein Staat steht dem andern gegenüber nicht nur als geistiges und politisch-rechtliches Kulturgebiet, sondern auch als Träger der innerhalb dieses Gebietes sich geltend machenden wirtschaftlichen In­teressen.

Die aus dem Marxismus hervorgehende sozialistische Denkungsart möchte diese Bestrebungen der Staaten nicht nur fortsetzen, sondern sogar bis zum Extrem ausbilden. Sie möchte die privatkapitalistische Wirtschaftsform durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel in eine ge­nossenschaftliche überleiten und dabei sich der Rahmen der gegenwärtigen Staaten bedienen. Die in diesen befindlichen Betriebe sollen zusammengefaßt werden zu wirtschaftlichen Organismen, in denen planmäßig gemäß den vorhandenen Bedürfnissen produziert und die Verteilung der Produkte an die im Staate wohnenden Menschen besorgt wird.

Diesem Streben steht gegenüber die Entwickelung, welche das Wirtschaftsleben in der neuesten Zeit genommen hat. Dieses hat die Tendenz, ohne Berücksichtigung der gegebenen

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Staatsgrenzen, sich zur einheitlichen Weltwirtschaft zu entwickeln. Die Menschheit über die ganze Erde hin will eine einzige Wirtschaftsgemeinschaft werden. In dieser stehen die Staaten darinnen so, daß die in ihnen lebenden Menschen nach Interessen zusammengehalten werden, die in weitem Umfange den wirtschaftlichen Beziehungen, die sich entfalten wollen, widersprechen. Das Wirtschaftsleben will hinauswachsen über die Staatsgebilde, die aus geschicht­lichen Bedingungen erstanden sind, die keineswegs den wirt­schaftlichen Interessen immer angepaßt waren.

Die Weltkriegskatastrophe hat das Mißverhältnis der historisch gewordenen Staatsgebilde und der Weltwirt­schaftsinteressen zur Offenbarung gebracht. Ein großer Teil der Kriegsursachen wird darin gesucht werden müssen, daß die Staaten das Wirtschaftsleben zur Verstärkung ihrer Macht ausnützten, oder daß die wirtschaftenden Menschen durch die Staaten die Förderung ihrer wirtschaftlichen In­teressen suchten. Die nationalen Wirtschaften stellten sich störend in die nach Einheit strebende Weltwirtschaft hin­ein. Sie suchten wirtschaftend für sich als Gewinne einzu­heimsen, was nur in dem allgemeinen Wirtschaftsleben zirkulieren sollte.

In den Staaten verbinden sich die geistigen und politisch-rechtlichen Interessen mit den wirtschaftlichen. So, wie sich im Laufe des geschichtlichen Werd ens die Staatsgrenzen ergeben haben, wird innerhalb ihrer die beste Art, das Geistige oder Politisch-Rechtliche zu besorgen, nicht zu­sammenfallen mit der vorteilhaftesten Betätigung auf wirt­schaftlichem Gebiete. Und wenn ernst gemacht wird mit den berechtigten Forderungen der neueren Menschheit nach Freiheit im geistigen Leben, nach Demokratisierung des

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Staatslebens und Sozialisierung des Wirtschaftswesens, dann kann gar nicht daran gedacht werden, daß die Verwaltungen des Geistigen und der Rechtsverhältnisse auch maßgebend sein sollen für die Ordnung des Wirtschaftslebens. Denn es müßten die internationalen geistigen und Rechtsbezie­hungen sklavisch den Wirtschaftsverhältnissen sich anpassen, die in ihrer Art etwas Zwingendes für ihre Gestaltung haben.

Der marxistische Sozialismus kommt theoretisch über das gekennzeichnete Bedenken allerdings leicht hinweg. Er gibt sich der Meinung hin, daß die geistigen Errungenschaften und die rechtlichen Maßnahmen ideologische Ergebnisse der wirtschaftlichen Tatsachen sind. Er glaubt daher, daß er sich zunächst um die Gestaltung des Geistigen und des Recht­lichen nicht zu sorgen hat. Er will abgeschlossene Großwirt­schaften schaffen und ist der Ansicht, innerhalb dieser wer­den geistige und rechtliche Lebensverhältnisse entstehen, deren internationale Beziehungen «von selbst» sich einstellen werden, wenn die Großwirtschaften miteinander in Ver­kehr treten werden. Dieser Sozialismus hat eine Wahrheit durchschaut; aber diese Wahrheit ist eine einseitige. Er hat erkannt, daß in den bisherigen Staaten Produktionszweige geleitet und Waren verwaltet werden und daß diese Leitung und dieseVerwaltung vereinigt ist mit einer Regierung über Menschen, die der Freiheit des Geisteslebens und der voll­kommenen Gestaltung des Rechtslebens nicht entspricht. Er zieht aus dieser Erkenntnis die Folgerung, daß in der Zu­kunft von dem sozialen Organismus nur mehr Waren ver­waltet und Produktionszweige geleitet werden sollen. Weil er meint, daß daraus das Geistige und das Politisch-Recht­liche sich «von selbst» ergibt, so übersieht er, daß in dem

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Maße, in dem aufgehört wird, mit der Ordnung der Pro­duktionszweige zugleich die in diesen betätigten Menschen zu regieren, diese Regierung durch etwas anderes ersetzt werden muß.

Die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus trägt dem Rechnung, was der marxistische Sozialismus über­sieht. Sie macht Ernst damit, das Wirtschaftsleben nur von den Gesichtspunkten aus zu verwalten, die sich aus ihm selbst ergeben. Aber durch sie wird auch erkannt, daß die geistigen Bedürfnisse und die rechtlichen Forderungen der Menschen in besonderen Verwaltungen geordnet werden müssen. Da­durch aber werden auch die internationalen geistigen Be­ziehungen und die Rechtsverhältnisse unabhängig von dem Weltwirtschaftsleben, das seine eigenen Wege gehen muß.

Dadurch werden Konflikte, die sich auf einem Lebens-gebiete ergeben, ausgeglichen von einem andern aus. Zwei Staaten oder Staatenbündnisse, die in einem wirtschaftlichen Konflikte sind, ziehen ihre geistigen und rechtlichen Inter­essen in den Konflikt mit hinein, wenn sie Einheitsstaaten in dem Sinne sind, daß in ihren Verwaltungen geistige, recht­liche und wirtschaftliche Regelungen verbunden sind. Bei sozialen Organismen, die für jedes dieser drei Lebensgebiete eine eigene Verwaltung haben, wird zum Beispiele auf widerstreitende geistige Interessen die wirtschaftliche Inter­essenbeziehung ausgleichend wirken können.

In dem südöstlichen Winkel Europas, von dem die Welt­kriegskatastrophe ihren Ausgang genommen hat, konnte man beobachten, wie die Vermengung der drei Lebensge­biete durch die Einheitsstaaten wirkte. Der geistige Gegen­satz zwischen Slawentum und Germanentum lag dem Geschehen im allgemeinen zugrunde. Zu ihm kam ein politisches

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Element des öffentlichen Rechts. In der Türkei traten die demokratisch denkenden Jungtürken an die Stelle der alten reaktionären Regierung. Als Folge dieser politischen Umgestaltung trat die Annexion Bosniens und der Herze­gowina durch Österreich ein, das nicht zusehen wollte, wie durch die türkische Demokratie die Bewohner dieser Länder in deren Parlamentarismus einbezogen wurden, obgleich sie trotz ihrer seit dem Berliner Kongreß schon bestehenden Okkupation rechtlich zur Türkei gehörten. Als drittes er­gab sich ein wirtschaftliches Streben Österreichs. Dieses be­absichtigte, eine Bahnlinie von Serajewo nach Mitrowitza auszubauen und auf diese Weise eine in seinem Interesse liegende Handelsverbindung mit dem Ägäischen Meere zu begründen. Aus diesen drei Momenten ergaben sich wichtige Teilglieder der Kriegsursachen. Würden Bahnlinien nur aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten heraus von Wirtschafts­verwaltungen gebaut, so könnten sie nicht in die Konffikts­kräfte aufgenommen werden, die zwischen Staaten aus an­deren Untergründen vorhanden sind.

Deutlich ist auch an den Verhandlungen über das Bagdadproblem zu ersehen, wie da fortwährend national-geistige und politisch-rechtliche Interessen sich gegenüber den wirtschaftlichen Gesichtspunkten geltend machten. Die wirt­schaftlichen Vorteile einer solchen Bahn würden ganz vom Gesichtspunkte der Weltwirtschaft ins Auge gefaßt werden können, wenn an den Verhandlungen nur Wirtschaftsver­waltungen beteiligt wären, die nicht in ihren Entschlüssen durch ihren Zusammenhang mit andern, staatlichen Inter­essen bestimmt werden könnten.

Man kann selbstverständlich einwenden, daß auch in älteren Zeiten Konflikte zwischen den Staaten durch solche

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Vermengung der wirtschaftlichen Interessen mit den geistigen und den politisch-rechtlichen entstanden sind. Aber dieser Einwand sollte nicht gegen die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus gemacht werden. Denn diese Idee wird aus dem Gegenwartsbewußtsein der Menschheit heraus ge­formt, dem Katastrophen, die in der geschichtlichen Art entstehen, unerträglich sind, während sie von den Menschen früherer Zeitepochen anders empfunden worden sind. Men­schen, die nicht wie die gegenwärtigen die Freiheit des Geisteslebens, die Demokratisierung der politischen Ver­hältnisse und die Sozialisierung des Wirtschaftens anstreb­ten, konnten nicht einen sozialen Organismus in Aussicht nehmen, der allein ernst mit diesem Streben macht. Für die Art, wie sie sich den sozialen Organismus als ihnen angemessen instinktiv dachten, waren die entsprechenden internationalen Konflikte auch etwas, das sie wie eine Na­turnotwendigkeit hinnehmen mußten.

Die Erweiterung der nationalen Wirtschaften zur ein­heitlichen Weltwirtschaft kann nicht verwirklicht werden, wenn nicht in den einzelnen sozialen Organismen das Wirt­schaftsleben von dem geistigen und dem politisch-rechtlichen abgegliedert wird. Es gibt solche Menschen, die der Idee der Dreigliederung im allgemeinen sympathisch gegenüber­stehen, weil sie deren Berechtigung aus den Lebensnotwen­digkeiten der Gegenwart und Zukunft einsehen, die ihr aber doch nicht ernstlich nähertreten wollen, weil sie der Mei­nung sind, ein einzelner Staat könne mit ihrer Verwirk­lichung nicht den Anfang machen. Denn die anderen Staa­ten, die den Einheitscharakter beibehalten, würden durch ihre wirtschaftlichen Maßnahmen dem dreigegliederten so­zialen Organismus das Leben unmöglich machen. Ein solcher

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Einwand ist berechtigt gegen die Gestaltung eines Staates im Sinne des marxistischen Sozialismus. Die Idee der Drei­gliederung des sozialen Organismus kann er nicht treffen. Eine in den Rahmen einer gegenwärtigen Staatsverwaltung gezwängte Groß-Wirtschaftsgenossenschaft könnte ökono­misch vorteilhafte Beziehungen zu dem privatkapitalistisch-wirtschaftlichen Auslande nicht ausgestalten. Wirtschaftliche Betriebe, zentralistisch verwaltet, sind in ihrer freien Ent­faltung, die in den Auslandsbeziehungen herrschen muß, gehemmt. Die freie Initiative und die Schnelligkeit, die für die Entschlüsse innerhalb solcher Beziehungen notwendig sind, lassen sich nur erreichen, wenn Inlandsbetrieb und Auslandsmarkt sowie Auslandsbetrieb und Inlandsmarkt in unmittelbarem durch die beteiligten Personen allein ver­mittelten Verkehr stehen. Wer dies betont gegenüber den Groß-Wirtschaftsgenossenschaften, die zentralistisch ver­waltet werden sollen, wird immer recht behalten, auch wenn die Befürworter solcher Genossenschaften den Betriebsleitern eine weitgehende Selbständigkeit zugestehen wollen. In der Praxis würde zum Beispiel die Beschaffung von Rohstoffen, an der allerlei Verwaltungsinstanzen beteiligt sein müßten, einen Geschäftsgang ergeben, der mit der Art, wie Aus­landsforderungen befriedigt werden müssen, nicht in Ein­klang gebracht werden könnte. Ähnliche Schwierigkeiten müßten sich ergeben, wenn Bestellungen im Auslande ge­macht werden sollten.

Die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus will das Wirtschaftsleben auf seinen eigenen Boden stellen. Der marxistische Sozialismus macht den Staat zur wirt­schaftlichen Organisation. Die Dreigliederung löst das Wirt­schaftsleben vom Staate los. Sie kann daher nicht andere

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Maßnahmen ins Auge fassen als solche, die sich aus den Anforderungen des Wirtschaftslebens selbst ergeben. Dieses aber wird ertötet, wenn es auf eine zentralistisch orientierte Verwaltung aufgebaut wird; es muß hinsichtlich der An­ordnung und Verrichtung der für die Produktion zu leisten­den Arbeit auf der freien Initiative wirtschaftender Men­schen beruhen. Verbunden mit dieser freien Initiative kann sein, daß die Früchte des Produzierens innerhalb des so­zialen Organismus in der Art durch sozial gerechtfertigte Preise dem Konsumentenbedürfnisse entsprechen, wie dies in meinem vorigen Artikel gekennzeichnet ist. Die Wah­rung der freien Initiative der Betriebsleitungen ist nur mög­lich, wenn diese nicht in eine Zentralverwaltung eingespannt sind, sondern wenn sie sich in Assoziationen zusammen­schließen. Dadurch wird erreicht, daß nicht eine zentra­listische Verwaltung maßgebend ist für dasjenige, was in den Betrieben geschieht; sondern es bleibt den Betrieben ihre volle Freiheit, und die soziale Orientierung des Wirt­schaftskörpers geht aus den Abmachungen der selbständigen Betriebe hervor. Eine Betriebsleitung, die für den Export arbeitet, wird in dem Verkehr mit dem Auslande aus völlig freier Initiative handeln können; und sie wird im Inlande Beziehungen zu solchen Assoziationen unterhalten, die ihr in der Belieferung von Rohstoffen und ähnlichem am för­derlichsten bei der Befriedigung der Auslandsforderungen sind. Ein gleiches wird auch für einen Importbetrieb mög­lich sein. Notwendig allerdings wird sein, daß durch den Verkehr mit dem Auslande nicht Produkte in das Inland gebracht werden, deren Herstellungskosten oder Kaufpreis die Lebenshaltung der Bevölkerung beeinträchtigen. Ebensowenig werden durch die Beziehungen zum Auslande im

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Inlande notwendige Produktionszweige zerstört werden dürfen dadurch, daß in ihnen wegen der Billigkeit der ent­sprechenden Auslandsware nicht gearbeitet werden kann. Aber alles dieses kann durch die Wirkung der Assoziations-einrichtungen verhindert werden. Würde ein Betrieb oder eine Handelsgesellschaft in der angedeuteten Art zum Scha­den des Inlandes arbeiten wollen, so würden sie durch die entsprechenden Assoziationen, von denen sie sich nicht aus­schließen können, ohne ihre Arbeit unmöglich zu machen, verhindert werden können. Allerdings kann die Notwen­digkeit eintreten, daß man für gewisse Produkte, die man aus diesen oder jenen Gründen vom Auslande beziehen muß, zu hohe Preise zahlen muß. Für diese Notwendigkeit wird in Betracht kommen, was Seite 126 meiner «Kern­punkte der sozialen Frage» gesagt ist: «Auch wird eine Verwaltung, die es nur zu tun hat mit dem Kreislauf des Wirt­schaftslebens, zu Ausgleichen führen können, die etwa aus diesem Kreislauf heraus als notwendig sich ergeben. Sollte zum Beispiel ein Betrieb nicht in der Lage sein, seinen Dar­leihern ihre Arbeitsersparnisse zu verzinsen, so wird, wenn er doch als einem Bedürfnis entsprechend anerkannt wird, aus anderen Wirtschaftsbetrieben nach freier Übereinkunft mit allen an den letzteren beteiligten Personen das Fehlende zugeschossen werden können.» So wird auch der zu hohe Preis einer Auslandsware durch Zuschüsse ausgeglichen wer­den können, die aus Betrieben herrühren, welche gegenüber den Bedürfnissen der in ihnen Arbeitenden zu hohe Erträg­nisse liefern können.

Neben allen solchen Vorkehrungen, durch die ein drei­gliedriger sozialer Organismus die Schäden ausgleichen kann, die ihm aus dem wirtschaftlichen Verkehr mit Staaten erwachsen,

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die von der Dreigliederung nichts wissen wollen, können allerdings noch andere notwendig sein, die dem Prinzip des Schutzzolles entsprechen. Es ist leicht einzu­sehen, daß durch die Verselbständigung des Wirtschafts­lebens solchen Maßnahmen andere Grundlagen geschaffen werden, als sie vorhanden sind, wenn die Behandlung der Ein- und Ausfuhr abhängig ist von Mehrheitsbeschlüssen, die zustande kommen durch die Rechts- und geistigen In­teressen sich zusammenschließender Menschengruppen. Denn die Tätigkeit der aus sachlichen Gründen zusammenwirken­den Wirtschaftsorganisationen wird (im Sinne der Seite 216 geltend gemachten Prinzipien) abzielen auf die sozial wir­kende Preisbildung und wird nicht hervorgehen können aus den Gewinninteressen einzelner wirtschaftlicher Gruppen. Daher wird ein Wirtschaftsleben sozial dreigliedriger Orga­nismen dem Ideal des Freihandels zustreben. Dieser wird bei einem einheitlichen Weltwirtschaftsgebiet die günstigste Grundlage dafür bieten, daß nicht in einzelnen Erdgebieten zu teuer oder zu billig produziert wird. Ein von nicht sozial dreigliedrigen Organismen umgebener Gesellschaftskörper mit selbständiger Wirtschaftsverwaltung wird allerdings genötigt sein, gewisse Produktionszweige vor einer wirt­schaftlich unmöglichen Verbilligung dadurch zu schützen, daß er Zölle erhebt, deren Verwaltung damit betrauteAsso­ziationen innerhalb des Kreises des Wirtschaftslebens zu­gunsten gemeinnütziger Werke besorgen.

Es wird sich, wenn Nachteile auf die angedeutete Art abgehalten werden, für den einzelstehenden dreigliedrigen Organismus ergeben, daß er gegenüber dem Auslande als ein umfassendes Wirtschaftsgebilde wirkt, dessen innere Struktur im Verkehr mit ungegliederten Staaten für ihn

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selbst keine Bedeutung hat, weil dieser Verkehr auf der freien Initiative der wirtschaftenden Menschen und nicht auf der inneren Struktur beruht. Dagegen wird der Fort­gang zur Dreigliederung bei einem einzelnen Staate im hohen Grade vorbildlich auf die anderen wirken. Und dies nicht nur in moralischer Art durch die sozial gestaltete Lebenshaltung der Bewohner des dreigliedrigen Organis­mus, sondern auch durch das Auftreten von rein wirtschaft­lichen Interessen. Solche werden sich dadurch ergeben, daß für die ungegliederten Staaten der dreigliedrige in deutlich bemerkbarer Art sich weniger profitabel erweist, wenn sie bei ihrer Einheitsstruktur bleiben, als wenn sie auch zur Dreigliederung übergehen würden. So kann gerade ein ein­zelner dreigliedriger sozialer Organismus den Anstoß dazu geben, die Hindernisse der Ausgestaltung einer einheitlichen Weltwirtschaft aus dem Wege zu schaffen. Daß er selbst keine Schäden erleidet als einzelner Wirtschaftskörper, das kann er durch seine auf freien Assoziationen beruhende Struktur bewirken; daß die Störung, die er für die Ein­heitsstaaten bewirkt, nicht zur Boykottierung seiner Wirt­schaft führt, kann er dadurch erzielen, daß er durch ratio­nelle Gliederung seiner Arbeit gewisse Produkte erzeugt, die das Ausland nur bei ihm am besten beziehen kann; daß er eine Oase bildet innerhalb des Gebietes, in dem er mit den nationalen Wirtschaften zusammenliegt, wird für diese ein Beweis werden, daß der Übergang zur Dreigliederung ein wirtschaftlicher und ein allgemeiner Menschheitsfort­schritt ist.

Es wird heute - und mit Recht - von vielen Seiten be­tont, daß die Rettung der Weltwirtschaft durch die Erhöhung der unter der Weltkatastrophe im höchsten Maße zurückgegangenen

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Arbeitsbereitschaft kommen müsse. Wer die Menschennatur kennt, kann wissen, daß diese Arbeitsbereit­schaft nur kommen kann, wenn die Überzeugung sich ver­breitet, daß die Arbeit in der Zukunft unter sozialen Ver­hältnissen stehen wird, die den Menschen ein menschliches Dasein sichern. Daß die alten sozialen Verhältnisse dieses noch weiter bringen können, dieser Glaube ist in weitesten Kreisen erschüttert. Und innerhalb gewisser Gebiete hat ihn die Weltkriegskatastrophe völlig vernichtet. Die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus wird eine überzeugende Kraft in der angedeuteten Richtung haben. Sie wird durch die Ausblicke, die sie in die soziale Men­schenzukunft eröffnet, Antriebe zur Arbeit erzeugen. Sie so zu verbreiten, daß sie verständnisvoll aufgenommen wer­den kann und die entgegenstehenden Bedenken zum Schwei­gen bringt, erscheint als ein wesentlicher Teil der Aufgabe, die in der Gegenwart für das soziale Problem erstanden ist.

GEISTESLEBEN, RECHTSORDNUNG, WIRTSCHAFT

#G024-1961-SE231 Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus

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GEISTESLEBEN, RECHTSORDNUNG, WIRTSCHAFT

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Innerhalb der gegenwärtigen sozialen Bewegung wird viel von sozialen Einrichtungen, wenig aber von sozialen und unsozialen Menschen geredet. Die «soziale Frage» findet kaum Beachtung, die sich erhebt, wenn man beachtet, daß gesellschaftliche Einrichtungen ihr soziales oder antisoziales Gepräge durch die Menschen erhalten, die in denselben wir­ken. Sozialistische Denker glauben, in der Verwaltung der Produktionsmittel durch die Gemeinschaften das sehen zu müssen, was die Forderungen weiter Volkskreise befrie­digen werde. Sie setzen dabei ohne weiteres voraus, daß

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bei einer solchen Verwaltung das menschliche Zusammen­wirken sich im sozialen Sinne gestalten müsse. Sie haben gesehen, daß die privatkapitalistische Wirtschaftsordnung zu unsozialen Zuständen geführt hat. Sie meinen, wenn diese Wirtschaftsordnung verschwunden sein werde, müssen auch deren antisoziale Wirkungen aufgehört haben.

Sicherlich sind mit der modernen privatkapitalistischen Wirtschaftsform soziale Schäden im weitesten Umfange ent­standen. Aber ist denn irgendwie erwiesen, daß diese eine notwendige Folge jener Wirtschaftsordnung sind? Nun kann aber eine Wirtschaftsordnung durch ihr eigenes Wesen nichts anderes bewirken, als daß sie Menschen in Lebenslagen bringt, durch die sie für sich und andere Güter in zweckmäßiger oder unzweckmäßiger Art erzeugen. Die moderne Wirtschaftsordnung hat die Produktionsmittel in die Macht einzelner Personen oder Personengruppen gebracht. Die technischen Errungenschaften ließen sich durch die wirt­schaftliche Machtkonzentration am zweckmäßigsten aus­nützen. Solange diese Macht sich nur auf dem Gebiete der Gütererzeugung betätigt, hat sie eine wesentlich andere soziale Wirkung, als wenn sie auf das rechtliche oder gei­stige Lebensgebiet übergreift. Und dieses Übergreifen hat im Laufe der letzten Jahrhunderte zu den sozialen Schäden geführt, auf deren Beseitigung die moderne soziale Bewe­gung dringt. Derjenige, der im Besitze der Produktionsmit­tel ist, erhält über andere eine wirtschaftliche Übermacht. Diese führte dazu, daß er in den Verwaltungen und Volks­vertretungen die ihm helfenden Kräfte fand, durch die er sich auch andere gesellschaftliche Vormachtstellungen gegenüber den von ihm wirtschaftlich Abhängigen verschaffen konnte, die auch in einer demokratischen Staatsordnung einen prak­tisch

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rechtlichen Charakter tragen. Ebenso führte die wirt­schaftliche Übermacht zu einer Monopolisierung des gei­stigen Lebens bei den wirtschaftlich Mächtigen.

Es scheint nun das Einfachste zu sein, die wirtschaftliche Übermacht bei den Einzelnen zu beseitigen, um auch deren rechtliche und geistige Übermacht aus der Welt zu schaffen. Man kommt zu dieser «Einfachheit» des sozialen Denkens, wenn man nicht bedenkt, daß in der von dem modernen Leben gebotenen Verbindung von technischer und wirt­schaftlicher Betätigung die Notwendigkeit liegt, im Betriebe des Wirtschaftslebens Initiative und individuelle Tüchtig­keit der Einzelnen zur möglichst fruchtbaren Entfaltung kommen zu lassen. Die Art, wie unter den modernen Be­dingungen produziert werden muß, macht dies notwendig. Der Einzelne kann seine Fähigkeiten im Wirtschaften nicht zur Geltung bringen, wenn er in seiner Arbeit und in seinen Entschließungen an den Willen der Gemeinschaft gebunden ist. Möge der Gedanke noch so stark blenden: der Einzelne soll nicht für sich, sondern für die Gesamtheit produzieren; seine Richtigkeit innerhalb gewisser Grenzen sollte nicht verhindern, auch die andere Wahrheit anzuerkennen, daß aus der Gesamtheit heraus keine wirtschaftlichen Entschlie­ßungen stammen können, die sich in der wünschenswerten Art durch die Einzelnen verwirklichen lassen. Deshalb kann ein wirklichkeitsgemäßes Denken die Heilung sozialer Schä­den nicht in einer neuen Gestaltung des Wirtschaftslebens suchen, durch die ein gesellschaftliches Produzieren an die Stelle der Verwaltung der Produktionsmittel durch Einzelne trete. Es muß vielmehr angestrebt werden, die Schäden, die bei dem Walten der Initiative und Tüchtigkeit der Einzelnen entstehen können, ohne Beeinträchtigung dieses Waltens zu

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verhindern. Das ist nur möglich, wenn die rechtlichen Be­ziehungen der wirtschaftenden Menschen nicht von den In­teressen des Wirtschaftslebens beeinflußt werden, und wenn auch dasjenige, was für die Menschen durch das Geistesleben geleistet werden soll, von diesen Interessen unabhängig ist.

Man kann nicht sagen, die Verwalter des Wirtschafts­lebens können sich doch, trotz ihrer Inanspruchnahme durch die wirtschaftlichen Interessen, ein gesundes Urteil über die Rechtsverhältnisse wahren; und da sie aus ihren Erfahrun­gen und ihrer Arbeit die Bedürfnisse des Wirtschaftslebens gut kennen, so werden sie auch das Rechtsleben, das sich innerhalb des Wirtschaftskreislaufes entfalten soll, am besten ordnen können. Wer eine solche Meinung hat, der beachtet nicht, daß der Mensch aus einem gewissen Lebensgebiete heraus nur die Interessen dieses Gebietes entwickeln kann. Aus dem Wirtschaftsleben heraus kann er nur wirt­schaftliche Interessen entwickeln. Soll er aus ihm auch die Rechtsinteressen entfalten, so werden diese nur verkappte Wirtschaftsinteressen sein. Wahrhaftige Rechtsinteressen können nur auf einem Boden entstehen, auf dem das Rechts-leben seine abgesonderte Pflege findet. Auf einem solchen Boden wird man nur nach dem fragen, was rechtens ist. Und wenn man im Sinne solcher Fragen Rechtsregelungen vorgenommen hat, dann wird, was so entstanden ist, auf das Wirtschaftsleben einwirken. Man wird dem Einzelnen keine Beschränkung aufzuerlegen brauchen in bezug auf die Aneignung der wirtschaftlichen Macht; denn diese Macht wird nur dazu führen, daß er seinen Fähigkeiten gemäß wirtschaftliche Leistungen vollbringt, nicht aber dazu, daß er durch sie rechtliche Vorteile erwirbt.

Naheliegend ist der Einwand, daß die Rechtsverhältnisse

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sich doch in dem Verkehr der wirtschaftenden Menschen offenbaren, daß sie also gar nicht als etwas Besonderes außer dem Wirtschaftsleben erfaßt werden können. Das ist zwar theoretisch richtig, macht aber nicht notwendig, daß auch praktisch die wirtschaftlichen Interessen für die Regelung der Rechtsverhältnisse bestimmend seien. Der geistige Leiter eines Betriebes wird zu den Handarbeitern dieses Betriebes in einem Rechtsverhältnis stehen müssen; das bedingt nicht, daß er als Betriebsleiter bei Festsetzung dieses Verhältnisses mitzusprechen hat. Er wird aber mitsprechen und dabei seine wirtschaftliche Übermacht in die Waagschale werfen, wenn das wirtschaftliche Zusammenarbeiten und die Rege­lung der Rechtsverhältnisse auf einem gemeinsamen Ver­waltungsboden sich vollziehen. Nur wenn das Recht auf einem Boden geordnet wird, auf dem eine Rücksicht auf das Wirtschaften gar nicht in Frage kommen kann und das Wirtschaften gegenüber dieser Rechtsordnung keine Macht erringen kann, werden beide so ineinander arbeiten können, daß das Rechtsgefühl der Menschen nicht verletzt und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht aus einem Segen für die Gesamtheit zu einem Unsegen wird.

Wenn die wirtschaftlich Mächtigen in der Lage sind, ihre Macht zur Erringung von Rechtsvorteilen zu gebrauchen, so wird sich bei den wirtschaftlich Schwachen der Wider­stand gegen diese Vorteile entwickeln. Und dieser muß, wenn er genügend stark geworden ist, zu revolutionären Erschütterungen führen. Ist durch das Vorhandensein eines besonderen Rechtsbodens das Entstehen solcher Rechtsvor­teile unmöglich, so werden solche Erschütterungen nicht ein-treten können. Was von diesem Rechtsboden aus fortwäh­rend geschieht, wird ein geordnetes Ausleben der Kräfte

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sein, die sich ohne denselben in den Menschen ansammeln und zu gewaltsamen Entladungen führen. Wer Revolutio­nen vermeiden will, der muß an die Errichtung einer ge­sellschaftlichen Ordnung denken, durch die im Flusse der Zeit geschieht, was sich sonst in einem weitgeschichtlichen Augenblick vollziehen will.

Man wird sagen, in der modernen sozialen Bewegung handelt es sich ja zunächst nicht um Rechtsverhältnisse, son­dern um Überwindung der wirtschaftlichen Ungleichheiten. Auf diesen Einwand wird erwidert werden müssen, daß Forderungen, die in den Menschen leben, keineswegs immer durch die Gedanken richtig ausgedrückt werden, die das Bewußtsein von ihnen bildet. Diese bewußten Gedanken sind Ergebnisse desjenigen, was unmittelbar erfahren wird. Was aber die Forderungen hervorbringt, das sind tiefere Zusammenhänge des Lebens, die nicht unmittelbar erfahren werden. Wer an die Herbeiführung von Zuständen des Lebens denkt, durch die diese Forderungen befriedigt wer­den sollen, der muß in die tieferen Zusammenhänge zu dringen versuchen. Die Betrachtung des in der neueren Zeit bestandenen Verhältnisses zwischen Recht und Wirtschaft ergibt, daß das rechtliche Leben der Menschen in Abhängig­keit gekommen ist von dem wirtschaftlichen. Würde man nun darnach streben, die wirtschaftlichen Ungleichheiten, die im Gefolge dieser Abhängigkeit aufgetreten sind, in äußerer Art aus der Welt zu schaffen durch eine einseitige Änderung der Wirtschaftsformen, so müßten sich in kurzer Zeit ähnliche Ungleichheiten ergeben, wenn man den neuen Wirtschaftsformen wieder die Möglichkeit ließe, ihre Rechtsformen aus sich selbst zu schaffen. Nur wenn man Zustände des gesellschaftlichen Lebens herbeiführt, durch die neben

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den wirtschaftlichen Anforderungen und Interessen die rechtlichen selbständig erlebt und befriedigt werden können, wird man wirklich an das herankommen, was durch die soziale Bewegung sich an die Oberfläche des modernen Men­schendaseins drängt.

Und in der gleichen Art wird man an die Beziehungen des geistigen Lebens zum rechtlichen und wirtschaftlichen herantreten müssen. Unter den Verhältnissen, die sich im Laufe der letzten Jahrhunderte ergeben haben, konnte die Pflege des Geisteslebens aus sich selbst ihre Wirkung auf das politisch-rechtliche und das wirtschaftliche Leben nur in einem sehr beschränkten Maße ausüben. Aus den Inter­essen der staatlichen Rechtsmacht gestaltete sich einer der wichtigsten Zweige der Geistespflege: das Erziehungs- und Unterrichtswesen. Wie es den staatlichen Bedürfnissen ent­sprach, so wurde der Mensch erzogen und unterrichtet. Und zu der staatlichen trat die wirtschaftliche Macht hinzu. Wer innerhalb der bestehenden Unterrichts- und Erziehungseinrichtungen zur Entwickelung seiner Fähigkeiten als Mensch kommen sollte, der mußte dies auf Grund der wirtschaft­lichen Macht, die sich aus seinem Lebenskreise heraus er­gab. So wurden diejenigen geistigen Kräfte, die innerhalb des politisch-rechtlichen und des wirtschaftlichen Lebens sich betätigen konnten, in ihrem Gepräge völlig ein Abdruck dieses Lebens. Ein freies Geistesleben mußte darauf ver­zichten, seine Leistungen in das staatlich-politische Leben hineinzutragen. Und in das wirtschaftliche konnte es dies nur in dem Grade, als sich dieses noch von dem staatlich-politischen unabhängig erhalten hatte. Innerhalb der Wirt­schaft offenbart sich ja die Notwendigkeit, den Fähigen zur Geltung kommen zu lassen, weil deren Fruchtbarkeit abstirbt,

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wenn der Unfähige, aber durch die Verhältnisse wirt­schaftlich Mächtige, allein waltet. Würde aber die Tendenz vieler sozialistisch Denkenden verwirklicht, das Wirtschafts­leben nach dem Muster des politisch-rechtlichen zu verwal­ten, dann würde die Pflege des freien Geisteslebens völlig aus der Öffentlichkeit hinausgedrängt. Ein Geistesleben aber, das sich abseits von der politisch-rechtlichen und wirt­schaftlichen Wirklichkeit entwickeln muß, wird lebensfremd. Es muß seinen Inhalt aus Quellen holen, die nicht lebensvoll mit dieser Wirklichkeit zusammenhängen; und es gestaltet diesen Inhalt dann im Laufe der Zeit so aus, daß er wie eine lebendig gewordene Abstraktion neben dieser Wirk­lichkeit einherläuft, ohne in ihr eine sachgemäße Wirkung zu erzeugen. Auf diese Art entstehen zwei Strömungen im Geistesleben. Die eine holt ihren Inhalt aus den von Tag zu Tag auftretenden Anforderungen des politisch-recht­lichen und des Wirtschaftslebens und sucht Einrichtungen zu treffen, die sich aus diesen Anforderungen ergeben. Sie dringt dabei nicht zu den Bedürfnissen der geistigen Wesen­heit des Menschen vor. Sie trifft äußere Einrichtungen und spannt die Menschen in diese hinein, ohne dabei auf das hinzuhorchen, was die innere Menschennatur dazu sagt. Die andere geht von inneren Erkenntnisbedürfnissen und Wil­lensidealen aus. Sie gestaltet diese so, wie das Innere des Menschen sie verlangt. Aber diese Erkenntnisse entstammen der Betrachtung. Sie sind nicht der Niederschlag dessen, was in der Praxis des Lebens erfahren wird. Und diese Ideale sind aus den Vorstellungen darüber entstanden, was wahr, gut und schön ist. Aber sie haben nicht die Kraft, die Lebenspraxis zu gestalten. Man denke, was abseits von seiner Lebenspraxis der Kaufmann, der Industrielle, der Staatsbeamte

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als seine Erkenntnisvorstellungen, seine religiösen Ideale, seine künstlerischen Interessen innerlich erlebt, und was an Ideen in derjenigen Tätigkeit enthalten ist, die in seiner Buchführung zum Ausdruck kommt, oder für die ihn Erziehung und Unterricht als sein Amt bedingend vorbe­reiten. Zwischen den beiden geistigen Strömungen liegt ein Abgrund. Er wurde in der neueren Zeit noch besonders breit gemacht dadurch, daß diejenige Vorstellungsart für des Menschen Verhältnis zur Wirklichkeit maßgebend wurde, die in der Naturwissenschaft ihre volle Berechtigung hat. Diese Vorstellungsart geht auf die Erkenntnis von Ge­setzen an Dingen und Vorgängen aus, die außerhalb des Bereiches der menschlichen Betätigung und Wirksamkeit liegen. Dadurch ist der Mensch gewissermaßen nur der Zuschauer dessen, was er in den Naturgesetzen erfaßt. Und wenn er in der Technik die Naturgesetze zur Wirksamkeit bringt, so wird er nur der Veranlasser davon, daß geschieht, was durch Kräfte bewirkt wird die außerhalb seines eigenen Wesens liegen. Die Erkenntnis, durch die er sich auf diese Art betätigt, trägt einen von seiner eigenen Natur verschie­denen Charakter. Sie offenbart ihm nichts darüber, was in den Weltvorgängen liegt, in die sein eigenes Wesen ver­woben ist. Zu einer solchen Erkenntnis bedarf er einer Anschauung, die außermenschliche und menschliche Welt in eines zusammenfaßt.

Nach einer solchen Erkenntnis strebt die moderne an­throposophisch orientierte Geisteswissenschaft. Sie anerkennt vollkommen die Bedeutung der naturwissenschaftlichen Vor­stellungsart für den Fortschritt der neueren Menschheit. Aber sie ist sich klar darüber, daß was durch naturwissen­schaftliche Erkenntnis vermittelt wird, nur den äußeren

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Menschen erfaßt. Sie anerkennt auch die Wesenheit der reli­giösen Weltanschauungen; aber sie wird sich bewußt, daß diese Weltanschauungen im Laufe der neuzeitlichen Ent­wickelung zu einer inneren Angelegenheit der Seele gewor­den sind, neben denen das äußere Leben abläuft, ohne von ihnen durch Menschen gestaltet zu werden.

Um zu ihren Erkenntnissen zu kommen, stellt die Geistes­wissenschaft allerdings Anforderungen an den Menschen, für die er zunächst aus dem Grunde wenig Neigung ent­wickelt, weil er sich in den letzten Jahrhunderten daran gewöhnt hat, in Lebenspraxis und inneres Seelenleben als in zwei voneinander getrennte Gebiete sich einzuleben. Aus dieser Gewöhnung heraus hat die Anschauung sich ergeben, die gegenwärtig jedem Bestreben Unglauben entgegen­bringt, das aus geistigen Einsichten heraus über die soziale Gestaltung des Lebens ein Urteil gewinnen will. Man hat im Auge, was man als soziale Ideen erlebt hat, die aus einem lebensfremden Geistesleben heraus geboren sind. Man erinnert, wenn von solchen Ideen die Rede ist, an St. Simon, an Fourier und andere. Die Meinung, die man über solche Ideen gewonnen hat, ist deshalb berechtigt, weil diese aus einer Erkenntnisrichtung heraus entwickelt sind, die nicht an der Wirklichkeit erlebt, sondern die erdacht ist. Und aus dieser Meinung ist die verallgemeinerte entstanden, daß keine Geistesart geeignet ist, Ideen hervorzubringen, die mit der Lebenspraxis so verwandt sind, daß sie verwirk­licht werden können. Aus dieser verallgemeinerten Meinung sind die Ansichten entstanden, die in ihrer heutigen Gestalt mehr oder weniger auf Marx zurückweisen. Ihre Träger halten nichts von Ideen, die in der Herbeiführung sozial befriedigender Zustände tätig sein sollen, sondern sie behaupten,

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die Entwickelung der wirtschaftlichen Tatsachen müsse zu einem Ziele führen, aus dem sich solche Zustände ergeben. Man will gewissermaßen die Lebenspraxis ihren Gang gehen lassen, weil Ideen innerhalb dieser Praxis ohn­mächtig seien. Man hat das Vertrauen in die Kraft des Geisteslebens verloren. Man glaubt nicht, daß es eine solche Art des Geisteslebens geben könne, welche die Lebensfremd­heit des in den letzten Jahrhunderten zur allgemeinen Gel­tung gekommenen überwindet. Eine solche Art des Geistes­lebens wird nun aber mit der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft angestrebt. Diese sucht aus solchen Quel­len zu schöpfen, die zugleich die Quellen der Wirklichkeit sind. Die Kräfte, die in der innersten Menschennatur walten, sind dieselben, die in der außermenschlichen Wirklichkeit tätig sind. Bis zu diesen Kräften steigt die naturwissenschaft­liche Vorstellungsart nicht hinab, indem sie verstandesmäßig ihre an den äußeren Tatsachen gewonnenen Erfahrungen zu Naturgesetzen verarbeitet. Aber auch die auf mehr reli­giöser Grundlage ruhenden Weltanschauungen verbinden sich gegenwärtig nicht mehr mit diesen Kräften. Sie nehmen die Überlieferungen auf, ohne bis zu ihrem Ursprung im Menschen-Innern zu dringen. Geisteswissenschaft aber sucht bis zu diesem Ursprunge zu kommen. Sie entwickelt Er­kenntnismethoden, durch welche in die Schächte des Men­schen-Innern hinuntergestiegen wird, in denen das außer­menschliche Geschehen sich in das Menschen-Innere fortsetzt. Die Erkenntnisse dieser Geisteswissenschaft stellen im In­nern des Menschen erlebte Wirklichkeit dar. Sie drängen sich zu Ideen zusammen, die nicht erdacht sind, sondern die gesättigt sind von den Kräften der Wirklichkeit. Solche Ideen sind daher auch imstande, die Kraft der Wirklichkeit

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dann in sich zu tragen, wenn sie richtunggebend sein wollen für das soziale Wollen. Es ist begreiflich, daß man zunächst einer solchen Geisteswissenschaft gegenüber Mißtrauen hat. Man wird dieses Mißtrauen aber nur so lange haben, als man nicht erkennt, wie sie wesenhaft verschieden ist von der Wissenschaftsströmung, die sich in der neueren Zeit her­ausgebildet hat, und von der heute allgemein angenommen wird, daß sie die allein mögliche sei. Ringt man sich zur Erkenntnis dieser Verschiedenheit durch, dann wird man nicht mehr glauben, daß man soziale Ideen meiden muß, wenn man die sozialen Tatsachen praktisch gestalten will; sondern man wird gewahr werden, daß man praktische soziale Ideen nur aus einem Geistesleben heraus gewinnen kann, das seinen Weg zu den Wurzeln des Menschenwesens nehmen kann. Man wird durchschauen, wie in der neueren Zeit die sozialen Tatsachen deshalb in Unordnung gekom­men sind, weil die Menschen mit Gedanken sie zu meistern suchten, denen die Tatsachen fortwährend sich entwanden. Eine Geistesanschauung, die in die Wesenheit des Men­schen eindringt, findet da Antriebe zum Handeln, die un­mittelbar im sittlichen Sinne auch gut sind. Denn der Trieb zum Bösen entsteht im Menschen nur dadurch, daß er in seinen Gedanken und Empfindungen die Tiefen seines Wesens zum Schweigen bringt. Werden daher die sozialen Ideen durch die hier gemeinte Geistesanschauung gewonnen, so müssen sie ihrer eigenen Natur nach auch sittliche Ideen sein. Und da sie nicht nur erdachte, sondern erlebte Ideen sind, so haben sie die Kraft, den Willen zu ergreifen und im Handeln weiterzuleben. Soziales Denken und sittliches Den­ken fließen für wahre Geistesanschauung in eins zusammen. Das Leben, das solche Geistesanschauung entfaltet, ist innerlich

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verwandt jeder Lebensbetätigung, die der Mensch auch für die gleichgültigste praktische Handlung entwickelt. Da­her werden durch sie soziale Gesinnung, sittlicher Antrieb und lebenspraktisches Verhalten so ineinander verwoben, daß sie eine Einheit bilden.

Solch eine Geistesart aber kann nur gedeihen, wenn sie in völliger Unabhängigkeit von Mächten sich entfaltet, die nicht unmittelbar aus dem Geistesleben selbst stammen. Rechtlich-staatliche Regelungen der Geistespflege benehmen den Kräften des Geisteslebens ihre Stärke. Dagegen wird ein Geistesleben, das ganz den in ihm liegenden Interessen und Impulsen überlassen wird, ausgreifen bis in alles, was der Mensch im sozialen Leben vollbringt. - Man wendet immer wieder ein, daß die Menschen erst völlig anders wer­den müßten, wenn man das soziale Verhalten auf die sitt­lichen Impulse bauen wollte. Dabei bedenkt man nicht, welche sittlichen Antriebe im Menschen verkümmern, wenn man sie nicht aus einem freien Geistesleben heraus erstehen läßt, sondern ihnen eine solche Richtung gibt, durch die ein politisch-rechtliches Gesellschaftsgebilde seine vorgezeich­neten Arbeitsgebiete besorgen lassen kann. Ein im freien Geistesleben erzogener und unterrichteter Mensch wird allerdings aus seiner Initiative in seinem Beruf manches hineintragen, das einen von seinem Wesen bestimmten Charakter trägt. Er wird sich in das gesellschaftliche Ge­triebe nicht hineinfügen lassen wie das Rad in eine Maschine. Aber letzten Endes wird das Hineingetragene die Harmo­nie des Ganzen nicht verkümmern, sondern erhöhen. Was an den einzelnen Stellen des gesellschaftlichen Lebens ge­schieht, wird der Ausfluß dessen sein, was in den Geistern der Menschen lebt, die an diesen Stellen wirken.

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Menschen, die in einer von der hier gekennzeichneten Geistesart gebildeten seelischen Atmosphäre atmen, werden die von der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit geforderten Einrichtungen in einem Sinne beleben, der die sozialen For­derungen befriedigt. Mit Menschen, deren innere Natur sich nicht eins weiß mit ihrer äußeren Betätigung, werden Einrichtungen, die man glaubt, zur Befriedigung dieser Forderungen zu treffen, nicht sozial wirken können. Denn nicht Einrichtungen können durch sich sozial wirken, son­dern sozial gestimmte Menschen in einer Rechtsorganisation, die aus den lebendigen Rechtsinteressen heraus geschaffen ist, und in einem Wirtschaftsleben, das in der zweckmäßig­sten Art die den Bedürfnissen dienenden Güter erzeugt.

Ist das Geistesleben ein freies, das sich nur aus dem her­aus entwickelt, was es in sich selbst als Antriebe hat, dann wird das Rechtsleben um so besser gedeihen, je einsichts­voller die Menschen für die Regelung ihrer Rechtsverhält­nisse aus der lebendigen Geisteserfahrung heraus erzogen werden; und dann wird auch das Wirtschaftsleben in dem Grade fruchtbar sein, als die Menschen für dasselbe durch die Geistespflege tüchtig gemacht werden.

Alles im sozialen Zusammenleben der Menschen an Ein­richtungen Zustandegekommene ist ursprünglich das Ergebnis des von den Absichten getragenen Willens. Das Geistesleben hat in diesem Zustandekommen gewirkt. Nur wenn das Leben kompliziert sich gestaltet, wie es unter dem Einfluß der technischen Produktionsweise der neuen Zeit geschehen ist, verliert der gedankengetragene Wille seinen Zusammenhang mit den sozialen Tatsachen. Diese gehen dann ihren eigenen mechanischen Gang. Und der Mensch sucht sich im abgezogenen Geisteswinkel den Inhalt, durch

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den er seine seelischen Bedürfnisse befriedigt. Aus dem Gang der Tatsachen, über die der geistgetragene Wille der Einzelmenschen keine Gewalt gehabt hat, sind die Zu­stände geworden, nach deren Änderung die moderne soziale Bewegung strebt. Weil der im Rechtsleben und im Wirt­schaftskreislauf arbeitende Geist nicht mehr der ist, in dem das Geistesleben des einzelnen Menschen seinen Weg findet, sieht sich dieser in einer Gesellschaftsordnung, die ihn als Einzelmenschen rechtlich und wirtschaftlich nicht zur Ent­faltung kommen läßt. - Menschen, welche dieses nicht durch­schauen, werden einer Anschauung, die den sozialen Orga­nismus in die selbständig verwalteten Gebiete des Geistes­lebens, des Rechtsstaates, des Wirtschaftskreislaufes gliedern will, immer wieder den Einwand entgegenhalten: dadurch werde die notwendige Einheit des gesellschaftlichen Lebens zerstört. Ihnen muß erwidert werden: diese Einheit zer­stört sich selbst, indem sie sich aus sich selbst erhalten will. Denn das Rechtsleben, das aus der wirtschaftlichen Macht heraus sich entwickelt, untergräbt in seinem Wirken diese wirtschaftliche Macht, weil es von den wirtschaftlich Schwa­chen als ein Fremdkörper im sozialen Organismus empfun­den wird. Und der Geist, der in einem Rechts- und Wirt­schaftsleben herrschend wird, wenn diese seine Wirksamkeit selbst regeln wollen, verdammt den lebendigen Geist, der aus dem Seelenquell der einzelnen Menschen sich empor-arbeitet, zur Ohnmacht gegenüber dem praktischen Leben. Wird aber in einem selbständigen Gebiet die Rechtsordnung aus dem Rechtsbewußtsein geschaffen und wird in einem freien Geistesleben der geistgetragene Einzelwille entwik­kelt, dann wirken Rechtsordnung und Geisteskraft mit der wirtschaftlichen Betätigung zur Einheit zusammen. Sie werden

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dies können, wenn sie in selbständigen Lebensgebieten ihrem eigenen Wesen nach sich ausbilden. Gerade in ihrer Absonderung werden sie den Zug zur Einheit annehmen, während sie aus einer künstlichen Einheit heraus gebildet, sich entfremden.

Mancher sozialistisch Denkende wird eine Anschauung, wie die gekennzeichnete, mit den Worten abtun: Wirtschaft­lich erstrebenswerte Zustände kann doch nicht die Gliede­rung des sozialen Organismus, sondern allein eine ent­sprechende wirtschaftliche Organisation herbeiführen. Wer so spricht, der beachtet nicht, daß in der wirtschaftlichen Organisation willenbegabte Menschen betätigt sind. Sagt man ihm dieses, so wird er lächeln, denn er findet es selbst­verständlich. Und doch denkt er an eine gesellschaftliche Struktur, in der diese «Selbstverständlichkeit» keine Be­rücksichtigung finden soll. In der wirtschaftlichen Organi­sation soll ein Gemeinschaftswille walten. Der aber muß das Ergebnis der Einzelwillen der in der Organisation ver­einigten Menschen sein. Diese Einzelwillen werden nicht zur Geltung kommen, wenn der Gemeinschaftswille restlos aus dem wirtschaftlichen Organisationsgedanken kommt. Sie werden aber unverkümmert sich entfalten, wenn neben dem Wirtschaftsgebiet ein Rechtsgebiet steht, auf dem keine wirtschaftlichen Gesichtspunkte, sondern allein die des Rechtsbewußtseins maßgebend sind; und wenn neben bei­den ein freies Geistesleben Raum findet, das nur geistigen Antrieben folgt. Dann wird nicht eine mechanisch wirkende Gesellschaftsordnung entstehen, der auf die Dauer die menschlichen Einzelwillen doch nicht angepaßt sein könn­ten; sondern es werden die Menschen die Möglichkeit fin­den, die Gesellschaftszustände fortwährend von ihren sozial

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gerichteten Einzelwillen aus zu gestalten. In dem freien Geistesleben wird der Einzelwille seine soziale Richtung erhalten; in dem selbständigen Rechtsstaate wird aus den sozial gesinnten Einzelwillen der gerecht wirkende Gemein­schaftswille entstehen. Und die sozial orientierten Einzel-willen, organisiert durch die selbständige Rechtsordnung, werden sich gütererzeugend und güterverteilend im Wirt­schaftskreislauf den sozialen Forderungen gemäß betätigen.

Den meisten Menschen fehlt heute noch der Glaube an die Möglichkeit, von den Einzelwillen aus eine sozial befrie­digende Gesellschaftsordnung zu begründen. Dieser Glaube fehlt, weil er aus einem Geistesleben nicht erstehen kann, das aus dem Wirtschafts- und dem Staatsleben heraus in Abhängigkeit sich entwickelt hat. Eine Geistesart, die nicht in Freiheit aus dem Leben des Geistes selbst sich entwickelt, sondern aus einer äußeren Organisation heraus, die weiß eben nicht, was der Geist wirklich vermag. Sie sucht nach einer Leitung für ihn, weil sie nicht gewahr wird, wie er sich selbst leitet, wenn er nur die Kraft aus seinen eigenen Quellen schöpfen kann. Sie möchte die Leitung des Geistes als eine Nebenwirkung der wirtschaftlichen und rechtlichen Organisation entstehen lassen und beachtet nicht, daß Wirt­schaft und Rechtsordnung nur leben können, wenn der sich selbst folgende Geist sie durchdringt.

Zur sozialen Neugestaltung gehört nicht nur ein guter Wille, sondern auch der Mut, welcher dem Unglauben an die Kraft des Geistes sich entgegenstellt. Diesen Mut kann eine wahre Geistesauffassung beleben; denn sie fühlt sich fähig, Ideen hervorzubringen, die nicht allein einer inneren Seelenorientierung dienen, sondern die, indem sie entstehen, schon die Keime der praktischen Lebensgestaltung in sich

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tragen. Der Wille, in geistige Tiefen hinunterzusteigen, kann ein so starker werden, daß er in allem mitwirkt, was der Mensch vollbringt.

Wenn man von einer im Leben wurzelnden Geistesauf­fassung spricht, so wird man von vielen auch so verstanden, als ob man die Summe der Impulse meinte, zu denen ein Mensch gedrängt wird, der sich in ihm gewohnten Lebensbahnen bewegt, und der jedes Eingreifen von geistiger Seite her in das Gewohnte für eine idealistische Verschrobenheit hält. Die hier gemeinte Geistesanschauung soll aber weder mit der abstrakten Geistigkeit verwechselt werden, die ihre Interessen nicht in die Lebenspraxis hinein zu erstrecken ver­mag, noch mit derjenigen Geistesrichtung, die eigentlich den Geist sofort verleugnet, wenn sie an die praktische Lebens-orientierung denkt. Diese beiden Vorstellungsarten werden nicht gewahr, wie der Geist in den Tatsachen des äußeren Lebens waltet; und sie fühlen daher kein rechtes Bedürfnis, in dieses Walten bewußt einzudringen. Nur ein solches Be­dürfnis aber ist auch der Erzeuger derjenigen Erkenntnis, welche die «soziale Frage» in dem richtigen Lichte sieht. Die gegenwärtigen Lösungsversuche dieser «Frage» erschei­nen deshalb so ungenügend, weil vielen noch die Möglich­keit fehlt, zu sehen, was der wahre Inhalt der Frage ist. Man sieht die Frage auf wirtschaftlichen Gebieten entstehen; man sucht nach wirtschaftlichen Einrichtungen, die Ant­worten sein sollen. Man glaubt, in wirtschaftlichen Um­gestaltungen die Lösung zu finden. Man erkennt nicht, daß diese Umgestaltungen nur durch Kräfte kommen können, die in dem Aufleben des selbständigen Geistes- und Rechts­lebens aus der Menschennatur heraus befreit werden.

DREIGLIEDERUNG UND SOZIALES VERTRAUEN (KAPITAL UND KREDIT)

#G024-1961-SE249 Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus

#TI

DREIGLIEDERUNG UND SOZIALES VERTRAUEN (KAPITAL UND KREDIT)

#TX

Es ist von verschiedenen Seiten, zum Beispiel von dem eng­lischen Finanztheoretiker Hartley Withers (in seinen Aus­führungen über «Money and Credit»), gesagt worden, daß alle Fragen, die das Geld betreffen, so verwickelt seien, daß ihre scharfe Fassung in bestimmte Gedanken außerordent­lichen Schwierigkeiten begegne.

Man wird diese Ansicht für viele Fragen des sozialen Lebens geltend machen können. Aber man sollte auch be­denken, welche Folgen in diesem sozialen Leben es haben muß, wenn die Menschen ihr Zusammenwirken nach An­trieben gestalten, die in unbestimmbaren, oder wenigstens schwer bestimmbaren Gedanken wurzeln. Solche Gedanken sind doch nicht bloß Mängel der Einsicht, die die Erkenntnis verwirren; sie sind wirksame Kräfte im Leben. Ihre Un­bestimmtheit lebt in den Einrichtungen weiter, die unter ihrem Einflusse entstehen. Und aus solchen Einrichtungen entspringen lebensunmögliche soziale Verhältnisse.

Auf der Anerkennung, daß die zivilisierte Menschheit der Gegenwart in Verhältnissen lebe, die aus solchen verwirren­den Gedankentrieben hervorgehen, wird eine gesunde Ein­sicht in die «soziale Frage» beruhen müssen. Diese Frage erfließt ja zunächst aus der Wahrnehmung der Nöte, in denen sich Menschen befinden. Und man ist wenig geneigt, in wirklich sachgemäßer Art den Weg zu verfolgen, der von der Wahrnehmung dieser Nöte zu den Menschengedanken führt, in denen sie ihre Quelle haben. Man sieht nur allzu­leicht in dem Verfolgen dieses Weges - vom Brot zu den Gedanken - einen unpraktischen Idealismus. Man erkennt

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nicht das Unpraktische einer Lebenspraxis, an die man ge­wöhnt ist, die aber doch auf lebensunmöglichen Gedanken ruht.

Solche lebensunmöglichen Gedanken sind im gegenwär­tigen sozialen Dasein enthalten. Bemüht man sich, der «sozialen Frage» wirklich auf den Grund zu kommen, so wird man sehen müssen, wie heute die Forderungen des allermateriellsten Lebens praktisch nur angefaßt werden können, wenn man zu den Gedanken fortschreitet, aus denen das Zusammenarbeiten der Menschen einer sozialen Gemeinschaft hervorgeht.

Es fehlt allerdings nicht an Hinweisen auf solche Gedan­ken aus einzelnen Lebenskreisen heraus. Menschen, deren Betätigung an das Wesen des Grundes und Bodens gebunden ist, sprechen davon, daß unter dem Einflusse neuerer volks­wirtschaftlicher Antriebe Grund und Boden in bezug auf Kauf und Verkauf wie «Waren » behandelt werden. Und sie sind der Ansicht, daß dies dem sozialen Leben schädlich ist. Solche Ansichten führen nicht zu praktischen Folgen, weil die Menschen anderer Lebenskreise aus ihren Inter­essen heraus die Berechtigung nicht zugeben.

Die wirklichkeitsgemäße Beobachtung einer solchen Tat­sache sollte zur Richtkraft für Lösungsversuche der «so­zialen Frage» führen. Denn eine solche Beobachtung kann zeigen, wie derjenige, der berechtigten Forderungen des sozialen Lebens widerstrebt, weil er aus seinem Lebenskreise heraus Gedanken zustimmt, die mit ihnen nicht im Einklang stehen, letzten Endes auch die Grundlagen untergräbt, auf denen seine Interessen aufgebaut sind.

An der sozialen Bedeutung des Grundes und Bodens kann eine solche Beobachtung gemacht werden. Man wird sie

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machen, wenn man ins Auge faßt, wie die bloß kapita­listische Orientierung der Volkswirtschaft auf die Wertbemessung des Grundes und Bodens wirkt. Diese Orientie­rung hat im Gefolge, daß das Kapital sich Gesetze für seine Vermehrung schafft, die in gewissen Lebensgebieten nicht mehr den Bedingungen entsprechen, welche in gesunder Weise eine Vermehrung des Kapitals bewirken dürfen.

An Grund und Boden wird das besonders anschaulich. Daß ein bestimmtes Landgebiet in einer gewissen Art frucht­bar gemacht wird, kann aus Lebensbedingungen heraus durchaus notwendig sein. Solche Bedingungen können mora­lischer Art sein. Sie können in geistigen Kulturverhältnissen liegen. Es kann aber durchaus sein, daß die Erfüllung dieser Bedingungen ein geringeres Kapitalerträgnis liefert als die Anlage des Kapitales in einer anderen Unternehmung. Die bloß kapitalistische Orientierung führt dann dazu, von der Ausnutzung des Bodens nach den gekennzeichneten nicht rein kapitalistischen Gesichtspunkten abzulassen und ihn so zu verwerten, daß sein kapitalistisches Erträgnis dem an­derer Unternehmungen sich gleichstelle. Die Hervorbrin­gung von Werten, die der wahren Zivilisation sehr not­wendig sein können, wird dadurch unterdrückt. Und es entsteht unter den Einflüssen dieser Orientierung eine Wertbemessung der Lebensgüter, die nicht mehr wurzeln kann in dem naturgemäßen Zusammenhang, den die Menschen mit der Natur und dem geistigen Leben haben müssen, wenn diese sie leiblich und seelisch befriedigen sollen.

Es ist nun naheliegend, zu der Schlußfolgerung zu kom­men: die kapitalistische Orientierung der Volkswirtschaft hat die gekennzeichneten Wirkungen; also muß sie beseitigt werden. Es fragt sich nur, ob man mit dieser Beseitigung

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nicht auch die Grundlagen beseitigen wurde, ohne welche die neuere Zivilisation nicht bestehen kann.

Wer die kapitalistische Orientierung als einen bloßen Ein­dringling in das moderne Wirtschaftsleben ansieht, der wird deren Beseitigung verlangen. Wer aber erkennt, wie das Leben der neueren Zeit durch Arbeitsteilung und Gliede­rung im sozialen Organismus wirkt, der kann nur daran denken, die als Nebenerscheinung auftretenden Schatten-seiten dieser Orientierung aus dem Gemeinschaftsleben aus­zuschließen. Denn für ihn ist es klar, daß die kapitalistische Arbeitsmethode eine Folge dieses Lebens ist, und daß die Schattenseiten nur so lange auftreten können, als in der Bewertung der Lebensgüter ausschließlich der Kapitalge­sichtspunkt geltend gemacht wird.

Es kommt darauf an, nach einer solchen Struktur des sozialen Organismus hinzuarbeiten, durch die die Beurtei­lung nach der Kapitalvermehrung nicht die alleinige Macht ist, unter welche die Produktionszweige des Wirtschafts­lebens gezwungen werden, sondern in der die Kapitalver­mehrung der Ausdruck für eine Gestaltung dieses Lebens ist, die allen Anforderungen der menschlichen Leiblichkeit und Geistigkeit Rechnung trägt.

Wer seine Denkungsart nach dem einseitigen Standpunkt der Kapitalvermehrung oder, was eine notwendige Folge davon ist, nach dem der Lohnerhöhung einrichtet, dem ent­zieht sich der unmittelbare Anblick der Wirkungen einzel­ner Produktionsgebiete auf den Wirtschaftskreislauf. Han­delt es sich darum, Kapital zu vermehren oder Lohn zu erhöhen, so wird es gleichgültig, in welchem Produktions­zweig dieses geschieht. Das naturgemäße Verhältnis der Menschen zu dem, was sie hervorbringen, wird untergraben.

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Die Höhe einer Kapital- oder Lohnsumme bleibt dieselbe, wenn man statt einer Warengattung für sie eine andere erwirbt, oder wenn man für eine Art der Arbeit eine andere eintauscht. Dadurch aber werden die Lebensgüter erst «Waren», daß man sie durch die Kapitalmenge, in der ihre besondere Eigenart keinen Ausdruck findet, er­werben oder verkaufen kann.

Diesen Warencharakter vertragen aber nur diejenigen Lebensgüter, die vom Menschen unmittelbar verbraucht 1 werden. Denn für deren Wert hat der Mensch einen un­mittelbaren Maßstab in seinen leiblichen oder seelischen Bedürfnissen. Ein solcher Maßstab liegt weder für Grund und Boden noch für die künstlich hergestellten Produk­tionsmittel vor. Deren Wertbemessung ist von vielen Fak­toren abhängig, die nur anschaulich werden, wenn man die ganze soziale Struktur des Menschenlebens ins Auge faßt.

Ist es aus Kulturinteressen heraus notwendig, daß ein Landgebiet in einer Art behandelt wird, die das Erträgnis vom Kapitalgesichtspunkt aus geringer erscheinen läßt als dasjenige einer andern Unternehmung, so wird dieses ge­ringere Erträgnis auf die Dauer der Gemeinschaft nicht Schaden bringen können. Denn das geringere Erträgnis des einen Produktionszweiges muß nach einiger Zeit auf andere so wirken, daß auch bei ihnen die Preise ihrer Erzeugnisse sich erniedrigen. Nur dem Augenblicksstandpunkt, der nicht anders kann als den Egoismuswert in Rechnung zu stellen, entzieht sich dieser Zusammenhang. Bei dem bloßen Marktverhältnis, auf dem Angebot und Nachfrage alleinherr­schend sind, ist nur das Rechnen mit diesem Egoismuswert möglich. Dieses Verhältnis ist nur zu überwinden, wenn Assoziationen den Austausch und die Produktion der Ver­brauchsgüter

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aus der vernunftgemäßen Beobachtung der menschlichen Bedürfnisse heraus regeln. Solche Assoziationen können an Stelle des bloßen Angebotes und der bloßen Nachfrage die Ergebnisse vertragsmäßiger Unterhandlungen zwischen Konsumenten- und Produzentenkreisen einer­seits und zwischen den einzelnen Produzentenkreisen andererseits setzen. Wenn bei diesen Beobachtungen aus­geschlossen wird, daß sich der eine Mensch zum Richter darüber aufwerfen kann, was ein anderer an Bedürfnissen haben darf, so wird in den Grundlagen solcher Unterhand­lungen nur das mitsprechen, was aus den Naturbedingungen der Wirtschaft und aus der menschlichen Arbeitsmöglichkeit heraus zustande kommen kann.

Die Beherrschung des Wirtschaftskreislaufes durch die bloße kapitalistische und lohnmäßige Orientierung macht das Leben auf solchen Grundlagen unmöglich. Durch diese Orientierung wird im Leben ausgetauscht, wofür es einen gemeinsamen Vergleichungsmaßstab in Wahrheit nicht gibt: Grund und Boden, Produktionsmittel und Güter, die dem unmittelbaren Verbrauch dienen. Ja, es werden auch die menschliche Arbeitskraft und die Verwertung der geistigen Fähigkeiten der Menschen in Abhängigkeit gebracht von einem abstrakten, dem Kapital- und Lohnmaßstab, der im menschlichen Urteil und in der menschlichen Betätigung die naturgemäßen Beziehungen des Menschen zu seinem Be­tätigungsfelde verschwinden läßt.

Nun ist in dem neueren Leben der Menschheit die Be­ziehung des Menschen zu den Lebensgütern nicht herzu­stellen, die unter der Herrschaft der Naturalwirtschaft oder auch nur beim Walten noch einfacherer Geldwirtschaft mög­lich war. Die Arbeits- und soziale Gliederung, die in der

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Neuzeit notwendig geworden sind, trennen den Menschen von dem Abnehmer seines Arbeitsproduktes. Dieser Tat­sache und ihrer Folge, dem Erlahmen des unmittelbaren Interesses an der Leistung, kann ohne Untergrabung des modernen Zivilisationslebens nicht entgegengearbeitet wer­den. Das Schwinden einer gewissen Art von Interessen an der Arbeit muß als ein Ergebnis dieses Lebens hingenom­men werden. Aber diese Interessen dürfen nicht hinschwinden, ohne daß andere an ihre Stelle treten. Denn der Mensch muß mit Anteil innerhalb der sozialen Gemeinschaft ar­beiten und in ihr leben.

Aus dem selbständig werdenden Geistes- und Rechtsleben werden die notwendigen neuen Interessen entspringen. Aus diesen beiden verselbständigten Gebieten werden die An­triebe kommen, welche anderen Gesichtspunkten entspre­chen als denen der bloßen Kapitalvermehrung und Lohnhöhe.

Ein freies Geistesleben schafft aus den Tiefen der Men­schenwesenheit heraus Interessen, welche die Arbeit und alles Wirken in die Gemeinschaft ziel- und inhaltbegabt hineinstellen. Ein solches Geistesleben erzeugt in den Men­schen das Bewußtsein, daß sie mit ihren Fähigkeiten sinn­voll im Dasein stehen, weil es diese Fähigkeiten um ihrer selbst willen pflegt. Die Gemeinschaft wird unter dem Ein­fluß so gepflegter Fähigkeiten stets den Charakter anneh­men, in dem sich diese auch auswirken können. Das Rechts- und Wirtschaftsleben werden ein Gepräge annehmen, welches den entwickelten Fähigkeiten entsprechend ist. In einem Geistesleben, das seine Regelung aus dem politisch-rechtlichen Gebiet empfängt, oder das die menschlichen Fähigkeiten nach ihrer Wirtschaftswirkung pflegt und in

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Anspruch nimmt, werden Eigen-Interessen nicht in voller Entwickelung aufkommen können.

Ein solches Geistesleben wird in Kunst- und Erkenntnis­bestrebungen «idealistische» Lebenszugaben oder im Welt­anschauungsinhalt Befriedigungen für Sorgen liefern, die über das soziale Leben hinaus in ein mehr oder weniger lebensfremdes Gebiet münden. Lebendurchdringend kann nur ein freies Geistesleben sein, weil ihm die Möglichkeit gegeben ist, das Leben von sich aus zu gestalten. In meinen «Kernpunkten der sozialen Frage» habe ich versucht, zu zeigen, wie in einem solchen Geistesleben die Antriebe ge­funden werden können, welche die Kapitalverwaltung auf einen gesunden sozialen Boden stellen. Fruchtbar können eine Kapitalmasse nur Personen oder Personengruppen ver­walten, welchen die menschlichen Fähigkeiten eigen sind, diejenigen Leistungen im Dienste der menschlichen Gemein­schaft zu verrichten, für die das Kapital in Anspruch ge­nommen wird. Nötig ist daher, daß eine solche Person oder Personengruppe eine Kapitalmasse nur so lange ver­walten, als sie aus ihren Fähigkeiten heraus selbst es tun können. Ist dieses nicht mehr der Fall, dann soll die Kapi­talmasse auf andere Personen übergehen, welche diese Fähig­keiten besitzen. Da nun bei freiem Geistesleben die Ent­wickelung der menschlichen Fähigkeiten restlos aus den Antrieben dieses Geisteslebens selbst entspringt, so wird die Kapitalverwaltung im Wirtschaftskreislauf zu einem Ergebnis der geistigen Kraftentfaltung. Und diese trägt in das Wirtschaftsleben alle diejenigen Interessen hinein, die auf ihrem Boden ersprießen.

Ein unabhängiges Rechtsleben schafft Beziehungen zwi­schen den in einer sozialen Gemeinschaft lebenden Menschen,

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welche diese füreinander arbeiten lassen, auch wenn der einzelne an der Herstellung seines Arbeitsproduktes das un­mittelbare Interesse nicht haben kann. Dieses Interesse ver­wandelt sich in dasjenige, das er haben kann am Arbeiten für die Menschengemeinschaft, an deren Rechtsaufbau er beteiligt ist. Der Anteil an dem selbständigen Rechtsleben kann neben den wirtschaftlichen und geistigen Interessen die Grundlage für einen besonderen Lebens- und Leistungs­antrieb werden. Der Mensch kann den Blick von seinen Leistungen hinweg auf die Menschengemeinschaft richten, in der er lebendig drinnensteht mit allem, was aus seinem Menschentum fließt bloß dadurch, daß er ein mündig ge­wordener Mensch ist, ohne Rücksicht auf seine geistigen Fähigkeiten, und ohne daß der wirtschaftliche Platz, an dem er sich befindet, eine Wirkung auf dieses Verhältnis hat. Das Arbeitsprodukt wird seinen Wert auf die Arbeit ausstrahlen, wenn man die Art überschaut, wie es der Men­schengemeinschaft dient, in die man so unmittelbar mensch­lich verwoben ist. Nichts anderes aber kann diese Verwoben­heit so bewirken wie ein selbständiges Rechtsleben, weil nur dieses ein Gebiet ist, auf dem jeder Mensch jedem Menschen mit dem gleichen ungeteilten Interesse begegnen kann. Jedes andere Gebiet muß, seiner Natur nach, Abtrennungen nach individuellen Fähigkeiten oder nach Arbeitsinhalten be­wirken; dieses überbrückt alle Trennungen.

Für die Kapitalverwaltung wird aus der Selbständigkeit des Geisteslebens heraus bewirkt, daß die Kapitalvermeh­rung nicht ein unmittelbarer Antrieb ist, sondern nur auf­treten kann als naturgemäße Folge anderer Antriebe, die sich aus dem sachgemäßen Zusammenhange der mensch­lichen Fähigkeiten mit den Leistungsgebieten ergeben.

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Nur aus solchen Gesichtspunkten, die nicht innerhalb der kapitalistischen Orientierung liegen, kann der soziale Orga­nismus eine Struktur erhalten, in der menschliche Leistung und Gegenleistung einen befriedigenden Ausgleich finden. Und wie auf dem Gebiete der kapitalistischen Orientierung kann es auf anderen Gebieten ergehen, auf denen das moderne Leben den Menschen von dem naturgemäßen Zu­sammenhang mit den Lebensbedingungen abgebracht hat.

Durch die Verselbständigung des Geistes- und des Rechtslebens werden künstliche Produktionsmittel und wird Grund und Boden sowie auch die menschliche Arbeitskraft des Warencharakters entkleidet. (Die Wege, auf denen dies geschieht, findet man genauer, als es hier geschehen kann, in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage» ge­schildert.) Im selbständigen Rechts- und Geistesgebiet wer­den die Antriebe wurzeln, aus denen heraus Produktions­mittel, aus denen Grund und Boden ohne Kaufverhältnis übertragen werden und aus denen heraus menschliche Ar­beit geleistet wird.

Damit aber werden die dem gegenwärtigen Zivilisations­leben angemessenen Formen des sozialen Zusammenwirkens von menschlichen Kräften geschaffen. Und nur aus solchen Formen kann die bestmögliche Befriedigung der mensch­lichen Bedürfnisse erstehen. In einer bloß kapitalistisch und lohnmäßig organisierten Gemeinschaft kann der einzelne seine Fähigkeiten und Kräfte nur in dem Maße geltend machen, als sie im Kapitalerwerb ihren Gegenwert finden. Vertrauen, durch das einer seine Kräfte für die Leistungen des andern zur Verfügung stellt, wird sich da nur begrün­den auf die Aussicht, daß dieser andere in Bedingungen lebt, die einer kapitalistischen Denkungsart Vertrauen einflößen

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können. Im sozialen Leben ist Arbeiten im Vertrauen auf die Leistungen anderer Kreditgewährung. Die Kompliziert­heit des modernen Lebens hat immer mehr dazu geführt, daß wie für ältere Kulturen ein Übergang stattfand von der Natural- zur Geldwirtschaft, so für jüngere ein solcher zu einem Arbeiten auf der Grundlage von Kreditgewäh­rung. Wir stehen in einem Zeitalter, in dem das Leben not­wendig macht, daß der eine mit den Mitteln arbeitet, die ihm ein anderer oder eine Gemeinschaft im Vertrauen auf seine Leistungsfähigkeit überantworten. Für das kapita­listische Wirken geht aber der menschlich befriedigende Zusammenhang mit den Lebensbedingungen durch die Kre­ditwirtschaft völlig verloren. Kreditgewährung mit der Aus­sicht auf entsprechend erscheinende Kapitalvermehrung und Arbeiten unter dem Gesichtspunkte, daß das in Anspruch genommene Vertrauen kapitalmäßig gerechtfertigt erscheint, werden die Antriebe des Kreditverkehrs. Das aber liefert Ergebnisse im sozialen Organismus, durch welche die Men­schen unter die Macht lebensfremder Kapitalumlagerungen gebracht werden, die sie in dem Augenblicke als menschen­unwürdig empfinden, in dem sie sich ihrer in vollem Maße bewußt werden.

Wird auf Grund und Boden Kredit gewährt, so kann im gesunden sozialen Leben dies nur von dem Gesichtspunkte aus geschehen, daß einem mit den notwendigen Fähigkeiten ausgestatteten Menschen oder einer Menschengruppe die Möglichkeit gegeben werde, einen Produktionsbetrieb zu entfalten, der aus allen in Betracht kommenden Kulturbe­dingungen heraus gerechtfertigt erscheint. Wird aus der rein kapitalistischen Orientierung heraus Kredit auf Grund und Boden gewährt, so kann es geschehen, daß dieser seiner

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sonst wünschenswerten Bestimmung entzogen werden muß, damit er einen Warenwert erhalte, welcher der Kreditgewährung entspricht.

Ein gesundes Kreditgewähren setzt eine soziale Struktur voraus, durch welche die Lebensgüter eine Bewertung fin­den, die in ihrer Beziehung zur leiblichen und geistigen Bedürfnisbefriedigung der Menschen wurzelt. Ein selbstän­diges Geistes- und Rechtsleben führt die Menschen zu einem lebensvollen Erkennen und Geltendmachen dieser Bezie­hung. Dadurch wird der Wirtschaftskreislauf so gestaltet, daß er die Beurteilung der Produktion in Abhängigkeit bringt von dem, was die Menschen bedürfen, und sie nicht beherrscht sein läßt von Mächten, bei denen die konkreten menschlichen Bedürfnisse in der abstrakten Kapital- und Lohnskala ausgelöscht erscheinen.

Das Wirtschaftsleben im dreigliedrigen sozialen Organis­mus kommt durch das Zusammenwirken der aus den Pro­duktionserfordernissen und Konsumtionsinteressen sich bildenden Assoziationen zustande. Diese werden die Ent­scheidungen haben über die Kreditgewährung und Kredit-entgegennahme. In den Verhandlungen solcher Assozi­ationen werden die Antriebe eine entscheidende Rolle spielen, die aus dem geistigen und dem Rechtsgebiet heraus in das Wirtschaftsleben hineinwirken. Die Notwendigkeit einer bloß kapitalistischen Orientierung ist für diese Asso­ziationen nicht vorhanden. Denn die eine Assoziation wird mit der andern im Wechselverkehr stehen. Dadurch werden die einseitigen Interessen des einen Produktionszweiges durch diejenigen des anderen geregelt.

Die Verantwortung für Kreditgewährung und Kreditentgegennahme wird den Assoziationen zufallen. Dadurch

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wird die Bedeutung der individuellen Fähigkeiten der Einzelpersönlichkeiten nicht beeinträchtigt, sondern erst zur vollen Geltung gebracht. Der einzelne ist seiner Asso­ziation gegenüber verantwortlich für die bestmögliche Lei­stung; und die Assoziation ist anderen Assoziationen gegen­über verantwortlich für die zielgemäße Verwendung der Leistungen. In solcher Teilung der Verantwortlichkeit liegt die Gewähr dafür, daß die Produktionsbetätigung aus ein­ander in ihrer Einseitigkeit korrigierenden Gesichtspunkten vor sich geht. Es wird nicht aus den Erwerbsantrieben der einzelnen in das Gemeinschaftsleben hinein produziert, sondern aus den sachgemäß wirkenden Bedürfnissen der Gemeinschaft heraus. In dem Bedarf, den eine Assoziation feststellt, wird die Veranlassung zur Kreditgewährung für eine andere liegen können.

Wer nur an gewohnten Gedankengängen hängt, der wird sagen: das sind «schöne» Gedanken; aber wie soll man aus dem gegenwärtigen Leben in ein solches hineinkommen, das auf dergleichen Ideen ruht? Es handelt sich darum, einzu­sehen, daß das hier Vorgeschlagene tatsächlich unmittelbar in die Wirklichkeit umgesetzt werden kann. Man hat nur nötig, den Anfang mit den gekennzeichneten Assoziationsbildungen zu machen. Daß dies ohne weiteres möglich ist, sollte eigentlich niemand bezweifeln, der einigen gesunden Sinn für die Wirklichkeiten des Lebens hat. Solche Assozi­ationen, die auf der Grundlage der Dreigliederungsidee ruhen, sind doch wahrlich ebensogut zu bilden wie Kon­sortien, Gesellschaften und so weiter im Sinne der alten Einrichtungen. Es ist aber auch jede Art von Wirtschafts­verkehr der neuen Assoziationen mit den alten Einrich­tungen möglich. Man braucht durchaus nicht daran zu

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denken, daß das Alte zerstört und künstlich durch das Neue ersetzt werden müsse. Das Neue stellt sich neben das Alte hin. Jenes hat sich dann durch seine innere Kraft und Berechtigung zu bewähren; dieses bröckelt aus der sozialen Organisation heraus. Die Dreigliederungsidee ist nicht ein Programm für das Ganze des sozialen Organismus, das fordert, daß das ganze Alte aufhöre und alle Dinge neu «eingerichtet» werden. Diese Idee kann von der Bildung sozialer Einzeleinrichtungen ihren Ausgang nehmen. Die Umbildung eines Ganzen wird dann durch das sich verbrei­tende Leben der einzelnen sozialen Gebilde erfolgen. Weil diese Idee in einer solchen Richtung wirken kann, ist sie keine Utopie, sondern eine der Wirklichkeit angemessene Kraft.

Das Wesentliche ist, daß durch die Dreigliederungsidee sachgemäßes soziales Verständnis an die im sozialen Orga­nismus vereinigten Menschen herangebracht wird. Durch die Antriebe, die aus dem selbständigen Geistes- und Rechts-leben kommen, werden die wirtschaftlichen Gesichtspunkte in sachgemäßer Weise befruchtet. Der einzelne wird in einem gewissen Sinne zu einem Mitarbeiter an den Lei­stungen der Gesamtheit. Durch seinen Anteil an dem freien Geistesleben, durch die auf dem Rechtsboden erzeugten Interessen, durch die Wechselbeziehungen der wirtschaft­lichen Assoziationen wird diese Mitarbeiterschaft vermittelt.

Die Wirksamkeit des sozialen Organismus wird unter dem Einfluß der Dreigliederungsidee gewissermaßen um­gestellt. Gegenwärtig muß der Mensch in der Kapital-vermehrung und in der Lohnhöhe die Kennzeichen sehen, durch die er sich in den sozialen Organismus entsprechend hineingestellt findet. Im dreigliedrigen sozialen Organismus

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werden die individuellen Fähigkeiten der Einzelmenschen im Zusammenklang mit den aus dem Rechtsboden stam­menden menschlichen Beziehungen und der auf der Assozi­ationstätigkeit ruhenden wirtschaftlichen Produktion, der Zirkulation und Konsumtion die bestmögliche Fruchtbar­keit des Gemeinschaftsarbeitens ergeben. Und Kapitalvermehrung beziehungsweise Leistungsausgleich mit entspre­chender Gegenleistung werden wie die Konsequenz der sozialen Betätigungen und Einrichtungen zutage treten.

Von dem Reformieren im Gebiete, in dem nur die sozialen Wirkungen spielen, hinweg will die Dreigliederungsidee die umwandelnde und aufbauende Tätigkeit auf das Gebiet der Ursachen lenken. Bei Annahme oder Ablehnung dieser Idee kommt in Frage, ob man den Willen aufbringt, bis zu diesem Gebiet der Ursachen sich hindurchzuarbeiten. Und dieser Wille muß von der Betrachtung der äußeren Einrichtungen hinweg zu den die Einrichtungen bewirkenden Menschen führen. Das Leben der neueren Zeit hat die Arbeitsteilung auf vielen Gebieten gebracht. Diese ist ein Erfordernis der äußeren Einrichtungen. Was durch die geteilten Arbeits­gebiete bewirkt wird, muß in den lebensvollen mensch­lichen Wechselverhältnissen seinen Ausgleich finden. Die Arbeitsteilung trennt die Menschen; die Kräfte, die ihnen kommen werden aus den selbständig gewordenen drei Glie­dern des sozialen Organismus, werden sie wieder zusam­menschließen. Unser soziales Leben hat sein Gepräge davon, daß die Trennung der Menschen den Höhepunkt ihrer Ent­wickelung erreicht hat. Das muß durch Lebenserfahrung erkannt werden. Wer es erkennt, für den wird es zur not­wendigen Zeitforderung, an das Betreten der Wege zu denken, die zum Zusammenschluß führen.

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Solche konkrete Erscheinungen des Wirtschaftslebens wie der intensiver werdende Kreditverkehr beleuchten diese notwendige Zeitforderung. Je stärker die Hinneigung zur kapitalistischen Orientierung, je entwickelter die Geldwirt­schaft, je tätiger der Unternehmungsgeist geworden sind, desto mehr entfaltet sich der Kreditverkehr. Der aber müßte für ein gesundes Denken das Bedürfnis hervor­rufen, ihn mit einem wirklichen Verständnis der realen Gütererzeugung und des menschlichen Bedarfes nach be­stimmten Gütern zu durchdringen. Er wird letzten Endes nur gesund wirken können, wenn der Kreditgewährer sich verantwortlich fühlt für dasjenige, was durch seine Kredit-gewährung geschieht; und wenn der Kreditnehmer durch die wirtschaftlichen Zusammenhänge - durch die Assozi­ationen -, in denen er drinnensteht, dem Kreditgewährer Unterlagen für diese Verantwortlichkeit liefert. Es kann sich für eine gesunde Volkswirtschaft nicht bloß darum handeln, daß der Kredit den Unternehmungsgeist als solchen fördere, sondern darum, daß Einrichtungen vorhanden seien, durch die der Unternehmungsgeist sich in sozial gün­stiger Art auswirkt.

Theoretisch wird es kaum jemand bezweifeln wollen, daß eine Erhöhung des Verantwortlichkeitsgefühls in dem gegenwärtigen Wirtschaftsverkehr notwendig ist. Diese Erhöhung hängt aber davon ab, daß Assoziationen ent­stehen, durch deren Tätigkeit dem einzelnen Menschen wirklich vor Augen gestellt wird, was in der sozialen Ge­meinschaft durch seine Handlungsweise geschieht.

Es wird von Persönlichkeiten, deren Lebensaufgabe mit der Bodenbewirtschaftung zusammenhängt und die daher Erfahrung auf diesem Gebiete haben, mit Recht behauptet,

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daß, wer Grund und Boden zu verwalten hat, diesen nicht wie eine beliebige Ware betrachten dürfe, und daß auch der Landkredit auf andere Art gewährt werden müsse als der Warenkredit. Aber es ist unmöglich, daß im gegenwärtigen Wirtschaftskreislauf solche Erkenntnisse eine praktische Be­deutung gewinnen, wenn nicht hinter dem einzelnen die Assoziationen stehen, die aus den Beziehungen der einzelnen Wirtschaftsgebiete heraus der Bodenwirtschaft ein anderes Gepräge geben als einem anderen Produktionszweige.

Es ist durchaus begreiflich, daß manche Menschen zu solchen Ausführungen sagen: wozu das alles, da doch schließlich der menschliche Bedarf der Herr aller Produktion ist und zum Beispiel niemand zur Kreditgewährung oder Kreditentgegennahme kommen kann, wenn nicht aus irgend­einer Ecke heraus ein Bedarf die Sache rechtfertigt. Man könnte sogar sagen: schließlich ist doch alles, was da über soziale Einrichtungen erdacht wird, nichts weiter als ein bewußtes Gestalten dessen, was sicher auch automatisch «Angebot und Nachfrage» regeln. Wer aber genauer zu­sieht, dem wird durchsichtig werden, daß es bei den Aus­einandersetzungen über die soziale Frage, die von der Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus ausgehen, nicht darauf ankommt, an die Stelle des freien Verkehrs im Zei­chen von Angebot und Nachfrage eine Zwangswirtschaft zu setzen, sondern darauf, die gegenseitigen Werte der Lebens-güter so zu gestalten, daß im wesentlichen der Wert eines Menschenerzeugnisses dem Werte der anderen Güter ent­spricht, für welche der Erzeuger in der Zeit Bedarf hat, die er auf die Erzeugung verwendet. Ob man bei kapitalistischer Orientierung ein Gut erzeugen will, darüber mag die Nach­frage entscheiden; ob ein Gut erzeugt werden kann zu

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einem Preise, der seinem Werte im gekennzeichneten Sinne entspricht, darüber kann nicht die Nachfrage allein ent­scheiden. Diese Entscheidung kann nur durch Einrichtungen bewirkt werden, durch die aus dem ganzen sozialen Orga­nismus heraus die Bewertung der einzelnen Lebensgüter zustande kommt. Wer bezweifeln will, daß solche Einrich­tungen erstrebenswert seien, der hat kein Auge dafür, daß bei dem bloßen Walten von Angebot und Nachfrage menschliche Bedürfnisse verkümmern, deren Befriedigung die Zivilisation eines sozialen Organismus erhöht; und ihm fehlt der Sinn für ein Streben, das die Befriedigung solcher Bedürfnisse in die Antriebe des sozialen Organismus ein­fügen will. In dem Schaffen des Ausgleichs zwischen den menschlichen Bedürfnissen und dem Werte der menschlichen Leistungen sieht das Streben nach der Dreigliederung des sozialen Organismus seinen Inhalt.

DIE PÄDAGOGISCHE ZIELSETZUNG DER WALDORFSCHULE IN STUTTGART

Wer sich auf den heutigen Bildungsanstalten für den Beruf des Pädagogen vorbereitet, nimmt viele gute Grundsätze über Erziehungswesen und Unterrichtskunst ins Leben mit. Und der gute Wille, diese Grundsätze auch anzuwenden, ist zweifellos bei vielen vorhanden, denen dies als Aufgabe zufällt. Dennoch ist eine weitgehende Unbefriedigtheit auf diesem Lebensgebiete vorhanden. Immer neue oder neu erscheinende Zielsetzungen tauchen auf; und Anstalten werden begründet, welche den Forderungen der Menschen-

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natur und des sozialen Lebens besser Rechnung tragen sollen als diejenigen, welche aus der allgemeinen Zivilisation der neueren Menschheit hervorgegangen sind. Unbillig wäre es, nicht anzuerkennen, daß die Erziehungs- und Unterrichtskunde seit mehr als einem Jahrhundert die edelsten, von hohem Idealismus getragenen Perönlichkei- ten zu ihren Pflegern gehabt hat. Was der Geschichte von diesen einverleibt ist, stellt einen reichen Schatz von pädagogischer Weisheit und von begeisternden Anweisungen für den Erzieher-Willen dar, die der angehende Lehrer aufnehmen kann.

Man wird kaum in Abrede stellen können, daß für jeden Mangel, den man im Felde des Erziehens und Unterrichtens findet, sich leitende Ideen bei den bisher führenden großen Pädagogen aufweisen lassen, durch deren Befolgung Abhilfe geschaffen werden könnte. Die Unbefriedigtheit kann nicht in dem Fehlen einer sorgsam gepflegten Erziehungskunde liegen; sie kann auch nicht auf dem Mangel an gutem Willen bei denen beruhen, die im Erziehen und Unterrichten tätig sind. Aber sie ist doch nicht unberechtigt. Das beweisen die Erfahrungen des Lebens jedem Unbefangenen.

Von solchen Empfindungen sind diejenigen durchdrungen gewesen, die an der Begründung der Waldorfschule in Stuttgart beteiligt sind. Emil Molt, der Begründer dieser Schule, und der Schreiber dieses Artikels, welcher der Erziehungs- und Unterrichtsart die Richtung geben durfte, und der sich an der Fortführung dieser Richtung weiterhin beteiligen darf: sie wollen mit dieser Schule eine pädagogische und eine soziale Aufgabe lösen.

Bei dem Versuch, die pädagogische Aufgabe zu lösen, kommt es darauf an, den Grund zu erkennen, warum die

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guten Erziehungsprinzipien, die vorhanden sind, in so weitgehendem Maße zu nicht befriedigenden Ergebnissen führen. - Es wird doch zum Beispiel allgemein anerkannt, daß die sich entwickelnde Individualität des Kindes für die Gewinnung der leitenden Ideen im Unterrichten und Erziehen beobachtet werden müsse. In allen Tonarten wird dieser Gesichtspunkt als ein richtiger hingestellt.

Aber es gibt heute gewichtige Hindernisse, diesen Gesichtspunkt einzunehmen. Er erfordert, um in wahrer Praxis zur Geltung zu kommen, eine Seelen-Erkenntnis, die wirklich das Wesen des Menschen aufschließt. Zu einer solchen führt die Weltanschauung nicht, welche die geistige Bildung der Gegenwart beherrscht. Diese Weltanschauung glaubt nur dann einen sicheren Boden unter den Füßen zu haben, wenn sie allgemeingültige Gesetze aufstellen kann. Gesetze, die man in festen Begriffen aussprechen und dann auf den einzelnen Fall anwenden kann. Man gewöhnt sich an das Streben nach solchen Gesetzen, wenn man seine Berufsbildung in den Bildungsanstalten der Gegenwart erwirbt. Auch die für den Erzieherberuf Vorgebildeten sind an das Denken in solchen Gesetzen gewöhnt. Aber die menschliche Seelenwesenheit widerstrebt der Erkenntnis, wenn man sie durch solche Gesetze fassen will. Nur die Natur ergibt sich diesen Gesetzen. Will man das Wesen der Seele durchschauen, so muß man das Gesetzmäßige mit künstlerischer Gestaltungskraft in der Erkenntnis durchdringen. Der Erkennende muß zum künstlerisch Schauenden werden, wenn er das Seelische erfassen will. Man kann dozieren: ein solches Erkennen sei kein wahres Erkennen, denn es beteilige das persönliche Erlebnis an dem Erfassen der Dinge. Solches Dozieren mag noch so viele logische

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Vorurteile für sich haben; es hat die Tatsache gegen sich, daß ohne die Beteiligung des inneren persönlichen, des schaffenden Erfassens das Seelische nicht zu erkennen ist. Man schreckt vor dieser Beteiligung zurück, weil man glaubt, damit unbedingt in die persönliche Willkür des Beurteilens hineinzukommen. Gewiß, man kommt in diese Willkür hinein, wenn man sich nicht durch sorgfältige Selbsterziehung innere Objektivität aneignet.

Damit ist aber der Weg angedeutet, den derjenige einschlägt, der neben der auf ihrem Gebiete berechtigten Natur-Erkenntnis eine wahre Geist-Erkenntnis gelten läßt. Und dieser kommt es zu, das Wesen des Seelischen aufzuschließen. Sie muß eine wirkliche Erziehungs- und Unterrichtskunst tragen. Denn sie führt zu einer MenschenErkenntnis, die so in sich bewegliche, lebendige Ideen hat, daß der Erzieher sie in die praktische Anschauung der einzelnen kindlichen Individualität umsetzen kann. Und erst wer dieses vermag, für den gewinnt die Forderung, nach der Kindes-Individualität zu erziehen und zu unterrichten, eine praktische Bedeutung.

In unserer Zeit mit ihrem Intellektualismus, mit ihrer Liebe zur Abstraktion wird man das hier Ausgesprochene mit Einwänden zu widerlegen suchen, wie etwa der ist: es sei doch selbstverständlich, daß man allgemeine Ideen, die man über das Wesen des Menschen auch aus der gegenwärtigen Zeitbildung heraus gewonnen habe, für den einzelnen Fall individualisiere.

Doch um richtig zu individualisieren, so, wie es befähigt, die besondere Kindes-Individualität erzieherisch zu führen, dazu ist nötig, in einer besonderen Geistes-Erkenntnis den Blick für das erworben zu haben, was nicht als einzelner

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Fall unter ein allgemeines Gesetz gebracht werden kann, sondern dessen Gesetz erst an diesem Fall anschauend erfaßt werden muß. Die hier gemeinte Geist-Erkenntnis führt nicht, nach dem Vorbilde der Natur-Erkenntnis, zum Vorstellen allgemeiner Ideen, um diese im einzelnen Falle anzuwenden, sondern sie erzieht den Menschen zu einer SeelenVerfassung, die den einzelnen Fall in seiner Selbständigkeit schauend erlebt. - Diese Geisteswissenschaft verfolgt, wie sich der Mensch in seinem Kindes- und Jugendalter entwickelt. Sie zeigt, wie die kindliche Natur von der Geburt bis zum Zahnwechsel so geartet ist, daß sie sich aus dem Trieb der Nachahmung entfaltet. Was das Kind sieht, hört usw. erregt in ihm den Trieb, das gleiche zu tun. Wie sich dieser Trieb gestaltet, das untersucht bis ins einzelne dig Geisteswissenschaft. Man braucht zu dieser Untersuchung Methoden, die in jedem Punkte das bloße Gesetzes-Denken in das künstlerische Anschauen hinüberleiten. Denn, was das Kind zur Nachahmung reizt und die Art, wie es nachahmt, läßt sich nur in dieser Art anschauen. - In der Periode des Zahnwechsels vollzieht sich ein völliger Umschwung im kindlichen Erleben. Es tritt der Trieb ein, das zu tun oder auch zu denken, was ein anderer Mensch, der von dem Kinde als Autorität empfunden wird, tut oder denkt, wenn er dieses Tun oder Denken als richtig bezeichnet. Vor diesem Lebensalter wird nachgeahmt, um das eigene Wesen zum Nachbild der Umgebung zu machen; mit dem Eintritt in dieses Alter wird nicht bloß nachgeahmt, sondern es wird das fremde Wesen mit einem gewissen Grade der Bewußtheit in das eigene Wesen hereingenommen. Doch bleibt der Nachahmungstrieb neben dem andern, der Autorität zu folgen, bis etwa zum neunten

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Lebensjahre noch bestehen. Geht man von den Äußerungen dieser zwei Haupttriebe für die beiden aufeinanderfolgenden Kindesalter aus, so fällt der Blick auf andere Offenbarungen der kindlichen Natur. Man lernt die lebendigplastische Entwickelung der menschlichen Kindheit kennen.

Wer in diesem Felde seine Beobachtungen aus der Vorstellungsart heraus anstellt, die für Naturdinge, ja die auch für den Menschen als Naturwesen die richtige ist, dem entzieht sich, was das eigentlich Bedeutsame ist. Wer aber auf die für dieses Gebiet sachgemäße Beobachtungsart eingeht, der schärft sein Seelenauge für das Individuelle der Kindeswesenheit. Ihm wird das Kind nicht zum «einzelnen Fall», den er nach einem Allgemeinen beurteilt, sondern zum ganz individuellen Rätsel, das er zu lösen sucht.

Man wird einwenden, solches anschauendes Eingehen auf das einzelne Kind sei doch in einer Schulklasse mit einer größeren Schülerzahl nicht möglich. Ohne deshalb übergroßen Schülerzahlen in den Klassen das Wort reden zu wollen, muß doch gesagt werden, daß ein Lehrer mit einer Seelen-Erkenntnis, wie sie hier gemeint ist, leichter mit vielen Schülern zurecht kommen wird als der andere ohne wirkliche Seelen-Erkenntnis. Denn diese Seelen-Erkenntnis wird sich in dem Gebaren der ganzen Persönlichkeit des Lehrers offenbaren; sie wird jedem seiner Worte, allem seinem Tun das Gepräge geben; und die Kinder werden innerlich aktiv unter seiner Führung werden. Er wird nicht jeden einzelnen zur Aktivität zu zwingen haben, denn seine allgemeine Haltung wird auf das einzelne Kind wirken.

Aus der Erkenntnis der kindlichen Entwickelung erge-

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ben sich sachgemäß Lehrplan und Lehrmethode. Durchschaut man, wie der Nachahmungstrieb und der Impuls, unter die Autorität sich zu stellen, beim Kinde in den ersten Volksschuljahren ineinanderwirken, so weiß man, wie man für diese Jahre zum Beispiel den Schreibunterricht zu gestalten hat. Baut man ihn auf dielntellektualität, so arbeitet man gegen die Kräfte, die sich durch den Nachahmungstrieb offenbaren; geht man von einer Art Zeichnen aus, das man allmählich in das Schreiben überführt, so entwickelt man, was sich zu entwickeln strebt. In dieser Art läßt sich der Lehrplan ganz aus der Natur der kindlichen Entwickelung heraus gewinnen. Und nur ein Lehrplan, der in dieser Art gewonnen ist, arbeitet in der Richtung der menschlichen Entwickelung. Er macht den Menschen stark; jeder andere verkümmert seine Kräfte. Und diese Verkümmerung macht ihre Wirkungen für das ganze Leben geltend.

Es ist nur durch eine Seelen-Erkenntnis der geschilderten Art möglich, einen Erziehungsgrundsatz anzuwenden wie denjenigen von der Notwendigkeit, die Individualität der kindlichen Natur zu beobachten.

Eine Pädagogik, die praktisch anwenden will, was theoretisch von vielen als gute Grundsätze verfochten wird, muß gebaut sein auf eine wahre Geisteswissenschaft. Sonst wird es nur durch die wenigen Pädagogen, die durch glückliche Naturanlagen instinktiv sich ihre Praxis erarbeiten, wirken können. Von einer wahren geisteswissenschaftlichen Menschen-Erkenntnis soll die pädagogische und didaktische Erziehungs- und Unterrichtspraxis der Waldorfschule befruchtet sein. Die Lehrer nach dieser Richtung hin anzuregen, stellte ich mir mit einem Kursus in geisteswis-

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senschaftlicher Pädagogik und Didaktik zur Aufgabe, den ich für sie vor der Eröffnung der Schule abgehalten habe.

Damit ist — allerdings nur skizzenhaft — die pädagogische Aufgabe gekennzeichnet, für die ein erster Versuch zur Lösung mit dieser Schule gemacht worden ist. In der Waldorfschule hat Emil Molt zugleich eine Einrichtung geschaffen, die einer sozialen Forderung der Gegenwart entspricht. Sie ist zunächst die Volksschule für die Kinder der in der Waldorf-Astoria-Fabrik in Stuttgart Arbeitenden. Neben diesen Kindern sitzen auch diejenigen andrer Bevölkerungsklassen, so daß der Charakter der EinheitsVolksschule voll gewahrt ist. Das ist alles, was zunächst von einem einzelnen getan werden kann. Im umfassenden Sinne wird mit der Schule eine wichtige soziale Aufgabe für die Zukunft erst gelöst werden können, wenn die sozialen Gesamt-Einrichtungen alles Schulwesen so in sich eingliedern, daß dieses von dem Geiste durchdrungen sein wird, der in der Waldorfschule so weit zur Geltung gebracht wird, als es unter den gegenwärtigen Verhältnissen möglich ist.

Die obigen Darlegungen zeigen, daß alle pädagogische Kunst auf eine Seelen-Erkenntnis gebaut sein muß, die an die Persönlichkeit des Lehrers eng gebunden ist. Diese Persönlichkeit muß sich in ihrem pädagogischen Schaffen frei ausleben können. Das ist nur möglich, wenn die gesamte Verwaltung des Schulwesens autonom auf sich selbst gestellt ist. Wenn der ausübende Lehrer in bezug auf die Verwaltung nur wieder mit ausübenden Lehrern zu tun hat. Ein nicht ausübender Pädagoge ist in der Schulverwaltung ein Fremdkörper wie ein nicht künstlerisch Schaffender, dem obliegen würde, künstlerisch Schaffenden die Rich-

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tung vorzuzeichnen. Das Wesen der pädagogischen Kunst fordert, daß die Lehrerschaft sich teilt zwischen Erziehen und Unterrichten und der Verwaltung des Schulwesens. Dadurch wird in der Verwaltung voll walten der Gesamtgeist, der sich aus der geistigen Haltung aller einzelnen zu einer Unterrichts- und Erziehungsgemeinschaft vereinigten Lehrer gestaltet. Und es wird in dieser Gemeinschaft nur das Geltung haben, was aus der Seelen-Erkenntnis sich ergibt.

Eine solche Gemeinschaft ist nur möglich in dem dreigliedrigen sozialen Organismus, der ein freies Geistesleben neben einem demokratisch orientierten Staats- und einem selbständigen Wirtschaftsleben hat. (Über das Wesen dieser Dreigliederung vergleiche man die Artikel in den vorangehenden Nummern der «Sozialen Zukunft».) Ein Geistesleben, das seine Direktiven von der politischen Verwaltung oder von den Mächten des Wirtschaftslebens erhält, kann nicht eine Schule in seinem Schoße pflegen, deren Impulse von der Lehrerschaft selbst restlos ausgehen. Eine freie Schule wird aber Menschen in das Leben hineinstellen, die im Staate und in der Wirtschaft ihre volle Kraft entfalten können, weil diese in ihnen entwickelt wird.

Wer nicht der Meinung huldigt, daß die unpersönlichen Produktionsverhältnisse oder ähnliches die Menschen gestaltet, sondern aus der tatsächlichen Wirklichkeit erkennt, wie die Menschen die soziale Ordnung schaffen, der wird auch einsehen, welche Bedeutung eine Schule hat, die nicht auf die Partei- oder sonstigen Ansichten gebaut ist, sondern auf dasjenige, was der menschlichen Gemeinschaft durch die stets neu in sie eintretenden Generationen aus den Tiefen des Weltenwesens zugeführt wird. Dies aber zu er-

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kennen und auszubilden ist nur einer Seelenanschauung möglich, wie sie hier versucht worden ist, zu charakterisieren. Von diesem Gesichtspunkte aus erscheint die tiefgehende soziale Bedeutung einer pädagogischen Praxis, die auf Geisteswissenschaft begründet ist.

Von dieser pädagogischen Praxis wird manches anders beurteilt werden müssen, als es gegenwärtig von den Pädagogen geschieht. Um nur auf eines in dieser Richtung Liegende hinzuweisen, sei erwähnt, daß in der Waldorfschule dem gewöhnlichen Turnen als gleichberechtigt eine Art Eurythmie an die Seite gesetzt worden ist. Diese Eurythmie ist eine sichtbare Sprache. Durch sie werden die menschlichen Körperglieder bewegt, wird der ganze Mensch und werden Menschengruppen zu solchen Bewegungen veranlaßt, die gesetzmäßig einen Seeleninhalt ausdrücken wie die Lautsprache oder die Musik. Der ganze Mensch wird beseelt bewegt. Wenn nun heute das Turnen, das direkt nur auf die Erstarkung des Körpers und höchstens indirekt auf die moralische Kräftigung des Menschen wirken kann, vorurteilsvoll überschätzt wird, weil es einseitig auf das Physische geht, so wird eine spätere Zeit erkennen, wie die beseelte Bewegungskunst der Eurythmie zugleich mit dem Physischen die Willensinitiative zur Entfaltung bringt. Sie erfaßt den Menschen als Ganzes nach Leib, Seele und Geist.

Wer nicht in einer Art von Seelenschlaf die gegenwärtige Krisis des europäischen Zivilisationslebens an sich vorübergehen läßt, sondern sie voll miterlebt, der kann ihre Ursprünge nicht bloß in verfehlten äußeren Einrichtungen sehen, die einer Verbesserung bedürfen, sondern er muß sie tief im Innern des menschlichen Denkens, Fühlens und

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Wollens suchen. Dann aber wird er auch unter den Wegen zur Gesundung unseres sozialen Lebens denjenigen der Erziehung der kommenden Generation anerkennen. Und er wird einen Versuch nicht ganz unbeachtet lassen, der in der pädagogischen Kunst nach Mitteln sucht, durch die gute Grundsätze und ein guter Wille auch praktisch sich ausleben können. Die Waldorfschule ist nicht eine «Reformschule» wie so manche andere, die gegründet werden, weil man zu wissen glaubt, worin die Fehler dieser oder jener Art des Erziehens und Unterrichtens liegen; sondern sie ist dem Gedanken entsprungen, daß die besten Grundsätze und der beste Wille in diesem Gebiete erst zur Wirksamkeit kommen können, wenn der Erziehende und Unterrichtende ein Kenner der menschlichen Wesenheit ist. Man kann dies nicht sein, ohne auch eine lebendige Anteilnahme zu entwickeln an dem ganzen sozialen Leben der Menschheit. Der Sinn, der geöffnet ist für das Wesen des Menschen, nimmt auch alles Leid und alle Freude der Menschheit als eigenes Erlebnis hin. Durch einen Lehrer, der Seelenkenner, Menschenkenner ist, wirkt das ganze soziale Leben auf die in das Leben hineinstrebende Generation. Aus seiner Schule werden Menschen hervorgehen, die sich kraftvoll in das Leben hineinstellen können.

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ZUM WELTKRIEG 1914-1918

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GEDANKEN WÄHREND DER ZEIT DES KRIEGES

Für Deutsche

und solche, die nicht glauben, sie hassen zu müssen

1915

Unsägliches Leiden, tiefe Trauer leben in den Seelen der gegenwärtigen Menschen neben dem Willen, dem weltgeschichtlich unvergleichlichen Augenblicke die Opfer des Mutes, der Tapferkeit, der Liebe zu bringen, die er fordert. Den Krieger stählt das Bewußtsein, daß er für ein Teuerstes einsteht, das die Erde der Menschheit zu geben hat. Er sieht dem Tod ins Antlitz mit dem Gefühl, daß sein Sterben von jenem Leben gefordert wird, das als Höheres gegenüber dem einzelnen Menschen auch seinen Tod beanspruchen darf. Väter, Mütter und Söhne, Frauen, Schwestern und Töchter müssen aus dem persönlichen Leide heraus sich finden in der Idee, daß aus Blut und Tod die Entwickelung der Menschheit sich erheben werde zu Zielen, denen die Opfer notwendig waren und die sie rechtfertigen werden. Der Aufblick vom Einzelerlebnis zum Leben der Mensch­heit, von dem Vergänglichen zu dem, was in diesem Ver­gänglichen als das Unvergängliche lebt: er wird gefordert von den Erlebnissen dieser Zeit. Die Zuversicht erhebt sich aus der Empfindung dessen, was geschieht, daß, was erlebt wird, die Morgenröte einer neuen Zeit der Menschheit her-aufheben werde, deren Kräfte dieses Erlebnis reifen solle.

Mit dem Verständnis, das auch der Menschen Verirrungen zu begreifen sucht, möchte man auf die Flammen des Hasses blicken, die sich entzünden. Zu stark ist eben für manchen der Eindruck, den er empfängt, wenn er das gegenwärtig Erlebte vergleicht mit dem, was ihm durch die Entwickelung

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der Menschheit für die Gegenwart bereits errungen schien. Menschen, die verstanden, über dies der Menschheit Er­rungene aus einer vollen Anteilnahme heraus sich auszu­sprechen, fanden dafür Worte wie diejenigen sind, die der feine deutsche Kunstbetrachter, der im Jahre 1901 ver­storbene Herman Grimm, gesprochen hat. Der vergleicht das Erleben des Menschen in früherer Zeit mit dem, was die Gegenwart diesem Erleben zuführt. Er sagt: «Es ist mir zuweilen, als sei man in ein neues Dasein versetzt und habe nur das nötigste geistige Handgepäck mitgenommen. Als zwängen völlig veränderte Lebensbedingungen zu völlig neuer Gedankenarbeit. Denn Entfernungen sind nichts mehr, was Menschen trennt. In spielender Leichtigkeit umkreisen unsere Gedanken den Umfang der Erdoberfläche und fliegen von jedem Einzelnen zu jedem Anderen, wo er auch sei. Die Entdeckung und Ausnutzung neuer Naturkräfte vereinigt sämtliche Völker zu unablässiger gemeinsamer Arbeit. Neue Erfahrungen, unter deren Drucke unsere Anschauung alles Sichtbaren und Unsichtbaren in ununterbrochenem Wechsel sich ändert, drängen uns auch für die Entwickelungsgeschichte der Menschheit neue Beobachtungsweisen auf.» In seiner individuellen Art hane vor dem Ausbruche dieses Krieges jeder europäische Mensch solche Empfindungen in seiner Seele. Und nun: Was ist für die Zeit dieses Krieges aus dem gemacht, was zu diesen Empfindungen anregte. Ist es nicht, als ob der Menschheit gezeigt werden sollte, wie die Welt aussieht, wenn die Wirkungen von vielem aufhören, was Frucht der Entwickelung ist? Und doch auch: Zeigt nicht der Krieg durch seine Schrecken, wozu Völkerkonflikte führen müssen, die mit den Mitteln ausgekämpft werden, welche die neueste Entwickelung gebracht hat?

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Verwirrend können die Empfindungen sein, die aus den Erlebnissen entstehen. Man möchte aus dem Vorhandensein dieser Verwirrung heraus verstehen, warum viele Menschen nicht begreifen können, daß der Krieg selber des Krieges Schrecken und Leiden bringt, und warum sie den Gegner als «Barbaren» verschreien, wenn ihm eine herbe Not­wendigkeit den Gebrauch der Kampfesmittel aufzwingt, welche die neuere Zeit geschaffen hat.

Worte haßerfüllter Verurteilung deutschen Wesens, jetzt ausgesprochen von Persönlichkeiten, die führend sind unter den Völkern, mit denen Deutschland gegenwärtig im Kriege lebt: wie klingen sie einer Seele, die als wahren Ausdruck deutschen Gefühles empfindet, was der schon erwähnte Herman Grimm kurz vor dem Eintritt dieses Jahrhunderts als einen Grundzug in der Auffassung des Lebenswillens der neueren Menschheit gekennzeichnet hat. Er schrieb: «Die Solidarität der sittlichen Überzeugungen aller Men­schen ist heute die uns alle verbindende Kirche. Wir suchen leidenschaftlicher als jemals nach einem sichtbaren Aus­drucke dieser Gemeinschaft. Alle wirklich ernsten Bestre­bungen der Massen kennen nur dies eine Ziel. Die Trennung der Nationen existiert hier bereits nicht mehr. Wir fühlen, daß der ethischen Weltanschauung gegenüber kein nationaler Unterschied walte. Wir alle würden uns für unser Vater­land opfern; den Augenblick aber herbeizusehnen oder herbeizuführen, wo dies durch Krieg geschehen könne, sind wir weit entfernt. Die Versicherung, daß Friede zu halten unser aller heiligster Wunsch sei, ist keine Lüge. durchdringt uns. Die Bewohner unseres Planeten, allesamt als Einheit gefaßt, erfüllt ein allverständliches Feingefühl . . . Die

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Menschen als Totalität anerkennen sich als einem wie in den Wolken thronenden unsichtbaren Gerichtshofe unter­worfen, vor dem nicht bestehen zu dürfen, sie als ein Un­glück erachten, und dessen gerichtlichem Verfahren sie ihre inneren Zwistigkeiten anzupassen suchen. Mit ängstlichem Bestreben suchen sie hier ihr Recht. Wie sind die heutigen Franzosen bemüht, den Krieg gegen Deutschland, den sie vorhaben, als eine sittliche Forderung hinzustellen, deren Anerkennung sie von den anderen Völkern, ja von den Deutschen selber fordern. » Herman Grimms Lebensarbeit ist in solcher Art im deutschen Geistesleben mit all ihren Wurzeln gegründet, daß man sagen kann: Wenn er einen solchen Gedanken ausspricht, so ist es, als ob er von dem Bewußtsein durchdrungen wäre, er spreche im geistigen Auftrage seines Volkes. Er gebrauche Worte, bei denen er die Gewißheit haben durfte: Wenn das deutsche Volk als Ganzes sich äußern könnte, so würde es solche Worte gebrauchen, um seine Gesinnung darüber zu äußern, wie es sein eigenes Wollen innerhalb der Gesamtheit der Mensch­heit auffaßt. Herman Grimm will nicht sagen: was von solcher Gesinnung im gegenwärtigen Leben der Menschheit vorhanden ist, könne Kriege verhindern. Er spricht ja davon, daß er den Gedanken haben müsse, die Franzosen wollen einen Krieg gegen Deutschland. Daß aber auch durch Kriege hindurch diese Gesinnung ihre Kraft bewähren werde, das mußte Herman Grimms Überzeugung sein, wenn er Gedanken wie die angeführten zum Ausdrucke brachte. Gegner des deutschen Volkes sprechen gegenwärtig so, als ob sie für erwiesen hielten, die einzige Ursache dieses Krieges liege nur darin, daß den Deutschen das Verständnis für eine solche Gesinnung fehle. Als ob das Ergebnis dieses

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Krieges sein müßte, daß die Deutschen zum Verständnis einer solchen Gesinnung gezwungen werden. Als ob bei den Deutschen maßgebende Geister sich die Aufgabe gesetzt hätten, diese Gesinnung bei ihrem Volke auszutilgen.

Man hört jetzt manche Namen deutscher Persönlichkeiten in haßerfüllter Art aussprechen. Nicht nur von Tages-schriftstellern, auch von geistigen Führern der mit Deutsch­land im Kriege lebenden Völker. Ja, auch aus Ländern, mit denen Deutschland keinen Krieg hat, kommen solche Stimmen. Unter diesen deutschen Persönlichkeiten ist zum Beispiel der Geschichtsschreiber des deutschen Volkes, Heinrich von Treitschke. Die Deutschen, die über die wissen­schaftliche Bedeutung und das Wesen der Persönlichkeit Treitschkes sich Gedanken bilden, sprechen die verschieden­sten Werturteile über ihn aus. Aus welchen Gesichtspunkten diese Urteile gefällt werden, ob sie berechtigt oder un­berechtigt sind, darauf kommt es in diesem Augenblicke nicht an; den Stimmen der Gegner des deutschen Wesens gegenüber ist ein ganz anderer Gesichtspunkt maßgebend. Diese Gegner wollen in Treitschke eine Persönlichkeit sehen, die auf das jetzige deutsche Geschlecht so gewirkt habe, daß gegenwärtig das deutsche Volk sich für das nach allen Richtungen begabteste der Völker halte, das die anderen deshalb zwingen wolle, sich seiner Führung unterzuordnen, und das die Erlangung der Macht über alles Recht stelle. Lebte Treitschke noch, und vernähme er die Urteile der Gegner des deutschen Wesens über seine Person, er könnte sich erinnern an Worte, die er 1861 als den Ausdruck seines tiefsten Empfindens in der Abhandlung über «Die Frei­heit» niedergeschrieben hat. Er sprach sich da über solche Menschen aus, die ihrer Achtung und Duldung fremder

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Meinungen sogleich eine Grenze setzen, wenn ihnen in solchen Meinungen etwas entgegentritt, das ihnen nicht gefällt. Solchen Menschen - meint Treitschke - verhüllt sich der Gedanke durch die Leidenschaft, und er sagt: so lange solche Art, die aus der Leidenschaft geborene Phrase an die Stelle des Urteiles zu setzen, noch lebt, «so lange lebt in uns noch, ob auch in milderer Form, der fanatische Geist jener alten Eiferer, welche fremde Meinungen nur deshalb er­wähnten, um zu beweisen, daß ihre Urheber sich gerechte Ansprüche auf den Höllenpfuhl erworben hätten». Ein Mann, der als Franzose unter Franzosen, als Italiener unter Italienern so gewirkt hätte wie Treitschke als Deutscher unter Deutschen: er erschiene den Deutschen nicht als Ver­führer der Franzosen oder Italiener. Treitschke war ein Geschichtsschreiber und Politiker, der aus einem starken, entschiedenen Empfinden heraus allen seinen Urteilen eine scharf wirkende Prägung gab. Eine solche Prägung hatten auch die Urteile, die er aus der Liebe zu seinem Volke über die Deutschen aussprach. Aber alle diese Urteile waren getragen von dem Gefühle: nicht nur seine Seele spreche so, sondern der Verlauf der deutschen Geschichte. Am Schlusse des Vorwortes des fünften Teiles seiner «Deutschen Ge­schichte im neunzehnten Jahrhundert» stehen die Worte: «so gewiß der Mensch nur versteht, was er liebt, ebenso gewiß kann nur ein starkes Herz, das die Geschicke des Vaterlandes wie selbsterlebtes Leid und Glück empfindet, der historischen Erzählung die innere Wahrheit geben. In dieser Macht des Gemüts, und nicht allein in der vollendeten Form, liegt die Größe der Geschichtsschreiber des Alter­tums». Manches Urteil, das Treitschke über das gesprochen hat, was das deutsche Volk durch andere Völker erlebt hat,

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klingt wie herbe Verurteilung dieser anderen Völker. Wie in dieser Richtung liegende Äußerungen Treitschkes zu ver­stehen sind, erkennt nur derjenige, der auf die Herbheit auch der Urteile blickt, mit denen Treitschke oft richtet über das, was er innerhalb seines eigenen Volkes tadelns­wert findet. Treitschke hatte die tiefste Liebe zu seinem Volke, die edles Feuer in seiner Seele war; aber er glaubte, daß es nicht schade, wenn man am schroffsten da richtet, wo man am meisten liebt. Es wäre denkbar, daß sich Feinde des deutschen Volkes fänden, die aus Treitschkes Werken eine Sammlung von Aussprüchen sich anlegten, diesen Aussprüchen dann die Farbe der Liebe nähmen, die sie bei Treitschke haben, und sie mit ihrer Farbe des Hasses übertünchten: sie könnten sich dadurch Wortwaffen gegen das deutsche Volk anfertigen. Schlechter wären diese Wort-waffen auch nicht als diejenigen, mit denen sie auf ein Zerrbild Treitschkes schießen, um das deutsche Volk zu verwunden. Herman Grimm, der Treitschke zu schätzen wußte und gut mit ihm und seiner persönlichen Art bekannt war, sprach einige Zeit nach dessen Tode über ihn die Worte: «Wenige sind so geliebt, aber auch so gehaßt wor­den wie er. » Treitschke wurde von Grimm mit den deut­schen Geschichtslehrern Curtius und Ranke zu einer Dreiheit deutscher Lehrer zusammengestellt, über die er sich so äußerte: «Sie waren freundlich und vertraulich im Ver­kehr. Sie suchten ihre Zuhörer zu fördern. Sie erkannten das Verdienst an, wo sie ihm begegneten. Sie suchten ihre Gegner nicht zu unterdrücken. Sie hatten keine Partei und keine Parteigenossen. Sie sprachen ihre Meinung aus. In ihrem Auftreten lag etwas Vorbildliches. Sie sahen in der Wissenschaft die höchste Blüte des deutschen Geistes. Sie

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traten ein für ihre Würde. Es gibt eine ausführliche Bespre­chung von Treitschkes «Deutscher Geschichte» durch Herman Grimm. Wer sie liest, muß zu der Erkenntnis kommen, Herman Grimm habe Treitschke unter diejenigen gerechnet, welche über die Beziehung, die das deutsche Volk zu anderen Völkern haben wolle, nicht anders dachten als er selbst.

Wer aus Feindesland eine deutsche Persönlichkeit, wie sie in Treitschke lebte, schmäht und als Verführer des jüngeren Geschlechts brandmarkt, dem fehlt ein Urteil dar­über, wie ein Deutscher, der «die Geschicke des Vaterlandes wie selbsterlebtes Leid und Glück» empfand, zu Deutschen sprechen mußte, die, zum Verständnis der eigenen Ge­schichte, hinblicken müssen auf Erfahrungen in der Ver­gangenheit, die Herman Grimm (in seinem Buche über Michelangelo, 16. Auflage) mit den Worten kennzeichnet: «Dreißig Jahre lang war Deutschland, das als eigene Nation den Ausschlag nicht zu geben vermochte, das Schlachtfeld für die uns umgrenzenden Völker, und nachdem die Frem­den, die so auf unserem Boden sich bekriegt, endlich Frieden geschlossen, kehrte der alte unbestimmte Zustand wieder.» In Herman Grimms Goethebuch steht über diese Erfah­rungen mit derselben Beziehung: «der Dreißigjährige Krieg, diese furchtbare, von außen her zu uns hineingetragene und künstlich genährte Krankheit», hat «alle die jungen Triebe unserer Fortentwickelung welk werden und absterben» lassen. Wie kurze Zeit war erst verflossen, seit sich das deutsche Volk von der Wirkung des Leides befreit hatte, das ihm Europa durch den Dreißigjährigen Krieg gebracht hatte, als im Beginne des neunzehnten Jahrhunderts das andere Schicksalserlebnis eintrat, das zusammenfiel mit einer Blüte des deutschen Geisteslebens. Waren es die Worte

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eines Mannes, in dessen Herzen mitklangen die Leiden seines Volkes «wie selbsterlebtes Leid», oder waren es Worte eines Volksverführers, mit denen Treitschke von den Geistern sprach, deren Wirken mit Deutschlands Schick­salserlebnis vom Beginn des neunzehnten Jahrhunderts zusammenfiel? Er spricht über diese Geister so: «Sie hüteten das Eigenste unseres Volkes, das heilige Feuer des Idealis­mus, und ihnen vornehmlich danken wir, daß es noch immer ein Deutschland gab, als das Deutsche Reich ver­schwunden war, daß die Deutschen mitten in Not und Knechtschaft noch an sich selber, an die Unvergänglichkeit deutschen Wesens glauben durften. Aus der Durchbildung der freien Persönlichkeit ging unsere politische Freiheit, ging die Unabhängigkeit des deutschen Staates hervor.» Verlangen die Gegner des deutschen Wesens, daß Treitschke hätte sagen sollen: die Geschichte lehre, daß die Deutschen «an die Unvergänglichkeit deutschen Wesens glauben dürfen», weil sie für alle Vergangenheit und Zukunft sich überzeugt halten können, daß Franzosen, Engländer, Ita­liener, Russen niemals für etwas anderes gekämpft haben und kämpfen werden, als für «Recht und Freiheit» der Völker? Sollten die anderen Deutschen, die gegenwärtig Deutschlands Verführer genannt werden, den Deutschen den Rat geben: baut nicht auf das, was euch in harten Kriegen «Recht und Freiheit» verschafft hat; ihr werdet «Recht und Freiheit» haben, weil bei denen, die euch um-geben, der Sinn für «Recht und Freiheit der Volker» im hellen Lichte erglänzt? Ihr müßt nur nicht glauben, daß ihr euer «Recht als Volk» anders denken dürft als im Sinne dessen, wozu euch die Völker für berechtigt halten, die euch umkreisen. Ihr müßt nur niemals etwas anderes eure

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«Freiheit als Volk» nennen, als wovon diese Völker durch ihr Verhalten euch zeigen werden, daß es euch «als Volk freistehe»?

Wo die Empfindungen wurzeln, welche die Angehörigen von «Europas Mitte» in dem gegenwärtigen Kriege haben, möchte der Verfasser dieses Schriftchens aussprechen. Die Tatsachen, die er besprechen will, sind, ihren allgemeinen Grundzügen nach, gewiß jedem Leser bekannt. Es liegt nicht in des Verfassers Absicht, nach dieser Richtung hin über noch Unbekanntes zu sprechen. Nur auf gewisse Zu­sammenhänge, in denen das längst Bekannte steht, möchte er hindeuten.

Wenn Gegner des deutschen Volkes etwa dieses Schrift­chen lesen sollten, so werden sie ganz begreiflicherweise sagen: So spricht ein Deutscher, der naturgemäß der Auf-fassung anderer Völker kein Verständnis entgegenbringen kann. Wer in dieser Art urteilt, begreift nicht, daß die Wege, die der Verfasser dieser Betrachtung sucht, um die Entstehung dieses Krieges zu besprechen, ganz unabhängig davon sind, wie viel er von dem Wesen eines nichtdeutschen Volkes versteht oder nicht versteht. Er will so sprechen, daß, wenn die Gründe, die er für das Behauptete vorbringt, etwas taugen, seine Gedanken auch dann richtig sein könn­ten, wenn er in bezug auf ein Verständnis der Eigenart und des Wertes nichtdeutscher Völker, sofern sie einem Deut­schen verschlossen sein sollen, der reine Tor wäre. Wenn er, zum Beispiele, darauf verweist, was ein Franzose über die Kriegsabsichten der Franzosen sagt, und darauf ein Urteil über die Entstehung des Krieges sich bildet, so könnte dies Urteil richtig sein, wenn ihm auch ein Franzose jedes Ver­ständnis für französische Eigenart glaubte absprechen zu

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müssen. Wenn er über das englische politische Ideal urteilt, so kommt dabei nicht in Frage, wie der Engländer an sich denkt oder empfindet, sondern wie die Handlungen sind, in denen sich dieses politische Ideal auslebt, und was gerade der Deutsche durch diese Handlungen erlebt. Für sich ist der Verfasser allerdings davon überzeugt, daß in diesem Schriftchen kein Anlaß liegen wird, darüber zu urteilen, welches Verständnis er dieser oder jener nichtdeutschen Volkart entgegenbringt.

Der Verfasser des Schriftchens glaubt, was er als Deut­scher über das Fühlen «Mitteleuropas» auszusprechen sich erlaubt, sagen zu dürfen, denn er hat die ersten drei Jahr­zehnte seines Lebens in Österreich verbracht, in dem er durch Abstammung, Volksangehörigkeit und Erziehung als österreichischer Deutscher lebte; und er hat die andere -fast ebenso lange - Zeit dieses Lebens in Deutschland tätig sein dürfen.

Vielleicht wird mancher, der von des Verfassers Schriften die eine oder die andere kennt, von jemand, der auf dem Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft steht, wie sie in diesen Schriften gemeint ist, «höhere Gesichtspunkte» in den fol­genden Ausführungen suchen, als er sie findet. Insbesondere werden diejenigen unzufrieden sein, welche erwarten, hier etwas darüber zu finden, wie sich die gegenwärtigen Kriegs-ereignisse «auf Grundlage der ewigen, höchsten Wahr­heiten alles Seins und Lebens» beurteilen lassen. Solchen «Enttäuschten», die sich vielleicht gerade unter den Freun­den des Verfassers finden werden, möchte dieser sagen, daß die «höchsten ewigen Wahrheiten» selbstverständlich überall gelten, also auch für die gegenwärtigen Ereignisse, daß aber diese Betrachtung nicht in der Absicht unternommen wurde,

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um zu zeigen, wie man auch mit Bezug auf diese Ereignisse von diesen «höheren Wahrheiten» zeugen kann, sondern in der andern, von diesen Ereignissen selbst zu sprechen.*

Wer Fichtes Geistesart auf sich hat wirken lassen, der empfindet in aller Folgezeit, daß er in seine Seele etwas aufgenommen hat, das noch ganz anders wirkt, als die Ideen und Worte dieses Denkers. Diese Ideen und Worte verwandeln sich in der Seele. Sie werden eine Kraft, die wesentlich mehr ist als die Erinnerung an das von Fichte unmittelbar Empfangene. Eine Kraft, die etwas von der Art lebendiger Wesen hat. Sie wächst in der Seele. Und diese fühlt in ihr ein sich nie ahnutzendes Stärkungsmittel. Man kann, wenn man die Eigenart Fichtes so empfindet, von dieser Empfindung niemals trennen die Vorstellung der innigen Wesenhaftigkeit, mit welcher die deutsche Seele durch Fichte gesprochen hat. Wie man sich zu Fichtes Welt­anschauung stellt, kommt dabei nicht in Betracht. Es ist nicht der Inhalt, es ist die Kraft, durch die diese Welt­anschauung geschaffen ist. Die fühlt man. Wer Fichte als Denker folgen will, muß sich in scheinbar kalte Ideen-gebiete begeben. In Gebiete, in denen die Kraft des Denkens manches von sich stoßen muß, was ihr sonst lieb ist, um nur möglich zu finden, daß ein Mensch sich in ein solches Ver­hältnis zur Welt setzen kann, wie es Fichte gehabt hat. Ist man aber Fichte so gefolgt, dann fühlt man, wie die Kraft,

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* Anderes über die gegenwärtige Zeit und Europas Völker hofft der Verfasser bald in einem zweiten Schriftchen geben zu können. Die hier niedergeschriebenen Gedanken sind aus Vorträgen zusammengezogen, welche der Verfasser an mehreren Orten in den letzten Monaten ge­halten hat.

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die in seinem Denken waltete, einströmte in die Leben gebenden Worte, mit denen er in schicksaltragender Zeit sein Volk zu weltwirksamer Tat zu entflammen suchte. Die Wärme in Fichtes «Reden an die deutsche Nation» ist eins mit dein Lichte, das ihm in seiner energischen Gedankenarbeit leuchtete. Und die Verbindung dieses Lichtes mit dieser Wärme erscheint in Fichtes Persönlichkeit als das, wodurch er eine der echtesten Verkörperungen deutschen Wesens ist. Dieses deutsche Wesen mußte Fichte erst zu dem Denker machen, der er war, bevor es durch ihn die ein­dringlichen «Reden an die Nation» sprechen konnte. Aber es konnte dieses deutsche Wesen, nachdem es sich einen solchen Denker wie Fichte geschaffen hatte, nicht anders zu der Nation sprechen, als es in diesen Reden geschehen ist. Wieder kommt weniger in Betracht, was Fichte in diesen Reden gesagt hat, als vielmehr, wie Deutschheit durch sie vor das Bewußtsein des Volkes sich stellte. Ein Denker, der in seiner Weltanschauung weit entfernt von Fichtes Gedan­kengängen ist, Robert Zimmermann, muß die Worte spre­chen: «So lange in Deutschland ein Herz schlägt, das die Schmach fremder Zwingherrschaft zu fühlen vermag, wird das Andenken des Mutigen fortleben, der im Moment der tiefsten Erniedrigung, . . . mitten in dem von Franzosen besetzten Berlin, vor Augen und Ohren der Feinde, unter Spionen und Angebern, die von außen durchs Schwert geknickte Kraft des deutschen Volkes von innen durch den Geist wieder aufzurichten und in demselben Augenblicke, da die politische Existenz desselben für immer vernichtet zu sein schien, durch den begeisterten Gedanken allgemeiner Erziehung ein solches in künftigen Generationen neu zu erschaffen unternahm.»

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Man braucht nicht die Absicht zu haben, sentimentalische Gefühle wachzurufen, wenn man zur Kennzeichnung der Eigenart, wie Fichte mit dem tiefsten Wesen des Deutsch-Seins verbunden ist, die letzten Stunden im Leben des Den­kers schildert. - Fichtes Frau, die wahrhaft seiner nicht nur würdige, die seiner Größe voll gewachsene Lebensgefährtin, hatte fünf Monate lang unter den schwierigsten Verhält­nissen Lazarettdienste geleistet und sich dabei das Lazarettfieber geholt. Die Gattin genas. Fichte selber verfiel der Krankheit und erlag ihr. Der Sohn hat die Art von Fichtes Sterben geschildert. Die letzte Nachricht, welche der Ster­bende empfing, war die durch den Sohn überbrachte von Blüchers Übergang über den Rhein, vom Vordringen der Verbündeten gegen den französischen Feind. Die dem Leibe des Denkers sich entwindende Seele lebte ganz in der innigen Freude über dieseEreignisse; und als das früher eisig-scharfe Denken bei dem Sterbenden in Fieberphantasien überging, da fühlte er sich mitten unter den Kämpfenden. Wie steht das Bild des Philosophen vor der Seele, der - bis in die schon das Bewußtsein trübenden Fieberphantasien hinüber -wie die sich offenbarende Wesenheit des Willens und Wir­kens seines Volkes ist! Und wie ist in Fichte der deutsche Philosoph eins mit jeder Lebensregung des ganzen Menschen. Der Sohn reicht dem Sterbenden eine Arznei. Dieser schiebt das Dargereichte sanft zurück; er fühlt sich ganz eins mit der weltgeschichtlichen Wirksamkeit seines Volkes. In sol­chem Fühlen beschließt er sein Leben mit den Worten: Ich bedarf keiner Arznei; ich fühle, daß ich genesen bin. Er war «genesen» im Gefühle, des deutschen Wesens Erhebung in der Seele mitzuerleben.

Man darf aus dem Aufblicke zu Fichtes Persönlichkeit

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die Kraft holen, über deutsches Wesen zu sprechen. Denn sein Streben war, dieses Wesen bis in die Quellen seiner Eigenart als wirksame Kraft regsam zu machen. Und klar tritt bei Betrachtung seiner Persönlichkeit zutage, daß er seine eigene Geistesarbeit mit den tiefsten Wurzeln des deutschen Wesens verbunden fühlte. Diese Wurzeln selbst aber suchte er in den Gründen des Geisteswaltens, das er hinter allem äußeren, den Sinnen zugänglichen Weltgetriebe schaute. Er konnte sich deutsches Wirken nicht denken ohne einen Zusammenhang dieses Wirkens mit der die Welt durchleuchtenden und durchwärmenden Geistigkeit. Er sah das Wesen der Deutschheit in dem Hervorquellen der Lebensäußerungen des Volkes aus dem Urquell des ur­sprünglich geistig Lebendigen. Und was er selbst als Welt­anschauung verstand, die aus diesem Urquell im Sinne der deutschen Art hervorgeht, darüber sprach er sich so aus:

«Zeit und Ewigkeit und Unendlichkeit erblickt sie - diese Weltanschauung - in ihrer Entstehung aus dem Erscheinen und Sichtbarwerden jenes Einen, das an sich schlechthin unsichtbar ist, und nur in dieser seiner Unsichtbarkeit erfaßt, richtig erfaßt wird.» - «Alles als nicht geistiges Leben erscheinende beharrliche Dasein ist nur ein aus dem Sehen hingeworfener, vielfach durch das Nichts vermittelter leerer Schatten, im Gegensatz mit welchem und durch dessen Erkenntnis als vielfach vermitteltes Nichts das Sehen selbst sich erheben soll zum Erkennen seines eigenen Nichts und zur Anerkennung des Unsichtbaren als des einzigen Wahren.»

Alle wahrhaft deutschen Lebensäußerungen so aus dein Quell des geistigen Lebens heraus zu erfassen und die Worte, mit denen er von diesen Lebensäußerungen spricht,

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selber aus diesem Quell heraus zu empfangen, sucht Fichte in seinen «Reden an die deutsche Nation». - Man wird vielleicht mit besonderen Gefühlen bei einer Stelle dieser «Reden» Halt machen, wenn man sich aus Ton und Innig­keit derselben mit der Empfindung durchdrungen hat: Wie steht doch dieser Mann mit seiner ganzen Seele in dem Anschauen des geistigen Wesens der Welt darinnen! Wie ist für ihn dieses Drinnenstehen in der geistigen Welt mit seiner Seele eine so unmittelbare Wirklichkeit wie für den äußeren Menschen das Drinnenstehen in der stofflichen Welt durch die Sinne! Man mag über die Kennzeichnung seiner Zeit, wie sie Fichte in den «Reden» entwickelt, wie immer denken; wenn man von dieser Kennzeichnung ver­nimmt durch seine Worte, kann es nicht darauf ankommen, ob man mit dem Gesagten einverstanden ist oder nicht, sondern darauf, welchen Zauberhauch menschlicher Gesin­nungsart man verspürt. - Fichte redet von der Zeit, welche er heraufzuführen mithelfen möchte. Er gebraucht einen Vergleich. Und dieser Vergleich ist es, bei dem man in angedeutetem Sinne mit seinen Gefühlen festgehalten wird. Er sagt: «Die Zeit erscheint mir wie ein leerer Schatten, der über seinem Leichname, aus dem soeben ein Heer von Krankheiten ihn herausgetrieben, steht und jammert, und seinen Blick nicht loszureißen vermag von der ehedem so geliebten Hülle, und verzweifelnd alle Mittel versucht, um wieder hineinzukommen in die Behausung der Seuchen. Zwar haben schon die belebenden Lüfte der anderen Welt, in die die abgeschiedene eingetreten, sie aufgenommen in sich, und umgeben sie mit warmem Liebeshauche, zwar begrüßen sie schon freudig heimliche Stimmen der Schwe­stern und heißen sie willkommen, zwar regt es sich schon

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und dehnt sich in ihrem Innern nach allen Richtungen hin, um die herrlichere Gestalt, zu der sie erwachsen soll, zu entwickeln: aber noch hat sie kein Gefühl für diese Lüfte, oder Gehör für diese Stimmen, oder wenn sie es hätte, so ist sie aufgegangen in Schmerz über ihren Verlust, mit welchem sie zugleich sich selbst verloren zu haben glaubt.»

Die Frage liegt doch nahe: wie ist eine Seele gestimmt, die bei einer Betrachtung über die Zeit und den Zeitenwandel zu solch einem Vergleich getrieben wird? Fichte redet da über das Dasein der menschlichen Seele nach ihrer Abtrennung vom Leibe durch den Tod, wie sonst ein Mensch über einen stofflichen Vorgang redet, der sich vor seinen Sinnen abspielt. Gewiß, Fichte gebraucht einen Ver­gleich. Und ein Vergleich darf nicht so ausgenutzt werden, daß man durch ihn etwas erweisen möchte für eine bedeu­tungsvolle Ansicht des Menschen, der den Vergleich aus­spricht. Aber der Vergleich deutet auf eine Vorstellung, die in der Seele des Vergleichenden lebt im Hinblick auf einen Gegenstand oder Vorgang. Hier im Hinblick auf das Er­leben der Menschenseele nach dem Tode. Ohne etwas be­haupten zu wollen darüber, wie Fichte über die Geltung einer solchen Vorstellung sich ausgesprochen haben würde, wenn er im Zusammenhange seiner Weltanschauung dies getan hätte, kann man sich doch diese Vorstellung vor die Seele führen. Fichte spricht von der Menschenseele als von einem dem Leibe gegenüber so selbständigen Wesen, daß sich dieses Wesen im Tode von dem Leiblichen lostrennt und bewußt hinzuschauen vermag auf den abgetrennten Leib wie der Mensch in der Sinnenwelt auf einen Gegenstand oder Vorgang mit seinen Augen hinschaut. Es wird außer auf dieses Hinschauen auf den verlassenen Leib auch noch

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auf die neue Umgebung gedeutet, in welche die Seele ein­tritt, wenn sie sich vom Leibe getrennt hat. Diejenige neuere Form der Geisteswissenschaft, welche über diese Dinge auf Grund gewisser Seelenerlebnisse redet, darf etwas Bedeut­sames in diesem Fichteschen Vergleich finden. Was diese Geisteswissenschaft anstrebt, ist eine Erkenntnis über die geistigen Welten ganz im Sinne der Erkenntnisart, welche durch die neuere Naturwissenschaft über die natürliche Welt als berechtigt anerkannt wird. Zwar wird diese Form von Geisteswissenschaft gegenwärtig von vielen noch als eine Träumerei, als wilde Phantastik angesehen; aber so erging es bei vielen doch auch lange mit der den Sinnen wider-sprechenden Anschauung von dem Umlauf der Erde um die Sonne. Wesentlich ist, daß diese Geisteswissenschaft eine wirkliche Erkennbarkeit der geistigen Welt zu ihrer Grund­lage hat. Eine Erkennbarkeit, welche nicht auf erdachten Begriffen, sondern auf wirklich zu erringenden Erlebnissen der Menschenseele beruht. Wie derjenige nichts von den Eigenschaften des Wasserstoffs wissen kann, der nur Wasser kennt, in dem der Wasserstoff drinnen steckt, so kann der­jenige nichts wissen von dem wahren Wesen der Menschen-seele, der diese nur so erlebt, wie sie in Verbindung mit dem Leibe ist. Doch führt die Geisteswissenschaft dazu, daß das Geistig-Seelische sich für seine eigene Wahrnehmung von dem Physisch-Leiblichen loslöst, wie durch die Methoden des Chemikers der Wasserstoff sich von dem Wasser loslösen läßt. Es geschieht solche Loslösung der Seele nicht durch falsche mystische Phantastik, sondern durch streng gesundes verstärktes inneres Erleben gewisser Seelenfähig­keiten, die zwar in jeder Seele immer vorhanden sind, die aber im gewöhnlichen Leben und in der gewöhnlichen

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Wissenschaft unbemerkt und unberücksichtigt bleiben. Durch solches Verstärken und Beleben von Seelenkräften kann die Menschenseele zu einem inneren Erfahren kommen, in dem sie eine geistige Welt schaut, wie sie mit den Sinnen die stoffliche Welt schaut. Sie weiß sich dann in der Tat «außer­halb des Zusammenhanges mit dem Leibe» und ausgerüstet mit dem, was man - um Goethesche Ausdrücke zu gebrau­chen - «Geistesaugen» und «Geistesohren» nennen kann. Geisteswissenschaft redet von diesen Dingen durchaus nicht in einem falsch-mystischen Sinne, sondern so, daß ihr das Fortschreiten von der gewöhnlichen Anschauung der Sinnen­welt zu dem Anschauen der geistigen Welt zu einem in dem Wesen der Menschennatur gelegenen bestimmten Vorgang wird, den man allerdings durch eigenes inneres Erleben, durch eine bestimmt gerichtete Selbstbetätigung der Seele hervorrufen muß. Aber auch mit Bezug darauf darf sich Geisteswissenschaft im Einklang mit Fichte fühlen. Als der 1813 im Herbst seine «Lehre» als reife Frucht seines Geistes­strebens vor Zuhörern vortrug, sprach er einleitend das Folgende: «Diese Lehre setzt voraus ein ganz neues inneres Sinneswerkzeug, durch welches eine neue Welt gegeben wird, die für den gewöhnlichen Menschen gar nicht vor­handen ist.» Fichte meint damit durchaus nicht ein «Organ», das nur für «auserlesene», nicht für «gewöhnliche Men­schen» vorhanden sei, sondern ein «Organ», das jeder erwerben kann, das aber für das gewöhnliche Erkennen und Wahrnehmen des Menschen nicht zum Bewußtsein kommt. Mit solch einem «Organ» ist der Mensch nun wirklich in einer geistigen Welt und vermag über das Leben in dieser Welt zu sprechen wie durch seine Sinne über stoffliche Vorginge. Wer in diese Lage sich versetzt, dem wird es naturgemäß,

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über das Leben der Seele zu sprechen, wie es in dem angeführten Fichteschen Vergleich geschieht. Fichte macht den Vergleich nicht aus einem allgemeinen Glauben heraus, sondern durch ein erlebtes Drinnenstehen in der geistigen Welt. Man muß in Fichte eine Persönlichkeit empfinden, welche in jeder Lebensregung sich bewußt eins fühlt mit dem Walten einer geistigen Welt, und die sich in dieser Welt darinnen stehend erschaut wie der Sinnesmensch in der stofflichen Welt. Daß dies nun die Seelenstimmung ist, die er dem deutschen Grundzug seiner Weltanschauung dankt, spricht Fichte deutlich aus. Er sagt: «Die wahre in sich selbst zu Ende gekommene und über die Erscheinung hinweg wahrhaft zum Kerne derselben durchgedrungene Philo­sophie . . . geht aus von dem einen, reinen, göttlichen Leben - als Leben schlechtweg, welches es auch in alle Ewigkeit, und darin immer eines bleibt, nicht aber als von diesem oder jenem Leben; und sie sieht, wie lediglich in der Erscheinung dieses Lebens unendlich fort sich schließe und wiederum öffne, und erst diesem Gesetze zufolge es zu einem Sein, und zu einem Etwas überhaupt komme. Ihr entsteht das Sein, was jene (Fichte meint hier die undeutsche Philosophie) sich vorausgeben läßt. Und so ist denn diese Philosophie (Fichte meint diejenige, zu der er sich bekennt) recht eigentlich nur deutsch, d. i. ursprünglich; und um­gekehrt, so jemand nur ein wahrer Deutscher würde, so würde er nicht anders denn so philosophieren können.»

Unrecht wäre es, diese Worte Fichtes zur Kennzeichnung seiner Seelenstimmung anzuführen, ohne zugleich an die anderen zu erinnern, die er in demselben Redezusammenhang gesprochen hat: «Was an Geistigkeit und Freiheit dieser Geistigkeit glaubt und die ewige Fortbildung dieser

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Geistigkeit durch Freiheit will, das, wo es auch geboren ist, und in welcher Sprache es rede, ist unseres Geschlechts, es gehört uns an und es wird sich zu uns tun.» - In der Zeit, als Fichte das deutsche Volkstum bedroht sah von westlicher Fremdherrschaft, fühlte er die Notwendigkeit, zu bekennen, daß er das Wesenhafte seiner Weltanschauung als eine ihm wie vom deutschen Volksgeiste gereichte Gabe empfand. Und er brachte rückhaltlos zum Ausdruck, daß ihn diese Empfindung zur Erkenntnis der Aufgaben geführt habe, die er innerhalb der Menschheitentwickelung dem deutschen Volke in dem Sinne zuerkennen dürfe, daß der Deutsche zu allem, was er im Völkerzusammenhange beabsichtige und vollbringe, sein Recht und seinen Beruf von der Er­kenntnis dieser Aufgaben herleiten dürfe. Daß er in dieser Erkenntnis den Quell suchen dürfe, aus dem ihm die Kraft fließt, als Deutscher mit dem Seinigen in diese Entwickelung einzugreifen.

Wer in der gegenwärtigen Zeit Fichtes Seelenstimmung in das Leben der eigenen Seele aufgenommen hat, der wird in der Weltanschauung dieses Denkers eine Kraft finden, die ihn bei dieser Weltanschauung nicht stehenbleiben läßt. Die ihn in seinem Streben nach Geistigkeit zu einem Ge­sichtspunkte führt, der die Zusammenhänge des Menschen mit der Welt anders zeigt, als sie Fichte dargestellt hat. Er wird an Fichte die Fähigkeit gewinnen können, die Welt anders zu sehen, als sie Fichte gesehen hat. Und er wird eben diese Art, Fichte'isch zu streben, als innige Verwandt­schaft mit diesem Denker empfinden. Ein solcher wird gewiß auch den Erziehungsplan, den Fichte in seinen «Reden an die deutsche Nation» als den ihm heilsam erscheinenden kennzeichnete, zu den Idealen zahlen, für die er unbedingt

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eintreten möchte. Und so ist es mit vielem, was Fichte als Inhalt seiner Anschauungen zur Geltung bringen wollte. Wie ein gegenwärtig noch in voller Frische fließender Quell aber wirkt die Seelenstimmung, die sich von ihm aus der Seele mitteilt, die mit ihm sich zusammenfinden kann. Seine Weltanschauung erstrebt die stärkste Anspannung der Ge­dankenkräfte, welche die Seele in sich finden kann, um in dem Menschen das zu entdecken, was als «höheren Men­schen» im Menschen dessen Wesenheit im Zusammenhange zeigt mit der Geistesgrundlage derjenigen Welt, die über alle Sinneserfahrung hinaus liegt. Sicherlich ist dies die Art jedes Weltanschauungsstrebens, das nicht in der Sinneswelt selbst die Grundlage alles Seins erblicken will. Aber Fichtes Eigenart liegt in der Kraft, die er aus den Tiefen des Men­schenwesens heraus dem Gedanken geben will. Damit dieser Gedanke durch sich selbst die Festigkeit finde, die ihm in der geistigen Welt Gewicht verleiht. Ein Gewicht, das ihn in den Gebieten des Seelenlebens erhält, in dem die Seele die Ewigkeit ihres Erlebens erfühlen, ja so erwollen kann, daß dieses Wollen sich mit dem ewigen Geistesleben ver­bunden wissen darf.

So strebt Fichte nach «reinem Menschentum» in seiner Weltanschauung. Er darf sich eins wissen in diesem Streben mit allem Menschlichen, wo und wie es auch jemals auf der Erde auftritt. Und in schicksalsschwerer Zeit spricht Fichte das Wort aus: «So jemand nur ein wahrer Deutscher würde, so würde er nicht anders denn so philosophieren können.» Und durch alles, was er in den «Reden an die deutsche Nation» sagt, klingt dieses Gedankens Erweiterung wie ein Grundton durch: So jemand nur ein wahrer Deutscher ist, wird er aus seiner Deutschheit heraus den Weg finden, auf

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dem ein Verständnis aller menschlichen Wirklichkeit reifen kann. Denn nicht etwa denkt Fichte, daß er nur die Welt­anschauung im Lichte dieses Gedankens sehen dürfe. Weil er Denker ist, gibt er als Beispiel, was für ein Denker er durch seine Deutschheit werden mußte. Aber er ist der Meinung, daß sich dieses Grundwesen der Deutschheit in jedem Deutschen aussprechen müsse, wo er auch seinen Platz im Leben habe.

Das Recht, gegenwärtig so über das Deutschtum zu spre­chen, wie es Fichte getan hat, will die Leidenschaft des Krieges den Deutschen absprechen. Aus dieser Leidenschaft heraus sprechen auch Persönlichkeiten der mit den Deutschen im Kriege lebenden Länder, die im geistigen Leben dieser Länder eine hohe Stufe einnehmen. Philosophen gebrauchen die Kraft ihres Denkens, um - im Einklang mit der Tages-meinung - das Urteil zu erhärten, daß das deutsche Volks­tum selber jenem Wollen, das in Persönlichkeiten von der Art Fichtes lebte, sich entfremdet habe, und verfallen sei dem, was mit dem beliebt gewordenen Worte «Barbarei» bezeichnet wird. Und wenn der Deutsche den Gedanken äußert, daß dieses Volkstum doch Menschen dieser Art erzeugt habe, dann wird wohl die Äußerung solchen Ge­dankens als höchst überflüssig bezeichnet. Denn man möchte wohl erwidern, von alle dem sei nicht die Rede. Daß die Deutschen Goethe, Fichte, Schiller und so weiter in ihrer Mitte gehabt haben, wisse man zu würdigen; allein deren Geist spreche nicht aus dem, was die Deutschen in der Gegenwart vollbringen. Und so werden die leidenschaft­lichen Kritiker des deutschen Wesens wohl gar die Worte finden können: Warum sollten sich aus der träumerischen Art der Deutschen heraus - die wir ja immer richtig eingeschätzt

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haben - nicht auch heute noch Träumer finden, welche auf die Worte, mit denen wir dem begegnen, was uns die deutschen Waffen tun, antworten mit einer Kenn­zeichnung des deutschen Wesens, das ihnen ihr Fichte in einer ihnen verlorenen Vergangenheit gegeben hat; und welche Kennzeichnung er aber wohl selbst ändern würde, sähe er, wie deutsche Art heute ist.

Es werden Zeiten kommen, die ein ruhiges Urteil darüber gewinnen werden, ob die aus der Leidenschaft gesprochene Verurteilung deutschen Wollens nicht dem blinden Rausche entspricht, der sich in seinem Wirklichkeitswert dem Traume gleichsetzt, und ob nicht etwa daneben die «Träumerei», die über gegenwärtiges deutsches Wollen noch immer in Fichtes Art spricht, jenen Wachzustand bedeute, der zwischen sich und die Ereignisse nicht die wirklichkeitfeindlichen Leiden­schaften schiebt, die das Urteil einschläfern.

Aus keinem anderen Geiste heraus wirkend als aus dem, in dessen Namen Fichte sprach, kann dem Deutschen das Wollen erscheinen, welches das deutsche Volk entwickeln muß in dem Kampfe, den ihm die Feinde Deutschlands aufgezwungen haben. Wie in einer weit ausgedehnten Festung halten die Gegner den Körper umschlossen, welcher der Ausdruck dessen ist, was Fichte als den deutschen Geist kennzeichnete. Jenen Geist, für den der deutsche Krieger sich als Kämpfer empfindet, ob er es in bewußter Erkennt­nis dieses Geistes tut, ob er aus den unterbewußten Kräften seiner Seele heraus sich in den Kampf stellt.

«Wer hat diesen Krieg gewollt?» so lautete eine dem Deutschen von vielen Gegnern gestellte Frage, die wie als selbstverständliche Antwort voraussetzte, daß die Deutschen ihn gewollt haben. Doch auf solche Frage darf nicht Leidenschaft

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antworten. Auch nicht das Urteil, das nur aus den Tatsachen schließen will, die in allerletzter Zeit dem Kriege vorangegangen sind. Was in dieser allerletzten Zeit geschehen ist, wurzelt tief in den Strömungen europäischer Willensimpulse. Und Antwort der obigen Frage kann nur gesucht werden in den seit lange gegen das Deutschtum eingestellten Impulsen.

Auf solche Impulse nur soll hier gedeutet werden, die, ihrem allgemeinen Wesen nach, so bekannt sind, daß es völlig überflüssig scheinen kann, über sie zu sprechen, wenn man über die Entstehungsursachen des gegenwärtigen Krie­ges etwas sagen will. Es gibt aber zwei Gesichtspunkte, von denen aus das scheinbar Überflüssige doch wünschenswert erscheinen kann. Der eine ergibt sich, wenn man bedenkt, daß es sich bei Bildung eines Urteiles über wichtige Tat­sachen nicht allein darum handeln kann, daß man etwas weiß, sondern darum, aus welchen Grundlagen heraus man sich das Urteil bildet. Zum zweiten Gesichtspunkt wird man bei der Betrachtung von Völker-Impulsen geführt, wenn man erkennen will, in welcher Art sie in dem Leben der Völker wurzeln. Aus dem Einblick in diese Art ergibt sich eine Empfindung über die Stärke, mit der diese Impulse in der Zeit fortleben und im ihnen günstigen Augenblicke zur Wirksamkeit kommen.

Ernest Renan ist einer der führenden Geister Frankreichs in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Die­ser Verfasser eines «Lebens Jesu» und der «Apostel» schrieb in einem öffentlichen Briefe während des Krieges im Jahre 1870 an den deutschen Verfasser eines «Lebens Jesu», David Friedrich Strauß: «Ich war im Seminar zu St. Sulpice, ums Jahr 1843, als ich anfing, Deutschland kennenzulernen

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durch die Schriften von Goethe und Herder. Ich glaubte in einen Tempel zu treten, und von dem Augenblick an machte mir alles, was ich bis dahin für eine der Gottheit würdige Pracht gehalten hatte, nur noch den Eindruck welker und vergilbter Papierblumen.» Weiter schreibt der Franzose in demselben Briefe: «in Deutschland» habe sich «seit einem Jahrhundert eine der schönsten geistigen Entwickelungen vollzogen, welche die Geschichte kennt, eine Entwickelung, die, wenn ich den Ausdruck wagen darf, dem menschlichen Geist an Tiefe und Ausdehnung eine Stufe zugesetzt hat, so daß, wer von dieser neuen Entwickelung unberührt geblie­ben, zu dem, der sie durchgemacht hat, sich verhält, wie einer, der nur die Elementarmathematik kennt, zu dem, der im Differentialcalcül bewandert ist». Und dieser füh­rende Franzose bringt in demselben Briefe klar zum Aus­druck, was dieses Deutschland, dessen Geistesleben gegen­über ihm «alles, was» er «bis dahin für eine der Gottheit würdige Pracht gehalten hatte, nur noch den Eindruck welker und vergilbter Papierblumen» machte, von den Franzosen zu gewärtigen habe, wenn es nicht den da­maligen Krieg mit einem Renans Landesgenossen genehmen Frieden abschließe. Er schreibt: «Die Stunde ist feierlich. Es gibt in Frankreich zwei Strömungen der Meinung. Die einen urteilen so: Machen wir diesem verhaßten Handel so rasch wie möglich ein Ende; treten wir alles ab, Elsaß, Lothringen; unterzeichnen wir den Frieden; dann aber Haß auf den Tod, Vorbereitungen ohne Rast, Allianz mit wem es sich trifft, unbegrenzte Nachgiebigkeit gegen alle russischen Anmaßungen; ein einziges Ziel, eine einzige Triebfeder für das Leben: Vertilgungskampf gegen die germanische Rasse. Andere sagen: Retten wir Frankreichs

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Integrität, entwickeln wir die konstitutionellen Einrich­tungen, machen wir unsere Fehler gut, nicht indem wir Rache träumen für einen Krieg, worin wir die ungerechten Angreifer waren, sondern indem wir mit Deutschland und England ein Bündnis schließen, dessen Wirkung sein wird, die Weit auf dem Wege der freien Gesittung weiterzu­führen.» Renan macht selbst aufmerksam darauf, daß Frankreich in dem damaligen Kriege der ungerechte An­greifer war. Und so ist es nicht notwendig, die leicht er­weisliche geschichtliche Tatsache vorzubringen, daß Deutsch-land jenen Krieg führen mußte, um den ständigen Ruhestörer seiner Arbeit in seine Grenzen zu weisen. Man kann nun davon absehen, inwiefern Deutschland Elsaß-Lothringen als Gebiet verwandter Stämme anstrebte; man braucht nur die Notwendigkeit zu betonen, in die Deutschland dadurch versetzt war, daß es sich Ruhe vor den Franzosen nur ver­schaffen konnte, wenn es mit dem elsässisch-lothringischen Gebiet dem Nachbarn die Möglichkeit nahm, diese Ruhe künftig so leicht zu stören, als es vorher oft geschehen war. Damit aber war der zweiten Strömung in Frankreich, von der Renan spricht, ein Hemmschuh angelegt; nicht sie hatte Aussicht für ihr Ziel, «die Welt auf dem Wege freier Gesittung weiterzuführen», sondern die andere, deren «ein­ziges Ziel, einzige Triebfeder» für das Leben war: «Ver­tilgungskampf gegen die germanische Rasse» . Es gab Men­schen, welche in manchem, das seit dem Kriege von 1870 geschehen ist, Anzeichen zu erkennen glaubten davon, daß eine Überbrückung der Gegensätze auf friedlichem Wege möglich sei. Stimmen, die in diesem Ton erklangen, konn­ten im Laufe der letzten Jahre viele gehört werden. Doch der gegen das deutsche Volk gerichtete Impuls lebte fort,

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und lebendig blieb die Triebfeder: «Allianz mit wem es sich trifft, unbegrenzte Nachgiebigkeit gegen alle russischen An­maßungen;.. . Vertilgungskampf gegen die germanische Rasse.» Aus demselben Geiste heraus ertönt es gegenwärtig wieder durch so manchen führenden Geist Frankreichs. Renan setzt seine Betrachtung über die geschilderten zwei Strömungen im französischen Volke fort mit den Worten:

«Deutschland wird entscheiden, ob Frankreich diese oder jene Politik wählen wird; es wird damit zugleich über die Zukunft der Gesittung entscheiden.» Man muß diesen Satz wirklich erst in den deutschen Sinn umsetzen, um ihn recht zu würdigen. Er besagt: Frankreich hat sich in dem Kriege als ungerechter Angreifer erwiesen; falls Deutschland nach einem Siege über Frankreich nicht einen Frieden schließt, der Frankreich ungehindert in der Lage läßt, ein solcher ungerechter Angreifer wieder zu werden, sobald es ihm gefällt, dann entscheidet Deutschland sich gegen die Ge­sittung der Zukunft. Was aus solcher Auffassung heraus sich für «Haß auf den Tod, Vorbereitungen ohne Rast, Allianz mit wem es sich trifft, unbegrenzte Nachgiebigkeit gegen alle russischen Anrnaßungen», was sich für die «ein­zige Triebfeder für das Leben: Vertilgungskampf gegen die germanische Rasse» entscheidet, das und nichts anderes liefert die Grundlage zu einer Antwort auf die Frage: «Wer hat diesen Krieg gewollt?»

Ob sich die «Allianz» finden werde, auch darauf gaben Menschen, welche die gegen das Deutschtum gerichteten Impulse ins Auge zu fassen vermochten, schon damals Ant­wort, als Renan in dem gekennzeichneten Sinne sich aus­sprach. Ein Mann, der aus der damaligen Gegenwart einen Vorblick in die Zukunft Europas sucht, Carl Vogt, schreibt

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während des Krieges von 1870: «Es ist möglich, daß auch bei einer Schonung des Territoriums Frankreich die ge­botene Gelegenheit ergreifen wird, um die Scharte wieder auszuwetzen; es ist wahrscheinlich, daß es bei Nicht­-Annexion übergenug mit seinen inneren Angelegenheiten zu tun haben und an einen erneuten Krieg um so weniger denken wird, als eine gewaltige Friedensströmung in den Gemütern Platz greifen muß; es ist gewiß, daß es jede Rücksicht beiseite setzen wird, wenn eine Annexion statt­finden sollte. Welche Chance soll nun der Staatsmann wählen? - Es ist leicht ersichtlich, daß die Antwort auf diese Frage auch von der Ansicht abhängt, welche man über die bevorstehenden europäischen Konflikte hat. Für sich allein wird Frankreich auch in längerer Zeitfrist nicht wagen, den Kampf aufs neue gegen Deutschland zu be­stehen, dafür sind die Schläge zu vollwichtig und gründlich gewesen, - sobald aber ein anderer Feind ersteht, wird es die Frage sich vorlegen können, ob es imstande ist einzu­treten und auf wessen Seite. - Was mich nun betrifft, so bin ich keinen Augenblick im Zweifel, daß ein Konflikt zwi­schen der germanischen und slawischen Welt bevorsteht . . . und daß Rußland in demselben die Führerschaft auf der einen Seite übernehmen wird. Diese Macht bereitet sich schon jetzt auf die Eventualität vor; die national-russische Presse speit Feuer und Flammen gegen Deutschland Die deutsche Presse läßt schon ihre Warnungsrufe erschallen. Seitdem nach dem Krimkriege Rußland sich sammelte, ist eine lange Zeit verflossen, und wie es scheint, wird jetzt in Petersburg zweckmäßig gefunden, die orientalische Frage wieder einmal aufzunehmen Wenn das Mittelmeer einst, nach dem mehr pompösen als wahren Ausdruck, ein

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werden sollte, so hat Rußland die noch viel positivere Absicht, aus dem Schwarzen Meere einen russischen See und aus dem Marmarameere einen russischen Teich zu machen. Daß Konstantinopel eine russische Stadt . . . werden musse, ist ein feststehender Zielpunkt , die ihren in dem findet.» (Carl Vogts Politische Briefe. Biel, 1870.) Diesem Urteile Carl Vogts über das, was er für Europa voraussieht, könnten die nicht weniger anderer Persönlichkeiten zugefügt werden, die aus der Betrachtung europäischer Wollensrichtungen gewonnen sind. Sie würden, worauf hier gedeutet werden soll, eindringlicher machen und doch von der gleichen Tatsache sprechen: daß ein Beobachter dieser Wollensrichtungen bereits 1870 nach dem Osten Europas weisen mußte, wenn er sich die Frage beant­worten wollte: Wer wird über kurz oder lang einen Krieg gegen Mitteleuropa führen wollen? Und auf Frankreich mußte sein Blick fallen, wenn er frug: Wer wird mit Ruß­land zusammen diesen Krieg gegen Deutschland führen wollen? Vogts Stimme kommt besonders in Betracht, weil er in dem Briefe, in dem er so spricht, Deutschland manche Unfreundlichkeit sagt. Der Voreingenommenheit für Deutschland kann er wahrlich nicht geziehen werden. Aber beweisend sind seine Worte dafür, daß die Frage: Wer wird diesen Krieg wollen? von den Tatsachen längst beantwortet war, bevor diejenigen Ursachen wirkten, die Deutschlands Gegner so gerne als Antwort hören möchten, indem sie die Frage aufwerfen: Wer hat diesen Krieg gewollt? Daß es über vierzig Jahre von damals bis zum Ausbruch des Krieges dauerte, ist nicht Frankreichs Ver­dienst.

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In dem russischen Geistesleben des neunzehnten Jahr­hunderts treten Gedankenrichtungen zutage, die das gleiche Antlitz tragen wie der Kriegswille, der sich gegenwärtig von Osten her gegen Mitteleuropa entladen hat. Inwieweit diejenigen Personen im Rechte sind, die behaupten, der Hinweis auf derartige Gedankenrichtungen sei unange­bracht, kann auch der wissen, der in solchem Hinweis den rechten Weg zum Verständnisse der in Betracht kommenden Ereignisse sieht. Was man im gewöhnlichen Sinne die «Ur­sachen» dieser Ereignisse nennt, kann ganz gewiß nicht in solchen Gedankenrichtungen einzelner - sogar heute nicht mehr lebender - Menschen gesucht werden. Mit Bezug auf diese Ursachen werden gewiß diejenigen einmal manche Zustimmung finden, die zeigen werden, daß bei einer An­zahl Personen diese Ursachen liegen, auf die sie dann hin­weisen werden. Gegen diese Art, die Sache anzusehen, soll nichts eingewendet, ihr ihre volle Berechtigung nicht bestritten werden. Doch ein anderes, nicht weniger Berech­tigtes ist die Erkenntnis der im geschichtlichen Werden wirksamen Kräfte und Triebfedern. Die Gedankenrich­tungen, auf die hier gedeutet wird, sind nicht diese Trieb­federn; aber diese Triebfedern zeigen sich an und in den Gedankenrichtungen. Wer die Gedankenrichtungen erkennt, hält in seiner Erkenntnis die in den Volkskräften liegenden Wesenheiten fest. Auch daß mit einem gewissen Rechte von vielen behauptet wird, die in Frage kommenden Gedankenrichtungen seien gegenwärtig nicht mehr lebendig, kann nicht eingewendet werden. Was im Osten lebendig ist, flackerte in Denkerseelen auf, formte sich damals zu Ge­danken und lebt gegenwärtig - in anderer Form - im Kriegswillen.

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Was da auffiackerte, ist die Idee von der besonderen Mission des russischen Volkes. In Betracht kommt die Art, wie diese Idee zur Geltung gebracht wird. In ihr lebt der Glaube, daß das westeuropäische Geistesleben in den Zu­stand der Greisenhaftigkeit, des Niederganges eingetreten sei, und daß der russische Volksgeist berufen sei, eine voll­ständige Erneuerung, Verjüngung dieses Geisteslebens zu bewirken. Diese Verjüngungsidee wächst sich aus zu der Meinung, daß alles geschichtliche Werden der Zukunft zusammenfalle mit der Sendung des russischen Volkes. Chomiakow bildet schon in der ersten Hälfte des neun­zehnten Jahrhunderts diese Idee zu einem umfassenden Lehrgebäude aus. In einem Werke, das erst nach seinem Tode herausgekommen ist, findet sich dieses Lehrgebäude. Es ist getragen von dem Glauben, daß die westeuropäische Geistesentwickelung im Grunde nie darauf angelegt war, den Weg zum rechten Menschentum zu finden. Und daß das russische Volkstum erst diesen Weg finden müsse. Chomiakow sieht in seiner Art diese westeuropaische Geistesentwickelung an. In dieselbe ist, nach dieser Anschau­ungsart, zunächst eingeflossen das römische Wesen. Dies habe niemals inneres Menschentum in den Taten der Welt zu offenbaren vermocht. Es habe, im Gegenteil, dem mensch­lich Innerlichen die Formen der äußerlichen Menschen-satzungen aufgezwängt, und es habe verstandesmäßig-materialistisch gedacht, was im inneren Weben der Seele ergriffen werden sollte. Diese Äußerlichkeit im Erfassen des Lebens setzte sich, meint Chomiakow, im Christentum der westeuropäischen Völker fort. Deren Christentum lebe im Kopfe, nicht im Innersten der Seele. Was nun Westeuropa als Geistesleben hat, das haben, nach dem Glauben

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Chomiakows, die modernen «Barbaren» - nach ihrer Art wieder veräußerlichend, was innerlich leben sollte - aus Römertum und Christentum gemacht. Die Verinnerlichung werde nach der ihm von der geistigen Welt einverleibten höheren Mission das russische Volk zu bringen haben. - In einem solchen Lehrgebäude rumoren Empfindungen, deren vollständige Aus deutung ein ausführliches Kennzeichnen der russischen Volksseele notwendig machte. Eine solche Kenn­zeichnung würde auf Kräfte zu deuten haben, die in dieser Volksseele liegen, und die sie einmal veranlassen werden, aus ihrer inneren Kraft für sich selbst das entsprechend sich anzupassen, was im westeuropäischen Geistesleben waltet und was dann erst dem russischen Volke geben wird, wozu es in dem geschichtlichen Verlaufe reifen kann. Was die anderen Völker von dem Ergebnis dieser Reifung des russischen Volkes werden für sich fruchtbar machen, das sollte das russische Volk diesen Völkern überlassen. Es könnte sonst dem traurigen Mißverständnisse verfallen, eine Aufgabe, die es für sich zu erfüllen hat, alsWeltaufgabe aufzufassen, und ihr damit ihr Allerwesentlichstes zu neh­men. - Da es sich um das Rumoren der Empfindungen von einer solchen mißverstandenen Aufgabe handelt, verband sich eben die in Frage kommende Idee in den Köpfen, in denen sie auftrat, nur allzu häufig mit politischen Gedanken­richtungen, die erweisen, daß in diesen Köpfen diese Idee der Ausdruck derselben Triebkräfte ist, die in anderen Menschen von Osten her den Keim zu dem gegenwärtigen Kriegswillen legten. Wird man auch von dem liebens­würdigen, poetisch hochsinnigen Chomiakow einerseits sagen können, daß er die Erfüllung der russischen Sendung von einer friedlichen Geistesströmung erwartete, so darf

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doch auch daran erinnert werden, daß sich in seiner Seele diese Erwartung mit dem zusammenfand, was Rußland als kriegerischer Gegner Europas erreichen möchte. Denn man wird ihm gewiß nicht Unrecht tun, wenn man sagt, daß er 1829 als freiwilliger Husar amTürkenkriege deshalb teilnahm, weil er in dem, was Rußland damals tat, ein erstes Aufleuchten von dessen weltgeschichtlicher Sendung emp­fand. - Was in dem liebenswürdigen Chomiakow oft in poetischer Verklärung rumorte; es rumorte weiter; und in einem Buche Danilewskys «Rußland und Europa», das gegen das Ende des neunzehnten Jahrhunderts von einer Anzahl von Persönlichkeiten wie ein Evangelium über die Aufgabe Rußlands betrachtet wurde, sind die Triebkräfte zum Ausdruck gebracht, welche die «Geistesaufgabe des russischen Volkes» zur völligen Einheit verschmolzen dach­ten mit einem weit ausgreifenden Erobererwillen. Man braucht nur hinzublicken auf den Ausdruck, den diese Ver­schmelzung geistigen Wollens mit Angriffsabsichten gegen­über aller Welt gefunden hat, und man wird deutliche Sym­ptome dessen finden, auf was es zunächst auch vielen von denjenigen ankam, die Rußlands Sendung aus dem Wesen der geistigen Welt herleiten wollten. Es wird diese Sendung mit der Eroberung Konstantinopeis zusammengebracht, und von dem Willen, dem damit seine Richtung gewiesen wird, gefordert, daß er, ohne «Liebe und Haß» zu emp­finden, sich abstumpfe gegen alles Fühlen gegenüber «Roten oder Weißen, gegenüber Demagogen oder Despoten, gegen Legitime oder Revolutionäre, gegenüber Deutschen, Fran­zosen, Engländern oder Italienern...», daß er als «wahre Bundesgenossen» nur diejenigen ansehe, die Rußland in seinem Streben unterstützen. Es wird gesagt, daß besonders

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verderblich sei dem, was Rußland wollen müsse, «in Europa das Gleichgewicht der politischen Triebkräfte», und daß man «jede Verletzung dieses Gleichgewichtes» fördern müsse, «von welcher Seite sie auch kommen mag». «Es obliegt uns, für immer jedes Zusammengehen mit euro­päischen Interessen von uns zu weisen» .

Besonders kennzeichnend ist die Stellung, welche der feinsinnige russische Philosoph Wladimir Solowieff gegen­über diesen Gedanken- und Empfindungsrichtungen ein­genommen hat. Solowieff kann als eine der bedeutendsten Verkörperungen russischen Geisteswesens angesehen wer­den. In seinen Werken lebt schöne philosophische Kraft, edle geistige Aufschau, mystische Tiefe. Doch von der in den Köpfen seiner Landsgenossen rumorenden Idee der hohen Sendung des Russentums war auch er lange durch­drungen. Auch bei ihm fand sich diese Idee zusammen mit der anderen von der Abgelebtheit des Westeuropäertums. Für ihn war der Grund, warum Westeuropa der Welt nicht zum Offenbaren des vollen innersten Menschentums habe verhelfen können, der, daß dieses Westeuropa das Heil erwartet habe von der Entwickelung der im Menschen liegenden Eigenkräfte. Doch in solchem Streben aus den Eigenkräften des Menschen heraus, konnte Solowieff nur einen ungeistigen Irrweg sehen, von dem die Menschheit erlöst werden müsse dadurch, daß, ohne menschliches Zutun, durch ein Wunder sich aus anderen Welten geistige Kraft auf die Erde ergieße und daß dasjenige Volkstum, welches zum Empfangen dieser Kraft auserwählt sei, der Retter der verirrten Menschheit werde. In dem Wesen des russischen Volkes sah er dasjenige, was vorbereitet sei zum Empfangen solcher außermenschlicher Kraft und daher zum Retter des

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wahren Menschentums. Solowieffs Verwachsensein mit dem russischen Wesen brachte es dahin, daß in seiner Seele das Rumoren des russischen Ideales eine Zeitlang wohlwollend hinblicken mochte auf andere, die von diesem Rumoren gleichfalls besessen waren. Doch konnte dies nur sein, bis seine von echtem Idealismus erfüllte Seele zu der Emp­findung erwachte, daß dieses Rumoren auf der mißver­ständlichen Auffassung eines Zukunftideales für die eigene Entwickelung des russischen Volkes beruhte. Er machte die Entdeckung, daß viele andere gar nicht davon sprechen, welchem Ideale das russische Volk zu seinem eigenen Heile nachstrebe, sondern daß sie das russische Volk, wie es gegen­wärtig ist, selber zum Idole machen. Und durch diese Ent­deckung wurde Solowieff zu dem herbsten Kritiker der­jenigen, die unter der Flagge einer Sendung des russischen Volkes die gegen Westeuropa gerichteten Angreiferinstinkte wie heilsame Triebkräfte der ferneren Geistesentwickelung in den Willen der Nation einführten. Aus der Lehre des Buches Danilewskys «Rußland und Europa» starrte Solowieff die Frage entgegen: Warum muß Europa mit Besorgnis auf das blicken, was sich innerhalb der Grenzen Rußlands voll­zieht? Und in der Seele des Russen nimmt diese Frage die Form an: «Warum liebt uns Europa nicht?» Und Solowieff, der die russischen Angreiferinstinkte im Kleide der Ideen von der weltgeschichtlichen Mission Rußlands besonders in Danilewskys Buch ausgesprochen sah, fand in einer Kritik dieses Buches (1888) in seiner Art die Antwort auf diese Frage. Danilewsky hatte gemeint, «Europa fürchtet uns als den neuen und höheren Kulturtypus, welcher berufen ist, die Greisenhaftigkeit der romanisch-germanischen Zivi­lisation zu ersetzen». Dies führt Solowieff als den Glauben

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Danilewskys an. Und darauf erwidert er: «Dennoch führen sowohl der Inhalt des Buches Danilewskys wie auch seine späteren Zugeständnisse und diejenigen seines gleichgesinn­ten Freundes - gemeint ist Strachow, der für Danilewskys Ideen nach dessen Tode eintrat - auf eine andere Antwort: Europa blickt gegnerisch und mit Befürchtung auf uns, weil im russischen Volke dunkle und unklare elementarische Ge­walten leben, weil dessen geistige und Kulturkräfte ärmlich und ungenügend sind, dafür aber seine Ansprüche offenbar und scharf bestimmt zutage treten. Gewaltig tönen nach Europa hinaus die Rufe von dem, was das russische Volk als Nation wolle, daß es die Türkei und Österreich ver­nichten wolle, Deutschland schlagen, Konstantinopel und, wenn möglich, auch Indien an sich reißen wolle. Und wenn man uns frägt, womit wir an Stelle des an uns Gerissenen und Zerstörten die Menschheit beglücken wollen, welche geistige und Kuiturverjüngung wir in die Weltentwickelung bringen wollen, dann müssen wir entweder schweigen oder sinnlose Phrasen schwätzen. Und wenn das bittere Geständ­nis Danilewskys gerecht ist, daß Rußland krank zu wer­den beginnt, dann müßten wir uns, statt mit der Frage: Warum liebt uns Europa nicht? vielmehr mit einer anderen beschäftigen, einer uns näher liegenden und uns wichtigeren Frage: Warum und weshalb sind wir krank? Physisch ist Rußland noch ziemlich stark, wie es sich in dem letzten russischen Kriege gezeigt hat; also ist unser Leiden ein sitt­liches. Auf uns lasten, dem Worte eines alten Schriftstellers gemäß, die im Volkscharakter verborgenen und uns nicht zum Bewußtsein kommenden Sünden - und so ist es vor allem nötig, diese in das Licht des hellen Bewußtseins her-aufzubringen. Solange wir geistig gebunden und paralysiert

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sind, müssen uns alle unsere elementarischen Instinkte nur zum Schaden gereichen. Die wesentliche, ja die einzig wesentliche Frage für den wahren Patriotismus ist nicht die Frage über die Kraft und über die Berufung, sondern über die Sünden Rußlands.»

Man wird auf diese im Osten Europas zutage tretenden Willensrichtungen deuten müssen, wenn man von wirk­samen Kräften im Angreiferwillen dieses Ostens sprechen will; was durch Tolstoi zum Ausdruck gekommen ist, stellt unwirksame Kräfte dar.

Eine Beleuchtung kann diese Lehre von der «Sendung Rußlands» erfahren dadurch, daß man neben ihr ein Bei­spiel betrachtet von der Art, wie innerhalb des Geistes­lebens, auf welches die Sprecher von dieser Sendung als auf ein zur Greisenhaftigkeit verurteiltes herabblicken, eine solche Sendung eines Volkes empfunden wird. Schiller stand in seinem Gedankenleben Fichte besonders nahe, als er in seinen «Briefen, die ästhetische Erziehung des Menschen be­treffend» nach einem Ausblicke suchte, der den Menschen in sich den «höheren», den «wahren Menschen» schauen läßt. Man wird, wenn man sich auf die Seelenstimmung einläßt, die in diesen ästhetischen Briefen Schillers waltet, in ihnen einen Höhepunkt deutschen Empfindens finden können. Schiller ist der Meinung, daß der Mensch in seinem Leben nach zwei Seiten hin unfrei werden könne. Unfrei ist er, wenn er sich der Welt so gegenüberstellt, daß er die Dinge nur durch die Notwendigkeit der Sinne auf sich wirken läßt; da beherrscht ihn die Sinneswelt, und seine Geistig­keit stellt sich unter diese. Aber auch, wenn der Mensch nur der in seiner Vernunft waltenden Notwendigkeit ge­horcht, ist er unfrei. Die Vernunft hat ihre eigenen Forde­rungen,

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und der Mensch kann, wenn er sich diesen Forde­rungen unterwirft, nicht das freie Walten seines Willens in der starren Vernunftnotwendigkeit erleben. Durch sie lebt er zwar auf geistige Art, aber die Geistigkeit unterjocht das Sinnesleben. Frei wird der Mensch, wenn er das auf die Sinne Wirkende so erleben kann, daß sich in dem Sinnen-fälligen ein Geistiges offenbart, und wenn er das Geistige selbst so erlebt, daß es ihm wohlgefällig sein kann wie das Sinnlich-Wirksame. Das ist der Fall, wenn der Mensch dem Kunstwerk gegenübersteht, wenn der Sinneseindruck gei­stiger Genuß, wenn das geistig Erlebte, den Sinneseindruck verklärend, erfühlt wird. Auf diesem Wege wird der Mensch «ganz Mensch». Von vielen Ausblicken, die sich aus dieser Vorstellungsart ergeben, sei hier abgesehen. Nur auf eines sei hingewiesen, was mit dieser Schillerschen Anschauung erstrebt wird. Es wird einer der Wege gesucht, auf denen der Mensch durch sein Verhältnis zur Welt den «höheren Menschen» in sich findet. Aus der Betrachtung der mensch­lichen Wesenheit heraus wird dieser Weg gesucht. Man stelle nur wirklich neben diese Vorstellungsart, die im Menschen menschlich mit dem Menschen selbst sprechen will, die an­dere, welche meint, die russische Volksart sei diejenige, die im Gegensatz zu anderen Volksarten die Welt zum wahren Menschentum führen müsse.

Fichte sucht diese im Wesen der deutschen Gesinnung liegende Vorstellungsart in seinen «Reden an die deutsche Nation» mit den Worten zu kennzeichnen: «Es gibt Völker, welche, indem sie selbst ihre Eigentümlichkeit behalten, und dieselbe geehrt wissen wollen, auch den anderen Völkern die ihrigen zugestehen, und sie ihnen gönnen und verstatten; zu diesen gehören ohne Zweifel die Deutschen, und es ist

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dieser Zug in ihrem ganzen vergangenen und gegenwärtigen Weltleben so tief begründet, daß sie sehr oft, um gerecht zu sein, sowohl gegen das gleichzeitige Ausland als gegen das Altertum, ungerecht sind gegen sich selbst. Wiederum gibt es andere Völker, denen ihr eng in sich selbst verwach­senes Selbst niemals die Freiheit gestattet, sich zu kalter und ruhiger Betrachtung des Fremden abzusondern, und die daher zu glauben genötigt sind, es gebe nur eine einzige mögliche Weise, als gebildeter Mensch zu bestehen, und dies sei jedesmal die, welche in diesem Zeitpunkte gerade ihnen irgendein Zufall angeworfen; alle übrigen Menschen in der Welt hätten keine andere Bestimmung, denn also zu werden, wie sie sind, und sie hätten ihnen den größten Dank ab­zustatten, wenn sie die Mühe über sich nehmen wollten, sie also zu bilden. Zwischen Völkern der ersten Art findet eine der Ausbildung des Menschen überhaupt höchst wohltätige Wechselwirkung der gegenseitigen Bildung und Erziehung statt, und eine Durchdringung, bei welcher dennoch jeder, mit dem guten Willen des anderen, sich selbst gleich bleibt. Völker von der zweiten Art vermögen nichts zu bilden, denn sie vermögen nichts in seinem vorhandenen Sein anzufassen; sie wollen nur alles Bestehende vernichten und außer sich allenthalben eine leere Stätte hervorbringen, in der sie nur immer die eigene Gestalt wiederholen können; selbst ihr anfängliches scheinbares Hineingehen in fremde Sitte ist nur die gutmütige Herablassung des Erziehers zum jetzt noch schwachen, aber gute Hoffnung gebenden Lehrlinge; selbst die Gestalten der vollendeten Vorwelt ge­fallen ihnen nicht, bis sie dieselben in ihr Gewand gehüllt haben, und sie würden, wenn sie könnten, dieselben aus den Gräbern aufwecken, um sie nach ihrer Weise zu erziehen.»

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So urteilt Fichte über manche Nationaleigentüm­lichkeiten; allein auf dieses Urteil folgt sogleich ein Satz, der diesem Urteil alle Färbung eines eigenen Nationalhochmuts nehmen will: «Ferne zwar bleibe von mir die Vermessen­heit, irgendeine vorhandene Nation im ganzen und ohne Ausnahme jener Beschränktheit zu beschuldigen. Laßt uns vielmehr annehmen, daß auch hier diejenigen, welche sich nicht äußern, die bessern sind.»

Diese Betrachtungen möchten nicht aus solcher Seelen-stimmung heraus die Frage beantworten: Wer hat diesen Krieg gewollt?, wie dies manche Persönlichkeiten der mit Mitteleuropa im Kriege befindlichen Länder tun. Sie möch­ten die Bedingungen der Ereignisse durch sich selbst spre­chen lassen. Der diese Betrachtungen niederschreibt, frug bei Russen an, ob sie einen Krieg gegen Mitteleuropa ge­wollt haben. - Ihm scheint das, was Renan im Jahre 1870 vorausgesagt hat, auf einen sichereren Weg zu führen, als was gegenwärtig aus der Leidenschaft heraus geurteilt wird. Es scheint ihm dies ein Weg zu dem einzigen Urteilsgebiete zu sein, das gegenüber dem Kriege auch von demjenigen besreten werden kann und soll, der sich Vorstellungen darüber macht, welche Gedankenurteile überflüssig und unangebracht sind, wenn die Taturteile der Waffen aus Blut und Tod heraus über Völkerschicksale zu entscheiden haben.

Gewiß ist, daß Triebkräfte, die zum Kriege drängen, durch andere Kräfte so lange in ein Friedensleben hinein-gezwungen werden können, bis sie sich so weit in sich selber geschwächt haben, daß sie unwirksam werden. Und wer durch diese Wirksamkeit zu leiden hat, wird sich bemühen,

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diese den Frieden erhaltenden Kräfte zu schaffen. Der Ver­lauf der Geschichte zeigt, daß Deutschland seit Jahren sich gegenüber den von Westen und Osten strömenden Willenskräften dieser Bemühung unterzogen hat. Alles an­dere, was man mit Bezug auf den gegenwärtigen Krieg in der Richtung auf Frankreichs und Rußlands Triebkräfte sagen kann, wiegt weniger als die einfache, offen liegende Tatsache, daß diese Triebkräfte in dem Wollen der beiden Länder genügend tief verankert waren, um allem zu trotzen, was sie niederhalten wollte. Wer diese Tatsache ausspricht, muß nicht notwendig zu denjenigen Persönlichkeiten ge­zählt werden, die aus - selbstverständlich in dieser Zeit ganz begreiflicher - von den Ereignissen vorbestimmter Zu-oder Abneigung zu diesem oder jenem Volke urteilen. Ver­achtung, Haß oder ähnliches braucht mit solcher Urteil-bildung nichts zu tun haben. Wie man solche Dinge liebt oder nicht liebt, wie man sie gefühlsmäßig einschätzt, das ist etwas durchaus anderes als das Hinstellen der einfachen Tatsache. Es hat auch nichts damit zu tun, wie man die Franzosen liebt oder nicht liebt, wie man ihren Geist schätzt, wenn man glaubt, Gründe zu der Meinung zu haben, daß Triebkräfte, die in Frankreich zu finden sind, in die gegen­wärtigen Kriegsverwickelungen hineinverschlungen sind. Was über solche Triebfedern, die bei Völkern vorhanden sind, gesagt wird, kann freigehalten werden von dem, was in das Gebiet der Anklage oder Beschuldigung im gewöhn­lichen Sinne fällt.

Man wird bei den Deutschen vergeblich nach solchen Triebfedern suchen, die zu dem gegenwärtigen Kriege in ähnlicher Art führen mußten wie die von Solowieff bei den Russen gekennzeichneten, von Renan für die Franzosen

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vorausverkündeten. Die Deutschen konnten voraussehen, daß man diesen Krieg einmal gegen sie führen werde. Es war ihre Pflicht, sich für ihn zu rüsten. Was sie zur Er­füllung dieser Pflicht getan haben, nennt man bei ihren Gegnern die Pflege ihres Militarismus.

Was die Deutschen um ihrer selbst willen und, um die ihnen durch weitgeschichtliche Notwendigkeiten auferlegten Aufgaben zu erfüllen, zu leisten haben, wäre ihnen ohne diesen Krieg zu leisten möglich gewesen, wenn diese Lei­stungen andern ebenso genehm wie ihnen notwendig wären. Es hing eben durchaus nicht von den Deutschen ab, wie die andern Völker die Erfüllung der weltgeschichtlichen Auf­gaben aufnahmen, die den Deutschen auf materiellem Kul­turgebiete in der neueren Zeit sich zu ihren früher vorhan­denen hinzufügten. Die Deutschen konnten in die nur aus sich heraus wirksame Kraft, die ihren materiellen Kultur­leistungen Geltung verschafft, das Vertrauen haben, das sie gewinnen mochten aus der Art, wie ihre Geistesarbeit von den Völkern aufgenommen worden ist. Wenn man nämlich auf deutsche Art blickt, so gewahrt man, daß in derselben nichts liegt, was den Deutschen notwendig gemacht hätte, das von ihm an gegenwärtiger Arbeit zu leistende in an­derer Weise zur Geltung in der Welt zu bringen, als es bei seinen rein geistigen Leistungen geschehen ist.

Es ist nicht notwendig, daß der Deutsche selber den Ver­such mache, die Bedeutung der deutschen Geistesart und Geistesleistung für die Menschheit zu kennzeichnen. Er kann, wenn er Urteile verzeichnen will, welche Bedeutung diese Art und Leistung für die außerdeutsche Menschheit haben, die Antworten bei dieser außerdeutschen Menschheit

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suchen. Man wird auf die Worte einer Persönlichkeit hören dürfen, die zu den führenden im Gebiete der englischen Sprache gehört, auf die des großen Redners Amerikas, Ralph Waldo Emersons. Der gibt in seiner Betrachtung über Goethe eine Kennzeichnung der deutschen Geistesart und Geistesleistung in ihrem Verhältnisse zur Weltbildung. Er sagt: «Eine Eigenschaft vornehmlich, die Goethe mit seiner ganzen Nation gemein hat, macht ihn in den Augen des französischen und des englischen Publikums zu einer ausgezeichneten Erscheinung: daß sich alles bei ihm nur auf die innere Wahrheit basiert. In England und Amerika respektiert man das Talent, allein man ist zufriedengestellt, wenn es für oder gegen eine Partei seiner Überzeugung nach tätig ist. In Frankreich ist man schon entzückt, wenn man brillante Gedanken sieht, einerlei wohin sie wollen. In all diesen Ländern aber schreiben begabte Männer soweit ihre Gaben reichen. Regt, was sie vorbringen, den verständigen Leser an und enthält es nichts, was gegen den guten Ton anstößt, so wird es für genügend angesehen. So viel Spalten, so viel angenehm und nützlich verbrachte Stunden. Der deutsche Geist besitzt weder die französische Lebhaftigkeit noch das für das Praktische zugespitzte Verständnis der Engländer, noch endlich die amerikanische Art, sich in un­bestimmte Lagen zu begeben, allein, was er besitzt, ist eine gewisse Probität, die niemals beim äußerlichen Scheine der Dinge stehen bleibt, sondern immer wieder auf die Haupt­frage zurückkommt: Das deutsche Publikum verlangt von einem Schriftsteller, daß er über den Dingen stehe und sich einfach darüber ausspreche. Geistige Regsamkeit ist vorhanden: wohlan: wofür tritt sie auf? Was ist des Mannes Meinung? Woher? - woher hat

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er alle diese Gedanken?» Und an einer anderen Stelle dieser Goethebetrachtung prägt Emerson die Worte: Der «tiefe Ernst, mit dem sie - Emerson meint die in Deutschland ge­bildeten Männer - ihre Studien betreiben, setzt sie in den Stand, Männer zu durchschauen, welche bei weitem be­gabter als sie selbst sind. Aus diesem Grunde sind die in der höheren Konversation gebräuchlichen Unterscheidungs­begriffe alle deutschen Ursprungs. Während die ihres Scharf­sinns und ihrer Gelehrsamkeit willen mit Auszeichnung genannten Engländer und Franzosen ihr Studium und ihren Standpunkt mit einer gewissen Oberflächlichkeit ansehen, Lind ihr persönlicher Charakter mit dem, was sie ergriffen haben, und mit der Art, wie sie sich darüber ausdrücken, in nicht allzu tiefem Zusammenhange steht, spricht Goethe, das Haupt und der Inhalt der deutschen Nation, nicht weil er Talent hat, sondern die Wahrheit konzentriert ihre Strahlen in seiner Seele und leuchtet heraus aus ihr. Er ist weise im höchsten Grade, mag auch seine Weisheit oftmals durch sein Talent verschleiert werden. Wie vortreff­lich das ist, was er sagt, er hat etwas im Auge dabei, was noch besser ist. Er hat jene furchterweckende Unabhängig­keit, welche aus dem Verkehr mit der Wahrheit entspringt. Lausche auf seine Worte oder wende dein Ohr ab: die Tat­sache bleibt bestehen, wie er sie sagte.»

Einige Gedanken Emersons seien noch angefügt, die ganz gewiß hier werden stehen dürfen; hat sie doch ein Englisch-Amerikaner über die Deutschen gesprochen. «Die Deutschen denken für Europa . . . Die Engländer sehen nur das ein­zelne und wissen die Menschheit nicht nach höheren Ge­setzen als ein Ganzes aufzufassen . . . Die Engländer er­messen die Tiefe des deutschen Geistes nicht.» Emerson

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konnte wissen, welchen Einschlag deutsche Geistesarbeit der Menschheit zu geben vermag.

Emerson spricht in den angeführten Sätzen von der «Leb­haftigkeit der Franzosen» und von dem «für das Prak­tische zugespitzten Verständnis der Engländer». Wollte man in seinem Sinne mit Bezug auf die Russen fortfahren, so könnte man vielleicht sagen: der Deutsche besitzt nicht den Trieb der Russen, für alle ihre Lebensäußerungen, selbst für die praktischen, eine mystische Kraft zu suchen, durch die sie sich rechtfertigen.

Und in diesen Verhältnissen der Geister dieser Völker liegt etwas, das den Kriegsgegensätzen, die gegenwärtig wirksam sind, durchaus ähnlich ist. In der Triebfeder, welche von den Franzosen her zum Kriege mit Deutschland führte, wirkt deren Temperament, wirkt, was Emerson mit ihrer Lebhaftigkeit meint. In diesem Temperament liegt die geheimnisvolle Macht, welche so übersprudelnd sich aus­spricht in Renans Worten: «Haß auf den Tod, Vorberei­tungen ohne Rast, Allianz mit wem es sich trifft.» Daß Frankreich mit einem absolut fast gleichen, im Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl aber sogar mehr als anderthalb-mal so großem Heer wie Deutschland vor dem Kriege ge­rüstet dastand, ist ein Ergebnis dieser geheimnisvollen Macht, über das die Phrase von dem «deutschen Militaris­mus» als verbergender Schleier gezogen werden soll. - In Rußlands Kriegswillen wirkt der mystische Glaube selbst noch da, wo er nur einen instinktiven Ausdruck findet. Man wird, um die heute wirksamen Gegensätze zwischen Fran­zosen und Russen einerseits, Deutschen andererseits zu kenn­zeichnen, die Stimmungen der Seelen beobachten müssen. -Der Kriegsgegensatz zwischen Briten und Deutschen ist dagegen

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ein solcher, daß die Deutschen sich nur «für das Prak­tische zugespitzten» Triebfedern gegenübergestellt sehen. Das Ideal der englischen Politik ist, dem Wesen des Landes entsprechend, ganz auf praktische Ziele hingeordnet. Betont sei: dem Wesen des Landes entsprechend. Was seine Be­wohner etwa in ihrem Verhalten von diesem Wesen offen­baren, ist selber eine Wirkung dieses Wesens, nicht aber die Grundlage des englischen politischen Ideals. Die Betätigung im Sinne dieses Ideals hat in dem Briten die Gewohnheit erzeugt, als Richtschnur dieser Betätigung das gelten zu lassen, was ihm den persönlichen Lebensinteressen entspre­chend dünkt. Dem Vorhandensein einer solchen Richtschnur widerspricht nicht, daß sie sich im gesellschaftlichen Zusam­menleben als bestimmte Regel geltend macht, der man streng gehorcht, wenn man Lebensart haben will. Es widerspricht ihm auch nicht, daß man die Richtschnur für etwas ganz anderes hält, als sie ist. Alles dies gilt nur von dem Briten, insoferne er eingegliedert ist der Welt seines politischen Ideales. Und durch dieses ist ein Kriegsgegensatz zwischen England und Deutschland geschaffen.

Dafür, daß einmal die Zeit kommen muß, in welcher auf seelischem Gebiete die auf das Geistige gehende Weltan­schauung des deutschen Wesens sich ihre Weltgeltung -selbstverständlich nur durch einen Kampf der Geister -gegenüber derjenigen wird erobern müssen, die in Mill, Spencer, dem Pragmatiker Schiller, in Locke und Huxley und anderen ihre Repräsentanten aus dem englischen We­sen heraus hat: dafür kann die Tatsache des gegenwärtigen Krieges eine Mahnung sein. Es hat dies aber mit diesem Kriege unmittelbar nichts zu tun.

Die gekennzeichnete Richtschnur für das politische Ideal

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Englands hatte Goethe im Sinne, als er, der Shakespeare zu den Geistern zählte, die auf ihn den größten Einfluß ausgeübt haben, die Worte sprach: «Während aber die Deutschen sich mit Auflösung philosophischer Probleme quälen, lachen uns die Engländer mit ihrem großen prak­tischen Verstande aus und gewinnen die Welt. Jedermann kennt ihre Deklamationen gegen den Sklavenhandel, und, während sie uns weiß machen wollen, was für humane Maximen solchem Verfahren zugrunde liegen, entdeckt sich jetzt, daß das wahre Motiv ein reales Objekt sei, ohne welches es die Engländer bekanntlich nie tun, und welches man hätte wissen sollen.» - Über Byron, der ihm das Vorbild des Euphorion im zweiten Teil des Faust ge­worden ist, sagt Goethe: «Byron ist zu betrachten als Mensch, als Engländer und als großes Talent. Seine guten Eigenschaften sind vorzüglich vom Menschen herzuleiten; seine schlimmen, daß er ein Engländer . . . war . . . Alle Engländer sind als solche ohne eigentliche Reflexion; die Zerstreuung und der Parteigeist lassen sie zu keiner ruhi­gen Ausbildung kommen. Aber sie sind groß als praktische Menschen.»

Auch diese Goetheschen Urteile treffen nicht den Eng­länder als solchen, sondern nur das, was als «Gesamtwesen England» sich offenbart, wenn dieses Gesamtwesen als Trä­ger seines politischen Ideals sich offenbart.

Das erwähnte politische Ideal hat die Gewohnheit ent­wickelt, einen möglichst großen Raum der Erde zum Ge­brauche für England nach der gekennzeichneten Richtschnur einzurichten. Diesem Raum gegenüber erscheint England wie eine Person, die ihr Haus nach ihrer Annehmlichkeit einrichtet, und die sich daran gewöhnt, auch den Nachbarn

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zu verwehren, etwas zu tun, was die Bewohnbarkeit des Hauses weniger angenehm macht als man wünscht.

Die Gewohnheit, in dieser Art weiterleben zu können, glaubte England durch die Entwickelung, die Deutschland in der neuesten Zeit notwendig erstreben mußte, bedroht. Verständlich ist daher, daß es einen kriegerischen Konflikt zwischen Rußland-Frankreich einerseits und Deutschland­Österreich andererseits nicht entstehen lassen wollte, ohne alles zu tun, was beitragen konnte, den Alp der Bedrohung, den ihm Deutschlands Kulturarbeit verursachte, wegzu­schaffen. Das aber war, sich Deutschlands Gegnern anzu­schließen. Ein rein politischer «für das Praktische zugespitz­ter Verstand» errechnete, welche Gefahr für England aus einem gegen Rußland und Frankreich siegenden Deutsch­land erstehen könnte. - Mit einer bloß moralischen Ent­rüstung über die « belgische Neutralitätsverletzung » hat dieses Errechnen so wenig zu tun, wie es mit dem «für das Praktische zugespitzten Verstand», der die Deutschen in Englands Interessenkreise sieht, wenn sie Belgien betreten, viel zu tun hat.

Was diese «für das Praktische zugespitzte» Willensrich­tung in Verbindung mit anderen gegen Deutschland gerich­teten Kräften zu Wirksamkeit im Laufe der Zeit bringen müsse, das konnte sich für eine deutsche Empfindung er­geben, wenn gefragt wurde: Wie wirkte das politische Ideal Englands stets dann, wenn eine europäische Landmacht es von den weitgeschichtlichen Verhältnissen gefordert finden mußte, ihre Betätigung über die Meere hin auszudehnen? Man brauchte bloß auf das zu blicken, was dieses politische Ideal Spanien und Portugal, Holland, Frankreich gegen­über getan hatte, als diese ihre Betätigung zur See entfalteten.

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Und man konnte sich erinnern, daß dieses politische Ideal stets «sich auf das Praktische zuspitzte» und zu er­rechnen wußte, wie die europäischen Willensrichtungen, die gegen die Länder gerichtet waren, in denen eine junge Seebetätigung sich entfaltete, so in ein Kräfteverhältnis zu brin­gen waren, daß sich Aussicht eröffnete, England werde von seinem Mitbewerber befreit werden.

Was das Volk Deutschlands gegenüber der europaischen Lage vor dem Kriege empfinden mußte, ergibt die Beob­achtung der auf dieses Volk aus dem Umkreis gerichteten Kräfte. Von England her das «für das Praktische zuge­spitzte» «Ideal» dieses Landes. Von Rußland her Willens-richtungen, die den Aufgaben, welche sich Deutschland und Österreich-Ungarn für « Europas Mitte » ergeben hatten, widerstrebten. Von Frankreich her Volkskräfte, deren We­senheit für den Deutschen nicht anders zu empfinden war als in der Art, die Moltke einmal im Hinblick auf Frank­reichs Verhältnis zu Deutschland in die Worte geprägt hat: «Napoleon war eine vorübergehende Erscheinung. Frank­reich blieb. Mit Frankreich hatten wir es schon vor Jahr­hunderten zu tun, mit ihm werden wir es noch in Jahrhun­derten zu tun haben . . . (es) wird die jüngere Generation in Frankreich in dem Glauben erzogen, sie habe ein heiliges Recht auf den Rhein und die Mission, ihn bei der ersten Gelegenheit zur Grenze Frankreichs zu machen. Die Rhein-grenze muß eine Wahrheit werden, das ist das Thema für die Zukunft Frankreichs.»

Gegenüber diesen drei Willensrichtungen hatte die weltgeschichtliche Notwendigkeit Deutschland und Österreich-Ungarn zu «Europas Mitte» zusammengeschmiedet. Es hat immer mit der Kultur dieser europäischen Mitte verwachsene

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Menschen gegeben, welche empfanden, wie dieser europä­ischen Mitte Aufgaben erwachsen werden, die ihnen als von den Völkern dieser Mitte gemeinsam zu lösende sich offen­baren werden. Wie eines Repräsentanten solcher Menschen sei hier eines lang Verstorbenen gedacht. Eines, der die Ideale von «Europas Mitte» tief in seiner Seele trug, in der sie er­wärmt wurden von der Kraft Goethes, von der er seine ganze Weltauffassung und die innersten Impulse seines Lebens tragen ließ. Gemeint ist der österreichische Literar- und Sprachforscher Karl Juijus Schröer. Ein Mann, der von seinen Zeitgenossen in seiner Wesenheit und Bedeutung allzuwenig gekannt und gewürdigt worden ist. Der Schrei­ber dieser Betrachtungen zählt ihn zu denjenigen Persön­lichkeiten, denen er im Leben unermeßlichen Dank schuldig ist. Schröer schrieb in seinem Buche über die «Deutsche Dichtung» im Jahre 1875 als Niederschlag der Empfindun­gen, die die Ereignisse von 1870/1871 für die Formung eines Ideals von «Europas Mitte» erregt hatten, die Worte nieder: «Wir in Österreich sehen uns gerade bei diesem be­deutenden Wendepunkte in einer eigentümlichen Lage. Hat die freie Bewegung unseres staatlichen Lebens die Scheide­wand hinweggeräumt, die uns bis vor kurzem von Deutsch­land trennte, sind uns nun . . . die Mittel an die Hand gegeben, uns emporzuarbeiten zu einem gemeinsamen Kul­turleben mit den übrigen Deutschen, so ist gerade jetzt der Fall eingetreten, daß wir an einer großen Handlung unseres Volkes uns nicht beteiligen sollten ... Im deutschen Geistes­leben konnte dadurch eine Scheidewand nicht entstehen. Die Wurzeln desselben sind nicht politischer, sondern kul­turgeschichtlicher Natur. Diese unzerreißbare Einheit deut­schen Geisteslebens . . . wollen wir im Auge behalten . . . im

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Deutschen Reiche wolle man unsere schwere Kulturauf-gabe würdigen und ehren, und übers Vergangene nicht uns anrechnen, was unser Schicksal, nicht unsere Schuld ist.» Aus welchen Empfindungen würde eine so fühlende Seele sprechen, wenn sie noch unter den Lebenden weilte und schaute, wie der Österreicher in voller Einheit mit dem Deutschen Deutschlands eine «Handlung ihres Vol­kes» vollbringt.

«Europas Mitte» ist durch das «Schicksal» gebildet; die Seelen, die mit verständnisvollem Anteil sich dieser Mitte zugehörig fühlen, überantworten es dem Geiste der Ge­schichte, zu beurteilen, was in der Vergangenheit - und was auch in der Gegenwart und Zukunft ihr «Schicksal, nicht ihre Schuld» ist.

Und wer das Verständnis beurteilen will, das die Ideen einer gemeinsamen Willensrichtung der «Mitte Europas» nach außen hin in Ungarn gefunden haben, der lese Stimmen aus Ungarn, wie sich eine in dem Artikel über «die Genesis des Defensivbündnisses» von Emerich von Halasz in dem Hefte von «Jungungarn» vom März 1911 findet. Darin stehen die Worte: «Wenn wir . . . bedenken, daß Andrassy schon vor mehr als dreißig und auch Bismarck vor mehr als ein­undzwanzig Jahren von der Leitung der Geschäfte zurück­getreten ist und dieses große Friedenswerk noch immer in voller Kraft besteht und noch weiter eine lange Dauer zu haben verspricht: so brauchen wir uns wohl nicht einem trübseligen Pessimismus hinzugeben . . . Bismarck und An­drassy haben mit vereinter Kraft eine imponierende Lösung des mitteleuropäischen Problems gefunden und hiermit ein zivilisatorisches Werk vollbracht, welches hoffentlich meh­rere Generationen überdauern wird . . . In der Geschichte

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derAllianzen suchen wir vergebens nach einem Gebilde von solcher Dauer und von solch gewaltiger Konzeption.»

Als sich die gekennzeichneten, gegen «Europas Mitte» ge­kehrten Wollensrichtungen zum gemeinsamen Druck zu­sammengefunden hatten, war es unvermeidlich, daß dieser «Druck» die Empfindungen bestimmte, die innerhalb der mitteleuropäischen Völker über den Gang der Weltereig­nisse sich bildeten. Und als die Tatsachen des Sommers 1914 eintraten, trafen sie Europa in einer weltgeschichtlichen Lage, in welcher die im Völkerleben wirksamen Kräfte in den Gang der Ereignisse so eingreifen, daß sie die Entschei­dung darüber, was geschehen wird, aus dem Bereiche ge­wöhnlicher menschlicher Beurteilung hinwegnehmen und in das einer höheren Ordnung stellen, einer Ordnung, durch die die weltgeschichtliche Notwendigkeit innerhalb des Ganges der Menschenentwickelung wirkt. Wer das Wesen solcher Welt-Augenblicke empfindet, der hebt auch sein Urteil aus dem Gebiete heraus, in dem Fragen nisten von der Art, was wäre geschehen, wenn in schicksalsschwerer Stunde dieser oder jener Vorschlag dieser oder jener Per­sönlichkeit mehr Wirkung gehabt hätte, als es der Fall war? Die Menschen erleben in Augenblicken weltgeschichtlicher Wendungen in ihren Entscheidungen Kräfte, über die man nur richtig urteilt, wenn man bestrebt ist - an Emersons Worte sei erinnert -, nicht nur das «einzelne zu sehen», son­dern die Menschheit «nach höheren Gesetzen als ein Ganzes aufzufassen». Wie sollten Entscheidungen der Menschen nach den Gesetzen des gewöhnlichen Lebens beurteilt wer­den dürfen, die nicht aus diesen Gesetzen heraus gefällt werden können, weil in ihnen der Geist wirkt, der nur in den weltgeschichtlichen Notwendigkeiten erschaut werden

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kann. - Naturgesetze gehören der Naturordnung an; über ihnen stehen die Gesetze, die der Ordnung des gewöhn­lichen menschlichen Zusammenlebens angehören; und über ihnen stehen die geistig-wirksamen Gesetze des weltge­schichtlichen Werdens, die einer noch anderen Ordnung an-gehören, derjenigen, durch welche Menschen und Völker Aufgaben lösen und Entwickelungen durchmachen, die außerhalb des Gebietes des gewöhnlichen menschlichen Zu­sammenlebens liegen.

Nachträgliche Bemerkung: Die vorstehenden Gedanken enthalten, was der Verfasser des Schriftchens in Vorträgen ausgesprochen hat, die vor dem kriegerischen Eintreten Ita­liens in das gegenwärtige Völkerringen gehalten worden sind. Man wird es aus dieser Tatsache heraus begreiflich finden, daß in der Schrift nichts über die Triebkräfte ent­halten ist, die von dieser Seite her gegen «Mitteleuropa» zum Kriegswillen geworden sind. Ein später erscheinendes Schriftchen wird hoffentlich eine darauf bezügliche Ergän­zung bringen können.

Berlin, 5. Juli 1915.

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EINE PREISGEKRÖNTE WISSENSCHAFTLICHE ARBEIT UBER DIE GESCHICHTE DES KRIEGSAUSBRUCHES

Innerhalb der ins Unübersehbare angewachsenen Kriegsliteratur darf der vom historischen Seminar der Universität Bern preisgekrönten Schrift Dr. Jacob Ruchtis «Zur Ge­schichte des Kriegsausbruches nach den amtlichen Akten der königlich großbritannischen Regierung» ein ganz besonde­rer Wert zuerkannt werden. Denn sie enthält eine Betrach­tung, die nach den strengen Regeln geschichtswissenschaft­licher Forschung und derjenigen wissenschaftlichen Gewissen­haftigkeit angestellt ist, die der Historiker sucht, wenn er über Tatsachenzusammenhänge sich ein Urteil bilden will. Was gewöhnlich im Wissenschaftsbetrieb erst lange nach Verlauf der in Frage kommenden Geschehnisse versucht wird, Ruchti unternimmt es für die Ereignisse der unmittel­baren Gegenwart. Man muß nach Prüfung seiner Arbeit sagen, daß ein günstiges Urteil über ihren Inhalt, eine Wür­digung ihrer Ergebnisse durchaus nicht die Folge zu sein braucht des Standpunktes gegenüber den Kriegsursachen, den man nach seiner Volkszugehörigkeit oder ähnlichen Ursachen einnimmt, sondern daß zu einer solchen Würdi­gung die sachlich befriedigende wissenschaftliche Methode des Verfassers denjenigen führen kann, der für wissen­schaftlich zu gewinnende Überführungen überhaupt zu­gänglich ist.

Nun sind viele Menschen der Ansicht, daß eine Bespre­chung der Kriegsursachen heute schon eine unfruchtbare Sache geworden ist. Eine solche Ansicht kann aber nicht

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aufrechterhalten werden gegenüber der Art, in welcher die Staatsmänner und die Presse der Entente der Welt die Mei­nung beizubringen suchen, daß sie trotz des Friedensan­gebotes der Mittelmächte gezwungen seien, den Krieg fort­zusetzen. Unter den Gründen, die sie angeben, spielt der eine ganz besondere Rolle, daß der Kriegsanfang beweise, wie ein friedliches Zusammenleben mit den Mittelmächten nur durch einen vernichtenden Schlag der Entente gegen diese Mächte zu erreichen sei. Nun wird von Ruchti gezeigt, daß diese Behauptung auf einer unwahren Legende beruht, welche auf Seite der Entente gegen die Aussagen ihrer eigenen Urkunden geschmiedet worden ist, um der Welt die Ansicht beizubringen, die sie für gut befindet, ihr über Aus­gang und Ziel des Krieges beizubringen. Gewiß, das von Ruchti als Ergebnis Vorgebrachte ist oft und in der ver­schiedensten Form schon gesagt worden. Aber das Bedeut­same seiner Schrift liegt erstens in seiner wissenschaftlichen Bearbeitung des Tatbestandes und zweitens darin, daß ein Angehöriger eines neutralen Staates seine Ergebnisse rück-haltlos mitteilt, und daß ein wissenschaftliches Seminar dieses Staates die Schrift für so den wissenschaftlichen An­forderungen entsprechend findet, daß sie sie preiskrönt. Ruchti bleibt auch im Stil der wissenschaftliche Forscher, der nirgends über das hinausgeht, was die Quellen ergeben, ja, er macht nach Art eines solchen Forschers an den ent­sprechenden Stellen genau darauf aufmerksam, wo das Tatsachenmaterial unsicher wird und mit dem objektiven Urteil zurückgehalten werden muß. Er stützt sich fast aus­schließlich auf englische Urkunden und verwendet die an­deren Staaten nur zur Ergänzung dieser oder jener Tat-sachendarstellung. Und er kommt durch diese Methode zu

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einem Ergebnis, das sich in folgende Worte zusammenfassen läßt. Die Behauptungen, durch welche die Staatsmänner der Entente die Welt überreden wollen, werden durch die eng­lischen Urkunden als das Gegenteil der Wahrheit erkannt. Das ganze Gewebe von Behauptungen der Grey und Ge­nossen über die Friedensbemühungen der Entente-Staats­männer zerfällt vor der wissenschaftlichen Analyse Ruchtis und wird zu einem solchen, das nur den Schein von Frie­densbestrebungen zeigt, das aber in Wirklichkeit nicht nur sicher zum Kriege zwischen Rußland und Frankreich einer­seits und Deutschland und Österreich andererseits führen mußte, sondern auch England an die Seite der ersteren Mächte zu stellen geeignet war. Aus diesen Darlegungen geht hervor, wie Sasonow den Streitfall zwischen Öster­reich und Serbien zum Ausgangspunkt eines europäischen Konfliktes macht und wie Grey von vornherein diesen russischen Ausgangspunkt zu dem seinigen macht und von ihm aus seine sogenannten Friedensbemühungen einrichtet. Es ist nicht das geringste Zeugnis dafür vorhanden, daß Grey etwa in den Sinn gekommen sein könnte, seine diplomati­schen Schritte so einzurichten, daß Rußland gezwungen ge­wesen wäre, Österreich seinen Streitfall mit Serbien allein ausfechten zu lassen. Da Österreich die Zusage gegeben hat, daß es mit seinen kriegerischen Maßnahmen gegen Serbien nichts anderes erreichen wolle, als die restlose Anerkennung seines Ultimatums und dieses nichts verlangte, als ein an­gemessenes Verhalten Serbiens gegenüber dem österreichi­schen Staate in seinen bisherigen Grenzen, so wäre ein Kriegsgrund für eine andere Macht nicht dagewesen, wenn Grey Rußland von der Einmischung in den österreichisch­serbischen Streit abgebracht hätte. Dadurch aber war England

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von vornherein der Bundesgenosse Rußlands und Gegner der Mittelmächte und Grey hatte eine Politik ein­geleitet, die mit Notwendigkeit zu dem Kriege führen mußte in der Form, wie er dann zustande gekommen ist. Dem­gegenüber, was Grey getan hat, die Behauptung vertreten, nur weil Deutschland nicht gewollt habe, sei es ihm nicht gelungen, den Frieden aufrechtzuerhalten, entpuppt sich als eine verwerfliche Unwahrheit gerade deswegen, weil sie durch die Betonung einer ganz selbstverständlichen aber auch ganz bedeutungslosen Wahrheit so geeignet wie nur möglich ist, die Welt irrezuführen. Denn es ist gewiß klar, daß England, ja wohl auch Frankreich und sogar Rußland der Friede lieber gewesen wäre als der Krieg, wenn es ohne diesen auf diplomatischem Wege gegangen wäre, Deutschland und Österreich gegenüber der Entente zur politischen Bedeutungslosigkeit herabzudrücken und es dazu zu brin­gen, sich dem Machtwillen der Entente zu fügen. Nicht dar­auf kommt es an, ob Grey Frieden oder Krieg gewollt habe, sondern darauf, wie er sich zu den Ansprüchen derjenigen Mächte bei Kriegsausbruch gestellt hat, die im Kriege Eng­lands Bundesgenossen sind. Und Ruchti beweist, daß Grey sich so gestellt hat, daß durch sein Verhalten der Krieg notwendig herbeigeführt werden mußte. Man wird hier gewiß zu den Beweisen Ruchtis hinzufügen dürfen, daß Grey selbst nicht zum Kriege drängen wollte, sondern daß er ein Schwächling ist, der zu seinen Schritten von anderen geschoben worden ist. Das aber ändert nichts an der ge­schichtlichen Beurteilung seiner Taten. Es gelingt Ruchti völlig zu beweisen, daß Greys diplomatische Schritte ihm nicht den geringsten Anspruch darauf geben, zu behaupten, er hätte etwas zur Verhinderung des Krieges getan. Es gelingt

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dem schweizerischen Geschichtsbetrachter aber auch, zu zeigen, daß die englischen Staatsmänner sich in den Ver­handlungen mit Deutschland so verhalten haben, daß ihnen mit dem Neutralitätsbruch gegenüber Belgien ein Kriegs­grund dargeboten worden war, den sie hätten vermeiden können, wenn sie auf gewisse Anerbietungen Deutschlands eingegangen wären. Doch diesen Kriegsgrund brauchten sie, um ihrem Volke, das wegen Serbiens und wegen der euro­päischen Ansprüche Rußlands nicht zum Kriege wäre zu bringen gewesen, diesen annehmbar zu machen. Und zur Volksüberredung war auch eine Fälschung nötig, die Ruchti im englischen Weißbuch nachweist. Durch falsche Datie­rungen in einem Briefwechsel, den Grey geführt hat, sollte dem englischen Volke gezeigt werden, wie das friedliebende Frankreich von Deutschland überfallen worden sei. Durch die Fälschung von Daten wurde der Eindruck hervorge­rufen, daß Deutschland viel früher Frankreich angegriffen habe, als dies wirklich der Fall gewesen ist. Dazu kommt, daß Asquith in seiner Kriegsrede vom 6. August 1914 mit dem gleichen Erfolge der Volkstäuschung maßgebende Ver­handlungen mit Deutschland einfach verschwiegen hat. Durch sachliche Abwägung aller dieser Tatsachen bildet sich Ruchti ein Urteil, das ihn berechtigt, die sogenannte Frie­densbemühung der englischen Staatsmänner als eine un­wahrhaftige Legende hinzustellen und sogar bei ihnen die zum Kriege treibenden Kräfte aufzuzeigen. Am Schlusse spricht er die schwerwiegenden Worte aus: «Die Geschichte läßt sich auf die Dauer nicht fälschen, die Legende vermag vor der wissenschaftlichen Forschung nicht standzuhalten, das dunkle Gewebe wird ans Licht gebracht und zerrissen, auch wenn es noch so kunstvoll und fein gesponnen war.»

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Aber vorläufig sucht die Entente in diesem dunklen Gewebe noch eines der Mittel, um ihr dunkles Kriegshandwerk der Welt als eine Notwendigkeit der Zivilisation und der edel­sten Menschlichkeit aufzuschwatzen.

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DIE MEMORANDEN VOM JULI 1917

Erstes Memorandum

Die Wortführer der Entente führen unter den Gründen, warum sie den Krieg fortsetzen müssen, den an, daß sie von Deutschland überfallen worden sind. Sie behaupten daher, sie müssen Deutschland in eine solche Lage der Machtlosigkeit bringen, daß fortan ihm jede Möglichkeit genommen sei, einen Überfall auszuführen. In diese Form einer Art moralischer Anklage gegen Deutschland wer­den nebulos untergetaucht alle anderen Ursachen dieses Krieges.

Es ist zweifellos, daß gegenüber dieser Anklage Deutsch­land in die Notwendigkeit versetzt ist, in ganz unge­schminkter Weise darzustellen, wie es in den Krieg hinein-getrieben worden ist. Statt dessen hat man von den Kriegs-ursachen bisher nur doktrinäre Auseinandersetzungen, die so anmuten wie die Schlußfolgerungen eines Professors, der nicht erzählt, was er gesehen hat, sondern der aus Doku­menten darlegt, was sich ihm über ferne Ereignisse ergeben hat. Denn so sind auch alle Ausführungen des deutschen Reichskanzlers über die Vorgänge bei Kriegsausbruch ge­halten. Solche Darlegungen aber sind ungeeignet, einen Eindruck zu machen. Man weist sie einfach zurück, indem man ihnen Unberechtigtes oder auch berechtigtes Anderes ent­gegensetzt.

Würde man dagegen einfach die Tatsachen erzählen, so würde sich folgendes ergeben:

1. Deutschland war im Sommer 1914 nicht bereit, die Initiative zu einem Kriege zu ergreifen.

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2. Österreich-Ungarn war seit langem in die Notwen­digkeit versetzt, irgend etwas zu unternehmen, das der ihm drohenden Gefahr entgegenwirkt, durch Zusammenschluß der Südslaven unter der Führung der außerösterreichischen Serben von Südosten her verkleinert zu werden. Man kann ruhig zugeben, daß die Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand und die ganze Ultimatumsgeschichte nur ein An­laß war. Wäre nicht dieser Anlaß ergriffen worden, so hätte bei nächster Gelegenheit eben ein anderer ergriffen werden müssen. Usterreich hätte eben nicht Österreich bleiben kön­nen, wenn es nicht irgend etwas zur Sicherung seiner Südost-Provinzen tat, oder durch eine großzügige andere Hand­lung die Slavenfrage zur Lösung bringen konnte. An dieser anderen Handlung hatte sich aber die österreichische Politik seit 1879 verblutet. Besser gesagt: sie hatte sich daran ver­blutet, daß diese andere Handlung nicht aufgefunden wer­den konnte. Man konnte eben der Slavenfrage nicht Herr werden. Soweit für die Entstehung des Krieges Österreich-Ungarn in Betracht kommt, und damit auch Deutschland, dessen Beteiligung erfolgte, weil es Österreich-Ungarn nicht im Stiche lassen konnte, ohne befürchten zu müssen, daß es nach einigen Jahren ohne Österreichs Bundesgenossen-schaft der Entente gegenüberstehe -, soweit muß erkannt werden, daß die Slavenfrage den Grund enthält für die Entstehung dieses Krieges. Die «andere Handlung» ist also die internationale Lösung der Slavenfrage Sie ist gefordert von Österreich, nicht von Rußland. Denn Rußland wird immer seinen slavischen Grundcharakter in die Waagschale der Lösung werfen können. Österreich-Ungarn kann diesem Gewichte nur das der Befreiung der Westslaven entgegen-stellen. Diese Befreiung kann nur unter dem Gesichtspunkte

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der Autonomisierung aller Zweige des Volkslebens vor sich gehen, welche das nationale Dasein und alles, was damit zusammenhängt, betreffen. Man darf eben nicht zurück­schrecken vor der völligen Freiheit im Sinne der Autonomi­sierung und Föderalisierung des Volkslebens. Diese Föde­ralisierung ist vorgebildet im deutschen bundesstaatlichen Leben, das gewissermaßen das von der Geschichte vorge­bildete Modell ist für dasjenige, was in Mitteleuropa fort­gebildet werden muß bis zur völligen föderalistisch-frei­heitlichen Gestaltung aller derjenigen Lebensverhältnisse, die ihren Impuls in dem Menschen selber haben, also nicht unmittelbar, wie die militärisch-politischen, von den geo­graphischen, und, wie die wirtschaftlichen, von den geo­graphisch-opportunistischen Verhältnissen abhängig sind. Die Gestaltung dieser Verhältnisse wird nur dann in ge­sunder Weise erfolgen, wenn das Nationale aus der Freiheit, nicht die Freiheit aus dem Nationalen entbunden wird. Strebt man statt des letzteren das erstere an, so stellt man sich auf den Boden des weltgeschichtlichen Werdens. Will man das letztere, so arbeitet man diesem Werden entgegen und legt den Grund zu neuen Konflikten und Kriegen.

Von den leitenden Staatsmännern Österreichs verlangen, daß sie deshalb das Ultimatum an Serbien hätten unter­lassen sollen, hieße von ihnen verlangen, daß sie gegen das Interesse des von ihnen geleiteten Landes hätten handeln sollen. Ein solches Verlangen können Theoretiker irgend­einer Färbung stellen. Ein Mensch, der mit den vorhan­denen Tatsachen rechnet, sollte im Ernste von dergleichen gar nicht sprechen. Denn hätten die Südslaven erreicht, was die führenden Großserben wollten, so wäre unter den Aktionen der übrigen österreichischen Slaven Österreich in

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der Form, in der es bestand, nicht zu erhalten gewesen. Man könnte sich noch vorstellen, daß eben dann Österreich eine andere Form bekommen hätte. Kann man aber einem leitenden österreichischen Staatsmanne zumuten, resigniert auf einen solchen Ausgang zu warten? Man könnte es offen­bar nur, wenn man der Ansicht wäre, es gehöre zu den un­bedingten Anforderungen eines österreichischen Staats­mannes, absoluter Pazifist zu sein und das Schicksal des Reiches fatalisch abzuwarten. Unter jeder anderen Bedin­gung muß man den Schritt Österreichs bezüglich des Ulti­matums verstehen.

3. Hatte nun einmal Österreich das Ultimatum gestellt, dann war die weitere Folge der Ereignisse nur aufzuhalten, wenn Rußland sich passiv verhielt. Sobald Rußland einen aggressiven Schritt tat, war durch nichts das Weitere auf­zuhalten.

4. Ebenso wahr, wie dies alles ist, ebenso wahr ist, daß jeder, der mit den Tatsachen rechnete, in Deutschland ein unbestimmtes Gefühl hatte: Wenn einmal die angedeuteten Verwicklungen in ein kritisches Stadium treten, dann werde es Krieg geben. Man werde diesem Kriege nicht entgehen können. Und verantwortliche Personen hatten die Meinung, man müsse, wenn er notwendig werde, diesen Krieg mit aller Kraft führen. Einen Krieg aus eigener Initiative her­aus zu führen, hatte in Deutschland gewiß niemand die Absicht, der ernstlich in Betracht kommt. Man kann der Entente beweisen, daß sie nicht den geringsten Grund hatte, an einen Angriffskrieg von seiten Deutschlands zu glauben. Man kann sie zwingen zuzugeben, daß sie den Glauben hatte, Deutschland werde ohne Krieg so mächtig, daß diese Macht den heute in der Entente vereinigten Mächten ge­fährlich

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werde. Aber man wird die Führung derartiger politischer Beweise ganz anders machen müssen, als dies bisher geschehen ist; denn dieses ist keine politische Beweis­führung, sondern nur die Aufstellung politischer Behaup­tungen, bei denen es den anderen belieben kann, sie brutal zu finden. Man glaubte auf seiten der Ententemächte, wenn die Dinge so fortgehen, dann könne man nicht wissen, was noch alles aus Deutschland werde; deshalb müsse ein Krieg mit Deutschland kommen. Deutschland konnte sich auf den Standpunkt stellen: wir brauchen keinen Krieg; aber wir erlangen ohne Krieg dasjenige, was uns die Ententestaaten ohne Krieg nicht lassen werden; deshalb müssen wir uns für diesen Krieg bereithalten und ihn, wenn er droht, so nehmen, daß wir durch ihn nicht zu Schaden kommen kön­nen. Dies alles gilt auch bezüglich der serbischen Frage und Österreichs. Mit Serbien konnte Österreich im Jahre 1914 nicht mehr ohne Krieg fertig werden, wenigstens mußte das die Überzeugung seiner Staatsmänner sein. Hätte aber die Entente befunden, daß man Österreich-Ungarn allein mit Serbien fertig werden lassen könnte, dann hätte es zu dem allgemeinen Kriege nicht kommen müssen. Der wahre Kriegsgrund darf also nicht bei den Mittelmächten gesucht werden, sondern darin, daß die Entente diese Mittelmächte nicht so lassen wollte, wie sie nach dem Bestande von 1914 in ihren Machtverhältnissen waren. Wäre allerdings die oben gemeinte «andere Handlung» vor 1914 geschehen, dann hätten die Serben keine internationale Opposition gegen Österreich-Ungarn entwickelt, und sowohl das Ulti­matum wie die Einmischung Rußlands hätte es nicht geben können. Und hätte sich Rußland aus reinen Eroberungs­gründen gegen Mitteleuropa in irgendeinem Zeitpunkte ge­wendet,

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dann hätte es England nicht an seiner Seite finden können. Da das Unterseeboot bis zum Kriege ein reines Kriegsmittel war, Amerika aber ohne dieses Kriegsmittel absolut nicht in den Krieg mit den europäischen Mittelmächten hätte kommen können, so braucht für die Frie­densfrage nur England in dem angedeuteten Sinn in Rech­nung gezogen zu werden.

5. Was nun der Welt mitgeteilt werden müßte, ist:

a) daß Deutschland, soweit die Persönlichkeiten in Be­tracht kommen, die über den Kriegsausbruch zu bestimmen haben, vollständig von den Ereignissen im Juli1914 über­rascht worden ist, daß diese niemand vorausgesehen hat. Insbesondere gilt dies von der Haltung Rußlands;

b) daß in Deutschland der verantwortlich Denkende nicht anders konnte, als annehmen, wenn Rußland angreife, werde dies auch Frankreich tun;

c) daß Deutschland für diesen Fall jahrelang seinen Zweifrontenkrieg vorbereitet hatte und nicht anders konnte, als bei den sich überstürzenden Ereignissen diesen ins Werk zu setzen, wenn es nicht von seiten der Westmächte eine sichere Garantie erhielt, daß Frankreich nicht angreife. Diese Garantie konnte nur von England kommen ;

d) daß, wenn England diese Garantie gegeben hätte, Deutschland nur gegen Rußland zum Kriege geschritten wäre;

e) daß die deutsche Diplomatie geglaubt habe, infolge des Verhältnisses, das sie in den letzten Jahren zu England angeknüpft hatte, werde England im Sinne einer solchen Garantie wirken;

f) daß die deutsche Diplomatie sich in bezug auf die bevorstehende Politik Englands vollständig getäuscht hat,

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und daß unter dem Eindrucke dieser Täuschung der Durch­marsch durch Belgien ins Werk gesetzt worden ist, den man unterlassen hätte, wenn England die angedeutete Garantie gegeben hätte. In ganz unzweideutiger Weise müßte der Welt verkündigt werden, daß der Einmarsch in Belgien erst ins Werk gesetzt worden ist, als die deutsche Diplomatie von der Mitteilung des Königs von England überrascht worden war, daß sie sich täusche, wenn sie auf eine solche Garantie von Englands Seite warte. Es ist unerfindlich, warum die deutsche Regierung nicht tut, was sie unzwei­deutig könnte: nämlich beweisen, daß sie den Einmarsch in Belgien nicht unternommen hätte, wenn das entscheidende Telegramm des Königs von England anders gelautet hätte. Von dieser entscheidenden Wendung hing wirklich der ganze weitere Verfolg des Krieges ab, und es ist von Deutschland nichts geschehen, um diese entscheidende Tatsache zur all­gemeinen Kenntnis der Welt zu bringen. Man müßte, wenn man diese Tatsache richtig kennte, zwar sagen, die eng­lische Politik ist an den entscheidenden Stellen in Deutsch­land falsch beurteilt worden, aber man könnte nicht ver­kennen, daß England der entscheidende Faktor in der belgischen Frage war. Eine Schwierigkeit böte eine solche Sprache Deutschlands allerdings gegenüber Rußland, weil dieses aus ihr ersehen würde, was es für diesen Krieg Eng­land verdankt. Diese Schwierigkeit könnte nur behoben werden, wenn es gelänge, Rußland zu zeigen, daß es von Englands Freundschaft weniger zu erwarten hat als von der Deutschlands. Dies kann natürlich nicht geschehen, ohne daß Deutschland es im jetzigen Augenblick unter­nimmt, im Verein mit Österreich-Ungarn eine großzügige Politik zu entfalten, durch die das ohne Kenntnis der europäischen

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Verhältnisse in die Welt gesetzte Programm Wil­sons aus dem Feld geschlagen wird.

Es kann praktisch aussehen, zu sagen, es habe heute keinen Wert, über die Ursachen des Krieges zu sprechen. Es ist aber gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen das Unpraktischeste, was sich nur denken läßt. Denn tatsächlich führt die Entente mit ihrer Darstellung der Kriegsursachen seit langem den Krieg. Die Situation, die sie sich geschaffen hat, verdankt sie dem Umstande, daß ihr ihre Darstellung geglaubt wird aus dem Grunde, weil ihr von Deutschland etwas Wirksames noch nicht erwidert worden ist. Während Deutschland zeigen könnte, daß es zum Kriegsausbruche nichts beigetragen hat, daß es in den Neutralitätsbruch gegenüber Belgien nur durch das Verhalten Englands ge-trieben worden ist, sind die offiziellen Darlegungen Deutsch­lands bis heute so gehalten, daß kein außerhalb Deutsch­lands lebender Mensch daran gehindert wird, sich das Urteil zu bilden, es habe in Deutschlands Hand gelegen, den Krieg nicht zu beginnen. Damit ist es nicht getan, daß man die Dokumente so zusammenstellt, wie es geschehen ist. Denn diese Zusammenstellung ergibt eben etwas, was von jedem angezweifelt werden kann, während die ungeschminkte Darstellung der Tatsachen in der Tat Deutschlands Un­schuld ergeben müßte. Wer für solche Dinge Verständnis hat, der kann wissen, daß solche Reden, wie sie von den verantwortlichen Männern Deutschlands geführt werden, von den Psychen der Menschen in den feindlichen Ländern und auch in den neutralen überhaupt nicht verstanden und daher nur als Verschleierungen der Wahrheit genommen werden. Sagen, es hülfe nichts, anders zu sprechen gegenüber dem Hasse der Feinde, dazu hätte man nur ein Recht, wenn

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man auch nur den Versuch gemacht hätte, wirklich anders zu sprechen. Man sollte diesen Haß überhaupt nicht ins Feld führen, weil dies einfach naiv ist; denn dieser Haß ist nur Draperie des Krieges, ist nur die Ausschleimung derjenigen, die die unsäglich traurigen Ereignisse mit ihren Reden be­gleiten wollen oder müssen, oder derjenigen, welche in der Aufstachelung dieses Hasses ein wirksames Mittel suchen, dies oder jenes zu erreichen. Der Krieg wird aus den hin­länglich bekannten Ursachen von seiten Frankreichs und Rußlands geführt. Und er wird von der Seite Englands lediglich als Wirtschaftskrieg geführt; aber als Wirtschafts­krieg, der ein Ergebnis ist von alledem, was in England sich seit langem vorbereitet hat. Gegenüber den Realitäten der englischen Politik von der Einkreisung durch König Eduard und ähnlichen Kleinigkeiten zu sprechen ist so, wie wenn man einen Knaben von einem Pflocke weglaufen sieht, der nachher umfällt, und dann sagt, der Knabe habe den Pflock zu Fall gebracht, weil er an ihm etwas gerüttelt habe, während in der Tat der Pflock längst so beschädigt war, daß es von seiten des Knaben nur eines geringen An-stoßes bedurfte, um den Fall schließlich herbeizuführen. Die Wahrheit ist, daß England seit vielen Jahren es verstanden hat, eine aus den realen Verhältnissen Europas heraus orien­tierte Politik zu treiben in einem Sinn, der ihm günstig schien, der wie eine im naturwissenschaftlichen Charakter gehaltene Ausnützung der vorhandenen Völker- und Staa­tenkräfte war. Nirgends außer in England trug die Politik einen ganz sachgemäßen, in sich zusammenhängenden Cha­rakter. Man nehme die auf dem Balkan treibenden Volks-kräfte, man nehme hinzu, was in Österreich spielte, und man schaue von dem aus auf das, was in eingeweihten

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Kreisen vorhandene politische Formeln in England waren. Diese Formeln enthielten immer: Auf dem Balkan wird dies und jenes geschehen; England hat dabei dies zu tun. Und die Ereignisse bewegten sich in der angegebenen Rich­tung, und die englische Politik bewegte sich damit parallel. Man konnte in England in solche Formeln eingegliedert Sätze finden wie diesen: Das russische Reich wird in seiner gegenwärtigen Form zugrunde gehen, damit das russische Volk leben könne. Und dieses Volk ist so geartet in seinen Ver­hältnissen, daß man dort werde sozialistische Experimente ausführen können, für die es in Westeuropa keine Möglich­keit gibt. Wer die Politik Englands verfolgt, der kann sehen, daß sie stets im großen Stil darauf eingerichtet war, alle solche und viele andere Gesichtspunkte zugunsten Englands zu wenden. Und dabei kam ihm zugute, daß es in Europa allein von solchen Gesichtspunkten ausging und eben da­durch seine diplomatischen Vorsprünge sich ermöglichte. Seine Politik arbeitete stets im Sinne dessen, was im Sinne der wirklichen Volks- und Staatskräfte war, und sein Be­streben dabei war, im Sinne dessen sich diese Kräfte dienst­bar zu machen, was in seinem wirtschaftlichen Vorteil war. Es arbeitete zu seinem Vorteil. Das tun andere selbstver­ständlich auch. Aber England arbeitete außerdem in der Richtung dessen, was sich durch die in ihm selbst liegenden Kräfte verwirklichen läßt, während andere auf die Beob­achtung solcher Kräfte sich nicht einließen, ja wohl über­haupt nur ein vornehmes Lächeln gehabt hätten, wenn man ihnen von solchen Kräften gesprochen hätte. Englands ganze Staatsstruktur ist auf solches wirklich praktisches Arbeiten eingestellt. Andere werden erst dann eine der englischen gewachsene Staatskunst entfalten können, wenn das Angedeutete

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kein englisches Geheimnis mehr sein wird, son­dern wenn es Gemeingut sein wird. Man denke nur, wie unendlich naiv es war, wenn man glaubte, von Deutschland aus mit dem Bagdadbahnproblem durchzudringen, da man von da aus dieses Problem so unternahm, als ob es überhaupt nur nötig wäre, an etwas zu gehen, wie an den Bau einer Straße, über deren Anlegung man sich mit seinen Nachbarn verständigt hat. Oder, um von etwas noch viel weiter Lie­gendem zu sprechen, wie dachte sich Österreich, sein Ver­hältnis zum Balkan zu ordnen, ohne Kräfte dabei ins Feld zu führen, die, aus den Volks- und Staatskräften des Balkan heraus gedacht, die Trümpfe Englands paralysieren konn­ten? England tat eben in einem gegebenen Zeitpunkte nicht nur das und jenes, sondern es lenkte international die Kräfte so, daß sie im rechten Momente in seiner Richtung liefen. Um das zu tun, muß man diese Kräfte erstens kennen und zweitens bei sich das entfalten, was im Sinne dieser Kräfte gelegen ist. Österreich-Ungarn also hätte zur rechten Zeit eine Handlung vollbringen müssen, die im Sinne der Süd­slavenkräfte diese in die österreichische Richtung gebracht, Deutschland hätte im Sinne der wirtschaftlich-opportuni­stischen Kräfte die Bagdadbahninteressen in seine Richtung bringen müssen, statt daß das erstere in die russische und damit in die russisch-englische Linie, das zweite in die eng­lische Linie abgebogen ist.

Der Krieg muß in Mitteleuropa dazu führen, in bezug auf das im Völker-, Staats- und Wirtschaftsleben Vorhan­dene sehend zu werden. Dadurch allein kann man England zwingen, nicht weiter auf dem Wege einer überlegenen Diplomatie zu den anderen Staaten sich zu verhalten, son­dern mit sich wie gleich zu gleich verhandeln zu lassen über

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dasjenige, was zwischen europäischen Menschengemein­schaften zu verhandeln ist. Ohne die Erfüllung dieser Be­dingung ist alles Nachmachen des englischen Parlamentaris­mus in Mitteleuropa nichts anderes als ein Mittel, sich selbst Sand in die Augen zu streuen. In England werden sonst ein paar Leute immer Mittel undwege finden, ihreWirklichkeits­politik durch ihr Parlament ausführen zu lassen, während doch ein deutsches und österreichisches Handeln nicht schon allein dadurch ein gescheites werden wird, daß es statt von ein paar Staatsmännern von einer Versammlung von etwa 500 Abgeordneten beschlossen wird. Man kann sich kaum etwas Unglücklicheres denken als den Aberglauben, daß es einen Zauber bewirken werde, wenn man zu dem übrigen, was man sich hat von England gefallen lassen, nun auch noch das fügt, daß man sich die demokratische Schablone von ihm aufdrängen läßt. Damit soll nicht gesagt werden, daß Mitteleuropa nicht im Sinne einer inneren politischen Gestaltung eine Fortentwickelung erfahren solle, allein eine solche darf nicht die Nachahmung des westeuropäischen so­genannten Demokratismus sein, sondern sie muß gerade dasjenige bringen, was dieser Demokratismus in Mittel­europa wegen dessen besonderer Verhältnisse verhindern würde. Dieser sogenannte Demokratismus ist nämlich nur dazu geeignet, die Menschen Mitteleuropas zu einem Teile der englisch-amerikanischen Weltherrschaft zu machen, und würde man sich dazu auch noch auf die sogenannte zwi­schenstaatliche Organisation der gegenwärtigen Internatio­nalisten einlassen, dann hätte man die schöne Aussicht, als Mitteleuropäer innerhalb dieser zwischenstaatlichen Orga­nisation stets überstimmt zu werden.

Worauf es ankommt ist, aus dem mitteleuropäischen

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Leben heraus die Impulse zu zeigen, die hier wirklich liegen, und an denen die westlichen Gegner, wenn sie aufgezeigt werden, sehen werden, daß sie sich bei einer weiteren Fort­setzung des Krieges an ihnen verbluten müssen. Gegen Machtprätentionen können die Gegner ihre Macht setzen und werden es tun, solange es bei Prätentionen bleibt. Gegen wirkliche Machtkräfte werden sie die Waffen strecken. Wilsons so wirksamen Manifestationen muß entgegenge­halten werden, was in Mitteleuropa wirklich zur Befreiung des Lebens der Völker getan werden kann, während seine Worte ihnen nichts zu geben vermögen als die anglo-ameri­kanische Weltherrschaft. Die Übereinstimmung mit Ruß­land braucht von einem mitteleuropäischen Programm der Wirklichkeit nicht gesucht zu werden; denn diese ergibt sich selbst. Ein solches mitteleuropäisches Programm darf nichts enthalten, was nur innere Staatsangelegenheit ist, sondern lediglich solches, was mit dem Verhältnis nach außen etwas zu tun hat. Aber selbstverständlich muß in dieser Richtung sachgemäß gesehen werden; denn ob ein Mensch gut denken kann, ist gewiß eine Angelegenheit seiner inne­ren Organisation, ob er aber durch dieses gute Denken nach außen in der oder jener Richtung wirkt, ist nicht eine innere Angelegenheit.

Deshalb kann nur ein mitteleuropäisches Programm das Wilsonische schlagen, das real ist, das heißt nicht das oder jenes Wünschenswerte betont, sondern das einfach eine Um­schreibung dessen ist, was Mitteleuropa tun kann, weil es zu diesem Tun die Kräfte in sich hat. Dazu gehört:

1. Daß man einsehe: Gegenstand einer demokratischen Volksvertretung können nur die rein politischen, die mili­tärischen und die polizeilichen Angelegenheiten sein. Diese

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sind nur möglich auf Grund des historisch gebildeten Unter­grundes. Werden sie vertreten für sich in einer Volksver­tretung und verwaltet von einer dieser Volksvertretung verantwortlichen Beamtenschaft, so entwickeln sie sich not­wendig konservativ. Ein äußerer Beweis dafür ist, daß seit dem Kriegsausbruche selbst die Sozialdemokratie in diesen Dingen konservativ geworden ist. Und sie wird es noch mehr werden, je mehr sie gezwungen wird, sinn- und sach­gemäß dadurch zu denken, daß in den Volksvertretungen wirklich nur politische, militärische und polizeiliche An­gelegenheiten der Gegenstand sein können. Innerhalb einer solchen Einrichtung kann sich auch der deutsche Individua­lismus entfalten mit seinem bundesstaatlichen System, das nicht eine zufällige Sache ist, sondern das im deutschen Volkscharakter enthalten ist.

2. Alle wirtschaftlichen Angelegenheiten werden geord­net in einem besonderen Wirtschaftsparlamente. Wenn die­ses entlastet ist von allem Politischen und Militärischen, so wird es seine Angelegenheiten rein so entfalten, wie es die­sen einzig und allein angemessen ist, nämlich opportuni­stisch. Die Verwaltungsbeamtenschaft dieser wirtschaftlichen Angelegenheiten, innerhalb deren Gebiet auch die gesamte Zollgesetzgebung liegt, ist unmittelbar nurdemWirtschafts­parlamente verantwortlich.

3. Alle juristischen, pädagogischen und geistigen Ange­legenheiten werden in die Freiheit der Personen gegeben. Auf diesem Gebiete hat der Staat nur das Polizeirecht, nicht die Initiative. Es ist, was hier gemeint ist, nur scheinbar radikal. In Wirklichkeit kann sich nur derjenige an dem hier gemeinten stoßen, der den Tatsachen nicht unbefangen ins Auge sehen will. Der Staat überläßt es den sach-, berufs-

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und völkermäßigen Korporationen, ihre Gerichte, ihre Schulen, ihre Kirchen und so weiter zu errichten, und er überläßt es dem einzelnen, sich seine Schule, seine Kirche, seinen Richter zu bestimmen. Natürlich nicht etwa von Fall zu Fall, sondern auf eine gewisse Zeit. Im Anfange wird dies wohl durch die territorialen Grenzen beschränkt wer­den müssen, doch trägt es die Möglichkeit in sich, auf fried­lichem Wege die nationalen Gegensätze - auch andere -auszugleichen. Es trägt sogar die Möglichkeit in sich, etwas Wirkliches zu schaffen an Stelle des schattenhaften Staaten­Schiedsgerichts. Nationalen oder anderweitigen Agitatoren werden dadurch ihre Kräfte ganz genommen. Kein Italiener in Triest fände Anhänger in dieser Stadt, wenn jedermann seine nationalen Kräfte in ihr entfalten könnte, trotzdem aus selbstverständlichen opportunistischen Gründen seine wirtschaftlichen Interessen in Wien geordnet werden, und trotzdem sein Gendarm von Wien aus bezahlt wird.

Die politischen Gebilde Europas könnten sich so auf Grundlage eines gesunden Konservativismus entwickeln, der nie auf Zerstückelung Österreichs, sondern höchstens auf seine Ausdehnung bedacht sein kann.

Die wirtschaftlichen Gebilde würden sich opportunistisch gesund entwickeln; denn niemand kann Triest in einem Wirtschaftsgebilde haben wollen, in dem es wirtschaftlich zugrunde gehen muß, wenn ihn das Wirtschaftsgebilde nicht hindert, kirchlich, national und so weiter zu tun, was er will.

Die Kulturangelegenheiten werden von dem Drucke be­freit, den auf sie die wirtschaftlichen und politischen Dinge ausüben, und sie hören auf, auf diese einen Druck auszu­üben. Alle diese Kulturangelegenheiten werden fortdauernd in gesunder Bewegung erhalten.

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Eine Art Senat, gewählt aus den drei Körperschaften, welchen die Ordnung der pohtisch-militärischen, wirtschaft­lichen und juristisch-pädagogischen Angelegenheiten ob­liegt, versieht die gemeinsamen Angelegenheiten, wozu auch zum Beispiel die gemeinsamen Finanzen gehören.

Die Ausführbarkeit des in dieser Darstellung Angeführ­ten wird niemand bezweifeln, der aus den wirklichen Ver­hähnissen Mitteleuropas heraus denkt. Denn hier wird überhaupt nichts gefordert, was durchgeführt werden soll, sondern es wird nur aufgezeigt, was sich durchführen will, und was in demselben Augenblicke gelingt, in dem man ihm freie Bahn gibt.

Erkennt man dieses, dann wird vor allem klar, warum wir diesen Krieg haben und warum er unter der falschen Flagge der Völkerbefreiung ein Krieg ist zur Unterdrückung des deutschenVolkes, im weiteren Sinne zur Unterdrückung alles selbständigen Volkslebens in Mitteleuropa. Entkleidet man das Wilsonsche Programm, das als die neueste Um­schreibung aus den Deckprogrammen der Entente hervor­gegangen ist, so kommt man darauf, daß seine Ausführung nichts anderes bedeuten würde als den Untergang dieser mitteleuropäischen Freiheit. Daran hindert nicht, daß Wilson von der Freiheit der Völker redet; denn die Welt richtet sich nicht nach Worten, sondern nach Tatsachen, die aus der Verwirklichung dieser Worte folgen. Mitteleuropa braucht wirkliche Freiheit, Wilson aber redet gar nicht von einer wirklichen Freiheit. Die ganze westliche Welt hat von die­ser wirklichen für Mitteleuropa nötigen Freiheit überhaupt keinen Begriff. Man redet da von Völkerfreiheit und meint dabei nicht die wirkliche Freiheit der Menschen, sondern

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eine schimärische Kollektivfreiheit von Menschenzusammen­hängen, wie sie sich in den westeuropäischen Staaten und in Amerika herausgebildet haben. Nach den besonderen Verhältnissen Mitteleuropas kann sich diese Kollektivfrei­heit nicht aus internationalen Verhältnissen heraus ergeben, also darf sie nie und nimmer Gegenstand einer internatio­nalen Abmachung sein, wie sie einem Friedensschlusse zu­grunde liegen kann. In Mitteleuropa muß die Kollektiv-freiheit der Völker aus der allgemeinen menschlichen Freiheit sich ergeben, und sie wird sich ergeben, wenn man durch Ablösung aller nicht zum rein politischen, militärischen und wirtschaftlichen Leben gehörigen Lebenskreise dafür freie Bahn schafft. Es ist ganz selbstverständlich, daß gegen solche Loslösung diejenigen, welche stets nur mit ihren Ideen, nicht mit der Wirklichkeit rechnen, solche Einwände erheben, wie man sie in einem eben erschienenen Buche findet, nämlich in Kriecks «Die deutsche Staatsidee» auf Seite 167 f.: «Ge­legentlich wurde früher, unter anderen von E. von Hart­mann, die Forderung nach einem Wirtschaftsparlamente neben der Volksvertretung erhoben. Der Gedanke liegt ganz in der Richtung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwickelung. Abgesehen aber davon, daß ein neues großes Rad die ohnehin reichliche Unbeholfenheit und Reibung der Maschine vermehren würde, wäre die Zuständigkeit zweier Parlamente unmöglich gegeneinander abzugrenzen.»

Bei diesem Gedanken sollte nun doch wohl darauf ge­sehen werden, daß hier zugegeben werden muß, er ergibt sich aus den wirklichen Verhältnissen der Entwickelung, muß also durchgeführt werden und darf nicht gegen die Entwickelung abgewiesen werden, weil man seine Verwirk­lichung schwer findet. Macht man nämlich in der Wirklichkeit

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vor solchen Schwierigkeiten halt, so schafft man Ver­wickelungen, die sich später gewaltsam entladen. Und letzten Endes ist dieser Krieg in der Eigentümlichkeit, in der er sich auslebt, die Entladung von Schwierigkeiten, die man versäumt hat, auf dem richtigen, anderen Wege hinwegzu­räumen, solange es dazu noch Zeit war.

Das Wilsonsche Programm geht davon aus, das in der Welt unmöglich zu machen, was die berechtigte Aufgabe und die Lebensbedingung der mitteleuropäischen Staaten ist. Ihm muß entgegengehalten werden, was in Mitteleuropa geschehen wird, wenn dieses Geschehen nicht gestört wird durch die gewaltsame Zerstörung des mitteleuropäischen Lebens. Es muß ihm gezeigt werden, was nur Mitteleuropa auf Grund des hier historisch Gewordenen tun kann, wenn es sich nicht mit der Entente verbindet, die gar kein Inter­esse daran haben kann, Mitteleuropa seiner naturgemäßen Entwickelung entgegenzuführen.

So wie die Dinge heute liegen, haben Deutschland und Österreich nur die Wahl zwischen den folgenden drei Din­gen:

1. Unter allen Umständen auf einen Sieg ihrer Waffen zu warten, und von ihm die Möglichkeit zu erhoffen, ihre mitteleuropäische Aufgabe ausführen zu können.

2. Mit der Entente auf Grund deren jetzigen Programms einen Frieden einzugehen und damit ihrer sicheren Zer­störung entgegenzugehen.

3. Zu sagen, was sie im Sinne der wirklichen Verhält­nisse als das Ergebnis eines Friedens betrachten werden, und damit die Welt vor die Möglichkeit zu stellen, nach klarer Einsicht in die Verhältnisse und in das Wollen Mitteleuropas die Völker wählen zu lassen zwischen einem Tatsachenprogramm,

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das den europäischen Menschen die wirkliche Freiheit und damit ganz selbstverständlich die Freiheit der Völker bringt, oder den Scheinprogrammen des Westens und Amerikas, die von Freiheit reden, in Wirklichkeit aber für ganz Europa die Unmöglichkeit des Lebens bringen. Wir in Mitteleuropa machen vorläufig den Eindruck, als ob wir uns vor dem Westen scheuten zu sagen, was wir wollen müssen, während dieser Westen uns nur so überschüttet mit den Kundgebungen seines Wollens. Dadurch ruft dieser Westen den Eindruck hervor, daß nur er etwas will für das Heil der Menschheit, und wir nur bestrebt seien, diese löblichen Bestrebungen durch allerlei solche Dinge wie Militarismus zu stören, während er dadurch, daß er sich seit langem darauf eingerichtet hat und weiter darauf noch besser einrichten will, uns zu Schattenmenschen zu machen, in Wahrheit der Schöpfer unseres Militarismus ist. Gewiß sind solche und ähnliche Dinge oft gesagt worden, doch darauf kommt es nicht an, daß sie von dem oder jenem gesagt werden, sondern darauf, daß sie das Leitmotiv mitteleuropäischen Handelns wirklich werden, und die Welt erkennen lernt, daß sie von Mitteleuropa kein anderes Han­deln zu erwarten hat als ein solches, das zum Schwerte greifen muß, wenn die anderen ihm dieses Schwert in die Hände zwingen. Was jetzt die Westvölker deutschen Mili­tarismus nennen, haben sie in jahrhundertelanger Entwickelung geschmiedet, und nur an ihnen, nicht an Deutschland kann es sein, ihm für Mitteleuropa seinen Sinn zu nehmen. An Mitteleuropa aber ist es, sein Wollen für die Freiheit klar hinzustellen, ein Wollen, das nicht in Wilsonscher Art auf Programme gebaut sein kann, sondern auf die Wirk­lichkeit des Menschendaseins.

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Es gibt daher für Mitteleuropa nur ein Friedenspro-gramm, und das ist: Die Welt wissen zu lassen, ein Friede ist sofort möglich, wenn die Entente an die Stelle ihres jetzigen, unwahren Friedensprogramms ein solches setzt, das wahr ist, weil es in seiner Verwirklichung nicht den Untergang, sondern die Lebensmöglichkeit Mitteleuropas herbeiführt. Alle anderen Fragen, die Gegenstand von Frie­densbestrebungen werden können, lösen sich, wenn sie auf Grundlage dieser Voraussetzungen in Angriff genommen werden. Auf der Grundlage, die jetzt von der Entente uns dargeboten wird, und die von Wilson aufgenommen wor­den ist, ist ein Friede unmöglich. Tritt kein anderes an die Stelle, so könnte das deutsche Volk nur durch Gewalt zur Annahme dieses Programmes gebracht werden, und der weitere Verlauf der europäischen Geschichte würde die Richtigkeit des hier Gesagten beweisen, denn bei Verwirk­lichung des Wilsonschen Programmes gehen die europä­ischen Völker zugrunde. Man muß eben in Mitteleuropa ohne Illusion dem ins Auge schauen, was diejenigen Per­sönlichkeiten seit vielen Jahren als ihren Glauben haben, den sie von ihrem Gesichtspunkte aus als das Gesetz der Weltentwickelung betrachten: daß der anglo-amerikani­schen Rasse die Zukunft der Weltentwickelung gehört, und daß sie das Erbe der lateinisch-romanischen Rasse und die Erziehung des Russentumes zu übernehmen hat. Bei der Anführung dieser weltpolitischen Formel durch einen sich eingeweiht dünkenden Engländer oder Amerikaner wird stets bemerklich gemacht, daß das deutsche Element bei der Ordnung der Welt nicht mitzusprechen hat wegen seiner Unbedeutendheit in weltpolitischen Dingen, daß das roma-nische Element nicht berücksichtigt zu werden braucht, weil

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es ohnedies im Aussterben ist, und daß das russische Element derjenige hat, der sich zu seinem weithistorischen Erzieher macht. Man könnte von einem solchen Glaubensbekenntnis gering denken, wenn es im Kopfe einiger für politische Phantasien oder Utopien zugänglicher Menschen lebte, allein die englische Politik benützt unzählige Wege, um dieses Programm praktisch zum Inhalte seiner wirklichen Weltpolitik zu machen, und vom Gesichtspunkte Englands aus könnte die gegenwärtige Koalition, in der es sich be­findet, nicht günstiger sein, als sie ist, wenn es sich um die Verwirklichung dieses Programmes handelt. Es gibt aber nichts, das Mitteleuropa dem entgegensetzen kann, als ein wirklich menschenbefreiendes Programm, das in jedem Augenblick Tat werden kann, wenn menschlicher Wille sich für seine Verwirklichung einsetzt. Man kann ja vielleicht denken, daß der Friede auch lange auf sich warten lassen wird, auch wenn das hier gemeinte Programm vor die euro­päischen Völker hingestellt wird, da es ja während des Krieges nicht ausgeführt werden kann und überdies von den Ententevölkern so hingestellt werden würde, als ob es von den Führern Mitteleuropas nur zur Täuschung der Völ­ker hingestellt wäre, während nach dem Kriege einfach wieder das eintreten würde, was die Ententeführer als das Schreckliche hinstellen, das sie aus moralischen Gründen in einem «Kampfe für Freiheit und Recht der Völker aus der Welt schaffen müßten». Aber wer die Welt richtig beurteilt nach den Tatsachen, nicht nach seinen Lieblingsmeinungen, der kann wissen, daß alles, was Wirklichkeiten entspricht, einen ganz anderen Überzeugungswert hat als dasjenige, was aus der bloßen Willkür stammt. Und man kann ruhig abwarten, was sich bei denjenigen zeigen wird, die einsehen

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werden, mit dem Programme Mitteleuropas gehen den Völkern der Entente nur die Möglichkeiten verloren, Mittel­europa zu zertrümmern, nicht aber fließt aus ihm irgend etwas, was mit irgendeinem wirklichen Lebensimpuls der Ententevölker unverträglich wäre. Solange man sich im Gebiete der maskierten Bestrebungen befindet, wird eine Verständigung ausgeschlossen sein; sobald man hinter den Masken die Wirklichkeiten nicht nur militärisch, sondern auch politisch zeigen wird, wird eine ganz andere Gestalt der gegenwärtigen Ereignisse beginnen. DieWaffen Mittel­europas hat die Welt zum Heile dieses Mitteleuropa kennen gelernt, das politische Wollen ist, soweit Mitteleuropa in Betracht kommt, der Welt ein Buch mit sieben Siegeln. Da­für bekommt die Welt jeden Tag die Schilderung eines Schreckbildes, welch ein furchtbares, zerstörungswürdiges Ding dieses Mitteleuropa eigentlich ist. Und es sieht für die Welt so aus, als ob Mitteleuropa zu diesem Schreckbilde nur zu schweigen hätte, was selbstverständlich der Welt wie ein Ja-sagen zu demselben erscheinen muß.

Es ist ganz selbstverständlich, daß jedem unzählige Be­denken aufsteigen, wenn er sich Gedanken darüber machen will, wie das hier Angedeutete im einzelnen durchgeführt werden soll, allein solche Bedenken kämen nur in Betracht, wenn das Vorliegende als ein Programm gedacht wäre, an dessen Verwirklichung ein einzelner oder eine Gesellschaft gehen sollte. So ist es aber nicht gedacht, ja es widerlegte sich selber, wenn es so gedacht wäre.

Es ist als der Ausdruck dessen gedacht, was die Völker Mitteleuropas tun werden, wenn man sich von seiten der Regierungen die Aufgabe stellen wird, die Volkskräfte zu erkennen und zu entbinden. Was im einzelnen geschehen

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wird, das zeigt sich bei solchen Dingen immer dann, wenn sie sich auf den Weg der Verwirklichung begeben. Denn sie sind nicht Vorschriften über etwas, was zu geschehen hat, sondern Voraussagen dessen, was geschehen wird, wenn man die Dinge auf ihre durch die eigene Wirklichkeit ge-forderte Bahn gehen läßt. Und diese eigene Wirklichkeit schreibt vor, bezüglich aller religiösen und geistig-kultu­rellen Angelegenheiten, wozu auch das Nationale gehört, Verwaltung durch Korporationen, zu denen sich die ein­zelne Person aus freiem Willen bekennt, und die in ihrem Parlamente als Korporationen verwaltet werden, so daß dieses Parlament es nur mit der betreffenden Korporation, nie aber mit der Beziehung dieser Korporation zu der ein­zelnen Person zu tun hat. Und nie darf es eine Korporation mit einer unter demselben Gesichtspunkte zu einer anderen Korporation gehörigen Person zu tun haben. Solche Kor­porationen werden aufgenommen in den Kreis des Parla­mentes, wenn sie eine bestimmte Anzahl von Personen ver­einigen. Bis dahin bleiben sie Privatsache, in die sich keine Behörde oder Vertretung zu mischen hat. Für wen es ein saurer Apfel ist, daß von solchen Gesichtspunkten aus alle geistigen Kulturangelegenheiten künftig der Privilegierung entbehren müssen, der wird eben in diesen sauren Apfel zum Heile des Volksdaseins beißen müssen. Bei der immer weitergehenden Gewöhnung an diese Privilegierung wird man ja in vielen Kreisen schwer einsehen, daß man auf dem Wege von der Privilegierung gerade der geistigen Berufe zum guten alten, uralten Prinzipe der freien Korporierung zurückkehren muß. Und daß die Korporation zwar einen Menschen in seinem Berufe tüchtig machen soll, daß man aber die Ausübung dieses Berufes nicht privilegieren, son­dern

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der freien Konkurrenz und der freien menschlichen Wahl überlassen muß. Das wird von allen denen schwer einzusehen sein, die gern davon sprechen, daß die Menschen doch zu dem oder jenem nicht reif seien. In der Wirklich­keit wird dieser Einwand ja ohnedies nicht in Betracht kom­men, weil mit Ausnahme der notwendig freien Berufe über die Wahl der Petenten die Korporation entscheiden wird. Ebensowenig können sich Schwierigkeiten ergeben bezüg­lich des Politischen und des Wirtschaftlichen, die nicht real behebbar wären bei Verwirklichung des Intendierten. Wie zum Beispiel pädagogische Institutionen zustande kommen müssen, die in ihren Richtlinien die beiden, nicht die eigent­liche Pädagogik in sich schließenden Vertretungen berühren, das ist Sache des übergeordneten Senates.

Zweites Memorandum (letzte Fassung)

«Kein Volk darf gezwungen werden, unter einer anderen Herrschaft zu leben, der es widerstrebt. Besitzwechsel und Rückkehr in früher gültige Hoheitsverhältnisse ist nur in den Ländern zu gestatten, wo das Volk selbst zur Sicherung seiner Freiheit, seines Behagens und Zukunftsglücks Wechsel und Rückkehr verlangt... Die befreiten Völker der gan­zen Erde müssen sich in aufricbtigem Gemeinschaftsempfin­den... zu einem festen Bunde verknüpfen, der mit den geeinten Kräften aller den Frieden und die Gerechtigkeit im Völkerverkehr zu schirmen vermag. Brüderlichkeit darf nicht länger ein leeres Wort sein, muß ein allgemein aner­kannter Begriff werden, der auf dem Felsen der Wirklich­keit ruht.»

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So umschreibt Herr W. Wilson, was durch die Teilnahme Amerikas an diesem Kriege Wirklichkeit werden soll. Be­stechende Worte sind es, denen gegenüber man sagen kann, daß sich jeder vernünftige Mensch mit gesundem Empfin­den zu ihnen bekennen müsse. Schriebe sie ein schriftstellern- der Menschenfreund zur Erbauung eines Leserkreises nieder, man könnte bei der Anerkennung ihrer Selbstverständlich­keit stehen bleiben. Man könnte auch mit der Geste des Moralisten versichern, daß der kein Freund des Fortschrittes und der Freiheit sein könne, der etwas dagegen einwenden will. Man kann sogar heute schon Stimmen vernehmen, die betonen, daß dieser Krieg doch die Lehre gebracht habe: Nur derjenige treibe gegenwärtig höhere, zeitgemäße Poli­tik, der sich zu einem solchen oder einem ähnlichen Ideale bekenne und sein Handeln danach einrichte.

Reden über «Anschauungen» und davon, daß diese oder jene Anschauung vertreten werden müsse, weil man an sie glaubt, führt niemals zu einer Grundlage für das praktische Handeln. Dazu taugt allein, die Wirklichkeit scharf ins Auge zu fassen. Für den Angehörigen der mitteleuropäischen Staaten kann keine Auseinandersetzung über die «allge-mein-menschliche» Berechtigung der Ententeziele, gewisser­maßen eine solche über ihre «Schönheit» von Wert sein, sondern allein die Erkenntnis von ihrem wirklichen Kräfteverhältnis im Völkerleben. Deshalb wird im folgenden die für Europa wirkliche Gestalt der Ententeziele ins Auge ge­faßt ohne Rücksicht darauf, daß das, was hier gesagt wird, den Ententeführern nicht angenehm klingen kann. Nur durch ein so orientiertes Denken kann man zu praktischen Im­pulsen kommen. Die Dinge werden etwas scharf formuliert werden, weil sie dieses aus den angegebenen Gründen müssen.

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Ausdrücklich bemerkt soll werden, daß vorhandene Stimmungen bei dieser Formulierung keine Rolle spielen sollen, sondern allein die nüchterne Beobachtung der Tat-sachen in den letzten Jahrzehnten. Was die Entente will, einzusehen, muß Grundlage sein für die in Mitteleuropa zu findenden Richtlinien; sich blenden lassen durch das, was sie sagt, führt auf die schlimmsten Abwege.

Es ist jedenfalls eine undankbare Aufgabe, gezwungen zu sein, sich gegen Vorstellungen wenden zu müssen, welche in hohem Grade die Vernunft und das Herz der Menschen für sich zu haben scheinen. Die noch dazu das Ergebnis der «wahren geschichtlichen Entwickelung der Menschheit zur edelsten Demokratie» zu sein scheinen. Und dennoch muß das folgende auf der Grundlage erbaut sein, daß das Be­kenntnis zu Wilsons Wollen nicht nur den Angehörigen der mittel- und osteuropäischen Völker ein logisches Laster sein muß, sondern auch, daß innerhalb dieses Krieges und nach demselben jede einzelne Handlung und Maßnahme so ge­schehen müssen, daß dieses Wilsonsche und Entente-Wollen an der Gesundheit und Fruchtbarkeit dieser Maßnahmen und Handlungen sich brechen muß.

In den Ausdruck, den Herr Wilson seinem Wollen ge­geben hat, sind die nach Verdunklung ihrer wahren Ge­stalt strebenden Kriegsziele der Entente auf fragwürdige Art hineingeheimnist. Man hat es mit den letzteren zugleich zu tun, wenn man sich mit den ersteren zu schaffen macht. Auf eine noch so geistreiche begriffliche Widerlegung des Wilsonschen «Programmes» darf es in dieser Zeit nicht an­kommen. Man hat es gegenwartig nicht mit Auseinander­setzungen zu tun, die entscheiden sollen, wer recht oder unrecht hat. Auf dem Felde, um das es sich hier handelt,

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hat nur Wert, was geschieht oder was den Keim für das Geschehen in sich trägt. Und Gedanken, die in Mitteleuropa als Keime für das Handeln von heute und morgen gedacht und gesprochen werden, haben nur Wert, wenn sie in die­sem Sinne gehalten sind.

Wilsons Worte sind nicht von einem schriftstellernden Menschenfreund gesprochen. Sie sind die Fahne der Taten, zu denen sich die Amerikaner waffnen, und welche die Entente seit drei Jahren gegen Mitteleuropa vollbringt. Die Tatsachen stehen so, daß Mitteleuropa gegen das zu kämp­fen hat, das hinter dieser Fahne behauptet, zum Heile der Menschheit, zur Befreiung der Völker zu Felde zu ziehen. Die Entente und Wilson sagen, wofür sie zu kämpfen vor-geben. Ihre Worte haben Werbekraft. Ihre Werbekraft wird immer bedenklicher. Es gibt Menschen in Mitteleuropa, die gewiß nicht eingestehen wollen, daß sie Wilson nachsprechen, deren Ideen aber dessen Worten nicht unähnlich klingen.

Wer den Ursprung dieses Krieges in einem tieferen Sinne kennt, der kann nicht anders, als die Notwendigkeit be­tonen, daß das Entente-Wilson-Programm durch Mittel­europa die schärfste Zurückweisung durch Tatsachen erfährt. Denn das real Aussichtsvolle dieses Programmes - neben seinem moralisch Blendenden - liegt darin, daß es die Instinkte der mittel- und osteuropäischen Völker dazu benützen will, diese Völker durch moralisch-politische Überrumpelung in wirtschaftliche Abhängigkeit von dem Anglo-Ämerikanismus zu bringen. Die geistige Abhängig­keit würde dann nur die notwendige reale Folge sein. Wer weiß, daß man in englischen eingeweihten Kreisen seit dem vorigen Jahrhundert von dem «kommenden Weltkriege»

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sprach als von dem Ereignis, das der anglo-amerikanischen Rasse die Weltherrschaft bringen müsse, der kann keinen besonderen Wert darauf legen, daß die Führer der Entente­völker sagen, sie seien von diesem Kriege überrascht worden oder sie haben ihn verhindern wollen, selbst wenn diese Versicherungen bei denen, die sie augenblicklich aussprechen, subjektive Wahrheit haben sollten. Denn diejenigen, welche von dem «kommenden Weltkrieg» als einem unabwend­baren Ereignisse sprachen, rechneten mit den wirklichen historisch-völkischen Kräften Europas. Sie rechneten mit den Instinkten der europäischen, namentlich der slavischen Völker. Und sie wollten die Ideale dieser slavischen Völker so lenken und so benützen, daß sie dem Völkeregoismus des Anglo-Amerikanertums dienstbar seien. Sie rechneten ferner mit dem Untergange des Romanentums, auf dessen Trummern sie sich selbst ausbreiten wollen. Sie rechneten also mit großzügigen, historisch-völkischen Gesichtspunkten, die sie in den Dienst ihrer eigenen Ziele stellen wollen. Und diese Ziele führen, ob dieses auch noch so stark abgeleugnet wird von Ententeseite aus, zur Absicht, die mitteleuropä­ischen Staatsgebilde zu zermalmen.

Das Richtige ist, ganz nüchtern zu betonen, daß das Ziel der Ententeführer die Zerdrückung Mitteleuropas ist, denn nur die Betonung dieses Zieles kann die Antwort sein auf die so wirksamen Entente-Aussagen; aber eine Antwort, die gewissermaßen negativ ist, weil sie das widerlegen will, was auf der Ententeseite gesagt wird, hat keinen Wert. Deshalb soll die folgende Antwort positiv sein, das heißt auf die Tatsachen hinweisen, die von Mitteleuropa aus der Entente gegenüberstehen.

Nur die Erkenntnis, daß dies so ist, kann Mitteleuropa

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diejenigen Impulse bringen, welche aus dem Chaos der Gegenwart herausführen. Die mitteleuropäischen Staaten-gebilde können sich nur auf den Standpunkt stellen, das Ententeprogramm durch ihre eigenen Maßnahmen unwirk­sam zu machen. Dieses Ententeprogramm beruht - ob mehr oder weniger ausgesprochen oder unausgesprochen - auf drei Voraussetzungen:

1. daß die historisch gewordenen mitteleuropäischen Staatsgebilde nicht als diejenigen - vom Standpunkte der Entente - anerkannt werden dürfen, welchen es obliegt, die europäischen Völkerprobleme zu lösen;

2. daß diese mitteleuropäischen Staatsgebilde wirtschaft­lich nicht in einem Konkurrenz-, sondern in einem Ab­hängigkeitsverhältnisse vom Anglo-Amerikanertum stehen müssen;

3. daß die kulturellen (geistigen) Verhältnisse Mittel- und Osteuropas geordnet werden, wie es im Sinne des Volksegoismus des Anglo-Amerikanertums ist.

Nur wer vermag zu erkennen, daß die Übersetzung dieser drei Punkte in die Wilson-Entente-Sprache die ist, welche Wilson in seinem Sendschreiben an die Russen an­gewendet hat, der durchschaut, um was es sich handelt.

Es könnte auch sein, daß wir durch die zwingende Lage der Tatsachen in der nächsten Zeit einen Frieden erhalten. Vielleicht, wenn England sieht, daß es sich augenblicklich nicht mehr halten kann, ohne seine Zustimmung zur Be­endigung des Krieges zu geben. Das alles ändert am We­sentlichen auf Seite des Anglo-Amerikanismus nichts. Wenn es dieses Anglo-Amerikanertum möglich findet, den Krieg fortzusetzen, dann wird es weiter die drei obigen Punkte in die Formel des Wilsonschen Sendschreibens kleiden:

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«Nach diesem Ziel haben wir immer hingestrebt, und knau­serten wir jetzt mit Blut und Geld, so kämen wir vielleicht nie in die Einheit und Kraft, die im Kampfe für die große Sache der Menschheitsbefreiung notwendig sind.» Sind die führenden Mächte Englands genötigt, in der nächsten Zeit den Krieg zu Ende kommen zu lassen, dann wird die künftige Politik, die im Sinne der obigen drei Punkte weiter orientiert sein würde, in die Formel gebracht werden: «Wir haben für die Menschheitsbefreiung Geld und Blut opfern wollen, wir haben es auch in hohem Grade getan, während die mitteleuropäischen Mächte nur auf das Entgegengesetzte bedacht waren. Wir haben gegen die Gewalt vorläufig nur Teilweises erreichen können. Unser Ziel steht uns unge­schmälert vor Augen, weil es das Ziel der Menschheit selber ist.»

Dem, was in diesen Absichten tatsächlich liegt, wird man nur wirklich gewachsen sein, wenn man in Mitteleuropa praktisch nach der Erkenntnis handelt: Im Westen nennt man die Herrschaft des Anglo-Amerikanertumes Mensch­heitsbefreiung und Demokratie. Und weil man das tut, erzeugt man den Schein, als ob man auch wirklich ein Men­schenbefreier sein wolle.

Wirksam gegen die Folgen dieses ungeheuerlichen Blend­werkes, gegen die Folgen eines selbstverständlichen Rassen-egoismus im Gewande einer unmöglichen Moral kann nur sein die eigene Einstellung Mitteleuropas auf die volle Wahrheit der Tatsachen. Und diese Wahrheit ist:

1. Mit der Erreichung der Ententeziele in bezug auf die mitteleuropäischen Staatsgebilde geht die wirkliche euro­päische Freiheit verloren. Denn diese Staatsgebilde können sie verwirklichen, weil sie im Interesse dieser Staatsgebilde

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selber liegt, und Staaten nicht anders handeln können, als indem sie ihre Interessen im Auge haben. Der Anglo-Ameri­kanismus kann diese Völkerfreiheit nicht verwirklichen, weil sie, sobald sie vorhanden ist, gegen das Interesse der anglo-amerikanischen Staatsgebilde ist, solange dies Inter­esse so ist, wie es jetzt ist, und wie es diesem Kriege mit tatsächlicher Notwendigkeit sein Gepräge gegeben hat. Die anglo-amerikanischen Staaten müssen eben einsehen, daß sie das Interesse der mitteleuropäischen Staaten neben sich respektieren müssen, und daß sie die Ordnung der mittel­europäischenVölkerfreiheit den mitteleuropäischen Staaten überlassen müssen, die allein ihr wirkliches Staatsinteresse in der Förderung dieser Freiheit sehen können.

2. Dieser Krieg ist vom mitteleuropäischen Gesichts­punkte aus nach Osten hin ein Völkerkrieg, nach Westen -gegen England-Amerika - ein Wirtschaftskrieg. Der Re­vanchekrieg gegen Frankreich ist nur durch die Verquickung der Revancheidee mit den englisch-amerikanischen Wirt­schaftsinteressen und den russisch-slavischen Völkeridealen möglich geworden.

3. Die Völkerbefreiung ist möglich. Sie kann aber nur das Ergebnis, nicht die Grundlage der Menschenbefreiung sein. Sind die Menschen befreit, so werden es durch sie die Völker.

Mitteleuropa kann, wenn es will, im Sinne dieser drei Grundlagen handeln. Und sein Handeln wird ein Tatsachen-programm sein; es wird so handeln, wenn es ein sachliches Programm der Menschheitsbefreiung dem Entente-Wilson­schen Programme entgegenstellen wird, welches ganz ohne alle Kenntnis der mitteleuropäischen Völkerkräfte von etwas spricht, das in der Welt der Tatsachen nicht, sondern nur in den Aspirationen der anglo-amerikanischen Rassenegois­men

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vorhanden ist. Das hier für Mitteleuropa als richtig angesehene Programm ist nicht radikal in dem Sinne, in dem man in vielen Kreisen vor dem Radikalismus zurückschreckt. Es ist vielmehr nur ein Ausdruck für die Tatsachen, welche sich durch ihre eigene Kraft in Mitteleuropa ver­wirklichen wollen. Sie sollten mit vollem Bewußtsein ver­wirklicht werden, nicht verborgen gehalten werden, um im Nebel der Entente-Wilson-Ziele doch ihrer Verwirklichung durch ihre eigene Natur entgegenzustreben und dadurch korrumpiert zu werden, und zum Anstoß und Vorwand für kriegerische Verwickelungen zu werden.

Die rechte Verwirklichung wird nie geschehen, wenn das, was Mitteleuropa wollen muß, verdeckt bleibt durch die unnatürliche Vermischung von politischen, wirtschaftlichen und allgemein menschlichen Interessen.

Denn die politischen Verhältnisse fordern, wenn sie ge­deihen sollen, den gesunden Konservatismus im Sinne der Erhaltung und des Ausbaues der historisch gewordenen Staatsgebilde. Gegen diesen Konservatismus, der für Mittel­europa eine Lebensbedingung ist, sträuben sich die wirt­schaftlichen und allgemein-menschlichen Interessen nur so lange, als sie durch ihre Vermischung mit ihm zu leiden haben. Und der politische Konservatismus hat, wenn er sich auf sein wahres Interesse besinnt, nicht die geringste Ver­anlassung, sich durch das Zusammenwerfen mit wirtschaft­lichen und allgemein-menschlichen Interessen seine berech­tigten Kreise fortwährend stören zu lassen. Hört die Ver­mischung auf, dann versöhnen sich die wirtschaftlichen und allgemein-menschlichen Verhältnisse mit dem politischen Konservatismus, und dieser kann sich seinem eigenenWesen gemäß ruhig entwickeln.

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Die wirtschaftlichen Verhältnisse fordern zu ihrem Ge­deihen den Opportunismus, der ihre Ordnung nur nach ihrem eigenen Wesen zustande bringt. Es muß zu Kon­flikten führen, wenn die wirtschaftlichen Maßnahmen in einem anderen Zusammenhang mit politischen und allge­mein-menschlichen Anforderungen stehen, als bloß in einem solchen, der sich bei ihnen zukommenden eigenen Gesetz­gebungen und Verwaltungen durch den selbstverständlichen Lebenszusammenhang ergibt. Gemeint sind hier nicht etwa bloß innerstaatliche Konflikte, sondern vorwiegend solche, welche nach außen hin in politischen Schwierigkeiten und in kriegerischen Explosionen sich entladen.

Die allgemein-menschlichen Verhältnisse und die mit ihnen zusammenhängenden Völkerfreiheitsfragen fordern im Sinne der Gegenwart und Zukunft zu ihrer Grundlage die individuelle Freiheit des Menschen. In diesem Punkte wird man nicht einmal einen Anfang mit sachgemäßen An­schauungen machen, solange man glaubt, von einer Freiheit oder Befreiung der Völker könne gesprochen werden, ohne daß man diese auf der individuellen Freiheit des Einzel-menschen aufbaut, und solange man nicht einsieht, daß mit der wirklichen individuellen Freiheit die Befreiung der Völ­ker auch notwendig gegeben ist, weil sie als Folge der ersteren durch einen naturgemäßen Zusammenhang sich ein­stellen muß. Der Mensch muß sich zu einem Volke, zu einer Religionsgemeinschaft, zu jedem Zusammenhang, der sich aus seinen allgemein-menschlichen Aspirationen ergibt, be­kennen können, ohne daß er in diesem Bekenntnisse von seinem politischen oder wirtschaftlichen Zusammenhange durch die Staatsstruktur abgehalten wird.

Darauf kommt es an, einzusehen, daß alle Formen der

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Staatsstruktur als historisch Gewordenes fähig sind, die Menschenbefreiung durchzuführen, wenn sie durch ihr eigenes Interesse darauf gewiesen sind, was im eminenten Sinne gerade bei den mitteleuropäischen Staaten der Fall ist. Eine parlamentarische Gestaltung dieser Staaten mag aus Gründen der Zeitentwickelung und des Völkerempfin­dens heute als notwendig angesehen werden. Mit den Fra­gen, die angesichts dieser Kriegswirren jetzt in die Welt­öffentlichkeit geworfen werden müssen, hat nur die charak­terisierte Dreigliedrigkeit der Staatsstruktur zu schaffen. Die bloße Frage nach dem Parlamentarismus ändert an den Verhältnissen, die in das gegenwärtige Chaos geführt haben, nichts. Von diesem reden die westlichen Völker so viel, weil sie von den mitteleuropäischen Verhältnissen nichts ver­stehen und dem Glauben sich hingeben, was für ihre Inter­essen von ihnen für das richtige gehalten wird, müsse als Allerweltsschablone dienen. Für Mitteleuropa gilt, auch wenn Parlamentarismus herrschen soll, dann ein solcher, in dem die politischen, die wirtschaftlichen und die allgemein-menschlichen Verhältnisse unabhängig voneinander in Ge­setzgebung und Verwaltung sich entfalten, und so sich gegenseitig stützen, statt sich in ihren Wirkungen nach außen zu verstricken und in Konfliktsstoffen zu entladen. Mitteleuropa befreit sich und die Welt von solchen Kon­fliktsstoffen, wenn es die angedeutete gegenseitige Störung der drei menschlichen Lebensformen in seinen Staatsstruk­turen ausschließt. Keine Ententeziele und keine Wilson­schen Ziele können aufkommen gegenüber der Kraft, die von Mitteleuropa aufgezeigt wird, wenn dieses der Welt vorstellt, was nur es allein vermag, und was niemand an­derer vollbringen kann. Die Menschheits- und damit die

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Völkerbefreiung wird als notwendiger Teil der mitteleuro­päischen Staats- und Völkerinstinkte vor der Welt aufgestellt, wenn sie so, wie hier angedeutet, als tatsachen­verbürgender Impuls in die Geschehnisse der Gegenwart hineingeworfen werden.

Was hier ausgeführt ist, soll nicht ein utopistisches Pro­gramm vorstellen, es soll nicht historische Rechte und Rechtsgefüge aus der Welt schaffen. Es stellt für den, der es genau betrachtet, etwas dar, das mit völliger Beachtung aller historischen Berechtigungen bei Anerkennung der tatsäch­lichen Verhältnisse ohne irgendwelche Bedenken aus den gegenwärtigen Staatsstrukturen herauswachsen kann. Es ist daher selbstverständlich, daß sich das hier Auszufüh­rende alles Eingehens auf Einzelheiten enthält. Solche Ein­zelheiten ergeben sich bei wirklich praktisch gedachten Im­pulsen erst in der Ausführung. Nur der Utopist kann im einzelnen ausdenken, dafür sind seine dem abstrakten Den­ken entsprungenen Aufstellungen auch nicht durchführbar. Was hier gesagt wird, darf nur in allgemeinen Richtlinien auftreten. Diese Richtlinien aber sind eben nicht erdacht, sondern an den mitteleuropäischen Lebensverhältnissen be­obachtet. Das verbürgt, daß sie sich gerade dann bewähren werden, wenn die Praxis darangeht, sie als Richtlinien zu benützen. Wovon hier geredet wird, das ist gewissermaßen als Lebensbedürfnis schon da. Es handelt sich nur darum, diesem Lebensbedürfnisse zu dienen. Und auch deswegen braucht über das einzelne jetzt nicht gesprochen zu werden, weil dieses eine innere Angelegenheit der mitteleuropä­ischen Staaten ist. In diesem Augenblick ist nur nötig, so viel von der Sache vor der Welt geltend zu machen, als Be­deutung nach außen hat. Worauf es ankommt, das ist, aus

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dem mitteleuropäischen Leben heraus die Impulse zu zei­gen, die in diesem wirklich liegen, und dies so zu zeigen, daß die westlichen Gegner sehen, daß sie bei einer weiteren Fortsetzung des Krieges sich diesen unverwüstlichen Im­pulsen gegenübergestellt finden müssen. Es wird dadurch den Ententeführern etwas entgegengestellt, nicht bloß ent­gegengehalten, was ihnen bis jetzt nicht entgegengestellt worden ist, und was sie durch kein Kriegsprogramm von ihrer Seite bezwingen können. Eine solche vor der Welt geführte Sprache, wie sie hier gemeint ist, die den Keim der Tatsachen in sich trägt, muß Folgen haben. Die Ausgleichung mit Rußland braucht im gegenwärtigen Augenblick für das hier angegebene nicht gesucht zu werden, denn diese Aus-gleichung muß sich im Verfolge der Sache von selbst er­geben. Und die Einsicht, daß ein solches Ergebnis eintreten muß, wird bei den russischen Führern Impulse zeitigen, die nur günstige Erfolge haben können. Immer muß bei alle­dem in Betracht gezogen werden, was das Angedeutete nicht zunächst als innere Staatsangelegenheit bedeutet, sondern was es bedeutet als Manifestation nach außen hin innerhalb des gegenwärtigen Weltkonfliktes zu seiner Beendigung, namentlich im politischen Kampfe mit den Manifestationen der Ententeführer und Wilsons. Das Innere kommt in die­sem Falle in einem ähnlichen Sinne in Betracht, wie die Tatenwirkungen des Denkens eines Menschen für andere Menschen eine Realität sind, trotzdem die Art, wie er denkt, nur eine innere Angelegenheit seiner Organisation ist. Er hat aber nur nötig, über die Wirkung seines Denkens mit anderen sich auseinanderzusetzen, nicht über die Ver­fassung seines Inneren.

In Gesetzgebung, Verwaltung und sozialer Struktur die

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Trennung des Politischen, Wirtschaftlichen und Allgemein-Menschlichen als Ziel des mitteleuropäischen Strebens an­erkennen und annehmen, das paralysiert die Kräfte der Westmächte. Das zwingt sie, neben den europäischen Mittelmächten und den mit den letzteren unter solchen Bedingun­gen zusammengehenden Ostmächten sich in ein Verhältnis zu denken, in dem die Westmächte sich darauf beschränken, sich im Gebiete ihrer Volksinstinkte die ihnen angemessene Struktur zu geben (als staatliche Gebilde), und die mittel- und osteuropäischen Völker ihre Gemeinsamkeiten im Sinne wirklicher Menschenbefreiung auch innerhalb des ihnen zu­kommenden naturgemäßen Raumes ohne Störung, wie sie als Ursache dieses Krieges vorhanden war, sich ausleben zu lassen, während sie jetzt allein ihren Willen glauben als das im Weltkonflikte maßgebende hinstellen zu können.

Es kommt alles darauf an, einzusehen, wie anders sich die Verhältnisse zwischen Staaten und Völkern und auch Einzelmenschen abspielen, wenn diesen Verhältnissen zu­grunde liegt diejenige Wirkung nach außen, die aus der Trennung der drei Lebensfaktoren folgt, als wenn in diese Außenwirkung verstrickt sind die Konflikte, die sich aus ihrer Vermischung ergeben. Man wird in Zukunft die Vor­geschichte dieses Krieges nämlich so schreiben, daß man geradezu zeigen wird, wie derselbe durch die unglückselige gegenseitige Störung der drei Lebenskreise im Völkerver­kehre entstanden ist.

Bei ihrer Trennung wirkt nach außen hin die Kraft des einen Lebenskreises im Sinne der Harmonisierung auf die anderen; insbesondere gleichen die wirtschaftlichen Inter­essenkräfte Konflikte aus, die auf politischem Boden ent­stehen, und die allgemein-menschlichen Interessenkreise

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können ihre völkerverbindende Kraft entfalten, während gerade diese Kraft in völlige Unwirksamkeit getrieben wird, wenn sie nach außen belastet mit den politischen und wirt­schaftlichen Konflikten auftreten muß. Über nichts hat man sich in der jüngsten Zeit größeren Täuschungen hingegeben als über den letzten Punkt. Man sah nicht, daß allgemein-menschliche Verhältnisse nach außen ihre wahre Kraft nur entfalten können, wenn sie im Innern auf der Grundlage der freien Korporation aufgebaut sind. Sie wirken dann im Zusammenhange mit den wirtschaftlichen Interessen so, daß im Verfolg dieser Wirkungen dasjenige sich im leben­digen Werden naturgemäß entwickelt, dem man durch die Schaffung von utopistischen, überstaatlichen Organisationen ein zweifelhaftes Zukunftsdasein geben will: Utopistische Schiedsgerichte, ein Wilsonscher «Völkerbund» und so wei­ter, die zu nichts anderem führen können, als zu der fort­dauernden Majorisierung Mitteleuropas durch die anderen Staaten. Solche Dinge leiden an dem Fehler, unter dem alles leidet, was aus Wunschabstraktionen den Tatsachen auf­gedrängt wird, während man mit dem hier Gemeinten einer Entwickelung freie Bahn schafft, die aus den Tatsachen selbst heraus nach ihrer Verwirklichung strebt, und die daher sich auch verwirklichen kann.

Das Folgende wie im ersten Memorandum S. 344 «Erkennt man dieses ... » bis S. 350 «erscheinen muß.» Der Schluß des zweiten Memo­randums lautet:

... Es ist ganz selbstverständlich, daß vielen gegen das hier Vorgebrachte unzählige Bedenken aufsteigen werden. Allein solche Bedenken kämen nur in Betracht, wenn das Vorliegende als ein Programm gedacht wäre, an dessenVer­wirklichung ein einzelner oder eine Gesellschaft gehen sollte.

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So ist es aber nicht gedacht, ja, es widerlegt sich selber, wenn es so gedacht wäre. Es ist als der Ausdruck dessen gedacht, was die Völker Mitteleuropas tun werden, wenn man sich von seiten der Regierungen die Aufgabe stellen wird, die Volkskräfte zu erkennen und zu entbinden. Was im ein­zelnen geschehen wird, das zeigt sich bei solchen Dingen immer dann, wenn sie sich auf den Weg der Verwirklichung begeben. Denn sie sind nicht Vorschriften über etwas, was zu geschehen hat, sondern Voraussagen dessen, was ge­schehen wird, wenn man die Dinge auf ihre durch die eigene Wirklichkeit geforderte Bahn gehen läßt. Und diese eigene Wirklichkeit schreibt vor bezüglich aller reli­giösen und geistig-kulturellen Angelegenheiten, wozu auch das Nationale gehört: Verwaltung durch Korporationen, zu denen sich die einzelne Person aus freiem Willen be­kennt und die in ihrem Parlamente als Korporationen ver­waltet werden, so daß dieses Parlament es nur mit der be­treffenden Korporation, nie aber mit der Beziehung dieser Korporation zu der einzelnen Person zu tun hat. Und nie darf es eine Korporation mit einer unter demselben Ge­sichtspunkt zu einer anderen Korporation gehörigen Per­son zu tun haben. Solche Korporationen werden aufgenom­men in den Kreis des Parlamentes, wenn sie eine bestimmte Anzahl von Personen vereinigen. Bis dahin bleiben sie Privatsache, in die sich keine Behörde oder Vertretung zu mischen hat. Für wen es ein saurer Apfel ist, daß von sol­chen Gesichtspunkten aus alle geistigen Kulturangelegen­heiten künftig der Privilegierung entbehren müssen, der wird eben in diesen sauren Apfel zum Heile des Volksdaseins beißen müssen. Bei der immer weitergehenden Ge­wöhnung an diese Privilegierung wird man ja in weiten

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Kreisen schwer einsehen, daß man auf dem Wege von der Privilegierung gerade der geistigen Berufe zum guten alten, uralten Prinzip der freien Korporierung zurückkehren muß, und daß die Korporation zwar einen Menschen in seinem Berufe tüchtig machen soll, aber daß man die Ausübung dieses Berufes nicht privilegieren, sondern der freien Kon­kurrenz und der freien menschlichen Wahl überlassen muß, das wird von allen denen schwer einzusehen sein, die gerne davon sprechen, daß die Menschen doch zu dem oder jenem nicht reif seien. In der Wirklichkeit wird dieser Einwand ja ohnedies nicht in Betracht kommen, weil mit Ausnahme der notwendig freien Berufe über die Wahl der Petenten die Korporationen entscheiden werden.

Ebensowenig können sich Schwierigkeiten ergeben be­züglich des Politischen und des Wirtschaftlichen, die nicht real behebbar wären bei der Verwirklichung des Inten­dierten. Wie zum Beispiel pädagogische Institutionen zu­stande kommen müssen, die in ihren Richtlinien die bei­den nicht die eigentliche Pädagogik in sich schließenden Vertretungen berühren, das ist eine Sache des übergeord­neten Senates.

Alle einzelnen Einrichtungen, wie sie hier gedacht sind, lassen sich erreichen durch Ausbau der historisch gegebenen Faktoren, die in keinem Lande Mitteleuropas etwa besei­tigt oder durch andere radikal ersetzt zu werden brauchen. In dem Bestehenden können überall die Punkte gefunden werden, welche, in der angedeuteten Richtung verfolgt, die Völkerbefrejung auf Grund der Menschenbefreiung ergeben. Hier zu «beweisen», daß das Gesagte «richtig» ist, wäre widersinnig; denn diese Richtigkeit muß sich ergeben aus der Tatsache der Verwirklichung. Die nächste Verwirk­lichung

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wäre das Sich-Bekennen zu diesen Impulsen an autoritativer Stelle. Darüber, daß schon dieses offene Be­kenntnis eine ungeheuere, für die mitteleuropäischen Staa­ten günstige Wirkung haben muß, braucht niemand bange zu sein. Man kann vielmehr ruhig abwarten, was die Entente-Führer tun (nicht sagen) werden, wenn ihnen dieses offene Bekenntnis entgegensteht. Mit ihm müssen sie anders rechnen, als sie mit allem gerechnet haben, was bisher von Mitteleuropa ausging. Bisher brauchten sie bloß mit dem Waffen-Erfolge Mitteleuropas zu rechnen; sie sollen auch rechnen mit dessen politischem Wollen.

Wer das hier Angedeutete in wirklich praktischem Sinne denkt, das heißt im Einklang mit den tatsächlichen Ver­hältnissen, der wird finden können, daß damit eine Grund­lage geschaffen ist, auf der auch so komplizierte Fragen wie die der österreichischen Sprachenfrage - einschließlich der Staats- und Verkehrssprache - und der deutschen Kolonial­fragen ruhen können. Denn mit dem hier Gedachten wird der Fehler vermieden, den man bisher immer gemacht hat, nämlich daß man an eine Lösung solcher Fragen dachte, ehe man die Tatsachen-Grundlagen geschaffen hatte, auf denen sich eine Lösung erst aufbauen läßt. Man ging bisher stets darauf aus, ein erstes Hausstockwerk aufzubauen, ohne an das Erdgeschoß zu denken. Dieses Erdgeschoß aber ist für die mitteleuropäischen Staaten die Anerkennung ihrer na­turgemäß notwendigen Struktur in konservativ-historisch-politische Vertretung und Verwaltung, abgetrennt von der Organisation des opportunistisch-wirtschaftlichen und des geistig-kulturellen Elementes. Steht man auf diesem Boden fest, dann erst kann auf dieser Grundlage von Parlamen­tarismus, Demokratismus und ähnlichem gesprochen werden.

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Denn diese Dinge werden an sich nicht anders, ob sie der Ausdruck einer in Mitteleuropa für die Dauer unmög­lichen Verquickung der politischen, wirtschaftlichen und geistig-kulturellen Elemente sind, oder derjenige der natur­gemäßen Gliederung dieser Elemente. - Gerade an der Wir­kung, die ein in diesem Sinne gehaltenes offenes Bekenntnis auf die Führer der Entente hervorbringen würde, könnte man bei Eintritt dieser Wirkung sehen, wie man mit diesem Bekenntnis auf dem realen Boden der Tatsachen steht.

*

Die Ausführbarkeit des in dieser Darstellung Gegebenen wird niemand bezweifeln, der aus den wirklichen Verhältnissen Mitteleuropas heraus denkt. Denn hier wird nichts «als Programm» gefordert, sondern es ist nur aufgezeigt, was sich durchführen will, und was in demselben Augenblicke gelingt, in dem man ihm freie Bahn gibt.

Träte an die Stelle der Entente-Wilsonschen Friedens-formel dasjenige, was ohne Maske das Wisen dieser Formel ist, so käme das folgende heraus: «Wir Anglo-Amerikaner wollen, daß die Welt werde, wie wir sie wünschen. In die­sen Wunsch hat sich Mitteleuropa zu fügen.» Diese unmas­kierte Friedensformel zeigt, daß Mitteleuropa in den Krieg getrieben werden mußte. Siegte die Entente, so wäre Mittel­europas Entwickelung ausgelöscht. Fügt Mitteleuropa zu der Unbesieglichkeit seiner Waffen als Friedensangebot ge­genüber der Welt die unbedingteste Absicht, zu verwirk­lichen, was nur Mitteleuropa in Europa verwirklichen kann, die Völkerbefrejung durch die Menschenbefrejung, dann kann dieses Mitteleuropa dem Gerede von «dem Rechte und der Freiheit der Völker» das tatsächliche, wahre Wort entgegensetzen: «Wir kämpfen für unser Recht und unsere

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Freiheit und die Verwirklichung dieser Menschheitsgüter, die wir uns nicht nehmen lassen können und wollen, be­einträchtigt durch ihr eigenes Wesen kein wirkliches Recht und keine Freiheit eines andern. Denn was wir wollen werden, wird die Bürgschaft davon in sich selbst tragen. Könnt ihr Westvölker euch mit uns auf dieser Grundlage verständigen und seht ihr Ostvölker ein, daß wir nichts anderes wollen als ihr selbst, wenn ihr euch erst recht selbst versteht, dann ist morgen der Friede möglich.»

Zweites Memorandum, erste Fassung vom 22. Juli1917

Der Anfang stimmt mit der vorstehend abgedruckten zweiten Fassung überein, nur treten die Abschnitte Absatz 2 auf Seite 353 und Ab­satz 2 auf Seite 356 erst in der zweiten Fassung auf. Der Schluß der ersten Fassung lautet:

Mitteleuropa kann, wenn es will, im Sinne dieser drei Grundlagen handeln, und sein Handeln wird ein Tatsachenprogramm sein. Es wird so handeln, wenn es ein sachliches Programm der Menschheitsbefreiung dem Entente-Wilson­schen Blendprogramme entgegenstellt. Ein solches Pro­gramm ist nicht radikal in dem Sinne, in dem man in ge­wissen Kreisen vor jedem Radikalismus erschrickt. Es ist vielmehr nur ein Ausdruck für die Tatsachen, welche sich durch ihre eigene Kraft in Mitteleuropa verwirklichen wollen. Sie sollten mit vollem Bewußtsein verwirklicht werden, nicht verborgen gehalten werden, um im Nebel der Entente-Wilson-Ziele doch ihrer Verwirklichung durch ihre eigene Natur entgegenzustreben und dadurch korrum­piert zu werden.

Die Verwirklichung wird nie geschehen, wenn das, was

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Mitteleuropa wollen muß, verdeckt bleibt, durch die un­natürliche Vermischung von politischen, wirtschaftlichen und allgemeinen Menschheitsinteressen.

Denn die politischen Verhältnisse fordern, wenn sie ge­deihen sollen, den Konservatismus im Sinne der Erhaltung und des Aufbaues der historisch gewordenen Staatsgebilde. Gegen diesen Konservatismus sträuben sich die wirtschaft­lichen und die allgemeinen Menschheitsinteressen nur so lange, als sie von ihm zu leiden haben. Hört dieses Leiden auf, dann versöhnen sie sich mit ihm, weil sie seine Notwendigkeit einsehen lernen.

Die wirtschaftlichen Verhältnisse fordern zu ihrem Ge­deihen den Opportunismus, der ihre Ordnung nur nach ihrem eigenen Wesen zustande bringt. Es muß zu Konflik­ten führen, wenn die wirtschaftlichen Maßnahmen im Zu­sammenhang stehen mit politischen oder allgemein-mensch­lichen Anforderungen und dieser Zusammenhang ein solcher ist, der die wirtschaftliche Entwickelung durchkreuzt.

Die allgemein-menschlichen und die Verhältnisse der Völ­ker fordern im Sinne der Gegenwart und der Zukunft die individuelle Freiheit des Menschen. Der Mensch muß sich zu einem Volke, zu einer Religionsgemeinschaft, zu einem anderen Zusammenhange, der mit seinen allgemein-mensch­lichen Aspirationen zusammenhängt, bekennen können, ohne daß er in diesem Bekenntnis von seinem politischen oder wirtschaftlichen Zusammenhange durch die Staatsstruktur abgehalten wird.

Darauf kommt es an, einzusehen, daß alle Formen der Staatsstruktur als historisch Gewordenes fähig sind, die Menschheitsbefreiung durchzuführen, wenn sie durch ihr eigenes Interesse darauf angewiesen sind, nicht bloß dem

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Rassenegoismus zu dienen. Eine parlamentarische Vertre­tung eines Volkes mag aus Gründen der Zeitentwickelung wünschenswert sein, sie ändert an den Verhältnissen, die in das gegenwärtige Chaos geführt haben, nichts, wenn in diesem Parlamente die politischen, die wirtschaftlichen und die allgemein-menschlichen Verhältnisse sich fortwährend stören. Und Mitteleuropa strebt seinem Wesen nach dahin, solche Störung auszuschließen. Keine Entente, keine Wilson­schen Ziele können aufkommen gegenüber der Kraft, die in der Verwirklichung der europäischen Freiheitsinstinkte durch Mitteleuropa liegt. Denn diese Freiheitsinstinkte sind der Keim der europäischen Völkerfreiheiten, nicht die Wilsonschen Ideen.

Die Gesetzgebung, Verwaltung und soziale Struktur, die Trennung des Politischen, Wirtschaftlichen, Allgemein-Menschlichen als Ziel des mitteleuropäischen Strebens an­erkennen und annehmen, das paralysiert die Westmächtekräfte, das zwingt sie, neben den europäischen Mittelmächten, in deren Verein mit Osteuropa zu einem Frieden sich zu bekennen, der diese Westmächte sich darauf beschränken läßt, im Gebiete ihrer Volksinstinkte sich die soziale Struk­tur zu suchen, die ihnen angemessen ist, und die Mittel- und Osteuropäer, ihre Völkergemeinsamkeiten sich im Sinne wirklicher Menschheitsbefreiung auch innerhalb des ihnen historisch gewordenen Raumes ausleben zu lassen.

Der Parlamentarismus, der für Mitteleuropa nötig ist, wird sich ergeben, wenn man nicht mehr ihn als das erste ansieht, sondern als die Folge, wie sie herauskommen muß, wenn man als erstes anerkennt die Trennung in das Poli­tisch-Militärische, das sich sein Verhältnis zu anderen Staa­ten nach seinem Wesen ebenso ordnet, wie die Anforderun­gen

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der inneren Volksstruktur - in das Wirtschaftliche, das nach seiner eigenen Natur opportunistisch geordnet wird, das heißt in diesem Sinne gesetzgeberisch vertreten und verwaltet wird -, und in das Allgemein-Menschliche, das auf die Korporationen aufgebaut ist, zu denen sich der Mensch im Sinne seiner eigenen freien Empfindung bekennt.

Der abstrakte Völkerbund mit seinen utopistischen Schieds­gerichten könnte zu nichts anderem führen, als zu der fort­dauernden Majorisierung Mitteleuropas durch die anderen Staaten. Die Ordnung der Verhältnisse in Mitteleuropa im Sinne der Kräftetrennung führt zu dem fortdauernden Aus­gleich der in den Völkern verankerten Menschheitsinter­essen. Mit dem Wilsonschen Völkerbunde schafft man Ein­richtungen, welche unter dem Unheile leiden müssen, unter dem stets gelitten wird, wenn menschliche Wunschabstrak­tionen den Tatsachen aufgedrängt werden; mit demjenigen, wonach die ganze Wesenheit der mittel- und osteuropäischen Völker drängt, schafft man nicht solche Institutionen, son­dern man befreit damit dasjenige, was befreit im Sinne der friedlichen Entwickelung, unbefreit zu kriegerischen Kon­flikten führen muß. Einen künftigen Zustand der Mensch­heit kann man nicht durch Einrichtungen schaffen, wie Wilson und die Entente wollen, sondern er wird entstehen, wenn man den Tatsachen ihre Freiheit gibt, durch die er entstehen kann.

Träte an die Stelle der Entente-Wilsonschen-Friedensformel, was ohne Maske das Wesen dieser Formel ist, so käme das folgende heraus:

«Wir Anglo-Amerikaner wollen, daß die Welt werde, wie wir sie wünschen; in diesen Wunsch hat sich Mitteleuropa zu fügen.» - Diese unmaskierte Friedensformel

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zeigt, daß Mitteleuropa in den Krieg getrieben werden mußte. Siegte die Entente, so wäre Mitteleuropas Entwickelung ausgelöscht.

Fügt Mitteleuropa zur Unbesiegbarkeit seiner Waffen als Friedensangebot gegenüber der Welt die unbedingteste Ab­sicht, zu verwirklichen, was nur Mitteleuropa in Europa verwirklichen kann, die Völkerbefreiung durch die Men­schenbefreiung, dann kann dieses Mitteleuropa dem Gerede von «dem Rechte und der Freiheit der Völker» das tatsäch­liche wahre Wort entgegensetzen: «Wir kämpfen für unser Recht und unsere Freiheit. Und die Verwirklichung dieser Menschheitsgüter, die wir uns nicht nehmen lassen können und wollen, beeinträchtigt durch ihr eigenes Wesen kein wirkliches Recht und keine Freiheit des anderen; denn, was wir wollen werden, wird die Bürg­schaft dafür in sich selbst tragen.

Könnt ihr Westvölker euch auf dieser Grundlage mit uns verständigen und seht ihr Ostvölker ein, daß wir nichts anderes wollen als ihr selbst, wenn ihr euch erst recht selbst versteht -, dann ist morgen der Friede möglich.»

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VORBEMERKUNGEN ZU «DIE ‹SCHULD› AM KRIEGE»

Betrachtungen und Erinnerungen des Generalstabschefs

H. von Moltke

über die Vorgänge vom Juli 1914 bis November 1914

Mai 1919

Das deutsche Volk muß sich der Wahrheit über den Kriegsausbruch gegenübergestellt sehen. Kraft zu dem Handeln, das ihm jetzt notwendig ist, kann es aus dieser Wahrheit schöpfen. Der Ernst der gegenwärtigen Lage gebietet, alle Bedenken zu unterdrücken, die von der einen oder andern Seite erhoben werden gegen die Enthüllung der Ereignisse, die in Deutschland dem Beginn des Krieges vorangegangen sind.

Mit dieser Veröffentlichung soll ein Beitrag zur Darstel­lung der Wahrheit über diese Ereignisse gegeben werden. Er rührt von dem Manne her, der Ende Juli und Anfang August 1914 im Mittelpunkt dessen gestanden hat, was in Berlin damals geschehen ist, dem Chef des Generalstabes, dem Ge­neralobersten Helmuth von Moltke. Man wird aus dem Bei­trag ersehen, wie stark von diesem Manne behauptet werden darf, daß er im Mittelpunkte dieser Ereignisse gestanden hat.

Die Witwe des Herrn von Moltke, Frau Eliza von Moltke, erfüllt eine ihr von der Geschichte auferlegte Pflicht, indem sie diese Aufzeichnungen der Öffentlichkeit nicht vorenthält. Wer sie liest, wird wohl die Meinung gewinnen kön­nen, daß sie das wichtigste historische Dokument sind, das in Deutschland über den Beginn des Krieges gefunden wer­den kann.

Die Stimmung kennzeichnen sie, aus der in militärischen Kreisen der Krieg für unvermeidlich gehalten worden ist.

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Die militärischen Gründe legen sie dar, aus denen heraus er diejenige Entfaltung in seinem Anfange genommen hat, die dem deutschen Volke die Verurteilung der ganzen Welt gebracht hat.

Die Welt will ein ehrliches Wahrheitsbekenntnis des deutschen Volkes. Hier hat sie eines, niedergeschrieben von dem Manne, dessen Aufzeichnungen in jedem Satze das Gepräge der Ehrlichkeit tragen, der - man wird es aus den Aufzeichnungen ersehen - in dem Augenblicke, als er schrieb, gar nichts anderes wollen konnte, als die lauterste subjek­tive Wahrheit seiner Feder entströmen lassen.

Und diese Wahrheit: sie ergibt, recht gelesen, die restlose Verurteilung der deutschen Politik. Eine Verurteilung, die schärfer nicht sein könnte. Eine Verurteilung, die auf noch ganz andere Dinge hinweist, als diejenigen sind, die bei Freund und Feind angenommen werden.

Nicht die eigentlichen Ursachen des Krieges wird man in diesen Aufzeichnungen geschildert finden. Diese sind in Ereignissen zu suchen, welche natürlich weit zurückreichen. Aber zur rechten Beleuchtung dieser Ereignisse führt, was Ende Juli 1914 geschehen ist. Das Zusammenbrechen des Kartenhauses, das deutsche Politik genannt worden ist, zeigt sich in dieser Beleuchtung. Personen sieht man an dieser Politik beteiligt, bei denen jeder Beweis, daß sie den Krieg haben vermeiden wollen, überflüssig ist. Man kann ihnen ruhig glauben, daß sie den Krieg haben vermeiden wollen. Er hätte nur vermieden werden können, wenn sie niemals hätten auf ihre Posten kommen können. Nicht, was sie getan haben, hat zur Herbeiführung des Unheils bei­getragen, sondern das ganze Wesen ihrer Persönlichkeiten.

Es ist erschütternd, in diesen Aufzeichnungen zu lesen,

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wie deutsches militärisches Urteil deutschem politischem Urteil im entscheidenden Augenblicke gegenübersteht. Das politische Urteil steht ganz außerhalb jeder Beurteilungsmöglichkeit der Lage, steht im Nullpunkte seiner Betäti­gung, und es ergibt sich eine Situation, über welche der Generals tabschef schreibt: «Die Stimmung wurde immer er­regter und ich stand ganz allein da.»

Man bedenke doch, was in diesen Aufzeichnungen steht von diesem Satze an bis zu dem andern: was Sie wollen.»

Ja, so war es: Der Chef des Generalstabes stand ganz allein da. Weil die deutsche Politik im Nullpunkte ihrer Betätigung angekommen war, lag Europas Schicksal am 31. Juli und am 1. August 1914 in der Hand des Mannes, der seine militärische Pflicht tun mußte. Der sie tat mit blutendem Herzen.

Wer beurteilen will, was da geschehen ist, der muß sach­gemäß, ohne Voreingenommenheit die Frage sich vorlegen; wodurch ist es gekommen, daß Ende Juli 1914 in Deutsch­land keine andere Macht da war, über das Schicksal des deutschen Volkes zu entscheiden, als allein die militärische? War es einmal so, dann war der Krieg für Deutschland eine Notwendigkeit. Dann war er eine europäische Notwendig­keit. Der Generalstabschef, der «allein dastand», konnte ihn nicht vermeiden.

Wie auf die Spitze des militärischen Urteiles in den Zei­ten, die dem Kriegsausbruch vorausgingen, alles in Deutsch­land gestellt war, das zeigt der unglückselige Einfall in Bel­gien, der eine «militärische Notwendigkeit» und eine poli­tische Unmöglichkeit war. Der Schreiber dieser Zeilen hat Herrn von Moltke, mit dem er jahrelang befreundet war,

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im November 1914 gefragt: Wie hat der Kaiser über diesen Einfall gedacht? Und es wurde geantwortet: Der hat vor den Tagen, die dem Kriegsausbruch vorangingen, nichts davon gewußt. Denn bei seiner Eigenart hätte man be­fürchten müssen, daß er die Sache aller Welt ausgeschwätzt hätte. Das durfte nicht geschehen, denn der Einfall konnte nur Erfolg haben, wenn die Gegner unvorbereitet waren. - Und wußte der Reichskanzler davon? Ja, der wußte davon.

Diese Dinge darf heute nicht verschweigen, wer sie weiß, auch wenn er sie noch so ungerne mitteilt. Nur zum Über­flusse will ich bemerken, daß ich, nach der ganzen Art meiner Aussprachen mit Herrn von Moltke, nicht die geringste Verpflichtung habe, diese Dinge zu verschweigen, und daß ich weiß, ich handle in seinem Sinne, wenn ich sie mitteile. Sie zeigen, wie die deutsche Politik in den Nullpunkt ihrer Betätigung hineintrieb.

Man muß auf diese Dinge weisen, wenn man von der «Schuld» des deutschen Volkes sprechen will. Diese «Schuld» ist doch von ganz besonderer Art. Es ist die Schuld eines gänzlich unpolitisch denkenden Volkes, dem die Absichten seiner «Obrigkeit» durch undurchdringliche Schleier ver­hüllt worden sind. Und das aus seiner unpolitischen Veran­lagung heraus gar nicht ahnte, wie die Fortsetzung seiner Politik der Krieg werden mußte.

Unbegreiflich muß es ja auch erscheinen, daß an offi­zieller Stelle sogar einige Zeit vor dem Kriege von einer Persönlichkeit Worte gesprochen worden sind, aus denen man schließen mußte, daß in Deutschland nicht die Absicht bestehe, die belgische Neutralität jemals zu ver­letzen, während Herr von Moltke mir ebenfalls im November 1914 sagte, daß diese Persönlichkeit von der Absicht,

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durch Belgien zu marschieren, gewußt haben müßte.

Die Frage, ob das deutsche Volk im Jahre 1914 in den Kriegsausbruch hätte verhindernd eingreifen können: sie beantworten diese Aufzeichnungen restlos. Weit zurück hätten die Taten liegen müssen, durch die bewirkt hätte werden können, daß die Ereignisse dieses Jahres Deutsch­land in einem anderen Zustande angetroffen hätten, als er da gewesen ist. Nachdem dieser Zustand einmal da war, konnte anderes nicht geschehen, als geschehen ist. So muß das deutsche Volk heute sein Schicksal ansehen. Und aus der Kraft, die ihm diese Einsicht gibt, muß es seinen wei­teren Weg finden. Die Ereignisse während der furchtbaren Kriegskatastrophe beweisen dies nicht minder, als die in diesen Aufzeichnungen über den Kriegsanfang enthaltenen. Doch ich habe hier nicht darüber zu sprechen; denn mir obliegt es hier nur, diese Aufzeichnungen einzuleiten.

Man sieht aus den Aufzeichnungen, daß nicht die An­nahme, Frankreich oder England werde die belgische Neu­tralität verletzen, wenn dies nicht Deutschland tun werde, das Maßgebende war, sondern die andere, daß Frankreich hinter seiner starken Ostfront einen Defensivkrieg führen werde, der vermieden werden sollte. Dieser Ausgangspunkt bestimmte für Deutschland die ganze Gestaltung des Krie­ges schon seit vielen Jahren. Und dieser Ausgangspunkt mußte die Entscheidung auf die Spitze des militärischen Urteiles stellen, wenn nicht seit ebenso langer Zeit von einer Politik daran gearbeitet wurde, für eine solche Ent­scheidung ändere Kräfte ins Feld führen zu können. Das ist nicht geschehen. Man hatte einer Entwickelung entgegengetrieben, die im entscheidenden Augenblicke notwendig machte, jedes politische Urteil vor dem militärischen zurücktreten

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zu lassen. Hinter dem, worauf die Aufzeichnungen an diesem Punkte weisen, liegt das eigentlich Maßgebende. Der Aufruf «an das deutsche Volk und an die Kulturwelt» hat darauf hingewiesen. Das Deutsche Reich war «in den Weltzusammenhang hineingestellt ohne wesenhafte, seinen Bestand rechtfertigende Zielsetzung». Diese Zielsetzung hätte nicht so sein dürfen, daß nur militärische Macht sie zu tragen hatte, konnte überhaupt nicht auf Machtentfal­tung im äußeren Sinne gerichtet sein. Sie konnte nur auf die innere Entwickelung seiner Kultur gerichtet sein. Durch eine solche Zielsetzung hätte Deutschland niemals sein We­sen aufzubauen gebraucht auf Dinge, die es in Konkurrenz und dann in offenen Konflikt bringen mußten mit anderen Reichen, denen es in der Entfaltung der äußeren Macht doch unterliegen mußte. Ein Deutsches Reich hätte eine von dem äußeren Machtgedanken absehende Politik, eine wahre Kulturpolitik entwickeln müssen. Es hätte niemals dürfen gerade in Deutschland der Gedanke aufkommen, daß ein «unpraktischer Idealist» ist, wer diese Kulturpolitik für die einzig mögliche hält. Denn alle Machtentfaltung mußte wegen der allgemeinen Weltlage schließlich sich verwandeln in die rein militärische Macht; und dieser durfte das Schick­sal des deutschen Volkes nicht allein anheimgestellt werden.

In schlichter Art erzählt in diesen Aufzeichnungen die maßgebende Persönlichkeit, was sie Ende Juli und Anfang August 1914 erlebt und getan hat; und diese Erzählung wirft ein helles Licht auf die Tragik des deutschen Schick­sals. Sie zeigt, «wie die deutsche Politik damals sich als die eines Kärtenhäuses verhielt, und wie durch ihr Ankommen im Nullpunkt ihrer Betätigung alle Entscheidung, ob und wie der Krieg zu beginnen war, in das Urteil der militä­rischen

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Verwaltung übergehen mußte. Wer maßgebend in dieser Verwaltung wär, konnte damals aus den militäri­schen Gesichtspunkten heraus nicht anders handeln> als ge­handelt worden ist, weil von diesen Gesichtspunkten aus die Situation nur so gesehen werden konnte, wie sie gesehen worden ist. Denn außer dem militärischen Gebiet hätte man sich in eine Läge gebracht, die zu einem Handeln gar nicht mehr führen konnte*.»

Der vollgültige Beweis dafür liegt in den Aufzeichnungen Helmuth von Moltkes. Ein Mann spricht da, der den «kom­menden Krieg» als das größte Unglück des deutschen, ja der europäischen Völker ansah; dem er so jahrelang vor der Seele gestanden hat und der im entscheidenden Augen­blicke davor steht: seine militärische Pflicht zu verletzen, wenn er den Kriegsbeginn auch nur um Stunden hinaus­schieben läßt. Ich habe durch viele Jahre vor dem Kriege gesehen, wie dieser Mann den höchsten geistigen Ideen mit inbrünstiger Sehnsucht zugewandt war, wie seine Gesin­nung eine solche wär, daß das kleinste Leid eines jeden Wesens ihm herzlich nahe ging; ich habe ihn viele Dinge sprechen gehört; kaum irgend etwas Erhebliches über mili­tärische Dinge. Wahrhaftig nicht er, sondern die militärische Denkärt durch ihn spricht aus einem Sätze wie dem folgen­den der Aufzeichnungen: «Die höchste Kunst der Diplo­matie besteht meiner Ansicht nach nicht darin, den Frieden unter allen Umständen zu erhalten, sondern darin, die poli­tische Lage des Staates dauernd so zu gestalten, daß er in der Läge ist, unter günstigen Voraussetzungen in einen Krieg eintreten zu können.» Und wie überschattet militärisches

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* Vgl. des Verfassers «Kernpunkte der sozialen Frage», Verlag Greiner & Pfeiffer, Stuttgart 1919.

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Denken die Aufklärungen, die sich Helmuth von Moltke gewissermaßen beim Niederschreiben dieser Auf­zeichnungen selbst gibt über die geschichtliche Entwicke­lung der Menschheit und Europas.

Man wird verstehen, warum aus solchen Voraussetzungen heraus in diesen Aufzeichnungen der Satz steht: «Deutsch­land hat den Krieg nicht herbeigeführt, es ist nicht in ihn eingetreten aus Eroberungslust oder aus aggressiven Ab­sichten gegen seine Nachbarn. - Der Krieg ist ihm von seinen Gegnern aufgezwungen worden, und wir kämpfen um unsere nationale Existenz, um das Fortbestehen unseres Volkes, unseres nationalen Lebens.» Ich konnte nie einen ändern Eindruck haben, als dieser innerlich so vornehme Mann hätte lange vor dem Kriege seinen Abschied ge­nommen, wenn er sich über den «kommenden» von ihm für unvermeidlich gehaltenen Krieg hätte etwas anderes sägen müssen als das in den obigen Sätzen ausgedrückte. So wie die Verhältnisse lägen, konnte militärisches Denken in Deutschland zu einem ändern Urteil nicht kommen. Und durch dieses Urteil war es verurteilt, sich in Konflikt mit der ganzen übrigen Welt zu bringen. Aus dem Unglück wird das deutsche Volk lernen müssen, daß sein Denken in der Zukunft ein anderes sein muß. Militärisch mußte der Krieg für notwendig gelten, politisch war er nicht zu recht­fertigen, nicht zu verantworten und aussichtslos.

Wie tragisch ist es doch, daß ein Mann sich zu einer Tat wenden muß, deren Verantwortung ihm das Herz bluten macht, die er als seine heilige Pflicht betrachten muß; und die außerhalb Deutschlands als moralische Verfehlung, als beabsichtigtes Herbeiführen des Krieges aufgefaßt werden mußte. So stoßen die Weltereignisse in einer Lebenssphäre

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aufeinander, wo die Idee der «Schuld» in ein ganz anderes Licht gerückt werden müßte, als dies jetzt von allen Seiten so häufig geschieht.

Man hat von den deutschen «Kriegshetzern» gesprochen. Und mit Recht, sie wären da. Man hat davon gesprochen, Deutschland habe den Krieg nie gewollt. Und mit Recht. Denn das deutsche Volk hat ihn nicht gewollt. Aber die «Kriegshetzer» hätten den Krieg in den letzten Tagen nicht wirklich herbeiführen können; ihre Bemühungen wären in eine Sackgasse eingelaufen, wenn ihn militärisches Denken nicht hätte für notwendig halten müssen. In den Aufzeich­nungen steht doch der Satz: «Ich habe die Überzeugung, daß der Kaiser die Mobilmachungsordre überhaupt nicht unterzeichnet haben würde, wenn die Depesche des Fürsten Lichnowsky eine halbe Stunde früher angekommen wäre». Die politische Stimmung war gegen den Krieg; allein diese politische Stimmung war zur Null geworden gegenüber den militärischen Erwägungen. Und zur Null war sie selbst geworden gegenüber der Frage, wie man gegen Osten oder gegen Westen vorgehen solle. Das hing gar nicht von der politischen Läge des in Betracht kommenden Zeitpunktes, sondern von militärischen Vorbereitungen ab. Man hat auch viel gefabelt von einem Kronrat oder dergleichen, der am 5. Juli in Potsdam abgehalten worden sein soll, und der den Krieg planvoll soll vorbereitet haben. Nun, Herr von Moltke, in dessen militärischen Willen Ende Juli die Entscheidung gelegt war, ging noch im Juni zur Kur nach Karlsbad; er kam von da erst gegen Ende Juli zurück. Er hat bis zu seinem Lebensende nichts von einem solchen Kronräte ge­wußt. Er hat die Entscheidung rein aus militärischen Ge­sichtspunkten herbeigeführt. Gewiß, was sich im Juli 1914

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in der europäischen Läge zum Ausdruck brächte und was schließlich die Grundlage dafür abgab, daß die militärischen Erwägungen so ausfielen, wie sie ausgefallen sind: es geht auf Ereignisse zurück, die durch Jahre liefen. An diesen Ereignissen tragen viele deutsche Persönlichkeiten die Schuld; aber sie haben diese Ereignisse herbeigeführt, weil sie das Wesen Deutschlands in äußerer Macht- und Glanzentfaltung sähen; nicht weil sie zum Kriege «hetzen» woll­ten. Und diejenigen, welche zum Kriege hetzten: mit ihnen wäre in den verhängnisvollen Julitagen die politisch fried­liche Stimmung fertig geworden; ihre Bestrebungen wären blind ausgelaufen, wenn nicht nach dem 26. Juli die Dinge eingetreten wären, welche in Deutschland die Kette der unmittelbaren Kriegsursachen von vorne an geschmiedet haben. Auf Herrn von Moltke lag die Entscheidung; und er hätte - das geht aus den Aufzeichnungen hervor - mit irgendwelchen Kriegshetzern nichts zu tun. Wie oft konnte ich, nach seiner Verabschiedung, aus seinem Munde Worte hören, die deutlich sagten: nie hätte man auf Kriegshetzer gehört, aus welchem Lager sie auch gekommen wären. Gefragt um Bernhardi, hätte er nur jene Abweisung, die deut­lich besagte: der hätte Bücher schreiben können, wieviel er gewollt hätte: auf dergleichen hat bei uns nie jemand gehört, auf den es angekommen ist. So etwas schriebe ich hier nicht hin, wenn die Aufzeichnungen nicht das volle Recht dazu gäben; und wenn mir dieses Recht nicht auch zahlreiche Gespräche mit Herrn von Moltke während des Krieges gäben. - Vorher hat er, wie schon erwähnt, über Militärisches kaum etwas mit mir gesprochen. - Ich weiß, durch wie viele Kanäle solche Stimmungen wie die Bernhar­dischen auch auf die maßgebenden Persönlichkeiten übergehen

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können, und wie maßgebend solche sein können, die nicht an den «maßgebenden» Stellen stehen. Aber Herr von Moltke war maßgebend; und was er tat, stammte aus seiner unbeeinflußten Überzeugung. - Man kann von aller - durch­aus hier nicht geleugneten - Kriegshetzerei absehen: die un­mittelbare Ursächenströmung, die in die Kriegserklärungen Deutschlands auslief, setzte mit den Urteilen ein, die nach seiner Ankunft in Berlin Herr von Moltke sich vom rein militärischen Gesichtspunkte aus der europäischen Situation heraus gebildet hat. Alles andere, das man unter die unmit­telbaren Kriegsveranlassungen zählen will, verlief blind und hätte nicht zu dem führen können, was geworden ist.

Damit sind die Aufzeichnungen der vollgültige Beweis dafür, daß nicht das militärische Urteil als solches und nicht das völlig unzulängliche politische Urteil 1914 von deutscher Seite her den Krieg veranlaßt hat, sondern die Tatsache, daß keine deutsche Politik vorhanden war, welche die Ausschließlichkeit des militärischen Urteiles verhindern konnte. Nur durch eine solche Politik hätte im Jahre 1914 anderes geschehen können, als geschehen ist. So sind diese Aufzeichnungen eine furchtbare Anklage dieser Politik. Diese Erkenntnis darf nicht verborgen bleiben.

Man wird gegen die Veröffentlichung dieser Aufzeich­nungen vielleicht einwenden wollen, es stehe am Schlusse der Satz: «Sie sollen nur für meine Frau bestimmt sein und dürfen niemals der Öffentlichkeit bekannt werden.» Das hat Herr von Moltke im November 1914 in Homburg ge­schrieben, wo diese Niederschrift entständen ist. Es steht in diesen Mitteilungen nichts, was ich nicht im November und später von Herrn von Moltke gehört habe und wofür ich niemals eine Verpflichtung des Verschweigens auferlegt erhielt.

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Im Gegenteil: ich würde meine Pflicht gegen die not­wendige Mitteilung dessen, was nicht verschwiegen werden darf, verstoßen, wenn ich auch jetzt noch mit dem von mir Gewußten zurückhielte. Ich müßte sägen, was in diesen Mitteilungen steht, auch wenn sie nicht vorhanden wären; und könnte es sägen, denn ich kannte die Dinge alle, bevor ich die Aufzeichnungen gelesen hätte. Und Frau von Moltke zeigt durch die Veröffentlichung, daß sie Verständnis hat für geschichtliche Pflichten; und sie weiß aus der schweren seelischen Leidenszeit, die für ihren Mann mit seiner Ver­abschiedung begann, daß sie mit der Veröffentlichung in seinem Sinne und nicht gegen seinen Sinn handelt. Dieser Mann hat Unsägliches gelitten. In seiner Seele lebte er jede Schwingung im Kriegsschicksäle seines Volkes bis zu seinem Tode mit. Und so werden die Worte, die Aufzeichnungen sollen nur «für meine Frau bestimmt sein», zum Beweise für die absolute Ehrlichkeit und Lauterkeit des Nieder-geschriebenen. Im Augenblicke des Niederschreibens glaubte dieser Mann, daß er nur für seine Frau schreibe: wie konnte das geringste Unlautere in die Aufzeichnungen einfließen! Das sage ich nur der Öffentlichkeit gegenüber, denn ich habe den Mann gekannt, von dessen Lippen eine subjektive Unwahrheit niemals gekommen ist.

Warum sind diese Aufzeichnungen nicht früher bekannt geworden? So wird man vielleicht fragen. Oh, man hat sich lange genug bemüht, sich für ihren Inhalt Gehör zu verschaf­fen bei denen, die ihn hätten hören sollen, um ihrem Handeln die Richtung zu geben. Man wollte ihn nicht hören. Man interessierte sich nicht dafür. Das gehörte nicht zum «Res­sort». Jetzt muß ihn die Öffentlichkeit kennenlernen.

Geschrieben zu Stuttgart, Mai 1919 Rudolf Steiner

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NEUE TATSACHEN ÜBER DIE VORGESCHICHTE DES WELTKRIEGES

Ein Interview des Berichterstatters des «Matin» Jules Sauerwein mit Dr. Rudolf Steiner über die unveröffentlichten Memoiren des verstorbenen deutschen Generalstabschef von Moltke

Oktober 1921

«Sie wissen, daß wenn man Ihren Gegnern glauben darf, der Generalstabschef durch Sie zuerst den Kopf und dann die Marneschlacht verloren haben soll.»

Das ist die Frage, die ich an den berühmten Geistesforscher und Soziologen Rudolf Steiner, geborenen Deutsch­-Österreicher, richtete. Ich hege für ihn seit mehr als fünfzehn Jahren aufrichtige Bewunderung und freundschaftliche Empfindungen. Es gereichte mir seinerzeit zur großen Befriedigung, mehrere seiner theosophischen Werke ins Französische zu übertragen. Jedesmal wenn meine Reise es gestattet, versäume ich nicht, bei der Durchreise durch Basel Dr. Steiner in Dornach einen kurzen Besuch zu machen.

Ich traf ihn auch dieses Mal bei dem merkwürdigen und gewaltigen Bau, der von seinen Schülern den Namen Goetheanum erhalten hat in Würdigung Goethes als Vorläufer der Geisteswissenschaft. Ich habe bereits im «Matin» sowohl über den Mann wie über den Bau und dessen wun­derbare Lage, auf den letzten von Burgruinen überkrönten Ausläufern des Jura geschrieben.

Rudolf Steiner war gerade aus Deutschland zurückgekehrt, nachdem er in Stuttgart und Berlin vor Tausenden begeisterter Zuhörer Vorträge über seine Lehre gehalten hatte. In Dornach empfing er am gleichen Tage eine Gruppe

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von 120 Theologen, mit denen er in einer Erörterung theo­logischer und religiöser Fragen getreten war. Eine ganze Anzahl dieser Theologen beabsichtigen auf Grundlage der von Dr. Steiner vertretenen Lehren eine Neugestaltung des religiösen Lebens in Angriff zu nehmen.

Dr. Steiner arbeitete gerade an einer gewaltigen Gruppe in Holzplastik, welche Christus und die unterliegenden verführerischen Mächte, Luzifer und Ahriman, darstellt. Es ist dies eine der eindrucksvollsten Schöpfungen, die ich jemals gesehen habe; sie wird den zentralen Abschluß des kleineren Kuppelraumes im Goetheanum bilden. Während ich in der Abenddämmerung die Hörer beobachtete, welche in kleinen Gruppen die Anhöhe heraufstiegen, um sich zum Vortrage zu versammeln, erzählte mir Dr. Steiner von den Angriffen seiner Gegnerschaft. Klerikale und Alldeutsche und fanatische Anhänger verschiedener Religionsbekennt­nisse kämpfen mit jeder Waffe und bei jeder Gelegenheit gegen ihn.

Die Furcht vor der Wahrheit

Als ich ihm geradewegs die Frage stellte bezüglich des Ge­nerals von Moltke, richtete er seine durchdringenden Augen auf mich, welche mich aus einem von vierzigjährigem inten­sivsten geistigen Ringen durchfurchten Antlitze anschauten.

«Was Sie mir sagen, setzt mich nicht in Verwunderung. Es wird vor keinem Mittel zurückgeschreckt, mich aus Deutschland und womöglich auch aus der Schweiz zu ver­treiben. Diese Angriffe gehen auf die verschiedensten Unter­gründe zurück. Insofern sie sich aber auf meine Beziehungen zu Moltke erstrecken, haben sie ein ganz bestimmtes Ziel.

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Sie wollen die Veröffentlichung einiger Aufzeichnungen verhindern, die Moltke vor seinem Tode für seine Familie gemacht hat und deren Herausgabe im Buchhandel ich im Einverständnis mit Frau von Moltke besorgen sollte.

Diese Memoiren hätten schon 1919 erscheinen sollen. Un­mittelbar vor ihrem Erscheinen suchte mich eine Persön­lichkeit auf, welcher die diplomatische Vertretung Preußens in Stuttgart oblag, um mir zu sagen, daß diese Publikation unmöglich sei und daß man sie in Berlin nicht werde haben wollen. Später kam ein General zu mir, welcher in Stellun­gen um den General von Moltke und Wilhelm II. gewesen war, und machte mir dieselben Vorstellungen. Dagegen erhob ich Protest und wollte mich darüber hinwegsetzen. Ich dachte mich an den damals in Versailles anwesenden Grafen von Brockdorff-Rantzau zu wenden; konnte aber nichts erreichen. Meine Bemühungen blieben um so mehr ohne Erfolg, als man zur gleichen Zeit an Frau von Moltke mit Vorstellungen herantrat, denen sie sich nicht entziehen konnte.

Warum diese Befürchtungen? Diese Memoiren sind durch­aus nicht eine Anklage gegen die kaiserliche Regierung. Es geht aber aus ihnen hervor, was vielleicht schlimmer ist, daß sich die Reichsregierung im Zustande vollkommener Verwirrung und unter einer unbegreiflich leichtsinnigen und ignoranten Führung befand. Man kann auf die verantwort­lichen Persönlichkeiten den Satz anwenden, welchen ich in meinem Vorwort niedergeschrieben habe:

Ich kann hinzufügen, daß es in den eigentümlichen Ver­hältnissen lag, welche bewirkten, daß zuletzt die Wucht der

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entscheidenden Entschließungen auf einem einzigen Mann, dem Generalstabschef, lasteten, welcher sich dadurch ge­zwungen sah, seine militärische Pflicht zu tun, weil die Politik auf dem Nullpunkt angekommen war. Ich habe niemals vor dem Rücktritt Moltkes mit ihm über politische oder militärische Fragen gesprochen. Erst später, als er schwer erkrankt war, sprach er sich natürlicherweise mir gegenüber offen über alle diese Angelegenheiten aus, und ich will Ihnen, da Sie dieses interessieren wird, sagen, was er mir selbst erzählte und was auch aus seinen unveröffentlichten Memoiren ersichtlich ist.

Ende Juni 1914 begab sich Moltke, der seit 1905 General­stabschef war, aus Gesundheitsrücksichten nach Karlsbad. Er hat bis zu seinem Tode nichts gewußt von einer Pots­damer Beratung vom 5. oder 6. Juli. Er war erst nach dem Ultimatum an Serbien gesund nach Berlin zurückgekehrt. Seit seiner Rückkehr hatte er, wie er sagte, die feste Überzeugung, daß Rußland angreifen werde. Er sah die tra­gische Entwickelung deutlich voraus, welche die Dinge an­nehmen mußten, das heißt, er glaubte an die Teilnahme Frankreichs und Englands an dem Weltkonflikt. Er schrieb für den Kaiser ein Memorandum, das auf die Notwendig­keit zu treffender Maßnahmen hinwies. Der Plan des deut­schen Generalstabes war im wesentlichen seit langer Zeit festgelegt. Er war durch den Vorgänger Moltkes, von Schlieffen, aufgestellt worden. Sie kennen seine Grundzüge: Große Massen sollten gegen Frankreich geworfen werden, um mit jedem Preis eine rasche Entscheidung im Westen zu erzielen. Gegen Rußland war eine schwache Verteidigungs­armee vorgesehen, die nach der Entscheidung auf dem west­lichen Kriegsschauplatz später aufgefüllt werden sollte.

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Betörte Menschen

Von Moltke hatte in einem allerdings wichtigen Punkte den Plan seines Vorgängers geändert. Während Schlieffen den gleichzeitigen Durchmarsch durch Belgien und Holland in Aussicht genommen, hatte Moltke auf Holland verzichtet, um Deutschland im Falle einer Blockade Atmungsmöglich­keiten zu lassen.

Als Moltke am Freitag, dem 31. Juli, ins Schloß kam, fand er völlig verwirrte Leute. Er hatte, wie er sagte, den Eindruck, daß er sich in die Lage versetzt sah, ganz allein einen Entschluß fassen zu müssen. Der Kaiser unterzeich­nete an diesem Tage noch nicht den Mobilmachungsbefehl, einen Befehl, der in Deutschland durchaus der Kriegs­erklärung gleichkommt, denn sobald dieser Befehl erteilt ist, rollt alles einschließlich der ersten Operation zu bestimmten Stunden mit einem unerbittlichen Automatis­mus ab. Wilhelm II. begnügte sich für jenen Tag, den Zustand der drohenden Kriegsgefahr zu proklamieren. Am folgenden Tag, am Samstag, dem 1. August um vier Uhr nachmittags, ließ er Moltke wieder zu sich rufen, und in den nunmehr folgenden sechs Stunden spielte sich das fol­gende Drama ab.

Moltke trifft den Kaiser in Gegenwart von Bethmann Hollweg, welchem buchstäblich die Knie zitterten, des Kriegsministers Falkenhayn, des Generals von Plessen, Lyncker und einigen anderen. Der Kaiser erhebt lebhaften Widerspruch gegen die Absichten des Generalstabschefs. Er habe, sagt er, die besten Nachrichten aus England erhalten. England werde nicht nur neutral bleiben - wie Georg V. ihm mitteile -, es werde sogar Frankreich verhindern, am

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Kriege teilzunehmen. Unter diesen Bedingungen sei es logisch, die ganze Armee gegen Rußland zu werfen. Nein, antwortete Moltke, der Plan muß im Osten wie im Westen so ausgeführt werden, wie er festgesetzt ist, wenn wir nicht das größte Unglück herbeiführen wollen.

Die technischen Gründe

Die Einwände berühren Moltke nicht, er weigert sich, irgend etwas zu ändern. Er macht geltend, daß im Sinne des Mobil­machungsbefehles ohne jeden Aufschub verfahren werden müsse. Er glaubt nicht an die englischen Telegramme, und mit dem Mobilmachungsbefehl in der Hand, den Wilhelm II. soeben unterzeichnet hat, wird er entlassen, die anderen in einem Zustande völliger Verwirrung zurücklassend. So kam es, daß aus rein militärischen Rücksichten die Entscheidung über den Kriegsausbruch fallen mußte. Auf dem Wege vom Schloß zum Generalstab wird sein Wagen von einem kaiser­lichen Automobil eingeholt. Moltke wird im Auftrag des Kaisers zurückgerufen. Der Kaiser ist aufgeregter denn je. Er zeigt seinem Generalstabschef ein Telegramm aus Eng­land. Er glaubt aus diesem Telegramm mit absoluter Ge­wißheit zu ersehen, daß der Konflikt auf den Osten be­schränkt und daß England und Frankreich neutral bleiben werden. , so schließt er, Moltkes Antwort lautet, daß man eine Armee nicht der Alternative von Befehl und Gegenbefehl aussetzen könne. Da wandte sich der Kaiser, während Moltke dabei stand, an den Flügeladjutanten vom Dienst und befahl ihm, sofort dem Kom­mando der 16. Division nach Trier den Befehl zu übermitteln,

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sie solle nicht in Luxemburg einmarschieren. Moltke begibt sich nach Haus. Erschüttert, weil er das größte Un­heil aus solchen Maßnahmen erwartet, setzt er sich an seinen Tisch. Er erklärt, er könne in dem Sinne des telephonischen Befehles des Kaisers keine Maßnahmen für die Armee tref­fen. Dieser Befehl wird ihln von einem Adjutanten zur Un­terschrift überbracht. Er verweigert die Unterschrift und schiebt den Befehl zurück. Bis um 11 Uhr abends bleibt er in einem Zustand dumpfer Erschöpfung, trotzdem er ganz ge­sund von Karlsbad zurückgekommen war. Um 11 Uhr wird er angeläutet. Der Kaiser fragt wieder nach ihm. Er begibt sich sofort auf das Schloß. Wilhelm II., der sich schon zur Ruhe begeben hatte, wirft einen Schlafrock über und sagt: Alles hat sich geändert. Das Unheil ist im Anzug. Der König von England hat soeben in einem neuen Telegramm erklärt, daß er mißverstanden worden sei und daß er weder in seinem Namen noch in demjenigen Frankreichs irgend­eine Verpflichtung übernehme. Er schließt mit den Worten:

Jetzt können Sie machen, was Sie wollen. Und nun beginnt der Krieg.

Trübe Vorzeichen

Im Monat August habe ich den General von Moltke ein einziges Mal, und zwar am 27. August in Koblenz, gesehen. Unsere Unterhaltung drehte sich um rein menschliche An­gelegenheiten. Das deutsche Heer war noch im vollen Sieges-zuge. Es war auch keine Veranlassung, über das zu spre­chen, was noch nicht da war. Die Marneschlacht entfaltete sich später. Ich hatte bis dahin von Moltke nicht mehr ge­sehen. Sie ging unter Bedingungen vor sich, welche von

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Moltkes Erwartungen auf das tiefste erschüttern mußten. Während der Probemanöver hatte er mehrmals einen vor­sichtigen Vormarsch auf dem rechten Flügel ausführen las­sen, der bei einem Marsch auf Paris hätte in Betracht kom­men können. Dreimal war Kluck, der den Oberbefehl über den rechten Flügel hatte, zu schnell vorgerückt. Jedesmal sagte Moltke zu ihm, wenn Sie im entscheidenden Augen­blick ebenso schnell vorrücken, werden wir im Ernstfall den Krieg verlieren. Als der Armee von Kluck die Um­fassung drohte, sah sich Moltke von einer schrecklichen Ahnung ergriffen. Es stieg ihm der Gedanke auf: der Krieg könnte für Deutschland verloren werden. Das scheint mir zur <Psychologie> des Kriegsverlaufes zu gehören. Als von Moltke am 13. September ins Hauptquartier zurückkehrte, machte er den Eindruck eines tief erschütterten Mannes. Die Umgebung des Kaisers hielt ihn für krank. Von diesem Augenblick an führte in Wirklichkeit Falkenhayn, ohne den offiziellen Titel zu haben, den Oberbefehl. Später, als Moltke das Bett hüten mußte, besuchte ihn Wilhelm II. Bin ich es noch, der die Operationen leitet? fragte er den Kaiser. Ich glaube in der Tat, daß Sie es noch sind, antwortete ihm Wilhelm II. So wußte während Wochen der Kaiser noch nicht einmal, wer der tatsächliche Oberbefehlshaber seiner Truppen sei.

Aber nun ein neues Beispiel von der Meinung, die man von Wilhelm II. in dessen eigener Umgebung hatte. Eines Tages, als von Moltke mir die Gefühle tiefen Leides schil­derte, die er nach der Einnahme von Antwerpen über Bel­gien zurückkehrend empfand, befragte ich ihn zum ersten­mal über den Einmarsch in Belgien. Wie kommt es, so fragte ich. daß ein Kriegsminister im Reichstag behaupten

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konnte, daß der Plan eines Einfalles in Belgien nicht exi­stiert habe. Dieser Minister, antwortete Moltke, kannte meinen Plan nicht, der Kanzler aber war auf dem Lau­fenden. Und der Kaiser? Niemals, sagte Moltke: Der war zu geschwätzig und indiskret. Er hätte es der ganzen Welt ausgeplaudert! »

Jules Sauerwein.

NACHTRÄGLICHE BEMERKUNGEN ZUM «MATIN»-INTERVIEW

Es schien mir unmöglich, die während eines Besuches des mir befreundeten Dr. Jules Sauerwein gestellten Fragen nicht zu beantworten. Denn erstens halte ich den gegen­wärtigen Zeitpunkt für einen solchen, in dem jeder sprechen muß, der von der Wahrheit des Krieges etwas weiß. Ich hätte unter den gegebenen Verhältnissen Schweigen für Pflichtverletzung halten müssen. Was ich gesagt habe, konnte ich ganz unabhängig von den Memoiren des Herrn von Moltke sagen. Ich habe das alles von Herrn von Moltke im November 1914 und später selbst - sogar oftmals - gehört und niemals eine Verpflichtung des Verschweigens auferlegt erhalten. Es war nur selbstverständlich, darüber nicht zu einer ungeeigneten Zeit zu sprechen.

Zweitens kommt noch etwas in Betracht. Ich habe Herrn von Moltke gekannt und durch Jahre hindurch das Vornehm-Lautere dieser Persönlichkeit schätzen gelernt, über deren Lippen gewiß niemals eine subjektive Unwahrheit gekom­men ist. Im Juli1914 war er in eine tragische Situation hin­eingestellt. Er kannte das Furchtbare, für das zu entscheiden war, und seine militärische Pflicht gebot ihm, allein zu entscheiden.

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Nun darf ich vielleicht dazu bemerken, daß mir bei einem andern kurz vorher erfolgten Besuch Dr. Jules Sauerwein erzählte, daß jetzt von gewissen Seiten Nach­richten verbreitet werden, von Moltke sei in Geistesverwirrung gestorben. Er fragte mich, was denn an diesen Dingen und ihrem Zusammenhang mit dem Kriege wahr sei. Ich fühlte mich auch gegenüber diesen empörenden un­wahren Ausstreuungen verpflichtet, nicht zu schweigen. (Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß Frau von Moltke nichts wußte von einer Unterredung mit Dr. Sauerwein.)

Es ist nun einmal meine Ansicht, daß die Erörterungen über die «Schuld» am Kriege in einer ganz falschen Bahn sich bewegen. Man kann so gar nicht von «Schuld» sprechen, wie man es tut. Tragik liegt vor. Und durch eine tragische Situation ist der Krieg entstanden. Das zeigt am besten, wie ich glauben muß, was ich durch Herrn von Moltke über die nächsten Kriegsveranlassungen gehört habe. Auf das un­sinnige Gerede von von Moltkes «mystischen» Neigungen fühle ich mich nicht veranlaßt einzugehen. Was er in bezug auf den Krieg getan hat, hielt er aus seiner militärischen Pflicht heraus für eine Notwendigkeit. Und ich meine, daß, was er gesagt hat, geeignet ist, die Diskussion über die «Schuld» am Kriege auf eine andere Grundlage zu stellen, als diejenige ist, auf der sie heute in der Welt steht.

Rudolf Steiner.

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ÜBER «ERWIDERUNGEN» AUF DEN «MATIN»-ARTIKEL

Als ich die wenigen «nachträglichen Bemerkungen» in Nr.15 dieser Wochenschrift zu Dr. Sauerweins Wiedergabe eines Gesprädies zwischen ihm und mir schrieb, hatte ich noch keine der Äußerungen gelesen, die in der Presse über den «Matin»-Artikel erschienen sind. Ich setzte voraus, jeder unbefangene Leser dieses Artikels müsse erkennen, daß in dem, was ich über von Moltkes mündliche oder schriftliche Aussagen mitgeteilt habe, etwas liegt, dessen rechte weitere Erörterung dazu führen müsse, daß die Welt nicht mehr von einer «Schuld» Deutschlands sprechen könne, sondern von einem tragischen Verhängnis. Denn durch diese Mitteilungen wird klar:

1. Daß die Verhältnisse Ende Juli1914 in Deutschland die Entscheidung über die zu treffenden Maßnahmen in die Hand eines Mannes, des Generalstabschefs von Moltke ge­führt haben. Dieser durfte im entscheidenden Augenblicke nichts anderes tun als seine militärische Pflicht. Damit ent­fällt alles Reden über deutsche Kriegshetzer. Denn gerade von Moltkes Schilderung beweist, daß selbst, wenn solche Kriegshetzer vorhanden gewesen wären, sie auf von Moltkes Entscheidung ganz ohne Einfluß gewesen wären. Moltkes Schilderung ist nicht die einer Partei, sondern diejenige des Mannes, der mit feinst ausgeprägtem Verantwortlichkeits-bewußtsein gehandelt hat. Sein Wort kommt vor allen anderen in Betracht. Es ist nicht zur Belastung Deutsch­lands gesprochen.

2. Es geht aus der Wiedergabe von von Moltkes Aussagen hervor, daß dieser bis zu seinem Tode von einer Potsdamer

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Beratung (einem angeblichen Kronrat) am 5. oder 6. Juli nichts gewußt hat. Damit sind alle die Märchen, die an eine solche Beratung Entscheidendes geknüpft haben, widerlegt. Wie man sagen kann, ich tischte dieses Märchen weiter auf, ist mir unerfindlich.

3. Ich habe oft von von Moltke gehört, daß der Kriegsplan im wesentlichen von von Schlieffen herrühre. Wichtig er­scheint, daß von Moltke betonte, er habe die Schlieffensche Absicht, mit dem rechten Flügel durch Südholland zu mar­schieren, fallen gelassen und lieber die großen technischen Schwierigkeiten auf sich genommen, die dadurch verursacht wurden, daß der rechte Flügel des deutschen Heeres sich durch den engen Raum zwischen Aachen und der Südgrenze der Provinz Limburg hindurdizwängen mußte. Daraus ist doch für jeden Unbefangenen klar ersichtlich, daß die deutsche Heeresleitung auf das allerernstlichste bemüht war, gegen Westen hin von dem, was dann als so schweres Unrecht angesehen worden ist, nicht um ein Häkchen mehr zu tun, als was sie nach der auf ihr lastenden Verantwor­tung tun mußte. Alles andere wäre Sache der politischen Leitung gewesen. Zum Beleg dieser Tatsache kann dienen, daß von Schlieffen mehr für notwendig gehalten hat. Dar­aus, daß vor mehr als einem Jahrzehnt vor Kriegsausbruch die Absicht bestanden hat, durch Holland zu marschieren, kann doch wahrhaftig für die Ereignisse von 1914 nichts geschlossen werden. Deutschland damit belasten zu wollen, ist einfach lächerlich.

4. Wer von Moltke kannte, sollte wissen, daß von seinen Lippen in allen diesen Dingen keine Unwahrheit kommen konnte. Aber es ist für die Welt wichtig zu wissen, wie er sich in seine Umgebung in derjenigen Stunde hineingestellt

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fand, die er wie kein anderer als Deutschlands Schicksals­stunde ansah. Verschweigen, was zwischen ihm und seiner Umgebung sich abspielte, heißt der Welt das Wichtigste vorenthalten, was zur Beurteilung des Kriegsausbruches gewußt werden kann. Andere mögen, vielleicht um diesen oder jenen zu schonen, anders denken. Aber sie sollten dem­jenigen, der nun einmal nicht ihrer Meinung sein kann, nicht unlautere Absichten unterschieben.

Nun sind von den Presseäußerungen, die an den Artikel von Dr. Sauerwein angeknüpft worden sind, wohl die­jenigen der «Deutschen Allgemeinen Zeitung» solche, die man am ehesten ernst nehmen kann.

Ich will gegenüber der Bemerkung des Generalmajors von Haeften, daß durch meine Mitteilungen ersichtlich ge­macht werden soll: «Alle jene Männer, in deren Händen das Schicksal Deutschlands damals gelegen habe, seien mehr oder weniger Schwächlinge gewesen», nur dies sagen:

Man braucht ja doch nur die vielen Memoiren zu lesen, die seit dem Kriegsende geschrieben worden sind, um zu er­sehen, was sich «jene Männer» alles an die Köpfe werfen; und man wird dann doch bei unbefangenem Urteile kaum sagen: «Einer solchen Tendenz kann nicht ausdrücklich genug entgegengetreten werden.» Ich habe das Urteil von Moltkes wiedergegeben. Wer dafür Belege will, lese von Tirpitz' Memoiren. Was ich aber nicht gelten lassen kann, ist von Haeftens Satz: ... . denn Schwäche und Leicht­fertigkeit in solcher Lage sind vielleicht belastender und eine größere Schuld als bewußter Kriegswille.» Kann man denn so sprechen, wenn man in der wirklichen und nicht in einer Gespensterwelt lebt? Was Deutschland vorgeworfen wird, ist «bewußter Kriegswille». In ihm sieht man seine

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Schuld. Kann man von bewußtem Kriegswillen nicht mehr sprechen, sondern nur von «légèreté» und «ignorance inconcevables» (unbegreiflichem Leichtsinn und Ignoranz), dann ist die Möglichkeit gegeben, darauf hinzuwirken, daß die Ansichten über die «Schuld» revidiert werden. Es ist übrigens bezeichnend, daß von Haeften nicht von dem spricht, was ich wirklich gesagt habe, sondern von «Schwäche und Leichtfertigkeit». Diese Worte habe ich in Deutschland oft gehört und gelesen; ich habe sie aber nicht gebraucht. Daß Leichtsinn und Ignoranz, also Eigenschaften, für die schließlich der nichts kann, der sie hat, eine «größere Schuld» begründen können als «bewußter Kriegswille», das wird erstens einem juristischen Denken schwer beizubringen sein, zweitens kann es, richtig angesehen, «in solcher Lage» wie die vom Juli1914 wohl zum tragischen Verhängnis, aber eben nicht zur Verurteilung wegen «bewußter» Schuld führen.

Was nun Herr von Haeften des weiteren über von Moltkes Verhältnis zu mir behauptet, das könnte er besser wissen. Er sagt: «Der Generaloberst von Moltke stand, solange er im Vollbesitz seiner Gesundheit war, Herrn Steiner und seinen Bestrebungen völlig ablehnend gegenüber, wenn auch die unter dem Bann der Steinerschen Ideen stehende Frau von Moltke des öfteren versucht hatte, ihren Gatten im Steinerschen Sinne zu beeinflussen. Erst der seelisch und körperlich kranke Generaloberst zeigte sich Steiners Ideen bei dessen Besuch im Schloß Homburg im November 1914 zugänglich, und nach seinem Rücktritt von der Stellung als Chef des Generalstabes des Feldheeres hat er Herrn Steiner sein Vertrauen geschenkt, ein Vertrauen, das dieser ihm heute schlecht dankt.» Diese Behauptungen über mein Verhältnis

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zu Herrn von Moltke sind sämtlich objektive Un­wahrheiten. Wahr ist vielmehr das Folgende. Ich verkehrte seit 1904 im Hause des Herrn von Moltke. Ich wurde zu jedem einzelnen Besuch eingeladen. Die Einladung ging nicht etwa bloß von Frau von Moltke aus, sondern auch von Herrn von Moltke. Ich habe die allergrößte Verehrung für Herrn von Mol tke. Aber ich habe mich nie aufgedrängt. Die oft viele Stunden lang dauernden Unterhaltungen um-faßten immer Weltanschauungsfragen. Herr von Moltke war eben aufgeklärt genug, zu ersehen, daß meine Welt­anschauung aller nebulosen Mystik ganz ferne steht und auf sicheren Erkenntnisgrundlagen ruhen will. Er wäre gar nicht leicht zu «beeinflussen» gewesen, auch wenn ich das versucht hätte. Er sah aber, daß ich auf «Beeinflussung» gar nicht ausgehe. Er sagte mir nicht einmal, sondern sehr oft: «Ihre Weltanschauung befriedigt den Verstand, weil bei ihr der Fall ist, was mir noch bei keiner anderen vorge-kommen ist, alle Dinge tragen einander und fügen sich ohne Widerspruch ineinander.» Er hatte, weil sein Denken durchaus gesund war, auch gesunde Skepsis und kam über vieles nicht leicht hinweg. Immer wieder kamen ihm Zwei­fel. Aber auch den Zweifeln gegenüber machte er stets den oben angeführten Satz geltend. Er sagte mir auch: «Wenn die Leute mit der heute üblichen Bildung von Ihren An­sichten erfahren, dann werden Sie schöne Dinge zu erleben haben.»

Dieses Verhältnis bestand seit 1904 von Herrn von Moltke zu mir; und darin hat sich durch meinen, auch auf Einladung erfolgten Besuch in Homburg nicht das geringste geändert. Er hat mir vom Homburger Besuch bis zu seinem Tode nicht weniger und nicht mehr Glauben geschenkt als

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durch zehn Jahre vorher. - Ob ich, nach seiner Ansicht, auf die es mir allein wirklich in dieser Sache ankommt, sein Vertrauen ihm schlechter danke als jemand, der davon spricht, daß von Moltke sich mit mir nur unterhalten habe, weil er seelisch und körperlich krank war, und der doch auch dessen Vertrauen genossen hat, darüber will ich gar nicht streiten. Mir fällt nur auf, daß jemand, der «in der dienstlichen Umgebung» des Generalobersten von Moltke bei Kriegsausbruch und während seines Aufenthaltes in Homburg war, von dem «Rücktritt von der Stellung als Chef des Generalstabes des Feldheeres» spricht, ohne zu fürchten, mit dieser Formulierung eine bedenkliche Phrase zu gebrauchen.

Daß durch den Sauerweinschen Artikel das Märchen vom Kronrat am 5. Juli widerlegt wird, habe ich oben schon gesagt. Wenn gesagt wird, ich hätte verschwiegen, daß Generaloberst von Moltke von dem Kronrate nichts wissen konnte, weil er niemals stattgefunden hat, so erscheint mir das als Wortklauberei, denn wenn Herr von Moltke von einer solchen Sache nichts gewußt hat, so kann auch nichts stattgefunden haben, was von einer Bedeutung gewesen wäre.

Daß heute Holland in einen neuen französischen Propa­gandafeldzug bezüglich der Schuldfrage von vernünftigen Leuten nicht hineingezogen werden kann, weil gesagt wor­den ist, Herr von Moltke wollte eben von einem Durch­marsch durch Holland absehen, das scheint mir, wie ich oben gesagt habe, durchaus klar. Herrn von Moltkes Worte beweisen eben, daß lange vor 1914 von einem solchen Durchmarsch abgesehen worden ist, trotzdem Herr von Schlieffen, den auch Herr von Moltke als große militärische

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Autorität angesehen hat, glaubte, ein solcher könnte not­wendig sein. Ganz belanglos aber ist nicht, daß dieser Durchmarsch, von dem auch Herr von Haeften zugibt, daß von Schlieffen ihn in den «Kreis seiner Erwägungen» ge­zogen hat, nur unter der Voraussetzung hätte verwirklicht werden sollen, wenn «Holland im Falle eines Kriegsaus­bruches freiwillig auf deutsche Seite treten würde». So sagt Herr von Haeften. Dies wird niemand bestreiten. Und wenn, wie es vom militärischen Standpunkte durchaus zu­gegeben werden muß, dies eine Entlastung für Deutschland ist, so darf auch behauptet werden, daß bei weiterer Prü­fung dieser Angelegenheit die Erwähnung der von Schlieffen­schen Absichten bezüglich Hollands auch den Durchmarsch durch Belgien in einem anderen Lichte erscheinen lassen müßte, als in dem, in welchem man ihn bisher allein gesehen hat. Denn diese Voraussetzung trifft auch innerhalb ge­wisser Grenzen für Belgien zu. Herr von Moltke rechnete damit, daß Belgien zwar sich nicht auf deutsche Seite stellen werde, aber doch sich soweit freundlich zeigen werde, daß es dem Durchmarsch keinen Waffenwiderstand entgegen­setzen werde. Es ist deshalb gar nicht so unbedingt sicher, daß Deutschland auf alle Fälle durch Belgien marschiert wäre, wenn die Dinge in den entscheidenden Tagen sich nicht einfach überstürzt hätten. Wie über diese Dinge politisch zu urteilen ist, das habe ich hier nicht zu erörtern, trotzdem ich weiß, daß die belgische Neutralitätsgarantie eine ganz besondere war; denn ich habe nicht darüber mit Dr. Sauerwein gesprochen, sondern nur über die Auffassung Herrn von Moltkes.

Die von Herrn von Haeften erwähnten Datenverschie­bungen, die sich in dem Sauerweinschen Artikel finden, sind

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in Nr. 15 dieser Wochenschrift richtiggestellt. Was von Haeften an Einzelheiten zu dem im «Matin»-Artikel Ge­sagten hinzufügt, widerspricht im wesentlichen nicht dem dort Gesagten; ergänzt es sogar und bestätigt es in wesent­lichen Punkten. Herr von Haeften sagt: «Die Behauptung des Herrn Steiner, daß Generaloberst von Moltke sich geweigert habe, einen ihm durch einen Flügeladjutanten überbrachten diesbezüglichen Befehl des Kaisers gegenzu­zeichnen und den Offizier zurückgeschickt habe, ist freie Erfindung. Der Generaloberst von Moltke hat lediglich einem entsprechenden Befehlsentwurf des Chefs der Ope­rationsabteilung (Oberstleutnant Tappen) die Unterschrift verweigert.» Zu korrigieren ist da doch nichts anderes als der «Flügeladjutant», denn auch ich habe nicht behauptet, daß der «Befehlsentwurf» vom Kaiser eigenhändig ge­schrieben war. Und daß über Flügeladjutanten ein Offizier besser Bescheid weiß als Sauerwein, das gebe ich gerne zu. Von Moltkes eigene Worte darüber sind: «Wie mir die Depesche an die 16. Division vorgelegt wurde, die den telephonisch gegebenen Befehl wiederholte, stieß ich die Feder auf den Tisch und erklärte, ich unterschreibe sie nicht.» Herr von Haeften betont: «Der General von Moltke war trotz mancher gegensätzlicher Auffassungen, nament­lich während der letzten Lebensjahre, ein seinem Kaiser in unwandelbarer Treue ergebener Soldat.» Dem ist vollinhaltlich beizustimmen. Man kann sogar noch mehr sagen. Von Moltke war einer der allerbesten Diener seines Kaisers. Und als Mann, der sich stets seiner Verantwortung voll bewußt war, hielt er sich nie davor zurück, dem Kaiser diejenigen Ratschläge zu geben, die er als die für diesen am besten geeigneten hielt, auch wenn sie den Meinungen des

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Kaisers zuwiderliefen. Aber das ist es gerade, was von Moltkes Aussprüche, die vollkommen richtig wiedergegeben sind, so wertvoll macht. Es hat sie nicht ein Gegner des Kaisers gemacht, sondern es hat sie sich einer der treuesten Diener aus der Sache heraus abgerungen. Wer da glaubt, daß von Moltke aus Groll oder Verbitterung gesprochen hat, der verkennt doch den Generalobersten. Ihn hat nieder­geworfen alles, was er von Ende Juli 1914 an erlebt hat; nie aber war er in einem Zustand, der als seelische Erkran­kung in dem Sinne bezeichnet werden darf, wie es jetzt diejenigen tun, die glauben, seine Aussprüche mit seiner Seelenverfassung entschuldigen zu müssen.

Was er gesagt hat, ist meiner festen Überzeugung nach geeignet, alle bisherige Diskussion über die «Schuldfrage» auf eine Grundlage zu stellen, auf der sie ja nicht die gegen­wärtigen Machthaber der Siegerstaaten haben wollen, aber für die in aller Welt immer mehr vernünftige Menschen werden zugänglich sein. Ich kann gar nicht verstehen, warum für eine solche Erwägung Herr von Haeften, den ich als vernünftigen Mann kennengelernt habe, heute nicht zugänglich ist. Man sollte doch erkennen, daß das deutsche Volk gerade dann am meisten wird «auszubaden» haben, wenn solche Dinge zu sagen, wie sie von Moltkes Auf­fassung entspringen, immer wieder als Vergehen hinge-stellt wird. Das deutsche Volk hat nicht nötig, mit der Wahrheit zurückzuhalten. Geschadet haben ihm bisher am meisten diejenigen, die glaubten, das tun zu müssen. Die Wahrheit wird das deutsche Volk nicht belasten, sondern entlasten. Das hätte man einsehen sollen in den Tagen, die dem Versailler Frieden vorangingen. Das sollte man heute wieder einsehen.

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Diejenigen, welche die deutschen Politiker von 1914 ver­teidigen wollen, sollten doch erinnert werden, was von Tirpitz in seinen «Erinnerungen» schreibt. Zum Beispiel Seite 242: «Der Eindruck von der Kopflosigkeit unserer politischen Leitung wurde immer beunruhigender. Der Durchmarsch durch Belgien schien ihr vorher nicht (er meint in der Nacht vom 1. zum 2. August) eine feststehende Tat­sache gewesen zu sein. Seit der russischen Mobilmachung machte der Kanzler den Eindruck eines Ertrinkenden. . . . Während sich die Juristen des Auswärtigen Amtes in die Doktorfrage vertieften, ob wir nun schon mit Rußland im Kriege stünden oder noch nicht, stellte sich nebenbei her­aus, daß man vergessen hatte, Österreich zu fragen, ob es mit uns gegen Rußland kämpfen wollte.» Seite 245 sagt derselbe von Tirpitz: «Nach dem Weggang des Kanzlers aus der Sitzung beklagte sich Moltke beim Kaiser über den Zustand der politischen Leitung, die keinerlei Vorbereitungen für die Lage besäße und jetzt, da die Lawine im Rollen wäre, immer noch an nichts als juristische Noten dächte.» Und Männern, über die einer (von Tirpitz), der mit ihnen gearbeitet hat, so sprechen muß, soll das deutsche Volk nicht Kritik, sondern «Dank» entgegenbringen. Es soll sich genügen lassen mit der Meinung, daß sie «durchaus logisch und pflichtgemäß gedacht und gehan­delt haben». Seite 248 sagt von Tirpitz: «Die moralische Schuldlosigkeit unserer damaligen Regierung kann aber nur klargelegt werden durch eine offene Darstellung ihrer diplomatischen Unzulänglichkeit.....

Von Moltkes Ansichten und Aussagen liegen durchaus in der Richtung, in der diese Dinge klargelegt werden müssen. Bringt man sie zur richtigen Erörterung, so können sie ihre

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Wirkung nicht verfehlen. Werden sie aber so erörtert, wie das bisher geschehen ist, so geschieht natürlich gerade da­durch etwas, was das deutsche «Volk wird ausbaden müs­sen», wie es leider wahrhaftig schon genug «ausbaden» muß.

Ob man ein Recht hat, von «politischen Dilettanten» so zu sprechen, wie es Herr von Haeften tut, mit dem Hinter­grund, der unter anderem auch mit von Tirpitz' Worten Seite 248 gegeben ist, muß doch ernstlich in Frage gestellt werden. Da steht, daß die Politiker von 1914 «gefehlt haben» . . . «durch Mangel an geradem und klarem Denken.»

Über persönliche Verunglimpfungen, wie sie liegen in Sätzen von meiner «Sucht, eine politische Rolle zu spielen», möchte ich vorläufig lieber schweigen. Von Herrn von Haeften, den ich einmal als einen vornehm denkenden Mann kennengelernt habe, hätte ich das Urteil nicht er­wartet. Es scheint, als ob man Vorurteile nicht bloß von vorneherein haben kann, sondern als ob, auch wenn man sie einmal nicht gehabt hat, man sie sich hinterher auch erwerben kann.

Was ich gesagt habe, habe ich geglaubt nicht verschweigen zu dürfen, weil ich leider sehe, daß Persönlichkeiten, die ja gewiß die subjektive Meinung haben können, nicht die «Geschäfte der Feinde» zu besorgen, dies gerade dadurch tun, daß sie der Wahrheit durchaus nicht freie Bahn geben wollen. Ich muß es, nach meiner Auffassung, auch heute wieder erkennen, wie in dieser Richtung von manchen Seiten gesündigt wird.

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GEGEN EINWÄNDE, DIE ÜBER DAS «MATIN»-INTERVIEW GEMACHT WERDEN

Auf die durchaus sachlich gehaltenen Einwände des Herrn Major Muff («Stuttgarter Neues Tagblatt», 1.November 1921) gegen Absicht und Inhalt des «Matin»-Interviews scheint es Pflicht, zu antworten. Vorerst möchte ich aber meine Befriedigung über diese Sachlichkeit zum Ausdrucke bringen; denn wenn man von so vielen Seiten fortdauernd nur persönliche Verunglimpfungen erfährt, ist man froh, es einmal mit vornehmem Ton in der Polemik zu tun zu haben.

Zunächst spricht Major Muff davon, daß ich zu Dr. Sauerweins Interview in nachträglichen Bemerkungen hin-zugefügt habe: «Man könne überhaupt gar nicht so von einer Schuld sprechen, wie man es tue. Tragik liege vor. Und durch eine tragische Situation sei der Krieg entstan­den.» Wenn man einige Satze in meinen «nachtraglichen Bemerkungen» weiter liest, so wird man auf die folgenden Worte stoßen: «Und ich meine, daß, was er (Moltke) gesagt hat, geeignet ist, die Diskussion über die am Kriege auf eine andere Grundlage zu stellen, als diejenige ist, auf der sie heute in der Welt steht.» Major Muff sagt: «Als Deutsche haben wir allen Grund, uns gegen eine solche Verschiebung der Diskussionsebene zu verwahren.» Das erscheint mir, aufrichtig gesagt, etwas weltfremd. Der ganze Zusammenhang meiner Worte besagt doch, daß die Dis­kussion «in der Welt», das heißt, unter den heutigen Ver­hältnissen im wesentlichen bei Deutschlands Gegnern auf eine andere Grundlage gestellt werden solle, als die ist, auf der sie steht. Auf welcher Grundlage steht sie da? Auf

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keiner andern, als daß Deutschland den Krieg bewußt her­bei geführt habe. Daß Lloyd George zuweilen so, zuweilen ein bißchen anders spricht, kann doch wahrhaftig nicht zu dem Glauben verführen, daß «die Wahrheit über die Schuld am Kriege» . . . «bereits auf dem Marsche ist». Wenn man ohne Weltfremdheit heute die Diskussion über die Kriegsschuld betrachtet, dann könnte man zufrieden sein, wenn die Diskussion von den vernünftigen Leuten außerhalb Deutschlands auf die Grundlage gestellt würde: es liegt nicht «Schuld» von deutscher Seite vor, wie man bisher gedacht hat, sondern am Ausgangspunkte steht eine tra­gische Situation in Deutschland. Ich glaube, es liegt wirklich nicht im deutschen Interesse, eine solche Verschiebung der Diskussionsgrundlage abzulehnen. Insbesondere dann nicht, wenn man das Wesentliche dieser tragischen Situation zugibt, wie es doch auch Herr Major Muff tut. Er spricht gegenüber dem Urteil Moltkes bei Ausbruch des Krieges von der «gelinde ausgedrückt, politischen Harmlosigkeit» der leitenden deutschen Politiker. Nun, gegenüber der Größe der Sache, ist es ja vielleicht nicht durchaus nötig, sich «gelinde» auszudrücken. Tut man dies nicht, so wird man auch den Major Muffschen Satz als einen Beweis da­für ansehen müssen, daß die deutschen Politiker 1914 gänz­lich versagt haben. Darinnen aber liegt eben die tragische Situation.

Das ist überhaupt das Eigentümliche in der Polemik, die sich an das «Matin»-Interview knüpft: Man sagt, was dieses Interview enthält, sei verfehlt; und man gibt dann an, was man selbst zu sagen hat: und in allem Sachlichen gibt man nur Bestätigungen dessen, was in dem Interview steht.

Major Muff glaubt, daß durch den «Matin»-Artikel der

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«Normaldenkende» nun doch die «Schuld» Deutschland zuschieben werde, weil gesagt ist, daß im deutschen Mobil­machungsplan der Krieg nicht nur gegen Rußland, sondern auch gegen Frankreich vorgesehen war, und dieser Plan mit einem «unerbittlichen Automatismus abrollen» mußte. Major Muff führt, um diesen Glauben zu stützen, einen Satz des Interviews an, dem er aus Eigenem einen Zwischen­satz einfügt: «So kam es, daß aus rein militärischen Rück­sichten - gemeint ist der unbiegsame Aufmarschplan des deutschen Generalstabes - die Entscheidung über den Kriegs­ausbruch fallen mußte.» Dieses Zitat wird falsch, indem Major Muff die Worte hineinsetzt: «gemeint ist der unbieg­same Aufmarschplan des deutschen Generalstabes». Diese Worte stehen nicht im Interview. Was gemeint ist, besagen die Worte, die in dem Interview den angeführten voran­gehen. Und diese heißen: «mit dem Mobilisierungsbefehl in der Hand, den Wilhelm II. soeben unterzeichnet hat, wird er (Moltke) entlassen, die andern in einem Zustande völliger Verwirrung zurücklassend.» Nachdem so darauf hinge­wiesen war, daß die leitenden politischen Persönlichkeiten in «völliger Verwirrung» waren, wird das von Major Muff Angeführte gesagt: «So kam es, daß aus rein militärischen Rücksichten die Entscheidung über den Kriegsausbruch fallen mußte.» Major Muff konstruiert nun eine Entschei­dung, die nach klaren Aussprüchen Moltkes, nach dessen Aufzeichnungen (und auch nach den Ausführungen von Haeftens in der «Deutschen Allgemeinen Zeitung») gar nicht anders als militärisch aufgefaßt werden kann, in eine durch Molike bewirkte politische um. Er sagt, Moltke habe die feste Überzeugung gehabt, «daß Rußland angreifen und daß Frankreich und England auf seine Seite treten

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würden. Damit war für ihn der Fall des Zweifrontenkrieges, und zwar nicht aus militärischen, sondern aus politischen Gründen gegeben». Moltke sagte zum Kaiser, als dieser seinen Willen aus politischen Gründen ausdrückte, mit der ganzen Armee nach Osten zu marschieren, daß der Auf­marsch eines Millionenheeres sich nicht improvisieren lasse, daß dieser das Ergebnis einer langen, mühsamen Arbeit sei, und, einmal festgesetzt, nicht geändert werden könne. Wenn der Kaiser das gesamte Heer nach dem Osten führen wolle, so würde er nicht ein schlagfertiges Heer, sondern einen wusten Haufen ungeordneter bewaffneter Menschen ohne Verpflegung haben. Was kann klarer sein, als daß hier militärische Gründe gegen politische ins Feld geführt werden. Eigentlich sieht sich Major Muff auch genötigt, dieses zuzugeben. Deshalb sagt er, Moltkes Gründe waren politische; aber er gab militärische an. Und er konstruiert seinen Gedankengang so: «Wenn Moltke sich weigerte, auf den Zweifrontenaufmarsch, der auf den Schlieffenschen Operationsstudien aufgebaut war, zu verzichten, so ge­schah dies . . . nicht deshalb, weil man nicht technisch in der Lage gewesen wäre, einen andern Aufmarsch auszu­führen, sondern weil er fest überzeugt war, daß Frank­reich und England sofort auf Rußlands Seite treten wür­den. . . . Mit politischen Gründen kam er, der Soldat, gegen die berufenen Leiter der deutschen Außenpolitik nicht auf. Mit allen Mitteln mußte er einen Entschluß verhindern, der ihn als Leiter der militärischen Operationen vor eine unlösbare und für Deutschland verhängnisvolle Aufgabe stellte. Natürlicherweise griff er zu einem Mittel, von dem allein er sich noch Erfolg versprechen konnte. Er erklärte sich aus technischen Gründen nicht in der Lage, den vom

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Kaiser und seinen politischen Ratgebern geforderten Auf­marsch allein gegen Rußland durchzuführen. Daß in Wahr­heit aber allein politische Gründe für seine Weigerung maßgebend waren, geht aus Moltkes Aufzeichnungen klar hervor.» Das Gegenteil ist der Fall. Wenn etwas aus Moltkes Aufzeichnungen klar hervorgeht, so ist es dies, daß er aus militärisch-technischen Gründen - Major Muff sagt: «als Leiter der militärischen Operationen» - in der Stunde, in welcher die entsprechenden Entscheidungen getroffen wer­den mußten, die strikte Durchführung des Zweifronten­krieges für absolut notwendig hielt. Ich kann mir bei Moltkes Charakter durchaus nicht denken, daß er sich hinter die doch ganz bestimmt ausgesprochenen Gründe einfach verschanzt hätte. Streitet man dann nicht um Worte, verzichtet man darauf, das bestimmt als militärisch-tech­nisch Charakterisierte als politisch zu bezeichnen, so kann man Major Muffs Ausführungen mit denen des Interviews unbefangen vergleichen. Und siehe da: im Interview steht: «Er (Moltke) sah die tragische Entwicklung deutlich vor­aus, welche die Dinge annehmen mußten, das heißt, er glaubte an die Teilnahme Frankreichs und Englands an dem Weltkonflikt.» Es wird der Entscheidung Moltkes genau das gleiche untergelegt, das ihr auch Major Muff zuschiebt. Und auch dieser hält von den berufenen Leitern der Politik nichts. Damit aber gibt er zu, daß die Entschei­dung in von Moltkes Händen lag. Und dieser mußte seine militärische Pflicht tun. - Wie man dann noch glauben kann, das Interview verführe zu der Behauptung, daß der deutsche Generalstab die tragische Situation heraufbe­schworen habe, ist unerfindlich. Vom Anfang bis zum Ende will das Interview zeigen, daß die tragische Situation in

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dem Unvermögen der Politiker lag und daß der deutsche Generalstabschef so handelte, wie er pflichtgemäß handeln mußte. Für Dr. Sauerwein lag kein Grund vor, sich «ins Fäustchen» zu lachen. Der könnte sich nur ergeben, wenn man fortführe, in Deutschland zu sagen, man «verwahre» sich gegen die «Verschiebung der Diskussionsebene» nach der Richtung hin, daß man von einer «deutschen Schuld» in dem Sinne nicht sprechen könne, in dem man bisher in der außerdeutschen Welt davon gesprochen hat.

Will man bei dem geraden, nicht verklausulierten Tat­bestand, wie ihn von Moltke schilderte, bleiben, so kommt es nicht darauf an, die Doktorfrage zu diskutieren, ob die Behauptung, in Deutschland wäre der Mobilmachungs-befehl der Kriegserklärung gleichgekommen, militärtech­nisch unsinnig sei. Es handelt sich doch nicht um militär-technische Definitionen, sondern um die Wirklichkeit von Ende Juli und Anfang August 1914. Und von dieser Wirk­lichkeit sagt Major Muff selbst, daß das militärtechnisch «Unsinnige» politisch insofern richtig war, «als wir in dem Bestreben, den Krieg zu lokalisieren, im Gegensatze zu unsern Gegnern jede militärische Maßnahme bis zum äußersten Termin verschoben und ihnen dadurch einen wertvollen Vorsprung gelassen hatten, so daß dann aller­dings Mobilmachungsbefehl und Kriegsbeginn zeitlich zu­sammenfielen». Man sollte doch denken, für Vorgänge, die sich in der Zeit abspielen, komme dieses zeitliche Zusam­menfallen in Betracht, nicht der Umstand, daß Mobil­machungsbefehl und Kriegsbeginn theoretisch verschiedene Definitionen haben. Major Muff sagt: «Planmäßig sollte sich allerdings der Aufmarsch unmittelbar an die Mobil­machung anschließen, um keine Zeit zu verlieren. Aber es

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hätte nach Art und Weise der Vorbereitungen der einfache Zusatz zum Mobilmachungsbefehl: Aufmarsch wird zu­nächst nicht ausgeführt, genügt, um lediglich die Mobil­machung zum Abschluß zu bringen. » Sicherlich würde, nach allem, was man aus Moltkes Aussprüchen wissen kann, dieser, nach Erlassung des Mobilmachungsbefehles, diesen Zusatz nicht gemacht haben. Denn er war der Ansicht, daß jede Verzögerung schaden müsse. Also ist auch diese Behaup­tung zwar theoretisch richtig, praktisch aber ohne alle Be­deutung.

Major Muff legt großen Wert darauf, daß auch ein Plan für einen alleinigen Aufmarsch im Osten vorhanden war. Man muß demgegenüber zwei Fragen stellen. Erstens, warum rechnete von Moltke im Augenblicke der Entschei­dung nicht mit diesem Plan? Major Muff wird sagen, weil er die Meinung der Politiker für Unsinn hielt, daß der Westen neutral bleiben werde. Dann konnte er aber doch nicht zum Kaiser sagen: man habe, wenn man im Osten aufmarschierte, kein schlagkräftiges Heer, sondern einen wüsten Haufen bewaffneter, unverpflegter Menschen. Und zweitens: wenn er dieses sagte - und er hat es gesagt -, warum wurde ihm nicht erwidert: Wir haben doch auch den Aufmarschplan allein für den Osten? Es braucht durch­aus nicht bezweifelt zu werden, daß Major Muff mit Recht von einem solchen Aufmarschplan auf dem Papiere spricht; aber Moltke hat ihn offenbar aus militärtechnischen Grün­den in dem Zeitpunkte nicht für durchführbar gehalten, in dem die Entscheidung von ihm getroffen werden mußte.

Major Muff sagt auch: «Steiner will zweifellos seinen Schild über das Andenken Moltkes halten. In Wahrheit schiebt er ihm aber eine ungeheure Verantwortung zu, wenn

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er behauptet, daß durch des Generalstabschefs starren Auf­marschplan die Entscheidung über den Kriegsausbruch fiel.» Erstens habe ich, von mir aus, überhaupt nichts «behauptet», sondern einfach Moltkes eigene Aussagen getreulich wieder­gegeben. Zweitens ist aus dieser Wiedergabe klar ersichtlich, daß die letzte Entscheidung nach dem Wortlaut des Inter­views so fiel: «Um 11 Uhr wird er (Moltke) angeläutet... Er begibt sich sofort auf das Schloß. Wilhelm II.... sagt: Alles hat sich geändert. Der König von England hat soeben in einem neuen Telegramm erklärt, daß er mißverstanden worden sei und daß er weder in seinem Namen noch in demjenigen Frankreichs irgendeine Verpflichtung über­nehme. Er schließt mit den Worten: Jetzt können Sie machen, was Sie wollen.»

Was auf den Durchzug durch Holland sich bezieht, habe ich bereits in Nr.17 dieser Wochenschrift besprochen. Be­züglich der Marneschlacht beruhen die Sätze des Interviews auf Mitteilungen von Moltkes; was Major Muff sagt, zum größten Teile auf Schlußfolgerungen, die aber das Wesent­liche des Interviews gar nicht berühren. Denn dieses liegt in der Betonung der «Psychologie» des Kriegsverlaufes zur Zeit der Marneschlacht. Ich habe davon gesprochen, weil, wie auch Major Muff wieder tut, behauptet wird, «der Generalstabschef, dessen Führung überhaupt die sichere Hand vermissen ließ, mehr Schuld trug, als der Führer der 1. Armee». Dieser Behauptung gegenüber kommt eben psy­chologisch Moltkes Aussage in Betracht. - Stellte man sich dem «Matin»-Interview unbefangen gegenüber, so würde man sehen, was man aus Moltkes Aussagen zur Entlastung Deutschlands gewinnen könne. In Frankreich lacht man sich auch darüber gar nicht «ins Fäustchen», sondern man sucht

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sie vorläufig, soviel als möglich, wenig zu besprechen. Denn die richtige Besprechung führt eben zu Dingen, die man noch nicht gerne hören will. In Deutschland sollte man diese Besprechung anders führen, als man es tut. Darüber wird in dieser Wochenschrift noch weiteres zu sagen sein.

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VERSCHIEDENES

AUFRUF AN DAS DEUTSCHE VOLK UND AN DIE KULTURWELT!

Aufruf, März 1919

Sicher gefügt für unbegrenzte Zeiten glaubte das deutsche Volk seinen vor einem halben Jahrhundert aufgeführten Reichsbau. Im August 1914 meinte es, die kriegerische Kata­strophe, an deren Beginn es sich gestellt sah, werde diesen Bau als unbesieglich erweisen. Heute kann es nur auf dessen Trümmer blicken. Selbstbesinnung muß nach solchem Er­lebnis eintreten. Denn dieses Erlebnis hat die Meinung eines halben Jahrhunderts, hat insbesondere die herrschenden Gedanken der Kriegsjahre als einen tragisch wirkenden Irrtum erwiesen. Wo liegen die Gründe dieses verhängnisvollen Irrtums? Diese Frage muß Selbstbesinnung in die Seelen der Glieder des deutschen Volkes treiben. Ob jetzt die Kraft zu solcher Selbstbesinnung vorhanden ist, davon hängt die Lebensmöglichkeit des deutschen Volkes ab. Dessen Zukunft hängt davon ab, ob es sich die Frage in ernster Weise zu stellen vermag: wie bin ich in meinen Irrtum verfallen? Stellt es sich diese Frage heute, dann wird ihm die Erkenntnis aufleuchten, daß es vor einem halben Jahr­hundert ein Reich gegründet, jedoch unterlassen hat, diesem Reich eine aus dem Wesensinhalt der deutschen Volkheit entspringende Aufgabe zu stellen. - Das Reich war ge­gründet. In den ersten Zeiten seines Bestandes war man bemüht, seine inneren Lebensmöglichkeiten nach den An­forderungen, die sich durch alte Traditionen und neue Be­dürfnisse

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von Jahr zu Jahr zeigten, in Ordnung zu bringen. Später ging man dazu über, die in materiellen Kräften begründete äußere Machtstellung zu festigen und zu ver­größern. Damit verband man Maßnahmen in bezug auf die von der neuen Zeit geborenen sozialen Anforderungen, die zwar manchem Rechnung trugen, was der Tag als Not­wendigkeit erwies, denen aber doch ein großes Ziel fehlte, wie es sich hätte ergeben sollen aus einer Erkenntnis der Entwickelungskräfte, denen die neuere Menschheit sich zu­wenden muß. So war das Reich in den Weltzusammenhang hineingestellt ohne wesenhafte, seinen Bestand rechtfer­tigende Zielsetzung. Der Verlauf der Kriegskatastrophe hat dieses in trauriger Weise geoffenbart. Bis zum Ausbruche derselben hatte die außerdeutsche Welt in dem Verhalten des Reiches nichts sehen können, was ihr die Meinung hätte erwecken können: die Verwalter dieses Reiches erfüllen eine weltgeschichtliche Sendung, die nicht hinweggefegt werden darf. Das Nichtfinden einer solchen Sendung durch diese Verwalter hat notwendig die Meinung in der außerdeutschen Welt erzeugt, die für den wirklich Einsichtigen der tiefere Grund des deutschen Niederbruches ist.

Unermeßlich vieles hängt nun für das deutsche Volk an seiner unbefangenen Beurteilung dieser Sachlage. Im Un­glück müßte die Einsicht auftauchen, welche sich in den letzten fünfzig Jahren nicht hat zeigen wollen. An die Stelle des kleinen Denkens über die allernächsten Forderungen der Gegenwart müßte jetzt ein großer Zug der Lebens­anschauung treten, welcher die Entwickelungskräfte der neueren Menschheit mit starken Gedanken zu erkennen strebt, und der mit mutigem Wollen sich ihnen widmet. Aufhören müßte der kleinliche Drang, der alle diejenigen

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als unpraktische Idealisten unschädlich macht, die ihren Blick auf diese Entwickelungskräfte richten. Aufhören müßte die Anmaßung und der Hochmut derer, die sich als Praktiker dünken, und die doch durch ihren als Praxis maskierten engen Sinn das Unglück herbeigeführt haben. Berücksichtigt müßte werden, was die als Idealisten ver-schrieenen, aber in Wahrheit wirklichen Praktiker über die Entwickelungsbedürfnisse der neuen Zeit zu sagen haben.

Die «Praktiker» aller Richtungen sahen zwar das Heraufkommen ganz neuer Menschheitsforderungen seit langer Zeit. Aber sie wollten diesen Forderungen innerhalb des Rahmens altüberlieferter Denkgewohnheiten und Einrich­tungen gerecht werden. Das Wirtschaftsleben der neueren Zeit hat die Forderungen hervorgebracht. Ihre Befriedigung auf dem Wege privater Initiative schien unmöglich. Überleitung des privaten Arbeitens in gesellschaftliches drängte sich der einen Menschenklasse auf einzelnen Gebieten als notwendig auf; und sie wurde verwirklicht da, wo es dieser Menschenklasse nach ihrer Lebensanschauung als ersprieß­lich erschien. Radikale Überführung aller Einzelarbeit in gesellschaftliche wurde das Ziel einer anderen Klasse, die durch die Entwickelung des neuen Wirtschaftslebens an der Erhaltung der überkommenen Privatziele kein Interesse hat.

Allen Bestrebungen, die bisher in Anbetracht der neueren Menschheitsforderungen hervorgetreten sind, liegt ein Ge­meinsames zugrunde. Sie drängen nach Vergesellschaftung des Privaten und rechnen dabei auf die Übernahme des letzteren durch die Gemeinschaften (Staat, Kommune), die aus Voraussetzungen stammen, welche nichts mit den neuen

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Forderungen zu tun haben. Oder auch, man rechnet mit neueren Gemeinschaften (zum Beispiel Genossenschaften), die nicht voll im Sinne dieser neuen Forderungen entstanden sind, sondern die aus überlieferten Denkgewohnheiten her-aus den alten Formen nachgebildet sind.

Die Wahrheit ist, daß keine im Sinne dieser alten Denkgewohnheiten gebildete Gemeinschaft aufnehmen kann, was man von ihr aufgenommen wissen will. Die Kräfte der Zeit drängen nach der Erkenntnis einer sozialen Struktur der Menschheit, die ganz anderes ins Auge faßt, als was heute gemeiniglich ins Auge gefaßt wird. Die sozialen Gemein­schaften haben sich bisher zum größten Teil aus den so­zialen Instinkten der Menschheit gebildet. Ihre Kräfte mit vollem Bewußtsein zu durchdringen, wird Aufgabe der Zeit.

Der soziale Organismus ist gegliedert wie der natürliche. Und wie der natürliche Organismus das Denken durch den Kopf und nicht durch die Lunge besorgen muß, so ist dem sozialen Organismus die Gliederung in Systeme notwendig, von denen keines die Aufgabe des anderen übernehmen kann, jedes aber unter Wahrung seiner Selbständigkeit mit den anderen zusammenwirken muß.

Das wirtschaftliche Leben kann nur gedeihen, wenn es als selbständiges Glied des sozialen Organismus nach seinen eigenen Kräften und Gesetzen sich ausbildet, und wenn es nicht dadurch Verwirrung in sein Gefüge bringt, daß es sich von einem anderen Gliede des sozialen Organismus, dem politisch wirksamen, aufsaugen läßt. Dieses politisch wirk­same Glied muß vielmehr in voller Selbständigkeit neben dem wirtschaftlichen bestehen, wie im natürlichen Organis­mus das Atmungssystem neben dem Kopfsystem. Ihr heilsames

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Zusammenwirken kann nicht dadurch erreicht wer­den, daß beide Glieder von einem einzigen Gesetzgebungs- und Verwaltungsorgan aus versorgt werden, sondern daß jedes seine eigene Gesetzgebung und Verwaltung hat, die lebendig zusammenwirken. Denn das politische System muß die Wirtschaft vernichten, wenn es sie übernehmen will; und das wirtschaftliche System verliert seine Lebenskräfte, wenn es politisch werden will.

Zu diesen beiden Gliedern des sozialen Organismus muß in voller Selbständigkeit und aus seinen eigenen Lebensmöglichkeiten heraus gebildet ein drittes treten: das der geistigen Produktion, zu dem auch der geistige Anteil der beiden anderen Gebiete gehört, der ihnen von dem mit eigener gesetzmäßiger Regelung und Verwaltung ausge­statteten dritten Gliede überliefert werden muß, der aber nicht von ihnen verwaltet und anders beeinflußt werden kann, als die nebeneinander bestehenden Gliedorganismen eines natürlichen Gesamtorganismus sich gegen­seitig beeinflussen.

Man kann schon heute das hier über die Notwendig­keiten des sozialen Organismus Gesagte in allen Einzelheiten vollwissenschaftlich begründen und ausbauen. In diesen Ausführungen können nur die Richtlinien hingestellt werden, für alle diejenigen, welche diesen Notwendigkeiten nachgehen wollen.

Die deutsche Reichsgründung fiel in eine Zeit, in der diese Notwendigkeiten an die neuere Menschheit herantraten. Seine Verwaltung hat nicht verstanden, dem Reich eine Aufgabe zu stellen durch den Blick auf diese Not­wendigkeiten. Dieser Blick hätte ihm nicht nur das rechte innere Gefüge gegeben; er hätte seiner äußeren Politik auch

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eine berechtigte Richtung verliehen. Mit einer solchen Po­litik hätte das deutsche Volk mit den außerdeutschen Völ­kern zusammenleben können.

Nun müßte aus dem Unglück die Einsicht reifen. Man müßte den Willen zum möglichen sozialen Organismus ent­wickeln. Nicht ein Deutschland, das nicht mehr da ist, müßte der Außenwelt gegenübertreten, sondern ein geistiges, politisches und wirtschaftliches System mit ihren eigenen Verwaltungen müßten daran arbeiten, wieder ein mögliches Verhältnis zu denjenigen zu gewinnen, von denen das Deutschland niedergeworfen worden ist, das nicht erkannt hat, daß es im Gegensatz zu anderen Volksorganisationen als erste darauf angewiesen ist, seine Kraft durch die Dreigliederung des sozialen Organismus zu gewinnen*.

Man hört im Geiste die Praktiker, welche über die Kom­pliziertheit des hier Gesagten sich ergehen, die unbequem finden, über das Zusammenwirken dreier Körperschaften auch nur zu denken, weil sie nichts von den wirklichen For­derungen des Lebens wissen mögen, sondern alles nach den bequemen Forderungen ihres Denkens gestalten wollen. Ihnen muß klar werden: entweder man wird sich bequemen, mit seinem Denken den Anforderungen der Wirklichkeit

- - -

* Dieser Satz hatte in dem im März 1919 veröffentlichten, sonst gleichlautenden Aufruf die folgende Fassung: «Nicht ein Deutschland, das nicht mehr da ist, müßte der Außenwelt gegenübertreten, sondern ein geistiges, politisches und wirtschaftliches System in ihren Vertretern müßten als selbständige Delegationen mit denen verhandeln wollen, von denen das Deutschland niedergeworfen worden ist, das sich durch die Verwirrung der drei Systeme zu einem unmöglichen sozialen Gebilde gemacht hat». Aus der bloß durch die Zeitereignisse bedingten Änderung dieses Satzes ersieht man, daß inhaltlich der Verfasser des Aufrufes heute genau den im März eingenommenen Gesichtspunkt festhält.

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sich zu fügen, oder man wird vom Unglücke nichts gelernt haben, sondern das herbeigeführte durch weiter entstehendes ins Unbegrenzte vermehren.

Der Verfasser des Aufrufs: DR RUDOLF STEINER

Das Komitee:

Prof. Dr. W. v. Blume, Kommerzienrat E. Molt, Dr. Ing. C. Unger

Bund für Dreigliederung Des sozialen Organismus

Geschäftsstelle Stuttgart, Champignystraße 17

LEITSÄTZE FÜR DIE DREIGLIEDERUNGSARBEIT

Winter 1918/19

#TX

I. Begriff:

1. Als Wesen der Sozialisierung der Wirtschaft ist anzu­sehen, daß Produktions- und Absatzorganisation im Sinne der in ihnen selbst liegenden wirtschaftlichen Gesetze geregelt werden und daß in den dadurch entstehenden Wirtschaftsorganismus keinerlei «Rechte» und Machtbefugnisse hineinspielen. Alle «Rechte» sind ausgeübt von dem der Wirtschaftsorganisation gleichstehenden, auf Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz beruhenden politischen Organismus. Alle gei­stigen Leistungen, einschließlich der technischen Ideen, sind in die freie, individuelle Verwaltung eines dritten gleichstehenden geistigen Organismus zu stellen.

2. Als Vertreter des Wirtschaftsorganismus kommen die

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Erwählten der auf Grund der Berufsgliederung und der Arbeitsverteilung errichteten Assoziationen in Betracht. Als Vertreter der politischen Organisation kommen Erwählte auf Grund des allgemeinen, glei­chen (geheimen) Wahlrechtes in Frage. Als Vertreter der Geistesorganisation kommen die durch die Ver­hältnisse an die Spitze der einzelnen Geisteszweige gestellten Persönlichkeiten in Frage. Zur Verbindung der drei Körperschaften dienen Delegationen, die aus den Vertretern jeder einzelnen gewählt werden. (Die drei Körperschaften stehen nebeneinander wie drei relativ unabhängige Staaten, die ihre gemeinschaft­lichen Angelegenheiten durch Gesandte ordnen.)

II. Praktische Durchführung:

3. Die Überführung von Wirtschaftszweigen aus dem bisherigen in den zukünftigen Zustand hat mit Be­rücksichtigung des augenblicklich bestehenden wirt­schaftlichen Zustandes so zu geschehen, daß bei der grundlegenden (konstituierenden) Neuorganisation alle Faktoren (Arbeitgeber und Arbeitnehmer in jeder Form) teilnehmen und daß auf opportunistischer Vor­aussetzung der gegenwärtig mögliche Wirtschafts­Organismus hergestellt wird.

4. Die dadurch erstrebte neue Wirtschaftsordnung darf unter keinen Umständen durch Abreißen der wirt­schaftlichen Kontinuität zu einer Unterbindung der Konsumation führen.

5. Alles, was in den Wirtschaftsorganismus als für alle Menschen gleiches Gesetz eingreift (wie Unfallverhütung,

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Schädigung durch Wucher und so weiter) unterliegt den Befugnissen der politischen Organi­sation. Die allgemeinen Steuern sollen Ausgaben­steuern (was keineswegs zu verwechseln ist mit in­direkten Steuern) sein. Einnahmen als solche werden nicht steuerpflichtig; sie werden es in dem Augen­blick, wo die Allgemeinheit dafür Interesse hat, also bei der Überführung in die Verkehrszirkulation.

III. Wirtschaflszweige:

Als notwendigste Wirtschaftszweige, auf die Punkt 3 sofort angewendet werden sollte, können folgende gelten:

1. Bergbau

2. Eisen

3. Elektrizität

4. Wasserkräfte und deren Grund und Boden

5. Gas- und Wasserversorgung

6. Luftschiffahrt

7. Straßenbahnen; alle Arten Wege

8. Kanalisation und Kanaischiffahrt

9. Chemische Industrie

10. Getreidebau und Getreideverwertung

11. Zuckerindustrie, Branntwein und so weiter

12. Tabakindustrie

13. Alles auf die Bearbeitung des Grund und Bodens bezügliche (dagegen gehören die Eigentumsverhält­nisse des Grund und Bodens in die politische Kör­perschaft)

14. Versicherungswesen

15. Geldinstitute

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IV.

Der Friedensschluß ist so zu bewirken, daß von deutscher Seite Vertreter der drei Körperschaften mit durchaus von ihrer Körperschaft ausgehenden selbständigen Mandaten mit dem Auslande verhandeln. Eine einseitige Sozialisie­rung nach anderen als den angeführten Gesichtspunkten ist für Deutschland auch aus Gründen der auswärtigen Politik undurchführbar. Dagegen ist eine Begründung der auswärtigen Politik auf die Einrichtung der drei Körper­schaften durchaus aussichtsvoll.

DER WEG DES «DREIGLIEDRIGEN SOZIALEN ORGANISMUS»

Flugblatt, Frühjahr 1919

Der Ruf nach einer Neugestaltung des sozialen Zusammenlebens und Zusammenarbeitens der Menschen geht durch die Welt. Die wirtschaftlichen, rechtlich-politischen und geistigen Lebenszustände, die im Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts herrschend waren, haben in die schrecken­erfüllte Weltkatastrophe dieser Zeit geführt. Ein Wirt­schaftssystem, das unsozial, ein rechtlich-politisches Leben, das ungeeignet war, die vom Bewußtsein der großen Mehr­heit der gegenwärtigen Menschheit als ungerecht empfundenen Klassengegensätze (Gegensätze)* zu überwinden, eine Geisteskultur, die sich trotz ihrer «Fortschritte» als unfähig erwiesen hat, Führer zu sein aus einem unsozialen Wirt­schaftsleben und einem auf Klassengegensätzen (Gegensätzen)

- - -

* Das Eingeklammerte sind Korrekturen für eine zweite Auflage. Siehe Hinweise.

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ruhenden Staate heraus: sie müssen einem Neuen Platz machen.

Mag unter Sozialisierung (den neuen sozialen Verhältnissen) der eine heute noch dies, der andere jenes verstehen: einig könnten alle, die nicht geistig blind unsere Zeit durchleben wollen, sein, daß durch die Sozialisierung (soziale Wandlung) aufgerufen werden müssen zur eigenen Gestal­tung ihrer sozialen Verhältnisse alle diejenigen, die bisher diese Verhältnisse sich aufgedrängt sahen durch die Macht ihnen geistig, rechtlich oder wirtschaftlich übergeordneter Klassen (fremder Mächte). Klassenkämpfe (Parteien- und Klassenkämpfe) können nur mit dem Aufhören der (ein­ander widerstrebender) geistigen, rechtlichen und wirtschaft­lichen Klassengegensätze (Kräfle) selbst verschwinden.

Daß dies der Ruf der Zeit ist, zeigt die Bewegung des Proletariats, zeigt aber die richtig verstandene Geschichts­entwickelung selbst.

Das Ziel wird gefühlt.

Den Weg will der Impuls zum dreigliedrigen sozialen Organismus hin zeigen.

Dieser Impuls fordert die völlige Verselbständigung des Geisteslebens, einschließlich des Erziehungs- und Schul­wesens. Er sieht die Ursachen des geistigen Unvermögens unserer Zeit in der Aufsaugung der Geisteskultur durch den Staat. Er verlangt die vollständige Selbstverwaltung dieser Kultur aus den rein sachlichen und allgemein-menschlichen Gesichtspunkten heraus. Es wird erst richtig erzogen wer­den, wenn in die Frage: wie erzieht man alle Menschen zu wahren lebenstüchtigen Menschen, niemand hineinzureden hat als diejenigen, die nur aus den Untergründen der Men­schennatur selbst darüber urteilen können.

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Dieser Impuls fordert die Einschränkung des Staats­lebens auf alle diejenigen Lebensverhältnisse, für die alle Menschen vor einander gleich sind. Auf diesem Boden ist auf streng demokratische Art mit Umwandlung der gegen­wärtigen privatkapitalistischen Besitz- und Zwangsarbeits­verhältnisse (auf Besitz-, Klassen- und andere Verhältnisse gebäuten «Rechte») vor allem ein solches allgemeines Men­schenrecht zu erreichen, das den Arbeiter (jeden Menschen) als völlig freie Persönlichkeit dem Arbeitleiter (andern), (der nur noch geistiger Arbeiter ist), gegenüberstellt.

Dieser Impuls fordert ein Wirtschaftsleben, in dem der Arbeiter dem Arbeitleiter so gegenübertritt, daß zwischen beiden ein freies Gesellschaftsverhältnis über die Leistungen vertragsmäßig zustande kommen kann, so daß das Lohn-verhältnis völlig aufhört. Dazu ist die völlige Sozialisierung des Wirtschaftslebens (ein auf wahres soziales Zusammen-arbeiten eingestelltes Wirtschaftsleben) notwendig. Nur aus der sachgemäßen Teilnahme aller Menschen an entsprechen­den Genossenschaften, die aus den Berufen einerseits, den Konsumenten- und Produzentenbedürfnissen andrerseits entstehen, kann eine Wertregulierung der Güter hervor­gehen, die allen Menschen ein menschenwürdiges Dasein sichert. Eine solche Wertregulierung der Güter kann erst den Grundsatz verwirklichen: es darf nicht produziert wer­den, um zu profitieren, sondern nur um (in Gemäßheit der allgemeinen sozialen Verhältnisse) zu konsumieren. Sie ist nur möglich, wenn man es nach Loslösung des geistigen und staatlichen Lebens in der Wirtschaft mit nichts anderem zu tun hat als mit Gütererzeugung, Güterverteilung und Güter-konsum. Jedes Interesse an unsachlicher, bloßer (Geld- oder) Kapitalverwertung, jedes auf konkurrierende Wirtschaftsinteressen

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aufgebaute und aus solchen heraus wirkende Lohnsystem hindert eine richtige wechselseitige Güterpreis­gestaltung und daher gerechte Güterverteilung.

In allen Einzelheiten des sozialen Lebens will der Impuls nach dem dreigegliederten sozialen Organismus:

1. Entwickelung des Menschen in allen seinen Fähig­keiten durch das selbständige Geistesleben;

2. Herstellung der Menschenrechte durch den Ausschluß aller nicht allgemein-menschlichen Interessen vom Rechtsboden;

3. Gerechte Güterverteilung in einem richtigen Wert­gestaltungsverhältnis der Güter (Waren) durch Um-gestaltung des gegenwartigen Kapital- und Lohnsystems.

Eine Eingliederung in die internationalen Weltverhält­nisse kann das deutsche Volk nur erhoffen, wenn es die Hemmungen, die in seinem Wirtschafts-, Rechts- und Geistesleben durch deren unorganische Verschmelzung im bisherigen Staatswesen entstanden sind, beseitigt durch die organische Dreigliederung des sozialen Organismus. Da­durch kann bewirkt werden, daß durch die freie Entfaltung eines jeden der drei Glieder und die eben dadurch ent­stehende höhere Einheit, die höchste mit dem an Leib und Seele gesunden Menschen vereinbarte wirtschaftliche Pro­duktivität, die wahre Befriedigung echten volkstümlichen Rechtsgefühles und die allseitige Offenbarung der im deut­schen Geiste veranlagten Kräfte möglich werde.

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ZUR ANGELEGENHEIT DER BETRIEBSRÄTE

Juli 1919

In jüngster Zeit macht sich die Tendenz geltend, daß die von dem Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus beabsichtigte und zum Teil schon durchgeführte Aufstellung von Betriebsräten, unter Zusammenfassung derselben zu einer Betriebsräteschaft, von den Parteien übernommen und durchgeführt werden soll. Dadurch würde aber gerade dasjenige eintreten, was der Bund, wenn die Idee der Dreigliederung sich als heilbringend erweisen soll, unter allen Umständen zu verhindern wünscht, eine bloß teilweise Durchführung der Dreigliederung. Was mit der Dreiglie­derung als Ganzes gewollt wird, müßte, wenn ein Teil da­von von einer Partei zu Sonderzwecken abgeschnürt würde, nur neues Unheil und Zerstörung schaffen. Der Bund sieht sich veranlaßt, vor einer solchen Abschnürung durch die Parteien zu warnen. Er wendet sich mit der untenstehenden Erklärung erneut an die Öffentlichkeit und protestiert ge­gen den Mißbrauch der Idee der Dreigliederung zu zer­störungschaffenden Parteiexperimenten.

Erklärung

Der Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus nahm seinen Ausgang von Dr. Steiners Aufruf «An das deutsche Volk und an die Kulturwelt» und vertritt die Anschauungen, die in dem Buche Dr. Steiners «Die Kern­punkte der sozialen Frage» niedergelegt sind. Er erblickt

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als einzige Rettung aus der gegenwärtigen durch den Frie­densschluß gekennzeichneten außerordentlichen Lage die sofortige Inangriffnahme seiner Forderungen, die er noch­mals wie folgt zusammenfaßt:

Völlige Verselbständigung des Geisteslebens, ein­schließlich Erziehungs- und Schulwesen.

Einschränkung des Staatslebens auf alle diejenigen Lebensverhältnisse, für welche alle Menschen voreinander gleich sind.

Regulierung der umgebildeten Lohn- und Besitzver­hältnisse durch den Rechtsstaat, mit völliger Herauslösung derselben aus dem Wirtschaftsleben, so daß dieses mit nichts anderem zu tun hat als mit Gütererzeugung, Güterverteilung und Güterverbrauch.

Der Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus sieht die Erreichung seines Zieles darin, daß der Staat aus seinem Machtbereich entläßt auf der einen Seite das Gei­stesleben, auf der andern Seite das Wirtschaftsleben. -Der Bund hat sich auf dem Gebiet des Wirtschaftslebens für die Betriebsräte eingesetzt, damit diese zu einer Betriebs­räteschaft zusammengeschlossen die ersten praktischen Schritte für eine vernünftige Sozialisierung unternehmen können. Parallel damit soll die Erneuerung des Geistes­lebens durch Gründung eines Kulturrats sofort in Angriff genommen werden.

Der Bund muß daher unbedingt daran festhalten, daß nicht eine einseitige Loslösung des Wirtschaftslebens vom Staat erstrebt werden darf, sondern gleichzeitig mit dieser Loslösung die Stellung des Geisteslebens auf sich selbst er­folgen muß.

Der Bund zählt zu seinen Mitgliedern Menschen aus allen

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Berufen, Lebenskreisen und Parteien, und betrachtet die durch seinen Namen ausgedrückten Ideen als einen Weg zur wirklichen Einigung aller Menschen, welche mit gutem Willen unser Volk aus seiner tiefsten Not zu einer lebens­möglichen Zukunft führen wollen. Wo alle Parteiprogramme versagt haben in dieser tragischen Zeit, werden es unsere Forderungen sein, welche in Innen- und Außenpolitik die neuen Wege vorzeichnen. Die Träger der Idee vom drei­gliedrigen sozialen Organismus lehnen es entschieden ab, mit dieser Idee auf irgendeinen Parteiboden gestellt zu werden. Sie werden sich nie mit einem der bisherigen Par­teiprogramme identifizieren. Ihr Ziel ist, zu Menschen und niemals zu Parteimitgliedern als solchen zu sprechen.

Für jede Bewegung, von welcher Seite sie auch kommen mag, welche sich mit ihren Mitteln oder Zielen außerhalb dieser Dreigliederung stellt, kann der Bund keine Verant­wortung tragen; insbesondere erblickt er in einer einseitigen Aktion auf dem Gebiet der Wirtschaft oder der Politik ohne das Ziel der Dreigliederung nur die Quelle zu unbegrenzter Vermehrung des Unheils.

In letzter Stunde erwarten wir von den berufenen Krei­sen die Auseinandersetzung mit unseren Bestrebungen, ehe es zu spät ist.

Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus

Stuttgart, Champignystraße 17

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ÜBER DIE «DREIGLIEDERUNG DES SOZIALEN ORGANISMUS»

Eine Erwiderung von Dr. Rudolf Steiner

August 1919

Professor v. Heck ist der Meinung, daß die gesellschaftlichen Zustände, die ich als Enderfolg meiner Vorschläge ver­spreche, die soziale Frage «in beglückender Weise lösen» würden, daß aber die Durchführung meiner Vorschläge nicht die gehofften Wirkungen haben würde, ja daß diese Durchführung, wenn überhaupt möglich, das Gemeinwohl und besonders die Arbeiterschaft «nicht fördern, sondern schädigen» würde. - Man kann kaum ein vernichtenderes Urteil fällen über eine Bestrebung, die nach solchen Zielen geht, wie die meinige, nach der Dreigliederung des sozialen Organismus. Denn diesen Zielen gegenüber ist es selbstver­ständlich ganz wertlos, den Traum einer beglückenden Lösung der sozialen Frage hinzustellen und dann undurch­führbare Vorschläge zur Herbeiführung dieser Lösung zu machen. An dem damit gerügten Fehler leiden so ziemlich alle sogenannten «Lösungen der sozialen Frage». In dem Augenblicke, in dem ich genötigt wäre einzusehen, daß eine Beurteilung wie diejenige des Prof. von Heck im Recht wäre, würde ich ohne weiteres selbst meine Ideen für widerlegt halten. Und ich würde wahrlich nicht als beschämend emp­finden, dieses Bekenntnis auch öffentlich abzulegen. Denn die «soziale Frage» ist einerseits eine so umfassende und schwie­rige, andrerseits etwas so Verpflichtendes, daß die Zurück­nahme eines verunglückten Versuchs nichts Beschämendes haben kann. Prof. von Heck darf mir deshalb glauben, daß ich ganz objektiv auf seine Darstellung eingehen kann.

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Nun mißversteht er mich aber schon mit Bezug auf den Gesichtspunkt, von dem aus er meine Bestrebung betrachtet. Ich bin mir bewußt, daß ich gar nicht darauf abziele, die soziale Frage «in beglückender Weise» zu «lösen». Ich glaube nicht, daß jemand, der mit der Psychologie des Ein­zelmenschen und der Massen bekannt ist, einen solchen «Enderfolg» anstreben kann. Meine Voraussetzungen sind ganz andere. Ich glaube zu erkennen, daß die Menschheit in ihrer geschichtlichen Fortentwickelung gegenwärtig an einem Punkte angelangt ist, der die Dreigliederung des sozialen Organismus aus dem Wesen der heutigen Men­schenwesenheit heraus verlangt. Kommt man diesem Ver­langen nach, so wird man der elementaren Unruhe, welche die Menschen ergriffen hat, Herr werden können. Kommt man ihm nicht nach, so wird diese Unruhe in die Selbstzersetzung unserer Kultur hineinführen müssen. Nicht weil ich über ein Endziel phantasieren möchte, spreche ich von der Dreigliederung; sondern weil ich glaube, die Ursachen zu erkennen, die diese Dreigliederung aus dem gegenwär­tigen Zustande der Menschheit fordern. Daher habe ich auch nicht zu einem erträumten Endziel «Vorschläge » hin­zuerfunden; sondern für mich sind diese Vorschläge Er­gebnis von Beobachtungen, die ich vermeine während Jahr­zehnten an der sozialen Entwickelung der Menschheit ge­macht zu haben. Der Weg, auf dem ich zu diesen Beobach­tungen gekommen bin, ist für mich ein Beweis, daß meine «Vorschläge» nichts Utopistisches an sich haben. Er macht es mir aber auch verständlich, wie so viele Menschen dazu­kommen, die Dreigliederung unklar und undurchführbar zu halten. Solche Menschen vermeinen, praktisch zu den­ken. Sie sind aber verstrickt in theoretische Voraussetzungen,

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die sie für praktisch halten. Sie haben sich diese Theo­rien nach dem gebildet, was eine Zeitlang als praktisch gegolten hat. Wenn dann dieses «Praktische» durch seine eigene Entwickelung eine Umwandelung nötig macht, dann finden sie das Neuzubildende «unpraktisch», weil es ihren gewohnten Vorstellungen widerspricht. Gerade unter den vermeintlichen «Praktikern» findet man solche Theore­tiker. Mir scheint, daß die Dreigliederung des sozialen Or­ganismus nur richtig beurteilen wird, wer nicht nur zu wissen vermeint, was «bisher» praktisch war, sondern wer einen gesunden Instinkt dafür hat, was in seiner «künftigen» Entwickelung sich als praktisch erweisen kann.

Verkennt so Prof. von Heck schon die Voraussetzungen meiner «Vorschläge», so wird diese Verkennung in weiterer Verfolgung des von mir Dargestellten eine immer vollstän­digere, da er meine Anschauungen nicht als solche wieder­gibt und bekämpft, sondern fast Punkt für Punkt durch andere ersetzt und dann diese andern «widerlegt». Ich möchte sagen: er macht sich eine eigene Dreigliederung zu­recht, die mit der meinigen recht wenig zu tun hat. Ich muß gestehen: diese Dreigliederung würde ich nicht weniger be­kämpfen, wenn sie mir gegenüberträte, als sie Professor von Heck bekämpft. In diesem Urteil bin ich mit ihm ganz einig.

Aber ich frage: habe ich wirklich Veranlassung gegeben, die Dreigliederung so aufzufassen, daß in ganz äußerlicher Weise an die Stelle des einheitlichen Staatsparlamentes drei Parlamente in der Art treten sollen, wie Professor v. Heck das darstellt? Habe ich jemals etwas gesagt oder drucken lassen, das dem Ungeheuer «drei Staaten auf demselben Gebiete» gleichkommt? Meine Idee von der Dreigliederung fordert, daß die Angelegenheiten der geistigen Kultur einerseits

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und diejenigen des Wirtschaftslebens andererseits nicht von einer solchen Volksvertretung geordnet werden, die dem gleichkommt, was man bisher als «Parlament» ansieht. Die Verwaltung der geistigen Kultur soll sich ergeben aus denselben Untergründen heraus, aus denen sich das Leben des Geistes selbst entfaltet. Diejenigen Persönlichkeiten sollen in dieser Verwaltung sein, die an dem Geistesleben tätigen Anteil haben, die in dieser Verwaltung dieselben Antriebe zur Geltung bringen, welche im geistigen Hervor­bringen walten. Und ich glaube zu erkennen, daß eine solche Verwaltung nur dadurch möglich ist, daß die Verwaltenden nicht innerhalb der Staatsverwaltung sitzen, oder aus dem Geistgebiet in das Staatsgebiet berufen werden; sondern daß das Geistesleben auf einen vom «Staate» unabhän­gigen Boden gestellt wird. Im Staate muß schließlich alles, was durch ihn entsteht, der Ausfluß des gesunden Urteiles eines jeden mündigen Menschen sein. Denn der Staat strebt nach demokratischer Gestaltung. Im Geistesleben kann nur das sachverständige Urteil entscheiden. Mir erscheint es un­möglich, daß bei weiterer Demokratisierung des Staates dieses sachverständige Urteil sich in seinem Rahmen finden kann. Ich glaube, daß ehrlich die Demokratisierung nur wollen kann, wer aus der Demokratie herauszunehmen ge­neigt ist, was in ihr nicht gedeihen kann. Ich könnte mir vorstellen, daß eine fruchtbare Diskussion auf diesem Ge­biete sich ergeben könnte, wenn das in Betracht Kommende sich in die Frage zuspitzte: Kann die Verwaltung des Gei­steslebens (vor allem des Unterrichtswesens) eine bloß den Anforderungen dieses Lebens entsprechende Gestalt an­nehmen, wenn in irgendeinem Punkte dieser Verwaltung vom demokratischen Staate eine Herrschaft ausgeübt wird?

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Meine Erfahrung zwingt mich, diese Frage zu verneinen. Ich glaube, die Gründe zu kennen, die zu ihrer Bejahung führen. Doch scheinen sie mir nicht stichhaltig. Ist diese meine Meinung berechtigt, dann müßten die Urteile, die Professor von Heck aus den Gesichtspunkten der wirt­schaftlichen Sicherstellung des geistigen Lebens und des Schulzwanges vorbringt, auf einen ganz anderen Boden, als der seinige ist, gestellt werden. Ich glaube auf Seite 88 ff. meiner Schrift «Die Kernpunkte der sozialen Frage» auf diesen Boden hingedeutet zu haben. Wird das dort Angedeutete sachgemäß in die Praxis umgesetzt, dann ergeben sich Einrichtungen, die die Wirtschaftsgrundlage des Geistes­lebens sichern und die auch vor der «Versuchung» bewahren, «Kinder nicht in die Schule zu schicken, sondern zum Er­werb zu verwenden.» Trotz allem, was von Heck vorbringt, erscheint es unerfindlich, warum bei Erwägung dieser Fragen eine Rolle spielen soll, daß «wir infolge des Frie­dens einer Zeit der Verarmung entgegen gehen, wie sie kein anderes Volk durchgemacht hat» . Daß dieser letzte Satz so wahr, wie nur möglich ist, das kann niemand be­zweifeln. Warum aber die Schule nicht bekommen soll, was sie aus dieser Armut heraus bekommen kann, wenn dies auf anderen Wegen als bisher geschehen soll, das ist doch wohl nicht einzusehen.

Nicht weniger von Mißverständnissen durchtränkt ist, was Professor von Heck gegen die Abgliederung des Wirt­schaftslebens vom eigentlichen Staate vorbringt. Er meint: «Die völlige Sonderung der Rechtsfragen und der wirt­schaftlichen Fragen, die Steiner verlangt, ist überhaupt nicht möglich.» Woraus geht hervor, daß ich eine «völlige Son­derung», von der hier gesprochen wird, «verlange»? Was

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ich als notwendig ansehe, ist dieses: es sollen alle rechtlichen Angelegenheiten durch das demokratische Parlament geord­net werden; und es soll gewirtschaftet werden durch Asso­ziationen, die aus den Berufen heraus, aus Produktions-, Verkehrs- und Konsuminteressen heraus sich ergeben. Durch diese Gliederung wird es im Wirtschaftsleben dazu kom­men, daß für seinen Kreislauf allein maßgebend ist, was aus den Entscheidungen der in einzelnen Wirtschaftszwei­gen erfahrenen Persönlichkeiten und aus den Krediten her­aus geschieht, die wirtschaftende Menschen durch ihr Drin­nenstehen in einem Wirtschaftszweig genießen. Die «Natur­gesetze des Wirtschaftslebens» werden dazu zwingen, die demokratischen Wahlintentionen, die höchstens in der Übergangszeit eine Rolle spielen könnten, zu ersetzen durch die demokratische Delegierung der fähigen Personen im Sinne der gekennzeichneten beiden Voraussetzungen einer gesun­den Wirtschaft. Demokratie und Parlamentarismus werden in ihren das Wirtschaftsleben schädigenden Folgen erkannt werden, wenn dieses Leben in seiner Eigenart nicht mehr verhüllt wird durch die über dasselbe gebreitete Staats­gesetzgebung, sondern wenn es auf assoziativer Grundlage in seine Selbstverwaltung gestellt ist. Professor von Heck meint: «Das Recht gibt die Formen der Wirtschaft und kann nur von einer Gewalt geordnet werden, welche das Wirtschaftsleben überschaut.» Dieser Satz ist aber nur so lange richtig, als Wirtschaftsleben und Rechtsleben ver­schmolzen sind. Ist das Wirtschaftsleben in seine Selbst­verwaltung gestellt, das heißt erschöpft es sich in der Ver­waltung der Warenproduktion, des Warenverkehrs und des Warenkonsums (mit Ein- und Ausfuhr), dann bleiben eben ungeordnet durch diesen Wirtschaftskreislauf die

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rechtlichen Beziehungen der wirtschaftenden Personen. Und diese werden auf dem Boden des Staates, außerhalb des Wirtschaftskreislaufes, geordnet. Es werden dann die Rechts­verhältnisse nicht der Ausdruck der Wirtschaftsformen, son­dern einerseits deren Grundlage in einer solchen Art sein, wie andererseits die natürlichen Verhältnisse (geographische, klimatische etc.) die Grundlage der Wirtschaft sind. - Wer als an ein Axiom glaubt, daß die Rechtsformen der Aus­druck der Wirtschaftsformen sein müssen, dem muß es schwerfallen, sich in die Emanzipation des Rechtes von der Wirtschaft zu finden. Wer aber einsieht, daß dem gegen­wärtigen Menschheitsbewußtsein dieses «Axiom» wider­spricht, der wird versuchen, seinen Glauben an dasselbe zu überwinden. Der Mensch der Gegenwart kann es nicht er­tragen, als Rechtssubjekt unter dem Zwang der Wirtschaftsformen zu leben. Sich vor dieser Tatsache verschließen und der Ansicht huldigen «Das Recht gibt die Formen der Wirt­schaft», bedeutet kaum etwas anderes, als die Arbeit an einem wichtigen Gliede der sozialen Frage in der Gegen­wart für eine Chimäre erklären. Das sollte man aber doch nur, wenn die Abgliederung des Rechtslebens vom Wirt­schaftsleben durch gewichtigere Gründe zu stützen wäre, als Professor von Heck sie vorbringt.

Man mißversteht die Struktur, welche der soziale Or­ganismus durch die Dreigliederung erhalten soll, wenn man, wie Professor von Heck dies tut, als Einwand das folgende ausspricht: «Auch Steiner beläßt, wenn man näher zusieht, dem Rechtsparlament drei wirtschaftlich sehr wichtige Fra­gen. Er überläßt ihm die Steuerfragen, die Schaffung des Arbeiterrechtes und die Einschränkung des Eigentums an Produktionsmitteln, das nur auf Lebenszeit dauern soll.»

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Daß im dreigliedrigen sozialen Organismus das Steuerwesen allein vom Rechtsboden aus geregelt werden soll, ist nicht richtig. Man lese darüber auf Seite 53 meiner «Kern­punkte der sozialen Frage»: «Was der politische Staat selber für seine Erhaltung fordert, das wird aufgebracht werden durch das Steuerrecht. Dieses wird durch eine Harmonisie­rung der Forderungen des Rechtsbewußtseins mit denen des Wirtschaftslebens sich ausbilden.» Bezüglich des Arbeiterrechts kommt in Frage, daß es nicht als wirtschaftliche An­gelegenheit dem Rechtsleben belassen wird, sondern daß es aus dem Wirtschaftskreislauf herausgenommen, also des Cha­rakters einer wirtschaftlichen Angelegenheit entkleidet wird. Ganz ungenau ist auch, was Professor von Heck als meine Anschauung wiedergibt über die «Einschränkung des Eigen­tums an Produktionsmitteln». Nicht dem «Rechtsparla­ment» wird, was da in Frage kommt, belassen, sondern zu einer Angelegenheit wird es gemacht, an deren Ordnung die Verwaltungen des Geisteslebens und des Rechtslebens beteiligt sind.

Die Forderung bezüglich des Steuerwesens kann in der Praxis dadurch erfüllt werden, daß formal der Rechtsstaat als Konsumorganisation dem Wirtschaftskreislauf gegen­übersteht wie innerhalb dieses Kreislaufes selbst eine Kon­sumassoziation etwa einer Produktionsgenossenschaft ge­genübersteht. Innerhalb des Rechtslebens findet die Regelung der allgemeinen Steuerbedürfnisse und der Steuerverwen­dung statt. Dagegen wird die Verteilung der Steuerforde­rungen auf die einzelnen Wirtschaftsgebiete den Assozia­tionen obliegen, die sich aus den Berufen und aus dem Zu­sammenwirken von Produktion und Konsum ergeben. Pro­fessor von Heck sagt sachgemäß: «Die schwerste Aufgabe,

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welche die Zukunft uns androht, ist die Verteilung der un­geheuren, nie erhörten Steuerlast, die der Frieden uns aufbürden wird . . . Diese Steuern können ohne die schwersten Eingriffe in das Wirtschaftsleben gar nicht aufgebracht wer­den. Deshalb müßte sich auch bei Durchführung der Stei­nerschen Ideen jede wirtschaftliche Gruppe im Rechtsparlament Vertretung sichern, um sich gegen Überlastung zu wehren.» Diese «schwerste Aufgabe» wird aber nur durch die Abgliederung des Rechts- von dem Wirtschaftsleben in einer solchen Art gelöst werden können, daß die Lösung dem Rechtsbewußtsein einzelner Menschengruppen nicht widerspricht. Denn kommen die Interessen einer wirtschaft­lichen Gruppe in einem auf demokratischer Grundlage ruhenden Parlamente zur Vertretung, so wird sich immer ergeben, daß die wirtschaftlich mächtigere Gruppe der mindermächtigen Maßnahmen aufdrängt. Sie wird das durch ihre eigene Macht, oder durch Eingehen von Kom­promissen können. Durch die parlamentarische Mehrheits­bildung ist immer die unsachliche Geltendmachung und Zurückdrängung von Interessen möglich. Anders gestaltet sich die Sache, wenn die Verwaltung des Wirtschaftslebens von derjenigen des Rechtslebens organisch abgegliedert ist. Dann können auf dem Rechtsboden nicht Beschlüsse gefaßt werden, die im Wirtschaftsleben zu Wirkungen führen, welche für irgendwelche Menschengruppen nachteilig sind. Alles, was im Wirtschaftsleben geschieht, wird auf Verhandlungen der gekennzeichneten Assoziationen beruhen. Bei diesen Verhandlungen kann die Sachkenntnis der einen Assoziation derjenigen der andern gegenüberstehen; und das unsachliche, bloß demokratische Parlamentarisieren kann wegfallen. Es könnte vielleicht jemand sagen, das

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hiermit Erstrebte wäre auch zu verwirklichen, wenn im «Rechtsparlamente» die Hauptverhandlungen in die Aus­schüsse verlegt würden und man zu diesen Sachverständige der einzelnen Wirtschaftsgebiete zuzöge. Mir scheint, daß dies doch nur eine halbe Maßregel wäre. Was sie beschränkt Gutes bewirken könnte, müßte gerade zeigen, wie das Er­strebte völlig nur durch die Abgliederung der Wirtschaftsverwaltung von der Rechtsorganisation zu erreichen ist. Professor von Heck bringt nicht stark genug in Ansatz, was es in der Praxis des Lebens bedeutet, wenn die sachkundigen Repräsentanten von Wirtschaftszweig zu Wirtschaftszweig so zu verhandeln haben, daß durch sie die Lebensbedingun­gen des einen Zweiges diejenigen des andern zu fördern und zu begrenzen haben, ohne den Einfluß unsachlicher Mehrheitsbeschlüsse. Wer in Rechnung stellt, wie eine solche Einrichtung praktisch wirkt, dem wird nicht in den Sinn kommen, zu sagen: «Wie sollen Naturwissenschaftler und Ärzte für die kirchlichen Fragen, Landwirte, Kaufleute und Handwerker für die Großindustrie besonderes Sach­verständnis mitbringen?» Das scheint wohl richtig gefragt; aber es spricht nicht gegen eine auf sich selbst gestellte Glie­derung des Wirtschaftslebens, sondern gegen die Vertretung der Wirtschafts- und Kulturinteressen in einem Parlament, in dem jeder mitzuentscheiden hat über Dinge, von denen er nichts versteht. Zu den Verhandlungen der Wirtschafts-Organisationen untereinander durch ihre Vertreter ist kei­neswegs ein Sachverständnis außerhalb des Gebietes nötig, das jemand zu vertreten hat. Denn das Ergebnis der Ver­handlungen wird objektiv durch die sachliche Bedeutung des einen Gebietes für das andere bestimmt werden. Die Grundlage für eine solche Objektivität wird dadurch ge­schaffen,

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daß die Verwaltungskörper sich um diejenigen Persönlichkeiten herum gliedern werden, auf die ein lei­tendes Amt in der Art übertragen wird, wie dies Seite 86 der «Kernpunkte der sozialen Frage» geschildert ist. Die andern Mitglieder dieses Verwaltungskörpers werden aus den Bedürfnissen der Wirtschaftsführung so hervorgehen, daß an die Stelle der gewöhnlichen Wahl eine Auslese der geeigneten Persönlichkeiten treten wird, da die Befähigung sich in der Arbeitsgliederung offenbaren und sich dadurch die Überzeugung festsetzen wird, daß die eigene Arbeit am besten gedeiht, wenn der kundigste Leiter bestellt wird. Die Mitglieder höherer Verwaltungskörper und eines Zentral­rates werden in einer ähnlichen Art aus den unteren sich ergeben. Dadurch wird trotz des Zentralrates die Gesamt­verwaltung auf einer föderativen Grundlage aufgebaut sein.

Ein solcher Aufbau der Wirtschaftsverwaltung wird dem demokratischen Bewußtsein nur erträglich sein, wenn alles dasjenige, was sich auf die Rechtsverhältnisse der am Wirt­schaftsleben beteiligten Personen bezieht, von diesem aus­gesondert und in ein demokratisches Parlament verwiesen wird. Zu diesen Rechtsverhältnissen gehört aber alles, was sich auf die Arbeit bezieht, welche die Menschen für ein­ander leisten.

Wer in der hier geschilderten Weise meine Vorschläge für den dreigliedrigen sozialen Organismus auffaßt und nicht in der ganz mißverstandenen, wie sie in der Wiedergabe Professor von Hecks erscheinen, der wird kaum eine Wider­legung der Einwände verlangen, die in den letzten Spalten des Artikels meines Kritikers aufgeführt sind. Denn diese Einwände rühren doch nur davon her, daß Professor von

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Heck nicht auf meine Darlegung sich bezieht, sondern sich eine eigene Dreigliederung zurecht legt und dann gegen diese polemisiert.

In dem Aufsatze «Mein Eindruck von Dr. Steiner und seiner Dreigliederungs-Theorie» von Alfred Mantz wird gesagt, daß meine Darlegungen nur etwas darstellen könn­ten, was zu verwirklichen wäre, «wenn die Menschen an­ders wären, als sie eben sind.» Diese Meinung kann man nur so lange haben, als man noch nicht hinreichend darüber ins Klare gekommen ist, in welchem Sinne und mit welcher Absicht man überhaupt Ideen über Einrichtungen des sozialen Organismus entwickeln kann. Es ist richtig, daß ideale gesellschaftliche Zustände nur mit ideal veranlagten und entwickelten Menschen möglich sind. Wer aber wegen dieser einseitigen Wahrheit die Gedanken über eine Ge­staltung des sozialen Organismus ablehnt, der bewegt sich in einem bedenklichen Ideenkreise. Er wird mit wünschens­werten Einrichtungen warten wollen, bis er die für sie geeigneten Menschen hat; während dieses Wartens wird er aber immer doch nur Menschen haben, die er ungeeignet findet. Wenn Herr Mantz genauer auf meine Ideen ein­gehen wird, so kann er sehen, daß ich für die Verwirk­lichung dieser Ideen keine andern Menschen voraussetze, als sie vorhanden sind. Und diese Menschen finde ich wohl so reif, oder so unreif im allgemeinen wie er selbst. Nur nehme ich an, was wohl jeder annehmen muß, der nicht in Fatalismus versinken will, daß unter den gegenwärtigen Menschen solche sich finden, die sich von der Notwendigkeit einer Neugestaltung unserer sozialen Struktur überzeugen können. In dem dreigliedrigen sozialen Organismus sehe

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ich - wie ich in der Besprechung des Aufsatzes Professor von Hecks ausgeführt habe - dasjenige, was die Forderungen erfüllt, zu denen die Menschheit auf der gegenwärtigen Stufe ihrer Entwickelung drängt. Mir scheint, daß, wenn es diesen Menschen, die sich von der Notwendigkeit der Dreigliederung überzeugen können, gelingt, zu ihrer Durch­führung das Nötige zu tun, Zustände geschaffen werden, durch die solchen Bemühungen eine Grundlage gegeben wird, die die Menschen anders machen, «als sie eben sind». Mit der Behauptung, daß ich ein Bild entwerfe, «das in einem luftleeren Raum sich sehr gut ausnehmen müsse, in Wirklichkeit aber Utopie sei» stimmt es wahrlich schlecht, daß ich ja die Wirklichkeit, in der wir leben, gar nicht antaste, sondern nur an die Stelle der Gliederung dieser Wirklichkeit, insoferne sie aus Absichten, Neigungen, Ge­wohnheiten, Urteilen etc. herrührt, eine andere mir gesetzt denke, die auch aus ähnlichen menschlichen Impulsen sich entwickeln soll.

Wie wenig zutrifft, was in dem Aufsatz «Dr. Steiner und das Proletariat» steht, das kann doch wohl restlos aus meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage» ent­nommen werden. Wer die Darlegungen dieser Schrift wider­legen will, der darf dies jedenfalls nicht mit der Behaup­tung versuchen, daß «das Kapital sich niemals zu ihrer Durchführung hergeben wird». Denn er müßte erst be­weisen, daß er einen sozialen Aufbau im Auge hat, zu dessen Durchführung man «das Kapital» nicht braucht. Warum sollte man es dann aber gerade zur Durchführung des meinigen brauchen. Was Hr. Seeger dann weiter sagt, daß durch die Einrichtungen, die ich herbeigeführt sehen

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möchte, der Arbeiter doch «niemals das Gefühl, doch nur für einen einzelnen Unternehmer arbeiten zu müssen, los werden» könnte, so muß dagegen gehalten werden, daß gerade darauf meine Bemühungen gerichtet sind, Zustände ausfindig zu machen, durch die dem «körperlich arbeiten­den» das Gefühl, in seiner Arbeit ein freier Mensch zu sein,

gegeben wird. .

ABWEHR EINES ANGRIFFES AUS DEM SCHOSSE DES UNIVERSITÄTSWESENS

Ein paar Worte zum Fuchs-Angriff

Juli 1920

Vor einiger Zeit habe ich in dieser Wochenschrift gesagt, daß ich keine Neigung zur Polemik habe. Ich glaube dieses wahrhaft hinlänglich dadurch bewiesen zu haben, daß ich eine stattliche Anzahl unerhörter Angriffe, die zumeist in wüste, persönliche Beschimpfungen ausarten, unwiderspro­chen gelassen habe. Mir schien es vor allem notwendig, meine Zeit und Kraft dem positiven Ausbau derjenigen wissenschaftlichen Forschungsrichtung zu widmen, die ich durch meine Schriften seit fünfunddreißig Jahren vor der Welt geltend machen will. Was in diesen Schriften vorliegt, gibt anderen heute, wie mir scheint, genügend Unterlagen, um die notwendige sachlich-wissenschaftliche Verteidigung dieser Forschungsrichtung zu übernehmen. Dieser Aufgabe haben sich in jüngster Zeit wissenschaftlich und künstlerisch tüchtige Persönlichkeiten unterzogen. Diese Forschungsrichtung gibt Richtlinien für die in unserer Zeit brennend

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gewordene soziale Frage. In Stuttgart hat sich eine Anzahl von Persönlichkeiten zusammengefunden, die von der Fruchtbarkeit dieser sozialen Richtlinien überzeugt, durch den Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus un­ermüdlich entsprechende Arbeit leisten. An anderen Orten haben sich diesen Andere angeschlossen, die verständnisvoll wissenschaftlich und sozial zu wirken bestrebt sind.

Welche Erfahrungen zwei dieser Verteidiger der Arbeit, Dr. Walter Joh. Stein und Dr. Eugen Kolisko mit ihren Vorträgen in Göttingen jüngst gemacht haben, das wird in der vorigen und in dieser Nummer dieser Wochenschrift geschildert. Ich selbst kann es, aus dem Interesse der Sache heraus, nur dankbar empfinden, daß sie sich in ihre nicht gerade begehrenswerte Rolle begeben haben.

Man muß leider eine Verteidigung selbst in Dingen füh­ren, die so zu Tage gefördert werden, wie die Behauptungen des Professor Dr. Fuchs in Göttingen. Alle meine Schriften sprechen mit absoluter Selbstverständlichkeit gegen solche Absurditäten wie, meine Anthroposophie versetze geistig in die Zeiten des Mittelalters, für jeden, der lesen will. Wer verfolgt, wie in geradliniger Fortbewegung meine Anthro­posophie sich aus dem ergibt, was ich bereits in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts geschrieben habe, für den ist es einfach lächerlich, wenn gesagt wird, ich speise meine Leser und Zuhörer mit orientalischen Lehren ab, die ins­besondere dem nördlichen Buddhismus entlehnt sind.

Beweise für oder gegen die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie müssen aus ganz anderen Ecken heraus geführt werden als diejenigen sind, die Professor Dr. Fuchs nach seinen bisherigen, lediglich schimpfenden Auslassungen, zur Verfügung zu stehen scheinen. Wenn Professor Fuchs

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dasjenige allein für Naturwissenschaft erklärt, was er über die ihm bekannten Naturtatsachen denkt, so ist das seine Privatsache. Ich habe nirgends erklärt, daß Anthroposophie mit dem übereinstimmt, was er und die ihm geistig ähnlich Gearteten über Natur und Geist denken. Von den Naturtatsachen habe ich immer wieder zu beweisen versucht, daß sie nicht dasjenige fordern, was er und die Naturgelehrten seines Schlages meinen, sondern was durch die Anthro­posophie gefordert wird. In diesem Sinne spreche ich von dem Einklange zwischen Naturwissenschaft und Anthro­posophie. Wer wie Professor Fuchs diesen Tatbestand in das Gegenteil verkehrt und auf Grund dieses Gegenteils beschimpfende Aussagen macht, der spricht die objektive Unwahrheit.

Von einem Forscher, der ernst genommen werden soll, muß verlangt werden, daß er den Sinn für objektive Tat­sachen hat. Wer ein anatomisches Präparat vorgelegt erhält, das gegen eine absurde Behauptung spricht, der kann wissen­schaftlich nur ernst genommen werden, wenn er sich das Präparat erst ansieht und seinen Zusammenhang mit andern Tatsachen ins Auge fassen will. Professor Dr. Fuchs hört, daß in Stuttgart gegen die blöde Behauptung, ich sei Jude, mein Taufschein vorgewiesen worden ist. Er sagt, wie so viele andere, die in gewissenloser Weise die Lüge verbreiten, ich sei Jude, es gebe auch getaufte Juden. Nun, mein Taufschein enthält aber Daten, die so gegen meine Abstammung von Juden sprechen, daß sich schon aus ihnen die Behaup­tung meines Judentums als eben blöder Unsinn enthüllt. Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß ich selbst keinen Wert auf meine Abstammung von diesem Gesichtspunkte aus lege. Es handelt sich für mich lediglich darum, daß es dreist

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erlogen ist, wenn man mich zum Juden macht. Für mich aber ist, wer so über Tatsachen spricht, wie Professor Fuchs über mein angebliches Judentum, wenn auch nur so neben­her, kein Wissenschafter. Ich habe ernstere Anschauungen von der Gewissenhaftigkeit in der wissenschaftlichen Vor­stellungsweise. Wer auf einem Gebiete beweist, daß ihm der Sinn für Tatsachen fehlt, von dem glaube ich nicht, daß er ihn auf einem anderen Gebiete haben kann. Eine Ana­tomie, die mit ihren Tatsachen so verführe, wie Professor Fuchs mit meinem Taufschein, wäre für mich jedes wissen­schaftlichen Charakters bar. Ich beschränke mich vorläufig auf diese wenigen Sätze. Was Professor Fuchs vorgebracht hat über Priorität und dergleichen, das kann ich zu beur­teilen ruhig denen überlassen, die meine Schriften wirklich lesen und die deren Fragestellungen verstehen können.

LEITGEDANKEN FÜR EINE ZU GRÜNDENDE UNTERNEHMUNG

November 1920

#TX

Notwendig ist die Gründung eines bankähnlichen Instituts, das in seinen finanziellen Maßnahmen wirtschaftlichen und geistigen Unternehmungen dient, die im Sinne der anthro­posophisch orientierten Weltanschauung sowohl nach ihren Zielen, wie nach ihrer Haltung orientiert sind. Unterschieden von den gewöhnlichen Bankunternehmungen soll dieses dadurch sein, daß es nicht nur den finanziellen Ge­sichtspunkten dient, sondern den realen Operationen, die durch das Finanzielle getragen werden. Es wird daher vor allem darauf ankommen, daß die Kredite etc. nicht auf

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dem Wege zustande kommen, wie dies im gewöhnlichen Bankwesen geschieht, sondern aus den sachlichen Gesichts­punkten, die für eine Operation in Betracht kommen, die unternommen werden soll. Der Bankier soll also weniger den Charakter des Leihers, als vielmehr den des in der Sache drinnenstehenden Kaufmanns haben, der mit ge­sundem Sinne die Tragweite einer zu finanzierenden Ope­ration ermessen und mit Wirklichkeitssinn die Einrich­tungen zu ihrer Ausführung treffen kann.

Es wird sich dabei hauptsächlich um die Finanzierung solcher Unternehmungen handeln, die geeignet sind, das wirtschaftliche Leben auf einen gesunden assoziativen Boden zu stellen und das geistige Leben so zu gestalten, daß be­rechtigte Begabungen in eine Position gebracht werden, durch die ihre Begabung in einer sozial fruchtbaren Art sich ausleben können. Worauf es besonders ankommt, ist, daß zum Beispiel Unternehmungen entriert werden, die augenblicklich gut rentieren, um mit ihrer Hilfe andere Unternehmungen zu tragen, die erst in späterer Zeit und vor allem durch die jetzt in sie zu gießende Geistessaat, die erst nach einiger Zeit aufgehen kann, wirtschaftliche Frucht bringen können.

Für die Beamten des Bankunternehmens ist es notwendig, daß sie eine Einsicht darin haben, wie die Lebensansicht, die mit der Anthroposophie gegeben ist, sich in wirtschaftlich fruchtbare Wirksamkeit umsetzt. Dazu ist notwendig, daß ein streng assoziatives Verhältnis hergestellt wird zwischen den Bankverwaltern und denen, die durch ihre ideelle Wirk­samkeit das Verständnis für eine ins Leben zu setzende Unternehmung fördern können.

Ein Beispiel: eine Persönlichkeit hat eine Idee, die eine

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wirtschaftliche Fruchtbarkeit verspricht. Die Vertreter des Ideellen der Weltanschauung können Verständnis hervor­rufen für die sozialen Folgen. Ihre Tätigkeit wird finanziell mitgetragen aus den aufzunehmenden Beträgen, die zu­gleich wirtschaftlich und technisch die Verwirklichung der Idee tragen sollen.

Im Mittelpunkt muß stehen, die Zentralen der anthropo­sophisch orientierten Geistesbewegung selbst zu tragen. Der Bau in Dornach kann zum Beispiel zunächst nichts tragen; dennoch wird er einen mächtigen auch wirtschaftlichen Er­trag in späterer Zeit bewirken. Es muß Verständnis dafür hervorgerufen werden, daß ihn jeder auch bei Achtung sei­nes finanziellen Gewissens fördern kann, wenn er nur mit der materiellen Fruchtbarkeit in einer längeren Zeit rechnet.

Die Unternehmung muß auf der Erkenntnis ruhen, daß die technische, finanzielle etc. Tätigkeit Zweige entfalten kann, die zwar für den einzelnen Unternehmer zeitweilig günstige Resultate liefern, die aber im Zusammenhange der sozialen Ordnung zerstörend wirken. In dieser Art waren viele Unternehmungen der neuesten Art orientiert. Man fruktifizierte sie, und gerade durch ihre Fruktifizierung untergrub man die soziale Ordnung. Dieser Art von Unter­nehmungen müssen solche gegenübertreten, die aus einem gesunden Denken und Empfinden heraus stammen. Sie können sich in wirklich fruchtbarer Art der sozialen Ord­nung einfügen. Sie können aber nur aus der durch die an­throposophisch orientierte Geisteswissenschaft angeregten sozialen Denkweise getragen sein.

Es ist richtig, daß auch eine Unternehmung wie die hier charakterisierte zunächst nur die sozial-technischen und finanziellen Krisenmöglichkeiten überwinden kann, und daß

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ihr die sozialen Schwierigkeiten so lange gegenüberstehen werden, als diese als eigentliche Arbeiterfrage noch die Ge­stalt an sich tragen, die aus der zu Krisen verurteilten alten Produktionsweise stammen. Die an den neuen Unterneh­mungen beteiligten Arbeiter werden zum Beispiel in Lohndifferenzen sich gerade so verhalten, wie sie sich den Unter­nehmungen alten Stils gegenüber verhalten. Allein man darf bei solchen Dingen nicht unterschätzen, wie bald bei richtiger Führung ein Unternehmen der hier charakteri­sierten Art auch sozial günstige Folgen haben muß. Das wird man sehen. Und das Beispiel wird überzeugend wir­ken. Wenn eine Unternehmung dieser Art stocken wird, dann wird man die Arbeiter, die daran beteiligt sind, schon mit ihren Überzeugungen bei dem Wieder-in-Fluß-bringen haben. Denn nur dadurch, daß man durch eine auf alle Menschenklassen wirkende Denkungsart die Handarbeiter mit den geistigen Führern von Unternehmungen zu einem Interesse bringt, kann den sozialen Zerstörungskräften ent­gegengearbeitet werden.

Grundbedingung ist, daß die geistigen Bestrebungen mit allen materiellen innig verbunden werden. Wir können eine solche Orientierung mit den jetzt in der anthroposo­phischen Bewegung verfügbaren Kräften deshalb nicht er­reichen, weil wir eben in ihrem Schoße keine praktische Unternehmung haben, die aus ihren eigenen Kräften her­vorgewachsen ist, außer dem Berliner anthroposophischen Verlag. Doch genügt dieser allein nicht, um vorbildlich zu wirken. Denn seine ökonomische Orientierung ist nur der äußere Ausdruck der Schlagkraft der Geisteswissenschaft als solcher. Richtig vorbildlich können erst solche Unterneh­mungen wirken, die nicht die Geisteswissenschaft als solche

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zu ihrem Inhalte haben, sondern die einen von der geistes­wissenschaftlichen Denkungsart getragenen Inhalt haben. Eine Schule als solche kommt vorbildlich zunächst nach dieser Richtung erst dann in Betracht, wenn sie finanziell von nur solchen Unternehmungen getragen wird, deren ganze Einrichtung schon aus geisteswissenschaftlichen Krei­sen hervorgegangen ist. Und der Dornacher Bau wird seine soziale Bedeutung erst erweisen können, wenn durch die mit ihm verbundenen Persönlichkeiten solche Unterneh­mungen ins Leben gerufen worden sind, die sich selbst tragen, den sie haltenden Menschen gehörigen Unterhalt geben und dann noch so viel übrig lassen, daß das von einer geistigen Unternehmung immer geforderte Defizit gedeckt werden kann. Dieses Defizit ist ja in Wirklichkeit gar keines. Denn eben dadurch, daß es entsteht, wird die Fruktifizie­rung der materiellen Unternehmungen hervorgerufen.

Man muß nur die Dinge wirklich praktisch nehmen. Das tut derjenige nicht, der frägt: wie soll man also im Sinne der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft ein finanzielles oder ökonomisches Unternehmen machen? Das ist einfach ein Unsinn. Es kommt darauf an, daß die in der anthroposophisch orientierten Geistesbewegung selbst orga­nisierten Mächte die Unternehmungen machen, das heißt daß Bankiers, Fabrikanten etc. sich mit dieser Bewegung zusammenschließen, daß der Dornacher Bau der reale Mit­telpunkt eines neuen Unternehmungsgeistes werde. Deshalb sollen auch in Dornach nicht «soziale», «technische» etc. «Programme» aufgestellt werden, sondern es soll mit dem Bau der Mittelpunkt einer Arbeitsweise geschaffen werden, welche die Arbeitsweise der Zukunft werden soll.

Wer sich dazu entschließen wird, zu den Dornacher Unternehmungen

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finanzielle Beihilfe zu gewähren, der wird verstehen müssen, daß wir heute schon so weit sind, daß Unternehmungen im alten Sinne unterstützen heißt, sein Geld in Unfruchtbares stecken, und daß für sein Geld sorgen, heute heißt, zukunftversprechende Unternehmungen zu tragen, die allein geeignet sind, den verwüstenden Kräften standzuhalten. Kurzsichtige Leute, die heute noch glauben: so etwas hat noch nie finanzielle Früchte getragen, werden sicher den Dornacher Bestrebungen sich nicht an­schließen. Die sich anschließen, müssen weitsichtige, finan­ziell und ökonomisch wirklich urteilsfähige Leute sein, die einsehen, daß Fortfahrenwollen in den alten Bahnen weiterzuwursteln, heißt: sich ein sicheres Grab graben. Diese Menschen werden es allein sein, die den zerstörenden Existenzen der letzten vier bis fünf Jahre nicht nachfolgen werden. Mit Unternehmungen des bisherigen Stils arbeiten, heißt weiter nichts, als die finanziellen und ökonomischen Reserven aufbrauchen. Denn auch die Reserven der Roh­stoff- und Landwirtschaftsproduktion, die am längsten halten, werden aufgebraucht. Ihre finanzielle und ökono­mische Fruktifikation liegt nämlich doch nicht darinnen, daß sie da sind, sondern daß die Arbeit möglich ist, durch die sie dem sozialen Organismus zugeführt werden. Diese Arbeit gehört aber durchaus zu den Reserven. Alles für die Zukunft hängt davon ab, daß auch für die Einzelunter­nehmung ein neuer Geist die führende Stellung bekomme.

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VORWORT ZU EINEM BÜCHERVERZEICHNIS

Dezember 1920

Der kürzeste Weg zum Papierkorb ist heute wohl der, welchen Zusendungen dieser Art nehmen. Man bekommt sie so zahlreich, und man hat so oft erfahren, wie wenig sie halten, was sie versprechen, daß niemandem das Recht bestritten werden kann, diesen Weg zu wählen, um eine überflüssige literarische Zudringlichkeit von sich abzu­wehren. Sollte dieser Ankündigung eines neuen Verlages aus irgendeinem Grunde nicht dasselbe geschehen, so wird - das hoffen die Versender - ihr Leser ersehen, daß durch diese Begründung etwas geschehen soll, was die Ereignisse der Zeit wirklich fordern.

Nicht aus dem Bedürfnisse, zu den vielen Büchern noch andere zu fügen, die aus dem Wirrwarr des gegenwärtigen Geistesleben heraus erwachsen, ist der «Kommende Tag Verlag» gegründet. Seine Begründer sind eigentlich der schon bei Lichtenberg auftretenden Ansicht, daß von den Büchern, mit denen die Welt «beglückt» wird, neunund­neunzig Prozent zu viel sind.

Aber diese Begründer sehen das niedergehende Geistes­leben der Gegenwart. Sie sehen aus dem Niedergange des Geisteslebens die andern, die staatlichen, die wirtschaft­lichen Katastrophen der Gegenwart hervorgehen. Und sie

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müssen sich Vorstellungen machen von einem aufsteigenden Geistesleben, aus dem Staat und Wirtschaft schöpfen müssen, um zu gesunden.

Diesem Geistesleben wollen sie dienen.

Literarische Werke möchten sie der Welt überliefern, die der Gesundung des erkrankten sozialen Lebens die Ideen und die geisteswissenschaftlichen Gesetze liefern.

Von dem ungesunden Zustande unseres Geisteslebens machen sich nur leider allzuwenig Menschen eine zulängliche Vorstellung. Sie ahnen nicht, welche verheerenden Folgen für die Weltzivilisation sich aus diesem Zustande ergeben müssen. Sie haben deshalb kein Herz für Bestrebungen, die aus Überzeugung und unbefangener Lebensbeobachtung auf eine Gesundung hin sich richten.

Der «Kommende Tag Verlag» möchte das.

Er wird nicht dienen einer sich zersplitternden Wissen­schaftlichkeit, die lebensfremd nur in Büchern wuchert und die ihre Beziehungen zur Wirklichkeit immer mehr löst. Er will dienen einer Wissenschaftsgesinnung, die dem Blute Wärme gibt und die Licht wirft auf den Sinn des Men­schen- und Weltdaseins.

Er wird nicht dienen einer lebensfremden, stubenriechen­den oder müßiggangbelasteten Kunstgesinnung. Er will fördern eine künstlerische Weltempfindung, die den Men­schen durch wahre Lebensgestaltung zum Mitschöpfer an den Weltenrätseln und der Weltenentwickelung macht.

Er wird nicht dienen einer sozial zerstörenden Lebens­auffassung, die nur von Sittengesetzen predigt und ohne Kraft ist, das Wirkliche zu durchdringen. Er will mitarbeiten an der Entdeckung derjenigen sittlichen Lebensgrundlage, die in Ideen kraftvollen Willen zeitigt und aus der Erkenntnis

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des Lebens die Impulse gebiert für Seelengesundheit und Tatbegeisterung.

Er wird nicht sozialen Phantastereien dienen, die dem Menschen wohltun, wenn er von ihrer Verwirklichung träumen kann, oder wenn er Gesellschaftsordnungen in Szene setzt, die der Menschenwesenheit und der Naturgrundlage entbehren, und die daher den zu einem gesell­schaftlichen Unglück erwachen lassen, der von ihnen träumt oder unter ihrem Einfluß traumhandelt. Er will soziale Anschauungen und Antriebe in die Erscheinung treten lassen, die lebensmöglich, allgemeinmenschlich, daseinswürdig sind, die aber aus der wirklichen Menschenwesen­heit, Weltbeobachtung und lebensvollen Erfahrung geholt sind.

So möchte der «Kommende Tag Verlag» dem sozialen Leben, der sittlichen Lebensgestaltung, der künstlerischen Daseinsoffenbarung, der wissenschaftlichen Welterfassung dienen.

Er wird bestrebt sein, nicht in einseitige Förderung dieses oder jenes «Standpunktes» zu verfallen, sondern die geistig wertvollen Erzeugnisse aller Richtungen dem Urteile der Leser seiner Bücher zu überliefern. Nicht Meinungen über dieses oder jenes sollen bevorzugt werden nach dem Ge­schmacke der Leiter des «Kommenden Tag Verlages», son­dern die Werke, von denen sich diese Leiter die Empfindung verschaffen können, sie können dem von der Zeit gefor­derten Geistesleben dienen. Ein materialistisches Buch, das mit Geist geschrieben ist, wird heute - gegen den Willen seines Verfassers - mehr den Aufbau des Geisteslebens för­dern als eine geistlose Sammlung von dilettantischen Schmachtworten über eine «geistige Weltordnung».

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Ein durch diese Richtlinien bestimmtes Wollen soll alle Tätigkeit des «Kommenden Tag Verlages» durchdringen. Die Vielen, die heute noch glauben, man könne durch bloßes «Popularisieren » des überkommenen Geisteslebens etwas erreichen, durch Begründung von Volksbildungsstätten, in denen das bisher an volksfremden Orten Gepflegte volks­tümlich gemacht wird: sie werden diesen Verlag höchst überflüssig finden. Denn seine Begründung geht von der Überzeugung aus, daß in den weiten Bevölkerungskreisen das nicht fruchtbar wirken kann, was aus den engen Kreisen heraus, durch Bildungsillusionen in die Niedergangserschei­nungen der Gegenwart geführt hat.

Der «Kommende Tag Verlag» ist ein Glied der Gesamtunternehmung «Der Kommende Tag, Aktiengesellschaft zur Förderung wirtschaftlicher und geistiger Werte, Stutt­gart». Die anderen Glieder dieses Unternehmens haben die Aufgabe, wirtschaftliche Tätigkeit zu entfalten, die dem Volksleben gesundende ökonomische Kräfte zuführen kön­nen. Sie sollen im Sinne einer von der Zeit geforderten Volkswirtschaft sich an dem Neuaufbau des Wirtschafts­lebens beteiligen. Sie sollen auch aus volkswirtschaftlich fruchtbarer Tätigkeit heraus freie Schulen, wissenschaftliche und ärztliche Institute und ähnliches tragen.

In der Angliederung an solche Unternehmungen liegt das Kennzeichnende des «Kommenden Tag Verlages». Die geistige Schöpfung muß im ganzen Umkreis des mensch­lichen Lebens drinnenstehen, wenn sie nicht in Gefahr geraten soll, Zivilisationsluxus zu werden. Geistiges und Materielles müssen sich gegenseitig tragen, wenn das eine dem andern zum Unheil für die Menschheit nicht entfrem­det werden soll.

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Ein Hauptstück für die Anfangstätigkeit des «Kommen­den Tag Verlages» soll Rudolf Steiners Buch sein: «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendig­keiten der Gegenwart und Zukunft». Von diesem Buche sind bisher in Deutschland bereits über 40.000 Exemplare verkauft worden, außerdem wurde es in fast alle Kultursprachen übersetzt. Es enthält aus einer lebenspraktischen Beobachtung der geistigen, sozialen und staatlichen Ver­hältnisse des Menschendaseins die Rechtfertigung eines solchen Wollens, wie es auf einem einzelnen Lebensgebiete dem «Kommenden Tag Verlag» die Richtung gibt. Sein Ver­fasser verbindet darin die von ihm begründete anthropo­sophische Richtung in der Geisteswissenschaft, in der er seit 35 Jahren eine große Anzahl von Schriften veröffentlicht hat, mit der wirklichkeitsgemäßen Beobachtung des sozialen Lebens und Wollens.

Der «Kommende Tag Verlag» stellt sich also mitten in die geistigen, ethischen und wirtschaftlichen Aufgaben der Gegenwart hinein; und er sucht diesen Aufgaben gerecht zu werden durch seinen Zusammenhang mit der Hochschule für Geisteswissenschaft, dem Goetheanum in Dornach, in dem die anthroposophisch vertiefte, alle Lebenszweige neu befruchtende Forschungsart auch einen künstlerischen Bau sich errichtet, der, zwar noch unvollendet, doch schon die Pflegestätte dieser Forschungsart und Kunst darstellt. In anderer Art, auf dem Gebiete der Pädagogik, hat diese Forschungsart und Lebenspraxis in der Stuttgarter Freien Waldorfschule eine Wirkungsstätte.

Durch diesen Zusammenhang nach den verschiedensten Richtungen hin stellt sich der «Kommende Tag Verlag» als ein Unternehmen dar, das seine weitverzweigten Wurzeln

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in dem Umkreis einer geistigen, künstlerischen und sozialen Bewegung hat, die aus einem festen Willen heraus die not­wendige Neugestaltung der zusammenbrechenden Zivi­lisation sich zur ernstesten Aufgabe macht.

Im Dezember 1920

Der Kommende Tag AG

Stuttgart, Champignystraße 17 Verlag

AUFRUF ZUR RETTUNG OBERSCHLESIENS

Januar 1921

Oberschlesier!

Soll in Oberschlesien zur Qual seiner Bevölkerung, zum Schaden der Wirtschaft, zur Vernichtung aller kulturellen Güter, der Unfrieden, der versteckte und offene innere Kampf Dauerzustand werden? Darf Oberschlesien der Herd ständiger Bedrohung des Friedens für Europa bleiben? Nein! Wie aber ist dies zu verhindern?

Die oberschlesische Frage ist eine europäische Frage. Auf das wirtschaftliche Gedeihen der Industrie, insbesondere auf die Kohlenschätze Oberschlesiens richtet ganz Europa seine besorgten Gedanken und Wünsche. Für den euro­päischen Wirtschaftskreislauf ist Oberschlesien von entschei­dender Bedeutung. Die geistig-kulturellen Probleme und Aufgaben dieses Gebietes, als einer Mitte zwischen Ost- und Mitteleuropa, liegen schwer in der Waagschale. Die Geistigkeit der oberschlesischen Völker kann nur dann in der rechten Weise sich auswirken, wenn hier eine wirkliche Lösung der Nationalitätenfrage gefunden wird. Damit

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wäre auch Entscheidendes gewonnen für die Heraufführung eines neuen Zeitalters der Völkerbeziehungen überhaupt.

Auch eine Gesundung der politisch-staatlichen Verhältnisse ist im europäischen Interesse ein unbedingtes Erfordernis, soll nicht Oberschlesien ein politischer Unruheherd werden, der den europäischen Frieden dauernd in Frage stellt.

So ist das Problem der Gestaltung Oberschlesiens eine Frage der wirtschaftlichen, rechtlich-politischen und kultu­rell-geistigen Gesundung ganz Europas. Versailles, St. Ger­main und Spaa brachten nichts weniger als eine Lösung der europäischen Probleme und sozialen Fragen. Da aber die oberschlesische Frage nur aus dem ganzen großen Zusam­menhang einer wahrhaft zeitgemäßen Neugestaltung der europäischen Verhältnisse gelöst werden kann, wird keine gegenwärtige Lösung dieser Fragen, die auf dem Boden der Wirklichkeit steht, etwas anderes sein können, als ein vor­übergehender Zustand. Man muß daher bewußt einen sol­chen Übergangszustand in Oberschlesien schaffen. Weder die berühmten weltfremden 14 Punkte Wilsons, deren An­wendung auf das wirkliche Leben besonders im Osten eine Unmöglichkeit bedeutet, noch die Gewaltmethoden einer abgelaufenen Epoche können zu einem Neuaufbau des europäischen Lebens führen. Zu diesem Neuaufbau kann man nur kommen, wenn man sich klar darüber ist, daß es sich im Grunde um drei verschiedene Gebiete handelt:

Das Wirtschaftsleben,

das rechtlich-politische Leben,

das geistig-kulturelle Leben.

In dem bisherigen Staate waren diese drei Gebiete ver­quickt, und aus diesem Durcheinander sind letzten Endes die chaotischen Zustände der Gegenwart hervorgegangen.

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Die einzige wirklichkeitsgemäße Gestaltung des sozialen Lebens kann daher nur in einer Verselbständigung dieser drei Gebiete bestehen. Den Weg dazu weist

die Dreigliederung des sozialen Organismus.

Sie verlangt, daß der Staat auf der einen Seite die Wirt­schaft, auf der andern Seite das Geistesleben aus seinem Machtbereich entlasse.

In das Wirtschaftsleben gehört dann nur noch Warenerzeugung, Warenverteilung und Warenverbrauch, die auf «assoziativer Grundlage» von Sachverständigen zu ver­walten sind. Ungehindert von staatlichen und politischen Machtverhältnissen werden die Produzenten und Konsu­menten der verschiedenen Länder in gemeinsamer Arbeit die Befriedigung aller Bedürfnisse regeln.

Das geistige Glied im drei gliedrigen sozialen Organismus umfaßt Wissenschaft, Kunst, Religion, das gesamte Erzie­hungswesen und die richterliche Rechtsprechung. Alle diese geistig-kulturellen Faktoren können nur in vollkommener Freiheit von staatlichen Eingriffen ihre Aufgabe erfüllen und in rechter Weise das soziale Leben befruchten. Das Geistesleben, die Kultur, muß aus dem freien Zusammen­wirken aller geistig-schöpferischen Einzelpersönlichkeiten sich herausgestalten und sich selbst eigene Verwaltungskörper geben.

Dem mittleren Glied, dem rechtlich-politischen Teil des sozialen Organismus, verbleibt dann in erster Linie die Polizei- und Verwaltungstätigkeit auf rechtlicher Grundlage; es wird geregelt durch ein in demokratischer Weise gewähltes Parlament. Da dieses Parlament sich nur mit rein staatlich-politischen Fragen befaßt, kann es weder das Wirtschafts- noch das Geistesleben stören.

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(Alles Nähere über die Dreigliederung des sozialen Or­ganismus ist zu ersehen aus dem Buch «Die Kernpunkte der sozialen Frage» von Dr. Rud. Steiner, «Der Kommende Tag» AG Verlag, Stuttgart, Champignystraße 17, sowie aus der im gleichen Verlag erscheinenden Wochenzeitung «Dreigliederung des sozialen Organismus» und der übrigen einschlägigen Literatur.)

Nur durch eine solche Gliederung der sozialen Organis­men in Europa würde der wirtschaftliche Kreislauf sich unabhängig von politischen Staatsgrenzen, über diese hin­weg, nach seiner eigenen Gesetzmäßigkeit sich abspielen können. - Ebenso ist der geistige Austausch zwischen Volksteilen, die durch politische Grenzen getrennt sind, über diese Grenzen hinweg in freier, von staatlicher Machtpolitik un­gehemmter Weise möglich.

Bevor nicht in ganz Europa eine solche gesunde Dreiglie­derung des sozialen Organismus in den verschiedenen Staatsgebieten durchgeführt ist, kann auch die oberschlesische Frage nicht wirklichkeitsgemäß einer endgültigen Lösung zugeführt werden.

Gerade in Oberschlesien schreien die Verhältnisse ganz besonders nach einer solchen Dreigliederung.

Hier kämpfen zwei Kulturen, zwei Volksindividuali­täten, die einander durchdringen, um die Möglichkeit, sich auszuleben. Schulwesen und richterliche Rechtsprechung sind die wichtigsten Punkte, die zu Reibungen Anlaß geben. Nur durch die Befreiung des Geisteslebens können gerade in Oberschlesien diese brennenden Fragen gelöst werden. Nebeneinander werden sich dann die zwei Kulturen, die deutsche und die polnische, entsprechend ihren Lebeuskräf­ten entwickeln können, ohne daß die eine eine Vergewalti­gung

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durch die andere zu befürchten hat, und ohne daß der politische Staat für die eine oder andere Partei ergreift. Nicht nur eigene Bildungsanstalten, sondern eigene Ver­waltungskörperschaften für das Kulturleben wird jede Na­tionalität errichten, so daß Reibungen ausgeschlossen sind. - Und würde auch der Wirtschaftskreislauf in Oberschlesien vom Staatlich-Politischen losgelöst, so ließen sich die ober­schlesischen Wirtschaftsfragen in die europäische Gesamt­wirtschaft eingliedern und nur durch Abkommen zwischen den Wirtschaftsleuten der beteiligten Länder lösen.

Innerhalb der Gegenwart ist daher das Folgende das einzig Wirklichkeitsgemäße, Lebensmögliche:

Das oberschlesische Gebiet lehnt die Angliederung an einen angrenzenden Staat vorläufig ab, bis dort selbst ein Verständnis für die Dreigliederung erweckt ist. Es konsti­tuiert sich so, daß seine Wirtschaftsfaktoren sich selbst ver­walten - ebenso seine geistigen Faktoren. Es schafft ein Zu­sammenstimmen der beiden durch einen provisorischen, nur über sein Gebiet sich erstreckenden rechtlich-polizeilichen Organismus und bleibt in diesem Zustand bis zur Klärung der gesamten europäischen Verhältnisse.

Trotzdem dieser Zustand ein vorläufiger ist, erscheint er, wenn er durchgeführt wird, als ein Musterbeispiel für die Maßnahmen, die ganz Europa treffen muß zur Gesundung seiner Verhältnisse.

Nur Kurzsichtigkeit kann diesen Aufruf als nicht im deutschen Geiste gelegen auffassen. Wahrhaft deutsche Ge­sinnung hat immer so gedacht.

Also, Einwohner Oberschlesiens, fasset alle Zweige Eures Wirtschaftslebens in freien, vom Staate unabhängigen Asso­ziationen zusammen! Erklärt Euer Erziehungs- und Unterrichtswesen

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vom Staate unabhängig und stellt es unter seine eigene Verwaltung! Richtet ein polizeilich-administrativ-parlamentarisches Staatsleben provisorisch ein, bis die euro­päischen Verhältnisse eine gesündere Grundlage annehmen! Helfen wird Euch nur, was Ihr von diesen Forderungen bei der Entente-Kommission durchsetzen könnt. Alles an­dere ist für Euch wertlos.

Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus

Ortsgruppe Breslau.

Redner über Dreigliederung und Oberschlesien bei der Ortsgruppe Breslau des Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus, Bres­lau, Kaiser-Wilhelm-Straße 16, 2 Treppen, anfordern.

PROGRAMM-BEGRENZUNG DES «KOMMENDEN TAGES»

1922

#TX

Die Zeitverhältnisse und die Gegnerschaft weiter, am Wirt­schaftsleben interessierter Kreise zwingen dem «Kommen­den Tag» die Pflicht auf, für die unmittelbare Gegenwart auf ein weiteres sozialwirtschaftliches Programm zu ver­zichten und seine Tätigkeit innerhalb engerer Grenzen zu halten. Er wird in der nächsten Zukunft die Assoziation einiger wirtschaftlicher Betriebe mit geistigen Unterneh­mungen sein, die sich gegenseitig tragen. Die geistigen Un­ternehmungen: Waldorfschule, Klinisch-Therapeutisches In­stitut, biologisches und physikalisches Forschungsinstitut sollen dem wissenschaftlich-geistigen und moralisch-sozialen Fortschritt in dem Sinne dienen, wie es den von der Gegenwart und nächsten Zukunft gestellten Zeitforderungen ent­spricht.

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Die rein wirtschaftlichen Unternehmungen sollen die materielle Unterlage für das Gesamtunternehmen lie­fern. Sie sollen diejenigen Unternehmungen zunächst tra­gen, die erst in einiger Zeit wirtschaftliche Frucht und finan­zielle Erträgnisse bringen können, weil die jetzt in sie zu gießende Geistessaat erst nach einiger Zeit aufgehen kann.

Die Aktionäre werden von diesem im engeren Rahmen gehaltenen Unternehmen fortdauernd die programmäßig versprochene Dividende beziehen. Eine Erweiterung der Tätigkeit kann auch nach Möglichkeit bei diesem verwan­delten Programm erfolgen. Das für die Fortbildung des Wirtschaftslebens im Zusammenhange mit der Pflege geistiger Werte ursprünglich entwickelte Programm ist zwar eine Notwendigkeit unserer Zeit, seine umfassende Verwirklichung augenblicklich durch das geringe Entgegen­kommen der am Wirtschaftsleben der Gegenwart betei­ligten Zeitgenossenschaft aussichtslos. So muß das zunächst Mögliche dem Notwendigen vorangestellt werden. Die­jenigen Persönlichkeiten, welche der Idee des «Kommen­den Tages» Verständnis entgegenbringen, werden sich da­durch mit ihren Interessen umso besser in ihm zusammen­finden. Ihnen zu dienen, wird die Pflicht seiner Leitung sein.

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11 «Aufruf an das deutsche Volk..Siehe Seite 428. «Die Kernpunkte der sozialen Frage» (1919), GA Bibi.-Nr. 23. Wochenschrift «Dreigliederung des sozialen Organismus»: Erschien vom 8. Juli 1919 an wöchentlich in Stuttgart. Ab 1922: «Anthroposophie, Wochenschrift für freies Geistesleben».

12 Versailles, Spa: Der Friedensvertrag von Versailles, durch welchen der 1. Weltkrieg formell beendet wurde, wurde am 28. Juni 1919 unterzeichnet. Spa in Belgien war der Tagungsort der Europäischen Konferenz über die deutschen Reparationen vom 5. bis 16. Juli 1920. Deutschland wurde durch die Drohung mit dem Einmarsch von Truppen in das Ruhrgebiet zur Annahme der alliierten Bedingungen veranlaßt.

31 Friedrich Engels, 1820-1895, «Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft» (1891) 6. Aufl., Berlin 1919.

35 «Allgemeine Begriffe und großer Dünkel. . .»: Goethe, «Sprüche in Prosa».

83 Waldorfschule: Die Freie Waldorfschule in Stuttgart wurde im Jahre 1919 unter der pädagogischen Leitung von Rudolf Steiner begründet durch Emil Molt (1876-1936), dem Leiter der Waldorf Astoria- Zigarettenfabrik in Stuttgart, zunächst für die Kinder der an diesem Unternehmen tätigen Mitarbeiter. Rudolf Steiner berief die Lehrkräfte und erteilte ihnen vorbereitende seminaristische Kurse. Sie wurde zum Muster zahlreicher Schulgründungen in Ländern der ganzen Welt.

97 Claude Henri de Saint Simon, 1760-1825, Gründer der sog. ersten sozialistischen Schule, gemäß welcher die Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft im Sinne rein naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit gestaltet werden sollten. Robert Owen, 1771-1858, idealistischer Sozialreformer. Vgl. Rudolf Steiner «Geisteswissenschaft und soziale Frage». Fourier, François Marie Charles, 1772-1835, Schöpfer eines sozialistischen Systems auf naturwissenschaftlicher Basis.

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99 «Die Kernpunkte der sozialen Frage» (1919), GA Bibi.-Nr. 23.

113 Herman Grimm, 1828-1902, «Schiller und Goethe» in «Fünfzehn Essays», 1. Folge, Gütersloh 1889, S. 166.

121 Zerrüttung der Valuta: Die deutsche Währung wurde nach dem 1. Weltkrieg durch eine sich ständig steigernde Inflation (1923 1 Goldmark = 1 Billion) völlig entwertet.

124 Mathias Erzberger, 1875-1921, Zentrumsabgeordneter, Oktober 1918 Waffenstillstandsbevollmächtigter, 1919-1921 Reichsfinanzminister, 1921 von Nationalisten ermordet. 131 Karl Kautsky, 1854—1938. «Wie der Weltkrieg entstand», Berlin 1919, S. 13f.

136 «Der Theosoph Steiner als Handlanger der Entente.» ... Unwahre Behauptung: Vgl. zu diesen beiden Verleumdungen auch den Vortrag vom 17. Januar 1920 in «Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwickelung», GA Bibl.-Nr. 196, S. 83/ 296, sowie «Dreigliederung des sozialen Organismus», 1. Jahrg., Stuttgart 1919/20, Nr. 38, die beiden Artikel von Carl Unger und Walter Joh. Stein.

138 Ottokar Czernin, 1872-1932, österreichischer Außenminister von Dezember 1916 bis April 1918, «Im Weltkriege», 2. Aufl. Berlin 1919, S. 69/70. 143 Alfred von Tirpitz, 1849-1930, Großadmiral, Staatssekretär des Reichsmarineamts, Schöpfer der deutschen Kriegsflotte.

144 John Maynard Keynes, 1883-1946, einer der bedeutendsten Wirtschaftswissenschaftler der neueren Zeit. «Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages», 11.-15. Tausend, München 1920. Thomas Woodrow Wilson, 1856-1924, Präsident der Vereinigten Staaten von 1913 bis 1921, verkündete am 8. Januar 1918 die «Vierzehn Punkte» (siehe Hinweis zur Seite 161). Georges Clemenceau, 1841-1929, französischer Ministerpräsident von 1917 bis 1920. David Lloyd George, 1863—1945, englischer Premierminister von 1916 bis 1922.

148 Friedensangebot der Mittelmächte: Deutsch-österreichischer Friedensappell vom 12. Dezember 1916.

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150 Aufruf: Siehe Seite 428.

157 Karl Helfferich, 1872-1924, Staatssekretär, deutschnationaler Parteiführer. Gegner und Rivale von Matthias Erzberger (siehe Hinweis zu S. 124).

160 Johann Heinrich, Graf von Bernstorff, 1862—1939, Deutscher Botschafter in Washington vor Amerikas Eintritt in den 1. Weltkrieg. «Deutschland und Amerika, Erinnerungen aus dem fünfjährigen Krieg», (1920).

161 Die vierzehn Wilsonschen Schein-Ideen: Wilsons «Vierzehn Punkte» vom 8. Januar 1918. Übersetzung in «Die Reden Woodrow Wilsons», englisch und deutsch, Bern 1919. Es wurde damals versucht ... führenden Persönlichkeiten ... Ideen nahezubringen: Siehe Rudolf Steiners Memoranden vom Juli 1917 S. 339 dieses Bandes sowie die diesbezüglichen Hinweise.

162 uneingeschränkter Unterseebootkrieg: Um der englischen Überlegenheit zur See etwas Wirksames entgegenzusetzen, forcierte Deutschland den Einsatz der Unterseeboote, der sich als recht wirkungsvoll erwies. Die U-Boote versenkten zahlreiche Schiffe, auch neutrale Handelsschiffe, ohne allerdings die Versorgung von England ernstlich gefährden zu können. Auf Grund diplomatischer Proteste, besonders seitens der offiziell noch neutralen USA, wurde der Unterseebootkrieg 1915 eingeschränkt und erst 1917 wieder aufgenommen, was den Anlaß zum Kriegseintritt der Vereinigten Staaten bildete. Hauptbefürworter des Unterseebootkrieges war Admiral von Tirpitz.

172 aufständische Bewegung: Am 13. März 1920 suchten reaktionäre Kreise, geführt von Friedrich Kapp, einem hohen Verwaltungsbeamten, und dem Reichswehrgeneral von Lüttwitz, einen Umsturz herbeizuführen. Es kam zu einem Generalstreik der Arbeiter und der sogenannte Kapp-Putsch brach nach wenigen Tagen zusammen.

176 «Hach ewigen, ehernen Gesetzen»: Aus Goethes Gedicht «Das Göttliche». Briefwechsel: Es handelt sich um den Briefwechsel zwischen Mathilde Reichardt und dem Gelehrten Jakob Moleschott aus dem Jahre 1856, worüber Jürgen Bona Meyer in «Philosophische Zeitfragen», Bonn 1874, S. 323f., berichtet. Siehe auch Rudolf Steiners Vortrag vom

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13. Juni 1920 in «Gegensätze in der Menschheitsentwickelung», GA Bibl.-Nr. 197.

180 Spa: Siehe Hinweis zu S. 12.

Im Jahre 1917 . . . ; Siehe Hinweise zu S. 339.

182 John Maynard Keynes: Siehe Hinweis zu S. 144.

184 Im europäischen Osten: Gemeint ist das bolschewistische Rußland unter Lenin.

amerikanische Vertreter des Geisteslebens: War nicht festzustellen.

185 Bergarbeiterstreik: Im Oktober und November 1920 fand in England ein Bergarbeiterstreik statt, der das Land tief erschütterte.

weil es dem Bolschewismus nicht gelungen ist, Polen zu besiegen: Infolge Marschall Pilsudskis «Sieg von Warschau» 1920.

188 Pfleger amerikanischer Weltanschauungen: War nicht festzustellen.

191 Der Weg von Versailles bis London: 1.-7. März 1921 Konferenz in London über die Ausführung des Friedensvertrages und die deut-

schen Reparationszahlungen.

192 Lloyd George: Siehe Hinweise zu S. 144.

Warren Gamaliel Harding, 1865-1923, wurde im November 1920 als Sieger über Wilson zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt.

194 Lenins und Trotzkis Sturz: Man hoffte auf den Sturz des Bolschewismus, der bekanntlich nicht eintrat.

224 Jungtürken, Annexion Bosniens: Die türkische Revolution unter Kemal Atatürk fand 1908 statt, wodurch die Annexion Bosniens

durch Österreich ausgelöst wurde.

Bagdadproblem: Der unter starker deutscher Beteiligung seit 1899 unternommene Bau einer Eisenbahn von Kleinasien über Bagdad

nach dem Persischen Meerbusen führte zu politischen Spannungen wegen des befürchteten Einflusses Deutschlands im Mittleren Osten.

240 Saint Simon, Fourier: Siehe Hinweise zu S. 97.

249 Hartley Withers, Verfasser von «The meaning of money», deutsch «Geld und Kredit in England», Jena 1911.

272 Kursus in geisteswissenschaftlicher Pädagogik: «Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik», GA Bibl.-Nr. 293; «Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches», GA Bibl.-Nr. 294; «Erziehungskunst, Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge», GA Bibl.-Nr. 295.

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281 «Die Solidarität der sittlichen Überzeugungen...»: Herman Grimm, «Homers Ilias», 2. Aufl. Stuttgart 1907, S. 214.

283 Heinrich von Treitschke, 1834-1896. Abhandlung über «Die Freiheit», Leipzig 1861.

284 «so gewiß der Mensch nur versteht, ...»: «Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert», 5. Teil S. VI, Leipzig 1894.

285 Ernst Curtius, 1814-1896, Archäologe und Historiker.

Leopold von Ranke, 1795-1886, Historiker.

«Wenige sind so geliebt...»: Herman Grimm, Fragmente, 1. Band, Berlin 1900, S. 262.

286 «Dreißig Jahre lang...»: Das Leben Michelangelos», 16. Aufl. Berlin o. J. 2. Band, S. 439.

«der Dreißigjährige Krieg, . . .»: «Vorlesungen über Goethe», 8. Aufl. Berlin 1903, 2. Vorlesung.

287 «Sie hüteten das Eigenste unseres Volkes, . . .»: Siehe vorangehenden Hinweis.

290 Johann Gottlieb Fichte, 1762-1814.

* Anderes über die gegenwärtige Zeit: Ein solches Schriftchen ist nicht erschienen.

aus Vorträgen zusammengezogen: Siehe u. a. «Menschenschicksale und Völkerschicksale», GA Bibl.-Nr. 157.

291 «So lange in Deutschland ein Herz schlägt...»: Robert Zimmermann, 1824-1898, aus «Zum Fichtejubiläum» in «Zur Philosophie, Studien und Kritiken», Wien 1870, S. 304.

293 «Zeit und Ewigkeit ... Alles als nicht geistiges Leben...»:' Fichte, «Reden an die deutsche Nation», 7. Rede.

294 «Die Zeit erscheint mir wie ein leerer Schatten...»:- 1. Rede.

297 «Diese Lehre setzt voraus...»: Einleitungsvorlesungen in die Wissenschaftslehre 1813, S.2.

298 «Die wahre in sich selbst zu Ende gekommene...»: «Reden an die deutsche Nation», 7. Rede.

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298 «Was an Geistigkeit und Freiheit . . .»: Siehe vorhergehenden Hinweis.

303 Ernest Renan, 1823-1892, Religionshistoriker.

David Friedrich Strauß, 1808-1874, Theologe, Philosoph.

«Ich war im Seminar zu St. Sulpice...»: Briefwechsel Renan / D . F. Strauss: Brief vom 13. September 1870, zitiert aus Strauss / Renan /

Carlyle «Krieg und Friede 1870», Insel-Bücherei Nr. 164, Leipzig o. J.

306 Carl Vogt, 1817-1895, Politische Briefe, Biel 1870, S. 30 f. Es handelt sich um den von Rudolf Steiner oft erwähnten materialistischen Naturwissenschaftler.

310 Alexej Stepanowitsch Chomiakow, 1804-1860.

312 Nikolai Jakowlewitsch Danilewsky, 1822-1885, «Rußland und Europa», Petersburg 1871.

313 Wladimir Solowjow, 1853-1900. Seine Auseinandersetzung mit Danilewski findet sich in dem Aufsatz «Rußland und Europa», Solowjows Ausgewählte Schriften Bd. IV, Stuttgart 1922 (Übersetzt von Harry Köhler).

314 «Europa fürchtet uns...»: a. a. O . S. 175.

315 Nikolaj Nikolajewitsch Strachow, 1828-1896, Philosoph, slawophiler Schriftsteller.

316 Schiller . . . Briefe . . .»: «Briefe über ästhetische Erziehung des Menschen», 1795.

317 Es gibt Völker . . .: Fichte, «Reden an die deutsche Nation», 13. Rede.

322 Ralph Waldo Emerson, 1803-1882.

Eine Eigenschaft vornehmlich: Emerson: «Goethe oder der Schriftsteller», übersetzt von H . Grimm, in dessen «Fünfzehn Essays»

3. Folge, Berlin 1882.

325 John Stuart Mill, 1806-1873, Philosoph und Nationalökonom.

Herbert Spencer, 1820-1903, Philosoph und Soziologe.

Ferdinand C. S. Schiller, 1864-1937, englischer Philosoph.

John Locke, 1632-1704, Philosoph, Theologe, Arzt.

Thomas Henry Huxley, 1825-1895, Philosoph, Zoologe, Darwinist.

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326 Während aber die Deutschen...: I Byron ist zu betrachten...: Aus

Goethes Gesprächen mit Eckermann vom 24. Februar 1825 und

1. September 1829.

327 belgische Neutralitätsverletzung: Im August 1914 trug Deutschland

den Angriff gegen Frankreich ohne Berücksichtigung der belgischen

Neutralität durch belgisches Territorium vor.

328 Napoleon war eine vorübergehende Erscheinung...: Helmuth von

Moltke (der Ältere), 1800-1891, preußischer Generalfeldmarschall.

329 Karl Julius Schröer, 1825-1900, Rudolf Steiners väterlicher Freund und Lehrer, Professor an der Technischen Hochschule in Wien.

Wir in Österreich sehen uns gerade...: Schröer, «Die deutsche Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts», Leipzig 1875, S. 5.

330 Emerich von Haldsz, 1841-1918, ungarischer Schriftsteller und Politiker. «Jung Ungarn, Monatsschrift für Ungarns politische, geistige

und wirtschaftliche Kultur», 3. Heft, März 1911, S. 311 ff.

332 ein später erscheinendes Schriftchen: Siehe 2, Hinweis zu S. 290.

333 Eine preisgekrönte wissenschaftliche Arbeit: Jakob Ruchti, «Zur Geschichte des Kriegsausbruchs», 2. Aufl., Bern 1917.

335 Sir Edward Grey, 1862-1933. 1905-1916 britischer Außenminister.

Sergei Dimitrejewitsch Sasonow, 1860-1927. 1910-1916 russischer Außenminister.

337 Herbert Henry, Earl of Oxford and Asquith, 1852-1928; englischer Premierminister 1908-1916.

339 Die Memoranden: Von Rudolf Steiner verfaßt nach Gesprächen mit Graf Otto Lerchenfeld und Graf Ludwig Polzer-Hoditz, die ihre Beziehungen zu deutschen und österreichischen Regierungskreisen einsetzen wollten, um Rudolf Steiners Gedanken von einem über die unmittelbaren Kriegsziele hinausgehenden positiven deutschen Beitrag zur Gesundung der Weltlage, insbesondere in Mitteleuropa, an einflußreiche Persönlichkeiten heranzutragen. Graf Lerchenfeld wandte sich u. a. an den deutschen Staatssekretär Kühlmann, Graf Polzer an seinen Bruder Arthur Polzer-Hoditz, Kabinettschef Kaiser Karls von Österreich. Die Memoranden sind zu Rudolf Steiners Lebzeiten nicht veröffentlicht worden, vgl. dazu auch Kap. IV von «Die Kernpunkte der sozialen Frage» sowie die Berichte der dama-

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ligen Hauptbeteiligten: Graf Otto Lerchenfeld in «Rudolf Steiner während des Weltkrieges», herausgegeben von Roman Boos, Dornach 1933, und Graf Ludwig Polzer-Hoditz in «Anthroposophie», Monatsschrift, Stuttgart, 16. Jahrgang 1933/34 S. 165 ff.

Unser Abdruck erfolgt auf Grund der zum Teil noch vorhandenen Manuskripte Rudolf Steiners sowie von Abschriften aus dem Jahre 1920. Bezüglich der Datierung der Denkschriften, die alle im Laufe des Juli 1917 entstanden, folgen wir hier den Angaben von Ludwig Polzer-Hoditz, welche mit der Numerierung der im Archiv der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung vorgefundenen Abschriften übereinstimmen. Für die erste Fassung des 2. Memorandums (hier Seite 381) besitzen wir eine genaue Zeitangabe: es wurde in der Nacht auf den 22. Juli 1917 verfaßt und war zusammen mit dem 1. Memorandum dazu bestimmt, durch Ludwig Polzer-Hoditz an dessen Bruder Arthur zu gelangen (s. o.). Dieser Text wurde von Rudolf Steiner in den folgenden Tagen zu der hier auf Seite 362 ff. abgedruckten zweiten Fassung erweitert (bei Boos: Memorandum A).

In bezug auf das Inhaltliche sei auf die Vorträge Rudolf Steiners von 1916/17 hingewiesen: «Zeitgeschichtliche Betrachtungen. Das Karma der Unwahrhaftigkeit», 1. u. 2. Teil, GA Bibl.-Nr. 173 und 174.

339 Ausführungen des deutschen Reichskanzlers: Theobald von Bethmann-Hollweg, 1856-1921; Reichskanzler von 1909 bis 1917.

340 Ermordung von Franz Ferdinand: Am 28. Juni 1914. Das Ereignis löste den Ersten Weltkrieg aus.

346 Programm Wilsons: Siehe Hinweis zu S. 161.

347 König Eduard: Eduard VII, 1841-1910; regierte 1901-1910.

347/348 In eingeweihten Kreisen Englands vorhandene politische Formeln: Hier wäre hinzuweisen auf das im Jahre 1894 zuerst erschienene Werk von C. G. Harrison «The transcendental Universe», wo die durch den 1. Weltkrieg geschaffene Situation, besonders in bezug auf Osteuropa, in bemerkenswerter Genauigkeit als notwendiges Ziel der Entwicklung dargestellt wird. Arthur Polzer-Hoditz a. a. O. (s. Hinweis zu S. 339) zitiert die Zeitschrift «Truth» des Engländers Labouchere aus dem Jahre 1890, in der eine Karte veröffentlicht wurde, welche in wesentlichen Punkten die Gestalt Europas nach dem 1. Weltkrieg wiedergab.

349 Bagdadbahn: Siehe Hinweis zu Seite 224.

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355 in einem eben erschienenen Buche: Ernst Krieck, «Die deutsche Staatsidee», Jena 1917.

367 Sendschreiben an die Russen: Wilson, Mitteilung an die Provisorische Regierung von Rußland vom 9. Juni 1917 (President Wilson's Foreign Policy, New York 1918, S. 320).

379 österreichische Sprachenfrage: Im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn war die Sprachenfrage ein ständiger Streitgegenstand.

386 Die «Schuld» am Kriege, «Betrachtungen und Erinnerungen des Generalstabschefs H . v. Moltke über die Vorgänge vom Juli 1914 bis

November 1914, herausgegeben vom <Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus> und eingeleitet in Übereinstimmung mit Frau Eliza von Moltke durch Dr. Rudolf Steiner.» - Die Schrift gelangte nicht in Umlauf (siehe Seite 400ff.). Drei Jahre später erschienen die Memoiren Moltkes mit anderen Dokumenten, aber ohne Rudolf Steiners Einleitung, in H . v. Moltke «Erinnerungen, Briefe, Dokumente 1877-1916», Stuttgart 1922.

Helmuth von Moltke (der Jüngere), Neffe des Generalfeldmarschalls, 1848-1916. Generalstabschef des deutschen Heeres bei Kriegsausbruch 1914, wurde im Herbst 1914 von seinen Funktionen als Chef der Heeresleitung entbunden.

391 Aufruf an das deutsche Volk: Siehe Seite 428.

395 Friedrich von Bernhardt, 1849-1930, General, Verfasser von «Deutschland und der nächste Krieg», 6. Aufl. 1913.

398 Jules Sauerwein, geb. 1880, Französischer Schriftsteller und Journalist, übersetzte u. a. Rudolf Steiners «Geheimwissenschaft».

398 ff. Marneschlacht: An der Marne kam im September 1914 der deutsche Vormarsch gegen Frankreich zum Stillstand und es entwickelte sich ein jahrelanger Stellungskrieg.

400 Persönlichkeit, welcher die diplomatische Vertretung Preußens in Stuttgart oblag: Hans Adolf von Moltke, Legationsrat, Neffe des Generalstabschefs. Vgl. hierzu und zum folgenden H . Wiesberger, «Rudolf Steiners öffentliches Wirken für die Dreigliederung des sozialen Organismus, Chronik des Jahres 1919», in «Nachrichten der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung», Nr. 27/28, Dornach 1969.

spater kam ein General zu mir: General Dommes.

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401 Alfred Graf von Schlieffen, 1833-1913; Vorgänger Moltkes als Chef des Generalstabs. Schöpfer der deutschen Operationspläne für den Kriegsfall (sog. Schlieffenplan) unter Voraussetzung eines Zweifrontenkriegs.

402 Durchmarsch durch Belgien: Deutschland wurde vorgeworfen, die belgische Neutralität verletzt zu haben.

Theobald von Bethmann-Hollweg, 1856-1921; 1909-1917 deutscher Reichskanzler.

Erich von Falkenhayn, 1861-1922; 1913-1915 preußischer Kriegsminister, 1914-1916 Chef des Generalstabs des Feldheeres.

Moritz Freiherr v. Lyncker, 1908-1918 Chef des Militärkabinetts.

410 Tirpitz-Memoiren: «Erinnerungen» 1920. Siehe Hinweis zu S. 143.

428 Aufruf an das deutsche Volk: Zuerst veröffentlicht März 1919. Die Abänderung des letzten Absatzes (S. 433) erfolgte einige Monate später, nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages im Juni 1919. Dem Aufruf waren folgende Erläuterungen beigefügt: «Die Veröffentlichung dieses Aufrufes in der Presse Deutschlands, Deutsch-Österreichs und der Schweiz im März führte zu der Gründung eines Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus mit dem Sitz in Stuttgart für Deutschland. Infolge einer raschen Ausbreitung der Bewegung entstanden in allen größeren Städten Deutschlands Ortsgruppen, welche den Dreigliederungs-Gedanken in alle Volkskreise hinauszutragen sich zur Aufgabe gemacht haben. In Deutsch-Österreich, der Schweiz, Skandinavien, Holland und der Tschecho-Slowakei sind Bundesorganisationen geschaffen worden mit Zentralstellen in Wien, Zürich, Kopenhagen, Stockholm, Bergen, Haag und Prag, von denen aus die Bewegung den dortigen Verhältnissen entsprechend geleitet wird. Auch in anderen europäischen Staaten sind eine Reihe von Mitarbeitern für die Ausbreitung der Dreigliederungs-Idee tätig. Die Entwicklung der Dinge in Deutschland seit dem erstmaligen Erscheinen dieses Aufrufes zeigt, wie wenig an Einsicht in diejenigen Grundlagen vorhanden ist, deren Berücksichtigung eine gesunde und erfolgreiche Umgestaltung unserer ganzen Gesellschaftsordnung herbeiführen kann. Die anderweitigen Versuche, welche bisher gemacht worden sind, haben sich als nicht tragfähig erwiesen. Weil sie hoffnungslos sind, lähmen sie den Volkswillen und stärken die Gegner Deutschlands.

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Aus dem Dreigliederungs-Gedanken ergibt sich, daß nicht nur wirtschaftlich umgestaltet werden darf, sondern auch geistig. Der Bund erließ einen Aufruf zur Gründung eines Kulturrates, der den Zusammenschluß derjenigen Persönlichkeiten des Geisteslebens ermöglichen soll, denen die selbständige Verwaltung und die Erneuerung des Geisteslebens eine Frage der Verantwortung für das geistige Fortbestehen Deutschlands ist. Die Vorarbeiten für den Kulturrat haben in Stuttgart bereits ihren Anfang genommen». Der Aufruf wurde auch dem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage» als Anhang beigefügt. Dieses Werk gibt den wissenschaftlichen Unterbau für das, was in dem Aufruf zusammengefaßt ist. Über die Sammlung der Unterschriften usw. vgl. Rudolf Steiners Vorträge vom Februar und März 1919, insbesondere vom 15. Februar (1. Vortrag in «Die soziale Frage als Bewußtseinsfrage»), GA Bibl.-Nr. 189).

434 Leitsätze für die Dreigliederungsarbeit: Emil Leinhas, der diesen Text zum erstenmal in seinem Werk «Aus der Arbeit mit Rudolf Steiner» (Basel 1950) veröffentlichte, schreibt dazu: «Die Mitglieder des Komitees für den <Aufruf an das deutsche Volk und an die Kulturwelt> hatten schon lange vor Erscheinen des <Aufrufs> - eigentlich schon seit dem Ausbruch der November-Revolution - unter Industriellen Württembergs eine rege Werbetätigkeit für die Begründung einer württembergischen Industrie-Treuhand-Gesellschaft entfaltet. Dafür hatten sie in diesen Kreisen auch ein gewisses Interesse gefunden. Rudolf Steiner hat für diese Tätigkeit damals einige <Leitsätze> verfaßt, die ... nach dem im Nachlaß Emil Molts vorhandenen handschriftlichen Manuskript Rudolf Steiners wiedergegeben werden. Nach dem Erscheinen des <Aufrufs an das deutsche Volk und an die Kulturwelt> wurde diese Propaganda zu einer solchen für die Ideen des <Aufrufs> erweitert.» (S. 40 a. a. O.).

437 «Der Weg des dreigliedrigen sozialen Organismus»: Emil Leinhas hierzu: «Der Vollständigkeit halber bringe ich ... ein programmatisches Flugblatt des Bundes (für Dreigliederung), das von Rudolf Steiner selbst verfaßt wurde, zum Abdruck. Dieses Flugblatt, das die Ziele des Bundes klar und unmißverständlich zum Ausdruck bringt, ist von uns lange Zeit hindurch benutzt worden. Ich bringe die ursprüngliche Fassung des Textes und füge die für eine spätere Auflage von Rudolf Steiner selbst korrigierten Stellen in Klammern bei. Die veränderte Ausdrucksweise der Neufassung, die bereits einige Monate später herauskam, sollte auf die inzwischen eingetre-

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tene Änderung der allgemeinen politischen Situation Rücksicht nehmen. Die Korrekturen sind deshalb so interessant, weil sie zeigen, wie genau Rudolf Steiner bei solchen Publikationen in der Ausdrucksweise auf das Verständnis und die Empfindungen einer bestimmten Leserschaft und auf die herrschende Zeitstimmung Rücksicht nahm. Das Flugblatt trug bezeichnenderweise die Überschrift <Der Weg des dreigliedrigen sozialen Organismus).»

441 Zur Angelegenheit der Betriebsräte: Hierzu E. Leinhas a. a. O. S. 56: «In diesem Augenblick hielt es Rudolf Steiner für geboten, gegenüber den rein wirtschaftlich-sozialen Tendenzen der Arbeiterschaft das freie Geistesleben als ein anderes selbständiges Glied des sozialen Organismus zur Geltung zu bringen. Die Betriebsrätebewegung zeigte die Tendenz, in einen gewissen einseitigen, rein wirtschaftlich orientierten Radikalismus zu geraten... Angehörige radikaler Parteien versuchten, die vom Bund für Dreigliederung angestrebten Betriebsräte zu radikalisieren. Der Bund für Dreigliederung sah sich, um sich von diesen Bestrebungen zu distanzieren, genötigt, öffentlich dagegen Stellung zu nehmen... Näheres über diese Vorgänge findet man im ersten Jahrgang der Wochenschrift <Dreigliederung des sozialen Organismus)...»

444 Über die Dreigliederung des sozialen Organismus: Im Juli 1919 waren in der Zeitschrift «Die Tribüne», Halbmonatsschrift für soziale Verständigung, Tübingen, mehrere Artikel über die Dreigliederung erschienen, darunter von Professor Philipp von Heck, Rechtslehrer an der Universität Tübingen. Alfred Mantz war ein Student, Gustav Seeger Schriftsetzer und Mit-Herausgeber der Zeitschrift.

457 Abwehr eines Angriffs...: «Am 26. und 27. Mai 1920 veröffentlichte Prof. Dr. Fuchs in Göttingen in dem Göttinger Tageblatt zwei Artikel, in denen er die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft, die Bestrebungen des Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus und die aus ihr hervorgegangenen Unternehmungen <Der Kommende Tag> angriff und vor der Öffentlichkeit aufs schwerste zu diskreditieren versuchte. Prof. Fuchs benutzte außerdem seine Vorlesungen dazu, die Anthroposophie vor seinen Zuhörern durch absurde Bemerkungen lächerlich zu machen und die Persönlichkeit Dr. Rudolf Steiners in einer Weise zu verunglimpfen, die unter die Bestimmungen des Strafgesetzes fällt. Eine Erwiderung von Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft in Göttingen wurde von der Redaktion des Göttinger Tageblatts nicht angenom-

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men... Die Anthroposophische Gesellschaft und der Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus veranstalteten nun in Göttingen eine öffentliche Versammlung, zu der sie zwei Redner, Dr. Walter Johannes Stein und Dr. Eugen Kolisko, sandten, welche die Versammlung durch das von ihnen rein sachlich zu behandelnde Thema <Anthroposophie als Wissenschaft> aufklären sollten.» (Aus «Dreigliederung des sozialen Organismus» 2. Jahrgang, Nr. 4, Juli 1920.) Der wiedergegebene Artikel Dr. Steiners erschien in Nr. 5, gleichzeitig mit einem Bericht von Walter Johannes Stein über die Vortrags Veranstaltung in Göttingen.

460 Leitgedanken: Bezieht sich auf die damals in Gründung befindliche «Der Kommende Tag AG». Siehe auch Leinhas, a.a. O., Kap. 19, S. 163 ff.

466 Bücherverzeichnis: Gedruckt im Katalog «Die Bücher des Kommenden Tages», Bücherverzeichnis 1920-23. Eine Abschrift dieses Entwurfs befindet sich im Archiv der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung.

471 Aufruf zur Rettung Oberschlesiens: Nach Mitteilung von Herrn Dr. Karl Heyer, der ein Original-Exemplar des Aufrufs freundlicherweise zur Verfügung stellte, von Rudolf Steiner verfaßt. In Oberschlesien fand damals eine Volksabstimmung statt über die Zugehörigkeit zu Deutschland oder Polen, deren Ergebnis die Auseinanderreißung dieses wirtschaftlich zusammengehörigen Gebietes war. Siehe auch Leinhas a. a. O., S. 87ff.

472 Versailles, St. Germain und Spa: Siehe Hinweis zu S. 12. In St. Germain bei Paris wurde der Friedensvertrag mit Österreich abgeschlossen.

476 Programm-Begrenzung: Vgl. hierzu Leinhas a. a. O., 19. Kapitel. Die immer fortschreitende Geldentwertung führte dazu, daß der «Kommende Tag» die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen konnte.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.