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wir heute noch die Gestalt des «Faust», wie sie in der Dichtung war, als Goethe in Weimar eintraf. Bekannt ist dann die Gestalt, in welcher der «Faust» im Jahre 1790 zum ersten Male gedruckt an die Öffentlichkeit trat; dann weiterhin die Fassung, die 1808 in der ersten Gesamtausgabe von Goethes Werken erschienen ist. Alles, was wir über den «Faust» haben, einschließlich jenes bedeutungsvollen Dokumentes, das Goethe als sein Testament hinterlassen hat, zeigt uns die verschiedenen Stufen Goetheschen Werdens. Denn es ist unendlich interessant, zu beobachten, wie doch ihrem ganzen inneren Wesen nach diese vier Stufen von Goethes Faust-Schöpfung uns verschieden entgegentreten, wie sie ein Aufsteigen des ganzen Goetheschen Lebensstrebens bedeuten.
Was Goethe nach Weimar mitgebracht hat, ist ein literarisches Werk ganz persönlichen Charakters, in das er hineingegossen hat die Stimmungen, die Stufen des Erkennens und auch des Verzweifelns an der Erkenntnis, wie sie ihn begleitet haben in seiner Frankfurter Zeit, in der Straßburger Zeit und auch noch in der ersten Weimarer Zeit, ein Werk eines Menschen, der heiß strebt nach Erkenntnis, heiß strebt, sich hineinzufühlen in das Leben, der alles, was ein aufrichtig und ehrlich Strebender an Verzweiflung erleben kann, durchgemacht hat und hineingegossen hat in dieses Werk. Das alles ist in der ersten Gestalt des «Faust» darinnen. Und als der «Faust» 1790 als Fragment erschien, hatte ihn derjenige Goethe umgestaltet und daran gearbeitet, der nach einer tief in seiner Seele liegenden Sehnsucht sein ganzes Streben und inneres Leben abgeklärt hatte durch das Anschauen der italienischen Natur und der italienischen Kunstwerke. Aus dem persönlichen Werke eines in den Lebensstürmen Hin- und Hergeschlagenen ist geworden das Werk eines bis zu einer gewissen Stufe Abgeklärten, der
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nun eine Perspektive des Lebens vor sich hat, die in sehr bestimmter Art und Weise vor seiner Seele steht.
Dann kommt die Zeit der Verbindung Goethes mit Schiller, die Zeit, wo Goethe im eigenen Innern erkennen und erleben lernte eine Welt, die lange schon in ihm veranlagt war, eine Welt, von der man sagen kann, daß sie der erlebt, dem die geistigen Augen zum Schauen der geistigen Umwelt aufgegangen sind. Jetzt wird ihm die Persönlichkeit des Faust eine Wesenheit, die hineingestellt ist zwischen zwei Welten: zwischen dieWelt des Geistigen, zu dem der Mensch hinaufstrebt durch seine Läuterung, durch seine Veredlung, und diejenige Welt, die ihn herunterzieht. Faust wird eine Wesenheit, die hineingestellt ist zwischen die Welt des Guten und die Welt des Bösen. Während wir vorher im «Faust» das ringende Persönlichkeitsleben des Einzelnen gesehen haben, sehen wir jetzt vor unsere Seele hingerückt einen großen Kampf der guten und der bösen Mächte um den Menschen, der in den Weltenkampf hineingestellt ist als das würdigste Objekt, um das die guten und die bösen Wesenheiten in der Welt kämpfen. Und während uns gleich im Anfänge des «Faust» der am Wissen verzweifelnde Mensch hingestellt wird, tritt uns jetzt entgegen der Mensch, der zwischen Himmel und Hölle hineingestellt ist, und damit wird das Gedicht wesentlich um eine Stufe hinaufgehoben zu einem erhöhten Dasein. Da ist es uns, als ob in der Gestalt, in der uns der «Faust» 1808 entgegentritt, Jahrtausende der Menschheitsentwickelung zusammenklingen würden. Da müssen wir denken an die großartigste dramatische Darstellung des Menschenlebens, welche die alte Zeit hervorgebracht hat, an das Buch Hiob - wie da der böse Geist herumgeht in der Menschheit und dann herantritt vor Gott, und der Gott zu ihm sagt: Du hast dich auf der Erde umgetan; hast du achtgegeben auf meinen Knecht Hiob?
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Was uns da entgegenklingt, wieder ertönt es uns in der Dichtung, die uns im Faust entgegentritt. Im «Prolog im Himmel» unterredet sich der Gott mit Mephistopheles, mit dem Sendling der bösen Geistigkeit:
«Kennst du den Faust?» - «Den Doktor?» - «Meinen Knecht!»
So klingt nach in dem, was Goethe hingestellt hat, um sein ganzes Fausträtsel im richtigen Lichte erscheinen zu lassen, was uns im Buche Hiob so entgegentönt: Kennst du meinen Knecht, den Hiob?
Dann geht Goethes ganzes reiches Leben weiter, weiter in einer Vertiefung in das Menschendasein, von der heute die Welt sehr wenig ahnt. Und nachdem er in mannigfaltiger Weise in diesem oder jenem Werke zum Ausdruck brachte, was sich da in seiner Seele durchgelebt hat, geht er dann, rückschauend auf sein ganzes Leben, 1824 noch einmal daran und schildert jetzt Fausts Durchgang durch die große Welt, aber so, daß der zweite Teil jetzt ganz ein Charakterbild innerer menschlicher Seelenentwickelung wird.
Blicken wir hin auf den ersten Teil, so müssen wir sagen: Unendlich lebenswahr und lebenswirklich ist das, was da von einer strebenden Seele geschildert wird. Alles, was uns in dem ersten Teil, insbesondere in den zuerst entstandenen Partien entgegentritt, ist von einer tiefen, tiefen Naturwahrheit, aber mancherlei, was da hineinklingt, es klingt uns noch wie eine Art Theorie, wie wenn jemand von Dingen spricht, die er noch nicht selbst in der Seele voll erlebt hat.
Und nun der zweite Teil: Da ist alles innerstes Erlebnis der eigenen Seele. Da sind höchste Erlebnisse geistiger Art, durch die der Mensch die Stufen des Daseins hinansteigt, die physische Welt durchdringt und eindringt da, wo des Menschen Seele sich vereinigt mit der Geistigkeit der Welt,
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Version vom 18. September 2023, 07:21 Uhr

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WO UND WIE FINDET MAN DEN GEIST? Berlin, 15. Oktober 1908

Wir haben hier mehrere Jahre hindurch über Tatsachen des geistigen Lebens gesprochen. Heute beginnt eine neue Serie von Vorträgen. Wer ein Programm in die Hand genommen hat, wird schon wissen, daß sich die Gegenstände der diesjährigen geisteswissenschaftlichen Vorträge in einem weiten Umkreis bewegen. Auf einer Seite finden Sie Vorträge, die tief eingreifen in unser Geistesleben; es soll aber auch gezeigt werden, wie gerade die Geisteswissenschaft berufen ist, tief in die Gegenstände des weiteren praktischen Lebens einzugreifen. Heute aber, das sei in der Einleitung ausdrücklich betont, soll der Gesichtspunkt fixiert werden; heute wollen wir uns besonders über den Geist als solchen orientieren. Der heutige Vortrag soll also ein einleitender, programmatischer, orientierender sein.

Wenn das Wort «Geist» ausgesprochen wird, so ist damit hingewiesen auf etwas, das, solange es ein menschliches Sehnen und menschliches Hoffen gibt, das Ziel aller Menschen ist, sowohl des primitiven Menschen als auch des höchstentwickelten Menschen. Dennoch kann man nicht sagen, daß gerade das, was das Wort Geist bedeutet, in unseren Tagen auf ein tieferes Verständnis stößt. Die Wissenschaft vom Geist erscheint heute sowohl als das Begehrteste wie als das Verwirrendste, denn der Mensch kann der geistigen Forschung nicht kühl und objektiv gegenüberstehen. Was wird durch diese Frage nicht alles aufgerührt in unserer Seele, die tiefsten Affekte, die intensivsten Leidenschaften! Nicht

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von vornherein sind den Menschen die Antworten auf diese Fragen gleichgültig. Wenn der Mensch nur etwas tiefer in seine Seele hineinsieht, so wird er merken, daß er eine, wenn auch unausgesprochene Ansicht darüber hat, wie nach seiner Meinung die Antwort ausfallen sollte. Alle hierher gehörenden Fragen berühren den Menschen so, daß man sagen kann: die eine Antwort kann den Menschen so, die andere so beleidigen. Der eine fühlt sich gerade durch eine nüchterne Betrachtung verletzt, während der andere die Freiheit der Forschung, der Wissenschaft angefeindet glaubt, wenn man nur etwas über die exakte Forschung hinausgeht.

Die Eigenart der menschlichen Entwickelung hat es besonders seit dem Aufschwung der Naturwissenschaften mit sich gebracht, daß heute über die Auffassung des Geistes die denkbar höchste Verwirrung herrscht, und besonders in den Kreisen, die gerade so etwas pflegen sollten wie die Wissenschaft des Geistes. Will man über den Geist etwas erkennen, so ist eine solche Summe feiner und intimer Begriffe notwendig, daß hier eine Begriffsverwirrung höchst bedeutsam ist und zum Schaden gereicht. Der heutige Mensch tut recht, wenn er sich zuerst an die Grundlegung der Wissenschaft wendet, auch wenn er über den Geist etwas wissen will. Dann muß er sich zunächst an die Psychologie wenden. Sie sollte sein «die Wissenschaft von der Seele». Gerade demjenigen, der sich vorurteilsfrei heranmacht an das, was man die Lehre vom Geist nennt, wird es bald klarwerden, was man heute unter der Wissenschaft vom Geist versteht. Es gibt heute kaum jemand, der über diese Dinge spricht und nicht verwechselt Seele und Geist. Ich will da anknüpfen an wirkliche Erscheinungen.

Da ist vor einiger Zeit eine «Psychologie» erschienen von einem Menschen, der in seinem Fache für bedeutend gilt. Sie ist ein Beispiel dafür, wie heute die Seelenwissenschaft be-

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trieben wird. Aber das ist es nicht, wovon ich jetzt ausgehen will, um zu zeigen, welche Verwirrung in den Begriffen von Seele und Geist eingetreten ist. Wir lesen dort auf einer der ersten Seiten: Wenn Blutleere im Gehirn eintritt, so ist die Folge eine Ohnmacht, denn dann hört die geistige Fähigkeit auf oder wird wenigstens herabgemindert. Eine geistige Anstrengung dagegen bewirkt ein Zuströmen von Blut zum Gehirn. Reizmittel wirken auf das Gehirn vermittelst des Nervensystems, und so weiter. - Zunächst muß nun darauf hingewiesen werden, daß einer, der doch hier eine «Seelenwissenschaft» bringen will, die Ausdrücke «Seele» und «Geist» als wesentlich gleichbedeutend braucht, und kein Bewußtsein davon hat, daß sie verschiedene Dinge sind. Daher kommt gerade das Unheil. Die Geistesforscher würden sagen, bei Blutleere und Ohnmacht wird nur die seelische Tätigkeit gelähmt, es findet aber keine Verminderung der Geistestätigkeit statt. Ebenso wird einZuströmen des Blutes zum Gehirn nur durch Seelentätigkeit bewirkt. Hier gilt das Wort Goethes: Keine Materie ohne Geist. — Bei Ohnmächten ist nun eine andere geistige Tätigkeit vorhanden, so daß gleichsam da die Seele sich aus dem Gehirn zurückzieht und einer anderen geistigen Tätigkeit das Feld läßt, als wenn sie dabei ist.

Die heutige Psychologie macht also keinen Unterschied zwischen Seele und Geist. Deshalb ist es wichtig, sich erst einen deutlichen Begriff darüber zu bilden, was Geist ist. Das ist sehr schwierig. Die Menschen, wie durch eine Macht getrieben, glauben heute in materiellen Prozessen alles gegeben und wollen den Geist nur ansehen als eine Wirkung, eine Konsequenz des Stoffes. Der Geistesforscher sucht den Geist nicht nur im Menschen, sondern überall um uns herum. In allem erscheint er wie eine innere Physiognomie. Er ist überall im Weltenall ausgebreitet. Kein Mensch,

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kein Tier, keine Pflanze, kein Stein kann sein, ohne daß der Geist die Grundlage dieses Wesens ist. Hierfür gebrauche ich gerne ein Bild. Wir denken uns einen Wasserbehälter, in dem das Wasser allmählich abgekühlt wird. Dadurch möge etwas entstehen wie ein teilweiser Einschlag von Eisbrocken, so daß wir schwimmend darin haben einige Eisbrocken. Nehmen wir nun an, irgendein Wesen habe nicht die Fähigkeit, Wasser wahrzunehmen, sondern nur Eis. Da würde eben nur aus dem Wasser heraus das Eis auftauchen, das Wasser selbst aber würde dieses Wesen leugnen. «Überall ist nur Eis vorhanden, Wasser aber nicht», würde dieses Wesen sagen.

Ähnlich verhalten sich nun die Menschen zu Geist und Stoff. So wie in unserem Bilde das Eis aus dem Wasser sich verhärtet, so entsteht die Materie aus dem Ursprünglichen, aus dem Geist. Materie ist nichts anderes als verdichteter Geist. Sie taucht für den Sehenden auf aus dem Geist, dagegen für den, der nicht sehen kann, aus dem Nichts. Alles im Weltenraum ist verdichteter Geist. Wenn nun der Materialist kommt und sagt: «Das, was du Geist nennst, ist nicht vorhanden», so steht es mit seiner Logik schlecht, denn er dürfte eigentlich nur zugeben, daß er den Geist nicht wahrnehmen könne. Und einer, der eine gesunde Logik hat, sollte mit einer solchen nur reden von etwas, dessen Existenz er zugegeben hat, also von der Materie. Sprechen wir von der Seele, so dürfen wir davon nie trennen den Begriff der Innerlichkeit, den wir am besten sehen an der Seele des Menschen.

Der Unterschied zwischen Geist und Seele wird am besten an einem Beispiel gezeigt. Denken wir uns, wir sehen ein Ereignis vor uns, das uns erzittern macht, das uns Angst und Schrecken einjagt, zum Beispiel das Abschießen einer Flinte auf uns. Ein Dritter, der dieses Gefühl der Angst in

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uns sieht, kann nur sagen, daß der andere dieses Gesicht hat, daß es aber abhängig ist von der Beschaffenheit des Menschen. Ein Mensch, der vielleicht das Fürchten verlernt hat, würde der Gefahr furchtlos ins Auge sehen. Jener aber steht dem Ereignis mit Furcht und Schrecken gegenüber. Als ein Seelisches bezeichnen wir das, was so in unserem Innern durch eine äußere Wahrnehmung angeregt wird. Für das Geistige aber gibt es kein außen und kein innen. Was außen ist, das ist auch innen. Wenn Sie Ihr Inneres prüfen, werden Sie merken, daß es einen Übergang gibt vom Seelischen zum Geistigen, daß aber wohl ein Unterschied besteht zwischen dem, was wir als Seelisches und als Geistiges ansprechen. Über die Empfindungen, die in uns aufgehen, läßt sich nicht streiten, denn sie sind bei den einzelnen Menschen verschieden. In dem einen würde beim Anblick eines Raffaelischen Bildes eine Welt von Gefühlen aufgehen, während ein primitiver Mensch nichts dabei empfindet. Dazwischen gibt es noch alle möglichen Abstufungen. Hier haben wir es mit etwas Seelischem zu tun. Etwas Geistiges aber ist uns zum Beispiel in der Mathematik gegeben. Niemand kann durch Erfahrung begreifen, was ein Kreis ist. Dazu ist eine innere Anschauung nötig. Das ist so einfach, aber die Menschen begreifen es nicht. Von dem, was Geistiges ist, wissen wir, daß es jeder so erleben kann, wie wir, wenn er nur die nötigen Vorbedingungen dazu schafft. In demselben Maße, in dem wir uns klarmachen, daß wir von einem inneren Erleben aufrücken zu einem, das allen zugänglich ist, in demselben Maße sollen wir uns klarmachen, daß wir dann übergehen von Seelischem zu Geistigem.

Nehmen wir an, der Mensch erhebt sich zu einer solchen Höhe, daß er wirklich über ein Ding der Außenwelt etwas zu sagen vermag, worüber die Menschen einig sein können,

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so erhebt er sich zu dem Begriff, zu der Idee der Sache. Dann sollen wir uns bewußt werden, daß das genau dasselbe ist, was vor der Sache da war, wonach die Sache geschaffen ist. Nur der kann glauben, daß er Geistiges aus einer Welt gewinnen könne, in der kein Geist ist, der vermeint, aus einem Glase Wasser zu gewinnen, in dem kein Wasser ist. Wenn wir einen Stein, eine Pflanze, irgendein Wesen der Außenwelt betrachten, so daß wir nicht nur das Erhebende, Schöne, Herrliche, sondern auch das Traurige auf uns wirken lassen, wenn wir das eigentliche Wesen der Dinge auf uns wirken lassen, so müssen wir uns klarwerden, daß wir in uns aufleuchten lassen das, was vor der Sache da war, woraus sie entstanden ist. So kommt uns das Körperliche vor wie eine Verdichtung des Geistigen.

Manches Vorurteil hat seinen Ursprung in der Gewohnheit, die Außenwelt als etwas Geistloses vorzustellen und das Geistige als etwas darzustellen, das der Mensch hinzubringt. Der Mensch kann nur das in seinem Bewußtsein haben, was die Wirkung der Außenwelt auf ihn ist. Erinnern wir uns daran, was so häufig gesagt wird bei der Gelegenheit: Man könne nur wissen, daß ein Tisch vorhanden sei, eben der Tisch an sich, der die gegebenen Wirkungen auf einen ausübt. - Daß ein solches Urteil gefaßt werden kann, ist ein Beispiel dafür, daß in weiten Kreisen kein Verständnis ist für das Wesen des Geistes. Ein einfaches Bild gibt es, das uns zeigen kann, über was jahrhundertelange Forschung einfach hinwegdenkt, wenn behauptet wird, über das Ding an sich wisse der Mensch nichts. Wenn so etwas gesagt wird, so erscheint es durchaus einleuchtend. Die Physik, die Wissenschaft überhaupt, wird immer wieder darauf hinweisen, daß du zum Beispiel «gelb» eigentlich gar nicht wahrnimmst, sondern nur Bewegungen des Äthers. Die lösen aus in dir die gelbe Farbe,

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ebenso wie die Bewegungen der Luft den Ton. Aus dir kommst du nicht heraus, du siehst nur, was in dir ist. — Diese ganze Schlußfolgerung wird durch ein einfaches Bild ganz ausgelöscht. Denken Sie, Sie haben ein Petschaft und Siegellack. Der Name Müller wird hineingedrückt. Nicht eine Spur von Messing des Petschafts ist in den Siegellack übergegangen. Aber das, worauf es ankommt, der Name, ist ganz und gar übergegangen in den Siegellack. Nun könnte der Siegellack auch sagen: Ich weiß nichts vom Petschaft, denn von außen kann nichts auf mich übergehen. - Ganz genau so ist es mit der Wissenschaft. Der Name Müller geht restlos auf den Siegellack über. Wer behauptet, solche Einwirkung wäre nicht möglich, der hat kein Verständnis davon, daß es keine Grenze gibt zwischen Materiellem und Geistigem, daß eins in das andere übergeht. Und so müssen wir uns immer klarer und klarer darüber werden, daß der Geist nichts zu tun hat mit dem, was in uns ist, sondern daß er äußerlich und in uns ist. Wir müssen Seele und Geist wohl voneinander unterscheiden. Dann haben wir eine Grundlage geschaffen, zu wissen, daß alle Grundlagen des Lebens Grundlagen des Geistes sind. Immer mehr und mehr sucht die Psychologie das Geistige auf ein rein Physisches zurückzuführen. Mußten wir es doch sogar erleben, daß Geistiges abgeleitet wurde aus physischen und rein mechanischen Vorgängen! Die Wissenschaften, die heute nicht bewußt materialistisch sind, sind es unbewußt.

Gehen wir noch einmal zurück! Denken wir, wie durch die Blutleere im Gehirn eine Ohnmacht entsteht und dadurch die Seele lahmgelegt wird. Wir müssen an diesen Vorgang mit der Geisteswissenschaft herantreten. Diese zeigt uns, daß der Mensch nicht nur dieses materielle Wesen ist, das wir mit den äußeren Sinnen wahrnehmen können, sondern daß er ein kompliziertes Wesen ist. Der physische

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Leib ist eine Verdichtung, eine Vergröberung eines Geistigeren, eines Feineren, das zugrunde liegt, zunächst eine Vergröberung des Äther- oder Lebensleibes. Wir sehen den Menschen förmlich als Wasserkugel, die sich teilweise zu Eis verdichtet hat, so daß der Eisklumpen schwimmt im Wasser, aus dem er sich als aus feiner Muttersubstanz heraus gebildet hat. So ist es mit dem physischen und Ätherleib. Materie ist eine andere Form des Geistes als der Geist selber, wie das Eis eine andere Form ist des Wassers. Der Ätherleib aber ist noch nicht das Feinste. Er ist die Verdichtung des Astralleibes. Nun haben wir den Menschen schon als dreigliedrige Wesenheit. Den physischen Leib hat der Mensch mit allen Wesen der physischen Welt gemeinsam. Der Ätherleib ist zunächst rein logisch in folgender Form zu erkennen. Nehmen wir einen Bergkristall, so bleibt die Form erhalten, bis sie von außen zerstört wird. Das ist das Wesentliche des Minerals. So ist es nicht bei Pflanze, Tier und Mensch. Wir haben wohl dieselben Stoffe im Menschen, aber diese sind hier so kompliziert zusammengesetzt, daß der menschliche Leib sofort auseinanderfallen würde, wenn er nicht einen Kämpfer gegen den Zerfall des physischen Leibes in sich trüge: das ist der Äther- oder Lebensleib. Ist der Ätherleib draußen, wie nach dem Tode, dann erst zerfällt der physische Leib. Was aber zwischen Geburt und Tod den Zerfall verhindert, das ist der Äther- oder Lebensleib. Ihn hat der Mensch mit Pflanze und Tier gemeinsam, den astralischen Leib nur mit dem Tiere. Hier bei dem Astralleib kommen wir schon zu immer feineren geistigen Gliedern, wir kommen schon ins Seelische.

Die Geisteswissenschaft konnte sprechen von drei Gliedern des Menschen, von Leib, Seele und Geist. Wenn wir diese aber genauer verfolgen, so zergliedern wir in physischen Leib, Ätherleib und Astralleib. Denken wir, wir

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haben einen Menschen vor uns stehen, so haben wir zunächst den physischen Leib, insofern man ihn physisch sehen kann. Aber wir haben auch den Ätherleib, den Kämpfer gegen den Zerfall. Das ist aber noch nicht das Ganze des Menschen. Schon der primitivste Mensch weiß, daß Freude und Leid, Lust und Schmerz in ihm leben. Der Träger von alledem, was da abläuft im Innern, wird von uns astralischer Leib genannt. Von Materialisten könnte eingewendet werden: Das ist ja aber nur eine Wirkung der physischen Vorgänge, das ist nichts Wirkliches. — Wenn das der Fall wäre, wenn diese Vorgänge nur ein Ausfluß der physischen Vorgänge wären, zum Beispiel des Blutumlaufes, dann wäre es eine bloße Wortklauberei, wenn man von einem Astralleibe spräche. Aber das sind eben nicht Folgen der physischen Vorgänge, was wir Astralisches nennen, sondern umgekehrt: die Nervenvorgänge sind Folgen des Astralischen. Dasjenige, was Freude und Leid, Lust und Schmerz erregt, das war früher da als der physische Leib. Wir sehen ja, wie in uns heute sozusagen die letzten Reste der unmittelbaren Wirkung des Geistigen auf körperliche Vorgänge sich äußern. Auf das Schamgefühl und das Angstgefühl ist früher schon öfter hingewiesen worden. Ein Mensch erblaßt, wegen Furcht und Angst. Was ist da geschehen? Oder wenn der Mensch fühlt: In mir ist etwas, was ich verbergen möchte - und er errötet. Scham- und Schreckgefühle sind seelische Vorgänge, seelische Erlebnisse. Sie drücken sich aber aus in körperlichen Vorgängen. Bei der Angst möchte man alle Kräfte im Innern zusammennehmen, sich behaupten; das Blut zieht sich gleichsam im Innern zusammen. Da können wir es handgreiflich finden: eine Richtung, die unbewußt materialistisch ist, hat den ganzen Vorgang verkehrt.

Der von Amerika ausgegangene Pragmatismus hat die

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Ansicht ausgesprochen: Wenn wir einer geladenen Flinte gegenüberstehen, so macht uns nicht die Angst erzittern, sondern irgend etwas, was von der Flinte ausgeht, macht einen zunächst erzittern. Die Folge davon ist das Auftreten der Furcht. Der Mensch weint nicht, weil er traurig ist, sondern er ist traurig, weil er weint. Solche Streiche spielt Ihnen der Materialismus. Die Geisteswissenschaft aber zeigt uns, daß alles, was geschieht, das Rinnen des Wassers, oder ein Vorgang, den wir im Mikroskop besehen, oder ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze, ebenso ein Ausfluß eines Geistigen ist, wie ein Seelisch-Geistiges die Ursache ist bei Furcht- und Angstgefühlen. So finden wir den Geist überall um uns herum, wenn wir nur gewöhnt sind, alles als Physiognomie des Geistes anzusehen. Das ist die Art und Weise, wie jeder zum Geiste gelangen kann. Oder man könnte sagen: Da sieht der Mensch durch den Schleier des Materiellen den Geist. Ist es aber auch möglich, den Geist unmittelbar zu sehen? Dazu gehört, daß der Mensch das Wort «Einweihung» ganz ernst nimmt. Goethe hat so viele für die Geisteswissenschaft wichtige Aussprüche getan, so zum Beispiel: «So bildet sich das Auge am Lichte fürs Licht.» Aus gleichgültigen Organen haben sich nach und nach die Augen des Menschen entwickelt. Die Gewißheit hat Goethe mit allen Geisteswissenschaftlern gemein, daß der Mensch auf eine lange, lange Entwickelung zurücksieht. Hätte es kein Licht gegeben, so würde es niemals Augen gegeben haben. Wie die Tiere in dunklen Höhlen das Augenlicht verlieren, so hat das Licht das Auge gebildet.

Ebenso wahr, wie ohne das Auge die Welt dunkel und finster für den Menschen ist, so wahr ist es auch, daß das Auge am Lichte für das Licht gebildet ist, daß es ohne das Licht keine Augen gäbe. Ebenso zaubern die Töne die Fähigkeit des Hörens, die Gerüche die Fähigkeit des Rie-

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chens heraus, und so weiter. So ist es in der Vergangenheit gewesen, und so ist es in bezug auf die physischen Organe des Menschen noch jetzt. So ist es aber auch für die geistigen Organe. Man kann erst von Licht und Farbe sprechen, wenn die Organe dazu da sind; aber das Licht ist schon lange vorher da. Ebenso ist es mit dem Geist. Er ist auch schon vorher da und ist geeignet, im Menschen die schlummernden geistigen Fähigkeiten zu wecken, die dann ebenso den Geist wahrnehmen, wie die Augen das Licht wahrnehmen. Der Geist bildet die geistigen Organe, wie das Licht die Augen. So kann der Mensch die geistigen Organe ausbilden, die vom Geist für den Geist gebildet werden.

Wenn uns etwas als die Physiognomie des Geistes erscheint, so können wir da in eine geistige Welt hineinwachsen, wenn wir die Geduld haben, uns zu entwickeln und zu bilden. So spricht die Geisteswissenschaft noch in einer anderen Art vom Geiste. Und ebenso, wie wir erfahren durch den Botaniker, den Physiker und so weiter, was sie über die Geheimnisse der physischen Welt ergründen, so gibt es und hat es immer gegeben eine Geisteswissenschaft. Nur wissen heute die Mehrzahl der Menschen nichts von den verborgenen Welten dieser Geisteswissenschaft. Zunächst wurde diese Wissenschaft gepflegt unbemerkt von der übrigen Welt, wurde gepflegt in den Mysterien. Heute muß die Geisteswissenschaft heraustreten und öffentlich verkünden, was sie zu sagen hat, wie die physische Wissenschaft ihre Resultate öffentlich verkündet. Wie die physische Wissenschaft aber äußere Werkzeuge gebraucht, so muß der Geistesforscher sich selbst ein Werkzeug sein. Solche Forscher hat es immer gegeben. Nur wer die Organe entwickelt, kann erzählen, wie es in der Geisteswelt ist. Wenn es aber ausgesprochen ist, so reicht der einfache, gesunde Menschenverstand aus, um es zu verstehen. Nur zur Forschung ist

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eine andere Entwickelung nötig. Nur ein Beispiel sei angegeben, wie durch intime Vorgänge geistige Entwickelung vor sich geht. Nicht tumultuarisch ist dieser Weg. Gar mancher wird ein Bürger der geistigen Welt, ohne daß seine Mitmenschen etwas davon ahnen. Aber weit, weit ist das Gebiet, das uns erkennen läßt, wie wir an uns arbeiten müssen, wenn wir einen Einblick gewinnen wollen in die geistige Welt. Ein Beispiel soll gegeben werden, wie intim dieses Arbeiten ist.

Es gibt drei Stufen der Erkenntnis: zunächst die Erkenntnis der physischen Welt, dann die Imagination, die aber nichts mit Phantastik zu tun hat; sie führt in einer gewissen Weise in die geistige Welt. Die dritte Stufe bilden die inspirierte und intuitive Welt. Die imaginative Erkenntnisstufe erlangt man dadurch, daß man die Geduld hat, lange, lange gewisse innere Übungen zu machen, die einen nicht abziehen von der äußeren Welt, sondern einen nur tüchtiger und praktischer machen. Aber zugleich führen sie hinein in die höheren Welten. Da ist zum Beispiel eine solche Anleitung des Lehrers an den Schüler: Sieh dir einmal eine Pflanze an. Sie wächst aus dem Boden heraus, entwickelt Blätter, Blüten, Früchte; sieh dir diese ganze Entwickelung der Pflanze an, wie sie Chlorophyll entwickelt, und so weiter. Die Pflanze kann ein Vorbild für den Menschen sein. Wie die Pflanze von dem grünen Farbstoff, so ist der Mensch vom roten Blute durchzogen. Obwohl die Pflanze auf einer niedereren Stufe steht als der Mensch, so hat sie doch etwas vor ihm voraus. Sie ist in ihrer Substanz, in ihrer Materie, im Chlorophyll, nicht durchsetzt von niederen Trieben, Begierden und Leidenschaften. Der Mensch ist nicht mehr keusch und rein, sondern er hat seine höhere Entwickelung damit zahlen müssen, daß er Triebe, Begierden und Leidenschaften in sich aufnahm. Der Ausdruck

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dafür ist das rote Blut. Stelle dir diese beiden nebeneinander vor, und dann denke an das Goethesche Wort, welches das Wort ist aller Geisteslehrer zu allen Zeiten:

Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und Werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

Das heißt, die von Begierden und Leidenschaften durchwühlte Substanz muß wieder geläutert und gereinigt werden, so daß sie über sich selbst gehoben, obwohl sie auf einer höheren Stufe steht, wieder keusch und rein wird. Das Blut muß wieder der Ausdruck sein dieser Keuschheit und Reinheit. Stelle dir vor die rote Rose, da hast du den keuschen Pflanzensaft vor dir rot. Freilich ist er da noch Pflanzensaft, aber du magst in dem roten Pflanzensaft etwas vor dir sehen, was dir sein kann wie die Morgenröte einer höheren Entwickelung des Menschen, dies dargestellt in einem Symbolum: Das schwarze Kreuz mit roten Rosen. Vertiefe dich in dieses Symbolum mit Ausschluß jeden anderen Gedankens, erlebe darin, wie die Menschen sich wieder hinaufentwickeln müssen zu der Reinheit des roten Rosenblattes. Erlebst du das, dann erlebst du eine erste Spur des Geistes.

So ist dies ein Bild, zu dem immer andere und andere gefügt werden. Diese Bilder sind dazu da, daß sie so im Innern der Seele die geistigen Organe hervorzaubern. Dann erfüllt sich für den Menschen das, daß er in der geistigen Welt alle Ruhe und Hilfe findet. Deshalb ist die Geisteswissenschaft von so ungeheurer Bedeutung auch für die äußere Welt. Wahr ist es, was Novalis sagt: Der Mensch ist das vollkommenste Werkzeug; wenn er es nur sein will. Und: Der Mensch lebt in einer geistigen Welt, die er wahr-

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nehmen kann, wenn er nur elastisch genug ist, die nötigen Organe in sich zu entwickeln. Und wahr ist es, was Goethe den Faust sagen läßt:

Die Geisterwelt ist nicht verschlossen;
Dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot!
Auf, bade, Schüler, unverdrossen
Die irdsche Brust im Morgenrot!

So sprach einer, der aus Geistesorganen heraus den Geist erkannt hatte, und so sprach er, als er das Motto aufstellen wollte für alle Geistesforscher.

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GOETHES GEHEIME OFFENBARUNG EXOTERISCH Berlin, 22. Oktober 1908

Wer die geistige Entwickelungsgeschichte der Menschheit nicht nur nach den gewöhnlich üblichen Dokumenten und Traditionen verfolgt, sondern ein wenig tiefer geht, indem er sich auf manches einläßt, was vielleicht zunächst nur symptomatisch erscheinen könnte für die Menschheitsentwickelung, was aber doch intensiv hineinweist in die inneren und daher wahren Entwicklungskräfte, der wird eine denkwürdige Szene in der neueren Geistesgeschichte immer wieder und wieder bedeutungsvoll finden, eine Szene, die sich in den neunziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts in Jena zugetragen hat.

Dazumal wurde in der Naturforschenden Gesellschaft in Jena von einem damals sehr bedeutenden Botaniker, na­mens Batsch, ein Vortrag gehalten, der durchaus auf der Höhe der damaligen Wissenschaftlichkeit stand. Zwei Män­ner, ein jüngerer und ein um zehn Jahre älterer, hörten sich diesen Vortrag an, und es trug sich zu, daß sie gleichzeitig aus dem Vortrag hinweggingen und miteinander ins Ge­spräch kamen. Der jüngere der beiden Männer sagte dabei zu dem älteren: Wenn man einen solchen Vortrag auf sich wirken läßt, so zeigt es sich doch immer wieder, wie die wissenschaftliche Betrachtungsweise die Dinge zerpflückt, wie sie das eine neben das andere hinstellt und das einheit­liche geistige Band, das in all' den verschiedenen Einzel­heiten lebt, so wenig berücksichtigt. - Es widerstrebte sozusagen

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dem jüngeren Mann, daß da Pflanze an Pflanze hingestellt wurde, ohne Hinweis auf das, was als ein Hö­heres, die verschiedenen Pflanzen Verbindendes, doch auch in der Welt leben muß. Der ältere der beiden Männer sagte darauf, es könne sich vielleicht doch auch eine Betrachtungs­weise der Natur finden, die nicht so zu Werke geht, und die, trotzdem sie eine Erkenntnis ist, eine Betrachtung, die zur Erkenntnis führen muß, sehr wohl auf das Einheitliche geht, auf das, was getrennt ist in den für die verschiedenen Sinne äußerlichen Betrachtungen. - Der Mann nahm einen Bleistift und ein Stück Papier aus seiner Tasche und zeich­nete sogleich ein merkwürdiges Gebilde, ein Gebilde, wel­ches einer Pflanze ähnlich sah, aber keiner der lebenden Pflanzen, die man mit den äußeren physischen Sinnen sehen oder wahrnehmen kann, ein Gebilde, das sozusagen nir­gends einzeln verwirklicht ist, und von dem er sagte, daß es zwar in keiner einzelnen Pflanze lebe, aber die Pflanzen­heit, die Urpflanze in allen Pflanzen sei und das Verbin­dende ausmache. - Der jüngere Mann sah sich das an und sagte darauf: «Ja, was Sie da aufzeichnen, ist aber keine Erfahrung, das ist keine Beobachtung, das ist eine Idee» -und er hatte dabei im Sinne, daß solche Ideen nur der menschliche Geist ausbilden könne, und daß eine solche Idee keine Bedeutung habe für das, was draußen in der sogenannten objektiven Natur lebt. Der ältere der beiden Männer konnte diesen Einwand gar nicht recht verstehen, denn er erwiderte: Wenn das eine Idee ist, dann sehe ich meine Ideen mit Augen! Er meinte, daß in genau demselben Sinne, wie die einzelne Pflanze für den äußeren Sinn des Auges sichtbar ist, eine Erfahrung ist, so sei seine Urpflanze, obgleich sie nicht durch einen äußeren Sinn gesehen werden kann, ein Objektives, ein in der äußeren Welt Bestehendes, eben das, was in allen Pflanzen lebt, die Urpflanze in allen

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einzelnen Pflanzen. - Sie wissen, daß der jüngere der beiden Männer Schiller, der ältere Goethe war.

Dieses Gespräch ist eine symptomatische, bedeutungs­volle Kundgebung der neueren Geisteswissenschaft. Was sprach dazumal eigentlich in Goethe bei seiner Erwiderung gegenüber Schiller? In Goethe sprach das Bewußtsein, daß man nicht nur mit jener Vorstellung, die der äußere Sinn gibt, und die der beschränkte Verstand aus den äußeren Sinneswahrnehmungen gewahrt, ein äußeres Objektives, ein äußeres Wahres erfaßt, sondern daß der Mensch dann, wenn er höhere Geisteskräfte in Bewegung setzt, welche sich nicht an einzelne Sinnesbeobachtungen wenden, ebenso zu einem Wahren, zu einem Wirklichen gelangt, wie man zu einem Wahren, Wirklichen durch die äußere Sinneswahr­nehmung kommt.

Man darf wohl sagen, daß Schiller, der in jenem Augen­blicke noch nicht einsehen konnte, was dahinter war, und der glaubte, es seien Subjektivitäten, die ihm Goethe vor­gezeichnet hatte, das schönste Dokument geliefert hat dafür, wie sich der Mensch bis zu der Höhe hinaufranken kann, die ihm von Goethe gezeigt wurde. Von jenem Zeitpunkte an sehen wir Schiller den Goetheschen Ideen immer mehr Verständnis entgegenbringen. Ein psychologisches Doku­ment allerersten Ranges ist ein Brief Schillers, der da sagt:

«Lange schon habe ich, obgleich aus ziemlicher Ferne, dem Gang Ihres Geistes zugesehen und den Weg, den Sie sich vorgezeichnet haben, mit immer erneuerter Bewunderung bemerkt. Sie suchen das Notwendige der Natur, aber Sie suchen es auf dem schweresten Wege, vor welchem jede schwächere Kraft sich wohl hüten wird. Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das einzelne Licht zu bekommen; in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen Sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf. Von der

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einfachen Organisation steigen Sie, Schritt vor Schritt, zu den mehr verwickelten hinauf, um endlich die verwickeltste von allen, den Menschen, genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen. Dadurch, daß Sie ihn der Natur gleichsam nacherschaffen, suchen Sie in seine verborgene Technik einzudringen. Eine große und wahr­haft heldenmäßige Idee, die zur Genüge zeigt, wie sehr Ihr Geist das reiche Ganze seiner Vorstellungen in einer schö­nen Einheit zusammenhält!»

So dürfen wir, als ein Dokument für die Objektivität der Ideenwelt Goethes, das ansehen, was in Goethes Bewußt­sein zu solcher Antwort führte, und was Schiller später durch diesen Brief bestätigte.

Sehr merkwürdig: Ein Psychologe, der in den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts lebte und heute ver­gessen ist, Heinroth, hat in seiner «Anthropologie», die eigentlich eine Psychologie ist, ein sehr bedeutsames Wort über Goethe gesprochen, ein Wort, das zu jenen gehört, die durch ihre Wendung gerade methodisch bedeutsam sind und tief hineinleuchten in das, was sie beleuchten sollen. Er gebrauchte für Goethes ganze Anschauungsweise das Wort «Gegenständliches Denken», und er erläuterte dieses Wort, indem er sagte: Goethes Denken ist ein ganz eigenartiges Denken, das sich eigentlich nicht von dem Objektiven der Gegenstände trennt, das ruhig in den Gegenständen lebt, in denen es sich bis zu den Ideen erhebt.

Wer nun tiefer in Goethes ganze Geistesorganisation hineinzublicken vermag, wie wir es heute und übermorgen tun werden, wo wir versuchen wollen, noch tiefer in dieses Thema hineinzudringen, wo wir mehr innerlich betrachten werden, was heute äußerlich vor uns hingestellt werden soll, der wird sehen, daß er in diesem Denken in einer ge­wissen Weise, ohne auf der Oberfläche der Dinge und an

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der Sinneserfahrung haften zu bleiben, doch bei den Tat­sachen bleibt, und innerhalb derselben das Geistige, die Ideenwelt findet. Wir sehen, daß Goethes Denken gerade in dieser Art für einen großen Teil unserer modernen Menschheitsentwickelung so bedeutsam geworden ist. Wir dürfen sagen, es ist etwas höchst Eigenartiges mit dieser Wirkung des Goetheschen Geistes auf die verschiedensten Menschen, auf die verschiedensten Anschauungen, ja, auf die verschiedenen aufeinander folgenden Epochen.

Betrachten wir einmal, um was es sich hier eigentlich handelt, und wir werden sehen, wie eigenartig Goethes Geistesart tatsächlich gewirkt hat. Wenn wir zum Beispiel die drei Philosophen des deutschen Geisteslebens vor unsere Seele treten lassen, die im Grunde genommen, ihrer gan­zen Anschauungsweise nach, sehr verschieden sind: Fichte, Hegel, Schopenhauer, so ergibt sich uns aus der Betrachtung ihres gegenseitigen Verhältnisses, aus der Betrachtung des Zusammenhanges in ihren Verhältnissen zu Goethe etwas ganz Eigenartiges über die welthistorische Wirkung der Goetheschen Geistesart.

Fichte erweist sich als ein in abgezogenen Höhen schwe­bender Denker, und ganz besonders war er in abgezogenen Höhen schwebend, als er im Jahre 1794 seine Grundzüge der Wissenschaftslehre in Jena beendet hatte. Es ist schwer, sich zum Verständnis der Fichteschen Eigenart zu erheben, es ist schwer, ihn zu durchdringen, obwohl niemand, der in ihn eindringt, sich nicht sagen müßte, daß er ungeheure Früchte für seine Geistesdisziplin aus ihm schöpfte. Aber es ist nicht jedermanns Sache, in solche Sphären des reinsten Begriffes hinaufzuwandern. Dieser Fichte, der in solch ab­strakten Höhen wandelte, besonders damals, schickte seine «Wissenschaftslehre» mit folgenden bedeutungsvollen Wor­ten an Goethe: «Ich betrachte Sie, und habe Sie immer betrachtet

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als den Repräsentanten der reinsten Geistigkeit des Gefühls auf der gegenwärtig errungenen Stufe der Hu­manität. An Sie wendet mit Recht sich die Philosophie. Ihr Gefühl ist derselben Probierstein.» So Fichte zu Goethe.

Sehen wir jetzt auf einen anderen Philosophen, auf Schopenhauer, und sehen wir zuerst, wie Schopenhauer zu Fichte stand. Wahrhaft feindliche Brüder waren sie, wenig­stens war Schopenhauer ein recht feindlicher Bruder zu Fichte. Schopenhauer wird nicht müde, in geradezu Schimpf-worten sich über Fichte zu ergehen. Ein Windbeutel ist er ihm, der in leeren Begriffen gesonnen und geschrieben hat. Immer wieder kommt er darauf zurück, die Wesenlosigkeit, Bedeutungslosigkeit und Unrealität der Fichteschen Philo­sophie zu betonen. Wahrlich, es kann keine größeren Ge­gensätze geben, als Schopenhauer und Fichte. Und Scho­penhauer ging wahrhaftig zu Goethe in die Lehre. Eine Zeitlang hindurch hat er zusammen mit Goethe experimen­tiert, um sich die physikalischen Grundbegriffe klarzuma­chen, und manches, was in Schopenhauers erstem Werke und auch in seinem Hauptwerke steht, ist hervorgegangen aus dem Eindrucke, den Goethe auf ihn gemacht hat. Wer Schopenhauer kennt, weiß aber auch, wie hingebungsvoll er von Goethe sprach. Schopenhauer und Fichte, zwei große Gegensätze, in Goethe vereinigen sie sich und er erscheint wie die vereinigende Kraft der beiden.

Nehmen wir endlich Hegel und Schopenhauer! Auch Hegel ist schwierig mit dem Verständnis zu erreichen. Er, der versucht, sich eine Tatsachenwelt der Begriffe in einer umfassenden, systematischen Organik zu verschaffen, ver­langt, daß der Mensch sich auf eine Stufe erhebt, wo er den Begriff als Tatsache erfaßt, wo er fähig wird, ihn erleben zu können. Schopenhauer findet auch in dieser Begriffs-technik etwas völlig Wertloses; alles sei ein Spiel mit abstrakten

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Worten. Und wenn wir uns nun wieder das Ver­hältnis von Hegel zu Goethe vergegenwärtigen wollen, so brauchen wir nur eines zu nennen und wir werden sehen, wie Hegel zu Goethe steht. Einen schönen Brief gibt es, worin Hegel schreibt: Goethe sucht nach den tatsächlichen, geistigen Phänomenen, die hinter den sinnlichen stehen, die Goethe die Urphänomene nennt, wie er die Urpflanze das Urphänomen der Pflanzenwelt nennt. - Während Hegel als Philosoph aus der Höhe der geistigen Welt spricht und uns zeigt, was wir denken und begreifen können, arbeitet er sich auf der anderen Seite hinauf bis zu dem Punkte, wo er mit den aus dem Geiste geschöpften Begriffen in Berüh­rung kommt. So vereinigt sich Goethes Urphänomen mit dem, was die reine, denkende Philosophie von oben erfaßt. Auch hier sehen wir eine Harmonie zwischen Hegel und Goethe wie zwischen Goethe und Schopenhauer. In Goethe finden sie sich zusammen. Und wenn wir von diesen älteren Zeiten in unsere Zeiten heraufgehen, was finden wir da?

In jener Zeit, in der Goethe selber gelebt hat, hat sozusagen das naturwissenschaftliche Forschen noch eine ganz andere Physiognomie gehabt. Noch mehr, als es zu Goethes Zeiten der Fall war, betrachtet man heute als die einzig richtige Methode der strengen Wissenschaft die Forschung, die sich auf die äußere Sinnesbeobachtung stützt, und das reinliche Herausarbeiten dessen, was der Verstand, der sich auf die Beobachtung beschränkt, aus den so gewonnenen Resultaten machen kann. Aber auch ein Haed'el will, wie er in jedem Buche wieder betont, auf dem festen Boden gerade Goethe­scher Weltanschauung stehen, und so sehen wir eine mehr materialistisch gefärbte Weltanschauung geradezu Wert darauf legen, an Goethe sich anzulehnen. Sie können aber auch heute noch Schriften finden, die auf einem Boden ste­hen, für den der Geist eine absolute Realität im eminentesten

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Sinne des Wortes ist, und auch bei ihnen können Sie die Berufung auf Goethe bemerken. Feindlich können sich spiritualistische und materialistische Forscher gegenüber­stehen, beide glauben sie aber in gleicher Art zu Goethe aufschauen zu können. So bietet er auch da etwas, was Gegensätze überbrückt.

Diese Tatsachen bezeugen die Kraft der Goetheschen Weltanschauung, die Kraft, die so auf die andern wirkt, daß das, was sich gegenseitig nicht versteht, bei Goethe etwas findet, was es selbst besitzt. Vielleicht wissen einige von Ihnen, in welchem Gegensatze Virchow und Haeckel sich befanden. Aber auch Virchow, der in so wenig Dingen mit Haeckel übereinstimmt, hat sich in einem bedeutungs­vollen Vortrag über Goethe ebenfalls an Goethe angelehnt. Wir haben also in Goethe eine Kraft, die gegenüber den Gegensätzen, dem Kampfe der Weltanschauungen, das in ihnen Gemeinsame bei sich anklingen zu lassen vermag, eine Kraft, die in der Lage ist, zu zeigen, daß es im Grunde genommen bei den Weltanschauungen nicht so ist, wie diese Vertreter der Wissenschaft behaupten und so beharrlich verfechten.

Gerade wenn man das Verhältnis dieser bedeutenden Menschen zu Goethe betrachtet, wird man zu der Erkennt­nis kommen, daß mit dem, was die Menschen Erkenntnis nennen, es sich verhält wie mit den verschiedenen Malern, die um einen Berg herumsitzen, ihn anblicken und von den verschiedensten Standpunkten aus ihn malen. Die Bilder, die sie da bekommen, müssen natürlich sehr verschieden sein, und doch war es derselbe Berg, den sie malten. Eine umfassende Vorstellung von dem Berge wird man nur be­kommen können, wenn man die verschiedenen Darstellun­gen miteinander vergleicht und sie zu einem Ganzen zu-sammenfügt. Wenn man sich so zu den Erkenntnissen stellt,

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dann wird man sehen, daß Goethe sich nicht einen einzel­nen Gesichtspunkt wählt, sondern den Berg hinansteigt und zeigt, daß es eine Möglichkeit gibt, den Standpunkt auf dem Bergesgipfel einzunehmen und dort ein umfassendes Panorama zu finden, wo alle Anschauungen in ihrer tieferen Verträglichkeit sich zeigen.

Das ist es aber auch, was Goethe zu einem so eminent modernen Geiste macht, und wenn wir bei einem rückhalt­losen Eingehen auf Goethe das Gefühl erhalten, daß er uns als ein moderner Geist erscheint, dann wird es von selbst schon eine Rechtfertigung sein, wenn wir in den hier oft angestellten Betrachtungen über die Geisteswissenschaft und eine vom Geistigen ausgehende Weltanschauung das, was er machte und wollte, als eine Art von Anleitung betrach­ten, tiefer in sein Wesen einzudringen. Wenn er in so vielen Beziehungen ein anregender Geist ist, warum sollte er da nicht auch ein anregender Geist sein für diejenige Geistes­strömung, die als eines ihrer höchsten und schönsten Ziele das tolerante Eindringen in die verschiedenen Standpunkte der Weltanschauungen hat, und die sich zum Prinzip macht, nicht auf einem einmal fixierten Standpunkte stehen zu bleiben, sondern, um Wahrheit zu finden, immer höher und höher zu steigen durch Methoden, die man auf seine innere Entwickelung, auf die Heranbildung innerer Wahrneh­mungsorgane anzuwenden hat, weil man dadurch, daß man sich seine inneren Organe heranzüchtet, erst dazu kommt, die tieferen geistigen Grundlagen zu sehen.

Inwiefern Goethe auf einem eng begrenzten Gebiete die tiefsten Gefühle auch der heutigen Menschheit trifft, wollen wir jetzt noch betrachten. Beispielsweise sei ein Gefühl ge­wählt, das viele von Ihnen kennen, ein Gefühl, das man mit den Worten charakterisieren könnte, daß es in unserer Zeit Menschen gibt, die danach streben, manche alte Tradition

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über Bord zu werfen und sich Gefühle, Gedanken und Vorstellungen zu schaffen, die in die unmittelbare Ge­genwart hineinführen. Sie werden sogleich sehen, was ich meine, wenn ich Sie an ein Bild erinnere, das vielen in unserer Zeit wert geworden ist. Man mag zu dem Bilde stehen, wie man will, aber es ist ein Ausdruck der moder­nen Zeit. Ich meine das Bild: «Komm, Herr Jesus, sei unser Gast...» Das Bild lebt nicht nur bei dem, der es geschaffen hat, sondern auch in denen, die es genießen wollen; es lebt in ihnen die Sehnsucht, die Gestalt des Jesus in der un­mittelbaren Gegenwart zu sehen, wie sie sich hinstellt an den Tisch. Man könnte sagen, daß das Bild nicht nur Wert für diese Zeit hat, sondern für alle Zeiten, daß es ein ewiges, unvergängliches Dasein hat, und daß jede Zeit das Recht hat, diese Gestalt in ihre eigene Epoche hinein-zustellen. Nur mit diesen wenigen Worten sei das Gefühl angedeutet, das viele gegenüber diesem Bilde haben.

Nun könnte man glauben, Goethe gehöre in dieser Be­ziehung noch zu den Alten. Man leitet das ja her aus seiner Vorliebe zu der alten Kunst, die an den alten, guten, künst­lerischen Traditionen festhalten wollte, aus seiner Vorliebe zu den Griechen. Man könnte glauben, Goethe hätte viel­leicht kein tieferes Verständnis für eine Empfindung, wie sie in dem Bilde charakterisiert ist: «Komm, Herr Jesus, sei unser Gast.» Um da einmal einen Blick in Goethes Seele zu tun, wollen wir uns an ein Buch anlehnen, an Bossis Buch über Lionardo da Vincis Abendmahl. Goethe schrieb eine Rezension über dieses Buch. Darin stehen bedeutungsvolle Worte. Von diesem Bilde, das sich im Speisesaale des Klo­sters Santa Maria delle Grazie in Mailand befindet, und das trotz der in letzter Zeit vorgenommenen Restauration den Eindruck macht, als wenn es dem Verfall entgegenginge, von diesem Bilde erzählt Goethe, wie er selbst einmal

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demselben gegenübergestanden habe zu einer Zeit, als es noch in einer gewissen Frische erhalten war. Und er schil­dert den Eindruck, den er einst von diesem Bilde in seiner Jugend bekommen habe: «Dem Eingang an der schmalen Seite gegenüber, im Grunde des Saals, stand die Tafel des Priors, zu beiden Seiten die Mönchstische, sämtlich auf einer Stufe vom Boden erhöht; und nun, wenn der Hereintre­tende sich umkehrte, sah er an der vierten Wand über den nicht allzuhohen Türen den vierten Tisch gemalt, an demsel­ben Christus und seine Jünger, eben als wenn sie zur Gesell­schaft gehörten» - Ihn, der von den Dominikanern in ihrem Sinne, ihrer Stellung mit der Empfindung aufgerufen wor­den ist: «Komm, Herr Jesus, sei unser Gast». Es schließe sich, sagt Goethe, das Ganze zu einem einheitlichen Bilde zusammen. Und um gar keinen Zweifel daran zu lassen, was er eigentlich meinte, sagte er noch: «Es muß zur Speisestunde ein bedeutender Anblick gewesen sein, wenn die Tische des Priors und Christi, als zwei Gegenbilder, auf­einanderblickten und die Mönche an ihren Tafeln sich da­zwischen eingeschlossen fanden. Und eben deshalb mußte die Weisheit des Malers die vorhandenen Mönchstische zum Vorbilde nehmen. Auch ist gewiß das Tischtuch mit seinen gequetschten Falten, gemusterten Streifen und aufgeknüpf­ten Zipfeln aus der Waschkammer des Klosters genommen, Schüsseln, Teller, Becher und sonstiges Geräte gleichfalls denjenigen nachgeahmt, der sich die Mönche bedienten. Hier war also keineswegs die Rede von Annäherung an ein unsicheres, veraltetes Kostüm. Höchst ungeschickt wäre es gewesen, an diesem Orte die heilige Gesellschaft auf Polster auszustrecken. Nein, sie sollte der Gegenwart angenähert werden, Christus sollte sein Abendmahl bei den Domini­kanern zu Mailand einnehmen.»

Und nun fragen wir: Hatte Goethe gerade dieses Verständnis,

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das man ein modernes Verständnis nennen muß? Er hatte es in jenem umfassenden Stile, der uns wieder ein Beweis dafür sein kann, wie universell seine Kraft ist gegen­über den manchmal einseitigen Kräften, die sich gegenseitig ausschließen und bekämpfen. So müssen wir uns hinein­versetzen in Goethes Seele und wir werden dann begreifen, warum Goethe uns ein so Nahstehender sein kann, und warum wir zu ihm hinaufschauen dürfen, wenn es sich um die vorläufige Orientierung über tiefere Geistesfragen han­delt. Das war Goethes tiefes Bewußtsein, daß es möglich ist für den Menschen, in sich geistige Organe zu erwecken, um hinaufzusteigen zu höheren Anschauungen und dadurch etwas zu gewinnen, was nicht bloß im Geiste des Menschen lebt, sondern was zu gleicher Zeit tiefer liegt.

Wenn hier die Möglichkeit wäre, auf Goethes natur­wissenschaftliche Studien einzugehen, wie Sie dieselben in meinem Buche «Goethes Weltanschauung» ausführlich be­sprochen finden, so könnten wir zeigen, wie diese ganze Goethesche Methode wirkt. Aber wir wollen uns heute Goethe von einer anderen Richtung her nähern. Goethe hatte mancherlei zum Ausdrucke gebracht, was uns auf die tiefe Grundlage seiner Weltanschauung hinweisen kann. Wir werden darüber in den zwei Vorträgen dieses Winter­zyklus über Goethes «Faust» zu sprechen haben. Über ihn sagte er einmal zu Eckermann, daß er ihn so gestaltet habe, daß der Leser, wenn er sich nur an äußere Belehrungen hal­ten will, schon in den bunten Bildern etwas hat; daß er aber auch hinter den Worten die Geheimnisse finden kann, die sich darin befinden. Da weist Goethe in dem zweiten Teil darauf hin, daß zu unterscheiden ist das, was das Außere, und das, was das Innere, das Wesen ist, das, was er hinein­geheimnißt hat. Nach alter Weise bezeichnet man das Äußere als das Exoterische, das Innere als das Esoterische.

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Nun wollen wir uns Goethe dadurch nähern, daß wir das Werk, in dem er sein ganzes methodisches Denken und Wollen zum Ausdruck gebracht hat, heute in einer äußer­lichen, exoterischen Weise, und übermorgen dann in einer innerlichen, esoterischen Weise betrachten. Ein verhältnis­mäßig unbekanntes Werkchen von Goethe ist es, an das man sich halten muß, wenn man Goethes tiefste Erkennt­nisgeheimnisse - so darf das, um was es sich hier handelt, wohl genannt werden - durchschauen will. Es ist das Werk­chen, das am Ende der «Unterhaltungen deutscher Aus­gewanderter» unter der Überschrift: «Märchen» steht, und bei dessen Lektüre der, welcher danach strebt, in Goethes Weltanschauung tiefer einzudringen, von Anfang an die Empfindung haben wird, daß Goethe damit mehr sagen will, als was die Bilder zunächst darbieten. Rätsel über Rätsel wird dem sinnenden Betrachter dieses «Märchen» von der grünen Schlange und der schönen Lilie vorlegen.

Und nun gestatten Sie mir, daß ich die hauptsächlichsten Züge dieses Märchens zunächst hier auseinandersetze, denn es ist nicht möglich, über das Märchen zu sprechen, ohne daß wir uns wenigstens diejenigen Züge vor die Seele führen, welche von Wichtigkeit sind, wenn wir einen tie­feren Blick in Goethes Weltanschauung werfen wollen. Es wird also notwendig sein, daß wir einige Zeit dem Inhalte dieses Werkchens widmen; aber dafür werden wir uns auch dann in bezug auf das, was wir zu sagen haben, um so besser verstehen. Es ist mir immer wieder passiert, wenn ich einen Vortrag über dieses Märchen gehalten habe, daß man mir sagte: «Ich weiß nichts davon, daß in Goethes Werken ein Märchen steht.» Ich wiederhole deshalb: es ist in jeder Goetheausgabe enthalten und bildet den Schluß der «Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter».

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Nun zu den Bildern! An einem Flusse wohnt ein Fähr­mann. Zu diesem Fährmann kommen merkwürdige Ge­stalten: Irrlichter. Sie wollen von dem Fährmann in dem Kahne an das andere Ufer des Flusses hinübergesetzt wer­den. Der Fährmann geht darauf ein und setzt sie über den Fluß hinüber. Sie betragen sich dabei sonderbar, sind un­ruhig und zappelig, so daß er Angst bekommt, sie könnten ihm den Kahn umwerfen. Er führt sie aber glücklich hin­über, und als sie angelangt sind, wollen sie ihn in eigen­artiger Art bezahlen. Sie schütteln sich und es fallen Goldstücke von ihnen ab; das soll der Lohn sein für die Mühe des Übersetzens. Der Fährmann ist wenig erbaut von den Goldstücken und sagt: Es ist gut, daß nichts in den Fluß gefallen ist, denn er würde wild aufwallen. Ich kann diese Bezahlung aber nicht annehmen, ich kann nur mit Früchten der Natur bezahlt werden. - Und er verlangt drei Zwie­beln, drei Artischocken, drei Kohlköpfe. Mit Früchten soll­ten sie also bezahlen. Wir werden gleich sehen, welche tiefe Bedeutung jeder Zug und jede einzelne Tatsache hat.

Nun sagt der Fährmann weiter: So macht ihr mir noch die Mühe, daß ich das, was ihr als Goldstücke herumgewor­fen habt, den Fluß hinunterführen und begraben muß. -Darauf führt er die Goldstücke tatsächlich ein Stück den Fluß hinunter und vergräbt sie in den Klüften der Erde. Als sie da hinein vergraben worden sind, kommt ein merk­würdiges anderes Wesen an diese Goldstücke heran: die grüne Schlange, die in und auf der Erde herum und durch die Klüfte der Erde hindurchkriecht. Plötzlich sieht sie durch die Spalten der Erde die Goldstücke hereinfallen. Zunächst glaubt sie, daß sie vom Himmel hereinfallen. Sie verzehrt sie aber dann und wird durch die Aufnahme dieser Goldstücke in den eigenen Leib immer leuchtender. Als sie aber an die Oberfläche geht, merkt sie, daß sie in wunderbarer

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Weise ein eigenartiges Licht ausstrahlt, leuchtend wie Smaragd und Edelstein.

Nun treffen die Schlange und die Irrlichter zusammen, die Irrlichter immer noch sich schüttelnd und wegwerfend, was sie in sich haben. Die Schlange, die jetzt Geschmack an dem Golde bekommen hat, nimmt in ihren eigenen Leib auf und verarbeitet, was die Irrlichter um sich werfen. Be­deutsames sagen sich die Schlange und die Irrlichter über ihr gegenseitiges Verhältnis. Die Schlange nennt sich Ver­wandte der Irrlichter von der horizontalen Linie und die Irrlichter sich Verwandte der Schlange von der vertikalen Linie. Die Irrlichter fragen noch die Schlange, ob diese nicht Auskunft geben könne, wie sie zur schönen Lilie kommen könnten. Da sagt die Schlange: Die schöne Lilie ist jenseits des Flusses. - Nun, dann haben wir uns etwas Schönes ein­gebrockt! antworten die Irrlichter. Wir haben uns herüber-fahren lassen, weil wir zur schönen Lilie kommen wollten. Könnten wir nur einen Fährmann erreichen, der uns wieder zurückführt! Und nun kommen bedeutungsvolle Worte: Ihr werdet den Fährmann nicht wiederfinden, und wenn ihr ihn fändet, seid euch klar darüber, daß er euch wohl herüber, aber nicht mehr zurückführen darf. Wenn ihr wie­der auf die andere Seite des Flusses zurück wollt, so könnt ihr es nur auf zweierlei Weise. Entweder ihr versucht am Mittag, wo die Sonne am höchsten steht, eine Brücke zu finden über meinen eigenen Leib, um hinüber zu kommen. - Die Irrlichter sagen: Die Mittagsstunde ist eine Zeit, in der wir nicht gerne reisen. - Oder ihr benützt den zweiten Weg. Es giht nämlich noch eine andere Möglichkeit. In der Dämmerstunde findet ihr an einer bestimmten Stelle den großen Riesen. Er hat gar keine Kraft in sich, aber wenn er seine Hand ausstreckt und der Schatten dieser Hand über den Fluß hinüberfällt, so kann man über den Schatten hinweg

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den Fluß überschreiten. Der Schatten hat die Trag­kraft, daß man hinübergehen kann. Wenn ihr also nicht über mich selber gehen wollt zur Mittagsstunde, so suchet den Riesen auf. - Die Irrlichter lassen sich das gesagt sein. Die Schlange aber ist wieder in die Klüfte der Erde zurück­gegangen und freut sich des innerlichen Leuchtend-Werdens durch Aufnahme des Goldes.

Nun bemerkt die Schlange etwas höchst Merkwürdiges. Als sie die Klüfte wieder absucht, bemerkt sie, daß sie da, wo sie früher unregelmäßige Naturprodukte gefunden hatte, jetzt an einer Stelle merkwürdige Gebilde sieht. Frü­her hat sie sie nur durch den Tastsinn wahrgenommen, jetzt, wo sie leuchtend ist, merkt sie, daß sie die Dinge auch sehen kann. Sie konnte Säulen und auch menschenähnliche Gebilde abtasten, aber es war ihr bis dahin nie klargewor­den, was da in den unterirdischen Klüften eigentlich ist. Jetzt bewegt sie sich wieder hinein und das von ihr aus­strahlende Licht dient ihr zur Beleuchtung der Dinge.

Als sie hineindringt in diese große Höhle unter der Erde, kann sie sogleich wahrnehmen, wie in den vier Ecken vier königliche Gestalten stehen: ein goldener König, ein silber­ner König, ein eherner König und in der vierten Ecke ein gemischter König, eine Gestalt, welche aus den anderen Metallen in der buntesten Weise zusammengefügt ist, so daß in ihm alle möglichen Metalle chaotisch ineinander-gefügt sind.

In dem Augenblicke, wo die Schlange in die Höhle hineinkommt und ihr die Beleuchtung der Gestalten ge­lingt, stellt der goldene König die sehr bedeutungsvolle Frage:

«Wo kommst du her?»
«Aus den Klüften», versetzte die Schlange, «in denen das Gold wohnt.»

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«Was ist herrlicher als Gold?» fragte der König.
Die Schlange antwortet: «Das Licht!»
Und der König fragt weiter: «Was ist erquicklicher als Licht?»
«Das Gespräch.»

Niemand wird bezweifeln, daß in diesen Worten nicht bloß Bilder gegeben werden sollen, sondern daß sie auch einen bedeutungsvollen Inhalt haben.

Als die Schlange hineinkommt in die Höhle, öffnet sich ein Spalt an dem Tempel, in dem die vier Könige wohnen. Es kommt der Alte mit der Lampe in den Raum, und er wird gefragt, warum er gerade jetzt komme? Da sagt er das merkwürdige Wort: Wißt Ihr nicht, daß mein Licht nur er­leuchten darf, was schon erleuchtet ist? daß ich das Dunkle nicht erleuchten darf? - Nachdem die Schlange die Dinge im Raume erleuchtet hat, darf nun auch er mit seiner wun­derwirkenden Lampe kommen.

Jetzt entspinnt sich aufs neue ein Gespräch zwischen den Königen und dem Alten mit der Lampe. Der Alte wird gefragt:

«Wie viele Geheimnisse weißt Du?»
«Drei», antwortet er.
«Welches ist das wichtigste?» fragt der silberne König.
«Das offenbare», versetzt der Alte.
«Willst du es auch uns eröffnen?» fragt der eherne König.
«Sobald ich das vierte weiß.»

Und nun kommen die allerbedeutsamsten Worte des Märchens: «Ich weiß das vierte», sagt die Schlange und zischelt ihm etwas in das Ohr, worauf der Alte mit gewal­tiger Stimme ruft: «Es ist an der Zeit!»

Es gibt eine große Anzahl von Versuchen, die Rätsel dieses Märchens zu lösen. Viele haben auch versucht, das, was man schon zu Schillers und Goethes Zeiten als Rätsel

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empfand, so oder so zu deuten. Es ist eigenartig, daß Goethe und Schiller sich darüber einig waren und es aus­drücklich mit den Worten aussprachen: Es liegt das Wort der Lösung für das Märchen im Märchen selber. Also darf man nach des Märchens Lösung nur im Märchen selber suchen, und es wird sich im weiteren Verlauf des Vortrages auch finden, daß das Wort des Rätsels, wenn auch in eigen­artiger Weise, in dem Märchen drinnen ist. Die Schlange zischelt dem Alten etwas ins Ohr, und das, was sie ihm ins Ohr zischelt, was aber nicht gesagt wird, das ist die Lösung des Rätsels. Dann sagt der Alte: «Es ist an der Zeit!» Was also ergründet werden muß, das ist, was die Schlange im unterirdischen Tempel dem Alten ins Ohr geraunt hat.

Der Alte geht nun mit seiner Lampe dahin, wo seine Gattin wohnt. Durch die Kraft des Lichtes der Lampe wer­den die verschiedensten Materien verwandelt: Steine in Gold, Holz in Silber, tote Tiere in Edelsteine, Metalle aber werden vernichtet. Er trifft seine Gattin in geradezu fassungslosem Zustande. Als er fragt, was passiert sei, sagt sie: Es waren ganz merkwürdige Persönlichkeiten da. Man hätte sie für. Irrlichter halten können. Die sind sehr wenig in den Grenzen des Anstandes geblieben. - Nun, meint der Alte, bei deinem Alter wird es wohl bei der allgemeinen Höflichkeit geblieben sein. - Und nun erzählt sie, wie die Irrlichter sich an das Gold herangemacht und es abgeleckt haben, damit sie es wieder abschütteln könnten. Wenn es nur noch das wäre, aber sieh dir mal den Mops an. Der hat von den Goldstücken gefressen, wurde in Edelstein ver­wandelt und starb. Jetzt ist er tot. - Und die Alte sagt weiter: Wenn ich das vorher gewußt hätte, so würde ich ihnen nicht versprochen haben, daß ich ihre Schuld bei dem Fährmann abzahlen werde. Das sind: drei Kohlhäupter, drei Zwiebeln und drei Artischocken.

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Nun, sagte der Alte, nimm doch den Mops mit, trage ihn zur schönen Lilie hin, die hat die Eigenschaft, daß sie alles, was Edelstein ist, durch ihre Berührung in Lebendiges ver­wandeln kann. - Sie nimmt also die drei mal drei Früchte, um die übernommene Schuld bei dem Fährmann abzutra­gen, und legt den Mops dazu.

Nun kommt ein sehr bedeutungsvoller Zug des Mär­chens: Als sie den Korb trägt, erscheint er ihr außerordent­lich schwer, obgleich das Tote für sie gar kein Gewicht hat, der Korb mit dem toten Mops allein würde so leicht sein, als wenn er leer wäre; nur durch das Lebendige, durch die Kohlköpfe, Zwiebeln und Artischocken wird der Korb schwer. Auf dem Wege zu dem Fährmann passiert ihr aber noch etwas Eigentümliches. Der Riese legt seinen Arm ge­rade so, daß der Schatten über den Fluß hinüberfällt, greift ihr ein Kohlhaupt, eine Artischocke und eine Zwiebel aus dem Korbe heraus und verzehrt sie, so daß sie jetzt nur noch zwei von jeder Gattung hat. Sie will daher dem Fähr­mann nur einen Teil der Schuld abtragen. Er aber sagt, daß es unbedingt notwendig sei, das Ganze gleich mitzubringen.

Nach vielem Hin- und Herreden sagte der Fährmann: es gäbe noch einen Ausweg, der wäre, wenn sie Bürgschaft für die Beibringung der drei fehlenden Früchte leiste. Sie muß daher die Hand in den Fluß stecken, als Sicherheit dafür, daß sie ihr Versprechen halten werde. Das tut sie, bemerkt aber dann, daß, soweit die Hand in den Fluß hineingesteckt war, sie schwarz und kleiner geworden ist. «Jetzt scheint es nur so», sagte der Alte. «Wenn ihr aber nicht Wort haltet, kann es wahr werden. Die Hand wird nach und nach schwinden und endlich ganz verschwinden, ohne daß ihr den Gebrauch derselben entbehrt. Ihr werdet alles damit verrichten können, nur daß sie niemand sehen wird.» Sie will aber lieber, daß man sie sehe, auch wenn sie nichts mit

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der Hand tun könne. Wenn sie zu entsprechender Zeit den Tribut bringt, sagt der Fälirmann, wird alles wieder gut werden.

Auf dem Wege zur schönen Lilie trifft sie nun einen herr­lich-schönen Jüngling, dem aber, wie er sagt, alle seine einstige Kraft und Stärke geschwunden ist; und aus dem Gespräche, das sie miteinander führen, erfahren wir, wie das gekommen ist. Der Jüngling hatte die lebhafte Begierde gefaßt, zur schönen Lilie zu gelangen. Sie war sein Ideal geworden. Aber ihre schönen Augen wirkten so unselig, daß sie ihm alle seine Kraft genommen hatten und dennoch zieht es ihn immer wieder zu ihr hin.

Endlich kommen die beiden zur schönen Lilie hin. Es ist nun zwar alles, was die schöne Lilie umgibt, im höchsten Grade bezeichnend; aber wir können hier nur einzelne Züge herausnehmen. Die schöne Lilie ist das Bild vollkom­menster Schönheit; aber sie hat die Eigenschaft, daß sie alles Lebendige durch ihre Berührung zunächst tötet, und alles, was durch das Leben hindurchgegangen und dem Tode ver­fallen ist, wieder lebendig macht.

Die Alte bringt nun ihr Anliegen vor. Der Jüngling ist gekommen, seine Sehnsucht nach der schönen Lilie zu be­friedigen; wir sehen aber auch, daß die schöne Lilie eben­falls Sehnsucht fühlt. Sie fühlt sich fern von allem fruchtbar Lebendigen; in ihrem Garten gedeihen Pflanzen, aber nur bis zur Blüte, nicht bis zur Frucht; schön ist sie, aber fern von allem Lebendigen. Die Alte sagt dann ein bedeutungs­volles Wort. Sie wiederholt, was der Mann im unterirdi­schen Tempel gesagt hat, und das gibt der Lilie neue Hoff­nung. Das war aber auch der letzte Augenblick, in dem sie Hoffnung fassen konnte; denn das letzte Lebendige, das eine Art Verbindungsband zwischen ihr und dem Leben­digen gebildet hatte, war ihr auch noch verlorengegangen.

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Sie hatte einen Kanarienvogel in ihrer Umgebung, und hatte sich sehr gehütet, ihn zu berühren, weil ihn das ge­tötet haben würde. Nun aber war ein Habicht in die Nähe gekommen, der Kanarienvogel floh vor ihm, flog auf die Lilie zu und wurde getötet. Und damit war die schöne Lilie nun in völliger geistiger Einsamkeit und Abgesondertheit von dem, was die Menschen haben.

Nun gibt die Alte der Lilie den Mops. Die Lilie berührt ihn und macht ihn dadurch wieder lebendig. Der Jüngling sucht seine Sehnsucht dadurch zu stillen, daß er die Lilie umfaßt. Dadurch wird er vollends getötet. Das Leben in ihm wird ganz vernichtet.

Die Schlange bildet nun einen magischen Kreis. In diesen Kreis werden der Jüngling und der Kanarienvogel hinein­gelegt. Dadurch soll sich - und die Schlange deutet bedeu­tungsvoll darauf hin - das, was trostlos ist, in allernächster Zeit ändern. Und es ändert sich in der Tat. Wir erfahren, daß nun auch der Alte mit seiner Lampe herankommt, und daß durch ihn tatsächlich eine Lösung der ganzen Situation in Angriff genommen werden kann. Denn es ist gerade Zeit, als der Alte herankommt: die Körper von dem Kana­rienvogel und dem Jüngling sind noch nicht in Verwesung übergegangen.

Der Alte führt sie nach dem unterirdischen Tempel hin, den die Schlange ja schon ausgekundschaftet hatte. Er sagt zu den Irrlichtern: Ihr seid auch dazu geeignet, uns zu die­nen. Wenn wir an die Pforte des Tempels gelangen, werdet Ihr es sein müssen, die uns die Pforte aufschließen. - Nun bildet die Schlange eine Brücke über den Fluß. Der ganze Zug geht über die Schlangenbrücke. Da sehen wir, als sie drüben angekommen sind, daß durch die Berührung mit der Schlange, die jetzt sich zu opfern beschließt, der Jüng­ling zwar noch nicht durchgeistigt, aber doch lebendig wird.

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Er geht dadurch, daß die Schlange bereit ist, sich hinzuopfern, in einen merkwürdigen Zustand über. Er kann wohl sehen, aber das Gesehene noch nicht fassen.

Die Schlange teilt sich in lauter wunderbare Edelsteine, die der Alte in den Fluß senkt und wodurch eine Brücke über den Fluß entsteht. Der Zug bewegt sich unter der An­führung des Alten in den unterirdischen Tempel. Als sie da hineinkommen, sehen wir, daß zwischen den Ankömmlin­gen und den Königen bedeutungsvolle Fragen gestellt wer­den, die darauf hindeuten, daß da ein großes Rätsel ver­borgen ist. Zum Beispiel: «Woher kommt ihr?» «Aus der Welt.» «Wohin geht ihr?» «In die Welt.» «Was wollt ihr bei uns?» «Euch begleiten!», nämlich die Könige.

Nun bewegt sich die Gruppe mit dem Tempel. Sie gehen unter den Fluß und erheben sich dann wieder mit dem gan­zen Tempel. Als sie sich über den Fluß erhoben haben, fällt von oben etwas wie Bretterwerk in den Tempel hinein: es ist die Hütte des Fährmanns. Sie verwandelt sich und wird ein kleines Tempelchen im großen Tempel. Und jetzt spielt sich eine Szene ab, die von Wichtigkeit ist für den Jüngling, der ja bis jetzt belebt, aber noch nicht durchgeistigt war.

Wir haben gesehen: der erste, der goldene König, stellt die Weisheit dar; der zweite, der silberne, den Schein oder die Schönheit; der dritte, der eherne, die Stärke oder den Willen. Wir sehen nun einen symbolischen Akt sich voll­ziehen. Der Jüngling wird durch die drei Könige mit drei verschiedenen Gaben begabt. Durch den ehernen König mit dem Schwert, und indem ihm das Schwert überreicht wird, werden die bedeutungsvollenWorte gesprochen: «Das Schwert an der Linken, die Rechte frei.» - Kraft des Wil­lens. - Durch den silbernen König bekommt er das Zepter mit den Worten: «Weide die Schafe.» Wir werden sehen, daß der Jüngling durch die Gefühlskraft der Seele erfüllt

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wird, die sich in der Schönheit ausdrückt. Der goldene König setzt ihm die Krone auf das Haupt, mit den Worten: «Er­kenne das Höchste.» Und die Kraft der Vorstellung erfaßt den Jüngling. In diesem Moment ist er durchgeistigt und darf sich mit der schönen Lilie vereinigen. Wir werden so­dann noch darauf aufmerksam gemacht, daß sich alles ver­jüngt.

Besonders bedeutsam ist noch die eigentümliche Rolle, die der Riese spielt, der keine Kraft in sich selber, wohl aber in seinem Schatten hat. Er stolpert höchst ungeschickt über die Brücke, und der König ist ungehalten darüber. Es stellt sich aber heraus, daß das Kommen des Riesen seinen guten Sinn hat. Wie der Uhrzeiger einer großen Sonnenuhr dasteht, so wird er in der Mitte des Tempelhofes festgehalten. Wir sehen, welche Kraft wir in der Sonnenuhr, in dem die Zeit anzeigenden und harmonisierenden Riesen finden, und wir sehen, wie aus dem Leib der Schlange die Brücke, welche über den Fluß zu dem Tempel hinüberführt, gebildet wird. Wir sehen dann, daß nicht mehr bloß Fußgänger, sondern jetzt Wagen, Reiter, Herden hinüber- und herübergehen können. Es wird uns dargestellt, wie in der Vereinigung mit der schönen Lilie der Jüngling die frühere Kraft, die er durch die Berührung mit ihr verloren, wiedergewinnt, wie er sich jetzt der Lilie nähern, sie umfassen darf, und wie sie beglückt und beseligt beide sind.

Wer möchte nicht, wenn er die Bilder des Märchens auf sich wirken läßt, sagen: Rätsel sind es! Zunächst können wir nur wenig spüren von dem, was in diesem Märchen lebt. Wenn wir aber historisch vorgehen, wenn wir betrach­ten, wie es in der Mitte des Jahres 1795 entsteht, im Beginn der Freundschaft mit Schiller, aus dem, was sich zwischen Goethe und Schiller zugetragen hat, dann werden wir be­greifen, was Goethe sich in dem Märchen für eine Aufgabe

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gestellt hat. In diese Zeit fällt die Abfassung eines Werkes, eine Frucht des Studiums Goethescher Weltanschauung, das tief bedeutsam wurde für die Erziehung und Kultivierung des deutschen Geisteslebens: die Briefe Schillers über die ästhetische Erziehung des Menschen. Nur skizzenhaft kön­nen wir darauf hinweisen, was Schiller mit diesen Briefen wollte.

Er fragt sich, wie gelangt der Mensch dahin, seine Kräfte immer höher und höher zu entwickeln, damit er in einer freien und vollkommenen menschlichen Art in die Geheim­nisse der Welt eindringen kann. Dieses Werk ist in Briefform an den Herzog von Augustenburg geschrieben, und Schiller schrieb darin den bedeutungsvollen Satz: «Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechselungen übereinzustimmen die große Aufgabe sei­nes Daseins ist.» Und nun sucht Schiller auseinanderzuset­zen, wie sich der Mensch zu den höheren Stufen des Men­schendaseins hinaufzuentwickeln hat.

Zweierlei ist es, was den Menschen unfrei macht, ihm keinen freien Blick in die Geheimnisse des Daseins gibt. Auf der einen Seite ist es das Beherrschtsein von der Sinnlich­keit, auf der anderen Seite die ungenügende Entwickelung der Vernunft. Und nun setzt Schiller diese Dinge so ausein­ander: Nehmen wir einen Menschen, der in sich nicht das Zwingende, Logische der Begriffe, auch nicht den Pflicht­begriff verspürt, sondern seinen Neigungen und Instinkten folgt - er kann die Kräfte seiner Natur nicht frei entwickeln, er steckt in der Sklaverei der Triebe, Begierden und In­stinkte, er ist unfrei. Aber auch derjenige ist nicht frei, der seine Begierden, Triebe und Instinkte zunächst bekämpft und einzig nur einer rein begrifflichen und logischen Vernunftnotwendigkeit

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folgt. Ein solcher Mensch wird ent­weder ein Sklave der Naturnotwendigkeit oder ein Sklave der Vernunftnotwendigkeit.

Wodurch kann der Mensch seine inneren Kräfte ent­wickeln? Schiller antwortet: Er muß seine inneren göttlichen Zustände entwickeln, sich bemühen, daß sie gereinigt und geläutert werden und zusammentreffen mit dem, was wir Logik nennen. Wenn seine Triebe und Instinkte dann ge­läutert sind, so daß er gern tut, was er als Pflicht empfindet, wenn die Vernunftnotwendigkeit nicht als zwingend emp­funden wird, dann wird der Mensch gern tun schon aus dem gewöhnlichen Trieb heraus, was vernünftig ist, dann hat Vernunft den Menschen hinunter zur Sinnlichkeit ge­führt, und Sinnlichkeit führt ihn wieder hinauf zur Ver­nunft.

Sehen wir einen Menschen an, der einem Kunstwerke gegenübersteht. Er sieht sich etwas Sinnliches an. Aber durch jedes Glied des Sinnlichen offenbart sich ihm etwas Geisti­ges, denn in dem Sinnlichen kommt dasjenige zum Aus­druck, was der Künstler als Geistiges in das Kunstwerk hineingelegt hat. Geist und Sinnlichkeit in der Anschauung der Schönheit, das wird zum Mittlerzustand. So wird die Kunst, das Leben in Schönheit, für Schiller ein großes Er­ziehungsmittel, ein Mittel zur ästhetischen Erziehung, eine Befreiung der Natur, so daß sie ihre eigenen Kräfte ent­falten kann. Wie entwickelt sich also der Mensch im Sinne Schillers. Er muß seine Natur hinunterführen, daß sie sich bewährt in sinnlicher Natur, und die Sinne hinaufentwik­keln, daß sie sich bewähren in der vernünftigen Natur.

Ein wunderbar schönes Wort spricht Goethe über diese Briefe aus: Sie wirken auf mich so, daß sie mir darstellen, was ich lebte oder zu leben wünschte immerdar. - Man kann nachweisen, daß Goethe angeregt worden ist, sein

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Märchen zu schreiben, durch das, was Schiller ausgesprochen hat in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen. Goethe spricht darin dasselbe in seiner Art aus. Goethe wollte nicht in abstrakten Begriffen die Rätsel der Seele aussprechen. Für Goethe waren die einzelnen Seelenrätsel zu reich und zu gewaltig, als daß er sie in Naturnotwendigkeit und Logik hätte fassen können. So bildete sich in Goethe das Bedürfnis, des Menschen einzelne Seelenkräfte in den Gestalten seines Märchens zu personifizieren. Goethe antwortete auf die Schillersche Frage in seinem Mär­chen, und wir werden sehen, wie die Goethesche Psychologie in wunderbarerWeise in dem Märchen charakterisiert wird. Wir sehen, wie die Seele immer aufnimmt und von sich gibt in der Darstellung der Irrlichter, wie gewisse Kräfte per­sonifiziert sind in der Schlange, die nur auf derErde arbeitet gleich der menschlichen Forschung, dem menschlichen Ver­stand, der Erfahrung, die in der horizontalen Linie bleiben, während der Idealist in die Höhe steigt. Die Kraft des reli­giösen Gemütes ist charakterisiert in dem Alten mit der Lampe, und wir sehen endlich, wie durch die Vorgänge, die uns erzählt werden, Goethe darstellt, in welcher Weise eine jede Seelenkraft wirken muß.

Wir werden übermorgen sehen, wie Goethe in der Dar­stellung zeigt, wie jede Seelenkraft maßvoll wirken muß zusammen mit den anderen Seelenkräften, um die Seele zu einem Gesamtbilde zu gestalten, auf daß sie sich hin­aufentwickeln könne zu menschlicher Vollkommenheit, zu einem Umfassen der Dinge. Wenn der Mensch unreif die Erkenntnisse erfassen will, so wird er getötet, wie der Jüng­ling. Es gibt ein Heranreifen der Erkenntnis. In dem Mär­chen stellt uns Goethe die Evolution der Seele in richtiger und bildhafter Weise dar, indem er darin das Parallelwerk zu Schillers «Briefen über die ästhetische Erziehung» schuf.

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Goethe wußte, daß es ein Ziel der menschlichen Seelen­entwickelung gibt, das man in alten Zeiten die Einweihung in höhere Geheimnisse genannt hat. Er wußte, daß es eine solche Möglichkeit gibt, und er wußte auch, daß es Gesell­schaften gibt, die an verborgenen Orten, in den Tempeln der Einweihung, die Kräfte der Seele entwickeln. Er zeigt auch, wie die neuere Zeit immer mehr dahin kommen muß, daß es der Menschheit möglich wird, im größeren Um­fange diese Einweihung zu erlangen, die Seele zu ent­wickeln. Er zeigt in den Vorgängen, die sich zwischen den einzelnen Menschen abspielen, den Vorgang der Einweihung bis zu den höchsten Stufen, bis dahin, wo die Seele fähig wird, die höchsten Geheimnisse zu erfassen. Das ist exo­terisch, rein historisch angesehen.

Durch das Zusammenleben Goethes mit Schiller erlebte Schiller dasjenige, was Goethe erlebt hat, in einer der wich­tigsten Perioden seines Lebens. Und wenn es Schiller auch schwer wurde, Goethe zu verstehen, so müssen wir doch sagen: Das, was Schiller in abstrakter Weise in den ästheti­schen Briefen sagt, und was Goethe in viel umfassenderer Weise zu sagen hatte, in einer Weise, die nur erreicht wird, wenn man sich ausdrückt in Bildern und Persönlichkeiten, das ist ein und dasselbe. Das Märchen ist Goethe-Psychologie im tiefsten Sinne. Wir sehen, daß Goethe durch die Art sei­nes Strebens so fruchtbar geworden ist, daß wir uns heute noch gern bei ihm orientieren. Goethe erscheint uns noch heute als ein Gegenwärtiger. Wir lesen ihn wie einen Schrift­steller unserer Zeit. Er ist so fruchtbar, weil er so viel von Ewigkeitsgehalt in seinem Schaffen und seiner ganzen Art und Weise hat. So wirkt er im Sinne jener Wahrheit, die er selbst als die richtige angesehen hat, und ein bedeutungs­volles Wort hat er einst gesprochen: «Was fruchtbar ist, allein ist wahr.»

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Das heißt, daß der Mensch sich in den Besitz von Wahr­heiten setzen muß, die so wirken, daß, wenn er ins Leben hineintritt, sie ihre Bestätigung finden dadurch, daß sie sich fruchtbar erweisen. Das war für ihn das Kriterium der Wahrheit: Was fruchtbar ist, allein ist wahr!

Gerade diese Vorträge, die Ihnen Goethe veranschau­lichen wollen, sollen uns zeigen, daß Goethe diesen Aus­spruch selber. erprobt hat. Das werden alle diejenigen füh­len, die sich tiefer in ihn hineinleben. Sie werden fühlen, daß in Goethe etwas von echter Wahrheit lebt, denn Goethe ist fruchtbar, und was fruchtbar ist, ist wahr.

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GOETHES GEHEIME OFFENBARUNG ESOTERISCH Berlin, 24. Oktober 1908

Einem Vortrage wie dem heutigen kann leicht der Vorwurf gemacht werden, daß in erzwungener Weise symbolische und allegorische Ausdeutungen gegeben werden von etwas, was ein Dichter im freien Spiel der Einbildungskraft ge-schaffen hat. Wir haben uns ja vorgestern die Aufgabe vorgezeichnet, das Goethesche «Märchen» von der grünen Schlange und der schönen Lilie, wie es uns da vor Augen getreten ist, in seinem tieferen Sinn zu erforschen. Immer wieder wird es geschehen, daß eine solche, wenn man so sagen will, Auslegung, Erklärung eines Phantasiewerks mit den Worten abgetan wird: Ach, da werden allerlei tiefsin­nig sein sollende Symbole und Bedeutungen in den Gestal­ten des Werkes gesucht. - Deshalb möchte ich von vorn­herein bemerken, daß das, was heute von mir gesagt werden soll, nichts zu tun hat mit dem, was allerdings gerade von theosophischer Seite aus oft in bezug auf symbolische oder allegorische Ausdeutungen von Märchen oder dichterischen Werken gemacht worden ist. Und weil ich weiß, daß ähn­lichen Auseinandersetzungen, die ich gegeben habe, immer wieder entgegengehalten wurde, auf solche symbolische Deutungen dichterischer Figuren lasse man sich nicht ein, sö kann ich nicht scharf genug betonen, daß das, was hier zu sagen ist, einzig und allein in folgendem Sinne aufgefaßt werden muß.

Uns liegt heute ein dichterisches Werk vor, das Werk

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einer umfassenden und in die Tiefe der Dinge dringenden Einbildungskraft oder Phantasie: Das «Märchen» von der grünen Schlange und der schönen Lilie. Die Frage darf wohl aufgeworfen werden: Dürfen wir von irgendeinem Ge­sichtspunkte an das Werk herangehen und versuchen, den ideellen, den wirklichen Inhalt eines solchen dichterischen Produktes zu ergründen?

Wir sehen die Pflanze vor uns. Der Mensch tritt an die Pflanze heran; er untersucht die Gesetze, die innere Regel­mäßigkeit, nach der die Pflanze wächst und gedeiht, nach der sie Stück für Stück ihres Wesens entwickelt. Hat der Botaniker oder hat jemand, der kein Botaniker ist, sich aber das Werden der Pflanze ideell zurechtlegt, das Recht dazu? Kann man ihm entgegenhalten: Von dem, was du da findest an Gesetzen, weiß die Pflanze nichts, sie kennt nicht die Gesetze ihres Wachstums und ihrer Entwickelung! - Ge­nau den gleichen Wert, den dieser Einwand hätte, wenn man ihn gegen den Botaniker erheben würde oder gegen den Lyriker, der das, was er bei der Pflanze empfindet, in seinen lyrischen Leistungen zum Ausdruck bringt, genau denselben Sinn und Wert hätte der Einwand, den man gegen eine solche Erklärung des Goetheschen Märchens vorbringen könnte. Nicht möchte ich die Dinge so aufgefaßt wissen, als ob ich sagen würde: Da haben wir eine Schlange, die bedeu­tet dies oder jenes, da haben wir einen goldenen, einen silber­nen, einen ehernen König, sie bedeuten dies oder jenes. Nicht in diesem symbolisch-allegorischen Sinne möchte ich das Märchen deuten, sondern mehr so, daß in gleicherWeise, wie die Pflanze nach Gesetzen wächst, von denen sie in ihrer Unbewußtheit nichts wissen kann, und wie der Botaniker das Recht hat, diese Gesetze des Pflanzenwachstums zu fin­den, man sich auch sagen muß: Das, was hier auseinander­gesetzt wird, braucht der Dichter Goethe niemals so auseinandergesetzt,

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niemals so vor sein äußeres Tagesbewußt­sein gebracht zu haben. Dennoch aber ist es ebenso wahr, daß die Gesetzmäßigkeit, der wirkliche, der ideelle Inhalt des Märchens im gleichen Sinne zu betrachten ist wie das, was wir als die Gesetze des Pflanzenwachstums finden, daß es dieselbe Gesetzmäßigkeit ist, nach der die Pflanze wächst, nach der sie entstanden ist, deren sie sich aber in ihrer Un­bewußtheit nicht bewußt ist.

Daher bitte ich, das, was ich zu sagen mir erlauben werde, so aufzufassen, als ob es den Sinn und den Geist der Goetheschen Denkweise und Vorstellungsart darstellte, und als ob derjenige, welcher sich sozusagen berufen fühlt, die ideale Goethesche Weltanschauung vor Sie hinzustellen, eine Berechtigung hätte - damit Sie den Weg finden können zu einem Verständnis der Goetheschen Weltanschauung -, auseinanderzulegen das Erzeugnis Goethescher Phantasie, herauszuheben die Gestalten, und die Wechselbeziehungen zu zeigen, in welchen er sie verwendet hat, genau ebenso, wie der Botaniker zeigt, daß die Pflanze nach den Gesetzen wächst, die er gefunden hat.

Goethes Psychologie oder Seelenlehre, das heißt, was er für das Wesen der Seele maßgebend hält, das ist uns in seinem schönen Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie veranschaulicht. Und wenn wir uns verständi­gen wollen über das, was darüber gesagt werden muß, so wird es gut sein, wenn wir in einer Vorbetrachtung den Geist seiner Seelenwelt anschaulich zur Sprache bringen. Schon in dem vorgestrigen Vortrage wurde darauf hinge­wiesen, daß die hier vertretene Weltanschauung davon aus­geht, daß die menschliche Erkenntnis nicht als etwas ein für allemal Feststehendes zu betrachten ist. Vielfach herrscht ja die Ansicht: So, wie der Mensch heute ist, so ist er eben, und so wie er ist, kann er über alle Dinge unbedingt entscheiden;

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er beobachtet mit seinen Sinnesorganen die Welt, er­faßt sie in ihren Erscheinungen, kombiniert diese mit seinem an die Sinne gefesselten Verstande, und was er da herausbringt mit dieser an die Beobachtung sich haltenden Ver­standestätigkeit, das ist eine absolute Welterkenntnis, die für jeden gelten muß. - Im Gegensatze dazu, aber nur im Gegensatze in einer bestimmten Art, steht die geisteswissen­schaftliche Weltanschauung, die hier vertreten wird. Sie geht davon aus, daß das, was unsere Erkenntnis wird, jederzeit abhängig ist von unseren Organen, von unseren Erkenntnisfähigkeiten, und daß wir selbst als Menschen entwicklungsfähig sind, daß wir an uns arbeiten können, daß wir diejenigen Erkenntnisfähigkeiten, die wir auf einer bestimmten Stufe unseres Daseins haben, höher em­porheben können. Sie geht davon aus, daß wir sie ausbilden können, daß wir in ähnlicher Weise, wie sich der Mensch aus unvollkommenem Zustande hinaufentwickelt hat zu seinem gegenwärtigen Standpunkt, sie noch weiter entwickeln können, und daß wir durch die Erhebung zu höheren Gesichtspunkten auch zu tieferem Eindringen in die Dinge, zu einer richtigeren Anschauung der Welt kommen müssen.

Soll ich mich noch deutlicher, wenn auch etwas trivial ausdrücken, so möchte ich sagen: Wenn wir ganz absehen von einer Entwickelung der Menschheit und nur Rücksicht nehmen darauf, wie die Menschen sind, die so um uns herum leben, und dann auf jene Menschen blicken, die man in der Kulturgeschichte zu den primitiven Völkerstämmen rechnet, und wenn wir uns fragen, was sie iinstande sind, von den Gesetzen der Welt um uns herum zu erkennen und zu wissen, und es vergleichen mit dem, was ein Durch-schnitts-Europäer mit einigen wissenschaftlichen Begriffen von der Welt wissen kann, dann werden wir sehen, daß der Angehörige jenes primitiven Volksstammes sich von

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dem Durchschnitts-Europäer ganz wesentlich unterscheidet. Nehmen wir zum Beispiel das Weltbild eines Austral-­Negers und das eines, sagen wir, europäischen Monisten, welch letzteres dadurch Realität hat, daß man eine Summe wissenschaftlicher Begriffe der gegenwärtigen Zeit auf­genommen hat. Es unterscheiden sich diese zwei Weltbilder durchaus.

Aber andererseits ist die Geisteswissenschaft weit ent­fernt, das Weltbild des auf rein materiellem Standpunkte stehenden Menschen zu perhorreszieren oder es als ungültig zu erklären. Vielmehr werden diese Dinge so angesehen, daß in jedem Falle das Weltbild eines Menschen einer menschlichen Entwickelungsstufe entspricht, und daß der Mensch in der Lage ist, die in ihm enthaltenen Fähigkeiten zu steigern und durch die Steigerung der Fähigkeiten an­deres, Neues zu erfahren.

Es liegt also in der Perspektive der Geisteswissenschaft, daß der Mensch zu immer höherer Erkenntnis dadurch kommt, daß er sich selber weiterentwickelt, und indem er sich weiterentwickelt, ist das, was er in sich erlebt, objek­tiver Welteninhak, den er früher nur nicht gesehen hatte, als er eben noch nicht die Fähigkeit besaß, ihn zu sehen. Die Geisteswissenschaft unterscheidet sich daher wesentlich von anderen, einseitigen Weltanschauungen, seien sie spiri­tualistisch, seien sie materialistisch, weil sie im Grunde ge­nommen eine ein für allemal abgeschlossene unfehlbare Wahrheit nicht kennt, sondern immer nur die Weisheit und Wahrheit einer bestimmten Entwickelungsstufe, und sich so an das Goethesche Wort hält: Der Mensch hat eigentlich immer nur seine eigene Wahrheit, und sie ist doch immer dieselbe. - Sie ist immer dieselbe, weil das, was wir durch unsere Erkenntniskraft in uns aufnehmen, das Objektive, dasselbe ist.

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Wodurch nun gelangt der Mensch dazu, die in ihm liegenden Fähigkeiten und Kräfte zu entwickeln? Die Gei­steswissenschaft ist sozusagen so alt wie die denkende Menschheit. Die Geisteswissenschaft stand immer auf dem Standpunkt, daß der Mensch das Ideal einer gewissen Erkenntnis-Vollkommenheit vor sich hat, der er zustrebt. Man nannte das Prinzip, das darin liegt, immer das Prinzip der Einweihung oder Initiation. Einweihung oder Initia­tion heißt also nichts anderes, als die Fähigkeiten des Men­schen zu immer höheren Stufen der Erkenntnis zu steigern und dadurch zu tieferen Einsichten in das Wesen der Welt um uns herum zu gelangen. Goethe stand gariz und gar, man darf wohl sagen sein ganzes Leben hindurch, auf diesem Standpunkt der in der Entwickelung begriffenen Erkenntnis, auf dem Standpunkte der Einweihung, der Initiation. Gerade das zeigt uns im eminentesten Sinne sein Märchen.

Wir werden uns am leichtesten verstehen, wenn wir von der Anschauung ausgehen, die heute am meisten und im weitesten Umkreise vertreten ist und die in einem gewissen Gegensatz zu dem Einweihungs- oder Initiations-Prinzip steht.

Heute kann man im weitesten Umkreise diejenigen Men­schen, die über solche Sachen nachdenken oder glauben, über solche Dinge ein Urteil zu haben, mehr oder weniger bewußt den Standpunkt vertreten hören, daß über die Wahrheit, über die objektive Wirklichkeit eigentlich nur Sinnesbeobachtung oder Gegenstände der Sinnesbeobach­tung in der Vorstellung entscheiden können. Sie werden es immer wieder hören können: Wissenschaft kann nur sein, was auf der objektiven Grundlage der Beobachtung be­ruht. - Und man versteht so häufig darunter lediglich die Sinnesbeobachtung und die Anwendung des menschlichen

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Verstandes und Vorstellungsvermögens auf diese Sinnes­beobachtung. Ein jeder von Ihnen weiß, daß die Fähigkeit, sich Vorstellungen, Begriffe zu bilden, ein menschliches Seelenvermögen ist unter anderen Seelenvermögen, und ebenso weiß ein jeder von Ihnen, daß diese anderen Seelenvermögen unser Fühlen und unser Wollen sind. So kann man schon bei einer verhältnismäßig oberflächlichen Be­trachtung sagen: Der Mensch ist nicht bloß ein vorstellendes, sondern auch ein fühlendes und wollendes Wesen. - Nun werden diejenigen, die da glauben, den reinen Stand­punkt der Wissenschaft vertreten zu müssen, immer wieder sagen: In das, was Wissenschaft ist, darf nur das Vor­stellungsvermögen hineinreden, niemals das menschliche Gefühl, niemals das, was wir als Willensimpulse kennen, denn dadurch würde das, was objektiv ist, nur verunreinigt, dadurch würde das, was in unpersönlicher Art das Vor­stellungsvermögen gewinnen könnte, nur beeinträchtigt. - Es ist richtig, daß, wenn der Mensch in das, was Gegenstand der Wissenschaft sein soll, sein Gefühl, seine Sympathie oder Antipathie hineinbringt, er die Dinge abstoßend oder ansprechend, sympathisch oder antipathisch findet. Und wohin kämen wir, wenn der Mensch sein Begehrungsvermögen als ein Erkenntnisvermögen betrachten würde, so daß er zu den Dingen sagen könnte: Ich will es, oder: ich will es nicht. - Ob es dir mißfällt oder gefällt, ob du es be­gehrst, das ist dem Ding höchst gleichgültig. So wahr es ist, daß derjenige, der glaubt, auf dem festen Boden der Wissen­schaft stehen zu müssen, sich nur an die äußeren Dinge hal­ten kann, so wahr ist es, daß das Ding selber es ist, das dir abnötigt zu sagen, es sei rot, daß das, was du als eine Vor­stellung des Wesens des Steines gewinnst, richtig ist. Aber nicht liegt es im Wesen des Dinges, daß es dir häßlich oder schön erscheint, daß du es begehrst oder nicht begehrst. Daß

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es dir rot erscheint, hat einen objektiven Grund, daß du es nicht willst, das hat keinen objektiven Grund.

In einer gewissen Beziehung ist nun die heutige Psycho­logie eigentlich über den eben charakterisierten Standpunkt hinausgegangen. Es ist hier nicht meine Aufgabe, für oder gegen diejenige Richtung der heutigen Seelenwissenschaft oder Psychologie zu reden, die da sagt: Wenn wir die Seelenerscheinungen, das Seelenleben betrachten, dürfen wir uns nicht bloß auf den Intellektualismus beschränken, dürfen wir den Menschen nicht bloß in bezug auf die Vor­stellungsfähigkeit betrachten, sondern müssen auch die Ein­flüsse der Gefühls- und Willenswelt berücksichtigen. - Viel­leicht wissen einige von Ihnen, daß dies zum System der Wundtschen Philosophie gehört, welche den Willen als Ursprüngliches der Seelentätigkeit auffaßt. In einer in ge­wisser Beziehung grundlegenden Art, gleichgültig, ob man damit einverstanden ist oder nicht, hat der russische Psy­chologe Losskij in seinem Buche, das sich «Die Grundlegung des Intuitivismus» betitelt, auf die Willensrichtung des menschlichen Seelenlebens hingewiesen. Ich könnte Ihnen noch vieles sagen, wenn ich zeigen wollte, wie die Seelenlehre bestrebt ist, den einseitigen Intellektualismus zu über­winden, und wenn ich Ihnen ferner zeigen wollte, daß in das, was als menschliche Seelenkraft vorhanden ist, auch die andern Kräfte hineinspielen.

Wer weiter zu denken vermag, wird sich sagen: Daraus sehen wir, wie undurchführbar die Forderung ist, daß nur die auf die Beobachtung beschränkte Vorstellungsfähigkeit zu objektiven Resultaten der Wissenschaft führen dürfe. Wenn die Wissenschaft selbst zeigt, daß dies nicht möglich ist, daß überall Wille mitspielt, woraus wollt ihr dann fest­stellen, daß etwas rein objektive Beobachtung sei? Weil ihr dadurch, daß euer Wille euch den obenerwähnten Streich

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spielt und ihr wegen eurer Denkgewohnheiten eine Vorliebe dafür habt, nur dasjenige, was materiell ist, als objektiv anzusehen, und weil ihr nicht die Denkgewohnheit und Gefühlsgewohnheit habt, auch das Geistige in den Dingen anzuerkennen, deshalb laßt ihr das Letztere in euren Theo­rien weg. Es kommt nicht darauf an, wenn wir die Welt begreifen wollen, was wir an abstrakten Idealen uns vor­setzen, sondern was wir in unserer Seele zuwege bringen, was wir können.

Goethe gehört zu denjenigen Menschen, die am schärfsten den Grundsatz ablehnen, daß die Erkenntnis nur durch das einseitige Vorstellungsvermögen, nur durch das Denkver­mögen vermittelt werde. Das ist der hervorstechende, be­deutungsvolle Grundzug in Goethes Wesen, daß er, mehr oder weniger deutlich ausgesprochen, immer der Ansicht ist, daß die ganze menschliche Seele in allen ihren Kräften wirken müsse, wenn der Mensch die Weltenrätsel enträtseln will.

Nun dürfen wir aber auch nicht einseitig und nicht un­gerecht sein. Es ist durchaus richtig, wenn in bezug auf die Erkenntnis eingewendet wird, daß Gefühl und Wille der Persönlichkeit den persönlichen Eigenschaften des Menschen unterworfene Fähigkeiten sind, und wenn gesagt wird:

Wohin würden wir kommen, wenn man nicht bloß das, was die Augen sehen, was das Mikroskop zeigt, sondern was das Gefühl, der Wille dem Menschen sagt, als zu den Dingen gehörig betrachten wollte!

Das ist es aber gerade, was wir uns sagen müssen, um jemanden zu begreifen, der wie Goethe auf dem Prinzip der Einweihung und Entwickelung steht: daß so, wie durch­schnittlich Gefühl und Wille heute im Menschen sind, sie in der Tat nicht zur Erkenntnis verwendet werden können, daß sie die Menschen nur zu einer absoluten Uneinigkeit in

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ihrer Erkenntnis führen würden. Der eine will das, der an­dere das, je nach den subjektiven Bedürfnissen des Gefühls und Willens. Der aber, welcher auf dem Boden der Initia­tion steht, ist sich auch darüber klar, daß von den mensch­lichen Seelenkräften - Denken, Vorstellen, Fühlen und Wol­len - in der Entwickelung des gegenwärtigen Durchschnitts­menschen das Vermögen der Vorstellung, das Vermögen des Denkens eben am weitesten vorgeschritten ist, und am ehe­sten geneigt und geeignet ist, das Persönliche auszuschließen und zur Objektivität zu kommen. Denn dasjenige Seelenvermögen, das sich im Intellektualismus auslebt, ist heute schon so weit, daß die Menschen, wenn sie sich auf dieses Seelenvermögen verlassen, am wenigsten streiten, am mei­sten einig werden über das, was sie sagen. Das ist deshalb so, weil heute die Menschen in bezug auf das Vorstellungs- und Denkvermögen weit entwickelt sind, während Gefühl und Wille noch nicht zu solcher Objektivität entwickelt werden konnten.

Wir könnten auch, wenn wir auf dem Gebiete des Vor­stellungslebens Umschau halten, mit Recht Unterschiede finden. Es gibt weite Gebiete des Vorstellungslebens, die uns vollständig objektive Wahrheiten liefern, Wahrheiten, die die Menschen als solche erkannt haben, ganz unabhängig von der äußeren Erfahrung, wobei es ganz gleich ist, ob eine Million Menschen anders darüber urteilt. Wer die Gründe dafür in sich erlebt hat, der vermag die Wahrheit zu behaupten, auch wenn eine Million Menschen anderes meint. Jeder kann zum Beispiel bei solchen Wahrheiten, die sich auf Zahl- und Raumgrößen beziehen, das Gesagte be­stätigt finden. Daß 3 mal 3 = 9 sind, kann jeder begreifen und erleben, und es ist richtig, selbst wenn eine Million Menschen dem widersprächen. Warum ist das so der Fall? Weil in bezug auf solche Wahrheiten, wie die mathematischen

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es sind, die meisten Menschen es dazu gebracht haben, ihre Vorliebe und Abneigung, ihre Sympathie und Anti­pathie, kurz, das Persönliche auszuschalten und nur die Sache für sich sprechen zu lassen. Man hat die Ausschaltung von allem Persönlichen in bezug auf das Denken und auf das Vorstellungsvermögen immer die Läuterung der mensch­lichen Seele genannt, und man betrachtete diese Läuterung als die erste Stufe auf dem Wege der Einweihung oder Ini­tiation, oder, wie man auch sagen könnte, auf dem Wege zur höheren Erkenntnis.

Der Mensch, der in diesen Dingen bewandert ist, sagt sich: Nicht nur in bezug auf das Gefühl und auf den Willen sind die Menschen noch nicht so weit, daß da kein Persön­liches mehr hineinspielt, daß sie Objektivität bewahren können, sondern auch in bezug auf das Denken sind die meisten noch nicht so weit, daß sie sich an das rein hingeben könnten, was ihnen die Dinge, die Ideen der Dinge selbst sagen, so wie es alle Menschen bei den mathematischen Dingen können. Aber es gibt Methoden, das Denken so weit zu läutern, daß wir nicht mehr persönlich denken, son­dern die Gedanken in uns denken lassen, so wie wir die mathematischen Gedanken in uns denken lassen. Wenn wir also die Gedanken gereinigt haben von den Einflüssen der Persönlichkeit, dann sprechen wir von der Läuterung oder Katharsis, wie dies in den alten Eleusinischen Mysterien genannt wurde. Es muß also der Mensch dahin kommen, das Denken zu läutern, das ihm dann die Möglichkeit gibt, die Dinge gedanklich objektiv zu erfassen.

So, wie das möglich ist, ist es nun auch möglich, aus dem Gefühl alles Persönliche auszuschalten, so daß dann auch dasjenige, was von den Dingen das Gefühl anregt, nicht mehr zur Persönlichkeit spricht, nichts mehr zu tun hat mit Person, Sympathie und Antipathie, sondern einzig und

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allein das Wesen des Dinges aufruft, insofern es nicht zum bloßen Vorstellungsvermögen sprechen kann. Erlebnisse in unserer Seele, die in unserem Gefühlsleben wurzeln oder urständen, und die dadurch zu innerer Erkenntnis führen, daß sie tiefer in das Wesen eines Dinges hineinführen, die aber auch noch zu anderen Seiten der Seele als zum bloßen Intellektualismus sprechen, können ebenso vom Persönlichen gereinigt werden wie das Denken, so daß das Gefühl dann eben solche Objektivität vermittelt, wie sie das Denken oder das Vorstellungsvermögen vermitteln kann. Diese Reinigung oder Entwickelung des Gefühls nennt man in aller esoterischen Erkenntnislehre die Erleuchtung.

Jeder Mensch, der entwickelungsfähig ist und nicht in beliebiger Weise, wie es in den Intentionen der Persönlich­keit liegt, seine Entwickelung anstrebt, muß sich dahin be­mühen, daß er sich nur durch das, was im Wesen des Dinges liegt, anregen läßt. Wenn er dahin gekommen ist, daß das Ding in ihm persönlich keine Sympathie oder Antipathie erweckt, daß er lediglich das Wesen der Dinge sprechen läßt, so daß er sagt: Was ich auch für Sympathien oder Anti­pathien habe, ist gleichgültig und darf nicht in Betracht kommen -, dann liegt es im Wesen des Dinges, daß das Denken und Handeln des Menschen diese oder jene Rich­tung annimmt, dann ist das eine Aussage des innersten Wesens des Dinges. In der esoterischen Erkenntnislehre hat man diese Entwickelung des Willens die Vollendung ge­nannt.

Wenn der Mensch auf dem Boden der Geisteswissenschaft steht, so sagt er sich also: Wenn ich ein Ding vor mir habe, so lebt in diesem Ding ein Geistiges, und ich kann mein Vorstellungsvermögen so anregen, daß das Wesen der Dinge durch meine Begriffe und Vorstellungen objektiv repräsen­tiert wird. So ist gleichsam, was draußen arbeitet, in mir

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gegenwärtig geworden, und ich habe das Wesen des Dinges durch das Vorstellungsvermögen erkannt. Aber das, was ich erkannt habe, ist nur ein Teil des Wesens. Es gibt in den Dingen etwas, das überhaupt nicht zur Vorstellung, son­dern nur zum Gefühl, und zwar zum geläuterten oder ob­jektiv gewordenen Gefühl sprechen kann. - Der, welcher nicht schon in einer solchen Kultur des Gefühls einen der­artigen Teil des Wesens in sich entwickelt hat, der kann das Wesen in dieser Richtung nicht erkennen. Für einen aber, der sich sagt, das Gefühl kann ebenso die Grundlage für die Erkenntnis geben wie das Vorstellungsvermögen - das Gefühl, nicht wie es ist, sondern wie es durch wohlbegründete Methoden der Erkenntnislehre werden kann - für einen solchen wird es nach und nach klar, daß es Dinge gibt, die tiefer sind als das Vorstellungsvermögen, Dinge, die zu der seelischen Natur und zu dem Gefühl sprechen. Ebenso gibt es Dinge, die sogar bis zum Willen hinabreichen.

Nun war sich Goethe ganz besonders darüber klar, daß dies sich wirklich so verhält, daß der Mensch diese Ent­wickelungsmöglichkeiten hat. Er stand ganz auf dem Boden des Initiationsprinzips, und er hat uns die Einweihung des Menschen, die ihm durch die Entwickelung seiner Seele, durch die Entwickelung der drei Grundkräfte: Wille, Ge­fühl und Vorstellungsvermögen, werden kann, dadurch dargestellt, daß er in seinem Märchen die Repräsentanten dieser drei Einweihungen des Menschen auftreten läßt.

Der goldene König ist Repräsentant der Einweihung für das Vorstellungsvermögen, der silberne König ist der Re­präsentant für die Einweihung mit dem Erkenntnisver­mögen des objektiven Gefühls, der eherne König ist der Repräsentant der Einweihung für das Erkenntnisvermögen des Willens. Goethe hat uns zu gleicher Zeit nachdrücklich

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darauf aufmerksam gemacht, daß der Mensch erst gewisse Dinge überwinden muß, wenn er dazu kommen will, mit diesen drei Gaben begabt zu werden. Der Jüngling, den wir in der Erzählung des Märchens kennengelernt haben, ist nichts anderes als der Repräsentant des nach dem Höch­sten strebenden Menschen. So wie Schiller des Menschen Streben nach vollkommener Menschlichkeit in seinen Ästhetischen Briefen hinstellt, stellt uns Goethe in dem Jüngling den nach dem Höchsten strebenden Menschen dar, der zu­nächst die schöne Lilie erreichen will, der aber dann die innere menschliche Vollkommenheit dadurch erlangt, daß ihn die drei Könige, der goldene, der silberne und der erzene König, damit begaben.

Wie das geschieht, wird in dem Gange des Märchens an­gedeutet. Erinnern Sie sich, daß in dem unterirdischen Tem­pel, in den die Schlange durch die Kristallisierungskraft der Erde blickt, in jeder der vier Ecken einer der Könige war. In der ersten war der goldene, in der zweiten der silberne, in der dritten der erzene König. In der vierten Ecke war ein König, der aus den drei Metallen gemischt war, in dem also diese drei Bestandteile so zusammengefügt sind, daß man sie nicht voneinander unterscheiden kann. In diesem vierten Könige stellt uns Goethe den Repräsentanten für diejenige menschliche Entwickelungsstufe hin, in welcher Wille, Vorstellungsvermögen und Empfindungsvermögen gemischt sind. Er ist mit andern Worten derjenige Reprä­sentant der menschlichen Seele, der von Wille, Vorstellung und Gefühl beherrscht wird, weil er selbst nicht Herr über diese drei Vermögen ist. Dagegen ist in dem Jüngling, nachdem er die Begabung von jedem der Könige im be­sonderen erlangt hat - die Begabung des Vorstellungsver­mögens, die Begabung der Gefühlserkenntnis und die Be­gabung der Willenserkenntnis, so daß sie nicht mehr chao­tisch

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gemischt sind -, diejenige Erkenntnisstufe dargestellt, die sich nicht mehr von Vorstellung, Gefühl und Wille be­herrschen läßt, sondern über sie herrscht. Beherrscht wird der Mensch von ihnen so lange, wie sie in ihm chaotisch durcheinanderströmen, so lange sie sich in seiner Seele nicht rein, jede für sich selbst wirkend, finden. Solange derMensch nicht zu dieser Sonderung gekommen ist, ist er auch nicht in der Lage, durch seine drei Erkenntnisvermögen zu wirken. Ist er aber dazu gelangt, beherrscht ihn nicht mehr das Chaotische, sondern beherrscht er umgekehrt selber sein Vorstellungsvermögen, ist es so rein wie der goldene König, so daß ihm nichts anderes beigemischt ist; ist sein Gefühls­vermögen so, daß ihm nichts anderes beigemischt ist, daß es rein und lauter dasteht wie der silberne König, und ist ebenso der Wille so rein wie das Erz des erzenen Königs, so daß ihn Vorstellungen und Gefühle nicht beherrschen und er sich frei in seiner Natur darstellen kann - mit an­dern Worten, ist er fähig, wenn es sich darum handelt, durch die Vorstellung zu erfassen, oder durch das Gefühl zu er­fassen, oder durch den Willen zu erfassen, von Wille, Ge­fühl und Vorstellung einzeln Gebrauch zu machen, dann ist er so weit über sich hinausgeschritten, daß das gesamte reine Erkenntnisvermögen, das uns im Vorstellen, Fühlen und Wollen entgegentritt, ihn zu einer tieferen Einsicht führt, daß er wirklich untertaucht in den Strom des Ge­schehens, untertaucht in das, was die Dinge innerlich sind. Daß man so untertauchen kann, vermag natürlich nur die Erfahrung zu lehren.

Es wird nun nicht mehr schwer sein, nachdem dieses vor­ausgeschickt worden ist, zuzugeben, daß, wenn Goethe den strebenden Menschen durch den Jüngling repräsentiert sein läßt, wir in der schönen Lilie eine andere Seelenverfassung zu sehen haben, diejenige Seelenverfassung des Menschen,

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zu der er gelangt, wenn ihm die in den Dingen liegenden Wesenheiten in der Seele aufgehen und er sein Menschen­dasein dadurch erhöht, daß er die Dinge in sich verschmelzt mit dem Wesen der Dinge in der Außenwelt. Was da der Mensch in seiner Seele erlebt dadurch, daß er über sich hin­auswächst, daß er Herr wird über die Seelenkräfte, Sieger ist über das Chaotische in seiner Seele, das, was der Mensch da erlebt, diese innere Seligkeit, dieses Verbundensein mit den Dingen, dieses Aufgegangensein in den Dingen, wird uns von Goethe repräsentativ dargestellt in der Vereinigung mit der schönen Lilie. Schönheit ist hier nicht bloß Kunstschönheit, sondern Eigenschaft des bis zu einem gewissen Grade vollendeten Menschen überhaupt. So daß wir jetzt auch begreiflich finden werden, warum uns Goethe darstellt, wie der Jüngling fortzieht, zur schönen Lilie hinstrebt, so daß alle Kräfte zunächst aus ihm verschwinden. Warum ist das so?

Wir verstehen Goethe in der Darstellung eines solchen Bildes, wenn wir an einen Gedanken, den er einst ausge­sprochen hat, anknüpfen: «Alles, was unsern Geist befreit, ohne uns die Herrschaft über uns selbst zu geben, ist ver­derblich.» Erst muß der Mensch frei werden, dahin kom­men, Herr über seine inneren Seelenkräfte zu sein, dann kann er mit wirklicher Erkenntnis zur Vereinigung mit dem höchsten Seelenzustande, mit der schönen Lilie gelangen. Wenn er es aber unvorbereitet, mit noch nicht reifen Kräf­ten erlangen will, dann nimmt ihm das seine Kräfte und wirkt ausdorrend auf seine Seele. Daher wird von Goethe darauf aufmerksam gemacht, daß der Jüngling jene Be­freiung sucht, die ihn zum Herrn über seine Seelenkräfte macht. In dem Augenblick, wo seine Seelenkräfte nicht mehr chaotisch in ihm wirken, sondern geläutert und gereinigt nebeneinanderstehen, in dem Augenblick ist er reif, jenen

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Seelenzustand zu erreichen, der durch die Verbindung mit der schönen Lilie charakterisiert oder repräsentiert ist.

So sehen wir, daß Goethe diese verschiedenen Gestalten in freischaffender Phantasie ausbildet, sehen, wenn wir sie als dargestellte Seelenkräfte betrachten, daß sie in seiner ganzen Seele walten und wirken. Wenn wir sie so betrach­ten, wenn wir so fühlen und empfinden, wie in gewisser Weise bezüglich dieser Gestalten Goethe gefühlt und emp­funden hat, der sich nicht damit begnügt, wie ein schlechter didaktischer Dichter zu sagen, was diese oder jene Seelen­kraft bedeutet, sondern der damit ausdrückt, was er selber empfand, dann werden wir erkennen, was sich ihm in sol­chen Dichtergestalten ausdrückt. Daher stehen die verschie­denen Gestalten in einem so persönlichen Verhältnis zuein­ander, wie die Seelenkräfte des Menschen zueinanderstehen.

Es kann nicht scharf genug betont werden, daß es sich nicht so verhält, daß die Gestalten dies oder jenes bedeuten. Das ist durchaus nicht der Fall. Es ist vielmehr so, daß Goethe bei dieser oder jener Seelenkraft dies oder jenes fühlt, und daß sich sein Fühlen dann zu dieser oder jener Gestalt wandelt.Damit schuf er den Vorgang des Märchens, der noch wichtiger ist als die Figuren selbst. So sehen wir die Irrlichter und die grüne Schlange. Wir sehen, daß die Irrlichter vom jenseitigen Ufer des Flusses herüberkommen und ganz merkwürdige Eigenschaften zeigen. Sie nehmen das Gold begierig in sich auf, lecken es sogar von den Wän­den der Stube des Alten und werfen damit in verschwende­rischer Weise um sich. Dasselbe Gold, das also in den Irrlichtern unter dem Zeichen einer Wertlosigkeit steht, die uns auch dadurch angedeutet wird, daß der Fährmann das Gold zurückweisen muß, weil der Fluß sich aufbäumen würde und nur Früchte in Zahlung nehmen darf, dieses Gold, was bewirkt es im Körper der grünen Schlange? Die

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Schlange wird, nachdem sie es aufnahm, innerlich leuchtend! Und das, was an Pflanzen und anderen Dingen um sie her­um ist, wird auch dadurch erleuchtet, daß sie das, was bei den Irrlichtern im Zeichen der Wertlosigkeit steht, in sich aufnimmt. Aber auch den Irrlichtern wird eine gewisse Wichtigkeit zugeschrieben. Sie wissen, daß der Alte in ent­scheidender Stunde gerade die Irrlichter auffordert, die Pforte des Tempels zu öffnen, so daß der ganze Zug sich nun in den Tempel hineinbegeben kann.

Genau dasselbe Ereignis, das sich hier mit der grünen Schlange vollzieht, findet sich als Erlebnis in der mensch­lichen Seele, ein Erlebnis, das uns besonders stark in einer solchen Denkweise hat entgegentreten können, wie wir sie vorgestern durch das Gespräch zwischen Goethe und Schiller konstatiert haben. Wir haben gesehen, daß Schiller in dem Augenblick, als er mit Goethe über die Art der Naturbetrachtung sprach, noch der Meinung war, daß das, was Goethe mit ein paar Strichen als Urpflanze hinzeichnete, eine Idee, etwas Abstraktes sei, das man erhalte, wenn man die unterscheidenden Merkmale wegläßt und das Gemein­same zusammenfügt. Und wir haben gesehen, daß Goethe darauf sagte: Wenn das eine Idee ist, dann sehe ich meine Ideen mit Augen! In diesem Moment standen sich zwei ganz verschiedene Wirklichkeiten gegenüber. Schiller hat sich wirklich ganz zu Goethes Anschauungsweise hinaufgearbei­tet, so daß man sich in der Schillerverehrung nichts vergibt, wenn man ihn als Beispiel anführt für jenes menschliche Seelenvermögen, das in Abstraktionen schwebt und vor­zugsweise in den mit dem bloßen Verstande erfaßten Vor­stellungen der Dinge lebt. Das ist eine besondere Seelenanlage, die, wenn der Mensch zu einer höheren Entwicke­lung gelangen will, unter Umständen eine recht böse Rolle spielen kann.

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Es gibt Menschen, die vorzugsweise in der Richtung zum Abstrakten veranlagt sind. Wenn sie nun die Abstraktheit verbinden mit etwas, was ihnen da als Seelenkraft entgegen­tritt, so ist das in der Regel der Begriff der Unproduktivität. Diese Menschen sind manchmal sehr scharfsinnig, können scharfe Unterscheidungen ausführen, diesen oder jenen Be­griff wunderbar verbinden. Aber gerade eine solche Seelen-stimmung ist oft auch damit verknüpft, daß die geistigen Einflüsse, die Inspirationen, keinen Eingang finden.

Diese Seelenverfassung, die durch Unproduktivität und Abstraktheit gekennzeichnet ist, wird uns in den Irrlichtern reprasentiert. Sie nehmen das Gold auf, wo sie es finden; sie sind frei von aller Erfindungsgabe, sind unproduktiv, können keine Ideen fassen. Diesen Ideen stehen sie fremd gegenüber. Sie haben nicht den Willen, sich selbstlos den Dingen hinzugeben, an die Tatsachen sich zu halten und Begriffe nur soweit zu benutzen, als sie Dolmetscher für die Tatsachen sind. Ihnen kommt es darauf an, ihren Verstand mit Begriffen vollzupfropfen und diese dann wieder in ver­schwenderischer Weise fortzugeben. Sie gleichen einem Men­schen, der sich in Bibliotheken setzt, die Weisheit da sam­melt, in sich aufnimmt und wieder in entsprechender Weise von sich gibt. Diese Irrlichter sind charakteristisch für das­jenige Seelenvermögen, das niemals imstande ist, einen ein­zigen literarischen Gedanken oder Empfindungsgehalt zu fassen, das aber sehr wohl das, was einmal da ist als Lite­raturgeschichte, das, was produktive Geister geleistet haben, in schöne Formen zu fassen vermag. Es soll hier nichts gegen dieses Seelenvermögen gesprochen werden. Hätte der Mensch dieses Seelenvermögen nicht oder pflegte er es nicht, wenn es ihm in zu geringem Maße zuteil geworden ist, so würde ihm etwas fehlen, was in bezug auf die wirkliche Er­kenntnisfähigkeit notwendig vorhanden sein muß. Goethe

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stellt durch das Bild der Irrlichter, durch die ganzen Ver­hältnisse, in denen er sie auftreten und wirken läßt, die Art und Weise dar, wie ein solches Seelenvermögen im Verhält­nis zu den anderen Seelenvermögen arbeitet, wie es schadet und nützt. Wahrhaftig, wenn jemand dieses Seelenvermögen nicht hätte und zu höheren Stufen der Erkenntnis aufstei­gen wollte, dann würde nichts da sein, was ihm den Tempel aufschließen könnte. Goethe stellt ebenso die Vorzüge wie auf der anderen Seite die Nachteile dieses Seelenvermögens hin. Das, was in den Irrlichtern gegeben ist, stellt eben ein Seelenelement dar. In dem Augenblick, wo es nach der einen oder andern Seite hin ein selbständiges Leben führen will, wird es schädlich. Es wird aus dieser Abstraktheit ein kriti­sches Vermögen, das die Menschen so gestaltet, daß sie zwar alles lernen, sich aber nicht weiterentwickeln können, weil ihnen das produktive Element fehlt. Goethe zeigt aber ganz klar, inwiefern auch ein Wertvolles in dem ist, was in den Irrlichtern dargestellt wird. Das, was sie in sich haben, kann auch etwas Wertvolles werden: in der Schlange wird das Gold der Irrlichter zu etwas Wertvollem, insofern es die Gegenstände, welche um die Schlange herum sind, be­leuchtet.

Was in den Irrlichtern lebt, wird, wenn es in anderer Weise verarbeitet wird, in der menschlichen Seele äußerst fruchtbar werden. Wenn der Mensch sich bestrebt, das, was er in Begriffen, Ideen und idealen Gebilden erleben kann, nicht für sich als ein Abstraktes hinzustellen, sondern es so zu betrachten, daß es ihm Führer und Dolmetscher wird für das, was an Realitäten um ihn herum ist, so daß er sich ebensogern und hingebungsvoll an die Beobachtungen hält wie an die Abstraktheit der Begriffe, dann ist er mit dieser Seelenkraft in dem gleichen Falle wie die grüne Schlange. Dann kann er aus dem bloß Abstrakten, aus den bloßen

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Begriffen Licht und Weisheit gestalten. Dann führt sie ihn nicht dazu, daß er zur vertikalen Linie wird, die alle Ver­bindung und Beziehung zur Fläche verliert. Die Irrlichter sind die Verwandten der Schlange, sie sind aber von der vertikalen Linie. Die Goldstücke fallen zwischen die Felsen hinein, die Schlange nimmt sie auf und wird dadurch inner­lich leuchtend. Die Weisheit nimmt der auf, der mit diesen Begriffen an die Dinge selbst herangeht.

Goethe gibt uns auch ein Beispiel, wie man an den Be­griffen arbeiten soll. Goethe hat den Begriff der Urpflanze. Was ist er zunächst? Ein abstrakter Begriff. Würde er ihn abstrakt ausbilden, so würde er ein leeres Gebilde werden, das alles Lebendige tötet, wie das hingeworfene Gold der Irrlichter den Mops tötet. Denken Sie sich aber, was Goethe mit dem Begriffe der Urpflanze tut. Verfolgen wir ihn auf seiner italienischen Reise, dann sehen wir, wie dieser Begriff nur das Leitmotiv ist, um von Pflanze zu Pflanze, von Wesen zu Wesen zu gehen. Er nimmt den Begriff, geht von ihm aus zur Pflanze über und sieht, wie sie sich in dieser oder jener Form ausgestaltet, wie sie ganz andere Formen annimmt in niederer oder höherer Gegend und so weiter. Nun verfolgt er von Stufe zu Stufe, wie die geistige Realität oder Gestalt in jede sinnliche Gestak hineinkriecht. Er selbst kriecht da herum wie die Schlange in den Klüften der Erde. So ist für Goethe die Begriffswelt nichts anderes als das, was sich in die objektive Wirklichkeit hineinspinnen läßt. Die Schlange ist ihm der Repräsentant der Seelenkraft, die nicht in egoistischer Weise hinaufstrebt zu den höheren Gebieten des Daseins und sich über alles zu erheben ver­sucht, sondern die geduldig den Begriff durch die Beobach­tung fortwährend bewahrheiten läßt, die geduldig von Er­fahrung zu Erfahrung, von Erlebnis zu Erlebnis geht.

Wenn der Mensch nicht bloß theoretisiert, nicht bloß in

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den Begriffen lebt, sondern sie auf das Leben, auf die Er­fahrung anwendet, dann ist er mit dieser Seelenkraft in der Lage der Schlange. Das ist in ganz umfassendem Sinne rich­tig. Wer die Philosophie nicht wie eine Theorie aufnimmt, sondern als das, was sie sein soll, wer die geisteswissen­schaftlichen Begriffe als Aufgaben für das Leben betrachtet, der weiß, daß gerade Begriffe, und seien sie auch die höch­sten, so verwendet werden sollen, daß sie in das Leben ein­fließen und an den täglichen Erlebnissen sich bewahrheiten können. Für den, der ein paar Begriffe gelernt hat, sie aber nicht ins Leben übertragen kann, liegt ein ähnliches Ver­hältnis vor wie für den, der ein Kochbuch auswendig gelernt hat, aber doch nicht kochen kann. So wie das Gold ein Mit­tel ist, die Dinge zu beleuchten, so beleuchtet Goethe durch seine Begriffe die Dinge, welche um ihn herum sind.

Das ist das Belehrende und Großartige an Goethes Wis­senschaftlichkeit und allem Goetheschen Streben, daß das, was er an Begriffen und Ideen gibt, Realität hat, daß es wirkt wie ein Licht, leuchtend wird und die Gegenstände um ihn herum beleuchtet. Das vorgestern hervorgehobene Universale bei Goethe macht es, daß wir, wenn wir an ihn herantreten, nie das Gefühl haben, das ist Goethes «Mei­nung». Er steht da und wenn wir ihn sehen, finden wir nur, daß wir die Dinge besser begreifen, die uns vorher nicht so begreiflich waren. Dadurch eben konnte er zum Vereini­gungspunkt feindlicher Brüder werden, wie wir vorgestern gesehen haben. Wollten wir jeden Zug in dem Märchen be­sprechen, jede Gestalt charakterisieren, dann müßte ich über dieses Märchen nicht drei Stunden, sondern drei Wochen sprechen. Ich kann also nur die tieferen Prinzipien in die­sem Märchen angeben. Jeder Zug aber weist uns in Goethes Vorstellungsart und Goethes Weltgesinnung hinein.

Diejenigen Seelenkräfte, welche in den Irrlichtern, in der

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grünen Schlange und in den Königen dargestellt sind, be­finden sich auf der einen Seite des Flusses. Drüben auf der andern Seite wohnt die schöne Lilie, das Ideal vollkomme­ner Erkenntnis und vollkommenen Lebens und Schaffens. Von dem Fährmann haben wir gehört, daß er die Gestalten von dem jenseitigen Ufer herüberführen kann, aber nie­mand wieder zurückführen darf. Wenden wir das auf unsere ganze Seelenstimmung und Veredlung an.

Wir Menschen finden uns als seelische Wesenheiten hier auf der Erde. Diese oder jene Seelenkräfte arbeiten an uns als Anlagen, als mehr oder weniger ausgebildete Seelen-kräfte. Sie sind in uns. Es lebt aber in uns auch noch etwas anderes. In uns Menschen, wenn wir uns selbst richtig er­fassen, lebt das Gefühl, die Erkenntnis, daß die Seelenkräfte in uns, welche uns das Wesen der Dinge zuletzt ver­mitteln, mit den Grundgeistern der Welt, mit den schöpfe­rischen, geistigen Mächten innig verwandt sind. Indem wir uns nach diesen schöpferischen Mächten sehnen, sehnen wir uns nach der schönen Lilie. So wissen wir, daß alles, was einerseits von der schönen Lilie herstammt, andererseits wieder zu ihr zurückzukehren strebt. Unbekannte Kräfte, die wir nicht meistern, haben uns herübergebracht. Wir wis­sen, daß gewisse Kräfte uns von der jenseitigen Welt über den Grenzfluß zur diesseitigen Welt herübergebracht haben. Diese durch den Fährmann charakterisierten, in den Tiefen der unbewußten Natur wirkenden Kräfte können aber uns nicht wieder zurückbringen, denn sonst würde der Mensch ohne seine Arbeit, ohne sein Zutun, genau ebenso wieder in das Reich des Göttlichen zurückkehren, wie er herüber­gekommen ist. Die Kräfte, die uns als unbewußte Natur­kräfte herübergefahren haben in das Reich der strebenden Menschen, dürfen uns nicht wieder zurückführen. Dazu sind andere Kräfte nötig. Das weiß auch Goethe. Goethe will

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aber auch zeigen, wie der Mensch es anfangen muß, daß er sich mit der schönen Lilie wieder vereinigen kann.

Zwei Wege gibt es. Der eine geht über die grüne Schlange, über sie konnen wir hinübergehen, da finden wir nach und nach das Reich des Geistes. Der andere Weg geht über den Schatten des Riesen. Es wird uns dargestellt, daß der Riese, der sonst ganz kraftlos ist, in der Dämmerstunde seine Hand ausstreckt, deren Schatten sich dann über den Fluß legt. Über diesen Schatten führt der zweite Weg. Wer also bei hellem Tageslicht hinüber will in das Reich des Geistes, muß sich des Weges bedienen, den die Schlange vermittelt, wer im Dämmerlichte hinüberkominen will, der kann sich des Weges bedienen, der über den Schatten des Riesen führt. Das sind die zwei Wege, um zu einem geistigen Weltenbilde zu kommen. Derjenige, der nicht mit menschlichen Begrif­fen, menschlichen Ideen, nicht mit denjenigen Mächten, die durch das wertlose Gold, bei bloß sophistischen Geistern, und durch die Irrlichter charakterisiert werden, die geistige Welt erstrebt, sondern in Geduld und Selbstlosigkeit von Erlebnis zu Erlebnis geht, gelangt beim hellen Sonnenschein zum jenseitigen Ufer.

Goethe weiß, daß wirkliche Forschung nicht am Mate­riellen kleben bleibt, sondern herüberführen muß über die Grenze, über den Fluß, der uns von dem Geistigen trennt. Es gibt aber noch einen andern Weg, einen Weg für unent­wickeltere Menschen, die nicht den Weg des Erkennens, nicht den Erkenntnispfad gehen wollen, einen Weg, der repräsentiert wird durch den Riesen. Kraftlos ist dieser Riese, nur sein Schatten hat eine gewisse Kraft. Was ist nun im echten Sinne kraftlos? Nehmen Sie alle Zustände, in die der Mensch kommen kann bei herabgestimmtem Bewußt­sein, wie beim Hypnotismus, Somnambulismus, ja selbst bei Traumzuständen: alles das, wodurch das helle Tagesbewußtsein

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herabgedämmert wird, wodurch der Mensch niedrigere Seelenkräfte als das helle Tagesbewußtsein in sich wirken läßt, gehört zu diesem zweiten Weg. Da wird die Seele beim Kraftloswerden der alltäglichen Seelenkraft ins wirk­liche Reich des Geistes hinübergeführt. Die Seele wird aber nicht selbst fähig, in das geistige Reich hinüberzugehen, sondern sie bleibt bewußtlos und wird wie der Schatten in das Reich des Geistes hinübergeführt. Goethe nimmt noch alles das, was unbewußt, gewohnheitsmäßig wirkt, ohne daß die Seelenkräfte, die bei hellem Tagesbewußts ein wirk­sam werden, daran beteiligt sind, unter die Kräfte, welche in dem Schatten des Riesen vorzustellen sind. Schiller, der in das, was Goethe meinte, eingeweiht war, schrieb zur Zeit der großen Stürme im westlichen Europa einmal an Goethe:

Froh bin ich, daß Sie von dem Schatten des Riesen nicht unsanft angefaßt worden sind. - Was meint Schiller damit? Er meinte, wenn Goethe weiter nach Westen gewandert wäre, so würde er von den revolutionären Mächten des Westens erfaßt worden sein.

Dann sehen wir, daß das, was der Mensch als Hochstand der Erkenntnisentwickelung erlangen soll, in dem Tempel dargestellt wird. Der Tempel bedeutet also einen höheren Entwicklungsstand des Menschen. In der jetzigen Zeit, würde Goethe sagen, ist der Tempel etwas Verborgenes, ist er unter den engen Klüften der Erde. Eine solche strebende Seelenkraft, wie sie durch die Schlange repräsentiert wird, kann nur undeutlich die Gestalt des Tempels fühlen. Da­durch, daß sie Ideale, das Gold in sich aufnimmt, kann sie diese Gestak erleuchten, aber im Grunde genommen kann dieser Tempel in der jetzigen Zeit nur als ein unterirdisches Geheimnis da sein. Dadurch, daß Goethe diesen Tempel für die äußere Kultur etwas Unterirdisches sein läßt, weist er aber auch darauf hin, daß dieses Geheimnis einem weiterentwickelten

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Menschen erschlossen werden muß. Er weist damit auf die geisteswissenschaftliche Strömung hin, die heute schon breite Menschenmassen erfaßt hat, die in um­fassendem Sinne populär zu machen sucht, was der Inhalt der Geisteswissenschaft, der Initiation oder des Einweihungs­prinzips, der Inhalt der Tempelgeheimnisse ist.

In diesem echt freien Goetheschen Sinne ist daher der Jüngling als Repräsentant der strebenden Menschheit zu betrachten. Daher soll sich der Tempel über den Fluß er­heben, damit nicht nur einzelne wenige, welche Erleuchtung suchen, herüber und hinüber gehen können, sondern damit dann alle Menschen auf der Brücke den Fluß passieren kön­nen. Einen Zukunftszustand stellte Goethe hin in dem Initiations-Tempel über der Erde, der da sein wird, wenn der Mensch aus dem Reiche des Sinnlichen in das Reich des Geistigen und aus dem Reiche des Geistigen in das Reich des Sinnlichen gehen kann.

Wodurch ist das in dem Märchen erreicht worden? Da­durch, daß das eigentliche Geheimnis des Märchens erfüllt ist. Die Lösung des Märchens steht im Märchen selber, sagt Schiller. Er hat aber auch darauf hingewiesen, daß recht sonderbar das Wort der Lösung darinnen steht. Sie erinnern sich des Alten mit der Lampe, die nur leuchtet, wo schon Licht ist. Wer ist nun der Alte? Was ist diese Lampe? Was hat sie für ein eigenartiges Licht? Der Alte steht über der Situation. Seine Lampe hat die merkwürdige Eigenschaft, daß sie die Dinge verwandelt, Holz in Silber, Stein in Gold. Sie hat auch die Eigenschaft, daß sie nur da leuchtet, wo schon eine Empfänglichkeit, eine bestimmte Art des Lichtes vorhanden ist. Als der Alte in den unterirdischen Tempel hineintritt, wird gefragt, wieviel Geheimnisse er kenne. «Drei», versetzt der Alte. Auf die Frage des silbernen Königs: «Welches ist das wichtigste?», antwortet er: «Das

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offenbare.» Und auf die Frage des ehernen Königs: «Willst du es auch uns eröffnen?», sagt er: «Sobald ich das vierte weiß.» Darauf zischelt die Schlange dem Alten etwas ins Ohr, worauf er sagt: «Es ist an der Zeit!»

Das, was die Schlange dem Alten ins Ohr sagte, das ist die Lösung des Rätsels, und wir haben zu erforschen, was die Schlange dem Alten ins Ohr gesagt hat. Es würde zu weit führen, ausführlich zu sagen, was die drei Geheimnisse bedeuten. Nur andeuten will ich es.

Es gibt drei Reiche, die in der Entwickelung heute sozu­sagen stationär sind: das Mineral-, das Pflanzen- und das Tierreich, die dem Menschen gegenüber, der sich noch in weiterer Entwickelung befindet, abgeschlossen sind. Die innere Entwickelung, die der Mensch durchmacht, ist so vehement und bedeutsam, daß sie sich mit der Entwickelung der anderen drei Naturreiche nicht vergleichen läßt. Daß ein Naturreich dadurch zu dem gegenwärtigen Stande ge­kommen ist, daß es zu einem Abschluß gelangt ist, das ist es, was in dem Geheimnis des Alten liegt, das ist es, was die Gesetze des Mineral-, Pflanzen- und Tierreichs erklärt. Aber nun kommt das vierte Reich, das Reich des Menschen, das Geheimnis, das in der Seele des Menschen offenbar werden soll. Dieses Geheimnis ist ein solches, das der Alte erst er­fahren muß. Und wie muß er es erfahren? Er weiß, worin es besteht, aber die Schlange muß es ihm erst sagen. Das deutet uns an, daß mit dem Menschen noch etwas Beson­deres vorgehen muß, wenn er ebenso das Ziel der Ent­wickelung erreichen will, wie die anderen drei Reiche es erreicht haben. Was mit dem Menschen im Innersten seiner Seele geschehen ist, und was geschehen muß, wenn er das Ziel erreichen soll, das sagt die Schlange dem Alten ins Ohr. Sie sagt, wie eine bestimmte Seelenkraft sich entwickeln muß, wenn eine höhere Stufe erreicht werden soll, sie sagt,

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daß sie den Willen habe, sich dafür aufzuopfern, und sie opfert sich auf. Bisher hat sie nur eine Brücke gebildet, wenn hie und da ein einzelner Mensch hinübergehen wollte; nun aber wird sie zu einer dauernden Brücke werden, indem sie zerfällt, so daß der Mensch eine dauernde Verbindung haben wird zwischen dem Diesseits und Jenseits, zwischen Geistigem und Sinnlichem.

Daß die Schlange den Willen zur Aufopferung hat, das ist es, was als die Bedingung für die Eröffnung des vierten Geheimnisses angesehen werden muß. In dem Augenblick, wo der Alte hört, daß die Schlange sich opfern will, kann er dann auch sagen: «Es ist an der Zeit!» Es ist die Seelenkraft, die an das Äußere sich hält. Und der Weg muß da­durch betreten werden, daß diese Seelenkraft und innere Wissenschaft nicht Selbstzweck wird, sondern sich hinopfert. Das ist wirklich ein Geheimnis, wenn es auch als ein «offen­bares» Geheimnis angesprochen wird, das heißt, wenn es auch jedem, der es will, offenbar werden kann.

Was in weitem Umkreis als Selbstzweck angesehen wird - alles, was wir lernen können in der Naturwissenschaft, in der Kulturwissenschaft, in der Geschichte, in der Mathema­tik und allen anderen Wissenschaften -, es kann niemals Selbstzweck sein. Wir können niemals zur wahren Einsicht in die Tiefen der Welt kommen, wenn wir sie als etwas für sich betrachten. Erst wenn wir jederzeit bereit sind, sie in uns aufzunehmen und als Mittel zu betrachten, das wir hinopfern als Brücke, über die wir hinüberschreiten können, dann kommen wir zur wirklichen Erkenntnis. Wir sperren uns ab von der höheren, von der wirklichen Erkenntnis, wenn wir nicht auch bereit sind, uns hinzuopfern. Erst dann wird der Mensch einen Begriff bekommen von dem, was Einweihung ist, wenn er aufhört, sich aus äußerlich-sinnlichen Begriffen eine Weltanschauung zu zimmern. Er

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muß ganz Gefühl, ganz Seelenstimmung werden, eine solche Seelenstimmung, die dem entspricht, was Goethe als höchste Errungenschaft des Menschen in seinem «Westöstlichen Divan» charakterisiert:

Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und Werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

Stirb und Werde! Lerne kennen, was das Leben bieten kann, gehe hindurch, aber überwinde, gehe über dich hin­aus. Laß es dir zur Brücke werden, und du wirst in einem höheren Leben aufleben, mit dem Wesen der Dinge eines sein, wenn du nicht mehr in dem Wahne lebst, daß du, ge­trennt von dem höheren Ich, das Wesen der Dinge erschöp­fen kannst. Goethe erinnert sich gern, da, wo er von der Hinopferung des Begriffes und des Seelenmaterials spricht, um in höheren Sphären aufzuleben, wo er von der tiefsten innersten Liebe spricht, an die Worte des Mystikers Jakob Böhme, der dieses Erlebnis der Hinopferung der Schlange in sich kennt. Jakob Böhme hat ihn vielleicht gerade darauf hingewiesen und bewirkt, daß es ihm so klar war, daß der Mensch schon im physischen Leibe hinüberleben kann in eine Welt, die er sonst erst nach dem Tode betritt: in die Welt des Ewigen, des Geistigen. Jakob Böhme wußte auch, daß es von dem Menschen abhängt, ob er in höherem Sinne in die geistige Welt hinübergleiten kann. Er zeigt es in dem Spruche: Wer nicht stirbt, eh' er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt. - Ein bedeutsames Wort! Der Mensch, der nicht stirbt, bevor er stirbt, das heißt, der nicht das Ewige, den inneren Wesenskern in sich entwickelt, der wird auch nicht in der Lage sein, wenn er stirbt, den geistigen Wesenskern in sich wiederzufinden. Das Ewige ist in uns. Wir müssen es

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im Leibe entwickeln, damit wir es außer dem Leibe finden können. «Wer nicht stirbt, eh' er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt.» So ist es auch mit dem andern Satze: «Und so ist der Tod die Wurzel alles Lebens.»

Sodann sehen wir, daß das Seelische nur da erleuchten kann, wo schon Licht ist: die Lampe des Alten kann nur das erleuchten, was schon erleuchtet ist. Wieder werden wir auf Seelenkräfte des Menschen hingewiesen, auf jene Seelenkräfte, die als etwas Besonderes uns entgegentreten, die Seelenkräfte der Devotion, der religiösen Hingabe, die durch Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch den Men­schen die Botschaft von geistigen Welten gebracht haben, denen, die das Licht nicht auf dem Wege der Wissenschaft oder sonstwie suchen konnten. Das Licht der verschiedenen religiösen Offenbarungen wird dargestellt in dem Alten, der dieses Licht hat. Wer aber nicht von innen heraus dem religiösen Sinn ein Licht entgegenbringt, dem leuchtet nicht die Lampe der Religion. Nur da kann sie leuchten, wo ihr schon Licht entgegenkommt. Sie ist es gewesen, die die Menschen verwandelt hat, die alles Tote in das beseelte Lebendige hinübergeführt hat.

Und dann sehen wir, daß durch die Hinopferung der Schlange die beiden Reiche miteinander vereinigt werden. Nachdem sie sozusagen durch symbolische Vorgänge durch-macht, was der Mensch bei seiner Höherentwickelung im esoterischen Sinne durchzumachen hat, sehen wir, wie der Tempel der Erkenntnis durch alle drei menschlichen Seelenkräfte hinaufgeführt wird über den Fluß, wie er hinauf-wandert und wie jede Seelenkraft ihren Dienst verrichtet. Es wird da angedeutet, daß die Seelenkräfte in Harmonie zusammenklingen müssen, indem uns gesagt wird: Die ein­zelne Persönlichkeit vermag nichts; wenn aber alle zur guten Stunde zusammenwirken, wenn die Gewaltigen und

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die Geringen im richtigen Verhältnis zueinander wirken, dann kann erstehen, was die Seele befähigt, den höchsten Zustand zu erreichen, die Vereinigung mit der schönen Lilie.

Dann wandert aber auch der Tempel aus den verborgenen Klüften hinauf an die Oberfläche für alle, die in Wahrheit nach Erkenntnis und Weisheit streben. Der Jüngling wird begabt mit den Erkenntniskräften des Denkens und Vor­stellens durch den goldenen König: «Erkenne das Höchste.» Er wird begabt mit den Erkenntniskräften des Gefühls durch den silbernen König, was Goethe so schön andeutet mit den Worten: «Weide die Schafe!» Im Fühlen wurzeln Kunst und Religion, und für Goethe war beides eine Ein­heit, schon damals, als er von seiner italienischen Reise über die Kunstwerke Italiens schrieb: «Da ist Notwendigkeit, da ist Gott!»

Aber da ist auch die Tat - wenn der Mensch sie nicht zum Daseinskampf verwendet, wenn sie ihm zur Waffe wird, um Schönheit und Weisheit zu erkämpfen. Das ist in den Worten enthalten, die der eherne König zu dem Jüngling spricht: «Das Schwert an der Linken, die Rechte frei!» Darin liegt eine ganze Welt. Die Rechte frei zum Wirken aus der menschlichen Natur des Selbst heraus.

Und was geschieht mit dem vierten König, in dem alle drei Elemente durcheinandergemischt sind? Dieser gemischte König schmilzt zu einer grotesken Figur zusammen. Die Irrlichter kommen und lecken das noch vorhandene Gold aus ihm heraus. Die Seelenkräfte des Menschen wollen da noch studieren, was an menschlichen Entwicklungsstufen, die schon überwunden sind, einst vorhanden war.

Nehmen wir noch einen Zug, nämlich den, wie der Riese da taumelnd einherkommt und dann wie eine Bildsäule dasteht und die Stunden anzeigt: Wenn der Mensch sein

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Leben in Harmonie gebracht hat, dann hat auch das Unter­geordnete Bedeutung für das, was methodische Ordnung sein soll. Das soll sich wie eine Gewohnheit ausprägen. Selbst das Unbewußte wird dann einen wertvollen Sinn erhalten. Deshalb wird der Riese gleichsam wie eine Uhr dargestellt.

Der Alte mit der Lampe ist vermählt mit der Alten. Diese Alte stellt uns nichts anderes dar als die gesunde ver­ständige menschliche Seelenkraft, die nicht in hohe Regio­nen geistiger Abstraktion eindringt, die aber alles gesund und praktisch angreift, wie zum Beispiel in der Religion, die ja in dem Alten mit der Lampe dargestellt wird. Ge­rade sie kann dann auch dem Fährmann die Löhnung bringen: drei Kohlhäupter, drei Zwiebeln und drei Arti­schocken. Eine solche Entwickelungsstufe ist noch nicht über die Zeitlichkeit hinweggekommen. Daß sie so behandelt wird, wie es von den Irrlichtern geschieht, ist wohl ein Abbild davon, wie abstrakte Geister meistens hochmutig auf Menschen herunterschauen, die aus unmittelbaren In­stinkten oder Intuitionen heraus die Dinge erfassen. .

Jeder Zug, jede Wendung in diesem Märchen ist von tiefgründiger Bedeutung, und tritt man noch in eine Er­klärung ein, die esoterisch sein soll, dann findet man, daß man eigentlich nur die Methode der Erklärung anzugeben vermag. Vertiefen Sie sich in das Märchen selber, dann werden Sie finden, daß eine ganze Welt darinnen zu finden ist, weit mehr, als heute angedeutet werden konnte.

Wie sehr Goethes geistige Weltanschauung sein ganzes Leben durchzieht, wie in den Dingen der Geisteserkenntnis er noch im spätesten Alter in Einklang steht mit früher Ge­schaffenem, das möchte ich Ihnen noch an zwei Beispielen zeigen. Als Goethe den «Faust» schrieb, hatte er eine gewisse Vorstellung übernommen, die auf ein Symbolum eines

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tieferen Entwickelungsweges der Natur zurückgeht. Als Faust von seinem Vater spricht, der Alchimist war und die alten Lehren gläubig hingenommen, aber schon damals mißverstanden hatte, sagt er, daß sein Vater auch das gemacht habe, daß sich

... ein roter Leu, ein kühner Freier,
Im lauen Bad der Lilie vermählt.

Das sagt Faust, ohne daß er die Bedeutung davon kennt. Solch ein Wort aber kann zur Leiter werden, die auf hohe Entwickelungsstufen hinaufführt. Goethe zeigt in dem Märchen den nach der höchsten Braut strebenden Menschen in seinem Jüngling, und das, womit er vereinigt werden soll, nennt er die schöne Lilie. Sie sehen, diese Lilie finden Sie auch schon in den ersten Partien des «Faust». Und auch das, was als Grundnerv der Goetheschen Anschauung sei­nen Ausdruck im Märchen gefunden hat, finden wir im «Faust», im zweiten Teile, im Chorus mysticus, da, wo Faust vor dem Eintritt in die geistige Welt steht, wo Goethe sein Bekenntnis zur geistigen Weltanschauung mit monumenta­len Worten ablegt. Er zeigt da, wie in drei aufeinander­folgenden Stufen, nämlich die Läuterung der Vorstellung, die Erleuchtung der Gefühle und die Herausarbeitung des Willens zur reinen Tat, der Aufstieg auf dem Erkenntnisweg erfolgt.

Was der Mensch durch die Läuterung der Vorstellung erlangt, führt ihn dazu, das Geistige hinter allem zu er­kennen. Das Sinnliche wird ein Gleichnis für das Geistige. Er dringt tiefer ein, um das noch zu erfassen, was für die Vorstellung unzugänglich ist. Er erreicht dann eine Stufe, auf der er die Dinge nicht mehr durch die Vorstellung be­trachtet, sondern in die Sache selbst hineingewiesen wird, da, wo das Wesen der Dinge und das, was man nicht beschreiben

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kann, Erreichnis wird. Und das, was man nicht beschreiben kann, was man, wie man im Laufe der Winter­Vorträge hören wird, in anderer Weise vorstellen muß, das, wobei man zu den Geheimnissen des Willens vorschreiten muß, bezeichnet er eben als das «Unbeschreibliche». Wenn der Mensch den dreifachen Weg durch die Vorstellung, das Gefühl und den Willen gemacht hat, dann vereinigt er sich mit dem, was im Chorus mysticus das «Ewig-Weibliche» genannt wird, das, was als menschliche Seele durchgemacht hat seine Entwickelung, das, was als die schöne Lilie dar­gestellt wird.

So sehen wir, daß Goethe geradezu sein tiefstes Bekennt­nis, seine geheime Offenbarung auch noch da ausspricht, wo er sein großes Bekenntnisgedicht zum Abschluß bringt, nachdem er durch die Vorstellung, durch das Gefühl und den Willen emporgedrungen ist bis zur Vereinigung mit der schönen Lilie, bis zu dem Zustande, der seinen Aus­druck findet in der erwähnten Stelle des Chorus mysticus, die dasselbe ausdrückt, was Goethes Philosophie und Gei­steswissenschaft und was auch das «Märchen» sagt:

Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis!
Das Unzulängliche,
Hier wird's Erreichnis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist's getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan!

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BIBEL UND WEISHEIT I Berlin, 12. November 1908

Es gibt in unserer Kultur ja zweifellos kein Dokument, das in so tiefer Weise und in so intensiver Art in das ganze Geistesleben eingegriffen hat wie die Bibel. Eine Geschidite, nicht von Jahrhunderten, sondern von Jahrtausenden müßte man schreiben, wenn man die Wirkung der Bibel auf die Menschheit schildern wollte. Und wenn man ganz ab­sehen wollte von dem Einfluß dieses Dokumentes in die Breite, so würde man noch immer in bezug auf den Einfluß und die Wirkung in die Tiefen der Menschenseele in der Bibel ein Unermeßliches finden. Ja, in bezug auf den letz­teren Gesichtspunkt wird vielleicht gesagt werden dürfen, daß gerade unsere heutige Zeit des Interessanten außer­ordentlich vieles darbietet, denn man könnte zeigen, daß heute nicht nur diejenigen, welche in schwächerem oder stärkerem Maße auf dem Boden der Bibel stehen, von die­sem Menschheits-Dokumente tief beeinflußt sind, sondern daß auch sogar die, welche sich von der Bibel abgewendet haben, welche heute glauben, frei zu sein von den Einflüssen der Bibel, daß auch sogar diese, tief bedeutsam, noch immer diesen Einflüssen unterliegen. Denn die Bibel ist wirklich nicht nur ein Dokument, obwohl sie das in hervorragend­stem Maße ist, da sie die Seele erfüllt mit einer Summe von Vorstellungen über die Welt und das Leben, was der Seele also eine Weltanschauung gibt, sondern die Bibel war, durch Jahrtausende hindurch, ein gewaltiges Erziehungsmittel der Seelen. Sie hat nicht nur für das Vorstellungsleben

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etwas bedeutet, und bedeutet dafür heute noch etwas, sondern es ist vielleicht wichtiger und wesentlicher, was wir als eine Wirkung bezeichnen müssen in bezug auf das Emp­findungs- und Gefühlsleben, in bezug auf die Art der Denkgewohnheiten. Da müssen wir, wenn wir fein zu­schauen, ganz gewiß heute vielfach zugeben, daß die Ge­fühle, die Empfindungen sogar derjenigen, welche die Bibel bekämpfen, durch die Bibel in ihren Seelen erst heran­gezogen worden sind.

Aber wer nur ein wenig Umschau hält über das Geistes­leben der Menschheit, insbesondere über das unserer abend­ländischen Menschheit und derjenigen, die mit ihr zusammen­hängt, der wird bemerken, welch gewaltiger Umschwung eingetreten ist in bezug auf die Stellung der Menschheit, oder wenigstens eines großen Teiles der Menschheit, zur Bibel.

Diejenigen, die heute vielleicht noch in einer ganz un­erschütterlichen Weise auf dem Boden der Bibel stehen, könnten das, worauf damit hingedeutet ist, vielleicht zu gering einschätzen. Sie könnten sagen: Mag es auch man­cherlei Leute geben, die heute sich aus diesen oder jenen Gründen von der Bibel abwenden, die behaupten, daß die Bibel nicht mehr dasjenige für die Menschheit sein könne, was sie durch Jahrtausende war, so wird das aber vermut­lich nur eine vorübergehende Zeiterscheinung sein. Wir glauben an die Bibel. Mögen die Herren, die glauben, auf dem Boden der Wissenschaft zu stehen, dieses oder jenes sagen, möge ihnen dieses oder jenes unwahrscheinlich klin­gen - uns gilt die Bibel! - Man könnte dieses Urteil, wenn man suchen wollte, unter gewissen Persönlichkeiten sehr verbreitet finden, und es ist nur natürlich, denn wer noch immer das Glück seiner Seele, die Sicherheit und die Kraft der Seele für sich aus der Bibel zu schöpfen vermag, der

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kann nach seiner subjektiven Beschaffenheit gar nicht ge­nügend vieles in die Waagschale werfen gegen diejenigen Erscheinungen, die um ihn herum als Kritik und Ableh­nung der Bibel vorliegen.

Dennoch wäre ein solches Urteil im Grunde genommen recht leichtsinnig. Es wäre sogar in gewisser Weise egoistisch, denn der Mensch, wenn er ein solches Urteil ausspricht, sagt sich: Mir gibt die Bibel dieses oder jenes; ob sie anderen Menschen dasselbe gibt, darum kümmere ich mich nicht. - Ein solcher Mensch gibt nicht acht darauf, daß die Mensch­heit im Grunde genommen ein Ganzes ist, und daß das­jenige, was zunächst in einzelnen lebt, von einzelnen gedacht und empfunden wird, hinabflutet in die ganze Menschheit und Allgemeingut wird. Wer sagt: Ich will nicht hören, was die Kritik und die Gelehrten der Bibel heute sagen, ich kümmere mich darum nicht -, der urteilt nur für sich und denkt nicht daran, ob auch seine Nach­kommen, ob diejenigen Menschen, die auf ihn folgen wer­den, sozusagen das Glück haben werden, das Glück haben können, eine solche Befriedigung in diesem Dokumente zu gewinnen, wenn die Kritik und die Wissenschaft sich an­schicken, dieses Dokument der Menschheit zu nehmen. Die Gewalt der Autoritäten, die an diesem Leben des Doku­mentes beteiligt sind, ist eine große und starke. Es heißt eigentlich doch, sich blind und taub stellen gegenüber dem, was um einen herum vorgeht, wenn man nur von dem eben charakterisierten Gesichtspunkte des naiven Glaubens, des unbeirrten Glaubens ausgehen will. Heute muß man schon hören, was bei unseren Mitmenschen das Ansehen und die Bedeutung dieses Menschheitsdokumentes erschüttern kann. Die Erschütterung, die Umwälzungen, die im Verlaufe der letzten Jahrhunderte mit Bezug auf dieses Dokument vor sich gegangen sind, sind ganz gewaltig.

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Noch vor wenigen Jahrhunderten hat die Bibel als etwas gegolten, das unbedingte Autorität genoß; sie galt als ein Schriftwerk höheren göttlichen Ursprungs. Dieser Glaube, diese Annahme ist seit langem erschüttert und wird immer mehr und mehr durch immer neue Gründe erschüttert wer­den. Zunächst war es nicht etwa unsere heutige Wissen­schaft, nicht etwa die gegenwärtige Naturwissenschaft, welche sich gegen die alte Auffassung der Bibel wendete. Es war schon vor weit mehr als hundert Jahren, da wendete sich - wir dürfen den Ausdruck gebrauchen, denn wir haben ihn öfter hier erklärt - die mehr materialistisch sich gestal­tende Denkgewohnheit dazu, die Bibel vom rein äußer­lichen Standpunkte aus anzusehen. Sprechen wir zunächst von dem Teil der Bibel, den wir als das Alte Testament bezeichnen. Er galt, wie das Neue Testament, durch Jahr­hunderte hindurch als eine Eingebung höherer Mächte. Er galt herausgeschrieben aus einem Bewußtsein, das sich er­heben konnte zu einer Wahrheitssphäre, zu der sich das sinnliche Bewußtsein nicht erheben konnte. Das war das erste, was den Glauben daran erschütterte, daß die Bibel aus einem höheren Menschheitsbewußtsein heraus geschrie­ben ist, daß ihr eine andere Autorität zukomme als irgend­eine Autorität eines menschlichen Schriftstellers. Das andere ist, daß man sich sagt: Wenn man die Bibel liest, dann stellt sich heraus, daß sie kein einheitliches Dokument ist. - Wir nehmen an, sagte im achtzehnten Jahrhundert ein französi­scher Arzt, die Menschen haben unter dem Einfluß der gei­stigen Welten gestanden, und so seien geschrieben die Ka­pitel, die wir als die Schöpfungsgeschichte Mosis bezeichnen. Nun lesen wir aber die Schöpfungsgeschichte. Da finden wir, daß einzelne Teile nicht zusammenstimmen. Wir fin­den, daß stilistische und sachliche Widersprüche vorhanden sind. Wir müssen daher annehmen, daß nicht ein einzelner

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Schriftsteller, sei es Moses oder irgendein anderer, dieses Dokument verfaßt hat, denn derjenige, der als einzelne persönlichkeit die Verhältnisse hintereinander hätte schil­dern können, der würde nicht die inneren Widersprüche in die Sache hineingebracht haben.

Ich kann alle diese Widersprüche nur ihrem Geiste nach skizzieren. Da müssen alte Urkunden von verschiedenen Seiten her genommen und durch mancherlei Schriftsteller zu­sammen kombiniert worden sein. Das ist sozusagen ein erstes, das sich gegen die Bibel richtet.

Nun wollen wir, abgesehen von dem, wie sich die Dinge abgespiek haben, den Geist dieser Art von Opposition gegen den geistigen Ursprung der Bibel einmal charakteri­sieren. Man sieht da, wie gleich im Anfange in gewaltigen, überwältigenden Bildern die Schöpfung entrollt wird. In ihr werden das sogenannte Sechs- bis Sieben-Tagewerk erzählt. Es wird da weiter erzählt, wie innerhalb dieser Schöpfung der Mensch entstanden ist, wie er in die Sünde kam, wie er weiter und weiter sich von Generation zu Ge­neration bildete. Da bemerkt man, daß in den ersten Tei­len, in den ersten Versen, für die göttlichen Gewalten, für den Gott, eine andere Bezeichnung gewählt ist, als vom vierten Verse des zweiten Kapitels an. Man sieht da, daß tatsächlich diese zwei Bezeichnungen, die Bezeichnung für das Göttliche als die Elohim und die Bezeichnung des Gött­lichen als Jahve öder Jehova, abwechseln. Da muß man sich fragen: Soll ein Schriftsteller das Göttliche mit zwei ver­schiedenen Namen bezeichnet haben? Woher kann das kommen? Man sagt sich, daß derjenige oder diejenigen, welche zuletzt das Dokument zusammenstellten, alte Tra­ditionen oder auch alte Urkunden gefunden haben, die sie zusammengekoppelt und dadurch ein Ganzes gemacht haben. Der eine kann von diesem Völksstamme, der andere

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von einem anderen Volksstamme gekommen sein, und das habe man zusammengekoppelt. Das ist sozusagen skizzen­haft das eine, das sich geltend macht. Von diesem ausgehend bemerkt man, immer weiter und weiter gehend, daß ähn­liche und noch andere innere Widersprüche auftauchen. So kam man immer mehr dahin, die ursprünglichen Urkunden zu sondern, zu zerreißen. Und wenn heute jemand zu­sammenstellen wollte eine Bibel, wie es ja geschehen ist, aus den verschiedenen Stücken und Fragmenten, aus denen man endlich glaubt, daß sie zusammengesetzt sein müßte, wenn jemand mit blauen Buchstaben druckte alles dasjenige, was man zur einen Urkunde rechnet, mit Rot, was zur anderen, mit Grün, was zur dritten und so weiter, dann würde ein merkwürdiges Dokument zusammenkommen. Es ist aber schon zustandegekommen - die Regenbogen-Bibel!

Das uralte, ehrwürdige Dokument ist da, man möchte sagen, in einzelnen Lappen, aus denen es bestehen und aus denen es zusammengefügt sein soll. Es ist natürlich ein Dokument, von dem man glaubt, nachweisen zu können, daß es nicht von Moses herrührt, sondern sogar in verhält­nismäßig später Zeit von diesem öder jenem Priesterkölle­gium, während die Berichte der alten griechischen Ent­wickelung zusammengestellt sind aus Sagen und Mythen, die man von da und dort zusammengetragen hat, aus reli­giösen Priester-Anschauungen dieser oder jener Schule. Was auf diese Weise als Ganzes geworden ist, kann nicht gelten als etwas, das als eine Erhebung des geistigen Bewußtseins hineinschauen kann in die geistigen Welten, und das durch eine solche Erhebung der Menschenseele in die Geschichte hineingebracht worden wäre.

Nun darf niemand glauben, daß diese beiden Vorträge,

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die ich heute und am Sonnabend zu halten habe, bestimmt sein sollen, irgendwie den Fleiß und die Emsigkeit der eben nur flüchtig skizzierten Arbeiten herabzusetzen. Wer die Dinge kennt, die so verwendet worden sind als geistige Hilfsmittel, die Bibel in kleine Stücke zu zerreißen und als kleine Stücke zu erklären, dem zeigen sich der Fleiß und die Regsamkeit und die Forschergeschicklichkeit bei der ganzen Arbeit. Sie zeigen sich dem, der es versteht, als das Gewal­tigste, was vielleicht in der Wissenschaft geleistet worden ist. Nicht in bezug auf das Formale, nicht in bezug auf das Emsige des Forschens läßt sich etwas Gleiches finden. Wenn man nun das etwas näher betrachtet, was als Folge dieser Forscherarbeit, die von den modernen Theologen geleistet worden ist, also gerade von denjenigen, die vermöge ihres Berufes fest glauben, auf dem Boden des Christentums zu stehen, so müssen wir uns sagen: es muß dazu führen, das Verhältnis der Bibel ganz anders zu gestalten als es durch Jahrhunderte hindurch war. Wenn diese Forschung ihre Früchte trägt, wird die Bibel nicht mehr sein können. Es würde viel dazugehören, die Bibel im einzelnen zu begrün­den, es würde aber die Bibel nicht mehr sein können das Dokument, das den Menschen tröstet und aufrichtet in den traurigsten Angelegenheiten des Lebens.

Dazu kommt noch etwas anderes, nämlich, daß für zahl­reiche Menschen, die sich umgesehen haben im Bereiche der naturwissenschaftlichen Forschung, die sich umgesehen haben in der Geologie, in der Entwickelungsgeschichte des Pflan­zen-, Tier- und Menschenlebens, umgesehen haben in der Kulturgeschichte, in der Anthropologie und so weiter, daß für diese Menschen kaum noch eine Möglichkeit vorhanden ist, sich bei dem, was sie in der Bibel lesen, etwas zu den­ken. Man muß auch in dieser Beziehung gerecht sein und sich nicht einfach auf den Boden des naiven Glaubens stel­len

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und das sagen, was nichts zu bedeuten hat. Es sind oft diejenigen, die am gewissenhaftesten sind in ihrem Wahrheitsgefühl, in ihrem Erkenntnisdrang, die sich sagen: Wenn ich durch die auf sicherem Boden stehende Forschung sehe, wie sich die Erde entwickelt hat durch geologische Perioden hindurch, wie wir gewisse Hypothesen für die Sache haben, wie die Astronomie zeigt, wie sich die Erde aus einem Nebel von höherer Temperatur heraus zu der heutigen Ge­stalt entwickelt hat, wie sich das Unlebendige herausent­wickelt hat und aus diesem Unlebendigen die lebendige Wesenheit, wie sich nach und nach alles von dem Einfachen bis zum Kömpliziertesten, dem Menschen, entwickelt hat, wie die Kulturformen zu den heutigen komplizierten For­men aufgestiegen sind, wenn wir sehen, was die Geologie zeigt, welche gewaltigen Zeiträume nötig waren, um die Erde zu erhalten in einer Zeit, als sie noch nicht Amphibien, noch nicht Säugetiere hervorgebracht hatte, wenn wir das alles überblicken und auf uns wirken lassen - so sagen uns zahlreiche Persönlichkeiten -, was sollen wir da machen, wenn uns die Bibel erzählt, daß in sechs bis sieben Tagen die Welt erschaffen worden sein soll? Weder mit der Schöp­fung in sechs bis sieben Tagen noch mit irgend etwas an­derem können wir etwas anfangen. Was können wir an­fangen mit der Sintflut, mit der wunderbaren Rettung des Noah, wenn wir lesen, daß Noah so viele Tiere in die Arche gebracht hat, und so weiter? - So kommt es, daß manche mit Würde und ernstem Wahrheitssinn begabte Menschen jene scharfe und schneidige Opposition gegen die Bibel energisch vertreten, die sich von dem heutigen naturwissen­schaftlichen Standpunkte aus ergibt, insofern sie sich zu einer Weltanschauung erweitern will. Das alles ist in un­serer Weltanschauung vorhanden. Das alles können wir nicht wegleugnen.

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Nun entsteht aber die Frage: Sind wirklich alle die Dinge berücksichtigt, die der Bibel gegenüber zu berück­sichtigen sind, wenn entweder der erste historische oder der zweite naturwissenschaftliche Standpunkt geltend gemacht wird? Da muß gesagt werden, daß es heute schon einen dritten Gesichtspunkt gibt gegenüber der Bibel, einen Ge­sichtspunkt, der sich aus jener realen Forschungsmethode und menschlichen Anschauungsweise heraus entwickelt, die in diesen Vorträgen als die geisteswissenschaftliche oder anthroposophische charakterisiert wird. Mit diesem Ge­sichtspunkte gegenüber der Bibel haben wir uns heute und übermorgen zu befassen. Was ist dies für ein Gesichtspunkt? Man sagt heute vielfach, der Mensch dürfe sich nicht auf eine äußere Autorität stützen, er müsse voraussetzungslos an die Welt und an das Leben herangehen und die Wahr­heit erforschen. Man glaubt gerade die Bibel zu treffen, wenn man sich auf einen solchen Gesichtspunkt begibt. Trifft man in Wahrheit damit die Bibel? Es läßt sich das­jenige, was der geisteswissenschaftliche oder anthroposophi­sche Standpunkt der Bibel gegenüber ist, unbedingt ver­gleichen mit etwas, was sich vor einigen Jahrhunderten in bezug auf etwas anderes, wenn auch minder Bedeutendes, für die Menschheit zugetragen hat. Wir werden uns am leichtesten verständigen können über den geisteswissen­schaftlichen Gesichtspunkt der Bibel gegenüber, wenn wir einen Vergleich mit der Umwälzung in bezug auf die An­schauung von der Erde machen.

Da sehen wir das ganze Mittelalter herauf, in allen Schulen, niederen und höheren, das, was in bezug auf die äußere Natur gelehrt worden ist, wir sehen den Kampf in alten Schriften, allerdings in Schriften einer großen und ge­waltigen Persönlichkeit, in den Schriften des alten griechi­schen Philosophen und Naturwissenschaftlers Aristoteles. Also, wenn Sie

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mit mir zurückgehen könnten an die Stätten des Geisteslebens der älteren Zeit, so würden Sie finden, daß nicht vorgetragen wurde in den Schulen und Gelehr­ten-Lehrstätten, was in den Laboratorien gefunden worden ist, sondern das, was auf Grund der Autorität der Bücher des Aristoteles gedruckt war. Aristoteles ist die Bibel der Naturwissenschaft. Und überall, wo man darüber vortrug, da erklärte man nur das, was Aristoteles über die Dinge schon gesagt hatte. Nun kamen die Zeiten, in denen eine neue Morgenröte heranbrach in bezug auf das Neue und Neueste von Kopernikus, Kepler und Galilei und allen an­deren bis auf den heutigen Tag. Was war der Grundnerv dieser Morgenröte? Während man vorher den Aristoteles als festen Ausgangspunkt genommen hatte, und so wie er gesprochen hat über die Natur sprach, wendeten nun Ko­pernikus, Kepler und Galilei ihren eigenen Beöbachtungs­und Forschungssinn an. Sie schauten selbst in die Natur hinaus und untersuchten, was das Leben ihnen zeigen konnte. So wollten sie die Natur beschreiben und erklären nach dem, was sie selbst gesehen hatten. Da kamen sie in manchen Widerspruch mit dem, was die streng Aristoteles-Gläubigen lehrten.

Es ist mehr als eine bloße Anekdote, es bezeichnet die tiefe Wahrheit eines Prozesses, der sich damals abgespielt hat, wenn erzählt wird, daß ein Aristoteles-Gläubiger auf­gefordert wurde, sich doch einmal am menschlichen Körper selber anzusehen, daß es nicht richtig ist, daß die Nerven vom Herzen ausgehen, sondern daß sie vom Gehirn aus­gehen. Da ließ sich der Aristoteles-Gläubige bewegen, sich das anzuschauen. Dann sagte er aber: Wenn ich das anschaue, dann scheint es, daß die Natur dem Aristoteles wi­dersprechen würde. Aber wenn die Natur dem Aristoteles widerspricht,

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so glaube ich nicht der Natur, sondern dem Aristoteles. - So stand die Naturwissenschaft gegenüber der Tradition. Die Anschauung des Forschers und Sehers wurde gegenüber dem, was als Tradition durch Jahrhun­derte sich fortgepflanzt hatte und nachgesprochen worden ist, abgelehnt. Wenn wir die Schriften Giordano Brunos lesen, sehen wir die Opposition gegenüber Aristoteles aus dem neuen Geist, der erzählt und erklärt, was der Mensch selber sehen sollte.

Heute stehen wir der ganzen Sache schon wieder anders gegenüber. Wir stehen anders gegenüber der unmittelbaren naturwissenschaftlichen Beobachtung und auch gegenüber Aristoteles. Wir wissen, daß vieles von dem, was im Mittel­alter aus ihm herausgelesen worden ist, nur mißverständ­liche Auslegung war. Aus dem Geiste seiner Zeit heraus sagte ein Forscher, der unmittelbar hineinblickte in die Natur und das wiedergab, was er zu sehen verstand: Wenn wir Aristoteles richtig verstehen, werden wir eingehen kön­nen auf das, was er sagt. Dann erscheint er uns nicht mehr in jenem Widerspruch, in dem er zu stehen schien für die damalige Zeit, zur unmittelbaren wissenschaftlichen Be­obachtung. Dann können wir wieder seine Bewunderer werden. Denn selbst bei der Tatsache des Ausgangs der Nerven vom Herzen statt vom Gehirn zeigt es sich, daß er etwas ganz anderes gemeint hat, nämlich etwas, das selbst für unsere Zeit noch richtig ist.

In einer ganz ähnlichen Art steht die Geistesforschung oder besser die geisteswissenschaftliche Forschung nicht nur zu diesen Dokumenten, sondern auch zu dem abendländi­schen Urdokument, zur Bibel. Was sich im sechzehnten Jahrhundert und seitdem in bezug auf die Beobachtung und Erforschung der äußeren Natur abgespielt hat, das spielt sich heute wieder ab in bezug auf die Erfoschung

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der geistigen Untergründe der Welt. Aus dem Geiste jener Forschung heraus, die in den drei letzten Vorträgen charakterisiert worden ist, sucht die Menschheit wieder einzudringen in diejenigen Welten,die nicht mit den äußeren Sinnen wahrnehmbar sind, die aber wahrnehmbar sind für die höher entwickelten Sinne des Menschen, für die geistigen Sinne des Menschen, durch die wir ebenso in die geistige Welt hinein sehen können, wie wir durch die physischen Sinne in die physische Welt hinein sehen können.

Es braucht hier nicht weiter ausgeführt zu werden, weil es ja schon öfter gesagt worden ist, daß der Mensch fähig ist, in sich die Kräfte zu entwickeln, daß er nicht nur die sinnlichen Dinge wahrnehmen kann, sondern daß er zwi­schen und hinter dem Sinnlichen eine geistige Welt wahr­nehmen kann, eine geistige Welt, die viel realer ist als die sinnliche Welt. Es hatte seinen guten Grund, daß die Menschheit eine Weile die Methode der geistigen Forschung vergaß. Die großen Fortschritte, die großen Eroberungen in der physischen Welt wurden gemacht dadurch, daß die Instrumente so vervollkommnet wurden, wie es im letzten Jahrhundert der Fall war. Aber wenn das eine in der menschlichen Natur sich vergrößert, dann treten andere Fähigkeiten in den Hintergrund. So sehen wir, wie in dem letzten Jahrhundert die naturwissenschaftlichen Methoden für die äußere physische Tatsachenwelt aufblühten. Nie­mals sind in der großartigen Weise mehr Instrumente ge­funden worden, um der Natur die Geheimnisse abzulau­schen und ihre Gesetze zu erforschen. In ungeheurer Weise sind die Fähigkeiten, die Bezug hierauf haben, vergrößert und verfeinert worden, aber zurückgetreten sind dagegen die Fähigkeiten, durch die der Mensch hineinschauen kann in die geistige Welt. So ist es nicht zu verwundern, wenn der Mensch zu

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dem Glauben gekommen ist, daß alles mate­riell ist, und daß das Materielle stofflich da sein muß, aus dem uns auch das Geistige erklärt werden kann.

Aber wir stehen in der heutigen Zeit vor dem Einbrucheiner Epoche, wo es der Menschheit wieder zum Bewußtsein kommt, daß es auch noch andere Instrumente und Werk­zeuge gibt, als diejenigen im physikalischen und physiolo­gischen Laboratorium, wo sie in so ausgezeichneter Weise benützt werden. Allerdings haben wir es zu tun mit einem Instrument, das sich gründlich unterscheidet von den an­deren. Wir haben es mit dem Grund- und Ur-Instrument zu tun, das wir im Menschen selbst zu erblicken haben. Der Mensch ist es, den wir im Laufe des Winters durch die Methoden der Konzentration und der Meditation kennen­lernen werden. Das sind andere Methoden, die der Mensch auf seine Seele anwenden kann, und durch die er dazu kommt, daß er die Umwelt in einer ganz anderen Weise sieht als er sie vörher gesehen hat. Er kann dazu kommen, daß er sich sagen kann: Ich bin wie ein operierter Blindgeborener, der vorher ableugnen konnte die Farben und das Licht der Welt. - Eingetreten ist aber für ihn nun der Moment, daß er selber sehen konnte. Er konnte nun sehen, daß zwischen dem, was die Sinne und der Verstand wahr­nehmen, noch etwas anderes ist. Jetzt sieht er hinein in die geistigen Dinge; jetzt weiß er, nicht hypothetisch, nicht durch spekulative Philosophien, sondern wie sinnlich, daß das Stoffliche nur wie eine Verdichtung ist des Geistigen, daß das, was wir mit den Sinnen sehen, sich so zu einem Geistigen hinter ihm verhält, wie sich Eis zu Wasser ver­hält. Das Wasser ist dünn, das Eis ist fest, und der, welcher das Wasser nicht sehen könnte, aber das Eis sehen kann, der würde sagen: Es ist nichts um das Eis herum da. - So sagt der, welcher nur mit den Sinnen sehen kann, es gebe

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nichts in weitem Umkreis als sinnliche Vorgänge, nichts als sinnliches Geschehen.

Wir müssen aber vordringen in dieses übersinnliche Ge­biet, in dieses übersinnliche Geschehen, dann können wir auch das Geistige erkennen und erklären. Wer sich also keine geistigen Ohren und Augen ausgestaltet hat, der sieht in der ganzen Welt nichts als eine Verdichtung wie Eis im Wasser, und es erscheint ihm nicht die Urmutter-Substanz, das Geistige, in dem das Sinnliche nur eingebettet ist. Wenn uns der Geologe zeigt, wie etwa ein Mensch sich befindet, der in die Welt hinein einen Stuhl setzen könnte und schauen könnte, wie sich die Welt entwickelt hat: Der äußere sinnliche Anblick würde ein solcher sein, wie die Naturwissenschaft es schildert. Gegen das, was die Naturwissenschaft im positiven Sinne zu sagen hat, hat die Gei­steswissenschaft nichts einzuwenden. Aber es zeigt sich dem, der da in richtiger Art in der Naturwissenschaft Bescheid weiß, daß vor dem ersten Entstehen des Physischen das Geistige da war. Da zeigt sich, wie der Fortschritt nur mög­lich wurde dadurch, daß das Geistige dazwischen mitwirkte, und daß am meisten der Geist an der Entwickelung be­teiligt ist.

So weist uns diese geistige Weltanschauungsströmung darauf hin, daß es möglich ist, daß der Mensch sich zum Instrumente macht für die Erforschung der wichtigen Grundlagen der Welt, und so kommt unsere Anschauung endlich dazu, die geistigen Urgründe und Anfänge in uns selbst zu erforschen. So stehen sie da, unabhängig von jedem Dokument. Zunächst sagt die Geisteswissenschaft: Wir for­schen zunächst nicht in einem Dokumente. Wir forschen nicht wie einst Aristoteles in der geistigen Welt. Wir stellen uns so ein: Dasjenige, was Sie als gewöhnliche Schulgeome­trie lernen, die Euklid-

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sche Geometrie, sie wurde in ihren ersten Anfängen durch Euklid, den großen Mathematiker, niedergeschrieben. Wir können das Dokument heute neh­men und es historisch auffassen. Aber wer heute in der Schule Geometrie lernt, lernt der noch nach dem Elementarbuche des Euklid? Man ahnt, lernt und erkennt an den Dingen selber. Man konstruiert sich zum Beispiel ein Drei­eck im Geiste, und es zeigen sich dann durch die innere Gesetzmäßigkeit die Gründe, wie die Sache ist. Dann kön­nen Sie mit dem, was Sie so aus sich selbst gewonnen haben, an Euklid herantreten und erkennen, inwiefern das schon erreicht war, was Euklid in seinem Buche verzeichnet hat. So forscht der Geisteswissenschaftler unabhängig von Büchern durch seine Organe, wie sich die Welt entwickelt. Und er findet so die Entwickelung der Welt, der Erde und der Zeit, bevor die Erde sich herauskristallisiert hat. Er erforscht die geistigen Vorgänge und findet, wie an einem bestimmten Punkte unser Geist im Dasein einsetzt; er zeigt, wie der Mensch als erster auftritt und nicht sich entwickelt hat aus untergeordneten Geschöpfen, allerdings als Nachkomme geistiger Wesenheiten, die zuerst da waren.

Wir können zurückgehen in frühere Zeiten, wo noch die geistigen Urgründe waren. Wir finden da den Menschen mit diesen geistigen Vorgängen verknüpft, und erst später ent­wickeln sich zu dem Menschen hinzu die niederen Geschöpfe, so wie in der Entwickelung überhaupt gewisse Dinge zu­rückbleiben und andere sich herausentwickeln. Das Niedere ist von dem Höheren abgezweigt, abgegangen. Der Geistesforscher weiß, daß die Organe sich entwickeln können durch Methoden, die der Geistesforscher zu zeigen vermag.

So lehrt die Geistesforschung Weltentstehung und - werden nach Gesetzmäßigkeiten, die unabhängig sind von

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jedem Dokumente, nur aus den eigenen Gesetzmäßigkeiten heraus, so wie auch die heutige Erlernung der Mathematik nicht gebunden ist daran, wie sie sich im Laufe der Geschichte entwickelt hat.

Und so, wie sich der Forscher von dieser Weisheit ein Wissen angeeignet hat, so geht er an die Bibel heran, so schaut er jetzt die Bibel an. Und jetzt zeigt sich uns, warum sowohl vom Gesichtspunkte der historisch-kritischen Bibelforschung wie auch vom Gesichtspunkte der naturwissenschaftlichen Forschung Widersprüche in der Bibel sind. Beide Gesichtspunkte kommen aus einem einzigen großen Irrtum, der dadurch entstanden ist, daß man allgemein glaubte, die Wahrheiten der Bibel von physischsinnlichen Wahrnehmungs- und Beobachtungsstandpunkten aus auffassen zu sollen. Man meinte, es sei möglich, mit solchen Maßstäben an die Bibel heranzutreten. Man hatte noch nicht die Forschungsergebnisse der anthroposophischen Geisteswissenschaft.

Es soll jetzt an einzelnen Beispielen gezeigt werden, was eben gesagt worden ist. Die Geisteswissenschaft zeigt uns, daß wir bei der Erforschung der irdischen Schöpfung zunächst mit den Methoden der Geologie und so weiter nur bis zu einem gewissen Punkte kommen, und daß dann die Menschheitsentwickelung weiter zurück ins Unbestimmte zu verlaufen scheint. Und warum? Niemals, soviel sie auch hoffen mag, wird die sinnliche Wissenschaft den Menschen bis zum Ursprünge verfolgen können, aus dem Grunde, weil die sinnliche Wissenschaft nur das Sinnliche finden kann. Aber dem Sinnlichen im Menschen ist das Seelische und Geistige vorangegängen. Der Mensch war zuerst Seele und noch früher Geist, und er ist dann heruntergestiegen in das Erdendasein. Nur insofern beim Heruntersteigen des Menschen in das Erdendasein das physische Leben be-

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teiligt ist, kann uns die Naturwissenschaft diesen Entwik- kelungsgang zeigen. Das seelische Leben können wir nicht mit den gewöhnlichen Kräften der sinnlichen Beobachtung erforschen. Auch die Geologie kann uns keinen Leitfaden bieten. Sie bietet uns die Erforschung desjenigen, was zurückgeblieben ist an sinnlich wahrnehmbaren Materien. Sie kann also nur angeben, was man sehen würde, wenn man einen Stuhl in das Weltall hätte hinaus setzen können und von dort alles gesehen hätte, was sich auf der Erde entwickelt hat. Darauf geht die Geisteswissenschaft nicht ein. Aber um den Menschen in urferner Vergangenheit als Geistwesen zu sehen, dazu muß man die geistigen Augen und die geistigen Ohren entwickelt haben. Hat man diese nicht, dann verschwindet das Seelische und Geistige des Menschen dem Blick. Hat man aber die geistigen Augen, dann verschwindet das Sinnliche, und es ersteht das geistige Bild. Das kann man aber nicht in derselben Weise sehen wie das Sinnliche. Man muß sich ganz andere Begriffe über das Erkennen aneignen, wenn man in solche Urzeiten zurückgehen will. Was man da vom Menschen sich entwickeln sieht, als er erst Seele war, das zeigt sich nicht in sinnlichen gegenständlichen Wahrnehmungen wie die äußere Sinneswelt sie bietet. Das zeigt sich uns in Bildern. Unser Bewußtsein wird durch die Entwickelung der inneren Kräfte der Seele das, was wir ein Bilderbewußtsein, ein imaginatives Bewußtsein nennen. Es ist dann das Bewußtsein ausgefüllt mit Bildern. Wir sehen in einem anderen Bewußtseinszustande das, was sich damals abgespielt hat, jetzt in Bildern. Bildhaft ist das, was so im Innern des Sehers vorgeht.

Das Rudiment, das von der Sehergabe noch vorhanden ist, das ist der Traum. Der ist aber chaotisch. Das Sehen des ausgebildeten Sehers ist auch in solchen Bildern vorhanden,

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aber diese Bilder entsprechen der Wirklichkeit. Es ist ähnlich dem, wie der physisch-sinnliche Mensch unterscheiden kann, ob seine Vorstellungen der Wirklichkeit entsprechen oder nur eine Phantasie sind. Wer bei dem Satze stehenbleiben will: «Die Welt ist meine Vorstellung» und «Die äußeren Dinge regen nur die Vorstellung an», dem möchte ich zu erwägen geben, er soll sich ein Stück glühendes Eisen in seine Nähe bringen lassen und fühlen, wie es brennt. Er soll es dann wegnehmen lassen und fühlen, ob die bloße Vorstellung auch noch so brennt. Es gibt eben etwas, was die bloße Vorstellung unterscheidet von der Wahrnehmung, die durch den äußeren Gegenstand angeregt ist. Man darf daher nicht sagen, daß der Seher nur in Phantasmen lebt. Er hat eben auf diesem Felde sich so entwickelt, daß er unterscheiden kann, was bloße Phantastik ist, oder was Bild ist für die Wirklichkeit einer geistigseelischen Welt. So werden die Bilder das Ausdrucksmittel für eine geistig-seelische Welt. Blickt der Seher zurück in Zeiten, bevor sich ihm sinnliche Gegenstände darstellen, so stellen sich ihm die wahren geistigen Wesenheiten und Begebenheiten den übersinnlichen Wahrnehmungsorganen dar. Der Geistesforscher spricht nicht von Kräften, die Abstraktionen sind, sondern von wirklichen Wesenheiten. Für ihn werden die geistigen Erscheinungen zu Wahrheiten und zu Wesenheiten, und für ihn bevölkert sich die geistige Welt wieder mit geistigen Wesenheiten.

Nun stellen Sie sich den Menschen vor in seiner vorzeitlichen Entwickelung, als eine Wesenskraft eingegriffen hat in seine Evolution, in seine ganze Gestalt, daß diese Wesenskraft sich unterscheidet, ganz genau unterscheidet von anderen Wesenheiten, die noch früher eingegriffen haben. Wir können das Geistig-Seelische des Menschen, das ja schon übersinnlich ist, noch weiter zurückverfolgen; wir

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können es in noch höhere Sphären zurückverfolgen. Dann aber muß der Geistesforscher — wenn er in diese noch höheren Sphären kommt, in denen noch höhere Wesenheiten leben —, wenn er von diesen Wesenheiten spricht, auch als von anderen Wesenheiten sprechen.

Tritt nun der Geistesforscher an den Anfang der Bibel heran, da zeigt sich ihm, daß mit wunderbarer Treue die Bilder gegeben sind, die uns das Seelisch-Geistige in der Entwickelung des Menschen darstellen, bevor er in das physische Leben herausgetreten ist. Der Geistesforscher kann, wenn er seine eigenen Imaginationen, die er in seinem Inneren hat, dann in den äußeren Dokumenten wieder findet, sich sagen, daß er diese als Wahrheit erkennt. Wenn er nun zurückgeht in die Zeiten, wo der Mensch den noch höheren Sphären angeschlossen war, da muß er für diese Grundwesen einen anderen Namen wählen, und er findet, daß die Kapitel, die dem vierten Vers des zweiten Kapitels vorangehen, tatsächlich einen anderen Gottesnamen haben. Genau mit den Ergebnissen der Geistesforschung stimmt es überein, daß vom vierten Vers des zweiten Kapitels an für die Darstellung der Urwelten-Entwik- kelung ein neuer Gottesname auftritt. So sehen wir uns mit der Geistesforschung in derselben Lage, in der sich heute ein Kenner der Geometrie befindet. Er kann Geometrie aus sich finden, und dann weiß er das Werk des Euklid zu schätzen, der dasselbe gefunden hat. So sehen wir die Entwickelung in den wunderbaren Bildern des Alten Testamentes, und jetzt zeigt sich uns etwas höchst Merkwürdiges. Licht und hell wird es über dem Texte der Bibel, wie es nicht hell und licht werden konnte bei den wissenschaftlichen Kritikern.

Ein Forscher sagte: Was die Elohim taten, das muß von einer anderen Seite herrühren, als das, was von Jahve

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kommt. Wenn man das im Ernste anwenden will, dann ist es sonderbar. Wir wollen es einmal versuchen. Stellen wir uns diese Bibelstelle einmal vor: «Die Schlange war listiger als alle Tiere des Feldes, die Gott der Herr gemacht hatte, und sie sprach zu dem Weibe: Hat Gott euch nicht gesagt, <Ihr sollt von keinem Baume des Gartens essenb». Wenn nun statt «Elohim» oder «Jahve» nur «Gott» steht, so ist das nicht richtig übersetzt. Es ist sonderbar. Im Urtext heißt es: «Die Schlange war listig .. ., die Jahve Gott gemacht hatte.» Und da wo es heißt «Hat Gott euch nicht gesagt: <Ihr dürft von keinem Baume des Gartens essem», da steht im Urtext nicht «Jahve» sondern da steht «die Elohim». Nun fährt das Weib fort und zwar immer so, daß sie von «Gott» spricht. Und im achten Vers heißt es dann: «Und sie hörten die Stimme Gottes, des Herrn.» Aber es heißt im Urtext: die Stimme des Jahve-Gottes. — Nun hätten wir die Geschichte von der Schlange so zusammengestellt, daß erklärlich wird, daß diejenigen, welche die Namen «Jahve» oder «Elohim» gebraucht haben, damit verschiedene Wesenheiten meinten. Das rührt nach Meinung der Bibelkritiker von verschiedenen Traditionen her. Und von der Elohim-Tradition rührt her die Stelle «Hat Gott euch nicht gesagt: ‹Ihr sollt von keinem Baume des Gartens essen!›». — Sie sehen, es wird wirklich aus Lappen die Bibel so zusammengesetzt, daß selbst mitten in den Sätzen die verschiedenen Traditionen zusammengenommen sind.

Gehen Sie mit geisteswissenschaftlicher Forschung an die Bibel heran, dann zeigt sich Ihnen, daß dies auch so dastehen muß. Es ist die Rede von dem vierten Vers des zweiten Kapitels an, daß die Weltschöpfung von den Elohim an Jahve-Gott übergeht. Er ist also diejenige Macht, die alles dasjenige zur Entwickelung bringt, was dann bis

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zum Sündenfall geschieht. Die Geisteswissenschaft zeigt Ihnen, daß Jahve derjenige Gott ist, der in das Innere der Menschen hinein spricht dasjenige, was wir als das Ich haben, das Ich-bin. Diese Wesenheit, die Ich-bin-Wesenheit ist es, die alles das bewirkt, was vom zweiten Kapitel, vierter Vers an gesagt wird. Diese Wesenheit, die jetzt eingreift, Jahve, ist eine Wesenheit, die einer früheren Entwickelung angehört, aber abgefallen ist... [Lücke in der Nachschrift]. Daher ist die Rede von Jahve-Gott. Die Schlange aber weiß nichts von Jahve, sie muß sich daher wenden an das, was von ihrem eigenen Stoffe ist, bis zu dem Momente, wo das eintritt, was gerade durch Jahve eintreten muß. Erst im achten Vers des dritten Kapitels tritt wieder der Name Jahve auf.

So erwirbt man sich durch die Geistesforschung das Bewußtsein, daß die Bibel eine Urkunde ist, in der nichts, aber auch gar nichts bloß zufällig steht. Mag sich ein moderner Schriftsteller sagen: Warum sollte nicht einmal dieser Gott einen anderen Namen annehmen? — Es gibt nicht diese stilistischen Formen der modernen Schriftsteller bei den alten Eingeweihten. Wo genau und exakt gesprochen werden soll, kann nicht in beliebiger stilistischer Form geredet werden. Was dasteht und was weggelassen ist, hat seine Bedeutung. Wenn der Name Jahve auf tritt, und wenn er weggelassen wird, so bedeutet das etwas höchst Wesentliches. Aber man muß den Grundsatz durchführen, daß die Bibel höchst genau zu lesen ist. Lesen Sie die Bibel, wenn Sie sie haben! Lesen Sie das Sechs-Tage-Werk durch, und Sie werden finden, wenn Sie nach dem ersten Vers des zweiten Kapitels fortlesen bis zum Sabbat, daß dann kommt die Stelle «Zur Zeit, da Gott der Herr Erde und Himmel machte». Diese Verse rechnet man gewöhnlich als eine Hindeutung auf das Vorhergehende, so wie wenn das

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Sieben-Tage-Werk erzählt worden wäre und nun noch gesagt würde: So ist es gemacht worden, das Sieben-TageWerk. — «Dies ist die Entstehung des Himmels und der Erde, als sie geschaffen wurden», und dann geht es weiter «zur Zeit, da Gott der Herr Erde und Himmel machte» (l.Mos. 2, 4).

Wer hier den Urtext studiert, der kommt auf das Folgende: Der vierte Vers des zweiten Kapitels bezieht sich nicht auf das Vorhergehende, sondern auf das Nachfolgende; geradeso wie sich später — im Kapitel nach dem Sündenfall — «Dieses ist das Geschlecht des Adam» (1. Mos. 5, 1) auf das Nachfolgende bezieht, auf das Hinterher, auf die folgende Generation, auf dasjenige, was aus Adam entstanden ist. Das wird in derselben Weise gesagt wie: Was da folgt, «das sind die Geschlechter des Himmels und der Erde» (1. Mos. 2, 4). Im Hebräischen steht auch dasselbe Wort dafür. Wer genau liest, der weiß, daß von den Worten an «Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde» bis zum dritten Vers des zweiten Kapitels die geistige Welt geschildert wird, wie sie geschaffen ist. Dann wird vom vierten Verse des zweiten Kapitels an gesagt: Das, was Nachkomme ist von Himmel und Erde, wird im Folgenden geschildert. Es ist der wunderbarste Übergang, wenn man die Sache versteht, von dem Sechs-Tage-Werke zu dem Folgenden. Wer sich auf diese Dinge einläßt, findet, daß es vielleicht kein so gut kombiniertes Buch gibt wie die Bibel, namentlich die ältesten Teile derselben. Der Glaube, daß man ohne geistige Forschung an die Bibel herantreten dürfe, daß man mit äußeren Urkunden an sie herantreten könne, das hat dieses in sich so vollkommene und harmonische Werk aufgelöst, so daß es aus lauter Lappen und Fragmenten zusammengesetzt erscheint.

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Man muß auch den Grundsatz, genau zu lesen, und den Grundsatz, die Bibel zu haben, noch weiterverfolgen. Man hat die Bibel nicht, wenn man nur den Wortlaut hat, der das einzelne, worauf es ankommt, nur an deutet. Man muß den Grundsatz haben, auf die Bibel einzugehen. Es wird uns am vierten Tage des Sechs-Tage-Werkes erzählt, wie Sonne und Mond entstehen, wie Sonne und Mond Tag und Nacht bedingen (1. Mos. 1,14—18). Schon vorher aber wird in der Bibel von Tag und Nacht gesprochen (1. Mos. 1, 5). Man kann daraus die Folgerung ziehen: Tag und Nacht, die von Sonne und Mond abhängen (1. Mos. 1, 14—18), können nicht gemeint sein mit dem Tag und der Nacht, die nicht von der Sonne und dem Monde abhängen (1. Mos. 1, 5). Hier kann man einen handgreiflichen Hinweis darauf sehen, wo die Bibel von dem sinnlichen Sonnentag und der sinnlichen Sonnennacht spricht. Diese entstehen durch das, was wir Umdrehung der Erde um die Sonne nennen. Wir können aber sehen, wo die Bibel von diesem sinnlichen Tag hinausweist in das, was im Übersinnlichen, im Geistigen ist, wo sie es erhöht und erweitert in das Geistige hinein.

Diejenigen, welche die Bibel geistig erforschen konnten, waren immer in der Lage, daß sie sich sagten: Wenn einer die Sehergabe, die Gabe des höheren Schauens hat und den Sinn der Bibel in der Wirklichkeit finden kann, dann ist es selbstverständlich, daß dieser Sinn der Bibel auch aus der Sehergabe heraus erflossen ist. Wenn wir dadurch, daß sich die Seele in eine andere Geistesstimmung versetzt, hineinblicken können in das, was uns in den gewaltigen Bildern der Bibel gegeben ist, dann wissen wir, daß der, welcher sie geschrieben hat, auch unter der Inspiration der geistigen Welt gestanden haben muß. Wir dürfen wohl sagen: Es beginnt die Zeit, wo immer mehr begriffen werden

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sollte, daß es viererlei Stufen gibt, wie man heute die Bibel betrachten kann.

Die erste Stufe ist die des naiven Glaubens. Sie nimmt die Bibel in unbeirrter Sicherheit und ahnt nichts von dem, was heute als Einwendungen gegen die Bibel angeführt worden ist.

Die zweite Stufe: Das sind die gescheiten Leute, die Bibelkritiker, welche entweder durch das Erforschen innerer Widersprüche oder durch den naturwissenschaftlichen Standpunkt finden, daß die Bibel das primitive Sagen- und Legendenwerk einer noch nicht forschenden Menschheit war. Sie sind hinaus über die Bibel, sie brauchen sie nicht mehr, sie greifen sie von den verschiedensten Richtungen an und sagen: Sie ist gut gewesen für die kindliche Menschheit. Jetzt aber wächst die Menschheit über die Bibel hinaus. — Das sind die Gescheiten, die Freidenker.

Dann gibt es eine weitere Stufe: Der Mensch wächst über diese Gescheitheit hinaus. Die Menschen dieser Stufe sind zwar auch Freidenker, aber sie sind über diesen zweiten Standpunkt, den der gescheiten Leute hinausgewachsen; sie sehen in den Erzählungen der Bibel — des Alten und des Neuen Testamentes — wenigstens symbolische und mythische Einkleidungen von inneren Seelenerlebnissen. Sie sehen das, was in abstrakter Weise die menschliche Seele sich vorstellt, in der Bibel in Sinnbildern dargestellt. Dazu sind manche Freidenker gezwungen worden. Sie haben den Standpunkt des freidenkerischen Menschen in den Standpunkt des mythischen Symbolikers, des mythischen Darstellers verwandeln müssen.

Dann gibt es einen vierten Standpunkt. Das ist der, welcher Ihnen heute als derjenige der Geisteswissenschaft charakterisiert worden ist. Übermorgen werden wir ihn weiterverfolgen, diesen geisteswissenschaftlichen Standpunkt.

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Er zeigt wieder die geistigen Tatsachen in einfachen Beschreibungen, allerdings so, wie man diese geistigen Tatsachen in den Imaginationen sehen kann. Es sind die Tatsachen, die in der Bibel beschrieben sind. Wer den naiven Standpunkt verlassen mußte und als Forscher zum gescheiten Menschen, vielleicht zum Symboliker geworden ist, der kann dann kommen zu dem Standpunkte, auf dem der Geistesforscher steht, und er kann dann fähig werden, die Bibel wieder wörtlich zu nehmen, in einem neuen Sinne wörtlich zu nehmen, nämlich, die Worte wirklich zu verstehen.

Während Jahrhunderten hat man eigentlich nicht die Bibel kritisiert. Die Bibelkritiker haben ihr eigenes Phantasiegeschöpf bekämpft, das, was sie aus der Bibel gemacht haben. So sind heute noch die Kämpfer gegen die Bibel; sie kämpfen gegen ihr eigenes Phantasiegeschöpf, gegen das, was sie davon zu verstehen glauben; die Bibel treffen sie gar nicht. Wörtlich also kann die Bibel wieder genommen werden, nur muß man das Wort richtig verstehen.

Es ist heute eine gewisse Strömung da, die gegen ein solches Wort den Ausspruch geltend macht: Nicht der Buchstabe, der Geist muß entscheiden. «Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig», und du benennst ihn aus gewissen Beziehungen der Buchstaben.

Ich wollte, wir könnten so bald als möglich den echten Bibelbuchstaben der Welt wieder bringen. Die Welt würde erstaunen darüber, was der Urtext enthält. Wie etwas ganz Neues wird er der Menschheit vorkommen. Mit dem Ausspruche: Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig —, darf man nicht so hausieren gehen. Es ist gewöhnlich der Herren eigener Geist, in dem die Buchstaben sich bespiegeln. So ist es besonders beim Symboliker. Ist er trivial, so legt er Triviales in die Symbole; ist er geistreich, so legt er

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Geistreiches in die Symbole hinein. Es ist mit diesem Wort wie mit dem Ausspruche von Goethe:

Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und Werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

Dieses Wort deutet uns an, wie der Mensch hinauskom­men soll über die sinnliche Anschauung, überhaupt über die gewöhnliche Natur. Wer dieses Wort als eine Anweisung dazu nehmen würde, daß er sich sagt, das Physische habe keinen Wert, der hat übersehen, daß der Geist nach und nach sich aus dem Physischen herausentwickelt. So ist es auch mit dem Buchstaben und dem Geist. Erst muß man den Buchstaben haben, dann ihn enträtseln können, und dann wird man finden, welches der Geist ist. Gewiß, der Buchstabe tötet, aber er erschafft in seinem Tode den Geist, und es entspricht dieser Ausspruch dem anderen: Wer das nicht hat, dieses Stirb und Werde, der bleibt nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.

Nur in den Prinzipien konnte ich Sie heute auf die Kritik der Bibel aufmerksam machen und auf die Gesichtspunkte, welche die Geisteswissenschaft gegenüber der Bibel einnehmen wird. Aus den wenigen Andeutungen, die heute gefallen sind, wird man wenigstens erahnen können, daß durch die Arbeit der Geisteswissenschaft sich wird vollziehen können etwas wie eine Wiedereroberung der Bibel. Weisheit soll die Geisteswissenschaft finden, unabhängig von der Bibel. Aber sie erkennt, was in diese Bibel hineingeflossen ist und was viele heute gegenüber der Bibel erleben. Einiges hat die Menschen erbauen können, aber das meiste hat für sie keinen Sinn mehr. Erst durch die Geisteswissen-

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schaft kommen die Menschen dazu zu verstehen, was mit diesem und jenem in der Bibel gesagt wird. Dann stehen da aber noch andere Stellen, die recht anfechtbar zu sein scheinen, und man kommt zu dem Standpunkte, zu sagen: Es sind in der Bibel Stellen enthalten, die tiefe geistige Wahrheiten enthalten, aber es ist manches hineingeflossen, was als etwas Unorganisches hineingegliedert worden ist. — Geht man nun weiter, macht man wieder eine Entdek- kung, und man findet, daß es an einem selbst gelegen hat, nämlich daran, daß man nicht weit genug war, die Sache zu verstehen. Und man gelangt dahin, sich zu sagen: Wo man früher geglaubt hat, der Sinn der Bibel scheine gegenüber der Wissenschaft nicht haltbar zu sein, da sieht man jetzt ein: das eine verstehst du, daß du die Bibel mit Vertrauen und mit Verehrung betrachten mußt; das andere verstehst du eben noch nicht. Aber es wird die Zeit kommen, daß du es verstehen wirst, und du wirst den Standpunkt finden, wo du selbst hineinschauen kannst.

Die Geisteswissenschaft wird zur richtigen Schätzung der Bibel führen. Vom geisteswissenschaftlichen Standpunkte aus ist heute über den Beginn der Bibel, über die Schöpfung gesprochen worden. Die Bibelforschung hat eine Krisis durchzumachen. Die Forschungen der Geisteswissenschaft werden ihr entgegenkommen, und in neuer Gestalt wird in der Zukunft das alte Licht der Bibel der Menschheit wieder leuchten.

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BIBEL UND WEISHEIT II Berlin, 14. November 1908

Daß die Geisteswissenschaft in der Lage ist, die tieferen Weisheiten und Wahrheiten der biblischen Urkunden zu erforschen und dadurch die Möglichkeit hat, erst im richtigen Sinne wiederum dasjenige zu lesen, was in dieser Urkunde steht, das sollte im vorgestrigen Vortrage mit einigen Strichen angedeutet werden. Und mit einigen groben Strichen sollte gezeigt werden, wie gegenüber demAltenTestamente ein solches richtiges Eindringen in den tieferen Sinn der Bibel in einer ganz unerwarteten Art möglich ist und viele Menschen zu einer Wiedereroberung dieser Urkunde für die Menschheit führen kann. Dasjenige, was in diesem letzten Vortrage gesagt werden konnte über die Stellung unserer neueren Zeit, ihre Forschung, ihre Kritik, ihre Weltanschauung gegenüber dem Alten Testament, das kann in einer ebensolchen Weise gesagt werden in bezug auf das Neue Testament. Auch hier sind wir wieder in der Lage, darauf hinzuweisen, wie im siebzehnten, achtzehnten Jahrhundert eine Kritik einsetzte, welche das Evangelium, also wiederum eine Urkunde, die durch Jahrhunderte hindurch für unzählige Menschen eine so gewaltige Bedeutung hat, zerfasert, zergliedert, sozusagen in Stücke zerschnitzelt und an der Wurzel die Autorität angreift. Es müßte eine lange Geschichte erzählt werden, wenn aufmerksam gemacht werden sollte auf diese Bibelkritik des Neuen Testamentes im einzelnen. Wie konnte es auch anders kommen, da seit jener Zeit, nach der Erfindung der Buchdruckerkunst, die Bibel in alle Hände gekommen ist, und als gleich damit das mate-

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realistische Denken überhand nahm! Wie konnte es anders kommen, als daß immer deutlicher und deutlicher den Menschen vor die Seele trat, daß sich Widersprüche in den Evangelien finden?

Man braucht nur, wenn man sich rein an den äußeren Buchstaben der Sache hält, zum Beispiel das erste Evangelium, also das Matthäus-Evangelium mit dem Lukas-Evangelium zusammenzuhalten, man braucht nur in diesen beiden Evangelien die Geschlechterfolge zu vergleichen, welche angegeben wird, um die Abstammung des Jesus von Nazareth anzugeben, und man wird finden, daß schon in den ersten Kapiteln das erste und das dritte Evangelium sich widersprechen. Nicht nur, daß die Ahnenglieder anders angegeben werden bei Lukas als bei Matthäus; auch die Namen stimmen nicht überein. Und wenn man von da ausgehend die einzelnen Tatsachen in bezug auf das Leben des Jesus von Nazareth vergleicht, kann man überall Widersprüche finden. Insbesondere tritt den Menschen vor Augen, wie kraß sich die drei ersten Evangelisten, die Schreiber des Matthäus-,Markus-, Lukas-Evangeliums auf der einen Seite und der Schreiber des vierten, des sogenannten Johannes- Evangeliums, auf der anderen Seite, widersprechen. Die Folge davon war, daß man versuchte, wenigstens das Übereinstimmen der drei ersten Evangelien in einer gewissen Weise herzustellen, und man glaubte zu finden, daß diese drei ersten Evangelisten, wenn sie auch in vielen Einzelheiten voneinander ab weichen, doch in gewisser Weise darin übereinstimmen, daß sie ein Bild des Jesus von Nazareth geben, das ansprechend ist für die ganze Auffassung und für alle Denkgewohnheiten einer neueren Zeit, wenigstens für viele Persönlichkeiten dieser unserer neueren Zeit.

Dagegen war es seit langem in bezug auf den vierten Evangelisten vielen klar, daß da von einem historischen

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Dokumente gar nicht die Rede sein könne. Nicht nur, daß der Schreiber des Johannes-Evangeliums, nachdem er ganz und gar die Tatsachen anders gruppiert bringt, vor allen Dingen in bezug auf das Erzählen der Wunder, die er in ganz anderer Art und Weise schildert; es zeigt sich auch, daß die ganze Stellung des Schreibers des Johannes-Evangeliums zu dem Mittelpunkte der ganzen Weltgeschichte eine andere ist. Das ist ein Glaube, der sich immer mehr und mehr herausgebildet hat. Und wenn wir - wir können auf die Einzelheiten nicht eingehen - wieder auf den Sinn dieser Forschung hinsteuern wollen, so ist es etwa dieser, daß gesagt wird, die drei ersten Evangelien könnten, wenn man sie als Schilderungen aus der Glanzzeit betrachtet, das Bild geben der Persönlichkeit des ganz überragenden Jesus von Nazareth, des Gründers und Stifters des Evangeliums. Das vierte Evangelium sei eine Bekenntnisschrift, eine Art Hymnus auf dasjenige, was der Schreiber in bezug auf seinen Glauben im Verhältnis zu dem gekreuzigten Jesus darstellen wollte, und wodurch er nicht eine Geschichte geben wollte, sondern eine Lehrschrift zu geben gedachte.

Insbesondere im neunzehnten Jahrhundert hat sich diese Anschauung durch die sogenannte Tübinger Schule, die unter der Führerschaft des wirklich großen Bibelgelehrten, des genialen Kopfes Christian Baur stand, immer mehr eingelebt in die Gemüter zahlreicher Persönlichkeiten. Baurs Anschauung ist etwa diese: Das Johannes-Evangelium sei spät, sehr spät geschrieben worden, wogegen die anderen Evangelisten früher geschrieben haben, noch nach gewissen Berichten derjenigen, die vielleicht das eine oder andere selbst angesehen haben oder es erfahren haben von Personen, welche die Geschichte in Palästina miterlebt haben. Das Johannes-Evangelium aber sei erst im zweiten Jahrhundert

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entstanden. Nicht aus der Urgeschichte heraus, sondern be­einflußt durch die griechische Philosophie, beeinflußt durch das, was in den christlichen Gemeinden schon aufgetreten war, sei geschrieben worden, so daß Johannes, durch das beeinflußt, ein Bild des Christus Jesus entworfen habe, das die Menschen so erbauen, so erheben hat können, daß es in gewisser Weise lyrisch ist, das unterrichtet über die Art und Weise, wie man bis ins zweite Jahrhundert hinein begon­nen hat, christlich zu denken, zu fühlen und zu empfinden, das aber nicht mehr unterrichten kann über dasjenige, was geschehen ist im Beginne unserer Zeit.

Gewiß, es hat auch Seelen gegeben, welche die gegen­teilige Anschauung verfochten haben. Wenn man auf der anderen Seite wirklich sagen muß, daß Christian Baur und die, welche seine Schüler waren oder mehr oder weniger mit ihm gearbeitet haben, mit ungeheuer kritischem Scharfsinn vorgegangen sind, so dürfen wir doch einen Bibelforscher wie den Geschichtsschreiber und Gelehrten Girörer nicht vergessen, der in Anspruch nimmt, daß das Evangelium vom Apostel Johannes selber herrührt. Mit Fleiß zeigt er, wie gerade dieses Evangelium fast in jedem Satze zeigt, daß ein Augenzeuge es geschrieben hat oder daß es von einem geschrieben worden ist, der von Augenzeugen seine Bot­schaft erhalten hat. Gfrörer geht so weit, daß er in seiner schwäbischen Art und Weise sagt, daß jeder, der - nach dem von ihm Vorgebrachten - nicht daran glaube, daß das Evan­gelium von Johannes herrühre, nicht gut bei Trost sein könne. Auch gegen solche ist er nicht gut zu sprechen, welche sagen, es sei nicht historisch, und sodann mit allen möglichen Dingen diesem Evangelium zu Leibe rücken.

Die Frage, die uns hier interessiert, ist diese: Hat wirk­lich keiner trotz allen Scharfsinnes, trotz aller Gelehrsam­keit, die keinen Augenblick in Abrede gestellt wird, hat

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wirklich nur Forschung, wirklich nur Historie diese An­schauung der neueren Zeit herbeigeführt? - Wer gründlich nicht nur das Äußere der Geschichte durchforschen kann, sondern mit seinem Denken und Fühlen und mit seiner gan­zen Anschauung in die seelischen Untergründe der Mensch­heitsentwickelung hineintauchen kann, der bemerkt bald ein anderes. Es war nicht bloß der historische Sinn, es war nicht bloß die sogenannte objektive Forschung, sondern es waren die Denkgewohnheiten der neueren Zeit, die liebgeworde­nen Anschauungen, die seit dem letzten Jahrhundert, wo sie gegeben waren, immer mehr verbreitet wurden; sie ließen es nicht zu, daß über die Gestak des Christus Jesus in den Seelen sich weiter erhielten der Glaube und die Ideen, die seit Jahrhunderten geherrscht haben, daß in Jesus von Nazareth enthalten war nicht nur eine überragende, son­dern eine universale Wesenheit, eine Wesenheit - bezeich­nen wir sie zunächst als den Christus -, die als geistig-gött­lich nicht nur zur ganzen Menschheit in Beziehung gebracht werden muß, sondern zur ganzen Entwickelung der Welt überhaupt. Es verloren sich der Glaube und die Idee, daß diese Wesenheit gewirkt hat in dem sterblichen Leibe des Jesus von Nazareth, und daß wir da ein einzigartiges Er­eignis vor uns haben. Das widerspricht so sehr den Denk-gewohnheiten, daß sie sich gegeli einen solchen Glauben richten mußten. Da war es die kritische Forschung, die sich unbewußt einschlich, um recht zu geben dem, was die Ge­danken-Gewohnheiten vorerst wollten. Immer mehr und mehr kam der Sinn herauf, der nicht ertragen konnte, daß irgend etwas über das normale Menschlich-Persönliche hin­ausragt, der Sinn, der sich sagt: Ja, es hat große Menschen in der Weltenentwickelung gegeben: Sokrates, Plato oder andere. Gewiß, wir wollen zugeben, daß Jesus von Naza­reth der Größte war. Aber wir müssen innerhalb dieses

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Menschheitsniveaus bleiben. - Daß in Jesu etwas gewohnt haben kann, das sich mit dem normalen Menschen nicht ver­gleichen läßt, das widerspricht den materialistischen Vor­stellungen, die sich immer mehr eingenistet haben, ganz besonders. Wir können sehen, wie dieser Sinn unbewußt eingeschlichen ist und sich mit dem verbunden hat, was die sogenannte historische Forschung feststellte.

Warum wurden immer mehr und mehr die drei ersten Evangelisten die geschätzten und der Schreiber des Johan­nes-Evangeliums der bloße Lyriker und Bekenntnisschrei­ber? Weil man sich sagen konnte, die drei ersten Evange­listen, die Synoptiker, schildern eine ideale Menschenfigur, aber immer etwas, welches, wenn auch hoch, doch nicht dar­über hinausragt. Es schmeichelt dem modernen Sinn, wenn gesagt wird, was ein moderner Theologe gesagt hat: Wenn wir abziehen von dem Jesus von Nazareth alles Übersinn­liche und Spirituelle, wenn wir den schlichten Mann von Nazareth nehmen, dann sind wir dem Jesu am nächsten. -Das geht bei dem Johannes-Evangelium nicht an. Es beginnt gleich mit den Worten: Im Urbeginne war der Logos, das Wort. Und das Wort, das im Urbeginne bei Gott war, das war, bevor es eine materielle Welt gab. Was da war in allen geistigen Urgründen, das ist Fleisch geworden, das hat ge­wandelt im Beginne unserer Zeitrechnung in Palästina. -Die höchste Weisheit wendet der Schreiber des Johannes-Evangeliums an, um dieses Ereignis zu verstehen und zum Verständnis zu bringen. Gegenüber dieser Sache geht es nicht an, von dem schlichten Mann von Nazareth zu spre­chen. Daher durfte er niemals mit einer historischen Ur­kunde zu tun haben. Es sind also nicht allein wissenschaft­liche Gründe, es ist die Entwickelung der gewöhnlichen Ge­danken, Gefühle und Empfindungen, die ihren Ausdruck gefunden haben in dem, was heute als Bibelkritik des

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Neuen Testamentes, was als sogenannte historische For­schung den Anspruch darauf macht, unbedingte oder wenig­stens relative Autorität über diese Dinge zu haben.

Da entsteht aber aus der Geisteswissenschaft heraus eine weitere Frage. Stellen wir uns geradezu auf den Boden, auf den sich manche neue Forscher gestellt haben. Die einen wollten schildern ein Ereignis, das sich im Beginne unserer Zeitrechnung zugetragen hat. Diese setzten dannMythisches und Legendäres dazu. Nehmen wir an, wir stellten uns auf diesen Boden. Da müssen wir uns fragen: Ist eine Möglich­keit vorhanden, aus diesen Voraussetzungen heraus noch von einem Christentum als solchem zu sprechen? Geht es an, von einem Christentum zu sprechen, wenn wir die Ur­kunden, die von diesem Christentum künden, in rein mate­rialistischem Sinne auffassen? Geht das an gegenüber der ganzen Bibel? - Zwei Dinge sollen zunächst angeführt wer­den, welche beweisen werden, daß die Frage gar nicht an­ders gestellt werden kann als wie sie gestellt worden ist, und daß sie andeutend beantwortet werden kann. Nehmen wir an, Christian Baurs Anschauung wäre richtig, daß in Palä­stina etwas geschehen sei, das so zu erklären ist wie die äußeren historischen Tatsachen, und daß im Laufe der Zeit die Schreiber aus den Vorurteilen ihrer Zeit heraus das­jenige der Nachwek überliefert haben, was in ihnen steckt. Nehmen wir an, wir müßten eine solche Forschung voraus­setzen, vor allem mit dem Glauben, daß eine geistigeWesen­heit aus geistigen Sphären heruntergestiegen sei, die ge­wohnt hat in Jesu von Nazareth, auferstanden ist, den Sieg des Lebens über den Tod davongetragen hat - was wir als die eigentliche Essenz des Mysteriums von Golgatha be­zeichnen. Mit dieser Lehre - sagt Baur - muß gebrochen werden. Diese Auffassung gilt als eine dogmatische. Diese Auffassung muß gestrichen werden. Es muß das Ereignis in

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Palästina so untersucht werden wie ein anderes geschicht­liches Ereignis.

Kann dann im wahren Sinne des Wortes von Christen­tum, überhaupt von der Bibel als einem solchen Werke gesprochen werden, das berichtet, was erscheinen muß? Demgegenüber sei auf zwei Tatsachen hingewiesen. Worauf beruht zunächst die erste große und umfassende Wirkung der christlichen Weltanschauung, eine Wirkung, die nie­mand leugnen kann, worauf beruht die Predigt des Paulus? Beruht sie auf dem, was eine neue nüchterne Forschung aus den Evangelien herausliest? Nimmermehr beruht des Paulus Kraft auf einer Verkündigung dessen, was mit den Mitteln einer Historie zu erschöpfen ist. Auf einem Ereignis, das nur aus übersinnlichen, niemals aus sinnlichen Ursachen zu begreifen ist, beruht die ganze Wirksamkeit des Paulus. Wer eintritt in eine Prüfung der Paulinischen Schriften, wird sehen, daß die ganze Lehre des Paulus einfach darauf beruht, daß er die Überzeugung und die Erfahrung gewin­nen konnte, daß der Christus auferstanden ist, und daß im Mysterium von Golgatha der Sieg des Lebens im Geiste über den Tod davongetragen worden ist.

Woraus schöpft Paulus seine Überzeugung von der wah­ren Natur des Christus Jesus? Er schöpft sie nicht, wie etwa die anderen, die um den Christus Jesus herum waren, aus einer unmittelbaren Anweisung. Er schöpft sie, wie Ihnen allen bekannt ist, aus dem Ereignis von Damaskus. Er schöpft sie daraus, daß er sagen konnte: Ich habe den ge­sehen, der in Palästina gelebt und gelitten hat und gestor­ben ist, ich habe ihn gesehen in seinem Leben. - Nichts anderes meint Paulus, als daß er im Geiste den Christus gesehen hat und aus der geistigen Anschauung heraus die Wahrheit gewonnen hat, daß der Christus lebt. Den Chri­stus, den er kennengelernt hat in seiner geistigen Anschau-

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ung, den verkündigt er. Und er stellt diese Erscheinung gleich den anderen Erscheinungen, denn er sagt uns klar:

Nach dem Tode ist der Christus verschiedenen Persönlich­keiten erschienen, den zwölf Jüngern und anderen, und zu­letzt auch mir als einer unzeitigen Geburt. - Damit meint er, daß er wirklich geschaut hat, in einer höheren Anschauung geschaut hat den, der den Sieg über den Tod davongetragen hat, und daß er seit jener Zeit weiß, daß für den, der in die geistige Welt sich erhebt, der Christus lebt.

Hier stehen wir bereits mitten darinnen in bezug auf das Neue Testament, wo die neue Geisteswissenschaft sich schei­den muß von einer jeden bloß buchstäblichen Auffassung der Bibel. Was finden Sie in der Regel in den Schriften der sogenannten neuen Forschung über das Ereignis von Da­maskus? Sie finden darin in der Regel, daß es ein ekstati­scher Zustand war, in dem der Saulus zum Paulus wurde, ein Zustand, in den man nicht so ganz hineinschauen könne. Das entzieht sich der menschlichen Forschung. Ja, der äußeren menschlichen Forschung entzieht es sich. Das ist es aber gerade, was wir so oft in der Geisteswissenschaft be­tont haben, daß der Mensch - was wir weiter in den folgen­den Vortragszyklen lernen können - hinaufsteigen kann zu der Erkenntnis der höheren Welten. Das ist das, was um den Menschen herum ist, wie die Farbe des Lichtes um den Blinden. Sehen lernen kann der Mensch diese höhere Welt, wie der operierte Blindgeborene sehen lernen kann die Farben und das Licht. Das ist dasjenige, was sich durch die geisteswissenschaftlichen Methoden mit der Seele des wahren Schülers der Geisteswissenschaft vollzieht, was ihn fähig macht, hineinzuschauen in die geistigen Welten, um dasjenige selbst zu schauen, was da ist. Was sich mit diesem Schüler vollzieht, und wovon jeder Schüler heute und zu aller Zeit Zeugnis ablegen kann, das hat sich mit Paulus

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vollzogen. Er hat es empfangen: zu hören mit Ohren, die nicht sinnliche Ohren sind, zu sehen mit Augen, die nicht sinnliche Augen sind. Er konnte dann auch Den wahrneh­men, der in Jesu von Nazareth gewohnt hat. Also in das Übersinnliche ragt die ganze Kraft des Paulus. Wenn man den ganzen Paulus nimmt, wie er ist, kann man sagen: Was er gesagt hat, ist durchglüht von dem «Christus lebt, er ist auferstanden. Daher ist nicht eitel unser Glaube».

Und wenn man darauf eingeht, was gerade des Paulus Predigt gewirkt hat, wie gerade er diejenige Gestalt des Christentums verbreitet hat, die durch die Welt gegangen ist, dann kann man nimmermehr sagen, es komme nicht darauf an, an irgendwelche übersinnliche Tatsachen an­zuknüpfen, um die Tatsachen über Jesus zu erforschen. Man müsse die gewöhnlichen wissenschaftlichen Formen anwen­den, sagt man. Man vergißt dann aber nicht nur die Ur­Tatsachen in Palästina, nicht nur das, was in den dreiund­dreißig Jahren geschehen ist, sondern auch dasjenige, was für die Verbreitung des Christentums geschah, man vergißt, daß es auf einem übersinnlichen Ereignis beruht, und daß dieses übersinnliche Ereignis zunächst zu verstehen und zu begreifen ist.

Aber in ganz ähnlicher Weise finden wir auch, wenn wir nur ernst und wirklich die Dinge betrachten, daß das Alte Testament, wenigstens seine wichtigste Urkunde, die Schrif­ten des Moses, auf etwas Ähnlichem beruhen. Wir finden, daß die ganze Sendung des Moses, die ganze Kraft des Mo­ses, durch die er Ungeheueres für sein Volk geschaffen hat, auch auf einem übersinnlichen Ereignis beruht; wie wir vorgestern sagen mußten, daß, wenn sich der Geistesfor­scher hinaufentwickelt, so daß er sehend wird in der geisti­gen Welt und hineinblicken kann in die geistigen Unter­gründe der Dinge, daß er dann dasjenige, was Tatsachen

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der geistigen Welt sind, überschaut in Bildern, den Imagi­nationen. Ja, man kann auch die Vorgänge, die in einem selbst geschehen, wenn man so hinaufsteigt in die geistigen Gefilde, nur in Bildern ausdrücken, wobei aber klar sein muß, daß der, welcher in solchen Bildern spricht, nicht über die Bilder als solche sprechen will, sondern meint, daß man in diesen Bildern das Ausdrucksmittel hat für seine über­sinnlichen Erlebnisse.

Das übersinnliche Erlebnis, durch das Moses seine Sen­dung bekommen hat, ist uns deutlich geschildert in der Erscheinung des brennenden Dornbusches. Da sehen wir, wie Moses, der Leiter und Lenker des Volkes, sich seinem Gott gegenübergestellt sieht, dem Gotte Abrahams, Isaaks und Jakobs, der dem Moses den Auftrag gibt, das für sein Volk zu tun, was wir dann als Moses' Tat geschehen finden. Indem wir dieses heranziehen, stehen wir bereits vor einem Grundnerv der ganzen Bibel, nämlich vor der Frage: Wie haben wir uns überhaupt behufs eines tieferen Eindringens in diese Urkunde zu diesen zwei Tatsachen zu stellen, auf die wir hingewiesen haben als übersinnliche Tatsachen, die eine jede bloß äußerliche Forschung unmöglich machen? Wie haben wir uns zu diesem Grundnerv der Bibel in gei­steswissenschaftlichem Sinn zu verhalten? Wir werden ein­dringen können, wenn wir uns den Inhalt der Offenbarung oder des Erlebens des Moses vor Augen führen.

Die wichtigsten Züge seien nur angeführt. Moses sieht sich gegenüber dem Gotte Abrahams, Isaaks und Jakobs. Der Gott gibt ihm zu gleicher Zeit den Auftrag, das Volk aus Ägypten hinaus zu führen, es zu einer bestimmten Größe und zu einem bestimmten Verhalten zu bringen. Als dann Mos es etwas haben will, wodurch er sich rechtfertigen kann vor dem Volke, damit er sagen könne, wer er sei und wer ihn schickt, da enthüllt der Gott seinen Namen: «Ich

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bin der Ich-bin.» Dieses Wort kann niemand verstehen, der nicht auf den ganzen Sinn und das Wesen alter Namen­gebung einzugehen in der Lage ist. Alte Namengebungen sind nicht die heutigen Namengebungen. Alte Namenge­bungen sollten durchaus ausdrücken das Wesen der Per­sönlichkeit, das Wesen dessen, der uns entgegentritt. In dem «Ich bin der Ich-bin» mußte sich in ganz bestimmter Art das Wesen des Gottes ausdrücken, der dem Moses gegen­überstand, und der sich nennt «der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs». Warum nennt er sich der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs? Dahinter liegt ein Geheimnis, das ent­rätselt sein will. Wir können es nur enträtseln, wenn wir mit den Mitteln der Geisteswissenschaft daran herantreten. Wir werden es in den verschiedenen Stellen immer wieder hervorzuheben haben, daß der Mensch besteht aus den verschiedenen Gliedern seiner Wesenheit, daß wir in dem, was wir den physischen Leib nennen, nur einen Teil des Menschen vor uns haben, daß wir außer diesem höhere Glieder haben, die übersinnlich sind, die die eigentlichen Grundlagen, die schöpferischen Prinzipien sind. Wir müs­sen hinzufügen dem physischen Leib den Äther- oder Le­bensleib, dann den Astralleib und als viertes Glied den Ich-Träger. Den physischen Leib hat der Mensch gemein­schaftlich mit den scheinbar leblosen Wesen, mit den Mine­ralien, den Ätherleib mit den Pflanzen und allen leben­digen Wesen, den Astralleib mit den tierischen Wesen, mit dem, was Leidenschaften und Begierden haben kann. Durch das Ich ragt der Mensch über alle sinnlichen Wesen, die ihn umgeben, hinaus. Das sind die vier realen Glieder der menschlichen Wesenheit, welche die Geisteswissenschaft im­mer anerkannt hat.

Hinweisen müssen wir darauf, daß das, was wir heute den physischen Leib nennen, ebenso seinen geistigen Ur-

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grund hat und nur verdichtet ist aus dem Geistigen. Wie das Eis aus dem Wasser, so ist das Physische aus dem Gei­stigen heraus entstanden. Wir müssen weit zurück gehen in der Anschauung der Geistesentwickelung, wenn wir die ersten geistigen Ursprünge des physischen Menschenleibes suchen wollen. Von den vier Gliedern der menschlichen Wesenheit ist dieses vierte Glied durchaus das älteste. Der physische Leib ist heute der dichteste. Er ist das, was vom Geiste ausgegangen ist in ferner Vergangenheit. Er ist im­mer dichter und dichter geworden, durch manche Umwand­lungen hindurch gegangen und hat dadurch seine physische Gestalt angenommen. Das ist das älteste am Menschen. Ein jüngeres Glied ist der Äther- oder Lebensleib. Er ist später hinzugekommen, daher er sich auch in einem geringeren Verdichtungsgrade darstellt. Noch jünger ist der Astralleib. Das jüngste Glied ist das Ich, der Träger des menschlichen Selbstbewußtseins. Alle diese Glieder sind aus geistigen Urgründen und geistigen Wesenheiten, aus göttlich-geisti­gen Wesenheiten heraus entstanden. Wir können sagen, die Geisteswissenschaft zeigt uns, daß dieses Ich, wodurch der Mensch die heutige selbstbewußte Wesenheit geworden ist, sich hineingesenkt hat in den Leib. Er war zusammenge­fügt, bevor er Ich-Wesenheit wurde, aus physischem, Äther- und Astralleib.

Diejenigen Wesenheiten nun, welche die Schöpfer, die Bildner dieser drei Glieder der menschlichen Wesenheit sind, die unterscheidet auch die Bibel. Die Lehre des Moses spricht von dem Schöpfer, dem Bildner des menschlichen Ichs, von dem Schöpfer des Trägers des menschlichen Selbst­bewußtseins. Daher sieht auch die Bibel in dem Gotte, der in den Menschen einfließen ließ das Ich, sozusagen den, der am letzten darangekommen ist in bezug auf die Evolution des Menschen. Die göttlichen Wesenheiten, die als die Elo-

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him bezeichnet werden, die wir streng unterschieden haben von dem Gotte Jahve oder Jehovah, diese göttlichen We­senheiten sind die Schöpfer von dem physischen, ätherischen und astralischen Leib. Sie sind in der Bibel genau unter­schieden von dem letzten in unserer Evolution auftretenden Gott, von dem Jahve-Gott, von dem, der dem Menschen das Ich gebracht hat. Wenn wir fragen: Wo findet der Mensch die Wesenheit dieses Gottes, dieses jüngsten der schöpferischen Götter, von dem die Bibel zu sprechen be­ginnt im vierten Vers des zweiten Kapitels der Genesis? - da zeigt uns die Geisteswissenschaft, daß da, wo der Mensch in sich sein Ich findet, das sich so wesentlich, schon seinem Namen nach, von allen anderen Wesenheiten um uns herum unterscheidet, daß er da findet in sich einen Tropfen dieser göttlichen Wesenheit. Das ist keine pantheistische Lehre, auch keine Erklärung dafür, daß der Mensch seinen Gott in sich zu finden hat. Das zu behaupten wäre gleich dem, der behauptet, ein Tropfen Wasser ist dasselbe Wesen wie das Meer - und sagt: dieser Tropfen Wasser ist das Meer.

Wenn wir sprechen im Sinne der Geisteswissenschaft, so sprechen wir von einem Unendlichen, Umfassenden, Uni­versalen, das verknüpft ist mit der irdischen Entwickelung und dem anderen, was zu dieser irdischen Entwickelung gehört. In unserem Ich finden wir einen Funken dieser Jahve-Gottheit, wie in dem Wassertropfen dieselbe Wesen­heit ist wie im Meer. Aber es war der Weg, den die Ent­wickelung des Menschen zurücklegen mußte, ein sehr langer, wobei die Jahve-Gottheit anfing, den Menschen so zu for­men, daß er das Ich mit dem Bewußtsein erfassen konnte. Die Kraft des Ichs mußte vorher lange im Menschen arbei­ten, bevor der Mensch zum Bewußtsein des Ichs kam. Moses wurde der große Vorläufer in dem Bringen des Bewußt-

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seins des Menschen zum Ich. Aber diese Kräfte arbeiten und bilden schon lange an der menschlichen Evolution vorher. Sie bilden so, daß wir ihre Weise erkennen können, wenn wir uns etwas mit der Evolution des menschlichen Bewußt­seins selber beschäftigen.

Blicken wir ein wenig zurück in der Entwickelung des menschlichen Bewußtseins. Das Wort Entwickelung braucht man heute sehr häufig, aber so durchgreifend, so intensiv wie die Geisteswissenschaft Ernst macht mit dem Worte Entwickelung, so ist es bei keiner anderen Wissenschaft der Fall. Dieses menschliche Bewußtsein, wie es heute ist, hat sich aus anderen Bewußtseinsformen entwickelt. Wenn wir weit, weit zurückgehen in der Herkunft des Menschen, nicht im Sinne materialistischer Wissenschaft, sondern so, wie ich es vorgestern entwickelt habe, dann finden wir, daß das Menschen-Bewußtsein immer mehr als ein anderes erscheint, je weiter wir zurückgehen. Dieses Bewußtsein, welches die verschiedenen Verstandesbegriffe, die äußeren Sinneswahr­nehmungen in der bekannten Art verknüpft, das ist erst entstanden, wenn auch in urferner Vergangenheit, aber es ist erst entstanden. Wir können in jener Zeit einen Zustand des Bewußtseins finden, der ganz anders war als heute, weil besonders das Gedächtnis ganz anders war. Das, was der Mensch heute als Gedächtnis hat, ist nur ein herunterge­kommener Rest einer alten Seelenkraft, die in ganz anderer Weise vorhanden war. In alten Zeiten, als der Mensch noch nicht die kombinierende Kraft seines heutigen Verstandes hatte, als er noch nicht imstande war, zu rechnen und zu zählen im heutigen Sinne, als er noch nicht seine Verstan­deslogik ausgebildet hatte, da hatte er dafür eine andere Kraft der Seele: er hatte ein universelles Gedächtnis aus­gebildet. Dieses mußte abnehmen, mußte zurücktreten, damit auf seine Kosten unser heutiger Verstand zu seiner

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Entwickelung kommen konnte. So ist überhaupt der Gang der Entwickelung, daß eine Kraft in den Hintergrund tritt, damit die andere auftauchen kann. Das Gedächtnis ist eine abnehmende Kraft, der Verstand und die Vernunft sind zunehmende Seelenkräfte.

Für diejenigen, die schon längere Jahre hier diese Vor­träge hören, kann es nicht etwas besonders Wunderbares sein, was ich jetzt sagen werde. Für die anderen wird es grotesk erscheinen, wenn über die Natur des Gedächtnisses in der folgenden Weise gesprochen werden wird. Was ist das Äußere des menschlichen Gedächtnisses? Es ist das, daß es sich zurückerinnert an gestern, vorgestern und so weiter, bis in die Kindheit. Dann reißt es aber einmal ab. Dieses Gedächtnis riß nicht ab in urferner Vergangenheit, nicht in der Kindheit, nicht einmal bei der Geburt; sondern wie der heutige Mensch sich erinnert an dasjenige, was er selbst in seinem persönlichen Leben erlebt hat, so erinnerte sich der Mensch der Vorzeit an dasjenige, was der Vater, der Groß­vater, was die ganze Generation hindurch erlebt hat. Das Gedächtnis war durch Generationen hindurch eine Seelenkraft, die sich real verbreitete. Durch Jahrhunderte hin­durch hat sich in urferner Vergangenheit die Erinnerung erhalten, und mit dieser anderen Ausbildung des Gedächt­nisses hing eine andere Art der Namengebung zusammen.

Wir kommen nun zu der Frage: Warum ist in den ersten Kapiteln der Bibel von Individualitäten die Rede, die wie Adam, Noah Jahrhunderte alt werden? Weil es für die Menschen, die hier gemeint sind, keinen Sinn hätte, die Per­sonen zu begrenzen. Die Erinnerung reicht hinauf durch Generationen bis zu dem Urvater. Dieser ganzen Genera­tion gab man einen Namen. Es hätte keinen Sinn gehabt, einer einzelnen Persönlichkeit den Namen Adam zu geben. So gab man dazumal den Namen dem, was sich, die gleiche

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Erinnerung festhaltend, durch Jahrhunderte hindurch von Generation zu Generation zurückerinnerte - Adam, Noah. Und was war das? Es war das, was durch Vater, Sohn und Enkel geht, aber die Erinnerung bewahrte. So treu bewahrt die biblische Urkunde die Geheimnisse der Geisteswissen­schaft.

Wenn wir das Bewußtsein des Ichs, durch das wir die Wesenheit der Jahve-Gottheit erfassen, betrachten, so wer­den wir sehen, daß das Ich in uns lebt zwischen Geburt und Tod, und daß es diese seine einerlei Art aufrechterhält zwi­schen Geburt und Tod. So hielt das Ich sich damals durch Generationen, durch Jahrhunderte hindurch aufrecht. Wie wir heute von dem Ich sprechen und wissen, daß das Ich zurückgeht so weit, wie wir uns erinnern, ebenso sagte sich der Mensch der Urzeit: Mich selbst ein Ich zu nennen, hat keinen Sinn. Ich erinnere mich zurück an meinen Vater, Großvater, Urgroßvater. - Sein Ich ging durch die Genera­tionen, und es hatte sogar einen Namen. Wie wir in unse­rem persönlichen Ich einen Ausdruck des Gottes finden, wenn wir uns in dieses Ich vertiefen, so sagte sich der alte Mensch, indem er hinaufsah durch die Generationen: Der Gott, der in dem Ich lebt, lebt durch Generationen hinun­ter, - als eine Gottheit, die dann Moses in den höheren Welten erkannte. Der Gott war kein anderer als der, welcher sich in alten Zeiten als ein Ich von Generation zu Generation hindurch gelebt hat. Man bezeichnete als Ich, in der Aus­drucksweise der damaligen Zeit, was sich als Ausdruck des Jahve-Gottes fortpflanzte, mit dem Jahve-Worte «Ich bin der Ich-bin». Das war das, was Moses in seiner geistigen Offenbarung erkennen lernte. Im Erschauen des brennen­den Dornbusches ist das zum ersten Male offenbart worden. Es war derselbe Gott, der früher von Generation zu Gene­ration herunter gelebt hat, der Gott Abrahams, Isaaks und

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Jakobs. Es war die Kraft, die also in der lebendigen Er­innerung fortlebte und zu gleicher Zeit alles mit sich brachte, was die menschliche Ordnung begründete. So schauen wir hinauf auf die Vorgängerschaft des Moses. Im biblischen Sinne schauen wir hinauf bis zu den Patriarchen, bis zu denen, in welchen der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs lebte.

Diese Zeiten brauchten keine äußeren Gebote, keine äuße­ren Gesetze. Denn mit dem lebendigen Gedächtnis, mit des­sen ganz anderer Art als das Gedächtnis heute ist, lebte sich fort dasjenige, was man zu tun hatte. Wonach handelte man in diesen Urzeiten? Man kommt darauf, wenn man die Bibel richtig versteht. Man handelte nicht nach Geboten. Man handelte nach dem, was einem die Erinnerung sagte, was der Vater, der Großvater und so weiter getan haben. Mit seinem Blute bekam man eingeboren die Richtung zu dem, was man zu tun hatte. Es war in diesen alten Genera­tionen etwas wie ein vergeistigter Instinkt. Wenn wir heute, als Vergleich gebraucht, sagen: «aus Instinkt heraus han­deln», so ist das ein Gebot. Nein, der alte Mensch handelte nach dem Charakter seines Wesens, nach seinem Gattungs­wesen. Wie handelten die mit Abraham, Isaak und Jakob in der Bibel bezeichneten Wesen? Sie handelten so, wie das durch die Generationen rinnende Blut es ihnen eindrückte. Der Gott Jahves war es, den sie heruntergebracht hatten mit ihrem Ich, ob sie Krieg führten, ob sie in Frieden lebten. Gebote hatten sie nicht, ein Gesetz hatten sie nicht. Es war der vergeistigte Instinkt Gottes, der in ihnen lebte.

Zu der Zeit, als Moses auftrat, da war die menschliche Persönlichkeit auf der ersten Stufe ihrer Ausbildung. Da riß sie sich los in ihrem Bewußtsein von diesem gemein­samen Bewußtsein der Generation. Da hatte schon gründ­-

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lich aufgehört das Gedächtnis, das durch die Generationen hinaufreichte. Da hatte man nicht mehr den vergeistigten Instinkt zum Handeln. Da mußte etwas anderes an dessen Stelle treten. Da mußte der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der in seiner geistigen Naturgestalt Moses das Ge­setz, die Gebote gab, weil man nicht mehr den vergeistigten Instinkt hatte, da mußte er die äußere Ordnung, das soziale Zusammenleben durch die Gebote, durch das Gesetz regeln.

So ist derselbe Gott, der vordem als Naturkraft gewirkt hat, jetzt als Gesetzgeber wirksam, um die äußere Ordnung auf dem Gesetzeswege zu begründen. So sehen wir, daß es einen tiefen Sinn hat, an dieser Stelle die Worte zu lesen:

der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Der Gott, der sich bezeichnet als der Gott «Ich bin der Ich-bin», er ist der­selbe wie das vierte Glied der menschlichen Wesenheit, der­selbe, der das Ich in die menschliche Wesenheit einfließen ließ. Aber die Menschen konnten die geistige Natur des Ichs nicht in ihr Bewußtsein aufnehmen. Dazu bedurfte es wieder einer längeren Vorbereitung, und diese fällt in die Zeit, die uns durch die Bibel als das Alte Testament geschil­dert wird, in die Zeit von Moses bis zum Mysterium von Golgatha. Daher ist diese Zeit eine Zeit der Verheißung, die das neue Evangelium darstellt, der Beginn der «Zeit der Erfüllung». Es kündigt sich also dem Moses der Gott an, der den Ausdruck fand «Ich bin der Ich-bin». Er kündigt sich so an, daß er die äußere Ordnung der Menschen, das Zusammenleben derselben durch Gesetze ordnet, auf dem Umwege durch Mosis Schauen, durch Mosis Sehen. So lebte die Menschheit in der vorchristlichen Zeit, in der der Gott schuf, in der der Jahve-Gott bildete, in der der «Ich bin der Ich-bin» lebt, welcher aber noch nicht bewußt leben konnte, sondern nach dem äußerlichen Gesetze, das aber von ihm stammte. Immer mehr rückt die Zeit

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heran, wo sich die Menschheit des vollen Ichs bewußt werden sollte. Durch das ganze Altertum hindurch gab es nur ein Mittel für die Men­schen, die noch nicht schauen konnten, noch nicht entgegen­treten konnten dem Gott in der physischen Welt. Nur eine Art gab es, wie dieser Gott für sie wirksam werden konnte. Das war das Gesetz, die Ordnung. Das galt für die äußere Welt.

Außerdem gab es eine übersinnliche Art, diesen Gott kennenzulernen, und das waren die Mysterien oder die Einweihung. Was war die Einweihung? Alles das, was ge­wissen Persönlichkeiten überliefert wurde, welche dazu ge­eignet befunden wurden, die Methoden anzuwenden, die die geisteswissenschaftliche Forschung hat, um die im Men­schen schlummernden Kräfte und Fähigkeiten zu entwickeln, so daß sie in die geistige Welt hineinschauen konnten. Für die Bekenner des Alten Testamentes würde es daher so sein, Gott, der in dem «Ich-bin» lebt, geistig von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Wenn sie diese Methode anwendeten, wurden sie in die Lage versetzt, mit geistigen Augen und Ohren zu hören und zu sehen, selbst zu sehen, was Moses gesehen hat, als ihm der Gott, der «Ich-bin», die Mission erteilt hat. Aber nur in den Mysterien, nur durch die Ein­weihung war das möglich.

Aber es gab auch solche, die den «Ich bin der Ich-bin» er­kannten, aber sie mußten dazu alle die Prozeduren, die Methoden durchmachen, wodurch sich der Mensch umge­staltet zu einem Instrumente des höheren Schauens, des Hineinblickens in die geistige Welt. So also war diejenige Gottheit, die schon in Abraham, Isaak und Jakob lebte, nach außen für die physische Welt ganz verhüllt. Sie ord­nete die Welt durch das Gesetz. Für den Eingeweihten wird im Denken das Geheimnis der Mysterien schaubar. Nun kam die Zeit, in der das Mysterium von Golgatha sich voll­-

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ziehen sollte. Was war da eigentlich geschehen? Stellen wir uns so richtig vor die Seele, was den Eingeweihten in den alten Zeiten passierte. Nur skizzenhaft schildern kann ich Ihnen den Vorgang der Einweihung durch Meditation, Konzentration und die anderen Übungen. Durch diese wurde die Seele des Einzuweihenden lange vorbereitet. Dann kam ein dreieinhalb Tage währender Abschluß die­ser Einweihungsvorgänge. Da wurde der Mensch, der ein­geweiht werden sollte und der so weit war, durch den Ein­weihungsweisen in einen Zustand gebracht, durch den sein physischer Leib vollständig schlafend war. Nicht nur schla­fend war er, sondern wie tot, so also, daß der Mensch sich seiner physischen Sinne, seiner physischen Augen und Ohren nicht bedienen konnte. Dafür aber sah er durch die Organe seiner geistigen Glieder hinein in die geistigen Welten. Er konnte da wahrnehmen, wenn er außerhalb seines Leibes war, wenn er nicht gefesselt war, wenn er in Latenz der physischen Organe war. Er konnte dann in sich schauen, was unsichtbar in ihm lebte als das «Ich bin der Ich-bin»; aber er konnte es nur in den Tiefen der Mysterien schauen. Dann wurde er - wie jeder weiß, der diese Dinge kennt - auf­geweckt in seinem physischen Leibe und bediente sich wie­der der physischen Sinne. Aber er hatte jetzt das volle Be­wußtsein: «Ich bin der Ich-bin, ich war in der geistigen Welt. Das, was zu Moses gesprochen hat: , das stand vor mir, und es ist das, was mir die Ewigkeit verwehrt, das, was in meinen Leib eingezogen ist. Mit dem war ich verbunden. Ich war mit dem göttlichen Urträger des Ich-bin verbunden, dessen Abglanz und Spiegelbild mein Ich-bin ist.»

So kehrte der Eingeweihte zurück in die physische Welt und wurde Zeuge dafür, daß es ein Geistiges gibt im Ich, denn er hatte es geschaut. Kunde und Botschaft konnte er

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ablegen vor seinen Zuhörern, denen er Botschaft zu geben berufen war. So konnte man aber nur in der geistigen Welt sehen den «Ich bin der Ich-bin». Durch das Ereignis von Golgatha stieg dieselbe Wesenheit, die sich angekündigt hatte bei Moses in dem brennenden Dornbusch mit den Worten «Ich bin der Ich-bin», herab in die Menschen. Das ist ganz im Sinne des Johannes-Evangeliums: Das Ich ist Fleisch geworden in dem Leibe des Jesus von Nazareth, wohnte in demselben und wandelte unter den Menschen. Das war die Urkraft, die gerade den Menschen auf die Höhe gebracht hat, auf der er heute steht. Die Urkraft wurde Mensch; eine Gott-Wesenheit war Mensch geworden und wandelte unter den Menschen. Die Möglichkeit war da, daß innerhalb des geschichtlichen Verlaufs der Menschheit das einmal als historisches Ereignis da war, was die Ein­geweihten nur im Geiste erschauen konnten, was auf Gol­gatha sich als historisches Ereignis vollzogen hat: daß das Christus-Wesen den Sieg über den Tod der Materie davon­getragen hat.

Das ist das Historisch-äußerlich-Wirkliche, das sich in den Mysterien so und so oft an den Eingeweihten vollzogen hat. So ist der Verlauf der Dinge, die während der alten Zeiten in dem tiefen Dunkel der heiligen Mysterien sich ereigneten bei denen, die durch dreieinhalb Tage ihren phy­sischen Leib nach dem Eingeweihten-Drama verließen, und die während dieser Zeit in der geistigen Welt wandelten und in die geistigen Urgründe des Menschen schauten. Daß dieses Ereignis herabsteigt in die physische Welt und sich als historische Tatsache darstellt, das ist der Verlauf.

Jetzt aber kam die Menschheit durch die Hinneigung der Gefühle und Empfindungen und Gedanken zu dem Ereignis von Golgatha durch den Glauben.

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Dann wurde das Ver­ständnis daraus. Es war etwas Neues gegeben. Es war ge­geben, das äußerlich zu haben, was man sonst nur durch das Entrücktsein in der geistigen Welt haben konnte. Wenn man das so annimmt, dann verstehen wir, warum der Chri­stus Jesus sagt: Ich bin der Ich-bin in einer völlig neuen Gestalt. - Er sagt: Blickt zurück in die Urzeiten, in das­jenige, was als das Ewige im Menschen gelebt hat, das sich herunter gelebt hat in Abraham, Isaak und Jakob, das sich dann in dem Gesetze des Moses kundgegeben hat. Jetzt ist die Zeit da, wo das Ich sich bewußt wird in der einzelnen Persönlichkeit, wo der Mensch sich in seinem Ich, in dem in ihm wohnenden Göttlichen, voll bewußt werden soll.

War es in den alten Zeiten so, daß der Mensch hinaufschaute zu dem Gott, daß er schaute und sich sagen konnte: Was in mir lebt, das lebt durch die Generationen, - so ist es jetzt so, daß, wenn er in sich hineinschaut, er das Göttliche in seinem Ich findet. Das Göttliche, aus dem jedes Ich her­vorgegangen ist, das war der Körper des Jesus von Naza­reth, und der das verstand, der schrieb: Im Urbeginne war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. - Mit dem Wort ist das Wesen der innersten Men­schennatur und zugleich der Urquell dieses innerstenWesens gemeint. Und dem Matthäus legt er in den Mund: Das, was in mir lebt, von dem ein Funke in jeder menschlichen Per­sönlichkeit ist, das war, ehe das Evangelium war. - Der bedeutsame Satz in dem Johannes-Evangelium war: «Ehe denn Abraham ward, bin Ich.» - Bevor ein Abraham war, war das «Ich-bin», das Ich-bin, das nicht an eine Zeit ge­bunden ist, das vor Abraham war, das da war schon in den geistigen Urgründen des Menschen. Indem er sich selber als den Urquell des Ich-bin bezeichnen mußte, sprach der Chri­stus das bedeutsame Wort: Ehe Abraham ward, war das Ich-bin.

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So sehen wir, wie der Sinn der Menschheitsentwickelung, wie ihn die Geisteswissenschaft wieder lebendig macht, indem ganzen Grundbuch der Dinge durch das Alte und das Neue Testament hindurchflutet. Und wir sehen, wie uns die wichtigsten Worte erst lesbar werden, wenn wir den Sinn der Worte, unabhängig von den Worten, durch die Geistes­wissenschaft ergründen. Um etwas anzuführen, was dem materialistischen Sinn im Geiste zu bedenken gibt, sei an die Auferweckung des Lazarus erinnert. Sehen Sie, sagt ein solcher Mann wie Gfrörer: Wer behauptet, das Johannes-Evangelium sei nicht von Johannes geschrieben, der hilft sich damit, daß er sagt, vieles hat der Schreiber hingeschrie­ben, so wie er es erlebt und verstanden hat, aber das Laza­rus-Wunder muß ihm erzählt worden sein. Da kann er nicht dabei gewesen sein. - Man muß das Lazarus-Wunder nur richtig verstehen. Fassen wir es doch so, daß der Chri­stus, als er in die Welt trat, den Leib des Jesus von Naza­reth annahm. Fassen wir es doch so, daß das, was im Alten Testamente vorbereitet wurde, im Neuen seinen Ausdruck gefunden hat. Er mußte da eine Persönlichkeit haben, die ihn vollständig verstehen konnte, die im tiefsten Sinne ein­dringen konnte in das, was er verkündigen konnte, das heißt, er mußte auf seine Art eine Persönlichkeit einweihen.

Einweihungsgeschichten werden uns zu allen Zeiten unter Verhüllung erzählt. Das Lazarus-Wunder ist nichts anderes als die wunderbare und gewaltige Darstellung, wie der Christus den ersten Eingeweihten des Neuen Testamentes geschaffen hat, wie der Eingeweihte bei seinem Schüler, der dreieinhalb Tage in einem todähnlichen Zustande lag, die Seele wieder zurückrief in den Leib, nachdem sie die Wanderung durch die geistige Welt gemacht hatte, um nachher durch den Christus selbst erweckt zu werden. Alles das ist leicht zu durchschauen von dem, der etwas davon versteht,

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denn es ist die Sprache, in der überhaupt Einweihungsgeschichten erzählt werden. «Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern sie dient zur Ehre Gottes, damit der Sohn Gottes durch sie geehret wird.» Das bedeutet: äußeres Erscheinen als Offenbarung des Inneren; so daß der Satz in Wahrheit zu übersetzen ist: «Die Krankheit ist nicht zum Tode, sondern daß der Gott als äußere Erscheinung offenbar werde, damit er auch für die Sinne geoffenbart werden könne.» In der Persönlichkeit des Lazarus schlummert die tiefere menschliche Wesenheit, die die Fähigkeit und die Kraft hat, daß sie in geheimnisvoller Art in ihm entwickelt werden konnte, hinaufgeführt werden konnte in die geistige Welt, so daß er erkennen konnte das Wesen des Christus selber, des Sohnes Gottes. Diese Kraft mußte aber erst entwickelt werden. Er entwickelte sie in Lazarus, damit das Göttliche, das in Lazarus ruhte, offenbar werden könne, und offenbaren könne dasjenige, was der Sohn Gottes sei. So schafft der Christus Jesus in Lazarus den ersten, der aus eigener innerer Beobachtung weiß, wer der Christus Jesus eigentlich ist. Zu gleicher Zeit zeigt dieses Wunder - denn es ist für den, der nur die äußeren physischen Gesetze gelten lassen will, ein echtesWunder -, was der betreffende Schüler während der dreieinhalb Tage durchmachen muß, denn das kommt einem echten Tode gleich, weil der Ätherleib und der Astralleib aus dem physischen Leib herausgehoben werden und nur der physische Leib daliegt.

So also haben wir aus der Geisteswissenschaft heraus selbst ein so wunderbares Ereignis - wunderbar nur für denjenigen, der es nicht erklären kann -, ein so wunderbares Ereignis durchdrungen, wie das Lazarus-Wunder es ist. Alles das enthüllt sich Ihnen in dem Lazarus-Wunder, wenn Sie nur das Licht haben, das darauf fällt durch die Worte: Seine Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Enthül-

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lung des Inneren. - Wenn diese Fähigkeiten erweckt werden im Menschen, so ist das wie eine Geburt. Wie ein Kind aus dem Mutterschoß hervorgeht, so wird das Höhere aus dem niederen Menschen geboren. So ist die Krankheit des Lazarus verbunden mit der Geburt des neuen Lebens, des GottMenschen, so daß der göttliche Mensch in dem physischen Menschen, im Lazarus, geboren wird.

So könnten wir Schritt für Schritt das Johannes-Evangelium durchgehen und würden die Erfahrung machen, daß dasjenige, was in der geistigen Einweihung geschieht, ganz anders geschildert werden mußte, als das, was wir sehen in alten Zeiten, wo mit ganz anderen Geisteskräften der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs wirkt. Und wenn wir so hineinblicken in die Bibel, dann wird sie uns wieder das hohe Universalbuch, das uns entgegenleuchten läßt, was wir jetzt selbst gefunden haben. Indem wir zugeben müssen - wir können das sagen —, daß nur derjenige, der höhere geistige Kräfte ausgebildet hat, zu diesen Wahrheiten kommen kann, so müssen wir, wenn sie uns entgegentreten im Johannes-Evangelium, auch zugeben und sagen können, was sie in diese Schriften gebracht hat. Indem ein neuer Geistesforscher an das Evangelium und an die ganze Bibel herantrat, lernte er das sehen und kann sagen: Die Menschen werden wieder zu einem wahren Wert dieser Urkunde kommen und erkennen, daß nur ein materialistisches Vorurteil die Worte sprechen kann: «der schlichte Mann von Nazareth». Wir aber haben als Ergebnis der wahren Erkenntnis in dem Christus eine überwältigende Welt-Wesenheit erkannt, die in dem Leibe des Jesus von Nazareth gelebt hat.

So erscheinen uns die drei ersten Evangelien im Verhältnis zu dem Johannes-Evangelium etwa so, wie wenn drei Menschen gruppiert am Abhange eines Berges stehen und jeder aufzeichnet, was er sieht. Jeder sieht einen Ausschnitt.

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Derjenige, der von der höheren Warte heruntersieht, übersieht mehr und schildert mehr von dieser höheren Warte aus. Wir erfahren nicht nur dasjenige, was die anderen unten schildern, sondern auch dasjenige, was alle drei zugleich erklärlich machen kann. So ist es nicht schwer zu sagen, welcher es war, der auf der höheren Warte stand, sondern für uns ist es so, daß die drei ersten Schreiber auch in gewisser Beziehung Eingeweihte waren. Aber der tiefer Eingeweihte, derjenige, der viel tiefer, viel tiefer hineinsehen konnte als die drei anderen und über die wahren geistigen Tatbestände, die hinter dem Sinnlichen liegen, schreiben konnte, das ist der Schreiber des Johannes-Evangeliums. So gliedern sich uns die Evangelien zusammen zu einer Harmonie, und zeigen, daß das, was als Mysterium von Golgatha sich abgespielt hat, nicht begriffen werden kann als gewöhnliches geschichtliches Ereignis, sondern nur erklärlich wird durch einen Prozeß, wie wir ihn bei Paulus finden, der sagt: Nicht ich lebe, sondern Christus lebt in mir.

Was nebenher von der äußeren Forschung gezeigt wird, das wird uns in der Geistesforschung ebenso wichtig. Wenn wir auf das Christentum sehen, so wird es uns wichtig sein, das Hellsehertum des Moses zu durchschauen, das uns in dem Traumbild vom brennenden Dornbusch dargestellt wird. Das ist es, was darzulegen war. Das eine soll nur noch hervorgehoben werden: daß diese neue Geisteswissenschaft fähig sein wird, aus sich selbst heraus das Bild des Weltengeschehens zu bilden, den Christus sozusagen geistig von Angesicht zu Angesicht zu schauen und ihn daher auf wahrhafte Art wiederzufinden in den Evangelien. Wahrhaft voraussetzungslos ist nicht jene Bibelforschung, die da sagt: Wir wollen die Bibel erforschen wie eine andere Geschichte. - Denn sie setzt voraus das Dogma, daß es nur gewöhnliche, sinnliche, natürliche Tatsachenzusammenhänge geben

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könne. Wahrhaft voraussetzungslos ist nur die Geisteswissenschaft, und diese führt zu einer erneuerten Anerkennung und Hochschätzung der Bibel in allen ihren Teilen. Es wird eine Zeit kommen, wo vielleicht diejenigen verstimmt sein werden, die heute sagen wollen, nur dem schlichten Verstände sei es gegeben, die Bibel zu erfassen. Diese Weisheit muß die Bibel verkennen. Es wird die Zeit kommen, wo gerade die weiseste Weisheit am höchsten dasjenige schätzen wird, was uns in der Bibel gegeben wird, weil Sehertum sich dem Sehertum in der Bibel gegenüber erblicken wird. Dann wird manches Wort, das im Neuen Testament geschrieben ist, in einem neuen Licht erscheinen. Es wird sich zeigen, daß ein Dokument wie die Bibel nichts verlieren kann durch unbefangene Forschung. Traurig stünde es, wenn irgendeine Forschung diese Bibel um ihr Ansehen, um ihren Namen bringen könnte. Eine Forschung, welche die Bibel um ihren Namen bringt, ist nur noch nicht weit genug gekommen. Die Forschung, welche bis an das Ende geht, wird die Bibel wieder in ihrer Größe darstellen.

Frei darf der Mensch forschen. Wer die Ansicht hat, durch die Forschung könne die Religion zugrunde gehen, der zeigt damit nur, daß seine Religiosität auf schwachen Füßen steht. Die göttliche Wesenheit hat den Forschungstrieb in des Menschen Wesen gelegt, damit er sich betätige. Eine Sünde gegen diesen Trieb wäre es, wenn man nicht forschend leben würde. Ich erkenne Gott durch die Forschung. Der Gott erkennt sich in meinem Forschen. Die Wahrheit ist ein Gut in der menschlichen Entwickelung, von der niemals das wahrhaft religiöse Leben etwas zu fürchten haben wird. Das aber ist eine Grundwahrheit, die das Neue Testament völlig durchzieht.

Sie sollten nicht jene berücksichtigen, die aus Bequemlichkeit die Menschen fernhalten wollen von der Bibel, und

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die sagen: Wenn ihr zu Philosophen kommt und die Bibel auslegt, so werden diese sagen, sie wollen nichts davon wissen. - Ein solches Forschen beruht aber auf Bequemlichkeit. Dasjenige Forschen dagegen ist berechtigt und richtig, das sagt: Wir können nicht tief genug gehen, um dasjenige zu verstehen, was in der Bibel steht. - Dasjenige Forschen in der Bibel ist das richtige, das in freier Forschung darauf eingeht und dann auch die Bibel im rechten Sinne erfassen wird. Diese Forscher begreifen die Wahrheit des Bibelwortes: Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.

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DER ABERGLAUBE VOM STANDPUNKTE DER GEISTESWISSENSCHAFT Berlin, 10. Dezember 1908

Vor einiger Zeit, als ich in einem kleinen Orte Deutschlands weilte, machte ich die Bekanntschaft eines Dichters, eines Dramatikers, und in der Zeit unserer Bekanntschaft war er eben damit beschäftigt, ein Drama fertigzuschreiben. An einem Nachmittag arbeitete er, wie ich bei einem Besuch, den ich zu machen hatte, bemerken konnte, geradezu wie mit Dampfkraft an der Fertigstellung seines Dramas. Man konnte gar nicht mit ihm sprechen, denn es handelte sich für ihn nur darum, die Sache so rasch wie möglich vorwärts-zubringen. Am Abend kurz vor acht Uhr machte ich einen Gang. Ich begegnete meinem guten Dramatiker, als er mit einer Riesengeschwindigkeit auf dem Zweirad dahinsauste; er sauste zur Post und war nicht aufzuhalten. Aber es inter­essierte mich doch - Sie werden gleich sehen warum -, war­um der Betreffende gerade an jenem Tage so außerordent­lich rasch zur Post sauste. Es war kurz vor acht Uhr, wo die Post geschlossen wurde. Als er zurückkam, sagte er mir auf meine Frage, warum er in solcher Eile gerade heute noch zur Post müsse, das hätte eine besondere Bewandtnis.

Nun werden Sie diese Bewandtnis am besten dann ver­stehen, wenn ich vorausschicke, daß nach einer damals ge­rade beginnenden, dann aber rasch herrschend werdenden Mode der betreffende Dramatiker zu den freiesten Geistern der Gegenwart zählte und dasjenige, was er als seine Weltanschauung bezeichnete, in den freiesten Phrasen zur Darstellung

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brachte. Ein ganz Fortgeschrittener war er. Durch folgenden Zusatz möchte ich zeigen, daß ich keine Indis­kretion begehe. Wenn er hier wäre, so wäre er ganz zufrie­den, zu hören, daß ich diese Sache hier erzähle. Jetzt werden wir uns ein Urteil über das bilden können, was er sagte, als er aus der Post herauskam: Ich bin deshalb so rasch zur Post gegangen, weil ich mein Drama heute zur Post bringen wollte. Heute ist der letzte Glückstag. Hätte ich bis morgen gewartet, so hätte ich mich der Gefahr ausgesetzt, daß die Theaterdirektion das Drama ablehnt. - Sind Sie eigentlich fertig geworden?, fragte ich, denn es schien mir unmöglich. Nein, sagte er, ich habe aber einen Brief geschrieben, damit man mir das Drama wieder zurückschickt, um die letzten Szenen wieder umzuarbeiten. So - das war der freie Geist!

Ich mußte mich erinnern an eine Dame, die vor vielen Jahren an einem Kleide gearbeitet hatte und es am Don­nerstag fertig haben und anziehen wollte. Hätte sie es am Freitag zum ersten Male angezogen, so wäre es sicher zu ihrem Unglück ausgeschlagen. Man berücksichtigt gewöhn­lich nicht in dem Maße, wie es nötig wäre, was es für unser Fühlen und Denken in der Gegenwart heißt, wenn ein freier Geist eine Sendung macht, wie der zur Post sausende Dichter, um das Drama unfertig abzuschicken und dann wieder zurücksenden zu lassen, damit er es fertig machen könne. Sie sehen, daß das, was man als Aberglaube bezeich­net, im Grunde genommen etwas recht Merkwürdiges sein kann. Es kann etwas aus der Weltanschauung eines Men­schen, soweit er diese ausspricht, durchaus Verbanntes sein, und es kann sein, daß er sich in einer bramarbasierenden Weise stark dagegen verwahren wird, mit einem solchen Aberglauben etwas zu tun zu haben. Wenn es aber darauf ankommt, so gibt es Hintertüren, durch die sich dieser Aberglaube recht sehr einschleichen kann.

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Wir leben in einer Zeit, in welcher im wegwerfendsten Sinne von allen möglichen Formen des Aberglaubens ge­sprochen wird. Zu gleicher Zeit geschieht es aber in dieser Gegenwart, daß diejenigen, die über den Aberglauben spre­chen, zuweilen gar keine Ahnung davon haben, durch wel­ches Hintertürchen sich der Aberglaube gerade bei ihnen einschleicht. Denn es braucht ja nicht eine alte Form des Aberglaubens zu sein, wie bei diesem auf dem Zweirad da­hinsausenden Dramatiker. Es können auch allerlei neue Formen des Aberglaubens auftreten. Und da wird vielleicht gerade derjenige, der in achselzuckendem Ton von den alten Formen des Aberglaubens spricht, am ärgsten mancher neuen Form des Aberglaubens ausgesetzt sein. Es ist vielleicht schwer, gerade über dieseBegriffe des Aberglaubens in unse­rer heutigen Zeit irgendwie ins klare zu kommen, denn es herrscht ja in unserer Zeit so sehr die Sucht, alles das, was man selber glaubt, für das einzig Vernünftige zu halten und abzustreiten alles dasjenige, was man selber nicht glaubt. So wird gerade diese Art und Weise des Fühlens in unserer Zeit den mancherlei neuen Formen des Aberglaubens Tür und Tor öffnen. Daher wird es wohl mit dem landläufigen Reden über den Aberglauben nicht weitergehen können, wenn wir uns gründlich auf dasjenige einlassen wollen, was vom geisteswissenschaftlichen Standpunkt aus Aberglaube genannt werden darf.

Es sind mancherlei alte Traditionen in unsere Zeit hin­eingekommen, mancherlei, was unsere Vorfahren geglaubt haben, mancherlei, was bei unseren Vorfahren und bei den Gelehrten der Vorzeit als streng wissenschaftlich galt und was heute in die Region des Aberglaubens verwiesen ist. Wir fragen uns: Sollte denn denjenigen, die achselzuckend den alten Traditionen gegenüberstehen, die sich heute als wissenschaftlich vorgeschritten erscheinen, gar nicht ein

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wenig der Gedanke aufleuchten können, daß unter Um­ständen das, was heute geglaubt wird, irrig ist? Könnte es nicht sein, daß dieses einige Jahrhunderte später von unse-ren Nachkommen als der tollste Aberglaube angesehen wer­den kann? Gewiß, derjenige, der glaubt, auf dem festen Boden der Naturwissenschaft zu stehen, wird zum Beispiel leicht geneigt sein, alles dasjenige, was von einem Stand­punkte ausgesprochen wird, der eine geistige Welt neben der physisch wahrnehmbaren annimmt, überhaupt in das Gebiet des Aberglaubens zu werfen. Auf der anderen Seite wird man leicht begreifen können, daß vielleicht ebenso un­begründet - das soll nicht geleugnet werden - von theoso­phischer oder geisteswissenschaftlicher Seite der Aberglaube der Naturwissenschaft angefochten und charakterisiert wird. Daß die eine oder andere Partei dieses oder jenes als Aber­glaube bezeichnet oder empfindet, das kann niemals ein Charakteristikum werden für das eigentliche Wesen des Aberglaubens. Mancherlei, was heute hereinragt aus alten Zeiten, zeigt uns ja gerade, wenn es wirklich ein handgreif­licher Aberglaube ist, wie es bei solchen Dingen viel weniger auf die menschliche Logik, auf die menschliche Vernunft ankommt, als vielmehr auf die menschlichen Denkgewohn­heiten, auf dasjenige, was die Menschen zu denken gewohnt worden sind.

Wie vieles geht heute durch unsere populäre Literatur, durch unsere Tagespresse, was scheinbar dem aufgeklärten Denken stracks zuwiderläuft! So gibt es zum Beispiel eine Stadt in Deutschland - sie ist nicht weit weg von Berlin -, wo Sie vergeblich nach einer Droschke Nummer 13 suchen würden. Der, welcher sie früher gehabt hat, bekam keinen Fahrgast mehr. Sie wurde weggelassen, die Nummer 13. Auch in Hotels können Sie oft die Erfahrung machen, daß die Nummer 13 fehlt in den Zimmernummern. Sie können

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auch finden in Badeanstalten, wo lauter aufgeklärte Arzte sind, daß bei den Badekabinen die Nummer 13 weggelassen ist, weil niemand hinein will. Und das mittendrin und neben der Denkweise der heutigen Literatur und Tagespresse. Wer aber ein klein wenig Seelenkenner ist, der wird schon fin­den, daß der Aberglaube doch etwas ist, was sich ganz leise in das Denken und Fühlen des Menschen einschleicht.

So gibt es jetzt ein populäres Büchelchen über den Aber­glauben, in dem manches Vernünftige und manches Absurde steht. Aber dann, nachdem der Verfasser abschlachtet, was Astrologie und Astronomie und andere Formen des Aber­glaubens sind, führt er an, daß es in früherer Zeit Astro­logen gegeben haben soll, welche den Leuten Horoskope stellten und aus dem Momente der Geburt ihr Schicksal be­stimmt haben. Solche Astrologen gäbe es zwar seines Wis­sens nicht mehr; das verrichteten die Hebammen. In Berlin zwar nicht, aber im übrigen Deutschland käme es vor. - Das ist ein Satz, der tatsächlich in diesem Büchlein über Aberglaube steht. Ich glaube nicht, daß jemand es anders bezeichnen kann als einen anderen Aberglauben, denn sonst würde er sagen müssen, daß es heute sehr viele Astrologen gibt, die Horoskope stellen. Was der Mann sagt, entspricht durchaus nicht den Tatsachen; es ist also der purste Aber­glaube. Jede Untersuchung könnte ihm das Gegenteil seiner Behauptung zeigen. Ähnliche Sachen schleichen sich jeden Tag in das Bewußtsein der Menschen ein, wenn es auch weniger handgreifliche Dinge sind und man es als Para­doxon ansehen würde, wenn ich von Aberglaube spräche.

Es ist seit einiger Zeit in gewissen Kreisen naturwissen­schaftlicher Betrachtung die Meinung aufgekommen, daß man für alles dasjenige, was auf seelisch-geistigem Gebiete im Menschen als Erinnerung auftritt, physische Ursachen und womöglich physische Ursachen eines ganz bestimmten

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Gebietes, des sexuellen Gebietes, zu suchen hat. Und nicht nur dieses, sondern zahlreich sind die Schriften und Bro­schüren, welche sich damit beschäftigen, die großen Geister auf ihren Geisteszustand zu prüfen. Ein Leipziger Gelehr­ter hat sich bis vor kurzer Zeit die besondere Mühe gegeben, eine ganze Reihe großer Geister, unter anderen Goethe, Schopenhauer, Scheffel, Conrad Ferdinand Meyer, darauf­hin zu prüfen, inwiefern sie eigentlich von dieser oder jener Geisteskrankheit befallen wären und ihr Genie zusammen­hinge mit dieser oder jener Geisteserkrankung. Auf der an­deren Seite wird die Neigung zur Vererbung mit physischer Erkranküng des Menschen zusammengebracht, und es ent­geht kaum ein Tagesereignis in unserer Zeit einer solchen Deutung. Hier haben wir es mit einem Aberglauben zu tun, der eben jetzt aufgeht, der aber als eine Landplage unsere Bildung durchsetzt. Künftige Zeiten werden nicht begreifen, wie es möglich war, daß die Wissenschaft eine Zeitlang einem solchen Aberglauben huldigen konnte. Und wenn uns unsere Nachfahren in gleichem Sinne das vergeken werden, in glei­chem Sinne das beurteilen werden, was in früheren Zeiten von unseren Vorfahren geglaubt worden ist, dann werden die, welche auf diesem Gebiete tätig sind, in der schlimmsten Weise wegkommen. So sehen wir schon, indem wir unbe­fangen die Tatsachen überblicken, die alten Formen des Aberglaubens mit Recht zum Fenster hinausgeworfen und auf der anderen Seite neue Formen sich einschleichen, die eben einfach nicht als solche erkannt werden.

Wer sich ein wenig in der Wissenschaft umtut, der weiß, wieviel Dämonen des Aberglaubens sich da und dort ein­schleichen, die zum Glück nur ein kurzes Dasein haben, aber deshalb nicht weniger schädlich sein können. Moderichtun­-

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gen sind manchmal nicht weit von dem entfernt, was man Aberglaube nennen kann. Ich möchte dafür ein Beispiel anführen. Während meiner Erziehertätigkeit konnte ich manche Beobachtung machen, die nur dadurch möglich war, daß ich ein großes Feld in bezug auf die Menschenentwickelung be­ackern konnte. Es ist jetzt weit über zwanzig Jahre her, da war es üblich, kleinen Kindern - etwa im zweiten, dritten, vierten Jahre - Rotwein, überhaupt Wein zu trinken zu geben. Man konnte sehen, wie durch eine gewisse Mode-richtung der Medizin gerade Kinder in diesem Alter jedes­mal zu Tische ihr Glas Rotwein bekamen. Wer so etwas beobachtet, beobachtet vielleicht zu kurze Zeiträume in bezug auf die Wirkung dieser Dinge. Wenn man diejenigen Menschen, die heute zwanzigjährig sind, nachdem sie da­mals Kinder von zwei bis fünf Jahren waren, mit anderen vergleicht, die damals keinen Wein zur Stärkung bekom­men haben, so zeigt sich an der gegenwärtigen Nervenver­fassung - wie man sich etwa heute in materialistischer Weise ausdrückt - ganz genau der Unterschied zwischen denjeni­gen, welche Wein bekommen haben, und denen, die ihn nicht bekommen haben.

Da gab es dazumal den Aberglauben, daß der Wein eine Stärke in sich enthalte. Das war ein Mode-Aberglaube. Man hat diese Meinung herumgeboten wie irgendeine andere abergläubische Meinung auch herumgeboten wird. Nun kön­nen wir von alledem absehen und auf manche andere Ge­biete übergehen, wo man gar nicht mehr von Aberglauben spricht, obwohl der seelische Tatbestand im Menschen ganz der gleiche ist. Wenn wir sprechen wollten davon, was die Leute im sozialen Leben, im politischen Leben für sonder­bare Götzen, für Fetische, für Schlagworte haben, denen sie nachlaufen, wie andere auf anderem Gebiete bestimmten Götzen nachlaufen, und welches Quantum von Aberglau-

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­ben darin enthalten ist, dann würden Sie sehen: Wenn sich das Quantum Aberglaube auf dem einen Gebiete nicht auslebt, dann geht es über auf ein anderes Gebiet. Erhebt sich der Mensch also auf der einen Seite über den Aberglauben, flugs kommt er auf einem anderen Gebiete zum Ausdruck, auf dem man es nur nicht so sehr merkt.

Nachdem wir so ein wenig die Situation charakterisiert haben, dürfen wir vielleicht einmal versuchen, auf den eigentlichen Quell des Aberglaubens, auf die eigentümliche Geistesverfassung zu kommen, in der ein Mensch ist, den wir als einen abergläubischen Menschen bezeichnen dürfen. Vor allen Dingen darf man sagen, daß bei der Entstehung dieser Geistesverfassung die Befangenheit eines Menschen in dieser oder jener Denkrichtung die denkbar größte Rolle spielt. Dieselbe Tatsache wird einer - je nachdem seine Denkrichtung so oder so ist - in der einen oder anderen Weise auffassen. Versuchen wir, uns einmal einen kon­kreten Fall vor das Auge zu rücken. Der jetzt viel genannte französische Physiologe Richet hatte folgendes Erlebnis: Er ging einmal auf der Straße, und auf der anderen Seite der Straße ging auch eine Person. In diesem Augenblicke hatte er den Gedanken: Es ist doch merkwürdig, daß Professor Lacassagne heute in Paris ist. Aber es ist doch nicht so merk­würdig. Vor vierzehn Tagen hat mir Professor Lacassagne einen Artikel geschickt und geschrieben, daß er in vierzehn Tagen hier sein würde. Schon wollte Richet auf die andere Seite gehen und ihn begrüßen, als er sich sagte, daß er ja in die Redaktion gehen wolle, und da würde der andere wohl auch hinkommen. In demselben Augenblicke geht ihm der Gedanke auf, wie ähnlich der Professor einem ihm bekann­ten Augenarzt sieht. Richet geht auf die Redaktion, und nach einer Stunde erscheint dort Professor Lacassagne. Richet sagt zu ihm: Ich habe Sie vor einer Stunde auf der Straße

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gesehen. - Der Professor antwortet: Das ist nicht mög­lich. Ich war vor einer Stunde nicht dort, sondern ganz woanders. - Es ist kein Zweifel, daß Richet ihn nicht gesehen haben konnte. Es ist eigentümlich, wie sich zwei Menschen oft zueinander verhalten, wenn sie zwei verschiedene Denk­richtungen haben. Richet sah einen Menschen und hatte den bestimmten Eindruck, den Professor L. zu sehen. Als er aber den Professor L. vor sich sah, kam es ihm ganz töricht vor, einen anderen, der groß und blond war, für den Pro­fessor L. gehalten zu haben, während dieser mittelhoch ist und einen dunkeln Schnurrbart trägt. Richet ist nun aber ein Mensch, der an okkulte Wirkungen, an Gedankenüber­tragung glaubt. Er sagte sich, der Professor L. ist in Paris und hat gedacht, er wolle in die Redaktion gehen - und in diesem Momente sah ich diesen Gedanken durch Gedanken­übertragung!

Ein anderer Forscher, der ein Buch über «Aberglaube und Zauberei» geschrieben hat, Lehmann, denkt anders darüber. Er sagt: «Richet glaubt an Gedankenübertragung; deshalb sieht er in diesem ganz gewöhnlichen Erlebnis etwas Mysti­sches, das die Richtigkeit seines Glaubens beweisen soll, übersieht aber dabei ganz die Nebenumstände, welche die Sache durchaus auf natürliche Weise erklären.»

Da haben Sie zwei Menschen, die das gleiche Ereignis je nach der Denkrichtung in ganz verschiedener Weise be­urteilen. Ich selbst möchte dem dänischen Forscher Lehmann recht geben, denn die, welche an okkulte Dinge mit unzu­länglichen Mitteln herangehen, schießen am allerleichtesten über das Ziel hinaus und können sich, wie in diesem Falle, alles mögliche in der Welt damit erklären. Sie sehen aber

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daraus, wie die Befangenheit, in der sich ein Mensch in be­zug auf seine Ideenrichtung befindet, einen andern Men­schen, den er vor sich sieht, in einer solchen Weise färbt.

Nun denken Sie, wie sich die Dinge, wenn sie nicht genau durchschaut werden, in der menschlichen Seele spiegeln. Da kommen wir zu dem, was in geisteswissenschaftlichem Sinne über das eigentliche Wesen des Aberglaubens gesagt werden muß. Sie können heute unzählige Schriften und Auseinan­dersetzungen lesen über den Aberglauben an die Alchemie, die unselige Kunst, Gold zu machen, der sich so viele hin­gegeben haben. Die, welche darüber schrieben, waren meist - der heutigen Auffassung nach - in anderer Beziehung außerordentlich tüchtige, positive Forscher. Sie nehmen in allen möglichen Schriften, in denen auf diese oder jene Weise da oder dort die Kunst, Gold zu machen, mitgeteilt wird, einen hervorragenden Platz ein. Aber was Sie da lesen, erscheint Ihnen zumeist als der hellste Wahnsinn, als absolute­ster Unsinn. Und außerdem erscheint es ja in zahlreichen Fällen als ein so offenliegender Schwindel, daß sehr leicht zu sehen ist, wie eben damals, als die Menschen so etwas geglaubt haben, auf diesem Gebiete Irrtum über Irrtum verbreitet wurde. Trotzdem sich die Chemie aus der Alche­mie heraus entwickelt hat, müssen wir unendlich froh sein, daß wir endlich die wahre chemische Wissenschaft haben, im Gegensatz zu jenen Fabeleien und Irrtümern, denen sich unsere Vorfahren auf alchemistischem Gebiete hingegeben haben. Nun können wir vielleicht am leichtesten gerade das, was hier als eine Täuschung vorliegt, begreifen.

Um zu zeigen, wie sich das Entsprechende abgespielt hat, werden wir einige einfache Fälle ins Auge fassen. Wir wol­len jetzt absehen von der Zahl Dreizehn, aber Sie wissen, daß für manche Leute die Zahl Sieben etwas Gräßliches hervor-

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ruft, daß sie von manchen als Glückszahl angesehen wird, manchmal aber auch als Unglückszahl, womit zauber­hafte Wirkungen zusammenhängen. Ich brauche nur etwas zu erwähnen, das Sie hinführen kann zu dem, was mit der Zahl Sieben zusammenhängt. Ich will nicht nur erwähnen, daß sich die Zahl Sieben auch in der rein physischen Natur findet - sieben Farben, sieben Töne und so weiter -, was hier schon oft erwähnt worden ist und woraus man schlie­ßen kann, daß mit der Zahl Sieben doch dieses oder jenes verbunden ist. Davon wollen wir aber heute absehen. Auf etwas anderes wollen wir aufmerksam machen.

Es gibt eine Krankheit, die Lungenentzündung, die sieben Tage wächst und dann abnimmt. Erst am siebenten Tage tritt die Krisis ein, so daß derjenige, der einen solchen Kran­ken zu behandeln hat, besonders auf diesen physischen Rhythmus achtzugeben hat. Da haben wir also an die Zahl Sieben einen ganz bestimmten Vorgang geknüpft, etwas, was in jedem einzelnen Falle beobachtet werden kann. Nun läßt sich die heutige materialistische Wissenschaft durchaus nicht ein auf irgendeine Erklärung dieses Vorgangs. Würden wir die Medizin in die alten Zeiten zurück verfolgen, in denen Sie durchaus nicht bloß eine Summe von Irrtümern zu sehen haben, wie Sie es heute in der Geschichte der Medi­zin dargestellt finden, würde man sich klarwerden, daß die alten Ärzte und Naturkenner wußten, wie alles Leben in einem gewissen Rhythmus abläuft, daß ein Rhythmus be­steht zwischen dem, was im Menschen geschieht, und man­chem, was draußen in der großen Natur, im Makrokosmos, abläuft. Weil der Mensch eigentlich aus dem Makrokosmos herausgeboren ist und dessen Leben in gewissen äußeren Vorgängen verläuft, so verläuft auch des Menschen Leben in einem bestimmten Rhythmus. Wer den Rhythmus des menschlichen Lebens kennt, der weiß ganz

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gut, daß es in einem Organ wie der Lunge einen durch achtundzwanzig Tage, das heißt durch vier mal sieben Tage hindurch gehen­den auf- und abwogenden Rhythmus gibt, in dem gewisse funktionelle Stärken und Schwächen auftreten. Da ist es, sobald man diese Grundlage erkennt, nicht weiter verwun­derlich, daß die Erkrankung der Lunge gerade da besonders gefährlich wird, wo sie sozusagen zusammenstößt mit dem Rhythmus, um den es sich überhaupt bei den Lebenserschei­nungen handelt. Kurz, wir würden sehen, wenn wir im Sinne der Geistesforschung hineinleuchten würden, wie in tieferer Erkenntnis des Wesens des Menschen und nicht in irgendeiner abergläubischen Weise, sondern in einer Weise, die als streng gesetzmäßig zu bezeichnen ist, wir uns ver­ständlich machen können, warum nach sieben Tagen eine besondere Krisis für die Lungenentzündung reif ist. Aber man will ja in unserem materialistischen Zeitalter auf solche Dinge, die sich nur mit den Mitteln der Geisteswissenschaft verfolgen lassen, nicht eingehen.

Es gab eine Zeit, in der die Ärzte nicht nur wußten, daß dieLungenentzündung am siebenten Tage diese Krisis durchmacht, sondern in der sie auch wußten, warum das so ist. Sie wußten, wie das auch mit dem gesunden Rhythmus zu­sammenhängt. Aber diese geisteswissenschaftliche Erkennt­nis ist für das äußere Leben vergessen. Die eigentliche Ge­setzmäßigkeit kennt man nicht mehr, sie ging der Menschheit verloren. Es blieb die trockene Zahl Sieben. Man wußte schließlich gar nicht mehr, warum es der Lungenentzündung einfällt, nach siebenTagen etwas ganzBesonderes zu zeigen. Und dann nimmt man natürlich solch eine Sache heraus, ohne sie weiter verstehen zu können oder zu wollen. Man wendet sie an, weil man in der Zahl selbst als solcher etwas Besonderes sieht. Man sagt sich, mit der Sieben hängt etwas Besonderes zusammen. Irgendwie kann man sie da oder

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dort anwenden. Solange man sich an Äußerlichkeiten hält, nicht hineinsieht in die Sache, solange hat man keinen Grund, die Sache da oder dort anzuwenden. Also wendet man sie da an, wo scheinbar eine Veranlassung da ist. Und vor allen Dingen spielt da ein menschliches Gesetz hinein, das nur zu verständlich ist: In allen Fällen, wo man eine solche Sache als Abstraktion herausgerichtet hat, wo man sie anwendet und es paßt, da geht die Geschichte; paßt es aber nicht, so übersieht man es.

So geht es auch mit manchen Bauernregeln. Wer auf dem Lande aufgewachsen ist, der wird ganz genau wissen, wie aus dem ersten Gewitter, das im Frühling auftritt, das oder jenes prophezeit wird. Trifft das Prophezeite ein, so wird es als Gesetz hingenommen, trifft es nicht ein, so wird es vergessen. Aber trotzdem stecken in manchen Bauernregeln tiefe Weisheiten, und man müßte manche Bauernregel auf ihre tiefe Weisheit hin erforschen. Dann ist es auch wieder so, daß man nicht das rein Äußerliche des Aberglaubens an­wendet, sondern darauf ausgeht, wirklich in die Sache selbst einzudringen. Gewiß, mir hat es auch recht gut gefallen, wenn neben anderen Bauernregeln wieder einmal diese aus­gesprochen wird: Kräht der Hahn auf dem Mist, so ändert sich das Wetter, oder es bleibt, wie es ist. - Da zeigt sich ein gesunder Zug, der nicht generalisiert, sondern individuali­siert werden muß. Und das ist das Wesentliche, auf das es in unserer Geistes- und Seelenentwickelung ankommen soll.

In ähnlicher Weise, nur nicht so durchschaubar, ist es mit vielen Dingen in bezug auf die Alchemie gegangen. Manche von Ihnen, die schon in vorhergehenden Jahren diese Vor­träge angehört haben, werden wissen, wie damals alles be­sprochen worden ist, wie über die Rosenkreuzer-Einweihung gesprochen und der Stein der Weisen erörtert worden ist, wie da gezeigt worden ist, wie unter dem Stein der Weisen in

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der wirklichen Geisteswissenschaft aller Zeiten etwas ver­standen wird, was vor unserem gegenwärtigen modernsten Denken, wenn man da hineindringt, durchaus bestehen kann. Unter den mancherlei Methoden, welche den Menschen zu den höheren Erkenntnissen heraufführen, namentlich zur Rosenkreuzer-Einweihung, da findet sich auch die eine, die man geradezu die Bereitung des «Steines der Weisen» nennt. Unter dieser Bereitung des Steins der Weisen wird etwas verstanden, das zusammenhängt mit einer Regelung des Atmungsprozesses. Zu den verschiedenen Methoden, durch die der Mensch sich hinaufarbeitet in die höheren Welten, gehört ein gewisses Bewußtwerden und ein nach geistigen Gesetzen geregeltes Atmen in bestimmten Zeiten. Nach ganz bestimmten Anweisungen atmet derjenige, der ein Jünger der Geisteswissenschaft im positiven Sinne wird.

Dieses Atmen hat für den ganzen Organismus eine ganz bestimmte Folge, welche die äußere Wissenschaft nicht mehr suchen kann, weil sie nichts weiß von der Sache. Der Mensch entwickelt durch das Instrument seines eigenen Leibes in sich etwas ganz Bestimmtes, etwas, das wirklich in seinem Leben bis in den Leib hinein auftritt, das dann da ist und ihn befähigt zu einer ganz anderen Anschauung der Welt, weil durch die Atmung eine Wirkung geschieht, die sich selbst in der mineralischen Zusammensetzung des physischen Leibes ausdrückt. So haben wir durch die Regelung des Atmungsrhythmus in dem Menschen selber durch sein eige­nes Instrument etwas erzeugt, das genannt wurde der Stein der Weisen oder der weise Stein. Es ist das, was notwendig ist zu erzeugen in dem menschlichen Organismus, wenn der Mensch in die höheren Welten hineinwachsen soll. Der Pro­zeß ist genau angebbar, aber man kann ihn nicht ohne wei­teres jedem beliebigen Menschen mitteilen. Denn es kann der Natur der Sache nach nur derjenige diesen Prozeß an­-

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wenden, der das in ganz selbstloser, durch gar keine per­sönliche Rücksicht gebundenen Weise tut.

Als ich einmal in einem kleinen Kreise sprach, wie man es heute schon kann, wie ich es auch rückhaltlos in einem der Vorträge andeuten werde - nur das Letzte darf nicht angegeben werden, weil man da auf die geisteswissenschaftlicheSchulung selbst hindeuten muß -, da sagte einer hin­terher: Das wäre aber doch ganz gut, wenn man diese Methode, ein besonderes Mineral im Menschen zu erzeugen, öffentlich bekanntmachte. Denn dieses Mineral ist etwas sehr Nützliches, wenn man es in großen Massen herstellen könnte. - Ich mußte antworten: Daß Sie diese Frage stellen, das gibt den Grund an, warum es nicht bekanntgemacht werden darf. Solange solche Fragen gestellt werden, ist es eben unmöglich, daß das bekanntgemacht werden darf. Sie können es in der Literatur finden, aber es ist dort ver­schleiert. Es ist nur verständlich für den, der durch die Vor­schule die Art der Ausdrucksweise kennenlernt. Quecksilber, Stein der Weisen, Silber, bedeutet nämlich etwas ganz an­deres. Und wenn man spricht von der Verbindung des Quecksilbers und seiner Hinzufügung zu irgendeinem an­deren Produkte, so bedeutet hier «Quecksilber» und «Stein der Weisen» eben etwas ganz anderes als das Hinstellen äußerer Dinge.

Nun existieren diese Dinge aber in der Literatur. Die­jenigen, welche keine Ahnung davon haben, was in diesem Fall die Ausdrücke bedeuten und namentlich die Zeichen, die damit verbunden sind, die nehmen die Sache einfach wörtlich. Wörtlich genommen ist es aber der barste Unsinn. So zum Beispiel ist es einem dänischen Forscher über Aber­glauben passiert, daß er etwas las über merkwürdige Per­sönlichkeiten des dreizehnten und vierzehnten Jahrhun­derts, über Raimundus Lullus und andere. Es steht jedem

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frei, diesen für einen Schwindler, für einen Scharlatan oder für den größten Weisen seiner Zeit zu halten, je nachdem er ihn verstehen kann. Nun wird aber erzählt, daß es Rai­mundus Lullus gelungen sei, nach einem dreißigjährigen Studium - für die meisten Leute eine unbequeme Sache -den Stein der Weisen zu finden, und daß er dadurch in die Lage gekommen sei, Gold zu machen dadurch, daß er einem Teil des Steines eine bestimmte Menge Quecksilber hinzugesetzt habe. Wenn man eine kleine Menge davon nehme, dann bekomme sie die Eigenschaft, dasselbe zu erzeugen. Von dem werde dann wieder eine kleine Menge genommen, und so weiter, bis zuletzt das Gold entstehe.

Wenn nun einer hingeht und das probiert, wenn er das nimmt, was er im Buche findet, gewisse Stoffe nimmt, sie mischt und sie dem Quecksilber hinzufügt, so ist das der absoluteste Unsinn, der gemacht werden kann. Es hat jeder das größte Recht, sich darüber lustig zu machen. Das tut auch der Forscher. Er macht sich lustig. Wer aber versteht, die Ausdrücke zu deuten, der wird finden, daß in der Lite­ratur der «Stein der Weisen» ebensogenau vorhanden ist wie in dem, was in Raimundus Lullus' Schriften enthalten ist, und wodurch er zum Ziele gekommen ist. Das ist das Wunderbare an der Sache, daß der Satz seit Jahrhunderten bekannt ist und heute noch richtig ist. Das zeigt dem, der etwas davon weiß, wie grandios richtig es ist. Für den ist es dann klar, daß in Raimundus Lullus wirklich die Seele eines der Weisesten seines Zeitalters steckte. Wer dagegen nur an der äußeren Ausdrucksweise haften bleibt, der macht wirklich Unsinn.

Diesen Unsinn machten auch sehr viele, die geglaubt haben, daß der weise Alchimist äußeres Gold nachgemacht

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hat, und sie haben auch den Verstand verloren, obgleich ich glaube, daß ein wenig davon schon verloren war, als sie die Geschichte angefangen haben. Psychiater aber behaupten, daß sie dadurch um den Verstand gekommen sind. Um ihr Vermögen können sie gekommen sein, denn Gold haben sie zuletzt nicht gefunden. Daher darf man dem Schreiber, welcher die Alchimie als Unsinn bezeichnet, gar nicht so unrecht geben, denn - was er davon verstehen konnte, ist eben nur Unsinn. Tatsächlich ist aber kein Unsinn groß genug, um nicht von diesem oder jenem Menschen geglaubt zu werden.

Das hängt mit einer Sucht zusammen, die Sie auf dem Gebiete der Geisteswissenschaft Tag für Tag erleben kön­nen. Sie erleben leicht folgendes: Wenn Sie diesem oder jenem gegenübertreten mit einer Naturerscheinung, die einer Aufklärung bedarf, und versuchen, eine solche Erscheinung im Zusammenhang mit ihren geistigen Untergründen zu erklären und darauf Anspruch machen, eine alltägliche Er­scheinung auf ihre geistige Unterlage zurückzuführen, dann werden Sie bei den meisten Menschen unserer Gegenwart kein besonderes Interesse erregen. Viele Menschen unserer Gegenwart suchen nicht das Erklärliche, sondern das Un­erklärliche. Sie sind froh, wenn sie etwas finden können, was ihnen unerklärlich bleibt. Erzählen Sie einem, daß sich da oder dort etwas zugetragen hat, wofür kein Mensch eine Erklärung weiß, dann sind sie zufrieden. Die Menschen wollen also geradezu hingewiesen werden auf das Uner­klärliche. Sie wollen nicht das, was sich ihnen bietet, durch­dringen, sondern das Wunderbare vermehren. Versuchen Sie, einem Menschen etwas über die Entwickelung der Pflan­zen zu erklären, indem er sie aus den Untergründen der Entwickelung erfassen und tief in die Natur hineinschauen kann, dann von dem Sinnlichen, wo man den Geist an

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einem Ende anfaßt, tief hineingeführt wird in das Geistige - dann kann er nicht an eine geistige Welt glauben! Erzäh­len Sie aber einem solchen Menschen, daß eine Hand von einer Statue abhanden gekommen ist, in einer anderen Stadt gefunden wurde und wieder eingesetzt worden ist, da sagen sie: Das kann kein Mensch erklären, folglich glaube ich an eine geistige Welt. - Das ist so, daß die Menschen dem Geiste gegenüber verständnislos bleiben wollen, weil sieglauben, daß man das nicht ergründen darf. Damit eröffnen sie dem Aberglauben aber Tür und Tor an allen Ecken und Enden.

Wenn der Mensch nicht nach Unbefangenheit strebt mit dem, was ihm in seiner Vernunft und in seinem logischen Denken zur Verfügung steht, so ist er in dem Augenblicke, wo er sich auf dieses nicht verlassen will, sobald etwas auftritt, was anders ist als gewohnt, schon allen möglichen Formen des Aberglaubens ausgeliefert. So könnte man zum Beispiel sehen - verzeihen Sie, wenn ich dies sage, obwohl ich voll auf dem Boden der Geisteswissenschaft und Theosophie stehe —, wie oft gerade diejenigen, welche auf dem Boden der Theosophie stehen, ablehnen, was im geisteswissenschaftlichen Sinne zu einer Aufklärung hinführen könnte. Als die theosophische Bewegung in der Welt begonnen hatte, da waren es zwei bedeutsame Menschheitsindividualitäten, von denen diese Weisheit der Menschheit zunächst geoffenbart worden ist. Diejenigen, welche diese Weisheit bekommen haben, haben sich in der Regel nicht so verhalten, wie es . .. [Lücke. Siehe Fußnote"']. Dies ist ja hier unzählige Male charakterisiert worden. Denn wie hätte man sich verhalten können gegenüber einer Wahrheit, die von einer unbekannten Seite her erhalten worden ist? Es haben

* Der Stenograph ist hier offensichtlich nicht mitgekommen; auch auf der folgenden Seite ist die Nachschrift lückenhaft. Siehe hierzu den Hinweis.

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die ersten Vermittler der theosophischen Weltanschauung gesagt: Von Persönlichkeiten, die sich im Hintergründe halten, haben wir die Weisheit, die wir diesem oder jenem Buche anvertrauten. — Da hätte man folgendes sagen können: Nun ja, es sind ja ehrenwerte Leute, die diese Weisheit bringen, aber wir wollen diese Weisheit selber prüfen. — Immer wird betont, daß in den höheren Welten forschen kann nur derjenige, der sich besondere Fähigkeiten erworben hat. Wenn sie aber mitgeteilt ist, die Weisheit, so daß sie prüfbar ist, wie ist es dann? Die Prüfung der Weisheit ist in vielen Fällen nicht eingetreten. Die einen haben auf Treu und Glauben die Sache hingenommen, weil ihnen gesagt worden ist, daß sie von höheren Individualitäten gekommen sei. Die anderen aber sagten: Ob sie begründet ist oder nicht, das ist nicht von Bedeutung; ob die höheren Individualitäten überhaupt vorhanden sind, darauf kommt es an; und wenn man nicht sicher weiß, ob es diese höheren Individualitäten gibt oder nicht gibt, dann lehnen wir die ganze Theosophie ab.

Hätte es denn aber niemals einen geben können, der sich sagte: Mag zunächst diese Weisheit wo auch immer hergekommen sein —, ich prüfe sie, ob und wie sie zu den Erscheinungen des Lebens paßt, ob sie sich bewahrheitet im Leben; ich prüfe sie vor allem daraufhin, wie sie sich verhält zu dem, was uns die landläufige Weltanschauung, die auf der positiven Wissenschaft aufgebaut ist, gibt. — Da könnte man vielleicht zu der Auffassung kommen: Wie armselig ist das, was uns die auf positive Wissenschaft auf gebaute Weltanschauung gibt gegenüber dem, was von theosophischer Seite gekommen ist. Man muß es nicht hinnehmen auf Treu und Glauben, aber prüfen und einsehen kann man es, und beim Prüfen wird hervorgehen, ob diejenigen, von denen diese Weisheit gekommen ist, größer sind, als diejenigen,

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welche auf dem Boden der sogenannten wissenschaftlichen Tatsachen stehen. Wir haben keinen Grund anzunehmen, daß H. P. Blavatsky ihre Weltanschauung aus einem Wolkenregen erhalten hat. Eine Weisheit, die man als vernünftig befunden hat, muß irgendwo herstammen. Und ob man sie groß nennen kann, das hängt davon ab, was sich ergibt, wenn man diese Weltanschauung mit derjenigen vergleicht, die man schon als groß anerkennt. —

Eine solche Prüfung wäre vernünftig gewesen. Das ist aber das einzige, was tatsächlich dem menschlichen Geist Ehre macht, nicht das Hinnehmen auf Treu und Glauben, aber auch nicht das Ablehnen auf Treu und Glauben, sondern das vorurteilslose Prüfen. Gewiß, forschen kann nicht ein jeder. Zum Forschen sind diejenigen da, die ihre Geisteskraft in besonderer Weise entwickeln können. Aber unbefangen prüfen kann ein jeder. Wenn er nur nicht so das Unerklärliche statt des Erklärlichen suchte und im Geiste zufrieden wäre, wenn er das Unerklärliche gefunden hat. Solange man zu ihm spricht, er soll sich anstrengen, um den Geist zu ergründen, da will er nicht mit. Wenn man ihm aber etwas mitteilt, das gar nicht zu begreifen ist, da ist er dabei, weil es so bequemer ist. Das ist besonders charakteristisch für das, was als Seelenzustand für die Menschen existiert.

Da ist ein anderer Fall, der sich abgespielt hat. Ich rede wiederum nicht so, als ob Wahres dahintersteckt, sondern ich rede von der menschlichen Seelenverfassung, die dabei zutage getreten ist. Da wurde erzählt, daß es in gewissen Gegenden Asiens Menschen gebe, welche das Folgende machen können: Sie breiten ein Tuch aus, nehmen ein Seil, werfen das Seil in die Luft, lassen ein kleines Kind daran hinaufklettern, bis es oben unsichtbar wird; sie klettern dann selber nach, und nach einiger Zeit fallen die Glieder

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des Kindes zerstückelt herunter. Dann kommt der Fakir auch nach, nimmt einen Sack, packt die Glieder hinein, schüttelt das Ganze, schüttelt dann den Sack aus und — das Kind ist wieder vollständig hergestellt. Idi will nicht entscheiden, was dahintersteckt, sondern nur über die Art und Weise des Aberglaubens der Menschen sprechen. Der Vorgang erscheint den Menschen zunächst als etwas, was schwer zu glauben ist. Ein gewisser S. Ellmore hat darüber in der «Chicago Tribune» geschrieben, und ein Maler zeichnete dazu merkwürdige Abbildungen, die ganz richtig die verschiedenen Stadien darstellten: das hinaufgeworfene Seil, das emporkletternde Kind und so weiter. S. Ellmore selbst gab auch Photographien dazu, die besonders schlau angelegt waren, denn man sah immer nur den Fakir und die Zuschauer, die bald nach oben, bald nach unten blickten. Aber das übrige sah man nicht. S. Ellmore hat eine Erklärung für die ganze Sache gegeben, so daß sie sich leicht aufklären ließ. Er meinte nämlich, der Betreffende, der die Sache ausführte, müsse ein ganz bedeutender Hypnotiseur sein, der auf Suggestion so eingestellt war, daß er einer ganzen Gesellschaft den betreffenden Vorgang suggerieren konnte. Da sagten sich die Menschen, daß der Vorgang kein Aberglaube, sondern Suggestion war, und es schien erklärlich, daß alle Leute hypnotisiert waren. Einer Person aber kam dieser suggestive Vorgang noch unwahrscheinlicher vor als der ursprüngliche Vorgang. Sie dachte nämlich, es könnte doch in der Welt auch Dinge geben, die mit unseren Gesetzen nicht erklärt werden können, und sagte sich: In bezug auf die Suggestion weiß man schon mehreres, aber in bezug auf die Seelenkräfte muß man doch noch manches erforschen. — Da wandte diese Person sich an S. Ellmore, um den Ort zu erfahren, wo dieser einer solchen Vorstellung beigewohnt habe. Nun kam die Wahrheit an den Tag. S. Ell-

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more erklärte, daß die ganze Geschichte erdichtet sei, worauf schon sein Pseudonym hinweise: S. Ellmore = sell more (betrüge mehr). Er hätte die Sache in diese Form gekleidet, da er den ursprünglichen Vorgang nicht glauben konnte, die Form einer Suggestion jedoch für das moderne Bewußtsein annehmbar fand.

Sie sehen also, daß es tatsächlich auf die geistige Verfassung ankommt, daß es ankommt auf das, was in unserer Seele selber vorgeht, wenn man sich über den Begriff und über das Wesen des Aberglaubens einigermaßen aufklären will. Ob eine Sache richtig oder nicht richtig ist, darüber müssen schließlich ganz andere Faktoren entscheiden. Aber was uns alle behüten kann vor irgendwelchen Verirrungen, die zum Aberglauben werden, das kann einzig und allein das Streben nach einer wirklichen Erkenntnis sein, nach einem Durchschauen der Dinge. Derjenige wird immer auf irgendeinem Felde dem Aberglauben verfallen, der nicht wirklich in die Tiefe der Dinge eindringen will. Es ist nun einmal so, daß dieses Verlangen nach einem gewissen Quantum Aberglauben durchaus herrscht. Und damit spreche ich das Grundgesetz für den Aberglauben aus, wie ich es vorhin schon angedeutet habe, nämlich: Solange der Mensch nur in der Beobachtung der physischen Umwelt bleibt, solange er nicht vordringen will zur Geisteswissenschaft, zur wirklichen Erkenntnis der geistigen Urgründe der Dinge, solange lebt in ihm ein gewisser Bedarf an Aberglaube.

Nehmen Sie meinetwillen einen heutigen Mediziner: Wenn er in seinem Denken noch so sehr abweist alle Formen des Aberglaubens — derjenige, der unbefangen ist, kann leicht nachweisen, wie er seinen Bedarf an Aberglauben in anderer Form reichlich deckt. Das ist das Gesetz der Kompensation in den menschlichen Seelen. Daran sehen Sie, wie charakteristisch das Gesetz ist.

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Sie haben einen Menschen, der ganz gewiß in jeder Beziehung hinaussein will über den uralten Aberglauben, aber wieviel Aberglaube verzeichnet Haeckel in seinen «Lebenswundern» und «Welträtseln» ! Diejenigen, die mich kennen, wissen, daß ich Haeckel in allem anerkenne, weil er der große Forscher ist. Wer mich kennt, der weiß auch, daß ich immer auf das Positive hinweise, das Haeckel geleistet hat. Weil er aber den alten Aberglauben hinausgeworfen hat und nicht zurückgehen will auf die geistigen Hintergründe der Dinge, da wendet er ihn auf ein anderes Gebiet. Da wird er der abergläubischste Mensch auf dem anderen Gebiet. Auf dem Gebiete von Kraft und Stoff, wie er es sich vorstellt, da tanzen und wirbeln die Atome. Das nennt er seinen Gott. Dem Tanzen und Wirbeln der Atome schreibt er zu, daß sie Zustände schaffen können, die einfache Lebewesen darstellen, und daß diese wieder sich zusammensetzen zu komplizierteren Gebilden, die sich schließlich zusammenfügen zur menschlichen Gehirnform. Alles, was der Mensch dann fühlen und wollen kann, alles Ideale und Sittliche, ja alle Religionen selber sind für denjenigen, der die Sache unbefangen beurteilen kann, dann nur Tanz der Atome. Für ihn besteht kein Unterschied zwischen dem Atomtanz und den großen Fetischen der afrikanischen Wilden. Ob der afrikanische Wilde seinen Holzklotz anbetet und ihn als Gott ansieht, oder ob Haeckel seine kleinen Atome tanzen läßt und sie als kleine Götter ansieht - in bezug auf den Aberglauben ist zwischen beiden kein Unterschied. Auf demselben Standpunkte steht der eine wie der andere Aberglaube. Es gab eine Zeit - sie liegt in gewisser Weise schon hinter uns -, da konnte man sehen, wie dieser Aberglaube nach und nach heraufkam. Es wurden im Laufe der Zeit neue Entdeckungen der Naturwissenschaft gemacht, namentlich in der Chemie. Es wurden neue Verbindungen dadurch

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erklärbar, daß man Gewichtsunterschiede kleinster Teile im Raume festhielt. Es wurde durch das Gesetz der Atomgewichte manches erklärt. Da erschien es als fruchtbare Anschauung, eine solche Atom-Theorie zu konstruieren. Später vergaß man, daß man diese Atom-Theorie im Geiste konstruiert hat. Die Atome wurden zu wirklichen Götzen, die man anbetete.

Als Schüler schon wurde ich von einem Schuldirektor für den Atom-Aberglauben klar sehend gemacht. Ein Schuldirektor hat dazumal - es ist lange her -, als die neuen Atom-Theorien heraufgekommen sind, alle Erscheinungen der Physik und der Chemie als Bewegungen berechnet. Er hat allerdings das Denken noch nicht berechnet. Aber bis in die chemischen Erscheinungen hinein hat er Berechnungen angestellt. Das Büchelchen, das diese Dinge enthielt, heißt: «Die allgemeine Bewegung der Materie als Grundursache aller Naturerscheinungen.» Das war etwas, was denjenigen faszinieren konnte, der auf diese Sache eingeht. Ich würde gerade dieses Büchelchen einem jeden gern in die Hand geben. Es ist aber seit langer Zeit nicht mehr im Buchhandel zu haben. In Bibliotheken dürfte es vielleicht noch zu finden sein. Da sehen wir den Aberglauben in der Allmacht des Atomwirbels auftauchen.

Nun haben wir der Reihe nach alle möglichen Formen des Aberglaubens in der Naturwissenschaft auftreten sehen. Denken Sie einmal, daß wir tatsächlich eine gewisse Richtung haben in der Naturwissenschaft, die von der Allmacht der Naturzüchtung spricht. Überall können Sie sehen, daß alles zusammengetragen wird, was für die eine oder andere Theorie spricht, wenn einmal der betreffende Forscher fasziniert ist von einem Schlagwort, das wie ein Götze auf ihn wirkt. Wir sehen gerade in unserer Zeit, wenn wir nur ein Auge dafür haben wollten, ähnliche Fälle. Schon

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am Eingang des Vortrages erwähnte ich, wie sich heranschleichen die Dinge, die sich in nicht allzuferner Zeit als furchtbarer Zeit-Aberglaube enthüllen werden.

Wo ist nun die Ursache des Aberglaubens selber? Immer tritt die Möglichkeit ein, daß der Aberglaube an die Stelle dessen tritt, was allein als fruchtbarer Gedanke, als fruchtbare Meinung herrschen kann. Wenn der ursprüngliche Gedanke, die ursprüngliche Meinung vergessen wird und dafür nur die sich bietende Äußerlichkeit genommen wird, dann vergessen wir, wie bei der nach sieben Tagen auftretenden Krisis bei der Lungenentzündung, das Wesentliche. Wenn die Siebenzahl herausgerissen und festgehalten wird, so besteht die Möglichkeit, daß dies in Aberglauben umschlägt. Da haben Sie den Grund dafür, daß alte Weise große Naturerscheinungen zeigen konnten.

Das ist es, was die Geisteswissenschaft dem Menschen bringen wird: daß er nicht das Unerklärliche suchen wird, sondern daß er die Erklärung wird suchen wollen. Sonst, wenn er stehenbleibt im Gebiete der Umwelt und sich nicht erheben will auf den höheren Standpunkt, von dem aus er sehen kann, was auf dem einen oder anderen Gebiete berechtigt oder unberechtigt ist, dann wird er sich nur in einer Umlagerung des Aberglaubens befinden. Wer in der physischen Welt stehenbleibt, der verläßt den einen Aberglauben und geht in den anderen ein. Erst wenn er sich erhebt über sich selbst und über den Aberglauben, sieht er das Rechte sowohl in dem einen wie in dem anderen. Jean Jacques Rousseau hat schon festgestellt, daß es keinen Unterschied macht, ob man mehr oder weniger klug ist. Er sagte: Die Gescheiten und die Klugen haben ihre Vorurteile ebenso wie die Dummen, wenn auch die Klugen und Gescheiten manches mehr wissen und mehr Vorurteile haben als die Dummen. Die Dummen halten dafür an dem wenigen um

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so zäher fest. - Das ist durchaus ein Gesetz, das derjenige, der das Menschenleben beobachtet, in zahlreichen Fällen bestätigt finden kann. So sehen wir, daß es im Grunde genommen eine Heilung gegenüber dem Aberglauben gar nicht anders geben kann als durch das Erheben zu dem höheren Standpunkt, von dem aus die Welt in ihren geistigen Untergründen überschaubar wird.

Es wird noch mancherlei Aberglaube heraufziehen, und manches schleicht sich heute in unsere Anschauung ein. Wir sind ja auf einer Bahn der Entwickelung, wo die Menschen eigentlich gar keinen rechten Sinn dafür haben, aus dem öffentlichen Leben den Aberglauben, wenn er nicht gerade aus alten Zeiten sich übertragen hat, herauszubringen. Oh, es gilt durchaus für unsere Zeit auf mancherlei Gebieten dasjenige, was uns eine alte Erzählung sagt. Nennen Sie es eine Anekdote, aber sie gilt, und sie stellt die Wahrheit besser dar als manches andere. In einer gewissen Gegend Spaniens, an der Grenze zwischen zwei Provinzen, war einmal eine Epidemie ausgebrochen. Es war in der Nähe von zwei Universitäten. Die eine Universität hatte eine medizinische Fakultät, in der man besonders schwärmte für das Aderlässen. In der anderen Universität schwärmte man gegen das Aderlässen. Und nun waren in der unglücklichen Gegend, wo die Epidemie ausbrach, zwei Ärzte. Der eine war in der einen, der andere in der anderen Universität ausgebildet. Der eine verordnete Mittel, und der andere ließ zur Ader. Es stellte sich heraus, daß der eine Arzt alle Patienten am Leben erhielt, während die Patienten des anderen Arztes alle starben. Wenn dem einen auch alle Patienten leben blieben und dem anderen alle starben, so verfuhren sie doch beide richtig nach ihrer Theorie; der eine zwar falsch in der Praxis, aber richtig nach der Theorie.

Wenn man eine solche Sache erzählt, so kann sie einem

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albern erscheinen. Wenn man die Dinge aber Tag für Tag sieht, dann findet man, daß die Anekdote nichts Falsches sagt, und man findet sie sogar notwendig. Deshalb kann es sich, wenn über den Aberglauben gesprochen wird, nur darum handeln, daß die Geisteswissenschaft wahrhaftig am allerwenigsten einen Grund hat, diesen oder jenen Aberglauben zu propagieren. Sie steht auf dem Boden, daß das Geistige erforschbar ist und daß es Mittel und Wege gibt, um hineinzudringen in die geistige Welt, durch die man von einem höheren Gesichtspunkte aus die Welt zu überschauen vermag. Dadurch wird der Mensch hinausgeführt über das, was Aberglaube ist, und auch hinausgeführt über das, was Aberglaube im menschlichen Leben als Schaden anrichten kann. Man kann dasjenige, was hier gilt, mit einem Goetheschen Wort ausdrücken, das in umfassender Weise, wenn auch einfach, die Wahrheit enthüllt: «Die Weisheit ist ewig, und sie wird siegen, und sie wird in uns allen in den mannigfaltigsten Tumulten den Menschen zur Menschheit erhöhen.»

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ERNÄHRUNGSFRAGEN IM LICHTE DER GEISTESWISSENSCHAFT Berlin, 17. Dezember 1908

Es erscheint manchem sonderbar, wenn die Geisteswissen­schaft spricht über dasjenige, was mit einem gewissen Recht als das Materiellste, als das Ungeistigste von vielen ange­sehen wird: über die Ernährung. Es gibtMenschen, die ihren besonderen Idealismus, ja ihre besondere Geistigkeit da­durch andeuten wollen, daß sie sagen: Ach, wir kümmern uns nur um dasjenige, was erhaben ist über die Fragen, die mit dem materiellenLeben zusammenhängen.- Solche Men­schen glauben dann auch - und in gewisser Beziehung mögen sie recht haben -, daß es im Grunde genommen für die Ent­wickelung im Idealen und Spirituellen gleichgültig sei, wie der Mensch seine Bedürfnisse in bezug auf das Leibliche be­friedigt. Anders urteilt die materialistische Denkweise. Ein großer Philosoph des neunzehnten Jahrhunderts hat einen Ausspruch getan, der viel wiederholt worden ist und der bei vielen Menschen, die geistig idealistisch gesinnt sind, Schauer und Entsetzen hervorruft, den Ausspruch, den Feuerbach getan hat: «Der Mensch ist, was er ißt.» Die meisten Menschen fassen das so auf - und der materialisti­sche Sinn wird durchaus damit einverstanden sein -, der Mensch sei eine Zusammenfassung der Materien, die er sei­nem Leibe zuführt, und dadurch entstehe nicht nur das Wechselspiel seines organischen Lebens, sondern auch das­jenige, was in seinem Geiste sich darbietet.

Wenn Außenstehende manchmal dieses oder jenes mehr

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oder weniger oberflächlich hören über Anthroposophie oder Geisteswissenschaft, so glauben sie, daß sich die Anhänger viel zu viel mit Essen, mit Ernährung beschäftigen. Ein Außenstehender kann es nicht begreifen, warum die An­throposophen gar so viel darauf halten, ob einer dies oder jenes ißt. Es soll nicht geleugnet werden, daß in manchen anthroposophischen Kreisen, bei denen, die auf leichte Weise so recht tief in das geistige Leben hineinwollen, recht viel Unklarheit herrscht. Glaubt doch mancher, daß er nur das oder das meiden solle, nicht essen oder trinken solle, um allein dadurch zu gewissen höheren Stufen der Erkennt­nis hinaufzukommen! Das ist ebenso ein Irrtum, wie jene eben charakterisierte Auffassung des Ausspruches von Feuerbach: «Der Mensch ist, was er ißt.» Zum mindesten ist es eine einseitige Auffassung.

Aber in gewisser Weise kann gerade die Geisteswissen­schaft diesen Satz für sich in Anspruch nehmen, nur in einer etwas anderen Art, als es von den Materialisten gemeint ist, und zwar in einer zweifach anderen Art. Zunächst haben wir ja schon öfters betont, daß für die Geisteswissen­schaft alles um uns herum der Ausdruck eines Geistigen ist. Ein Mineral, eine Pflanze oder irgend etwas in unserer Umgebung ist nur seiner Außenseite nach stofflich. Wie das Glied eines Menschen ist es der Ausdruck, die Geste des Geistes. Hinter allem Materiellen ist Geistiges, auch hinter der Nahrung. Mit ihr nehmen wir nicht nur das auf, was materiell vor unseren Augen sich ausbreitet, sondern wir essen mit das, was Geistiges dahinter ist. Wir treten durch die Ernährung durch dieses oder jenes materielle Substrat in Beziehung zu diesem oder jenem Geistigen, das dahinter­steckt. Das ist eine ganz oberflächliche Charakteristik. Aber schon wer dieses erfaßt, wird in gewisser Beziehung den materialistischen Satz zugeben können: Der Mensch ist,

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was er ißt. Nur muß zugleich mit dem materiellen Prozeß ein geistiger verstanden werden.

Das ist aber nur die eine Art, wie wir uns über diese Fragen im geisteswissenschaftlichen Sinne orientieren kön­nen. Wenn die Geisteswissenschaft einen gewissen Wert legt und Nachforschungen anstellt auf und über die Natur der Nahrungsmittel, so geschieht das, weil sich hier eine ganz eigenartige Perspektive in bezug auf die Beziehung des Menschen zur Natur herausstellt. Der Mensch steht aller­dings dadurch in einer Beziehung zur Natur, daß er die umgebende Natur in gewisser Weise aufnimmt, sich zu­sammensetzt mit dem, was darinnen ist. Und es entsteht die Frage: Wird der Mensch nicht dadurch, daß er so sich aneignet, was draußen ist, hingegeben an diese Kräfte, die draußen wirken, und kann er sich freimachen von diesen Kräften? Gibt es eine Möglichkeit, daß der Mensch frei wird von dieser seiner Umgebung durch seine Nahrung, so daß er eine gewisse Macht und einen gewissen Einfluß er­hält über die Umgebung? Könnte es nicht so sein, daß der Mensch in der Tat das sein könnte, was er ißt, durch eine gewisse Art der Ernährung - und könnte es nicht so sein, daß durch eine andere Art der Ernährung der Mensch sich frei macht von dem Zwange, der durch die Ernährung auf ihn ausgeübt wird? Also entsteht für die Geisteswissen­schaft die Frage: Wie muß die Ernährung des Menschen gestaltet sein, damit er frei wird von dem Zwange der Ernährung, damit er immer mehr Herr und Gebieter über das wird, was in ihm vorgeht?

Indem wir diese Frage heute vor uns hinstellen, muß einiges über die ganze Stellung der Geisteswissenschaft zu diesen Fragen gesagt werden. Diese Frage, auch die über Gesundheitsfragen, muß so aufgefaßt werden, daß der Geisteswissenschaft in keiner Weise eine Agitation nach

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dieser oder jener Richtung zugeschrieben wird. Wer etwa glaubt, daß mit dem, was heute gesagt werden soll, agitiert wird für oder gegen diese oder jene Nahrung oder Genuß­mittel, der hat eine im höchsten Grade irrige Ansicht. Kei­ner sollte heute mit der Ansicht von hier fortgehen, daß hier eingetreten würde für oder gegen Abstinenz, Vege­tarismus, Fleischkost. Alle diese Fragen über Dogmen, über etwas Alleinseligmachendes, haben mit dem innersten Ge­fühlsnerv der Geisteswissenschaft gar nichts zu tun. Wir wollen nicht agitieren, nicht den Menschen nach dieser oder jener Weise kommandieren; wir wollen nur sagen, wie die Dinge wirklich sind. Dann mag sich jeder sein Leben ein­richten, wie er will, nach diesen großen Gesetzen des Da­seins. Also der heutige Vortrag will einzig und allein sagen, was auf diesem Gebiete wirklich ist. Auf der anderen Seite bitte ich sehr, zu berücksichtigen, daß ich nicht für anthro­posophische Kreise im engeren Sinne spreche, die eine ge­wisse Entwickelung durchmachen wollen und spezielle Be­dingungen einzuhalten haben. Heute wird die Frage im allgemeinmenschlichen Sinne erörtert werden. Bei dem gro­ßen Umfange des Themas wird nur einzelnes heraus-genommen werden können, und vor allem muß alles das vermieden werden, was mit dem Gesundheitlichen des Lebens zusammenhängt. Das werden wir in dem nächsten Vortrag hören.

Wir werden uns heute mit der Ernährung im engeren Sinne befassen. Deshalb wird der Atmungsprozeß hier nicht berücksichtigt werden. Der Mensch hat, um den Lebensprozeß seines Organismus zu unterhalten, aufzunehmen:

Eiweiß, Kohlehydrate, Fette und Salze. Sie wissen, daß der Mensch die Bedürfnisse, die sein Organismus nach dieser Richtung hat, durch die sogenannte gemischte Kost befrie­digt. Er übernimmt diese Hauptbestandteile seiner Ernäh­rung

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zum Teil aus dem tierischen, zum Teil aus dem pflanz­lichen Reiche. Es gibt unter unseren heutigen Zeitgenossen viel mehr Verteidiger einer gemischten Nahrung als einer einseitigen Kost, sagen wir etwa einer nur tierischen oder nur pflanzlichen Kost. Wir müssen uns fragen: Wie stellt sich dasjenige, was die Gesetze unserer Umgebung sind, aus denen der Mensch seine Nahrung nimmt, zu den wahren Kräften und Bedürfnissen des menschlichen Organismus? Heute ist hier nur vom Menschen die Rede, nicht von den Tieren.

Der Mensch ist leicht geneigt, nach den sogenannten wissenschaftlichen Resultaten seiner Zeit seinen Organismus recht materiell aufzufassen. Die Geisteswissenschaft muß das ersetzen durch die Gesetze der geistigen Zusammen­hänge. Wenn auch theoretisch nicht immer, so liegt doch praktisch dem Verfahren, das eingeschlagen wird, mehr oder weniger unbewußt der Gedanke zugrunde, daß der menschliche Organismus mehr oder weniger nur aus dem physischen Leib, den chemischen Stoffen in ihrer Wechsel­wirkung aufeinander bestehe. Man verfolgt diese Substan­zen bis in ihre chemischen Elemente hinein und versucht, nachdem man erkannt hat, wie diese Substanzen wirken, sich ein Bild davon zu machen, wie sie chemisch weiter-wirken könnten in der großen Retorte, als die man den Menschen ansieht. Es soll nicht behauptet werden, daß nicht etwa viele schon hinaus wären über die Ansicht, der Mensch sei nur eine große Retorte. Es kommt nicht auf die Theorien an, sondern auf die Denkgewohnheiten. Dem wahren Prak­tiker kommt es nicht darauf an, was einer denkt, sondern was für Wirkungen seine Gedanken haben. Darauf kommt es an. Ob einer Idealist ist oder nicht, darauf kommt es nicht an, sondern für das Leben ist es wichtig, ob einer fruchtbare Gedanken hat, die so sind, daß das Leben gedeiht

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und fortschreitet. Gerade das darf nicht außer acht gelassen werden, daß Geisteswissenschaft auch nach dieser Richtung hin nichts zu tun hat mit einem Dogma, mit irgendeinem Glauben. Mag einer noch so sehr die spirituell­sten Theorien vertreten: darauf kommt es nicht an, son­dern darauf, daß diese Gedanken fruchtbar sind, wenn er sie ins Leben überführt. Wenn also einer sagt, er sei nicht Materialist, er glaube an die Lebenskraft, ja sogar an einen Geist, aber in der Ernährungsfrage immer so vorgeht, als ob der Mensch eine große Retorte wäre, so kann seine Weltanschauung nicht fruchtbar werden. Nur dann hat Geisteswissenschaft über diese konkreten Fragen etwas zu sagen, wenn sie selbst in das einzelne hineinzuleuchten ver­mag, und das kann sie sowohl in bezug auf die Ernährungs­wie auch in bezug auf die Gesundheitsfragen.

Wir müssen uns wieder über die vielgliedrige menschliche Wesenheit klarwerden. Für den Geistesforscher ist der Mensch nicht nur das physische Wesen, das man mit Augen sehen, mit Händen greifen kann, sondern dieser physische Leib ist nur ein Teil der menschlichen Wesenheit. Dieser physische Leib besteht allerdings aus denselben chemischen Stoffen, die in der Natur ausgebreitet sind. Aber die menschliche Natur hat höhere Glieder. Schon der nächste Teil der menschlichen Wesenheit ist übersinnlich, hat eine höhere Realität als der physische Leib. Er liegt dem physi­schen Leib zugrunde, er ist durch das ganze Leben hindurch ein Kämpfer gegen den Zerfall des physischen Leibes. In dem Augenblick, wo der Mensch durch die Pforte des Todes schreitet, ist der physische Leib nur seinen eigenen Gesetzen unterworfen und zerfällt. Im Leben kämpft der Lebensleib gegen den Zerfall. Er gibt den Stoffen und Kräften andere Richtungen, andere Zusammenhänge als sie haben würden, wenn sie nur sich selber folgten. Für das hellseherische Bewußtsein

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ist dieser Leib ebenso sichtbar wie der physische Leib für das Auge. Diesen Lebensleib oder Atherleib hat der Mensch mit der Pflanze gemeinsam.

Wir wissen aus anderen Vorträgen, daß der Mensch noch ein drittes Glied seiner Wesenheit hat, den astralischen Leib. Wie ist er? Er ist der Träger von Lust und Leid, Be­gierden, Trieben und Leidenschaften, von alledem, was wir unser inneres Seelenleben nennen. Alles das hat seinen Sitz im astralischen Leib. Er ist geistig wahrnehmbar, wie der physische Leib für das physische Bewußtsein. Diesen astra­lischen Leib hat der Mensch mit den Tieren gemeinsam.

Das vierte Glied ist der Träger des Ichs, des Selbst­bewußtseins. Dadurch ist der Mensch die Krone der Schöp­fung, dadurch ragt er hinaus über die Dinge der Erde, die ihn umgeben. So steht der Mensch vor uns mit drei unsicht­baren Gliedern und einem sichtbaren Glied. Diese wirken immer durcheinander und miteinander. Alle wirken auf jedes einzelne und jedes einzelne wirkt auf alle andern. So kommt es, daß der physische Leib - ich sage noch einmal in Parenthese, daß das alles nur für den Menschen gilt -, so wie er vor uns steht, ein Ausdruck ist in allen seinen Teilen auch von den unsichtbaren Gliedern der menschlichen Na­tur. Dieser physische Leib könnte in sich nicht die Glieder haben, die der Nahrung, der Fortpflanzung, die dem Leben überhaupt dienen, wenn er nicht den Atherleib hätte. Alle Organe, die zur Ernährung und Fortpflanzung dienen, die Drüsen und so weiter, sind der äußere Ausdruck des Äther-leibes. Sie sind das, was der Atherleib am physischen Leibe baut. Unter anderem ist im physischen Leibe das Nerven­system der Ausdruck des astralischen Leibes. Hier ist der astralische Leib der Akteur, der Aufbauer. Wir können uns vorstellen, gerade wie eine Uhr oder eine Maschine von einem Uhrmacher oder von einem Maschinenbauer aufgebaut

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sind, so sind es die Nerven von dem astralischen Leibe. Und die Eigenart der menschlichen Blutzirkulation, der Bluttätigkeit, sie ist der äußere physische Ausdruck des Ich-Trägers, des Trägers des Selbstbewußtseins. So ist auch der menschliche physische Leib in gewisser Weise vierglied­rig. Er ist ein Ausdruck der physischen Glieder, also seiner selbst, und der drei höheren, unsichtbaren Glieder. Rein physisch sind die Sinnesorgane; die Drüsen sind der Aus­druck für den Ätherleib, das Nervensystem für den astra­lischen Leib und das Blut für das Ich.

Sehen wir den Menschen im Gegensatz zur Pflanze an, so steht die Pflanze als zweigliedrige Wesenheit vor uns. Die Pflanze hat einen physischen Leib und einen Ätherleib. Wir vergleichen nun den Menschen mit der Pflanze, indem wir allseitig vorgehen und das Innere, Geistige berücksichtigen. Wir setzen in Beziehung den menschlichen viergliedrigen Organismus mit dem zweigliedrigen Organismus der Pflan­zen. Zum Unterstützen können wir ausgehen von physi­schen, bekannten Tatsachen. Wir können darauf hinweisen, wie die Pflanze ihren Organismus aufbaut. Sie setzt un­organische Stoffe zusammen zu ihrem Körper. Sie hat die Kraft, aus einzelnen unlebendigen Bestandteilen ihren Leib in der wunderbarsten Weise zusammenzugliedern. Wir brauchen ja nur einmal zu sehen, wie die Pflanze in merk­würdiger Wechselwirkung steht zum Atmungsprozeß. Der Mensch atmet Sauerstoff ein und gibt Kohlensäure von sich. Diese, die für den Menschen unbrauchbar ist, kann die Pflanze aufnehmen. Sie behält den Kohlenstoff zurück zum Aufbau ihres Organismus und gibt den Sauerstoff zum größten Teil wieder zurück. Aber sie braucht etwas dazu, was von vielen vielleicht nicht als etwas Besonderes auf­gefaßt wird: sie braucht das Sonnenlicht. Ohne das Sonnen­licht könnte sie nicht ihren Organismus aufbauen. Das

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Licht, das zu unserem Entzücken zu uns strömt, das uns auch seelisch so beleben kann, ist zugleich der großartige Helfer zum Aufbau des pflanzlichen Organismus. Wir sehen, wie da ein Wunderwerk vor sich geht, wie das Sonnenlicht hilft, ein organisches Wesen aufzubauen. Was unsere Augen erst wirksam macht, das ist es, was der Pflanze im Aufbau hilft.

Der Mensch hat außer dem physischen und dem Äther-leibe noch den astralischen Leib. Den hat die Pflanze nicht. Das, was dem Sonnenlichte hilft, die Pflanzen in so wun­derbarer Weise aufzubauen, das ist der Ätherleib. Dieser ist auf der einen Seite den Stoffen zugewandt. Der Mensch könnte seinen physischen Organismus nicht entwickeln, wenn er nicht etwas täte, was in gewisser Weise entgegen­gesetzt ist dem, was die Pflanze tut. Schon in dem Atmungs­prozeß tut der Mensch etwas Gegensätzliches. Der Mensch macht hier schon den gegenteiligen Prozeß durch. Dasselbe können wir sagen in bezug auf alle Ernährung des Men­schen. Wir können sagen: Die Ernährung muß so vor sich gehen, daß alles, was in der Pflanze aufgebaut wird, im Menschen wieder abgebaut wird. Der Prozeß im Menschen ist ein sehr eigentümlicher. Wenn nur der Ätherleib einen physischen Leib aufbaute, so würde niemals Bewußtsein, Seelenempfindung auftreten. Es muß innerlich immer wie­der zerstört, abgebaut werden, was der Ätherleib aufgebaut hat. So ist zwar der Ätherleib ein Kämpfer gegen den Zer­fall, aber trotzdem tritt immer ein stückweiser Zerfall ein. Und dasjenige, was diesen Zerfall bewirkt, was immer den Menschen hindert, Pflanze zu sein, das ist der astralische Leib.

Das Sonnenlicht und der menschliche astralische Leib sind in gewisser Weise zwei entgegengesetzte Dinge. Für den, der mit hellseherischem Bewußtsein des Menschen

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astralischen Leib kennenlernt, für den ist der astralische Leib ein inneres Licht, das geistiger Art ist, für das äußere Auge unsichtbar. Ein geistiger Lichtleib ist dieser astralische Leib. Er ist der Gegensatz zu dem äußeren, äußerlich leuch­tenden Licht. Denken Sie sich einmal das Sonnenlicht immer schwächer werdend, bis es erlischt, und lassen Sie es jetzt noch weiter nach der anderen Seite gehen, lassen Sie es negativ werden, so haben Sie inneres Licht. Und dieses in­nere Licht hat die entgegengesetzte Aufgabe als das äußere Licht, das aus anorganischen Stoffen den pflanzlichen Leib aufbauen soll. Das innere Licht, das die partielle Zerstörung einleitet, durch die allein Bewußtsein möglich ist, bringt den Menschen zu einer höheren Stufe, als die Pflanze sie einnimmt, dadurch, daß der Prozeß der Pflanzen in einen entgegengesetzten verwandelt wird. So steht der Mensch durch sein inneres Licht in einem gewissen Gegensatz zur Pflanze. Das ist die Sache geistig aufgefaßt, und wir wür­den bei weiterer Betrachtung sehen, wie die durch den astralischen Leib bewirkte Zerstörung durch das Ich weiter fortgesetzt wird. Aber das braucht uns heute nicht weiter zu beschäftigen.

Nehmen wir jetzt das Verhältnis des Menschen zur Pflanze, wenn es so real wird, daß der Mensch seine Nah­rungsstoffe aus der Pflanze aufnimmt. Er bildet in sich selber für den ganzen Weltprozeß eine Fortsetzung der Pflanze. Was durch das Sonnenlicht aufgebaut wird, das zerstört der astralische Leib zwar immer wieder, aber er gliedert dadurch dem Menschen das Nervensystem ein und erhebt dadurch das Leben zu einem bewußten. So ist der astralische Leib dadurch, daß er ein negativer Lichtleib ist, der andere Pol, der dem pflanzlichen entgegengesetzt ist. Diesem Prozeß des Aufbauens des Pflanzenorganismus liegt ein Geistiges zugrunde, denn die Geisteswissenschaft zeigt

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uns immer mehr, wie das, was uns als Licht erscheint, auch nur der äußere Ausdruck eines Geistigen ist. Durch das Licht fließt uns fortwährend Geistiges zu, das Licht der Geister fließt uns zu. Was sich hinter diesem physischen Licht verbirgt, das ist es, was in Teile zerteilt auch im astra­lischen Leibe erscheint. Äußerlich im Sonnenlichte erscheint es in seiner physischen Form, im astralischen Leibe in astra­lischer Weise. Das Geistige des Lichtes arbeitet in uns inner­lich am Aufbau unseres Nervensystems. So wunderbar wir­ken zusammen das pflanzliche und das menschliche Leben.

Nehmen wir nun an, der Mensch tritt durch die Nahrung in ein Verhäknis mit der tierischen Welt. Dann ist die Sache anders. In dem Wesen, dem er dann seine Nahrungsmittel entnimmt, ist in gewisser Weise der Prozeß schon voll­zogen. Was er sonst jungfräulich und frisch von der Pflanze entnimmt, das ist im Tiere schon teilweise umgewandelt, schon vorbereitet. Denn auch das Tier gliedert sich schon einen astralischen Leib und ein Nervensystem ein. So nimmt der Mensch dann etwas auf, was ihm nicht jungfräulich ent­gegentritt, sondern was den Prozeß schon durchgemacht hat, was schon astralische Kräfte aufgenommen hat. Was im Tiere lebt, das hat schon in sich entwickelte Kräfte des Astralischen. Nun könnte man glauben, daß dadurch dem Menschen Arbeit erspart würde. Dieser Gedanke ist aber nicht ganz richtig. Denken Sie sich einmal folgendes: Ich mache aus verschiedenen Gerätschaften ein Haus. Ich nehme die ursprünglichen Gerätschaften. Da kann ich das Haus ganz nach meinen ursprünglichen Intentionen aufbauen. Nehmen wir aber an, drei oder vier andere Personen haben schon daran stückweise gearbeitet und nun soll ich daraus ein Ganzes machen. Wird mir das die Arbeit erleichtern? Nein, ganz gewiß nicht. Sie werden in einer weitverbreite­ten Literatur lesen, daß dem Menschen dadurch eben die

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Arbeit erleichtert würde, daß er etwas aufnimmt, an dem schon vorgearbeitet ist. Aber der Mensch wird gerade da­durch ein beweglicheres, selbständigeres Wesen, daß er das Ursprüngliche aufnimmt.

Noch ein Bild: Jemand hat eine Waage mit zwei Waag­schalen. Gleiche Gewichte halten sich das Gleichgewicht. Auf beiden Seiten mögen fünfzig Pfund liegen. Aber so ist es nicht immer. Ich kann eine Waage nehmen, auf der das Gewicht zu verschieben ist. Wir haben dann in doppelt so großer Entfernung nur halb so großes Gewicht nötig. Hier wird das Gewicht durch die Entfernung bestimmt. Ebenso kommt es nicht nur auf die Menge der Kräfte an, sondern besonders auf die Feinheit der Stoffe. Das Tier verarbeitet die Stoffe in unvollkommenerem Sinne. Was da aufgenom­men wird vom Menschen, wirkt fort durch das, was durch den Astralleib des Tieres daran geschehen ist, und das hat der Mensch dann erst zu überwinden. Aber weil ein Astral-leib so gewirkt hat, daß in einem bewußten Wesen bereits ein Prozeß sich abgespielt hat, so bekommt der Mensch etwas in seinen Organismus hinein, was auf sein Nerven­system einwirkt.

Das ist der Grundunterschied zwischen Nahrung aus dem Pflanzenreich und Nahrung aus dem Tierreich. Nahrung aus dem Tierreich wirkt in ganz spezifischer Weise auf das Nervensystem und damit auf den Astralleib. Aber bei pflanzlicher Nahrung bleibt das Nervensystem unberührt durch etwas Äußeres. Der Mensch muß sich dann allerdings auch alles selber verdanken in bezug auf das Nervensystem. Dadurch aber durchströmen die Wirkungen seiner Nerven nicht fremde Produkte, sondern nur das, was in ihm selbst urständet. Wer weiß, wie viel im menschlichen Organismus vom Nervensystem abhängt, der wird verstehen, was das heißt. Wenn der Mensch sein Nervensystem selbst aufbaut,

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so ist es voll empfänglich für das, was der Mensch ihm zu­muten soll in bezug auf die geistige Welt. Seiner Nahrung aus der Pflanzenwelt verdankt der Mensch das, daß er hinaufblicken kann zu den großen Zusammenhängen der Dinge, die ihn erheben über die Vorurteile, die aus den engen Grenzen des persönlichen Seins entspringen. Überall, wo der Mensch frei und unbekümmert aus den großen Ge­sichtspunkten heraus Leben und Denken regelt, da ver­dankt er diesen raschen Überblick seiner Nahrungsbezie­hung zur Pflanzenwelt. Da, wo der Mensch durch Zorn, Antipathie, durch Vorurteile sich hinreißen läßt, da ver­dankt er das seiner Nahrung aus der Tierwelt.

Es soll hier aber nicht agitiert werden für pflanzliche Nahrung. Im Gegenteil: Die tierische Nahrung war dem Menschen notwendig und ist vielfach noch heute notwendig, weil der Mensch auf der Erde fest sein sollte, ins Persönliche eingeklemmt sein sollte. Alles, was den Menschen zu sei­nen persönlichen Interessen gebracht hat, das hängt zusam­men mit der tierischen Nahrung. Daß es Menschen gegeben hat, die Kriege geführt haben, die Sympathie und Anti­pathie, sinnliche Leidenschaften zueinander hatten, das kommt her von der tierischen Nahrung. Daß aber der Mensch nicht in den engeren Interessen aufging, daß er all­gemeine Interessen fassen kann, das verdankt er seinen Beziehungen zur Pflanzenwelt in bezug auf die Nahrung. So gehen ja auch bei gewissen Völkern, die vorzugsweise pflanzliche Nahrung nehmen, die Anlagen mehr zum Spiri­tuellen, während andere Völker mehr Tapferkeit, Mut, Kühnheit entwickeln, die ja auch zum Leben nötig sind. Diese Dinge sind ohne persönliches Element nicht zu den­ken, und dieses ist nicht möglich ohne tierische Nahrung.

Wir sprechen heute über diese Fragen von ganz allgemein menschlichem Standpunkte aus. Aber das macht uns klar,

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daß der Mensch nach dieser oder jener Seite ausschlagen kann, sich also auch in seine persönlichen Interessen hinein­versenken kann durch die tierische Nahrung. Dadurch wird sein Sinn getrübt in bezug auf die große Überschau des Daseins. Man sieht meistens nicht, wie es in der Nahrung begründet ist, wenn der Mensch sagt: Nun weiß ich wieder nicht, wie soll ich dies oder das machen, wie hat er es ge­macht? - Diese Unmöglichkeit des Überschauens der Zu­sammenhänge kommt von der Nahrung her. Vergleichen Sie das mit einem, der große Zusammenhänge überschauen kann. Sie können dann auf die Nahrung dieser Menschen und vielleicht auch auf die Nahrung der Vorfahren zurück­blicken. Ganz anders ist ein Mensch, der schon in seiner Vorfahrenreihe ein jungfräuliches Nervensystem hat. Die­ser Mensch hat einen anderen Sinn für die großen Zusam­menhänge. Ein Leben kann da manchmal das gar nicht zerstören, was die Vorfahren begründet haben. Wenn da auch ein Mensch, der zum Beispiel von Bauern abstammt, doch das aufstachelt, was er in sich hat, so ist es eben nur durch das Fleisch herausgekommen, weil er empfindlicher war.

Der Fortschritt wird darin bestehen, daß der Mensch, in­sofern der Eiweißbedarf nicht in ihm, in der menschlichen Natur selbst zubereitet ist, sich in der tierischen Nahrung beschränkt auf dasjenige, was noch nicht von Leidenschaf­ten durchglüht ist, wie Milch. Die Pflanzennahrung wird einen immer weiteren Raum einnehmen in der menschlichen Nahrung.

In bezug auf einzelne Nahrungsmittel können wir ge­wisse Vorzüge der Pflanzenkost hervorheben. Wenn der Mensch sich sein Eiweiß aus der Pflanzenkost holt, wobei allerdings härtere Arbeit erforderlich ist, so entwickelt er Kräfte, die sein Nervensystem frischer machen. Vieles, dem

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die Menschheit entgegengehen würde, wenn die Fleisch­nahrung überhand nähme, wird vermieden durch vorzugs-weises Berücksichtigen der Pflanzenkost. An der vegetari­schen und animalischen Nahrung können wir sehen, wie gegensätzlich sie wirken. Zur Illustration können wir fol­gendes sagen: Sehen wir uns den physischen Prozeß an unter dem Einfluß von Fleischnahrung. Die roten Blut­körperchen werden schwer, dunkler, das Blut hat eine größere Neigung zu gerinnen. Es bilden sich in leichterer Weise Einschläge von Salzen, von Phosphaten. Bei vor­zugsweise pflanzlicher Nahrung ist die Senkungskraft der Blutkörperchen viel geringer. Es wird dem Menschen mög­lich, das Blut nicht bis zur dunkelsten Färbung kommen zu lassen. Dadurch aber ist er gerade imstande, vom Ich aus den Zusammenhang seiner Gedanken zu beherrschen, wäh­rend schweres Blut ein Ausdruck dafür ist, daß er sklavisch hingegeben ist an das, was seinem astralischen Leibe durch die Tiernahrung eingegliedert ist. Dieses Bild zeigt uns durchaus als äußeren Wahrheitsausdruck, was wir sagen wollten. Der Mensch wird durch das Verhältnis zur Pflan­zenwelt innerlich kräftiger. Durch Fleischnahrung gliedert er sich etwas ein, was nach und nach zu wirklichen Fremd-stoffen wird, die eigene Wege gehen in ihm. Das wird ver­mieden, wenn die Nahrung vorzugsweise aus Pflanzen besteht. Wenn die Stoffe in uns eigene Wege gehen, so üben sie gerade Kräfte aus, die hysterische, epileptische Zustände hervorrufen. Weil das Nervensystem diese Imprägnierun­gen von außen erhält, verfällt es den verschiedenartigen Nervenkrankheiten. So sehen wir, wie in gewisser Bezie­hung «der Mensch ist, was er ißt».

In Einzelheiten wäre noch viel mehr nachweisbar, aber durch zwei Beispiele kommen wir darauf, daß man nicht einseitig sein darf. Ein einseitiger Vegetarier könnte sagen:

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«Wir dürfen nicht Milch, Butter und Käse genießen.» Aber die Milch ist ein Produkt, an dem im Tiere bei der Erzeu­gung vorzugsweise der Ätherleib beteiligt ist. Der Astral­leib ist zum geringsten Teile daran beteiligt. Der Mensch kann ja in den ersten Zeiten seines Lebens als Säugling nur von Milch leben. Da ist alles darinnen, was er braucht. Bei der Bereitung der Milch kommt der astralische Leib nur in seiner Grenze in Betracht. Wenn man in höherem Alter hauptsächlich Milch, womöglich ausschließlich Milch ge­nießt, so erzielt man damit eine ganz besondere Wirkung. Weil der Mensch dann nichts aufnimmt, was schon äußer­lich bearbeitet ist und was seinen Astralleib beeinflussen kann, und weil er auf der anderen Seite in der Milch etwas aufnimmt, was schon vorbereitet ist, so ist er imstande, be­sondere Kräfte seines Ätherleibes, die heilende Wirkungen auf die Mitmenschen ausüben können, in sich zu entwickeln. Heiler, die heilend auf ihre Mitmenschen einwirken wollen, haben ein besonderes Hilfsmittel in ausschließlichem Milchgenuß.

Auf der anderen Seite wollen wir den Einfluß eines Ge­nußmittels schildern, das aus der Pflanzenwelt genommen wird, den Einfluß des Alkohols. Dieser hat eine ganz be­sondere Bedeutung. Er entsteht erst dann, wenn der eigent­liche pflanzliche Prozeß, das, was durch die wunderbare Einwirkung des Lichtes geschieht, wovon der astralische Leib das Gegenteil ist, aufgehört hat. Dann beginnt ein Prozeß, der sich auf einer niederen Stufe abspielt und den Menschen noch mehr beeinträchtigt als tierische Nahrung. Der Mensch bringt die Stoffe bis zum astralischen Leibe heran, bringt sie durch den Astralleib in ein besonderes Gefüge. Wenn aber das, was an den Astralleib herange­bracht werden soll, in der Weise zerfällt, wie es beim Al­kohol der Fall ist, so geschieht das, was sonst durch den

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Astralleib geschehen soll, ohne den Astralleib, nämlich die Wirkung auf das Ich und das Blut. Die Wirkung des Alko­hols ist die, daß das, was sonst aus freiem Entschluß des Ichs geschehen soll, durch den Alkohol geschieht. In ge­wisser Beziehung ist es richtig, daß ein Mensch, der Alkohol genießt, weniger Nahrung nötig hat. Er läßt sein Blut durchziehen von den Kräften des Alkohols; er gibt dem Fremden ab, was er selbst tun sollte. Man kann in gewisser Weise sagen, daß in einem solchen Menschen der Alkohol denkt und fühlt und empfindet. Dadurch, daß der Mensch das, was seinem Ich unterworfen sein soll, an den Alkohol abliefert, stellt sich der Mensch unter den Zwang eines Äußeren. Er verschafif sich ein materielles Ich. Der Mensch kann sagen: Ich fühle dadurch gerade eine Belebung des Ichs. - Gewiß, aber nicht er ist es, sondern etwas anderes, unter das er sein Ich gebannt hat. So könnten wir noch durch mancherlei zeigen, wie der Mensch dazu kommen kann, immer mehr und mehr zu sein, was er ißt. Aber die Geisteswissenschaft zeigt uns auch, wie der Mensch freiwer­den kann von den Kräften der Nahrung.

So wollte ich Ihnen heute nur in großen Zügen des Men­schen Verhältnis zu seiner Umgebung schildern, wie er da-steht in bezug auf die Nahrung zu den ihn umgebenden Reichen. Wer weiterhin diesen oder jenen Vortrag hier besuchen wird, der wird sehen, daß auf einzelne Fragen auch bei anderen Gelegenheiten eingegangen werden kann. Auch dieser Vortrag wird Ihnen gezeigt haben, daß die Geisteswissenschaft etwas ist, das auch auf die allermate­riellsten Bedürfnisse des Lebens seine Wirkung hat. Geistes­wissenschaft ist etwas, was ein Ideal sein kann für die Menschenzukunft. Heute wird man wohl noch oft sagen, wenn man sieht, wie die Stoffe sich im Menschen verbinden und trennen: Es ist wie in einer Retorte, und man wird

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glauben, daß man darin etwas Heilsames finden kann für die Menschen. Aber eine Zeit wird kommen, wo das, was über das Licht und den Astralleib gesagt ist, auch dem vor Augen stehen wird, der im Laboratorium forscht. Kann denn nicht auch jemand die gewöhnlichen Beobachtungen chemischer Art machen, wenn er sich sagt, daß hier ins Kleinste herein das Größte wirkt, was das äußere physische Sonnenlicht durchzieht, und was bis ins Geistige hinein im menschlichen Bewußtsein leuchtet? So wird man diese Dinge durchforschen in dem Lichte, das uns einen Überblick gibt über das Ganze.

Aus dem Geiste ist alles geboren, was in unserer Um­gebung ist. Der Geist ist der Urgrund zu allem. Wollen wir zur Wahrheit kommen, so muß der Geist auch beim For­schen hinter uns stehen. Dann werden wir die Wahrheit erkennen, die dem Menschen im Großen und auch im Klei­nen nötig ist.

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GESUNDHEITSFRAGEN IM LICHTE DER GEISTESWISSENSCHAFT Berlin, 14. Januar1909

Das Thema, das uns heute beschäftigen soll, schließt eine Anzahl von Fragen ein, die den Menschen mit Recht auf das allertiefste interessieren. Die Fragen nach der Gesund­heit sind ja solche, die zusammenhängen mit alledem, was den Menschen lebenstüchtig macht, mit alledem, was ihm verhilft, seine Bestimmung in der Welt ungehemmt zu er-füllen, und es ist deshalb die Gesundheit gewiß für die mei­sten Menschen, in dem richtigen Lichte gesehen, etwa so, daß sie sie sozusagen anstreben, wie man äußere Güter an­strebt. Aber die Gesundheit ist auch als ein inneres Gut zu betrachten, wie die äußeren Güter zunächst nicht um ihrer selbst willen von dem gesund denkenden Menschen ange­strebt werden, sondern als Mittel der Arbeit, als Mittel seines Wirkens und Schaffens. Daher können wir es wohl erklären, daß der Drang, die Sehnsucht, sich Aufklärung zu verschaffen über die Rätsel und Fragen des gesunden und kranken Lebens, insbesondere in unserer Gegenwart so tiefgehend sind. Allerdings ist im allgemeinen Denken jene Gesinnung wenig verbreitet, die geeignet ist, den Menschen empfänglich zu machen gerade für diejenigen Antworten, die man braucht, wenn man solche Fragen lösen will, welche so innig mit dem ganzen Wesen des Menschen zusammen­hängen.

Es soll auch heute, wie schon einmal bei einer ähnlichen Gelegenheit, an einen alten Spruch erinnert werden, der

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manchem einfällt, wenn von Gesundheit und Krankheit gesprochen wird, an den Ausspruch: Es gibt so viele Krank­heiten und nur eine einzige Gesundheit! - Dieser Ausspruch erscheint im Grunde genommen manchen so selbstverständ­lich als möglich, und dennoch ist er ein Irrtum, ein Irrtum im eminenten Sinne des Wortes, denn es gibt nicht bloß eine Gesundheit, sondern so viele Gesundheiten, wie es Men­schen gibt. Das ist es gerade, was wir in unsere Gesinnung aufnehmen müssen, wenn wir die Fragen nach dem Gesun­den und Kranken im richtigen Lichte sehen wollen. Wir müssen in unsere Gesinnung aufnehmen, daß der Mensch ein individuelles Wesen ist, daß jeder Mensch anders be­schaffen ist als der andere, und daß, was dem einen heilsam und für den anderen schädlich und krankmachend sein kann, ganz abhängt von seiner individuellen Beschaffenheit.

Daß diese Gesichtspunkte nicht so weitverbreitet sind, das zeigt eine Erfahrung, die jeder von uns täglich machen kann. Da fehlt einem dies oder jenes. Die Mutter erfährt es oder nimmt es wahr; sie erinnert sich, daß ihr in ähnlichen Fällen einmal dies oder jenes geholfen hat, also wird in dieser Weise draufloskuriert. Dann kommt der Vater, der sich erinnert, daß ihm einmal etwas anderes geholfen hat. Dann kommt die Tante, dann der Onkel; die sagen vielleicht: Frische Luft, Licht oder Wasser werden helfen. — Diese Verordnungen sind oft so einander widersprechend, daß sie gar nicht erfüllt werden können. Jeder hat sein Heilmittel, auf das er eingeschworen ist, und das muß dann losgelassen werden auf den armen Kranken. Wer hätte es nicht erfahren, daß diese sich überstürzenden guten Ratschläge, die von allen Seiten kommen, eigentlich eine recht mißliche Sache sind, wenn dem Menschen dies oder jenes fehlt! Alle diese Dinge gehen hervor aus einer unrealistischen Denk-

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weise, aus einer abstrakten Denkweise, aus einem Dogmatismus, der gar nicht beachtet, daß der Mensch ein individuelles Wesen, ein Einzelwesen ist. Jeder Mensch ist ein Wesen für sich, und darauf kommt es vor allen Dingen an: diese Realität Mensch ins Auge zu fassen, wenn man es mit den Erscheinungen von Gesundheit und Krankheit zu tun hat.

Nun entspringt ja eine solche Hilfsbedürftigkeit, wie sie der Mensch in der Krankheit hat, gewiß einer Artung sei­nes inneren Wesens, die das Mitgefühl, das Mitleid seiner Umgebung wachrufen muß. Wir können begreifen, daß jeder gern helfend herbeispringen möchte, denn es ist dies nur ein Ausdruck dafür, welches tiefste Interesse gerade diese Fragen im Zusammenhange mit der ganzen Menschen-natur hervorrufen. Allerdings, wenn man auf der einen Seite dieses tiefe Interesse ins Auge faßt, auf der anderen Seite aber nur ein klein wenig hineinblickt in das, was in unserer Zeit an verschiedenen Anschauungen über Gesund­heit und Krankheit herrscht, dann kann man unter Um­ständen recht betrübt werden. Man könnte sagen, die Krankheit sei eine so wichtige Sache im Menschenleben und warum es denn geschehe, daß sich gelehrte und ungelehrte Leute, Mediziner und Laien, nicht nur über die Heilmittel für die einzelnen Krankheiten, nicht nur über die rechten Wege zur Gesundheit, sondern sogar über das Wesen des Krankseins in den mannigfaltigsten Theorien streiten. Es scheint manchmal, daß in unserer Zeit geistiger und wissen­schaftlicher Betriebsamkeit der kranke und vielleicht auch der gesunde Mensch mehr als je den Parteianschauungen ausgesetzt ist, die von allen Seiten sich geltend machen in bezug auf wichtige Fragen der Menschheitsentwickelung und des Menschheitswesens.

Dürfen wir nun - diese Frage wollen wir uns heute stel­-

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len - die Hoffnung hegen, daß die Geisteswissenschaft, die von den verschiedensten Seiten in diesen Vortragszyklen charakterisiert ist und noch charakterisiert werden wird, in gewisser Beziehung auch Licht bringen kann in die Theorien und Partei-Schattierungen, welche wir heute um uns herum erblicken, wenn wir die Ansichten über Gesundheit und Krankheit einmal an uns herantreten lassen? Es ist ja des öfteren hier betont worden, daß die Geisteswissenschaft einen höheren Gesichtspunkt anstrebt, der es möglich macht, dasjenige, was die Menschen in Parteiungen zerteilt, da­durch, daß sie nur gewisse engere Kreise des Anschauens und Beobachtens haben, zu überbrücken, zu zeigen, wie das eine dem anderen widerstrebt, weil es einseitig ist. Wir haben öfter gezeigt, daß die Geisteswissenschaft gerade da ist, um das Gute in den Einseitigkeiten zu suchen und die Harmonie unter den verschiedenen Einseitigkeiten herzu­stellen. Einseitigkeit - so muß sich derjenige sagen, der die Sache nicht nur oberflächlich betrachtet - dürfte es doch sein, was uns da entgegentritt, wenn von seiten dieser oder jener Krankheitslehre diese oder jene Dogmen mit einer anspruchsvollen Autorität gepredigt werden. Sie haben alle erfahren, welche Summen von Wortschattierungen einander gegenüberstehen in bezug auf diese Fragen. Jeder weiß, daß auf der einen Seite dasjenige steht, was man oftmals - heute sogar schon leider im verächtlichen Sinne - die Schul­medizin nennt mit ihrer allopathischen Richtung, und auf der andern Seite jene Richtung, die man als die homöopa­thische bezeichnet. Dann haben aber auch weite Kreise Zu­trauen gefunden zu dem, was man Naturheilkunde nennt, die vielfach eine andere Auffassung über Krankheit und Gesundheit hat und nicht nur das empfiehlt, was auf den kranken Menschen Bezug hat, sondern auch das, was als richtig gehalten wird für den gesunden Menschen, damit er

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sich stark und kräftig erhält. Alles ist gefärbt von dieser oder jener Seite, von der medizinischen oder von der mehr der Naturheilkunde zuneigenden Richtung.

Wenn wir uns einmal vor Augen führen, von welchen Gesichtspunkten aus ein solcher Streit über Krankheit und Gesundheit zum Beispiel existiert zwischen den An­hängern der medizinischen Heilweise und den Anhängern der Naturheilkunde, dann hören wir die Anhänger der Naturheilkunde sagen, die Medizin suche für jede Krank­heit ihr bestimmtes Heilmittel und sei der Anschauung, daß die Krankheit etwas ist, was den Menschen wie etwas Äußerliches, wie durch eine äußerliche Ursache ergreift, und daß es für die Krankheit auch dieses oder jenes äußerliche Heilmittel gibt. Wir wollen bei solcher Charakteristik nicht vergessen, daß das, was da von der einen oder anderen Seite gesagt wird, oft über das Ziel hinausschießt, und wollen nicht vergessen, daß in vielen Dingen die beiden Parteien einander unrecht tun. Aber wir wollen einzelne Vorwürfe herausheben, die uns zur Verdeutlichung dienen können. Der Anhänger der Naturheilkunde wird hervor­heben, daß der Schulmediziner eine Entzündung in ge­wissen Fällen durch Eisumschläge lindere, daß man bei Gelenkrheumatismus durch Salizylsäure und so weiter zu helfen suche. Besonders weitgehende Anhänger der Naturheilkunde werden kräftige Vorwürfe erheben. Sie werden sagen: Wenn der Magen zuviel Magensäure absondert, dann werde der Mediziner versuchen, diese Magensäure zu neutralisieren. Der Naturheilkundige sagt, das gehe an dem tiefen Wesen der Krankheit und vor allem an dem tiefen Wesen des Menschen vorbei. Das alles treffe den Nagel nicht auf den Kopf. Nehmen wir an, der Magen sondert wirklich zuviel Magensäure ab, so sei das ein Beweis dafür, daß etwas im Organismus nicht richtig ist. Im richtig funktionierenden

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Organismus wird nicht zuviel Magensäure abgesondert. Wenn man daher die Magensäure, die abgesondert wird, neutralisiert, so hebt man damit noch nicht die Kraft auf, die Tendenz, zuviel Magensäure zu schaffen. Man müsse also seine Aufmerksamkeit nicht darauf richten, die Magen­säure einfach zu beseitigen.- Das sagen diejenigen, die gegen die Schulmedizin polemisieren. Man würde, wenn man die Magensäure beseitigt, den Organismus geradezu aufstacheln, ja recht viel Magensäure zu erzeugen. Man müsse also tiefer-gehen und die eigentliche Ursache aufsuchen. So insbeson­dere wird der Naturheilkundige, wenn er es bis zum Fana­tiker bringt , wettern: Wenn jemand an Schlaflosigkeit leidet, so hilft man ihm so, daß man ihm Schlafmittel gibt. Schlaf­mittel beseitigen die Schlaflosigkeit für eine gewisse Zeit; aber die Ursache wird nicht beseitigt. Die müsse aber besei­tigt werden, wenn man dem Kranken wirklich helfen will.

Unter denjenigen, die wieder mehr auf dem Arznei-standpunkte stehen, gibt es zwei Parteien: die Allopathen, die ein spezifisches Heilmittel gegen gewisse Krankheiten anführen und gebrauchen, sozusagen ein Heilmittel, welches die Aufgabe hat, diese Krankheit zu beseitigen. Sie gehen also von der Anschauung aus, die Krankheit sei eine Störung im Organismus, und diese Störung müsse durch ein Mittel beseitigt werden. Dagegen wenden die Homöopathen ein, das sei durchaus nicht das eigentliche Wesen der Krankheit, sondern das eigentliche Wesen der Krankheit sei eine Art Reaktion des ganzen Organismus gegen eine Schädlichkeit in demselben. Es sei eine Schädlichkeit aufgetreten im Orga­nismus, und nun wehre sich der ganze Organismus gegen diese Schädlichkeit. Man müsse an den Symptomen, die beim kranken Menschen auftreten, erkennen und darauf Rücksicht nehmen, daß dasjenige, was Fieber und so weiter erzeugt, eine Art Aufruf sei an die Kräfte im Organismus, die

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den eingeschlichenen Feind vertreiben können. - Daher werden sich die Anhänger dieser Art Heilweise sagen, man müsse gerade zu denjenigen Mitteln in der Natur greifen, welche, wenn der gesunde Organismus sie zu sich nimmt, die betreffende Krankheit hervorrufen. Man dürfe natür­lich dann diese Mittel dem kranken Organismus nicht in großer Dosis verabreichen, sondern so, daß die Kraft der betreffenden Mittel gerade hinreicht, um im gesunden Or­ganismus die Krankheitserscheinungen hervorzurufen. Das ist das Prinzip der Homöopathie: dasjenige, was im gesun­den Organismus eine bestimmte Krankheit hervorrufen kann, das schließt auch die Möglichkeit in sich, den kranken Organismus zu einer bestimmten Gesundheit zu führen. Das wird angewendet, wenn der Organismus die Krank­heitserscheinungen durch sich selber zeigt. Man denkt das so: Man sieht, daß der Organismus, wenn er im kranken Zustande die Symptome zeigt, sich bemüht, die Krankheit zu überwinden. Deshalb müssen wir ihn mit diesem Mittel unterstützen.

Daher kommt es, daß der homöopathische Arzt in vielen Fällen gerade das Gegenteil von dem anwenden wird, was der allopathische Arzt anwenden würde. Der Naturheil­kundige steht oftmals - nicht immer - auf dem Stand­punkte, daß es vor allen Dingen nicht darauf ankomme, ob irgendein spezifisches Heilmittel eine Krankheitsschädigung aufhebt, sondern darauf, den Organismus und seine Tätig­keit zu unterstützen, damit er seine inneren Gesundungs­kräfte wachruft, um dem Krankheitsprozeß zu begegnen. So wird der Naturheilkundige vor allen Dingen darauf bedacht sein, auch dem Gesunden zu raten, die Tätigkeit des Organismus zu unterstützen. Er wird zum Beispiel be­tonen, daß es auch für Gesunde weniger darauf ankomme,

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ob eine Nahrung dem Menschen besonders Gelegenheit gäbe, sagen wir, sich vollzupfropfen mit dem oder jenem, sondern ob eine Nahrung dem Menschen Gelegenheit gibt, seine inneren Kräfte so aufzurufen, daß sie in Tätigkeit kommen. Die Funktion der Organe wird der Naturheil­kundige vor allem auch beim gesunden Menschen betonen. Er wird sagen: Du wirst dein Herz nicht kräftig machen, wenn du dich bemühst, es mit Aufpeitschungsmitteln fort­während anzuspornen, sondern du wirst dein schwaches Herz dadurch stärken, daß du es in Tätigkeit bringst, daß du Bergpartien machst. - So wird derjenige, der auf die Tätigkeit der Organe des Menschen ausgeht, auch dem ge­sunden Menschen anraten, seine Organe in sachgemäßer Art in Tätigkeit zu bringen.

Sie werden vielleicht, wenn Sie sich um solche Fragen gekümmert haben, weil sie doch die heutige Gegenwart so viel beschäftigen, gesehen haben, mit welcher Heftigkeit und mit welchem Dogmatismus von der einen oder anderen Seite oft gekämpft wird, wie die eine und die andere Seite dasjenige hervorhebt, was sie für ihre Anschauung vorzu­bringen hat. So kann die sogenannte Schulmedizin hin­weisen darauf, wie sie im Laufe der letzten Jahrzehnte, namentlich im Verlaufe der letzten drei bis vier Jahrzehnte, großartige Fortschritte gemacht hat gerade dadurch, daß sie darauf gesehen hat, wie die äußeren Krankheitserreger an die Menschen herankommen und sozusagen ihre Gesundheit vernichten. Diese Schulmedizin kann darauf hinweisen, wie sie besorgt war darum, die äußeren Lebensverhältnisse, die Zustände des Lebens so zu verbessern, daß in der Tat in der letzten Zeit ein Aufschwung eingetreten ist. Gerade diejenige Richtung der Medizin, die vorzugsweise auf die äußeren Krankheitserreger sieht - sagen wir auf die heute so gefürchtete Bakterien- und Bazillenwelt -, sie hat da­

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durch, daß sie auf dem Gebiete der Hygiene und der sani­tären Einrichtungen eingegriffen hat, in einer für die Laien gar nicht so durchschaubaren Weise, ungeheuer viel getan für die Verbesserung der Gesundheitsverhältnisse. Es wird gewiß - wiederum nicht ganz mit Unrecht, aber auch nur mit einseitigem Recht - von mancher Seite betont, wie diese Schulmedizin geradezu eine Bakterien- und Ba­zillenfurcht hervorgerufen hat. Aber auf der anderen Seite hat die Untersuchung dazu geführt, daß die Gesundheit im Laufe der letzten Jahrzehnte sich gebessert hat. Mit Stolz weist der Anhänger dieser Richtung darauf hin, um wieviel Prozent die Sterblichkeit da oder dort in den letzten Jahr­zehnten tatsächlich abgenommen hat. Diejenigen aber, die sagen, daß es nicht so sehr die äußeren Ursachen sind, welche für die Betrachtung der Krankheit wichtig sind, sondern daß es vor allen Dingen die im Menschen liegenden Ur­sachen sind, sozusagen seine Krankheitsdisposition, sein vernünftiges oder unvernünftiges Leben, die werden wieder besonders betonen, daß in den letzten Zeiten zwar unleug­bar die Sterblichkeitsziffern abgenommen haben, daß aber die Krankheitsziffern in einer erschreckenden Weise zu­genommen haben. Es wird betont, wie gewisse Krankheits­formen zugenommen haben: Herzkrankheiten, Krebskrank­heiten, Krankheitsformen, die in den Schriften der älteren Zeit gar nicht verzeichnet sind, Krankheiten der Ver­dauungsorgane und so weiter. Diejenigen Gründe, die von der einen oder anderen Seite hervorgebracht werden, sind durchaus beachtenswert. Es kann von einem oberflächlichen Standpunkte aus nicht eingewendet werden, die Bazillen oder Bakterien seien nicht Krankheitserreger furchtbarster Art. Es kann aber auf der anderen Seite auch nicht geleug­net werden, daß der Mensch in gewisser Beziehung entweder gefestigt und gesichert ist gegen Einflüsse solcher Krank­-

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heitserreger oder es nicht ist. Er ist es nicht, wenn er sich durch unvernünftige Lebensweise um seine Widerstands­kraft gebracht hat.

In vieler Beziehung sind diejenigen Dinge bewundernswert,welche von der Schulmedizin in der letzten Zeit ge­leistet worden sind. Sehen wir doch einmal zu, wie subtil und fein die Untersuchungen über das gelbe Fieber sind im Zusammenhange mit der Art und Weise, wie es durch ge­wisse Insekten von Mensch zu Mensch übertragen wird. Wie vorzüglich sind die Untersuchungen in bezug auf die Mala­ria und ähnliches! Aber auf der anderen Seite können wir sehen, daß berechtigte Ansprüche dieser Schulmedizin sehr leicht unser ganzes Leben durchkreuzen können, was in ge­wisser Beziehung zu einer Tyrannis führen kann. Denken wir, daß - und zwar mit einem gewissen Recht - behauptet wird, in einer in der letzten Zeit häufig auftretenden Krank­heit, in der Genickstarre, werde durchaus nicht der Krank­heitserreger auf einen anderen Menschen übertragen, son­dern Menschen, die ganz gesund sind, die ganz fernstehen dem, was man mit Genickstarre bezeichnet, könnten in ge­wisser Beziehung die Krankheitskeime in sich tragen und sie auf andere Menschen übertragen, so daß Menschen, die unter uns herumgehen, die Träger von Krankheitskeimen seien, von denen dann der, welcher dazu geeignet ist, die Krankheit bekommen kann, während die anderen, welche die Keime tragen, durchaus nicht von der Krankheit be­fallen zu werden brauchen. - So kann es dahin kommen, daß die Forderung aufgestellt wird, die Krankheitskeim­träger zu isolieren; denn wenn irgendeiner an Genickstarre erkrankt ist, so sei er gar nicht einmal so gefährlich wie die­jenigen, welche ihn pflegen, und die vielleicht die eigent­lichen Krankheitsträger sind. Zu welchen Konsequenzen das führen muß, wenn man diesen Menschen den Um-

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gang er­schweren wird, das mag man daraus erkennen: Man kann anführen - und es ist schon angeführt worden -, daß an irgendeiner Schule plötzlich eine größere Anzahl von Kin­dern an dieser oder jener Krankheit erkrankt ist. Man wußte nicht, woher die Krankheit gekommen ist. Da stellte sich heraus, daß die Lehrer die eigentlichen Krankheitsträger waren. Sie selber sind nicht von der Krankheit befallen worden, aber die ganze Schule ist von ihnen angesteckt worden. Der Ausdruck Bazillenträger oder Bazillenfänger ist ein Ausdruck, der von einer gewissen Seite sogar mit einem gewissen Recht gebraucht werden kann. Daß der­jenige, welcher Laie ist, auf diesem Gebiete, in allem, was ihm entgegentreten kann von dieser oder jener Seite, sich recht wenig auskennt, das ist schon aus dem wenigen, was wir anführen konnten, fast selbstverständlich.

Nun müssen wir sagen: Gerade das, was wir am Eingange unserer heutigen Betrachtung ausgeführt haben, müßte ein Leitfaden sein dafür, was eigentlich aus alledem, was an guten Gründen von der einen oder anderen Seite vor­gebracht wird, wirklich zum Heile führen kann.AlsGrund­satz im tiefsten und bedeutsamsten Sinne muß gelten, daß vor allen Dingen vor uns stehen muß die Individualität des Menschen als eine einzelne Realität, als etwas, was anders ist als jeder andere Mensch. Wir werden uns das sozusagen an einem konkreten Beispiel am besten vor die Seele führen. Nehmen wir einen Menschen an - ich erzähle Dinge, die durchaus vorgekommen sind -, der hatte von Kindheit auf einen gar nicht zu bezwingenden Widerwillen gegen alles, was Fleisch heißt. Er konnte Fleisch nicht ausstehen, nicht essen. Auch nicht das konnte er essen, was irgendwie mit Fleisch im Zusammenhang steht. Er entwickelte sich ganz gesund bei seiner Pflanzenkost. Das ging so lange, bis sich wohlwollende, gute Freunde fanden, die all ihre Energie

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einsetzten, um diesen Menschen doch von seiner paradoxen Empfindung abzubringen. Sie waren es, die ihm zuerst anrieten, sozusagen ihm zusetzten, zunächst es einmal mit ein wenig Fleischbrühe zu versuchen. Immer weiter und weiter wurde er getrieben, bis zum Hammelfleisch. Er fühlte sich dabei immer kränker und kränker. Nach einiger Zeit trat bei ihm auf eine Erscheinung wie ein besonderer Überfluß des Blutes. Es trat auf eine eigentümliche Schlafsucht, und der gute Mann ging zugrunde an einer Gehirnentzündung. Hätte man diesen Menschen nicht jeden Tag aufs neue dar­auf aufmerksam gemacht, was er eigentlich essen solle, hätte man ihn bei seinem gesunden Trieb gelassen, hätte man nicht geglaubt, «eines schicke sich für alle», hätte man sich nicht auf einen Dogmatismus eingeschworen, sondern die individuelle Natur des Menschen respektiert, dann wäre er gesund geblieben.

Aus einem solchen Fall sollen wir aber nicht mehr lernen, als die individuelle Natur des Menschen zu respektieren. Wir sollen nicht ein neues Dogma davon ableiten; wir sol­len im Leben einzig davon profitieren. Wenn wir uns über­legen, wodurch in diesem Falle der Tod herbeigeführt wurde, so können wir uns die Frage in folgender Art beantworten. Wenn Sie sich erinnern, was das letzte Mal im Vortrage über die Ernährungsfragen gesagt worden ist, so können wir daraus entnehmen, was man für die Pflanze Lebens-prozeß nennt: die Pflanze verarbeitet leblosen Stoff in lebendigen Organismus. Im menschlichen Organismus wird dieser Prozeß weitergeführt. In gewisser Beziehung ist das­jenige, was der menschliche und auch der tierische Organis­mus tut, ein Abbau dessen, was die Pflanze aufgebaut hat. Darauf beruht gerade in bestimmter Beziehung der mensch­liche und der tierische Leib, daß abgebaut und zerstört wird, was die Pflanze aufgebaut hat.

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Nun kann ein Organismus so eingerichtet sein, daß er so­zusagen gerade den Punkt für sich verlangt, da zu begin­nen, wo die Pflanze mit ihrer Tätigkeit aufgehört hat. Dann kann es für ihn im eminentesten Sinne schädlich sein, wenn er den Teil des Prozesses, den das Tier mit den Pflanzen­produkten bereits besorgt hat, sich abnehmen läßt. Das Tier führt den Pflanzenprozeß bis zu einem gewissen Punkte. Der Mensch kann ihn dann nur fortsetzen, wenn er tierische Nahrung genießt. Wenn ihm das abgenommen wird und seine Natur gerade über die Kräfte verfügt, welche die Pflanzennahrung frisch und kräftig aufnehmen und sie dann weiter­führen, dann wird er in sich Kräfte haben, die jetzt unver­wendbar sind für irgendeine Nahrungsaufnahme und Nah­rungsverarbeitung. Diese Kräfte sind da. Diese schaffen wir deshalb nicht weg dadurch, daß wir ihnen nichts zu tun geben, denn dann werfen sie sich auf etwas anderes. Sie wirken im Inneren des menschlichen Organismus. Die Folge davon ist, daß sie als überschüssige Tätigkeit den Organis­mus im Inneren zerstören.

Man sieht, wenn man einen geisteswissenschaftlich nur wenig geschärften Blick hat, wie die überstürzende Tätig­keit, die den ganzen Menschen eingenommen hat, sich auf sein Blut und sein Nervensystem wirft. Man sieht, wie es in dem Organismus so ausgesehen hat, wie bei einem Hausbau, in den man ungeeignetes Material hineingeworfen hat, so daß man sich bemühen muß, das ungeeignete Material zu ordnen und zu arrangieren. Nicht ungestraft leitet man die Kräfte der Verarbeitung der Nahrungsstoffe nach dem Innern. Wenn wir uns das klarmachen, dann werden wir tolerant werden gegen die Natur. Dann dürfen wir aber jedenfalls nicht in der entgegengesetzten Richtung wieder zum Schablonisieren kommen und Fanatiker werden des Vegetarismus für

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einen jeden Menschen. Gerade so, wie sich bei dem Manne, den ich gestern als radikales Beispiel ange­führt habe, die nach innen abgelenkte Tätigkeit überstürzte, so kann es auf der anderen Seite sein, daß es Menschen gibt, welche über diese Tätigkeit gar nicht verfügen, die sozusagen den Pflanzenprozeß unmittelbar da, wo er aufgehört hat, nicht fortsetzen können. Solche Menschen werden, wenn man ihnen zumutet, ohne weiteres Vegetarier zu werden, erleben, daß sie die Kräfte, welche sie da brauchen, not­dürftig aus dem eigenen Organismus nehmen müssen. Sie werden diesen dadurch in gewisser Weise verzehren und ihm zum Verhängnis werden. Das kann also durchaus auf der anderen Seite vorliegen. Worum es sich handelt, ist, daß wir den Blick abwenden von diesen oder jenen Dogmen, wenn wir von gesunden und kranken Verhältnissen reden, abwenden davon, dieses oder jenes zu essen oder es in dieser oder jener Weise zu bearbeiten. Das, worauf es ankommt, ist, die Bedürfnisse des einzelnen Menschen kennenzulernen. Es kommt vor allem darauf an, daß dieser einzelne Mensch die Möglichkeit hat, in gewisser Beziehung seine Bedürf­nisse selber zu fühlen und zu erkennen.

Wenn eine materialistische Anschauung gar zu sehr auf das bloß Stoffliche sieht, so wäre es doch für diese materialistische Anschauung notwendig, nach dieser Richtung hin sich zu bewegen, die eben jetzt angedeutet worden ist. Gerade für sie wäre es eigentlich unmöglich, zu schablonisieren und zu vereinheitlichen. Und wie schablonisiert man in unserer heutigen Zeit! Da wird zum Beispiel ohne weiteres gesagt, dieses oder jenes Nahrungsmittel oder diese oder jene Arznei sei schädlich. Es ist eine förmliche Epidemie des Schabionisierens ausgebrochen, und dies ist ja auch nicht anders möglich, wenn nicht jede Einseitigkeit ausgeschlossen wird bei der Bekämpfung der verschiedenen Heil-

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weisen. Eine Epidemie ist ausgebrochen unter dem Stichwort «Kraft», so daß zum Beispiel bei Versammlungen Naturheilkundiger gesagt wird, dies oder jenes sei «Kraft». Damit glaubt man, genug getan zu haben, um diese oder jene anzuschwärzen und zu sagen, daß sie nur ausgingen vom Materiellen. Diejenigen, die in erster Linie für sich in Anspruch nehmen, den Menschen als Individualität zu betrachten, sollten darauf auch Rücksicht nehmen. Aber auch, wenn man zum Beispiel die anderen Lebewesen überblickt, verliert das Wort «Kraft» im Grunde genommen jeden Sinn. Unsere Anschauungen in bezug auf solche Dinge müssen modifiziert werden. Wer würde nicht daran denken, für den Menschen eine besondere Kraft anzunehmen, wenn er hört, daß zum Beispiel Kaninchen ohne Schaden den Schierling fressen, während Sokrates daran starb. Auch die Ziege kann den Schierling ohne Schaden fressen, ebenfalls Aconit, Eisenhut, auch Pferde. Bei all diesen Dingen müssen wir also in der Regel uns immer den individuellen Organismus vorhalten. Wenn wir uns den individuellen Organismus vorhalten, dann kommen wir dazu, uns zu sagen: Im einzelnen Falle ist etwas vielleicht richtig für einen Menschen, aber «Eines schickt sich nicht für alle»!

Die Frage ist also: Wie kann der Mensch einen Maßstab für seine Gesundheit in sich selber gewinnen? Ein gewisser Leuchtturm könnte uns das Kind sein. Wir müssen uns daher durchaus vorhalten, daß das Kind in ganz bestimmter Weise seine Sympathie oder Antipathie für dieses oder jenes Nahrungsmittel äußert. Das sorgfältige Beobachten dieser Dinge würde für jeden von uns von außerordentlicher Wichtigkeit sein. Es ist manchmal durchaus verfehlt, wenn derjenige, der das Kind zu lenken und zu erziehen hat, die Instinkte, die da beim Kinde auftreten und sich als bestimmtes Wollen äußern, austreiben will, wenn man sie als

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Ungezogenheit betrachtet. Vielmehr ist es so: Was das Kind als Trieb, als Instinkt äußert, ist ein Anzeichen dafür, wie die innere Natur des Kindes geartet ist. Was das Kind empfindet und was ihm schmeckt, wonach es Verlangen hat, da ist die Empfindung, das Verlangen nichts anderes als der Ausdruck dafür, daß der Organismus gerade dieses oder jenes verlangt. Ja, ein Fingerzeig, oder, wenn wir radikaler sprechen wollen, ein Leuchtturm für die Erkenntnis kann uns dieser leitende Instinkt des Kindes sein. Wir können das ganze Leben durchwandern und werden überall die Notwendigkeit finden, daß der Mensch in gewisser Beziehung gerade diese innere Sicherheit in sich entwickeln muß für das, was sein Organismus braucht. Das ist unbequemer, als sich von dieser oder jener Partei die Richtung vorschreiben und sich sagen zu lassen, was für alle Menschen das Gute ist. Die Menschen haben es nicht so leicht wie die, welche mit einem bestimmten allgemeinen Rezept kommen, das man sich nur in die Tasche zu stecken braucht, um zu wissen, was den Menschen gesundmachen und was ihn krankmachen kann. Gerade wenn man mit einem solchen Leitfaden die Gesundheit betrachtet, wird man auch in bezug auf die Krankheit sich klarmachen müssen, daß für die verschiedenen Menschen die verschiedensten Bedingungen für Gesundheit und Heilung vorliegen.

Nehmen wir an, jemand habe Migräne. Wer dogmatisch auf dem Standpunkt steht - wenn auch die Schulmedizin dies nicht mehr wahrhaben will —, daß es spezifische Heilmittel gibt für diese oder jene Krankheit, der wird sagen: Man gebe demKrankenbestimmteHeilmittel gegenMigräne. Der Kranke wird sich wohler fühlen, und die Migräne wird verschwinden. - Wer auf dem Standpunkte der Naturheilkunde steht und es zum Praktiker gebracht hat, wird sagen: Man kann so nur das Symptom bekämpfen und hat man-

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chem damit mehr geschadet als genützt; es kommt darauf an, daß man auf die tieferen Ursachen eingeht; dann wird man auf allerlei Dinge kommen, die allerdings mehr auf den Kern der Sache eingehen, die vielleicht im einzelnen Falle nicht so schnell ein Wohlbefinden herstellen, die aber wirklich tiefer auf den Krankheitskern eingehen. — Man wird, wenn man sich dogmatisch auf den einen oder anderen Standpunkt stellt, das eine oder das andere bekämpfen oder für nützlich halten. Es handelt sich aber dabei, so sonderbar es klingen wird, wiederum um den Menschen. Es könnte ja einen Menschen geben, der sich sagte: Wenn ich eine heftige Migräne habe, wäre es zwar ganz schön zu warten, bis die Naturheilkunde dem Kern der Krankheit beigekommen ist, um sie in ihren tieferen Wurzeln zu erkennen und dann dasjenige zu tun, was sie beseitigt. Aber dazu habe ich keine Zeit. Es ist für mich viel wichtiger, daß ich die Migräne so bald wie möglich loskriege und meiner Tätigkeit zurückgegeben werde.—Nehmen wir nun an, dieser Mensch habe eine gesundheitsfördernde Beschäftigung, die so geartet sei, daß er auch ohne Mittel das Übel losbekommen hätte. Da würde ihm das Migränemittel wenig schaden, denn er würde wenig aus seiner Tätigkeit herausgerissen sein, die ihm nützt. Er würde dann zwar nach einem Rezept behandelt, das den Menschen mit einer auszubessernden Maschine vergleicht. Dieser Vergleich muß aber bis zu Ende geführt werden. Man darf nicht vergessen, daß einer da sein muß, der so arbeitet wie der Führer auf der Lokomotive. Nehmen wir an, bei einer Lokomotive zeige sich, daß eine Kurbel besonders schwer geht. Da könnte ja jemand sagen: Ich sehe, daß der Lokomotivführer die Kurbel nicht drehen kann, weil er zu schwach ist; ich werde einen anderen Lokomotivführer nehmen, der mehr Kräfte anwenden kann, um die Kurbel zu drehen. Ein anderer könnte

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sagen: Man kann ja vielleicht das, was die Kurbel schwer zu drehen macht, ein wenig ausfeilen, damit die Kurbel leichter geht; dann kann der Zugführer bleiben. — Man bessert also die Maschine aus. Natürlich darf man das nicht als ein allgemeines Rezept anwenden, denn wenn man sagen wollte: Wenn der Lokomotive etwas fehlt, so muß man daran feilen —, so braucht das nicht immer richtig zu sein. Vielleicht muß an der betreffenden Stelle nicht etwas abgetragen, sondern etwas zugefügt werden.

Bei dem Menschen, der Migräne hatte, hat man durch das Migränemittel den Schaden einfach ausgebessert, und wenn der Betreffende die innere Kraft dazu hat, so wird, wenn er nicht gestört wird, die Sache schon selbst wieder in Ordnung kommen. Freilich würde es unter Umständen schlimm sein, wenn man in derselben Weise dächte gegenüber jemand, der die Migräne loshaben will, aber hinterher nicht zu einer mit seiner gesundheitlichen Tüchtigkeit zusammenhängenden Tätigkeit übergeht.Er würde besser getan haben, wenn er die inneren Ursachen weggeräumt hätte.

So müssen wir also durchaus diese Sache durchdrungen und eingesehen haben, daß es ja für das, was man Krankheit nennt, spezifische Heilmittel gibt, und daß die Anwendung spezifischer Heilmittel in gewisser Beziehung damit zusammenhängt, daß unser Organismus ein selbständiges Wesen ist und in vielerlei Richtung ausgebessert werden kann. Wenn man sich darauf verlassen darf, daß nach der Ausbesserung eine richtige tüchtige Kraft vorhanden ist, die den Menschen antreibt, so braucht man nicht zu betonen, man betreibe eben nur eine Symptom-Kur, denn da denkt man eben doch nur wieder materialistisch. Der Naturheilkundige wird manches wissen, was ganz richtig wäre zur Beseitigung dieser oder jener Krankheit, aber ebenso wahr ist es, daß dieser oder jener Mensch nicht die Zeit und nicht die Kraft

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hat, es durchzuführen, und daß es sich vor allen Dingen für ihn darum handelt, den Schaden schnell wieder gutzumachen.

Sie sehen, daß hier nicht in einseitiger, sondern in allseitiger Weise gesprochen werden muß und man die Unbequemlichkeit mit in Kauf nehmen muß, nicht nur Theoretiker zu sein, sondern auf die Tatsachen einzugehen und auf den ganzen Menschen zu sehen. Darauf kommt es an. Wenn wir so sprechen, müssen wir uns darüber klar sein, daß wir dann, wenn wir den Menschen als Realität betrachten wollen, den ganzen Menschen ins Auge fassen müssen. Der ganze Mensch ist für die Geisteswissenschaft nicht bloß der äußere physische Leib, namentlich dann nicht, wenn unsere Gesundheit nicht bloß durch äußere, sondern durch innere Ursachen zerstört ist. Was viel mehr in Betracht kommt, ist die Gesundheit des Ätherleibes, der ein Kämpfer ist gegen die Krankheiten, bis zum Tode, das ist die Gesundheit des Astralkörpers, der ja der Träger ist der Leidenschaften, Triebe, Begierden und Vorstellungen, und endlich die Gesundheit des Ich-Trägers, der macht, daß der Mensch ein selbstbewußtes Wesen ist. Wer auf den ganzen Menschen Rücksicht nehmen will, der muß durchaus auf die vier Glieder des Menschen Rücksicht nehmen, und wenn die Frage nach der Gesundheit in Betracht kommt, so handelt es sich nicht nur darum, daß wir Störungen beseitigen, die den physischen Leib betreffen, sondern auch das betrachten, was in den höheren Gliedern, in den mehr seelisch-geistigen Gliedern vor sich geht. Da müssen wir feststellen, daß nicht bloß von dieser oder jener Parteischattierung, sondern von unserer ganzen zeitgenössischen Gesinnung gesündigt wird.

Das können Sie daraus ersehen, daß sehr selten die Frage gestellt wird: Wie hängt denn die Gesundheitsfrage mit den seelisch-geistigen Dingen zusammen? — Man wird heute viel

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Zustimmung finden, wenn man davon spricht, wieviel dieses oder jenes Nahrungsmittel Brennwert hat, wie dieses oder jenes Nahrungsmittel im Organismus wirkt. Man wird auch volle Zustimmung finden, wenn man auseinandersetzt, wie die Luft in dieser oder jener Gegend ist, wo dieses oder jenes Sanatorium sich befindet, wie die Luft und das Licht da oder dort wirken. Aber nicht wird man Anklang finden, wenn man seelische Eigenschaften als mögliche Ursachen bestimmter Erkrankungen angibt.

Nehmen wir die Instinkte des Kindes, wie sie sich ausdrücken in Sympathie und Antipathie gegenüber diesem oder jenem Nahrungsmittel. Nehmen wir das Ekelgefühl, mit dem es dies oder jenes zurückweist als ein Anzeichen, welches darauf hinweist, daß auch das, was an sich zugrundeliegt dem Gesundsein des physischen Leibes, der astralische Leib — der aus Gefühlen und Empfindungen, aus Impulsen und Begierden besteht —, daß auch das GeistigSeelische gesund sein muß, und daß, wenn eine Abweichung von dem Gesunden im Menschen erblickt wird, man auch auf die Gesundung des astralischen Leibes achten muß. Fragt man heute wirklich noch, wenn diese Fragen in Betracht kommen, was des Menschen Seele erlebt gegenüber der Außenwelt? Der Geisteswissenschaftler muß darauf hinweisen, daß es im Grunde genommen wenig darauf ankommt, ob man einen Menschen, der an diesem oder jenem erkrankt, da oder dorthin schickt, weil man glaubt, die Luft oder das Licht werde aus äußeren mechanischen oder chemischen Gründen gesundend auf ihn wirken. Eine andere, viel größere Frage ist es, ob ich ihn in eine solche Umgebung bringen kann, daß er Freude, Erhebung, in gewisser Beziehung eine Durchleuchtung seines ganzen Gefühlslebens nach einer bestimmten Richtung erfahren kann.

Wenn wir dies im Großen betrachten, so werden wir auch

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verstehen, daß es zu dem Gesundsein gehört, daß dem Menschen eine Speise schmeckt, daß der Mensch sozusagen in seinem Geschmacke, in der unmittelbaren Geschmacksempfindung, in der Annehmlichkeit und Freude, die ihm die Speise bereitet, einen Gradmesser hat für dasjenige, was er essen soll, und daß der Mensch auf der anderen Seite an dem richtig auftretenden Hungergefühl einen Gradmesser hat dafür, wann sein Organismus essen soll.

Es sind nicht bloß von der materiellen Welt her kommende Einflüsse, welche diese innere Sicherheit im Menschen zerstören, es sind in den weitaus meisten Fällen durchaus auch Einflüsse aus dem geistigen Leben, welche dem Menschen die Sicherheit des Hungertriebes untergraben. Statt dem Menschen im richtigen Moment einen gesunden Hunger beizubringen, kann der geistige Einfluß auf die Natur des Menschen so wirken, daß dieser Hunger nicht da ist, sondern Appetitlosigkeit. Ein Mensch, der die Bedürf- nissse seines Organismus in der richtigen Weise entwickelt hat, so daß ihm das Richtige schmeckt und sympathisch ist und auch seinem Organismus dienen kann, ein solcher wird auch das richtige sympathische Gefühl haben, um die richtige Umgebung zu finden, die seiner Gesundheit dient in bezug auf Licht und Luft, so daß ihm zur richtigen Zeit der Hunger danach kommt.

Das sind Forderungen, die eng Zusammenhängen mit dem gesundheitlichen Leben, und die zu dem hinführen, was der astralische Leib und das Ich beizutragen haben zu dieser Gesundheit. Leicht wird der Einwand gemacht: wenn jemand Hunger habe, könne er nicht von Gefühlen und von Empfindungen leben. Das ist wahr, daß wenn man jemand eine leckere Speise vorsetzt, ihm unter Umständen das Wasser im Munde zusammenlaufen kann, aber man ihn nicht damit sättigen kann, wenn ihm der wirkliche Geschmack

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der Speise verborgen bleibt. Leicht ist dieser Einwand. Durch das, was wir dem Menschen geben können an dem, was seine Seele so beeinflußt, daß sie in richtigerWeise die Empfindungen und Vorstellungen ablaufen läßt, dadurch können wir ihn nicht sättigen und nicht gesundmachen; das ist selbstverständlich. Aber was dabei übersehen wird, ist ein anderes. Nicht dadurch können wir die Nahrung regeln, daß wir die Nahrungsmittel erklären, wohl aber dadurch, daß wir den Geschmack regeln, bis hin zum richtig auftretenden Hungergefühl. Hier mündet das, was sich heute zersplittert, weil es nur vom Standpunkte äußerlicher stofflicher Betrachtung gehandhabt wird, ein in das Geistig-Seelische.

Es ist nicht einerlei, ob der Mensch diese oder jene Speise mit Lust oder Unlust zu sich nimmt, ob er in dieser oder jener Umgebung lebt, ob er die Arbeit, die er verrichtet, mit Lust oder Unlust tut. Damit hängt in geheimnisvoller Weise, mehr als mit irgend etwas anderem, das zusammen, was man seine innere Gesundheitsdisposition nennt. Wie wir beim Kinde sehen, daß es richtige Instinkte entwickelt, und — wenn wir die Möglichkeit haben, seine Instinkte zu beobachten — einen Gradmesser haben für seine inneren Bedürfnisse, so ist es auch notwendig, daß der Erwachsene das Geistig-Seelische so erlebt, daß die richtigen Bedürfnisse zur richtigen Zeit vor die Seele hintreten, daß er fühlt und empfindet, was für ein Verhältnis er herstellen soll zwischen sich und der Außenwelt. Das Leben ist im weitesten Umfange geeignet, den Menschen in Irrtum über Irrtum zu bringen über dieses sein Verhältnis zur Außenwelt. Und gerade unsere heutige Geistesrichtung ist in mehr als einer Richtung die Veranlassung solcher Irrtümer.

Damit wir uns besser verstehen, möchte ich auf den kleinen Anfang hinweisen, den wir mit einer bestimmten Heil-

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weise gemacht haben. In München wird von einem unserer geisteswissenschaftlichen Genossen eine Art von Kur oder Heilweise versucht, wie sie sich ergibt aus den Anschauungen der Geisteswissenschaft heraus. Wer heute glaubt, auf den Menschen könnten in gesundendem Sinne wirken nur stoffliche, physikalisch-chemische und physiologische Einflüsse, der wird vielleicht lachen darüber, daß der Mensch da in besonders eigenartig gefärbte Kammern geführt wird, und daß da durch die Kräfte einer gewissen Farbe und durch andere Dinge, die hier nicht weiter erörtert werden sollen, auf die menschliche Seele gewirkt werden kann, allerdings nicht auf die Oberfläche. Da müssen Sie aber sehen den Unterschied zwischen dieser Wirkungsweise in den Kammern, einer Art Chromotherapie, einer Art Farbentherapie, und dem, was man Lichttherapie nennt. Wenn der Mensch mit Licht bestrahlt wird, so liegt der Gedanke zugrunde, das physische Licht unmittelbar wirken zu lassen, so daß man sich sagt, wenn man diesen oder jenen Lichtstrahl auf den Menschen wirken läßt, so wird von außen auf den Menschen eingewirkt. Darauf wird bei der erwähnten Farbentherapie gar keine Rücksicht genommen.

Bei dieser der Geisteswissenschaft entnommenen Heilweise, die unser Freund Dr. Peipers eingerichtet hat, ist nicht darauf gerechnet, was die Lichtstrahlen als solche, unabhängig von der menschlichen Seele, auf den Menschen für eine Wirkung haben, sondern es ist Rücksicht genommen darauf, was unter der Einwirkung sagen wir der blauen Farbe, nicht des Lichtes, auf dem Umwege über die Vorstellung in der Seele bewirkt wird und dadurch zurückwirkt auf den ganzen körperlichen Organismus.

Diesen gewaltigen Unterschied zwischen dem, was man sonst Lichttherapie nennt, und dem, was man hier Farbentherapie nennen kann, muß man ins Auge fassen. Es kommt

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dazu, daß gewisse Kranke ausgefüllt sind mit dem Inhalte einer ganz bestimmten Farbenvorstellung. Man muß wissen, daß die Farben in sich Kräfte enthalten, die dann in Erscheinung treten, wenn sie uns nicht nur bestrahlen, sondern in unserer Seele wirken. Man muß wissen, daß die eine Farbe etwas ist, das herausfordernd wirkt, daß eine andere Farbe etwas ist, was Sehnsuchtskräfte auslöst, daß eine dritte Farbe etwas ist, was die Seele über sich selbst erhebt, und eine andere Farbe etwas, das die Seele unter sich herunterdrückt.

Wenn wir auf diese physisch-geistige Wirkung sehen, dann wird sich uns zeigen, was der Urgrund des Physischen und Ätherischen ist: daß unser astralischer Leib der eigentliche Bildner des Physischen und Ätherischen ist. Das Physische ist nur eine Verdichtung des Geistigen, und das Geistige kann wiederum zurückwirken auf das Physische, so daß es in der richtigen Weise durchwirkt und durchlebt wird. Dann, wenn wir uns den Grundgedanken einer solchen Sache vor Augen führen, werden wir auch die Hoffnung haben können zu verstehen — dadurch, daß wir wiederum eine Wissenschaft haben, die darauf hinweist, wie Geistig-Seelisches im Menschen lebt —, daß das, was im Geistig-Seelischen lebt, sich in Gesundheit und Krankheit im Physischen ausdrückt.

Wer sich das klarmacht, wird hinsichtlich der Gesundheitsfragen auf die Geisteswissenschaft hoffen dürfen. So leicht es ist, zu sagen: Mit Weltanschauung könnt ihr einen Menschen nicht kurieren, — so ist es doch auch wahr, daß von der Weltanschauung die Gesundheit des Menschen abhängt. Für die heutige Menschheit ist das ein Paradoxon, für die Zukunft wird es eine Selbstverständlichkeit sein! Ich will dies noch ein wenig weiter erörtern. Man kann sagen: Der Mensch muß auf die rein objektive Wahrheit

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kommen, er muß seine Begriffe zu genauen Abbildern der äußeren physischen Tatsachen machen. Eine solche Forderung kann man als Theoretiker aufstellen. Man kann einen Menschen als Ideal hinstellen, der sich bemüht, nur das zu denken, was die Augen sehen, die Ohren hören und die Hände betasten können. — Da kommt nun die Geisteswissenschaft und sagt: Ihr könnt das, was wirklich ist, niemals begreifen, wenn Ihr nur auf das seht, was äußerlich wahrnehmbar ist, was die Augen sehen, die Ohren hören, die Hände greifen können. Was wirklich ist, enthält das Geistige als Urgrund. Das Geistige kann man nicht wahrnehmen, man muß es durch die Mitarbeit, durch die Produktion des Geistig-Seelischen erleben. Zum Geistigen braucht man produktive Kräfte. Der Geisteswissenschaftler ist, wenn er von den einzelnen Teilen seiner Wissenschaft spricht, nicht immer in der Lage, handgreiflich vorzuführen, was zu seinen Begriffen führt. Er schildert dasjenige, was nicht mit Augen gesehen, mit Ohren gehört oder mit Händen gefaßt werden kann, weil es mit den Augen des Geistes verfolgt werden muß. Da kann man dann sagen: Das ist ja eine Schilderung von etwas, das es in der Sinnes- welt gar nicht gibt. Für uns ist Wahrheit das, was ein inneres Abbild der äußeren Wirklichkeit gibt. Eine solche Theorie mag man aufstellen, aber über deren Wahrheits- und Erkenntniswert wollen wir heute nicht sprechen, wir wollen über deren Gesundungswert sprechen. Die Sache ist so, daß alle diejenigen Vorstellungen, die wir bloß von der äußeren sinnlichen Wirklichkeit abstrahieren, die sozusagen nur Abbilder sind dessen, was man mit Augen sieht, mit Ohren hört, mit Händen betastet, welche nicht beruhen auf der inneren Mittätigkeit der Seele beim Schaffen von Bildern, alle diese Abstraktionen, alle treu an der Wirklichkeit der äußeren Sinne haftenden Vorstellungen haben keine inneren

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Bildekräfte; sie lassen die Seele tot; sie rufen die Seele nicht auf, ihre im Innern schlummernden Kräfte in Tätigkeit zu bringen.

Es mögen noch so sehr die Äußere-Tatsachen-Fanatiker davon sprechen, man solle die Wirklichkeit nicht mit Bildern der übersinnlichen Welt durchsetzen. Aber so paradox es auch klingt, diese Bilder bringen unseren Geist wieder in eine Tätigkeit, die ihm angemessen ist. Sie bringen ihn wieder in Einklang mit dem physischen Organismus. Derjenige, der an den rein abstrakten Vorstellungen der bloß materialistischen Wissenschaft haftet, der tut aus seinem Geistigen nichts für seine Gesundheit. Wer positiv nur Abstraktionen in seinen Begriffen sich schafft, macht seine Seele öde und leer, und er ist immer darauf angewiesen, das äußere Instrument des Leibes zum Träger der Gesundheit und zum Träger der Krankheit zu machen. Wer in ungeordneten und verkehrten Vorstellungen lebt, der weiß auch nicht, wie er sich in geheimnisvoller Weise einimpft die Ursachen der Zerstörung seines Organismus. Daher steht die Geisteswissenschaft auf dem Standpunkte, daß durch die Gesichtspunkte, die sie geltend macht in bezug auf die übersinnliche Welt, auf jene Welt, die wir nicht mit äußeren Sinnen erkennen, sondern in starker Weise innerlich wachrufen müssen, wir unsere Seele innerlich so regsam machen, daß ihre Tätigkeit in Einklang steht mit der geistigen Welt, aus der heraus unser ganzer Organismus geschaffen worden ist. Daher wird unser Organismus nicht durch kleinliche Mittel zur Gesundung gebracht, sondern die Geisteswissenschaft selbst ist das große Heilmittel zur Gesundung.

Derjenige, der aus den großen Gesichtspunkten der Welt seine Gedanken bildet, diese Gedanken lebendig macht, der ruft eine solche innerliche Tätigkeit hervor, daß auch seine Gefühle und Empfindungen in einer harmonischen, die

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Seele beseligenden Weise abfließen. Wer auf seine Gedanken so wirkt, wirkt auch auf seine Willensimpulse, und diese wirken dann in einer gesundenden Weise. Aber das tun sie nur dadurch, daß wirklich eine gesunde Weltanschauung, eine gesunde Harmonie der Gedanken unsere Seele erfüllt. Dadurch werden auch unsere Empfindungen, und im Zusammenhänge damit unsere Lust und Unlust, unsere Sympathie und Antipathie, unser Verlangen und unsere Abscheu so geregelt, daß wir der Welt so gegenüberstehen, daß wir in jedem einzelnen Falle wissen, was zu tun ist, wie das Kind, dessen Instinkt noch nicht verdorben ist. So werden wir in unserer Seele innerlich diejenigen Gefühle, Empfindungen, Willensimpulse und Begierden wachrufen, die uns eine sichere Richtschnur im Leben sind, die uns anweisen, was zu tun ist, um das richtige Verhältnis zwischen der Außenwelt und uns selber hervorzurufen.

Es ist nicht zuviel gesagt, wenn wir sagen: Klare, helle Gedanken, umfassende Gedanken, wie sie nur durch eine umfassende, auf das Ganze der Welt, also auch auf das Übersinnliche gehende Weltanschauung hervorgerufen werden können, sind Voraussetzung für die Gesundheit. Reine, dem Objektiven des Geistigen entsprechende Gefühle und Willensimpulse, wie sie solchen Gedanken entsprechen, die werden den Menschen die Möglichkeit geben, einen gesunden Hunger zu empfinden. Wenn man den Menschen auch nicht mit Weltanschauung füttern kann, so bietet dies doch die Möglichkeit, das zu finden, was seiner Seele entspricht, zu suchen, was für ihn entsprechend ist und zu verabscheuen, was für ihn nicht entsprechend ist. Die Gedanken, die Abbilder sind für die übersinnliche Welt, sind das beste Verdauungsmittel —wenn auch als Paradoxon —, nicht weil in den Gedanken die Kräfte der Verdauung sind, sondern dadurch, daß durch tatkräftige Gedanken die Kräfte wach-

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gerufen werden, welche die Verdauung in geregelter Weise vor sich gehen lassen.

Solange die Menschen diesen Ruf der Geisteswissenschaft nicht vernehmen, solange sie immer wieder glauben, dasjenige, was ihnen in dieser oder jener Krankheitsform in dieser oder jener Weise entgegentritt, das habe seine Gesundung gefunden, wenn man ein entsprechendes Mittel dafür gefunden hat, so lange werden sie die Wichtigkeit der Geisteswissenschaft nicht erkannt haben. Sie werden auch nicht erkannt haben, inwiefern die Gesundheit im Wesen der Entwickelung eine Rolle spielt. Auch die gehen nicht weit genug, welche sagen, man solle nicht Symptom-Kuren ausführen. Auch sie erfassen nicht den geistigen Kern. Wer an die Geisteswissenschaft herantritt, der wird finden, daß sie eine Weltanschauung ist, durchweiche innere Seligkeit fließt, eine Weltanschauung der Lust und Freude, daß sie Voraussetzung ist, um das große Heilmittel für die Gesundheit zu fördern. Leichter ist es, dieses oder jenes Mittel zu gebrauchen, als sich in den Strom der Geisteswissenschaft zu begeben, um das zu finden, was die Menschen immer gesunder und gesunder machen wird. Dann wird man aber einsehen, wenn man sich in diese Geisteswissenschaft hinein begibt, daß es wahr ist, was ein altes Wort sagt: «In einem gesunden Körper wohnt eine gesunde Seele», aber daß es falsch ist, dieses Wort materialistisch aufzufassen. Wer da glaubt, er müsse dieses Wort materialistisch auffassen, der soll nur auch gleich sagen: Hier sehe ich ein Haus. Dieses Haus ist schön. Also schließe ich daraus, weil dieses Haus schön ist, so muß es auch hervorgebracht haben einen schönen Besitzer. Das schöne Haus macht einen schönen Besitzer. — Vielleicht ist der doch etwas klüger, der sagt:Hier ist ein schönes Haus; daraus schließe ich, daß darin ein Besitzer lebt, der Geschmack hat. Ich sehe in dem Besitzer des schönen Hauses

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einen Menschen von gutem Geschmack, und in dem Haus das äußere Anzeichen dafür, daß der Besitzer ein Mensch von gutem Geschmack ist.

Vielleicht findet sich aber auch der Gescheite, der sagt: Weil äußere Mächte den Körper gesund gemacht haben, hat sich der Körper wieder eine gesunde Seele formiert. — Aber richtig ist es nicht, sondern recht hat der, der sagt: Hier sehe ich den gesunden Körper. Das ist ein Zeichen dafür, daß er aufgebaut sein muß von einer gesunden Seele. Er ist gesund, weil die Seele gesund ist. — Deshalb kann man sagen: Weil man das äußere Symptom des gesunden Leibes erblickt, deshalb muß da eine gesunde Seele zugrunde liegen. Eine materialistische Zeit mag sich das Wort: «Einem gesunden Leibe muß eine gesunde Seele zugrunde liegen» ganz materialistisch auslegen. Die Geisteswissenschaft aber zeigt uns, daß in einem gesunden Leibe eine gesunde Seele am Werke ist.

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TOLSTOJ UND CARNEGIE Berlin, 28. Januar 1909

Als eine sonderbare Zusammenstellung mag es manchem wohl erscheinen, was heute unserer Betrachtung zugrunde liegen soll: auf der einen Seite Tolstoj, auf der anderen Seite Carnegie, zwei Persönlichkeiten, von denen wohl mancher sagen wird, Verschiedeneres, Entgegengesetzteres könne es kaum geben; auf der einen Seite der aus den Tiefen des geistigen Lebens heraus suchende Rätsellöser der höchsten sozialen und geistigen Probleme - Tolstoj; und auf der an­deren Seite der Stahlkönig, der reichgewordene Mann, der Mann, von dem man literarisch kaum viel mehr weiß, als daß er darüber nachgedacht hat, wie der zusammengebrachte Reichtum am besten zu verwerten sei - Carnegie. Und dann wiederum die Zusammenstellung der beiden Persönlichkei­ten mit der Geisteswissenschaft oder Anthroposophie.

Allerdings, bei Tolstoj wird es wohl niemand einfallen, zu bezweifeln, daß man gerade mit dem Lichte der Geistes­wissenschaft in die Tiefen seiner Seele hineinleuchten kann. Aber bei Carnegie wird wohl mancher sagen: Was hat denn dieser Mann überhaupt, dieser Mann des bloß praktischen, geschäftlichen Wirkens, mit dem zu tun, was man Geistes­wissenschaft nennt?-Wäre die Geisteswissenschaft die graue Theorie, die lebensfremde und lebensfeindliche Weltanschau­ung, als die sie so oft angesehen wird, kümmerte sie sich wenig um die Fragen des praktischen Lebens, wie manch­mal geglaubt wird, so könnte es sonderbar erscheinen, daß gerade zur Veranschaulichung gewisser Fragen ein solcher

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Mann des praktischen Lebens herangezogen wird. Hat man aber einigermaßen begriffen, was den Vorträgen,die von hier aus über Geisteswissenschaft gehalten werden, immer zugrunde liegt: daß diese Geisteswissenschaft etwas ist, was in alle einzelnen Gebiete, ja, in die alleralltäglichsten Ge­biete des praktischen Lebens einfließen kann, dann wird man es nicht verwunderlich finden, daß auch diese Persön­lichkeit einmal herangezogen wird, um dadurch manches zu veranschaulichen, was innerhalb der Geisteswissenschaft eben veranschaulicht werden soll. Und zweitens, um im Sinne Emersons zu sprechen, haben wir damit zwei reprä­sentative Persönlichkeiten unserer Zeit vor uns. Der eine wie der andere drückt das ganze Streben, das Sinnen auf der einen, das Arbeiten auf der anderen Seite, wie sie in unserer Zeit walten und weben, typisch aus, eben durchaus repräsentativ. Gerade das Entgegengesetzte der ganzen Persönlichkeits- und Seelenentwickelung bei diesen beiden Männern ist auf der einen Seite für die Mannigfaltigkeit des Lebens und Arbeitens in unserer Zeit so charakteristisch, auf der anderen Seite jedoch wiederum kennzeichnend da-für, wo der Grundnerv, die eigentlichen Ziele unsererGegen­wart liegen.

Wir haben auf der einen Seite Tolstoj, der herausgewach­sen ist aus vornehmem Stande, aus Reichtum und Uberfluß, aus einer Lebenssphäre, in der alles enthalten ist, was das äußere gegenwärtige Leben an Bequemlichkeiten und An­nehmlichkeiten nur bieten kann. Wir haben in ihm einen Menschen, den seine Seelenentwickelung dazu gebracht hat, geradezu die Wertlosigkeit alles dessen, in das er hinein-geboren ist, nicht nur für sich, sondern für die ganze Mensch­heit zu proklamieren wie ein Evangelium. Wir haben auf der anderen Seite den amerikanischen Stahlkönig, eine Per­sönlichkeit, die herausgewachsen ist aus Not und Elend,

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herausgewachsen aus einer Lebenssphäre, wo gar nichts von dem vorhanden ist, was das äußere Leben an Annehm­lichkeiten und Bequemlichkeiten bieten kann. Eine Persön­lichkeit, die sich, man möchte sagen, Dollar um Dollar ver­dienen mußte, und die hinaufstieg zu dem größten Reich­tum, den man in der Gegenwart erwerben kann, eine Persönlichkeit, die im Verlaufe ihrer Seelenentwickelung dazu kam, diese Ansammlung des Reichtums als etwas für die Gegenwart durchaus Normales, durchaus Selbstverständ­liches zu halten und nur darüber nachzudenken, wie zum Heil und Glück der Menschheit, zu ihrer entsprechenden Fortentwickelung, dieser angesammelte Reichtum zu ver­werten sei. Dasjenige, was Tolstoj nimmermehr begehrte, als er die Höhe seiner Seelenentwickelung erreicht hatte, war ihm in reichem Maße im Beginne seines Lebens gegeben. Dasjenige, was Carnegie sich zuletzt in ausgiebiger Fülle erworben hatte, die äußeren Güter des Lebens, das war ihm im Beginne seines Lebens völlig versagt.

Das ist, wenn auch in äußerlicher Weise, doch die Cha­rakteristik der beiden Persönlichkeiten, zugleich in einem gewissen Maße der Ausdruck ihres Wesens. Was in unserer Zeit mit einer Persönlichkeit vorgehen kann, was sich spiegeln kann von diesen äußeren Vorgängen an der Per­sönlichkeit und um die Persönlichkeit, alles das zeigt uns bei beiden das, was in unserer Gegenwart in den Unter­gründen des sozialen und seelischen Daseins überhaupt waltet. Wir sehen Tolstoj, wie gesagt, herausgeboren aus einer Sphäre des Lebens, in der alles dasjenige vorhanden war, was man bezeichnen könnte als die Bequemlichkeit, den Reichtum und die Vornehmheit des Lebens. Wir kön­nen uns natürlich nur ganz skizzenhaft mit seinem Leben befassen, denn es handelt sich heute darum, unsere Zeit an diesen repräsentativen Persönlichkeiten zu charakterisieren

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und ihre Bedürfnisse in einer gewissen Weise zu erkennen. Im Jahre 1828 ist Leo Tolstoj geboren aus einem russi­schen Grafengeschlecht, von dem er selbst sagt, daß die Familie ursprünglich aus Deutschland eingewandert ist. Wir sehen Tolstoj dann gewisse höhere Güter des Lebens ver­lieren. Kaum ist er anderthalb Jahre alt, verliert er die Mutter, im neunten Jahre den Vater. Er wächst dann her­an unter der Pflege einer Verwandten, die allerdings so­zusagen die verkörperte Liebe ist, und aus deren Seelen-verfassung sich die schöne, herrliche Seelenanlage wie von selbst in seine Seele hineingießen mußte. Aber auf der an­deren Seite steht er unter dem Einfluß einer anderen Ver­wandten, welche ganz und gar aus den Verhältnissen unse­rer Zeit, wie sie sich in gewissen Kreisen bildeten, aus den Anschauungen dieser Kreise heraus erzieherisch wirken will, eine Persönlichkeit, die ganz aufgeht in dem äußerlichen Welttreiben, das dann Tolstoj später so sehr verhaßt ge­worden ist und das er so schwer bekämpft hat. Wir sehen, wie diese Persönlichkeit von Anfang an darnach strebte, aus Tolstoj das zu machen, was man nennt einen Menschen «comme il faut», einen Menschen, der so, wie es dazumal notwendig war, seine Bauern behandeln konnte, der Titel, Rang, Würden und Orden erhalten und auch in der Gesell­schaft eine entsprechende Rolle spielen sollte.

Wir sehen dann, wie Tolstoj auf die Universität kommt, wie er im Grunde genommen ein schlechter Student ist, wie er durchaus findet, daß alles das, was die Professoren an der Universität Kasan sagen, nichts Wissenswertes ist. Was ihn aus der Sphäre der Wissenschaft heraus noch zu be-schäftigen vermag, waren orientalische Sprachen. Alles an­dere ging nicht. Dagegen fesselte ihn der Vergleich eines gewissen Kapitels des Gesetzbuches der Kaiserin Katharina mit dem «Geist der Gesetze» von Montesquieu. Dann versucht

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er wiederholt, sein Gut zu bewirtschaften, und wir sehen, wie er geradezu dazu kommt, sich in das üppige Leben eines erwachsenen Menschen aus seinen Kreisen hin­einzusturzen, wie er sich so in dieses Leben hineinstürzt, daß er es selber bezeichnen muß als ein Hineinstürzen in alle möglichen Laster und Nichtigkeiten des Lebens. Wir sehen, wie er zum Spieler wird, große Summen verspielt, aber innerhalb dieses Lebens immer wieder zu Stunden kommt, wo sein eigenes Treiben ihn eigentlich anekelt. Wir sehen, wie er mit den Kreisen seiner eigenen Standes-genossen sowie mit den Kreisen der Literaten zusamlnen­kommt und da ein Leben führt, das er in Augenblicken des Nachdenkens als ein wertloses, ja sogar verderbliches be-zeichnet. Wir sehen aber auch - und das ist wichtig für ihn, der gern die Entwickelung der Seele da betrachtet, wo sich diese Entwickelung an besonders charakteristischen Merk­malen zeigt -, wie bei ihm in der Entwickelung seiner Seele doch besondere Eigentümlichkeiten auftreten, die schon in frühester Jugend uns verraten können, was eigentlich in dieser Seele steckt.

So ist es von ungeheurer Bedeutung, welch tiefen Ein­druck auf Tolstoj im Alter von elf Jahren ein gewisses Ereignis macht. In der Schule - das brachte ein befreundeter Knabe einmal mit nach Hause - habe man eine wichtige Entdeckung, eine neue Erfindung gemacht. Man habe ge­funden, und ein Lehrer habe insbesondere davon gespro­chen, daß es keinen Gott gebe, daß dieser Gott nur eine leere Erfindung vieler Menschen sei, ein leeres Gedanken-bild. Und alles, was man wissen kann über den Eindruck, den dieses Knabenerlebnis auf Tolstoj machte, zeigt uns an der Art, wie er es aufnahm, daß in ihm eine zu den höch­sten Höhen des menschlichen Daseins hinaufstrebende und sich hinaufarbeitende Seele schon damals rang.

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Aber sie war auch sonst sonderbar, diese Seele. Die­jenigen Menschen, die so gern nur Äußerlichkeiten anführen und nicht dasjenige in der Seele beachten, was sich aus deren Mittelpunkt, durch alle äußeren Hindernisse hindurch her­vorringt als das eigentlich Individuelle der Seele, sie werden an solchen Jugenderlebnissen gern etwas übersehen und nicht beachten, daß etwas ganz anderes wirkt auf die eine und wieder anders auf die andere Seele. Insbesondere muß man achtgeben, wenn eine Seele in frühester Jugend eine Anlage zu dem zeigt, was man aussprechen könnte mit dem schönen Satz Goethes aus dem zweiten Teile des «Faust»: «Den lieb ich, der Unmögliches begehrt.» Es ist viel mit diesem Satze gesagt. Eine Seele, die sozusagen etwas be­gehrt, was in ganz offenbarem Sinn für alles philiströse Anschauen eine selbstverständliche Torheit ist, eine solche Seele, namentlich wenn sie sich in ihrer ersten Jugend als solche zeigt, verrät gerade durch solche Absonderlichkeiten Weite des Gesichtskreises, Weite des Strebens. Und so darf man es nicht übersehen, wenn uns Tolstoj etwa solche Dinge erzählt in einer seiner Schriften, die zu den ersten seines literarischen Schaffens gehört, und in denen er Spiegel­bilder seiner eigenen Entwickelung gibt. Wir dürfen es nicht unbeachtet lassen, wenn er da Dinge erzählt, die durchaus für ihn als geltend betrachtet werden müssen, so, wenn sich der Knabe einmal darin gefällt, seine Augenbrauen abzu­rasieren und sich so eine Zeitlang seine äußere, nicht sehr weitgehende Schönheit recht verunstaltet. Das ist etwas, was man für eine große Absonderlichkeit halten kann. Wenn man aber darüber nachdenkt, so wird es zu einer Andeu­tung. Ein anderes ist, daß der Knabe sich einbildet, der Mensch könne auch fliegen, wenn er recht starr die Arme gegen die Knie presse. Wenn er das tue, so müßte er fliegen können, meint er. Er geht also einmal in den zweiten Stock

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hinauf und stürzt sich zum Fenster hinaus, die Fersen festhaltend. Er wird wie durch ein Wunder gerettet und trägt nichts davon als eine kleine Gehirnerschütterung, die sich durch einen achtzehnstündigen Schlaf wieder ausgleicht. Er hat für seine Umgebung damit nichts weiter bewiesen, als daß er ein absonderlicher Junge war. Der aber, der die Seele beobachten will und weiß, was es bedeutet, in frühe­ster Jugend in seiner Seele herauszugehen aus dem Geleise, das einem links und rechts vorgezeichnet ist, der wird solche Züge im Leben eines jungen Menschen nicht über­sehen. So erscheint diese Seele von Anfang an groß und weit angelegt. Daher können wir begreifen, daß er, als er müde war der Ausschweifungen des Lebens, die sich schon einmal aus seinem Stande ergeben haben, mit einem gewissen Ekel erfüllt war vor sich selbst, namentlich nach einer Spielaffäre.

Als er dann in den Kaukasus geht, können wir begreifen, daß da seine Seele vor allen Dingen Liebe und Hinneigung gewinnt zu den einfachen Kosaken, zu denjenigen Leuten, die er da zuerst kennenlernt und von denen ihm aufgeht, daß sie eigentlich ganz andere Seelen haben als alle die­jenigen Leute, die er bisher im Grunde genommen kennen­gelernt hatte. Alles schien ihm so unnatürlich an den Prin­zipien und Grundsätzen seiner Standesgenossen. Alles, was er bisher geglaubt hatte, erschien ihm so fremd, so abge­trennt vom Urquell des Daseins. Die Menschen, die er aber nun kennenlernte, waren Leute, deren Seelen mit den Quel­len der Natur so verwachsen waren wie der Baum durch die Wurzeln mit den Quellen der Natur, wie die Blume mit den Säften des Bodens. Dieses Verwachsensein mit der Natur, dieses Nicht-fremd-geworden-S ein mit den Quellen des Da­seins, das ursprüngliche Hinaussein über das Gut und Böse in diesen Kreisen, das war es, was einen so gewaltigen Eindruck auf ihn machte.

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Und dann, als er, vom Tatendrang ergriffen, Soldat wurde, um am Krimkrieg teilzunehmen, im Jahre 1854 war es wohl, als er zur Don-Armee ging, da sehen wir ihn mit der intensivsten Hingabe das ganze Seelenleben des ein­fachen Soldaten studieren. Wir sehen allerdings, wie jetzt ein spezialisierteres Empfinden in Tolstojs Seele Platz greift, wie er auf der einen Seite tief ergriffen ist von der Ur­sprünglichkeit des einfachen Menschen, auf der anderen Seite aber auch von dem Elend, der Armut, der Gequältheit und Gedrücktheit des einfachen Menschen. Wir sehen, wie er erfüllt ist von Liebe und Lust, zu helfen, und wie auch schon schattenhaft in seinemGeiste aufleuchten die höchsten Ideale von Menschenbeglückung, Menschenheil und Menschenfort­schritt, wie er auf der anderen Seite aber doch wiederum sich ganz klarmacht - aus dem Verhältnis, wie es sich her­ausgebildet hat zwischen ihm, mit seinen Anschauungen, und den natürlichen Menschen, mit ihren Anschauungen -, daß er mit der Art von Idealen, Zielen und Gedanken, wie er sie hat, nicht verstanden werden könne. Das ruft einen Zwiespalt in seiner Seele hervor, etwas, das ihn noch nicht bis zum Grundkern seines Wesens vordringen läßt.

So sehen wir, daß er immer wieder zurückgeworfen wird aus dem Leben, das er führt, und daß er gerade bei der Donau-Armee von einem Extrem ins andere hinein geworfen wird. Ein Vorgesetzter von ihm sagt, er sei ein goldener Mensch, den man nie mehr vergessen könne. Er wirke wie eine Seele, die nur Güte ausgießt und habe andererseits die Fähigkeit, in den schwierigsten Lagen die anderen zu erheitern. Alles sei anders, wenn er da sei. Sei er einmal nicht da, ließen alle den Kopf hängen. Habe er sich aber wieder einmal hineingestürzt in das Leben, so komme er mit einer fürchterlichen Reue, mit schrecklichem Bedauern wieder

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ins Lager zurück. — Zwischen solchen Stimmungen wurde diese, man kann nicht anders sagen als große Seele hin- und hergeworfen. Aus diesen Stimmungen und Erlebnissen wachsen auch jene Anschauungen und plastischen Erzählungen seiner litera­rischen Laufbahn, jene Erzeugnisse, die zum Beispiel die anerkennendste Kritik selbst eines Turgenjew hervorgerufen haben, und die überall Anerkennung gefunden haben. Wir sehen aber zu gleicher Zeit, wie in einer gewissen Weise das doch nur neben dem eigentlichen Zentrum, dem Mittel­punkt seiner Seele einhergeht, wie in seiner Seele immer der Blick gerichtet ist auf die große Kraft, auf den Grundquell des Lebens, wie er ringt nach den Begriffen von Wahr­heit und Menschheitsfortschritt, und wie er, selbst einer solchen Persönlichkeit wie Turgenjew gegenüber, bei einem Zusammensein nicht anders kann als sagen: Ach, ihr habt doch eigentlich alle nicht das, was man eine Überzeugung nennt. Ihr redet eigentlich nur, um eure Überzeugung zu verbergen.

Man darf sagen, das Leben hat diese Seele schwer mit­genommen, indem es sie in schwere, bittere Konflikte ge­bracht hat. Allerdings, etwas von dem Schwersten sollte erst kommen. Ende der fünfziger Jahre wurde einer seiner Brüder krank und starb. Tolstoj hatte den Tod oftmals im Kriegsleben gesehen, hatte oftmals sterbende Menschen be­trachtet, aber das Problem des Lebens war ihm in einer solchen Größe noch nicht aufgegangen, wie beim Anblick des Hinsterbens gerade seines von ihm geliebten und ge­schätzten Bruders. Tolstoj war in der damaligen Zeit nicht etwa mit einem philosophischen oder religiösen Inhalt so erfüllt, daß dieser Inhalt ihn hätte tragen können. Er war in einer solchen Grundstimmung, die sich dem Tode gegen­über etwa so zum Ausdruck brachte, daß er sagte: Unfähig bin ich, dem Leben ein Ziel zu setzen. Ich sehe das Leben

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abfluten, ich sehe es in meinen Standesgenossen wertlos da­hinbrausen; sie tun Dinge, die nicht wert sind, getan zu werden. Wenn man ein Ereignis an das andere reiht und noch so lange Reihen bildet, es kommt nichts Wertvolles heraus. - Und auch darin, daß die unteren Schichten in Not und Elend sind, konnte er damals keinen Inhalt und kein Lebensziel sehen. Ein solches Leben, dessen Sinn man vergeblich sucht, es wird beendet durch die Sinnlosigkeit des Todes - so sagte er sich damals -, und wenn bei jeder­mann und jedem Tier das Leben in die Sinnlosigkeit des Todes hineinmünden kann, wer vermag dann überhaupt noch von einem Sinn des Lebens zu sprechen? Manchmal hatte sich Tolstoj schon das Ziel vorgesetzt, nach der Voll­kommenheit der Seele zu streben, einen Inhalt zu suchen für die Seele. Er war nicht so weit gekommen, daß sich ihm aus dem Geiste selbst in der Seele hätte irgendein Lebensinhalt entzünden können. Deshalb hatte der Anblick des Todes das Rätsel des Lebens in so gräßlicher Gestalt vor sein geistiges Auge hingestellt.

Wir sehen ihn gerade in derselben Zeit Europa bereisen. Wir sehen ihn die interessantesten Städte Europas - Frank­reichs, Italiens, Deutschlands - aufsuchen. Wir sehen ihn manche wertvolle Persönlichkeit kennenlernen. Er lernt Schopenhauer persönlich kennen, kurz vor dessen Tode lernt er Liszt kennen und noch manche anderen, manche Größen der Wissenschaft und der Kunst. Er lernt manches aus dem sozialen Leben kennen, lernt das weimarische Hofleben kennen. Alles war ihm zugänglich, alles aber sieht er mit Augen an, aus denen die Gesinnung blickt, die eben charak­terisiert worden ist. Aus alledem hatte er nur das eine ge­wonnen: so wie es zu Hause ist, in den Kreisen, aus denen er herausgewachsen ist, so ist es im Grunde genommen auch in Westeuropa.

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Ein Ziel steht jetzt besonders vor ihm, ein pädagogisches Ziel. Eine Art Musterschule hatte er begründen wollen, und er hat sie auch begründet in seinem Heimatort, wo jeder Schüler seiner Fähigkeit nach lernen sollte, wo er nicht Schablone sein sollte. Wir können uns nicht einlassen auf die Beschreibung der Erziehungsgrundsätze, die da gewaltet haben. Aber das muß betont werden, daß ihm ein Er­ziehungsideal vorschwebte, das der Individualität des Kin­des gerecht werden sollte.

Wir sehen, wie nun eine Art Interregnum eintritt, in dem in gewisser Weise für die stürmische Seele, in der sich die Probleme gefördert, die Fragen überstürzt haben, in der die Empfindungen und Gefühle in widersprechender Weise von allen Seiten geflossen sind, wie für diese Seele eine Art von Stillstand eintritt. Ein stilleres Leben waltet in ihr. Diese Zeit beginnt mit der Verheiratung in den sechziger Jahren. Es war die Zeit, aus der die großen Romane stam­men, in denen er die umfassenden gewaltigen Bilder des ge­sellschaftlichen Lebens der Gegenwart und der unmittelbar vorangehenden Zeit gegeben hat: «Krieg und Frieden» und «Anna Karenina». Es sind das die Werke, in die so viel eingefiossen ist von dem, was er gelernt hat.

So lebte er bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahr­hunderts hinein. Da kommt ein Zeitpunkt seines Lebens, wo er so recht am Scheideweg steht, wo sich erneuern alle Zweifels- und Skrupelfragen und alle Probleme, die früher wie aus dunklen geistigen Tiefen herauf in dieser Seele walteten. Ein Vergleich, ein Bild, das er formt, ist so recht bezeichnend für das, was diese Seele erlebte. Man braucht nur dieses Bild sich vor die Seele zu rücken und zu wissen, daß es etwas ganz anderes bedeutet für eine Seele, wie sie in Tolstoj ist, als für eine andere, viel oberflächlichere Seele. Man braucht sich nur dieses Bild vor die Seele zu rücken,

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und man kann tief in den Geist Tolstojs hineinschauen. Er vergleicht sein eigenes Leben mit demjenigen einer Fabel des Ostens, die er etwa so erzählt:

Da ist ein Mensch, verfolgt von einem wilden Tier. Er flieht, findet einen ausgetrockneten Brunnen und stürzt sich da hinein, um dem wilden Tiere zu entkommen. Er hält sich fest an Zweigen, die herausgewachsen sind an den Seiten der Brunnenwand. Auf diese Weise glaubt er sich vor dem verfolgenden Ungeheuer geschützt. In der Tiefe sieht er nun aber einen Drachen, und er hat das Gefühl, er müsse von ihm verschlungen werden, wenn er nur ein wenig er­müdet oder wenn der Zweig bricht, an dem er sich hält. Da sieht er auch auf den Blättern des Strauches einige Tropfen Honig, von dem er sich nähren könnte. Aber zu gleicher Zeit sieht er auch Mäuse, welche die Wurzeln des Strauches benagen, an dem er sich hält.

Die zwei Dinge, an denen sich Tolstoj hielt, waren Fa­milienliebe und Kunst. Im übrigen sah er das Leben so, daß man verfolgt wird von allen quälenden Sorgen des Lebens. Man entflieht dem einen und wird empfangen von dem anderen Ungeheuer. Und dann findet man, daß das Wenige, das man noch hat, von Mäusen benagt wird. - Man muß das Bild tief genug nehmen, um zu sehen, was in einer solchen Seele vorgeht, was da gezeigt ist und was Tolstoj in allem Denken, Fühlen und Wollen in umfänglichster Art erlebt hat. Die Zweige waren es, die ihn noch erfreuten. Aber er fand nach und nach auch mancherlei, was die Freude an ihnen benagen mußte. Ja, wenn das ganze Leben so ist, daß man in ihm einen Sinn nicht finden kann, daß man vergeblich nach dem Sinn des Lebens forscht, was heißt es dann aber, eine Familie haben, Nachkommen heranbilden und erziehen, auf die man im Grunde genommen dieselbe Sinnlosigkeit überträgt? Auch das war etwas, was ihm vor

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der Seele schwebte. Und die Kunst? Ja, wenn das Leben wertlos ist, wie steht es mit dem Spiegel des Lebens, mit der Kunst? Kann die Kunst wertvoll sein, wenn sie nur in der Lage ist, dasjenige abzuspiegeln, in dem man vergeblich nach einem Sinn sucht?

Das war es, was jetzt nach einem Interregnum wiederum so recht vor seiner Seele stand, was so recht in dieser Seele aufbrannte. Wo er sich umsah bei all denen, welche in gro­ßen Philosophien und in den verschiedensten Weltanschau­ungen den Sinn des Lebens zu ergründen versuchten, nir­gends fand er etwas, was im Grunde genommen sein For­schen befriedigen konnte. Und neuerdings war es so, daß er den Blick hinwendete zu denjenigen Menschen, die mit den Quellen des Lebens nach seiner Meinung ursprünglich zu­sammenhingen. Es waren das die Menschen, die sich einen natürlichen Sinn, eine natürliche Religiosität bewahrt hat­ten. Er sagte sich: Der Gelehrte, der so lebt wie ich selber, der seine Vernunft überschätzt, er findet in allem Forschen nichts, was ihm den Sinn des Lebens deuten könnte. Be­trachte ich den gewöhnlichen Menschen, der da in Sekten sich zusammenschließt: er weiß, warum er lebt, er kennt den Sinn des Lebens. Wie weiß er das, und wie kennt er den Sinn des Lebens? Weil er in sich die Empfindung durchlebt:

Es gibt einen Willen, den ewigen göttlichen Willen, wie ich ihn nenne. Und das, was in mir lebt, ergibt sich dem göttlichen Willen. Und das, was ich tue, was ich vom Mor­gen bis zum Abend verrichte, das tue ich als ein Teil des göttlichen Willens. Wenn ich die Hände rege, so rege ich sie im Willen des Göttlichen. Ohne durch die Vernunft zu abstrak­ten Begriffen gebracht zu werden, regen sich die Hände. -Das war es, was ihm so eigenartig entgegenkam, was ihn so ergriff, wenn das Menschliche in der Seele ergriffen ist. Er sagte sich: Es gibt Menschen, die können sich eine Antwort

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geben nach dem Sinn des Lebens, die sie brauchen kön­nen. - Es ist sogar grandios, wie er diese einfachen Menschen gegenüberstellt denen, die er in seiner Umgebung kennen­gelernt hat. Alles ist aus dem Monumentalen der Paradig­men heraus gedacht. Er sagt: Ich habe Menschen kennen­gelernt, die verstanden nichts davon, dem Leben einen Sinn zu erwecken oder zu erdenken. Sie lebten aus Gewohn­heit, trotzdem sie dem Leben keinen Sinn abgewinnen konnten, aber ich habe solche kennengelernt, welche ge­rade deshalb, weil sie keinen Sinn im Leben finden konnten, zum Selbstmord gekommen sind. - Tolstoj selbst stand nahe davor.

So nahm er sich die Kategorie von Menschen durch, bei denen er sich sagen mußte: Von einem Sinn des Lebens und von einem Leben in einem Sinn kann nicht die Rede sein. Aber der Mensch, der mit den Quellen der Natur noch zu­sammenhängt, dessen Seele mit den göttlichen Kräften so zusammenhängt wie die Pflanze mit den Kräften des Lebens, der kann sich Antwort auf die Frage geben: Warum lebe ich? - Deshalb kam Tolstoj so weit, eine Gemeinschaft mit jenen einfachen Menschen im religiösen Leben zu suchen. Er wurde in gewisser Weise gläubig, obgleich die äußeren Formen einen abstoßenden Eindruck auf ihn machten. Er ging also wieder zum Abendmahl. Es war jetzt etwas in ihm, das man so bezeichnen kann: Er strebte mit allen Fasern seiner Seele darnach, ein Ziel zu finden, ein Ziel zu fühlen. Aber überall standen ihm doch in gewisser Weise wiederum sein Denken und Fühlen im Wege. Er konnte mit den Leuten, die Gläubige waren im naiven Sinn und sich die Frage nach dem Sinn des Lebens beantworteten, wohl zusammen beten. Er konnte beten - und das ist ungeheuer bezeichnend - bis zu dem Punkte einer einheitlichen Emp­findungsweise. Aber er konnte nicht mit, wenn sie weiter

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beteten: Und sollen uns bekennen zum Vater, zum Sohne und zum Heiligen Geiste. - Das hatte für ihn keinen Sinn. Es ist überhaupt bezeichnend, daß er bis zu einem gewissen Punkte mitkonnte, indem vor seiner Seele ein religiöses Leben stand, das bei den Menschen in einer Gemeinschaft ein brüderliches Hinein- und Herausstellen dessen bewirkte, was in der Seele lebt. Eintracht der Gefühle, Eintracht der Gedanken, das sollte hervorgebracht werden durch dieses Leben in der Gläubigkeit. Aber er konnte sich nicht erheben zu dem positiven Inhalt, der Erkenntnis des Geistes, zu geistiger Anschauung, die Wirklichkeit gibt. Die Dogmatik, die überliefert war, bedeutete für ihn gar nichts. Mit den Worten, die in der Dreifaltigkeit gegeben sind, konnte er keinen Sinn verbinden.

So kam er, indem alle diese Dinge zusammenströmten, in die Periode, die er als die reife Periode seines Lebens be­zeichnen muß, in die Periode, in welcher er versuchte, sich ganz und gar zu versenken in das, was er nennen konnte wahres, echtes Christentum. Er strebt so, wie wenn er ge­wollt hätte, die Lebendigkeit der Christus-Seele mit der eigenen Seele zu umfassen, zu durchdringen. Und mit diesem Geiste der Christus-Seele wollte er sich durchdringen. Da sollte ihm eine Weltanschauung heraus erwachsen, und aus dieser sollte sich ergeben etwas wie eine Umformung alles gegenwärtigen Lebens, das er, so wie es sich für ihn dar­stellte, der herbsten Kritik unterwarf. Jetzt, da er glaubt, das, was Christus gedacht und gefühlt hat, mit der eigenen Seele zu fühlen, fühlt er sich stark genug, den Fehdehand­schuh allen Lebens- und Empfindungsweisen und allen Ge­dankenformen der Gegenwart hinzuwerfen, eine herbe Kritik an alledem zu üben, woraus er herausgewachsen ist, und was er in der weiteren Umwelt seiner Gegenwart sehen konnte. Stark genug fühlt er sich, auf der anderen Seite die

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Forderung aufzustellen, den Christus-Geist walten zu lassen und eine Erneuerung allen Menschenlebens aus dem Chri­stus-Geist herauszuholen. Damit haben wir sozusagen seine reifende Seele charakterisiert und gesehen, wie diese Seele herausgewachsen ist aus dem, was viele unserer Zeitgenossen die Höhen des Lebens nennen. Wir haben gesehen, wie diese Seele dazu gekommen ist, die herbste Kritik an diesen Höhen des Lebens zu üben, und in der Erneuerung des Christus-Geistes, den sie fremd findet alledem, was gegen­wärtig lebt, in der Erneuerung des Christus-Lebens, das sie nirgends in Wirklichkeit findet, sich das nächste Ziel zu setzen. Also in gewissem Sinne einen Verneiner der Gegen­wart sehen wir aus Tolstoj werden und einen Bejaher des­jenigen, was er den Christus-Geist nennen konnte, den er aber nicht in der Gegenwart finden konnte, sondern nur in den ersten Zeiten des Christentums. Er mußte bis zu den geschichtlichen Quellen zurückgehen, die sich ihm boten. Da haben wir also einen Repräsentanten unserer Gegen­wart, der herausgewachsen ist aus der Gegenwart, ver­neinend diese Gegenwart.

Und nun sehen wir uns den anderen an, der so, wie Tolstoj zu der intensivsten Verneinung der Gegenwart kommt, ebenso zu der intensivsten Bejahung kommt; der im Grunde genommen zu derselben Formel kommt, nur daß sie in ganz anderer Weise angewendet wird. Da sehen wir Carnegie, den Schotten, herauswachsen aus jener Grenzscheide der Kultur der Neuzeit, die wir charakterisieren können da­durch, daß das Großgewerbe, die Großindustrie, alles das­jenige wie hinwegfegt, was in der gesellschaftlichen Ord­nung das Kleingewerbe ist. Wirklich aus jener Grenzscheide des modernen Lebens herauswachsen sehen wir Carnegie, die ein neuerer Dichter so schön charakterisiert mit den Worten:

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Draußen steht am Waldessaum,
am Wiesengrund eine Schmiede;
Draus tönt nicht mehr der Hammerschlag
zum arbeitsfrohen Liede.
Nicht weit entfernt ragt in die Luft
ein langgestreckt Gebäude;
Drin walten im Maschinenraum
berußte Hammerleute.
Mit Nägeln aus der Dampffabrik
ward zu der Sarg geschlagen,
Der den verarmten Nagelschmied
zu Grabe hat getragen.

Man braucht nur eine solche Stimmung zu erwecken, und man beleuchtet hell jeneGrenzscheide in derKulturentwick­lung der Neuzeit, die so wichtig geworden ist für vieles Leben. Ein Webermeister, der zunächst sein gutes Auskom­men hatte, war Carnegies Vater, ein Schotte. Er arbeitete zunächst für eine Fabrik. Das ging alles gut bis zu dem Zeitpunkt, wo die Großindustrie alles überflutete. Nun sehen wir, wie der letzte Tag herankommt, an dem Car­negies Vater das Fabrizierte noch an den Händler abliefern kann, wie er die letzte Bestellung abliefert. Armut und Elend zieht nun ein bei diesem Webermeister. Er sieht keine Möglichkeit mehr, sich in Schottland fortzubringen. Man beschließt, damit die beiden Jungen nicht in Not leben und umkommen, nach Amerika auszuwandern.

Der Vater findet Arbeit in einer Baumwollfabrik, und der Junge, von dem wir zu sprechen haben, wird im zwölf­ten Jahre als Spuljunge angestellt. Er hat harte Arbeit zu leisten. Aber es gibt nach einer Woche harter, schwerer Ar­beit einen freudigen Tag für den zwölfjährigen Knaben. Es wird ihm zum ersten Male der erste Lohn ausgezahlt:

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1 Dollar 20 Cents. Niemals wieder — so sagt Carnegie - hat er irgendeine Einnahme mit solch entzückter Seele aufgenommen wie diesen Dollar und zwanzig Cents. Nichts hat ihm später mehr eine solche Freude gemacht, obgleich viele Millionen durch seine Finger gegangen sind. Wir sehen den Repräsentanten des praktischen Strebens in unserer Gegenwart, der herauswächst aus Not und Elend, der so angelegt ist, sich in die Gegenwart, wie sie ist, hineinzuleben und darin der selbstgemachte Mann zu werden. Er plagt sich ab. Er erringt jede Woche seinen Dollar.

Da findet sich jemand, der ihn in einer anderen Fabrik mit einem besseren Lohn anstellt. Hier hat er noch mehr zu arbeiten, er muß im Keller stehen und hat eine kleine Dampfmaschine zu heizen und in Gang zu halten bei großer Hitze! Er fühlt das als verantwortungsvollen Posten. Die Angst, den Hahn an der Maschine falsch zu drehen, was für die ganze Fabrik ein Unglück bedeuten konnte, ist für ihn furchtbar. Gar oft ertappt er sich dabei, wie er in der Nacht im Bette saß und die ganze Nacht träumte von dem Hahn, an dem er drehte, um ja recht achtzugeben, daß er es in der richtigen Weise mache.

Dann sehen wir, wie er nach einiger Zeit in Pittsburg angestellt wird als Telegraphenbote. Da ist er schon hochbeglückt mit dem geringen Lohn des Telegraphenboten. Er hat zu arbeiten an einem Orte, wo es auch Bücher gibt, die er vorher kaum gesehen hat. Manchmal hat er auch Zeitungen zum Lesen. Er hat jetzt nur eine Sorge: Telegraphenboten sind in der Stadt nicht zu brauchen, wenn sie nicht sämtliche Adressen der Firmen, die Telegramme erhalten, auswendig können. Er bringt es wirklich dahin, die Namen und Adressen der Pittsburger Firmen genau zu kennen. Er entwickelt auch schon eine gewisse Selbständigkeit. Sein Bewußtsein ist außerordentlich mit Klugheit gepaart. Er

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geht jetzt etwas früher nach dem Telegraphenamt, und da lernt er durch eigenes Üben selber telegraphieren. So kann er das Ideal ins Auge fassen, das in einem noch jungen, auf­strebenden Gemeinwesen jeder Telegraphenbote haben darf: selber einmal Telegraphist zu werden. Es gelingt ihm sogar ein besonderes Kunststück. Als eines Morgens der Telegra­phist nicht da war, kommt eine Todesnachricht. Er nimmt die Depesche auf und befördert sie an die Zeitung, an die sie bestimmt war. Es gibt ja Zusammenhänge, wo solch ein Vorgehen, selbst wenn es glückt, nicht günstig angesehen wird. Aber Carnegie stieg dadurch zum Telegraphisten auf.

Jetzt bot sich ihm noch etwas anderes. Ein Mann, der viel mit dem Eisenbahnwesen zu tun hatte, erkennt das Talent­volle an dem jungen Mann und macht ihln eines Tages fol­genden Vorschlag. Er sagte ihm, er solle für fünfhundert Dollar Eisenbahnaktien übernehmen, die gerade freigewor­den seien. Er könne da viel gewinnen, wenn er diese Dinge betreibe. Und nun erzählt Carnegie - es ist entzückend, wie er dies erzählt -, wie er tatsächlich durch die Sorgfalt und Liebe seiner Mutter fünfhundert Dollar aufbrachte, und wie er sich seine Aktien kaufte. Als das erste Erträgnis kam, die erste Anweisung über fünf Dollar, da ging er mit seinen Gefährten hinaus in den Wald. Sie betrachteten die An­weisung und machten sich Gedanken und lernten erkennen, daß es noch etwas anderes gibt als für Arbeit entlohnt zu werden, etwas, das aus Geld Geld macht. Das erweckte große Gesichtspunkte in Carnegies Leben. Er wuchs damit in den Grundzug unserer Zeit hinein.

So sehen wir, wie er gleich Verständnis hatte, als ein an­derer Vorschlag kommt. Es ist bezeichnend, wie er mit völ­liger Geistesgegenwart erfaßt, was zum ersten Male vor seiner Seele auftritt. Ein erfinderischer Kopf zeigt ihm das

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Modell des ersten Schlafwagens. Sogleich erkennt er, daß da etwas ungeheuer Fruchtbringendes darinnen ist, so daß er sich daran beteiligt. Nun hebt er wieder hervor, wodurch dieses sein Bewußtsein eigentlich wuchs. Er hatte nicht ge­nug Geld, um in entsprechender Weise sich an dem Unter­nehmen der ersten Schlafwagengesellschaft der Welt zu be­teiligen. Aber sein genialer Kopf bewirkte es, daß er tat­sächlich jetzt schon bei einer Bank Geld bekam: er stellte da seinen ersten Wechsel aus. Das ist nichts Besonderes, sagt er, aber das ist etwas Besonderes, daß er einen Bankier findet, der diesen Wechsel für «gut» nimmt. Und das war der Fall.

Jetzt brauchte er das nur auszubauen, um ganz der Mann der Gegenwart zu werden. Daher brauchen wir uns nicht zu wundern, daß er, als ihm der Gedanke kam, die vielen Holzbrücken durch Eisen- und Stahlbrücken zu ersetzen, von diesem Augenblick an der große Stahlmann wurde, der Mann, der bis heute in gewisser Beziehung den Ton angab für die Stahlindustrie und der ungezählte Reichtümer erworben hat. So sehen wir in ihm geradezu den Typ des Menschen, der in die Gegenwart hineinwächst, die Gegenwart, die das äußerlichste Leben entfaltet. In das Alleräußerlichste der Äußerlichkeit wächst er hinein. Aber er wächst hinein durch seine eigene Kraft, durch seine Fähigkeiten. Er wird zum unermeßlich reichen Menschen aus der Not und dem Elend heraus, indem er sich wirklich vom ersten Dollar an alles selber erworben hat. Und er ist ein nachdenklicher Mensch, der diesen ganzen Impuls seines eigenen Lebens auch seinerseits mit dem Fortschritt und dem Leben der ganzen Menschheit in Zusammenhang bringt.

So sehen wir, wie aus einer Denkweise herauswächst ein anderes merkwürdiges Evangelium, ein Evangelium, das sich im Grunde genommen — das ist sehr interessant — auch

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an Christus anlehnt. Nur sagt Carnegie gleich am Eingänge seines Evangeliums, es sei ein Evangelium des Reichtums. So ist das Buch in die Welt gekommen als eine Darstellung, in welcher Weise der Reichtum am besten zum Heile und zum Fortschritt in der Menschheit angewendet wird. Er wendet sich darin gleich gegen Tolstoj, von dem er sagt: Der ist ein Mensch, der den Christus so nimmt, wie er gar nicht für unsere Zeit annehmbar ist, der ihn nimmt als ein fremdes Wesen aus alter Vergangenheit. Man muß den Christus so verstehen, daß man ihn dem Leben der Gegenwart einimpft. - Carnegie ist ein Mensch, der das ganze Leben der Gegenwart voll bejaht. Er sagt: Blicken wir zurück auf die Zeiten, wo die Menschen einander noch mehr gleich waren als heute, wo sie noch weniger geteilt waren in soldi e, welche Arbeit zu vergeben haben, und solche, die Arbeit zu nehmen haben, und vergleichen wir die Zeiten, so sehen wir, wie primitiv die einzelnen Kulturen dazumal waren. Der König war in jener alten Zeit nicht imstande, seine Bedürfnisse in einer solchen Weise zu befriedigen - weil sie nicht so befriedigt werden konnten — wie heute der ärmste Mensch sie befriedigen kann. Was geschehen ist, mußte geschehen. Es ist also richtig, daß die Güter so verteilt sind.

Nun prägt Carnegie eine merkwürdige Lehre von der Verteilung oder Anwendung des Reichtums. Vor allen Din­gen werden wir es bei ihm nur natürlich finden, daß ihm Gedanken in der Seele aufgehen für die rein persönliche Tüchtigkeit, für die Tüchtigkeit des Wesens des Menschen, der sich herausarbeitet aus dem Leben zu dem, was er zu­letzt wird. Es wird ihm klar, wieviel man zu bauen hat aus diesem Mittelpunktswesen. Zunächst sieht er nur äußerliche Güter, dann aber auch, daß der Mensch tüchtig sein muß, äußerlich tüchtig. Und seine Tüchtigkeit muß man dazu anwenden, nicht bloß Reichtum zu erwerben, sondern auch ihn zu verwalten im Dienste der Menschheit.

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Carnegie macht intensiv darauf aufmerksam, daß ganz neue Grundsätze sozusagen eintreten müßten im sozialen Bau der Menschheit, wenn Heil und Fortschritt ersprießen sollen aus dem neuen Fortschritt und der Verteilung der Güter. Er sagt: Wir haben Einrichtungen aus früherer Zeit, die es möglich machen, daß durch die Vererbung vom Vater auf den Sohn und die Enkel Güter, Rang, Titel und Wür­den übergehen. Bei dem Leben in der alten Zeit war das möglich. - Er findet es richtig, daß man durch Routine er­setzen kann, was die persönliche Tüchtigkeit nicht gibt: Rang, Titel, Würden. Aber von dem Leben, in das er hin­eingewachsen ist, da ist er überzeugt, daß es persönliche, individuelle Tüchtigkeit verlangt. Er weist darauf hin, daß bei sieben falliten Häusern festzustellen war, daß fünf da­von dadurch fallit geworden sind, daß sie übergegangen sind auf die Söhne. Rang, Titel und Würden waren über­gegangen von den Vätern auf die Söhne, niemals aber die Geschäftstüchtigkeit. In denjenigen Teilen des modernen Lebens, wö Geschäftsprinzipien herrschen, sollten sie sich nicht einfach vom Vererber auf die Nachkommen vererben. Viel wichtiger ist es, daß man einen persönlich Tüchtigen heranzieht, als daß man eine Vererbung macht. Daraus zieht Carnegie den Schluß, den er mit dem grotesken Satze ausdrückt: Es muß der, welcher Reichtum erworben hat, dafür sorgen, daß er während dieses Lebens auch den Reich­tum anwendet, anwendet zu solchen Einrichtungen und Be­gründungen, durch welche im weitesten Umfange die Men­schen gefördert werden. - Und der Satz, mit dem er das formuliert, der grotesk erscheinen kann, der aber doch aus der ganzen Denkweise Carnegies hervorgeht, ist dieser: «Wer reich stirbt, stirbt entehrt.» Man könnte in gewissem Sinne sagen, noch revolutionärer klinge der Satz des Stahlkönigs als mancher Satz Tolstojs. «Wer

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reich stirbt, stirbt entehrt», das heißt doch: Wer nicht anwendet diejenigen Güter, die er zusammengebracht hat, zu Stiftungen, wo­durch die Menschen etwas lernen können, wodurch sie die Möglichkeit bekommen, sich fortzubilden, wenn ein Mensch also den Reichtum nicht dazu anwendet, daß er möglichst viele Menschen tüchtig macht, sondern ihn übrig läßt, so daß ihn die Nachkommen in ihrer Art und Talentlosigkeit anwenden können und er nur ihrem persönlichen Wohl­leben dient, wer nicht so stirbt, daß er zeit seines Lebens seinen Reichtum zum Heile der Menschheit verwaltet, der stirbt entehrt.

So sehen wir bei Carnegie ein sehr merkwürdiges Prinzip auftauchen. Wir sehen, daß er bejaht das gegenwärtige soziale Leben und Treiben, daß er aber aus ihm einen neuen Grundsatz herausprägt: daß der Mensch einzutreten hat nicht nur für die Verwendung des Reichtums, sondern auch für die Verwaltung, als Verwalter der Güter im Dienste der Menschheit. Kein Glaube ist in diesem Mann daran, daß irgend etwas in der Vererbungslinie von den Vor­eltern auf die Nachkommen übergehen könne. Wenn er auch nur das äußere Leben kennt, so ist es ihm doch klar, daß im Inneren des Menschen die Kräfte sprossen müssen, die den Menschen tüchtig machen zur Auswirkung des Lebens.

So sehen wir diese zwei Repräsentanten unserer Gegen­wart: denjenigen, der eine herbe Kritik übt an allem, das sich nach und nach entwickelt hat, und der aus dem Geiste heraus die Seele zu Höherem führen will, und wir sehen den anderen, der das materielle Leben nimmt, wie das materielle Leben eben ist, und der aus der Betrachtung des materiellen Lebens hingewiesen wird darauf, daß im Inneren des Menschen der Quell des Arbeitens und der Le­bensgesundheit ist. So sonderbar es klingt, man könnte gerade in dieser Lehre Carnegies etwas finden, was zu fol­-

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gendem Ausspruch berechtigt: Wenn man nicht gedanken­los und sinnlos auf dieses Seelenleben hinblickt, sondern so hinblickt, daß man nach und nach auf die aus den Seelen herausströmenden Kräfte hinsieht, hinsieht auf das Indivi­duelle, und sich durchaus klar darüber ist, daß es sich nicht in der Vererbungslinie fortpflanzt, auf was muß man dann schauen? Man muß auf den wirklichen Ursprung schauen, auf dasjenige, was aus anderen Quellen kommt. Und man wird finden, wenn man durch Geisteswissenschaft zu den Quellen der jetzigen Talente und Fähigkeiten kommt, die in früheren Leben liegen, in dem Gesetz der Wiederverkör­perung und der geistigen Verursachung, des Karma, man wird dann die Möglichkeit finden, gedankenvoll zu ver­arbeiten ein solches Prinzip, welches das praktische Leben einem praktischen Menschen aufgedrängt hat.

Niemand kann hoffen, daß aus einer bloßen Veräußer­lichung des Lebens etwas kommen könnte, was die Seele befriedigen, die Kultur auf die höchsten Höhen bringen könnte. Nimmermehr kann man hoffen, daß auf jenen Bahnen etwas anderes kommen würde als eine im äußeren Sinne heilsame Verteilung des Reichtums. Die Seele würde veröden, sie würde ihre Kräfte verausgaben, aber in sich nichts finden, wenn sie nicht vordringen könnte zu den Quellen des Geistes, die jenseits liegen. Indem die Seele zurückgewiesen wird von einer materiellen Lebensbetrach­tung, muß sie die Quelle finden, die nur aus einer geistigen Lebensanschauung fließen kann. Mit einer solchen Lebens-praxis, wie sie Carnegie hat, wird sich verbinden müssen, damit die Seelen nicht veröden, jene Vertiefung und Ver­geistigung des Lebens, die aus der Geisteswissenschaft kommt. Fordert Carnegie von der einzelnen Seele das­jenige, was sie lebenstüchtig macht im äußeren Leben, so will Tolstoj der einzelnen Seele dasjenige geben, was

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sie aus dem tiefen Bronnen der geistigen Wesenheit heraus finden kann.

Ebenso, wie Carnegie mit sicherem Blick das Wesen der Gegenwart aus dem materiellen Leben heraus erfaßt, so finden wir auf der anderen Seite Tolstoj mit sicherem Blick in der Lage, das Eigenartige der Seele zu erfassen. Bis zu einem gewissen Grenzpunkt sehen wir Tolstoj kommen, der uns in der Tat merkwürdig berührt, wenn wir alles das, was in Tolstojs Weltanschauung lebt, vergleichen mit dem, was uns namentlich in der westeuropäischen Kultur ent­gegentritt. Man kann durchsehen Werk für Werk aus der ungeheuer langen Reihe von Werken, die Tolstoj geschrie­ben hat, und man wird vor allen Dingen eines hervor-glänzen sehen: Dinge, die hier im Westen mit einem un­geheuren Aufwand von philosophischem Nachdenken, gelehrten Grübeleien, Hin- und Herschieben von Schlüssen und Schlußfolgerungen zusammengebracht werden, sie stel­len sich bei Tolstoj so dar, daß sie in fünf bis sechs Zeilen wie Gedankenblitze auftreten und für den, der so etwas auffassen kann, zur Überzeugung werden. Da wird also zum Beispiel von Tolstoj gezeigt, wie wir in der menschlichen Seele etwas finden müssen, was göttlicher Natur ist, das, wenn es in uns aufleuchtet, das Göttliche in der Welt ver­gegenwärtigen kann. Da sagt Tolstoj Um mich leben die gelehrten Naturforscher; sie erforschen, was draußen im Materiellen, im sogenannten objektiven Dasein wirklich ist. Sie suchen da die göttlichen Urgründe des Daseins. Solche Leute versuchen dann, den Menschen zusammenzusetzen aus all den Gesetzen, Stoffen, Atomen und so wei­ter, die sie draußen im Raume verteilt suchen. Sie suchen dann zuletzt zu begreifen, was der Mensch ist, indem sie glauben, alle äußere Wissenschaft zusammenschließen zu müssen, um den Grund des Lebens zu finden. Solche Men­-

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schen, sagt er, kommen mir vor wie Menschen, die um sich herum haben Bäume und Pflanzen der lebendigen Natur. Sie sagen: Das interessiert mich nicht. Aber da in der Ferne ist ein Wald, den sehe ich kaum; diesen Wald will ich er­forschen und beschreiben, dann werde ich auch verstehen die Bäume und die Pflanzen, die neben mir sind, und ich werde sie beschreiben können. - So kommen mir die Leute vor, die mit ihren Instrumenten das Wesen der Tiere erfor­schen, um das Wesen des Menschen erkennen zu lernen. Sie haben es in sich, brauchen nur zu sehen, was in ihrer aller­nächsten Nähe ist. Das tun sie aber nicht. Sie suchen die weit entfernten Bäume, ünd sie suchen das, was sie nicht sehen können, die Atome, zu begreifen. Den Menschen sel­ber aber sehen sie nicht.

Diese Art der Denkweise ist so monumental, daß sie wertvoller ist als Dutzende von Erkenntnistheorien, die aus alten Kulturen heraus geschrieben sind. Das ist charak­teristisch für das ganze Denken Tolstojs. Zu solchen Dingen ist er gekommen, und in solche Dinge muß man hinein-blicken. Für den Westeuropäer ist das höchst unbefriedi­gend; erst im Umweg über Kant kommt er dazu. Mit einer Sicherheit des Seelenwirkens wird Tolstoj dazu getrieben, auszusprechen, was nicht bewiesen, aber wahr ist, was durch unmittelbare Anschauung erkannt wird, und von dem man weiß, wenn man es ausgesprochen erhält, daß es wahr ist. Dieses monumentale ursprüngliche Hervorquellen tiefster Wahrheiten wie aus dem Quell des Lebens, das er gesucht hat, zeigt sein Werk. Das ist es, was in seinen letzten Schrif­ten sich uns oft zeigt, und was so ist, daß es wie eine Mor­genröte leuchten kann einer aufgehenden Zukunft.

So müssen wir sagen: Je weniger wir geneigt sind, Tolstoj dogmatisch zu nehmen, je mehr wir geneigt sind, die Gold­körner eines primitiven paradigmatischen Denkens auf­-

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zunehmen, desto fruchtbarer wird er sein. Freilich, die­jenigen, welche eine Persönlichkeit nur so hinnehmen, daß sie auf ihre Dogmen schwören, sich nicht von ihr befruchten lassen können, die werden von ihm nicht viel haben. Es wird ihnen manches recht schlecht bekommen. Der aber, der sich befruchten lassen kann von ihm, von dem, was aus einer großen Persönlichkeit fließt, der wird viel von Tolstoj empfangen können. Wir sehen, daß in ihm die Wahrheit wirkt, paradigmatisch, und daß diese Wahrheit mit star­ken Kräften einfließt in sein persönliches Leben. Wie fließt es da ein? Es ist recht interessant, zu sehen, daß verschie­dene Anschauungen in seiner Familie herrschen. Sie tole­rieren sich. Wie war er aber imstande, seine Grundsätze in das tägliche Leben hineinzuführen? Durch Arbeiten und Wirken, und nicht bloß mit Grundsätzen. Dadurch wird er ein wahrer Pionier für manches, was in der Zukunft erst aufsprießen muß. Aber wir sehen auf der anderen Seite wiederum, wie Tolstoj doch wieder, trotzdem er ein Pionier der Zukunft ist, ein Kind seiner Zeit ist.

Vielleicht in nichts so sehr als in jenem merkwürdigen Bilde, das aus dem Jahre 1848, wo er zwanzig Jahre alt war, erhalten ist, kann man eindrucksvoller empfinden, wie er sich in die Gegenwart hineinstellt. Man sehe nur das Ge­sicht des Zwanzigjährigen an, das Energie und Willens­stärke ausdrückt, zu gleicher Zeit auch Verschlossenheit. Das geistvolle Blitzen der Augen verrät dabei aber doch etwas, das den Rätseln des Lebens fragend gegenübersteht. Er ist vulkanisch im Innern, aber nicht fähig, den Vulkan zum Ausbruch zu bringen. Allerdings, geheimnisvolle Tie­fen der Seele sehen wir in seiner Physiognomie sich ausdrücken,

und wir bekommen so in seiner Physiognomie den Ausdruck dafür, daß etwas Gewaltiges in ihm lebt, das er doch in diesem Organismus, den er

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sich ererbt hat, noch nicht voll zum Ausdruck bringen kann.

So ist es auch mit der Mannigfaltigkeit der Kräfte, die in Tolstoj leben, und die nicht so recht zum Ausdruck kommen konnten. Es ist so, wie wenn sie karikiert, verzerrt in man­cher Beziehung, zum Ausdruck kommen müßten. So muß man auch den Charakter in ihm erkennen, der manchmal ins Groteske verzerrt ist. Daher ist es ganz wunderbar, wenn er in der Lage ist, hinzuweisen auf dasjenige, was man bei den Menschen gewöhnlich ein Vergängliches nennt: Siehe dir an den menschlichen Leib. Wie oft sind seine Stoffe ausgewechselt worden! Nichts ist mehr da an Materiellem von dem, was da war in dem Zehnjährigen. Und dasjenige, was das gewöhnliche Bewußtsein ist, man nehme es und vergleiche es mit dem Vorstellungsleben des Fünfzigjähri­gen: es ist etwas ganz anderes geworden, bis in das Seelengefüge hinein. Wir können es nicht ein Dauerndes nennen, aber überall finden wir in ihm den Mittelpunkt, von dem wir sagen müssen, daß er etwa durch folgendes in der Vor­stellung erreicht wird. Die Gegenstände der Außenwelt stehen da. Da steht dieses, dort steht jenes, da ein drittes. Zwei Menschen treten vor die Dinge. Dieselben Dinge sieht das Auge, aber sie sind für den einen so, für den anderen anders. Der eine sagt: Ich mag das; der andere sagt: Ich mag es nicht. - Wenn in der Außenwelt alles dasselbe ist, dieselben Eindrücke da sind, und die eine Seele sagt: Ich mag es, - die andere sagt: Ich mag es nicht, - wenn also die Art des Lebens verschieden ist, so ist ein Mittelpunkt da, der verschieden ist von allem Äußeren, der unerschütterlich bleibt, trotz allem Wechsel des Bewußtseins und des Kör­pers. Etwas ist da, das vor der Geburt da war und nach der Geburt da sein wird, mein besonderes Ich. Dieses mein be­sonderes Ich hat nicht mit der Geburt begonnen.

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Nicht darauf kommt es an, wie man sich mit den west­europäischen Gewohnheiten zu einem solchen Ausspruch stellt, sondern darauf, daß man die Empfindung hat: einen solchen Ausspruch kann man tun. Darin zeigt sich die Größe der Seele. Darin zeigt sich, daß die Seele lebt und wie sie lebt. Darin ist die Unsterblichkeit verbürgt.

So sehen wir, wie Tolstoj hart an die Grenze heran­kommt von dem, was wir, durch die geisteswissenschaftliche Vertiefung verwirklicht, als das innerste Wesen der Seele kennenlernen. Er ist eingezwängt durch die Welt, die er selbst so sehr bekämpft und kann nicht vordringen zu dem wahren Lebensgang dessen, was vor der Geburt da ist, und dessen, was nach dem Tode kommt. Er kommt nicht zu der Lehre von Reinkarnation und Karma. Ebensowenig kommt er auf den inneren Impuls der Seele wie Carnegie, der ihn geradezu fordert. So sehen wir, ob ein Mensch aus tiefstem Inneren in Widerspruch ist mit alledem, was in der Gegen­wart lebt, wirkt und strebt, oder ob er, als ein Ja-Sager, mit alledem übereinstimmt, was sich in der Gegenwart als Lebensform auslebt; er wird geführt an die Pforten dessen, was wir die anthroposophische Lebensanschauung nennen. Tolstoj würde den Weg zu Carnegie finden können, Carne­gie niemals zu Tolstoj.

Durch diesen Vortrag sollte gezeigt werden, daß eine Welt- und Lebensanschauung gegeben werden kann, die in die unmittelbare Lebenspraxis hineinführt, die hinuntertra­gen kann das Neuerkannte zu dem Bekannten, zu dem Vollführten. Und so werden wir sehen, wenn wir immer tiefer und tiefer uns in diese Geisteswissenschaft hineinfinden, wie sie für die Menschen sowohl der einen als der anderen Schattierung das bringt, was das Leben bringen muß, was ja schließlich in seiner Art Tolstoj gefunden hat, was Carnegie in seiner Art gefunden hat: ein in sich befrie­digtes Leben. Aber darauf kommt es nicht

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an, daß der un­mittelbare Sucher das befriedigte Leben findet, und daß die, welche mit ihm suchen, es auch finden können. Was Tolstoj für sich und was Carnegie für sich als befriedigend gefun­den haben, das kann nur auf unpersönlichem, reinem Wege und durch ein auf die Ebene des Geistes gerichtetes Erken­nen für alle Menschen, die auf diesem Wege suchen, gefun­den werden, wenn in wahrer Geist-Erkenntnis das, was von Leben zu Leben geht, was Bürgschaft für die Ewigkeit in sich trägt - und was Tolstoj in gewisser Weise, weil er es schon geahnt hat, für sich selbst fand -, für alle Menschen gefunden sein wird.

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DIE PRAKTISCHE AUSBILDUNG DES DENKENS Berlin, 11. Februar 1909

Die anthroposophische Geisteswissenschaft, welche hier in diesen Vorträgen, natürlich immer nur stückweise, zur Darstellung kommen soll, wird wohl von sehr vielen Menschen, die sie nicht kennen oder nicht kennen wollen, als ein Gebiet angesehen für Träumer, Phantasten und solche Menschen, die eigentlich, wie man so leicht sagt, im wirklichen, im praktischen Leben nicht drinnenstehen. Allerdings, wer oberflächlich aus dieser oder jener Broschüre oder aus einem einzelnen Vortrage sich spärlich unterrichten will über den Inhalt und das Ziel der Geisteswissenschaft, der wird leicht zu einem solchen Urteile kommen können, insbesondere noch, wenn er ausgerüstet ist mit dem geringen Willen, in die wirklichen geistigen Gebiete einzudringen, der ja heute so reichlich vorhanden ist, oder wenn er ausgerüstet ist mit all den Vorurteilen und Suggestionen, die sich aus unserer Zeitkultur so zahlreich ergeben gegen ein solches Forschungsgebiet. Und kommt dann noch, was heute gar nicht so selten ist, der böse Wille dazu, gleichgültig ob bewußt oder unbewußt, dann ist das Urteil leicht fertig: Ach, diese Geisteswissenschaft hat es ja zu tun mit Dingen, um die der praktische Mensch, der Mensch, der mit beiden Füßen auf dem Boden des Lebens stehen will, sich nicht kümmern soll!

Nun fühlt sich die Geisteswissenschaft selbst aber innig verwandt mit den allerpraktischsten Gebieten des Lebens, und wo sie recht betrieben wird, da legt sie den allergrößten

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Wert darauf, daß der sicherste Führer durch das wirkliche praktische Leben, das Denken, auch eine völlig praktische Ausbildung erfahre. Denn erstens soll die Geisteswissenschaft nicht etwas sein, was weltfremd und weltfern irgendwo im Wölkenkuckucksheim schwebt und den Menschen abziehen möchte von dem gewöhnlichen alltäglichen Leben, sondern sie soll etwas sein, was in jedem Augenblick unseres Lebens dienen kann bei allem, was wir denken, tun und fühlen. Und zweitens ist ja die Geisteswissenschaft in gewissem Sinne durchaus eine Vorbereitung unserer Seele zu jenen Stufen der Erkenntnis hinauf, durch die der Mensch selbst eindringt in die höheren Welten. Es ist oft betont worden, daß Geisteswissenschaft nicht nur für den Menschen einen Wert habe, der selber schon geöffnete Augen habe, um einzudringen in die geistige Welt, sondern daß der gesunde Menschenverstand, die ungetrübte Vernunft und Urteilskraft einzusehen vermag, was der Geistesforscher mitzuteilen weiß aus höheren Welten, und daß dieses Hinnehmen der Mitteilungen für den Menschen einen unendlichen Wert hat, lange bevor er selbst eindringen kann in das geistige Gebiet. Man darf sagen, die Geisteswissenschaft ist für jeden eine Vorbereitung, um selber nach und nach die in der Seele schlummernden höheren Erkenntnisorgane zu entfalten, durch welche die geistigen Welten uns wahrnehmbar werden.

Wir haben zum Teil schon gesprochen, zum Teil werden wir noch zu sprechen haben von den verschiedenen Methoden und Verrichtungen, die der Mensch vorzunehmen hat, um hinaufzudringen in die geistigen Welten. Aber da ist immer unbedingte Voraussetzung: Wer hinaufdringen will in die geistigen Welten, wer die von der Geistesforschung genau angegebenen Methoden anwenden will, damit die geistigen Sinne bei ihm geöffnet werden, der sollte nie und

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nimmer diesen Gang in die höheren Gebiete des Lebens wagen, ohne auf dem Boden eines gesunden, eines praktisch ausgebildeten Denkens zu stehen. Dieses gesunde Denken ist der Führer, das wahre Leitmotiv, um hineinzugelangen in die geistigen Welten. Und am besten gelangt hinein durch die Methoden der Geisteswissenschaft, wer es nicht verschmäht, sich streng zu erziehen zu einem an die Wirklichkeit und ihre Gesetze gebundenen Denken. Allerdings, wenn man vom wirklichen praktischen Denken spricht, kommt man leicht in Gegensatz zu dem, was sich in unserer Welt Praxis und auch wohl Denkpraxis nennt. Um diese zu charakterisieren, braucht man nur an etwas zu erinnern, was hier schon öfter angedeutet worden ist. Praxis schreibt sich gar mancher in unserer Welt zu. Was ist aber die Praxis, von der heute die sogenannten praktischen Menschen reden? Es wird irgendwo jemand zu einem Meister in die Lehre gegeben. Da lernt er alle jene Verrichtungen und Maßnahmen, die seit Jahrzehnten, vielleicht seit Jahrhunderten vorgenommen wurden und die streng vorgeschrieben sind. Alles das eignet er sich an, und je weniger er dabei denkt, je weniger er sich ein selbständiges freies Urteil bildet, je mehr er in ausgelaufenen Bahnen geht, desto praktischer findet ihn die Welt, finden ihn namentlich diejenigen, die auf diesem Gebiete tätig sind. Das nennt man oftmals unpraktisch, was nur im allergeringsten Sinne von alle dem abweicht, was man seit langer Zeit treibt. Das Aufrechterhalten einer solchen Praxis ist zumeist nicht gebunden an die Vernunft, sondern einzig an die Gewalt. Wer an irgendeinem Posten im Leben steht und in einer ihm gerade richtig erscheinenden Weise da Dinge auszuführen hat, der dringt darauf, daß jeder andere, der auf diesem Gebiete tätig ist, dies genau so tun muß wie er. Und wenn er die Macht dazu hat, stößt er alle hinaus, die anders vorgehen wollen.

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Aus solcherlei Voraussetzungen setzt sich Lebenspraxis in vielen Fällen zusammen. Da kommt dann auch das Rechte heraus, wie etwa in dem Falle, wo ein großer Fortschritt eingeführt werden sollte: Die erste Eisenbahn sollte gebaut werden von Fürth nach Nürnberg. Darüber sollte auch das Urteil eines eminent praktischen Kollegiums, des bayrischen Medizinalkollegiums, gehört werden, ob überhaupt diese Eisenbahn gebaut werden solle. Dieses Urteil kann man heute noch lesen. Es lautete dahin, man solle keine Eisenbahn bauen, weil durch das Fahren die Nerven ruiniert würden. Und wenn man schon Eisenbahnen bauen wolle, so müsse man sie links und rechts mit hohen Bretterwänden einzäunen, damit vorübergehende Menschen keine Gehirnerschütterung bekämen. Dies ist ein Urteil von Praktikern. Ob diese Praktiker auch heute noch als Praktiker aufgefaßt würden, das ist ja die Frage. Wahrscheinlich nicht.

Ein anderes Beispiel, das uns so recht zeigen kann, ob die Fortschritte von denen ausgehen, die sich im Leben Praktiker nennen, oder von anderen Leuten: Sie finden es sicher sehr praktisch, daß man heute nicht mehr mit jedem Brief zur Post gehen und daß hier aus einem Reisebuche erst das Porto nach der Entfernung bestimmt werden muß. Erst in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts wurde das einheitliche Briefporto in England erfunden. Aber nicht ein Praktiker des Postwesens hat es erfunden, sondern ein solcher hat, als die Sache im Parlamente beschlossen werden sollte, gesagt, erstens glaube er nicht, daß sich ein solcher Vorteil ergeben würde, wie Hill da herausrechne, und zweitens müsse man dann ja das Postgebäude noch vergrößern. Er konnte sich nicht denken, daß das Postgebäude sich nach dem Verkehr und nicht umgekehrt der Verkehr sich nach dem Postgebäude richtet. Und als die erste Bahn von Berlin nach Potsdam gebaut werden sollte, da sagte ein Praktiker,

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nämlich der, welcher seit Jahren zwei Postkutschen nach Potsdam fahren ließ: Wenn die Leute ihr Geld durchaus aus dem Fenster werfen wollten, dann könnte man die Bahn ja bauen.

Weil diese Praxis der sogenannten Praktiker so unpraktisch ist, wenn die großen Dinge des Lebens in Betracht kommen, deshalb kann man in Gegensatz zu diesen Praktikern kommen, wenn man von praktischer Ausbildung des Denkens spricht. Dem unbefangenen Beobachter bietet sich auf allen Gebieten des Lebens etwas dar, was einem zeigen kann, wie es mit der wahren Praxis im Leben steht. Was praktisches Denken zum Beispiel verhindern kann, trat mir einst an einem ganz anschaulichen Beispiel entgegen. Ein Freund aus meiner Studienzeit kam einmal aufgeregt mit ganz rotem Kopfe zu mir. Er sagte, er müsse gleich zum Professor gehen und ihm mitteilen, daß er eine große Erfindung gemacht habe. Er kam dann zurück und sagte, er könne den Fachmann erst in einer Stunde sprechen, und dann entwickelte er mir seine Erfindung. Es war eine Einrichtung, die darin bestand, daß man mit Aufwendung einer ganz geringen Menge einmal zugeführter Dampfkraft eine Maschine in Bewegung setzte, und diese Maschine leistete dann fortwährend eine ungeheure Arbeit. Mein Freund war selbst erstaunt darüber, daß er so klug war, eine solche Erfindung zu machen, die alles übertraf und mit der eine solche Ökonomie verbunden war. Ich sagte ihm, er solle das Ganze einmal auf einen einfachen Gedanken zurückführen. Ich sagte: «Stelle dir vor, du ständest in einem Eisenbahnwagen und du versuchtest, innen in diesem Wagen recht fest gegen die Wände zu stoßen, um den Wagen so fortzuschieben. Wenn es dir gelingt, den Eisenbahnwagen fortzubewegen, wenn du darin stehst und schiebst, dann ist deine Maschine gut, denn sie beruht auf demselben Prinzip.»

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Mir wurde damals klar, daß ein Haupthindernis allen praktischen Denkens mit einem Terminus technicus bezeichnetwerden könnte: Man ist ein «Wagenschieber von innen!» Das ist ungefähr das, was auf das Denken sehr vieler Leute paßt: Sie sind «Wagenschieber von innen». Was heißt das? Nichts anderes, als daß man imstande ist, ein gewisses eng- begrenztes Gebiet zu überschauen und das, was man gelernt hat, auf diesem Gebiete anzuwenden; aber man ist auch gezwungen, innerhalb dieses Gebietes stehenzubleiben und kann gar nicht sehen, daß sich alles wesentlich ändert, sobald man aus dem «Wagen» heraustritt.

Das ist gleich einer der Grundsätze, welche vor allen Dingen bei einer praktischen Ausbildung des Denkens beachtet werden müssen: daß jeder Mensch, der auf irgendeinem Gebiete tätig ist, versuchen muß, ganz unabhängig von seiner eigenen Tätigkeit die Fäden zu ziehen zu dem, was an sein Gebiet angrenzt. Sonst ist es unmöglich, daß er zu einem wirklich praktischen Denken gelangt. Denn das ist eine Eigentümlichkeit, die mit einer gewissen inneren Trägheit verknüpft ist, daß das menschliche Denken sich gerne einkapselt und das, was draußen ist, auch wenn es handgreiflich ist, vergißt.

Ich habe neulich in anderen Zusammenhängen angeführt, wie man die Kant-Laplacesche Theorie beweisen will: Einstmals war der Weltennebel da. Dieser kam durch irgendeine Ursache in Rotation; dadurch teilten sich allmählich die einzelnen Planeten des Sonnensystems ab und erhielten die Bewegung, die sie noch heute innehaben. Man macht das sehr deutlich klar an einem Schulexperiment, dem sogenannten Plateauschen Versuch: Man läßt ein Ölkügelchen in einem Gefäße in Wasser schweben. Es wird dann ein Äquator aus einem Kartonblatt ausgeschnitten. Diesen legt man unter das Ölkügelchen. Dann wird eine

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Nadel durch dieses hindurchgesteckt, gedreht — und es teilen sich in der Äquatorgegend kleine Olkügelchen ab, wie Planeten, und sie bewegen sich um das größere Kügelchen. Man hat dabei in denkerischer Beziehung etwas sehr Unpraktisches begangen: Man hat sich selbst vergessen, was ja sonst manchmal recht gut ist; man hat vergessen, daß man selber die Sache gedreht hat. Das darf man natürlich nicht tun, daß man das Wichtigste bei einer Sache vergißt. Will man einen Versuch erläutern, dann muß man aber alle Dinge ins Feld führen, auf die es dabei ankommt; das ist das Wesentliche.

Das erste, was bei demjenigen vorhanden sein muß, der eine wirklich praktische Ausbildung des Denkens erfahren will, ist, daß man den Glauben und das Vertrauen hat an die Wirklichkeit, an die Realität der Gedanken. Was heißt das? Aus einem Glase, in dem kein Wasser ist, kann man kein Wasser herausschöpfen. Und aus einer Welt, in der keine Gedanken sind, kann man keine Gedanken herausnehmen. Es ist das Absurdeste, wenn man glaubt, daß die gesamte Summe unserer Gedanken und Vorstellungen nur in uns selber vorhanden sei. Wenn jemand eine Uhr auseinandernimmt und nachdenkt, nach welchen Gesetzen sie zusammengefügt ist, dann muß er annehmen, daß der Uhrmacher die Teile der Uhr zuerst nach diesen Gesetzen zusammengefügt hat. Niemand sollte glauben, daß man aus einer Welt, die nicht nach Gedanken gebaut gestaltet und geformt ist, irgendeinen Gedanken herausfinden kann. Alles was wir herausfinden über die Natur und ihre Geschehnisse, ist nichts anderes, als was zuerst in diese Natur und ihre Geschehnisse hineingelegt sein muß. Es ist kein Gedanke in unserer Seele, der nicht zuerst draußen in der Welt gewesen ist. Aristoteles hat richtiger als mancher Moderne gesagt: Was der Mensch in seinem Den-

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ken zuletzt findet, das ist in der Welt draußen als erstes vorhanden.

Hat man aber dieses Vertrauen zu den Gedanken, die innerhalb der Welt enthalten sind, dann wird man sehr leicht einsehen, daß man sich zunächst zu erziehen hat zu einem interessevollen Denken an der Welt, zu jenem großen, schönen Ideal des Denkens, wie es Goethe auszeichnete: das gegenständliche Denken, jenes Denken, das sich möglichst wenig absondert von den Dingen, das möglichst an den Dingen haften bleibt. Heinroth, der Psychologe, konnte in bezug auf Goethe den schönen Ausspruch gebrauchen, daß sein Denken ein gegenständliches sei, ein solches, bei dem die Gedanken nichts anderes ausdrücken, als was in den Dingen selber enthalten ist, und daß in den Dingen nichts anderes gesucht wird als der wirkliche schöpferische Gedanke. Und wenn man dieses Vertrauen, diesen Glauben an die Realität der Gedanken hat, so wird man leicht einsehen, wie man sich im Einklänge mit der Umwelt, im Einklänge mit der Realität erziehen kann zu einem wirklich praktischen, gesunden, von den Dingen sich nicht entfernenden Denken.

Da gibt es dreierlei, das zu berücksichtigen ist, wenn der Mensch wirklich eine Erziehung im Sinne des praktischen Denkens auf sich nehmen will: Erstens muß und soll der Mensch Interesse entwickeln für die äußere ihn umgebende Wirklichkeit, Interesse in bezug auf Tatsachen und Gegenstände. Interesse an der Umwelt, das ist das Zauberwort für die Gedankenerziehung. Lust und Liebe zu dem, was wir tun, das ist das zweite. Und Befriedigung an dem, worüber wir nachsinnen, das ist das dritte. Wer diese drei Dinge versteht: Interesse an der Umwelt, Lust und Liebe am Tun und Befriedigung im Nachsinnen, der wird bald finden, daß dies die Hauptanforderungen sind, die an eine praktische Ausbildung des Denkens zu stellen sind. Allerdings

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hängt das Interesse an unserer Umwelt in vieler Beziehung von Dingen ab, die wir erst bei den nächsten Vorträgen besprechen werden, wenn wir sprechen werden über die unsichtbaren Glieder der Menschennatur und über die Temperamente.

Der größte Feind des Denkens ist im Grunde genommen oft das Denken selber. Wenn man nämlich glaubt, nur man selber könne denken und die Dinge hätten nicht Gedanken in sich, so steht man eigentlich der Denkpraxis feindlich gegenüber. Denken wir einmal, ein Mensch hätte sich einige engbegrenzte Vorstellungen gemacht vom Menschen, hätte sich ein paar schablonenhafte schematische Begriffe von den Menschen gemacht. Nun tritt ihm irgendein Mensch entgegen, der annähernd die Eigenschaften hat, die in seine Schablone passen. Dann ist er fertig mit seinem Urteil und glaubt nicht, daß dieser Mensch ihm noch etwas Besonderes sagen kann. Gehen wir an alles, was uns umgibt, heran mit dem Gefühl, daß jede Tatsache uns etwas Besonderes sagen kann, daß wir gar nicht berechtigt sind, irgend etwas anderes über die Dinge urteilen zu lassen als die Dinge selber, dann werden wir bald merken, welche Früchte ein solcher gegenständlicher Sinn trägt. Der Glaube, daß uns die Dinge viel mehr sagen können, als wir über die Dinge zu sagen vermögen, ist wieder ein solches Zauberideal für die Praxis des Denkens. Die Dinge selber sollen die Erzieher unseres Denkens sein, die Tatsachen selber.

Man denke einmal, daß ein Mensch es über sich brächte, folgende zwei wichtigen Erziehungsmittel für seine praktische Denkausbildung anzuwenden: Er stellt sich irgendeiner Tatsache gegenüber, meinetwegen daß jemand gerade heute einen Gang da oder dorthin gemacht hat. Das ist es, was er zunächst erfährt. Nun will der Betreffende sich denkerisch erziehen. Da ist es gut, wenn er sich sagt: Das

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und das habe ich erfahren, jetzt will ich mir Gedanken darüber machen, aus welchen Ursachen von gestern, vorgestern und so weiter dieses heutige Ereignis entstanden ist. Ich gehe zurück und versuche, mir eine Anschauung zu bilden aus dem was vorgeht auf das, was gewesen sein könnte. Habe ich mir ein solches Ereignis ausgesucht und nach meiner denkerischen Phantasie die Ursache dafür ausgewählt, dann kann ich nachforschen, ob die wirkliche Ursache übereinstimmt mit dem, was ich gedacht habe. In einem solchen Zusammentreffen oder Nichtzusammentreffen habe ich etwas sehr wichtiges. Stimmen meine Gedanken überein mit dem, was ich erfahren kann als Ursache, dann ist es gut. In den meisten Fällen wird das nicht der Fall sein. Dann forscht man nach, worin man sich geirrt hat und versucht zu vergleichen die falschen Gedanken mit dem richtigen Gang der Ereignisse. Macht man das immer und immer wieder, dann wird man merken, daß man nach kürzerer oder längerer Zeit nicht mehr Fehler machen wird, sondern daß man einen solchen Gedanken herausschälen kann aus einer Tatsache, der dem objektiven Gang der Ereignisse entspricht. — Oder man macht folgendes: Man nehme wiederum ein Ereignis und versuche, in Gedanken zu konstruieren, was morgen oder in ein paar Stunden aus diesem Ereignis folgen kann. Nun warte man ruhig ab, ob das geschieht, was man sich gedacht hat. Anfangs wird man finden, daß das nicht stimmt, was man gedacht hat. Aber wenn man das fortsetzt, so wird man sehen, wie dann das Denken sich so hineinlebt in die Tatsachen, daß es nicht mehr abgezogen für sich beliebige Vorstellungen bildet, sondern daß die Gedanken so verlaufen werden wie die Dinge verlaufen. Das ist das Entwickeln des Tatsachensinnes. Verbietet man sich nun auch noch, sich abgezogene, abstrakte Begriffe zu bilden, dann wird man sehen, wie man allmählich mit den

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Dingen zusammenwächst und wie man ein sicheres Urteil gewinnt.

Es gibt Leute, die durch einen gewissen sicheren Instinkt hingelenkt werden zu einem solchen Denken. Das rührt davon her, daß sie mit besonderen Anlagen schon geboren sind, ein solches Denken auszubilden. Solch ein Mensch war Goethe. Er war so verwachsen mit den Dingen, daß sein Denken gar nicht im Kopfe, sondern in den Dingen drinnen verlief. Goethe, der einmal Advokat gewesen ist, hatte eine gesunde Urteilskraft und einen sicheren Instinkt dafür, wie die Dinge anzugreifen sind. Da gab es kein langes Nachschlagen in Dokumenten und Durchstudieren von Akten, wenn ein Fall vorgenommen werden mußte. Das gab es bei Goethe nicht. Er war Praktiker. Und wenn einmal alle Ministerakten des Weimarischen Ministers Goethe veröffentlicht werden — ich habe große Stücke davon gesehen —, dann wird die Welt erst sehen, wie Goethe eine eminent praktische Natur war, kein weltfremder Mensch. Bekannt ist, daß er den Großherzog begleitet hat bei der Rekrutenausbildung nach Apolda. Er beobachtete alles, was vorging — und dabei schrieb er seine «Iphigenie». Vergleichen Sie damit, durch was alles ein heutiger Dichter bei der Arbeit nicht gestört werden darf. Und doch war Goethe ein viel größerer Dichter als alle, die heute nicht gestört werden dürfen. Wegen des eminent praktischen Denkens konnte er zum Beispiel auch sagen, wenn er ans Fenster trat: Heute können wir nicht hinausgehen, denn in drei Stunden wird es regnen. — Er hatte Wolkenstudien gemacht, aber keine grobe Theorie aufgestellt. Es war so, daß sich aus seinem Denken entwickelte, was sich in der Natur draußen entwickelte. Das nennt man gegenständliches Denken. Solches gegenständliches Denken eignet man sich an, wenn man namentlich solche Übungen macht, wie sie eben genannt

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worden sind. Es hängt dies allerdings zusammen mit einer gewissen Selbstlosigkeit, so sonderbar das klingt. Aber Gesetze gibt es auch in der Seele, und derjenige wird nicht viel erreichen, der nur an sich denkt, wenn er solche Experimente macht. Wenn er zum Beispiel eine Tatsache anblickt und dann gleich sagt: Aha, hatte ich’s nicht gesagt! —, so ist das das sicherste Hindernis für das praktische Denken. So könnten wir vieles anführen, um zu zeigen, wie man systematisch in die Hand nehmen kann das interessevolle Haften der Gedanken an den Dingen, so daß man lernt, in den Dingen zu denken.

Das zweite ist Lust und Liebe an allem, was wir tun. Sie sind nur dann in wirklichem Sinne vorhanden, wenn wir auf den Erfolg verzichten können. Wo es nur auf Gelingen ankommt, da sind Lust und Liebe nicht in ungetrübtem Maße vorhanden. Daher kann auch derjenige, dem es nur auf Erfolg ankommt, nicht jene Ruhe im Probieren entwickeln, die nötig ist, damit Lust und Liebe am Tun uns allmählich inspirieren können. Durch nichts lernen wir mehr als durch Handanlegen an alles mögliche, wobei wir verzichten auf alles sogenannte Gelingen. Ich kannte einen Menschen, der hatte die Gewohnheit, sich seine Schulbücher selber einzubinden. Es sah schlecht aus, aber er lernte ungeheuer dadurch. Hätte er auf das Gelingen geschaut, dann hätte er es vielleicht unterlassen. Aber gerade im Tun entwickeln wir die Eigenschaften, die Fähigkeiten, die dann möglich machen, bis in die Handgriffe hinein geschickt zu werden. Wir werden nie geschickt, wenn wir besonders auf den Erfolg unseres Tuns schauen. Wenn wir nicht imstande sind, uns zu sagen, uns sind die Mißerfolge in unserem Tun ebenso lieb wie unsere Erfolge, so werden wir niemals die zweite Stufe erreichen, die notwendig ist, wenn das Denken ausgebildet werden soll.

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Drittens müssen wir Befriedigung finden in dem Denken selber. Das ist etwas, was so anspruchslos aussieht und was heute am meisten bekämpft wird. Wie oft hört man sagen: Wozu brauchen unsere Kinder dies und das zu lernen? Das können sie ja im praktischen Leben nicht brauchen. — Dieser Grundsatz, nur das zu bedenken, was man brauchen kann, ist der allerunpraktischste Grundsatz. Es muß für einen Menschen, wenn er lebenspraktisch denken will, Gebiete geben, wo ihm die bloße denkerische Tätigkeit Befriedigung gewährt. Wenn ein Mensch, sei er was er wolle: Maschinenbauer, Maler, Dichter, Philosoph, Maurer, Zimmermann, Schuster, Schneider —, wenn er nicht Zeit findet, sei es auch nur kurz, irgendetwas zu treiben, was er nur rein denkerisch tut und was ihn denkerisch befriedigt — zum Beispiel nachdenkt über gewisse Fragen, auf deren Lösung er neugierig ist oder über Lebenszusammenhänge, die nichts mit seinem Berufe zu tun haben —, wenn er ein solches Gebiet nicht findet, so kann er immer nur in ausgetretenen Geleisen bleiben. Findet er aber so etwas, das er nur des inneren Interesses wegen tut, dann hat er etwas, das eine große, starke Wirkung auf ihn ausübt» etwas, das in die feinere Organisation, die feinere Gliederung seines Organismus hineinwirkt. Niemals schöpferisch-bildend wirken die Dinge, die uns ans Leben fesseln, uns zum Sklaven machen; die nutzen unsere Fähigkeiten ab, die nehmen uns Lebenskräfte. Die Dinge aber, die wir denkerisch nur zu unserer Befriedigung treiben, die schaffen uns Lebenskräfte, die schaffen uns neue Fähigkeiten, die gehen hinein in die feinste Organisation unseres Wesens und erhöhen unsere Bildung, erhöhen die feinere Gliederung unseres Organismus. Nicht durch Arbeiten für den Nutzen, nicht durch Arbeiten für die Außenwelt, sondern durch das, was wir zu unserer Befriedigung arbeiten, schaffen wir etwas, durch das wir eine

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Entwickelungsstufe weiterkommen. Wenn wir dann mit dieser feineren Organisation wieder an die Praxis herantreten, dann wirkt sich dies auf die Praxis aus, und jeder kann einsehen, daß es richtig ist.

Nehmen Sie ein Bild, zum Beispiel die Sixtinische Madonna von Raffael, und stellen Sie davor einen Menschen und einen Hund. Auf den Hund wird das Bild einen ganz anderen Eidruck machen als auf den Menschen. So ist es auch mit der Lebenspraxis. Bleibt man ans Leben gefesselt, so machen die Dinge auf uns immer denselben Eindruck, und man ist nicht fähig, schöpferisch einzugreifen. Entwickelt man sich in seiner denkerischen Tätigkeit um eine Stufe höher,so steht man den Eindrücken als dasselbe Wesen in zwei verschiedenen Formen gegenüber. Man steht das eine mal davor mit dem, wo man noch nicht an sich gearbeitet hat, das andere mal mit dem, wo man an sich gearbeitet hat. Immer lebenspraktischer wird man, weil die Eindrücke, die die Dinge auf uns machen, immer erhöhtere werden. Daher gibt es zwar Zeitverlust, wenn man so etwas treibt, was der Lebenspraxis nicht unmittelbar angehört, mittelbar fördert es aber die Lebenspraxis in außerordentlicher Weise.

Das sind die drei Stufen einer jeden praktischen Denkausbildung: Interesse an der Umwelt, Lust und Liebe an allem Probieren und Betätigen, und sich fortwährend kontrollieren. Sehen Sie, wie zum Beispiel schon einer der Menschen, die in außerordentlich scharfsinniger Weise in die Zusammenhänge hineingeschaut haben, Leonardo da Vinci, beschreibt, wie man gerade beim Probieren vorgehen kann. Er verschmäht es ja nicht zu sagen, wie man in einer Betätigung das Zeichnen sich allmählich aneignet. Er sagt: Zeichne ab auf Pauspapier, lege das, was du abgezeichnet hast auf die Vorlage, und sieh dir dann an, worin das Abgezeichnete nicht stimmt. Dann mache es noch einmal und

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versuche dabei, an den falschen Stellen das Richtige zu machen. — So zeigt er, wie es auf Lust und Liebe im Betätigen ankommt. Das dritte ist die Befriedigung innerhalb des Nachsinnens, das absieht von der äußeren Welt und ruhig in sich verharren kann.

Das sind solche Dinge, die uns zunächst zeigen können, wie wir durch das Vertrauen gegenüber den Gedanken in der Natur, gegenüber dem Weltengedankenbau hineinwachsen in eine wirklich denkerische Praxis. Aber auch indem wir glauben, daß das Denken selber eine schöpferische Kraft ist, kommen wir weiter. Derjenige wird viel für seine praktische denkerische Ausbildung tun, der systematisch folgendes macht: Er denkt über irgendetwas nach, meinetwegen darüber, was er zu tun habe, oder über eine Frage der Weltanschauung, es kann das Alleralltäglichste sein oder das Allerhöchste. Wenn er nun gleich dabei ist, rasch eine Lösung zu finden, dann wird er in der Regel kein praktisches Denken ausbilden. Dazu gehört vielmehr, sich zu sagen: Du mußt eigentlich dich so wenig wie möglich in deine eigenen Gedanken hineinmischen.— Die meisten Menschen können sich gar nichts dabei denken, wenn man das sagt. Das ist eine Hauptanforderung: daß wir die Gedanken in uns wirken lassen, daß wir uns gewöhnen, zum Schauplatz für das Wirken unserer Gedanken zu werden. Wir könnten denken, es gäbe nur eine einzige Weise, eine bestimmte Sache zu vollbringen, oder nur eine einzige Antwort auf eine Frage. Aber wir sind keine Dogmatiker, für die nur eine einzige Antwort richtig ist. Wenn wir praktisch denken lernen wollen, müssen wir versuchen, uns auch eine andere Antwort selber zu geben, vielleicht auch eine dritte oder eine vierte, ja es gibt Dinge, zu denen man zehnerlei Antworten denken kann. Man muß sich diese alle sorgfältig vor die Seele hinmalen, natürlich nur bei solchen Dingen,

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wo das möglich ist, nicht bei solchen, die rasch gemacht werden müssen; die macht man oft besser schlecht als zu langsam. Hat man zehn mögliche Lösungen, so führe man jede mit Liebe in Gedanken aus. Dann sage man sich: Jetzt will ich überhaupt nicht mehr darüber nachdenken, ich warte bis morgen und lasse die Gedanken in mir wirken. Diese Gedanken sind Mächte, die in meiner Seele wirken, auch wenn ich mit meinem Bewußtsein gar nicht dabei bin. Ich warte bis morgen oder übermorgen, und dann rufe ich mir diesen Gedanken wieder hervor. — Vielleicht mache ich das noch ein zweites oder ein drittes Mal, und jedesmal werde ich die einzelnen Dinge viel klarer überschauen und jetzt besser entscheiden können als vorher. Das ist eine unerhörte Schulung des praktischen Denkens, über eine Sache sich in Gedanken verschiedene mögliche Lösungen vorzulegen, sie dann ruhen zu lassen und später wieder aufzunehmen.

Wer dieses eine Zeitlang macht, der wird sehen, wie vielseitig sein Denken wird, wie er durch eine gewisse Übung sich zu Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit entwickelt. Dann wird man gerade dadurch bis in die alleralltäglichsten Dinge hinein zusammenwachsen mit dem Leben und erkennen, was geschickt und ungeschickt, was tölpisch und was weise ist. Es wird einem gar nicht einfallen, sich so zu benehmen, wie sich oft sogenannte praktische Menschen benehmen. Ich habe schon viele praktische Menschen kennengelernt, die die ausgetretenen Bahnen ihres Berufes sehr gut befahren können; wenn Sie solche Menschen einmal in anderen Lebenslagen sehen, meinetwegen auf Reisen, da sieht es mit der Praxis oft recht sonderbar aus. Der Beweis, daß die praktische Ausbildung des Denkens zu wirklicher Lebenspraxis führen kann, liegt in der Erfahrung. Bis in die Hände hinein, bis in die Art und Weise, wie man etwas an-

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faßt, wird das wirken. Viel weniger werden Sie Teller und Töpfe fallen lassen als andere Menschen, wenn Sie in solcher Weise auf Ihr Inneres wirken. Praktisches Denken wirkt bis in die Glieder hinein. Wenn es tätig und nicht in abstrakter Weise vorgenommen wird, so macht es biegsam und schmiegsam.

Aber das unpraktische Denken zeigt sich gerade da am alleranschaulichsten, wo die denkerische Praxis wirken sollte, zum Beispiel in der Wissenschaft. Ich habe Ihnen als Beispiel das hypothetische Experiment aus der Astronomie angeführt. Man hat ja oft die Möglichkeit, die Erfahrung zu machen, wie furchtbar unpraktisch gerade die Wissenschaftler von heute sind. Unsere Wissenschaft soll ja mit ihrer realen methodischen Arbeit, mit ihrer ausgezeichneten Tätigkeit nicht im geringsten angegriffen werden. Aber die Gedanken, welche sich die heutigen Menschen machen, sind oft geradezu etwas Schauderhaftes. Unsere Mikroskope und die Fotografie sind sehr ausgebildet. Man kann alle möglichen geheimnisvollen Tatsachen an den verschiedenen kleinen Wesen beobachten. Man beobachtet Pflanzen und sieht gewisse merkwürdige Gebilde an diesen Pflanzen, etwa facettenartige Organe wie die Augen einer Fliege, und an manchen Pflanzen sieht man sogar so etwas wie Linsen an dieser oder jener Stelle. An anderen Pflanzen sieht man, wie gewisse Insekten angezogen werden, dann schließen die Pflanzen ihrer Blätter zusammen und fangen die Insekten. Das wird alles ausgezeichnet beobachtet. Wie erklärt man aber bei dem unpraktischen Denken der Gegenwart diese Erscheinungen? Man verwechselt die Seele des Menschen, die ja die äußeren Vorgänge innerlich widerspiegelt, mit dem, was man rein äußerlich an den Pflanzen beobachtet. Man redet von Beseelung der Pflanze, und man wirft durcheinander Pflanzenseele, Tierseele und Menschen-

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sede. Man wirft das durcheinander. Gewiß soll hier nichts eingewendet werden gegen die wunderbaren Naturbeobachtungen, die durch populäre Schriften in der Welt bekannt gemacht werden. Aber das Denken unserer Zeitgenossen wird konfus gemacht, wenn irgend jemand sagt, gewisse Pflanzen hätten ihren Magen an der Oberfläche, mit dem sie die Nahrung hereinziehen und verschlingen. Dieser Gedanke ist ungefähr so, wie wenn jemand sagt: Ich kenne ein Wesen, das ist kunstreich organisiert und hat ein Organ an sich, wodurch etwas wie eine magnetische Kraft auf kleine Lebewesen ausgeübt wird, so daß sie angezogen und verschlungen werden —; dieses Wesen, das ich im Auge habe, das ist die Mausefalle! Dieser Gedanke ist ganz derselbe wie der, welcher die Beseelung der Pflanze annimmt. Sie könnten ganz in demselben Sinne sprechen von einer Beseelung der Mausefalle, wie Sie von Beseelung der Pflanze reden, wenn Sie wirklich in dieser eigenartigen Weise denken.

Es handelt sich darum, daß man in die ureigene Natur des Denkens einzudringen vermag, und daß man auch auf solchem Gebiete kein «innerer Wagenschieber» wird. Und noch etwas anderes ist wichtig für die praktische Ausbildung des Denkens und das ist, daß man Vertrauen hat zu dem inneren geistigen Denkorgan. Bei den meisten Menschen sorgt ja die gütige Natur dafür, daß dieses geistige Denkorgan nicht gar zu sehr ruiniert wird dadurch, daß der Mensch schlafen muß. Und weil das Geistige dann nicht aufhört, weil es immer da ist, wirkt dieses Denkorgan für sich, und der Mensch kann es nicht fortwährend ruinieren. Es ist aber doch etwas ganz anderes, ob der Mensch bei wichtigen und ernsten Tatsachen des Lebens für das Denken nur die Natur sorgen läßt, oder ob er dies selbst in die Hand nimmt. Das Denkorgan in sich wirken lassen, ohne

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daß man dabei ist, das ist ein sehr, sehr wichtiger Grundsatz. Und das übt man dadurch, daß man, wenn auch noch so kurze Zeit des Tages versucht, einmal gar nicht zu denken. Ein großer, gewaltiger Entschluß gehört dazu, irgendwo zu sitzen oder zu liegen, ohne sich Gedanken durch den Kopf gehen zu lassen. Es ist viel leichter, diese auf- und abwogenden Gedanken in sich spielen zu lassen, bis man von ihnen erlöst wird durch einen guten Schlaf, als sich zu gebieten: Jetzt wirst du wach sein und dennoch wirst du nicht selber denken, sondern du wirst gar nichts denken. Wenn man in der Lage ist, still zu sitzen oder zu liegen und bei vollem Bewußtsein nichts zu denken, dann wirkt das Denkorgan so, daß es in sich Kraft gewinnt, Kraft ansammelt. Und wer immer wieder sich in diese Möglichkeit versetzt, bei vollem Bewußtsein nicht zu denken, der wird sehen, wie die Klarheit seines Denkens zunimmt, wie namentlich die Schlagfertigkeit dadurch wächst, daß er nicht bloß durch den Schlaf seinen Denkapparat sich selbst überläßt, sondern daß er unter eigener Führung diesen Denkapparat selber arbeiten läßt.

Nur wer von allen Geistern der Spiritualität verlassen ist, kann glauben, daß dann überhaupt nicht gedacht wird. Hier gilt das Wort, das Goethe von der Natur sagt: «Gedacht hat sie und sinnt beständig.» Auch das tiefste innere Wesen des Menschen hat Gedanken, hegt Gedanken, wenn auch der Mensch mit seinen bewußten Gedanken nicht dabei ist. Und auch in dem Falle, wo der Mensch gar nicht dabei ist bei seinem Denken, dann denkt doch etwas in ihm, dessen er sich nur nicht bewußt ist. In diesen Momenten, so der Mensch ohne seine eigenen persönlichen Gedanken daliegt, denkt wirklich ein Höheres in ihm, und dieses Höhere wirkt ungeheuer bildend und erziehend auf ihn. Das ist wesentlich und wichtig, daß der Mensch auch das Über-

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bewußte, das Göttliche in sich wirken und weben läßt, das sich nicht unmittelbar, aber in seinen Wirkungen ankündigt. Man wird nach und nach ein klarer und schlagfertiger Denker, wenn man sich solchen Denkübungen hingegeben hat. Es gehört eine gewisse Tatkraft und Energie dazu, solche Denkübungen zu pflegen.

Sie sehen an den einzelnen Beispielen, die heute gegeben worden sind, wie man dieses Denken durch eigene Kraft erziehen kann. Es konnten heute nur einzelne Beispiele der Selbsterziehung des Denkens gegeben werden, aber diese Beispiele haben gezeigt, daß man auf wirkliche Heilmittel des Denkens hinzuweisen vermag, deren Früchte nur die Erfahrung, das Leben selbst geben kann. Wer so sein Denken schult, der wird finden, daß er auf der einen Seite hinaufsteigen kann in die höchsten Gebiete geistigen Lebens, daß er aber auf der andern Seite auch im Bereich des alltäglichen Lebens dieses Denken betätigen kann. Das was gewonnen wird beim Überblicken der großen geistigen Tatsachen, das soll angewendet werden auf das praktische Leben. Alle Gebiete des täglichen Lebens, besonders aber auch die Pädagogik, könnten eine ungeheure Befruchtung hierdurch erfahren, und eine ganz andere Anschauung über Lebenspraxis würde sich rings um uns geltend machen. Aber auch derjenige, der die in ihm schlummernden Eigenschaften entwickeln will, um in die geistigen Gebiete hinaufzudringen, würde eine sichere Basis haben und fest im Leben stehen. Das ist etwas, was durchaus gefordert werden muß, bevor jemand in die höheren geistigen Gebiete hinaufdringt. Und auch die gewöhnliche Wissenschaft würde Ungeheures gewinnen können, wenn sie sich befruchten ließe durch die Geisteswissenschaft.

Die Wagenschieber des Denkens, die sich oft für große Praktiker halten, haben nicht dieses praktische Denken;

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ihnen fehlt es. Sie vermögen nicht, irgend etwas zurückzuführen auf einen einfachen, umfassenden Gedanken. Das ist, was die Geisteswissenschaft uns gibt: sie macht uns fähig, das, was sonst klein und ausziseliert ist im Leben, mit großen, umfassenden Gesichtspunkten zu überschauen. Dadurch wird der Mensch zur Überschau kommen, daß er von großen Gesichtspunkten aus ins Kleine hineinzudenken vermag; dann wird er zu wirklicher Lebenspraxis geführt.

Sehen wir Leonardo da Vinci, der auf vielen Gebieten ein Praktiker war, ihn können wir zum Vorbild nehmen. Er sagte: Die Theorie ist der Kapitän, die Praxis sind die Soldaten. — Wer ein Praktiker sein will, ohne die Gesichtspunkte des praktischen Denkens zu beherrschen, der ist gleich dem, der auf ein Schiff geht ohne Kompaß, er hat nicht die Möglichkeit, das Schiff in richtiger Weise zu steuern. Goethe hat wiederholt aus seiner praktischen Denkweise heraus gezeigt, wie gerade die Gelehrsamkeit durch unpraktisches Denken zu unfruchtbarem Spintisieren kommt. Da gibt es Leute, welche die Außenwelt auf Atome, und andere, die sie auf Bewegungen zurückführen; andere leugnen wieder die Bewegung. Demgegenüber weisen die praktischsten Denker darauf hin, daß Einfachheit aus der Größe der Weltanschauung kommt. Er ist durchaus treffend, der Ausspruch, und wir können uns den Goetheschen Spruch vor Augen stellen:

Es mag sich Feindliches eräugnen,
Du bleibe ruhig, bleibe stumm;
Und wenn sie Dir die Bewegung leugnen,
Geh ihnen vor der Nas' herum.

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DIE UNSICHTBAREN GLIEDER DER MENSCHENNATUR UND DAS PRAKTISCHE LEBEN Berlin, 18. Februar 1909

Wenn von der praktischen Bedeutung des Unsichtbaren, besonders des Unsichtbaren in des Menschen eigenem Wesen die Rede sein soll, so darf vielleicht durch einen Vergleich veranschaulicht werden, was gemeint ist. Praktisch sind diejenigen Menschen zu nennen, welche ihren Blick, ihre Anschauung auf die übersinnliche Anschauung des Daseins lenken, und unpraktisch diejenigen, die beim bloß Äußerlichen stehenbleiben wollen, beim bloßen Physischen. Ist der eigentlich der wahre Praktiker, der vor sich liegen hat ein zu einem Magneten zugerichtetes, hufeisenförmiges Eisen, und der dann dieses Ding verwendet zu irgend etwas, wozu es ihm brauchbar erscheint nach dem äußeren Augenschein? Oder ist ein solcher Mensch nicht im wahren Sinn des Wortes unpraktisch zu nennen, und praktisch allein der, der sich sagt: In diesem Stück Eisen ruht etwas, was mir eine viel höhere, edlere Anwendung möglich macht, als der bloße Sinnenschein vermuten läßt. - Das ist freilich nur ein Vergleich, denn wir dürfen die höheren Kräfte, von denen heute die Rede sein soll, nicht mit irgendeiner Naturkraft vergleichen. Aber praktisch ist nur der, welcher die inneren Kräfte aus den Dingen heraussucht und die Dinge nach ihren wahren Werten gebrauchen kann. Gegenüber denen, die von einem gewissen praktischen Sinne sich leiten lassen, könnte man J. G. Fichtes Wort von der praktischen Bedeutung der Ideale anführen. Fichte versuchte, die Bestimmung

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des Menschen an hohen Idealen zu erläutern. In der Einleitung zu den Vorlesungen über «Die Bestimmung des Gelehrten» verwahrt er sich von vornherein dagegen, als ob jemand, der von solchen hohen idealistischen Standpunkten aus spricht, nicht wüßte, was dagegen eingewandt werden kann, nämlich, daß Ideale nicht unmittelbar im praktischen Leben dargestellt werden können. Das wissen die, welche diese Ideale aufstellen, vielleicht besser als die Gegner. «Wir behaupten nur, daß nach ihnen die Wirklichkeit beurteilt, und von denen, die dazu Kraft in sich fühlen, modifiziert werden müsse. Gesetzt, sie könnten auch davon sich nicht überzeugen, so verlieren sie dabei, nachdem sie einmal sind, was sie sind, sehr wenig; und die Menschheit verliert nichts dabei. Es wird dadurch bloß das klar, daß nur auf sie nicht im Plane der Veredlung der Menschheit gerechnet ist. Diese wird ihren Weg ohne Zweifel fortsetzen; über jene wolle die gütige Natur walten und ihnen zu rechter Zeit Regen und Sonnenschein, zuträgliche Nahrung und ungestörter Umlauf der Säfte und dabei - kluge Gedanken verleihen!»

Hierauf kann besonders heute hingedeutet werden. Wir wollen uns kurz die unsichtbaren Glieder der Menschennatur vor die Seele führen. Geisteswissenschaft spricht von diesen unsichtbaren Gliedern der Menschennatur, aber nicht als von etwas, was wie ein Anhängsel des Sichtbaren da wäre, sondern sie spricht gerade von dem Geistigen als von dem Schöpferischen des Sichtbaren. Ein fast auf der Hand liegendes Beispiel ist folgendes: Jeder, auch einer, der nicht hineinblicken kann in die Werkstätte des geistigen Lebens, sollte sich immer wieder vor Augen führen, damit er lernt zu glauben, daß das Übersinnliche der Grund des Sinnlichen ist, die Schamgefühle und die Furchtgefühle. Was sind sie? Zweifellos für den, der nicht vertrackt denkt, seelische Erlebnisse. Irgend etwas, müssen wir sagen, ist da, was uns

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bedroht; die Seele fühlt sich bedroht. Das kommt zum Ausdruck in Angst- und Furchtgefühlen. Gewiß könnten wir mancherlei physische Vermittlungen anführen. Das wäre selbstverständlich leicht, und der moderne Forscher würde kaum etwas anführen können, was der Geisteswissenschaftler nicht auch wüßte. Aber das, worauf es ankommt, ist, daß das Blut zurückgedrängt wird von der Oberfläche des Leibes dem Mittelpunkt zu.

Wir haben also einen materiellen Vorgang als Folge eines seelischen. Dasselbe ist der Fall beim Schamgefühl. Wir haben da wieder eine Umlagerung des Blutes, eine Änderung der Zirkulation unter Einwirkung eines Geistigen. Das, was man hier im kleinen sieht und was man im größeren Maßstabe beobachten kann, wenn infolge eines traurigen Ereignisses Tränen aus den Augen fließen, zeigt, daß das Seelische Ursache sein kann für körperliche Vorgänge. Freilich gibt es heute unter dem Einfluß unserer nicht offensichtlichen, sondern geheimen materialistischen Denkweise Leute, die auch hier materialistische Anschauungen geltend machen. Ich habe auch hier schon den Ausspruch einer gewissen Weltanschauung angeführt: Man weint nicht, weil man traurig ist, sondern man ist traurig, weil man weint. Dieser Ausspruch ist eigentlich ausgegangen von jemand, der idealistisch dachte, aber er ist verkehrt gedeutet worden. Das sind ausgewachsene materialistische Denkungsweisen. Wer sich aus der materialistischen Grundlage unserer Zeit ein Stück gesunden Denkens gerettet hat, der wird in solchen offensichtlichen Zusammenhängen zwischen physischen Tatsachen und geistig-seelischen Tatsachen etwas sehen, was ihn allmählich dazu bringen kann, zu verstehen, daß die Geisteswissenschaft von ihrem Standpunkt aus sagen muß: Alles, alles Materielle hat geistigen Ursprung.

So liegt dem, was wir am Menschen sehen, was wir an

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ihm mit Händen greifen können, etwas Geistiges zugrunde, etwas Seelisches, in dem wir nicht etwa einen Einfluß des Physischen zu sehen haben, sondern gerade den Urgrund des Physischen. Physischen Leib nennen wir das am Menschen, was er gemeinsam hat mit allen ihn umgebenden Wesen, was er mit der mineralischen Welt gemeinsam hat. Dem physischen Leib des Menschen liegt als nächstes, überphysisches, übersinnliches Glied der Menschennatur zugrunde der Äther- oder Lebensleib. Er ist dasjenige, was während der ganzen Zeit des Lebens den physischen Leib des Menschen hindert, ein Leichnam zu sein, ihn hindert, allein den Gesetzen des Physischen zu folgen. Einen solchen Ätherleib haben auch Pflanzen und Tiere, einen Ätherleib, der für den, der bloß philosophisch denkt, erschlossen werden kann durch das Denken, der aber für den Hellsehenden ein Wirkliches ist wie das Physische auch. Spirituelle Denkweise wehrt sich gerne dagegen, den Menschenleib als eine Maschine aufzufassen, braucht sich aber gar nicht dagegen zu wehren, wenn man nicht ein «innerer Wagenschieber des Denkens» ist. Man kann durchaus sagen, der Menschenleib ist ein komplizierter Mechanismus, wenn man Physisches und Chemisches mit in das Mechanistische hineinbeziehen will. Aber wie hinter jeder Maschine ein Erbauer und Erhalter stehen muß, so auch hier, und das ist der Äther- oder Lebensleib, der ein treuer Kämpfer ist gegen den Verfall. Erst im Tode trennt er sich vom physischen Leibe, und dann folgt der physische Leib als Leichnam seinen physischen Gesetzen. Aber dann ist er eben auch Leichnam. Der Ätherleib ist eine sicherere Realität als der bloße physische Leib.

Verfolgen wir den Menschen nun weiter, so kommen wir zu einem anderenGliede seinerWesenheit, das jederMensch sich schon klarmachen könnte, wenn er sich sagte: Vor mir steht ein Mensch, physischer Leib und Ätherleib. Wäre nun

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in diesem Menschen nichts anderes enthalten, als was von außen gesehen werden kann, was die Physiologie und so weiter uns erschließt? Oh, es ist noch etwas anderes da, etwas ganz anderes: die Summe von Gefühlen, Empfindungen, Begierden und Wünschen, Schmerzen und Leiden, Trieben und Leidenschaften. Alles dies macht den astralischen Leib aus. Nun könnte man sagen: Man kann sich doch nicht denken, daß diese Dinge eine abgeschlossene Realität bilden. - Aber der Geisteswissenschaftler kann das feststellen durch die Gabe des Hellsehens. Es ist da der Astralleib ebenso, wie das Physische da ist. Aber der gesunde Menschenverstand könnte sich auch so schon sagen, daß so etwas wie ein astralischer Leib da sein muß. Warum könnte man sich das sagen? Ich will Ihnen ein Beispiel geben, wo sozusagen mit Händen zu greifen ist, wie der astralische Leib eigentlich arbeitet. Es gibt Menschen, die sagen: Wenn der Mensch die physische Welt betritt, so ist er noch nicht so ausgebildet wie später. Die äußere Wissenschaft kann feststellen, daß zwar die Sinne und die dazugehörenden Nervenorgane im Gehirn vorhanden sind, daß aber alles das, was die einzelnen Sinnesorgane im Gehirn verbindet, sich verhältnismäßig erst spät ausbildet. Man kann förmlich verfolgen, wie sich die Verbindungsstränge von der Gehörs- zur Gesichtssphäre erst ausbilden, die Nervenbahnen, die den Menschen erst zum Denker machen. Also — schließt der Materialist - sieht man, wie die inneren Teile sich allmählich entwickeln und dann erst im Menschen aufblitzen lassen die Welt von Empfindungen, Vorstellungen, Leiden, Freuden, Gedankenkomplexe und so weiter.- Stellen wir einmal vor unser Nachdenken hin diesen Gang der Entwickelung des menschlichen Gehirns. Die komplizierten Gedankengänge, welche die Welträtsel lösen, werden allmählich ausgebildet. Stellen wir das vor unser Nachdenken hin. Sind

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wir imstande, das, was sich da herausbildet, einen bloßen Mechanismus zu nennen, der sich selber aufbaut? Man kann ebenso den Wunderbau bewundern, wie bei einer Uhr. Aber der wäre ein Tor, der glauben wollte, die Uhr sei von selbst geworden. Wer etwas kann, kann auch nur wieder ausbilden, was er kann. Einer, der die Sekunden, Minuten, die Gesetze der Uhr in sich gehabt hat, der hat sie erst zusammengefügt; einer hat vorausgedacht, was wir zuletzt nachdenken. Ist nichts da, was diese Verbindungsfäden im Gehirn so zusammenfügt, daß Sie zuletzt ein Denker werden? Ich meine, ein gesundes Denken müßte einsehen, daß für das, was da sich ausbildet, ein Baumeister da sein muß, der die Fäden zusammenfügt, damit Sie dann ein Denker werden können. Wir sind nur uns und unserm gesunden Menschenverstand treu, wenn wir sagen, ein astralischer Leib muß aufgebaut haben das physische Gehirn. In den ersten Wochen und Monaten und Jahren des Kindes baut der astralische Leib erst das Werkzeug auf, das imstande ist, später die Welträtsel zu lösen. Wer das nicht glaubt, handelt ebenso wie der, der eine Maschine gebrauchen will, aber leugnet, daß ein Konstrukteur da war, der sie gebaut hat. Es wird schon die Zeit kommen, wo wiederum gesundes Urteilen in den Menschen waltet, wo sie sich sagen, daß zuerst der geistige Baumeister da sein muß, wenn etwas werden soll. Vor des Menschen Geburt ist er schon da, dieser Baumeister. Das dritte Glied des Menschen ist dieser astralische Leib, das, was wieder dem Materiellen zugrunde liegt.

Das vierte Glied des Menschen ist das Ich, das, was ihn zur Krone der Schöpfung macht. Den physischen Leib hat der Mensch gemeinsam mit allen Mineralien, den Ätherleib mit allen Pflanzen, den Astralleib mit den Tieren. Durch das Ich erhebt er sich über die drei Naturreiche. Deshalb haben alle Religionen wohl ihr Augenmerk darauf gerich-

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tet, daß es in den Sprachen, in der deutschen Sprache zum Beispiel, einen Namen nur gibt, der sich von allen andern unterscheidet. Eines gibt es, was nie von außen genannt werden kann: das ist das, was in uns als unser Innerstes ist. Kein Name kann von außen an uns herandringen, wenn er uns selber bedeutet. Deshalb war in der althebräischen Religion das «Ich» der unaussprechliche Name, der für alle andern unaussprechlich war.

Das sind die vier niederen Glieder der Menschennatur, von denen nur eines sichtbar ist. Die drei anderen sind etwas Wirkliches, Reales, ja, die Urgründe für das Reale. Jedes Glied ist Grundwesenheit und Ursache in seinem ganzen Wesen für den nächst niedereren Leib; der Ich-Träger für den Astralleib, der Astralleib für den Ätherleib, der Ätherleib für den physischen Leib. Alles das, was die eigentlichen Ich-Erlebnisse sind, was der Mensch dadurch erlebt, daß er ein selbstbewußtes Wesen ist, alles das drückt sich ab im astralischen Leib. Hier prägen sich alle Ich-Erlebnisse aus. Dadurch entsteht alles dasjenige, was im Menschen vorübergehendes Vorstellen, Urteilen und Fühlen ist. Was im astralischen Leibe lebt, drückt sich aus, prägt sich ab im ätherischen oder Lebensleib, und dadurch wird es zu einem Dauernden, zu einem solchen, das nicht vorübergehend ist, sondern das sich in einem gewissen Sinne erhält. Nehmen wir an, wir fällen ein vorübergehendes Urteil; über dieses oder jenes bilden wir eine Vorstellung. Bilden wir eine Vorstellung wieder und immer wieder, so wird sie eine gewohnte Vorstellung. Dadurch, daß sie eine gewohnte Vorstellung wird, prägt sie sich in den ätherischen Leib hinein. Was im Gedächtnis lebt, was wir uns merken von Tag zu Tag, lebt in unserem Äther- oder Lebensleib. Daß wir einmal ein Klavierstück spielen, liegt in unserem astralischen Leibe; daß wir die Fähigkeit, die Gewohnheit des Spielens erwer-

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ben, liegt im Ätherleibe. Alle Gewohnheiten sind im Ätherleibe oder Lebensleibe. Wenn wir ein sittliches Urteil fällen, so ist das wieder eine Tat des astralischen Leibes. Wenn sich uns eine gewisse Richtung des Urteilens durch wiederholtes Urteilen einprägt, so wird das sittliche Urteil zu einem dauernden, zum Gewissen. Das sittliche Urteil ist ein Erlebnis des astralischen Leibes, das Gewissen ist ein Erlebnis des Äther- oder Lebensleibes. So sehen wir, wie durch die Wechselwirkung der höheren Glieder mit den niedern Gliedern das ganze Menschenleben sich von innen nach außen aufbaut.

Insofern der Mensch ein bloßes Naturwesen ist, hat er den Äther- oder Lebensleib zunächst gemeinsam mit den Pflanzen. Was in den Pflanzen die Säfte auf- und niedersteigen läßt, was bewirkt, daß sie sich ernähren, sich fortpflanzen, das bewirkt beim Menschen dasselbe. Aber diesem Äther- oder Lebensleib wird von oben herunter eingeprägt, was wir Gewohnheit, Übung oder was wir Gewissen nennen. So wird den Menschen von oben eingeprägt, was ein Seelisch-Geistiges ist. Die Erlebnisse der höheren Glieder übertragen sich immer mehr und mehr auf die unteren Glieder. Da sehen wir, wie wichtig es ist für den Menschen, daß er eine Ahnung davon habe, daß die höheren Glieder hineinwirken müssen in die dichteren Glieder. Es ist so in des Menschen Hand gestellt, in gesunder, praktischer Weise hineinzuwirken in die niedern Glieder.

Der Mensch kann das, was ihm von der Natur gegeben ist, wieder verderben. Wie bei der Pflanze nur Mißwuchs entstehen könnte, wenn der Äther- oder Lebensleib das, was vorgeht, nicht regeln würde, so entsteht beim Menschen ein innerer Mißwuchs, wenn er in unrichtiger Weise von innen aus, vom Ich aus auf die niedern Glieder wirkt. Der astralische Leib muß in gesunder Weise von den Erlebnissen

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des Ichs durchdrungen werden. Wer nicht zugeben will, daß beim Aufbau des Gehirnes beim Kinde ein astralischer Leib arbeitet, der wird sich auch nicht bewußt werden, wie wichtig es ist, daß das Ich richtig auf den astralischen Leib einwirkt. Wer das aber einsieht, wird sich sagen: Du kannst da fortwirken, wo die Natur aufgehört hat. Wenn du die ganze Skala der Empfindungen in gesunder Weise ablaufen läßt, so wirkt dies weiter auf deinen physischen Leib, auf dein Gehirn, und so baust du dir selbst deinen physischen Leib während deines ganzen Lebens auf.

Wie viele Menschen laufen heute herum mit dem, was man Schreibkrampf nennt! Der ganze Wunderbau des menschlichen Leibes ist in wunderbarer Weise konstruiert. Der Mensch paßt seine Hand durch alles, was er tut, der Welt draußen an. Dieses Zusammenwirken der Hand mit dem Äußeren löst sich in gewisser Weise von ihm los, wenn er nicht imstande ist, seine Hand zu durchglühen, zu durchkraften mit seinem inneren Leben. Es ist das ein ähnlicher Vorgang, wie wenn einer sich künstliche Zähne einsetzen läßt. Das ist das Wesentliche, daß wir alles das, was wir als unser Eigenes erhalten können, durchglüht und durchkraftet haben von unserm Ich. Zittrige Hände bekommen Sie nur, wenn in gewissem Grade die Hände sich loslösen von den übrigen Kräften. Das sind Dinge, die in einer gar nicht so fernen Zukunft in intensivstem Maße wieder werden berücksichtigt werden, und dann wird man einsehen, was es heißt, den Menschen wieder in seinem Geiste zu ergreifen.

Ich will das an einem Beispiele klarmachen. Bleiben wir auf unserem Gebiete! Es wird sich zeigen, wie dasjenige, was im Geiste sich abspielt, tatsächlich den Menschen ergreift und ihn geeignet oder ungeeignet macht für das Leben, praktisch oder unpraktisch. Nehmen wir einen Menschen, der dadurch unpraktisch ist für das Leben, daß er unter ge-

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wissen Furchtgefühlen leidet, so daß dadurch Nervosität entsteht. Dieses Wort läßt schon die ganze Summe von Unpraxis anklingen. Jeder Mensch, der sich in irgendeiner Beziehung nicht vollständig in der Hand hat, wird als nervös charakterisiert, oder man gebraucht das Schlagwort von der erblichen Belastung, wenn irgend etwas fehlt, beziehungsweise etwas vorliegt, was den Menschen unpraktisch macht fürs praktische Leben. Alle diese Dinge rühren nicht etwa her aus einer sorgfältigen Beobachtung der wirklichen Tatsachen, sondern weil man unter der Einwirkung materialistischer Denkungsweise keinen Sinn dafür hat, das Geistige, das Feinere, zu verfolgen. Es ist wichtig, zu verfolgen, ob in den ersten Zeiten des Lebens, wo in so intensiver Weise vom Unsichtbaren her am Sichtbaren gearbeitet wird, ob da alles richtig verläuft und nicht gestört wird. Was hier versäumt wird, das kann später nicht wieder gut gemacht werden. Wenn irgend etwas nicht fein genug ausziseliert ist, so entstehen im ganzen Leben die mannigfaltigsten Unstimmigkeiten. Der Mensch, der nicht imstande ist, im astralischen Leib harmonisierende Erlebnisse auf- und abwogen zu lassen, wird sich immer in gewisser Weise fürs Leben untauglich machen. Statt bei Angst- und Furchtgefühlen nach erblicher Belastung zu forschen, sollten wir lieber suchen, wie sich durch dieses oder jenes Erlebnis etwas ausgebildet hat, was verhärtend, verholzend wirkt auf den physischen Leib. Es könnte zum Beispiel sein, braucht aber nicht immer so zu sein, daß ein gut Teil dessen, was man Platzfurcht nennt, unter Umständen durch eine ganz bestimmte Art der kindlichen Erziehung in den Menschen eingeimpft worden ist. Und er kommt nicht los von diesem Übel, weil ihm später die Mittel fehlen, das wieder um und um zu rühren. Denken wir uns einmal Kinder, die eigentlich das ganze Jahr hindurch alle Festlichkeiten nur

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dadurch erkennen, daß sie mit Geschenken überhäuft werden! Sie bekommen mehr, als sie zerstören können. Dieses unverdiente Zufließen von Gaben legt gewisse Strebenskräfte, die gesundes Selbstgefühl erzeugen würden, lahm. So etwas kann schlummern in der Zeit im Menschen, wo die äußere Ausbildung den Menschen erfüllt, oder ein neuer Beruf ihn ganz in Anspruch nimmt; aber das tritt einmal auf in der Form der Platzfurcht.

Das kann man nicht einsehen, wenn man nicht versteht, was es bedeutet, wie der astralische Leib sich nach und nach umsetzt in das, was der Mensch in seinem physischen, wahrnehmbaren Verhalten ist. Oder wir können finden, wenn bei einem Menschen irgendwie ganz bestimmte Zustände der Untauglichkeit auftreten, daß in seiner Seele irgend etwas ist, was auf seiner Seele lastet. Er kann es nicht sagen, nicht gestehen und meint, es verheimlichen zu müssen. Dadurch, daß der Mensch den Weg nicht findet zu dem Wort, ergreift es die niedern Glieder und wirkt so fort. Wie wohltätig wirkt es auf den Menschen, wenn er so etwas beichten kann! Dann hat er das Gefühl, jetzt liegt es nicht mehr als Stein in deiner Seele, und dieses Gefühl der Erleichterung wirkt gesundend. Die Beichte ist in dieser Beziehung ein wichtiges Arzneimittel. Das haben die Religionsgemeinschaften gewußt. Da sehen wir, wie das unsichtbare Innere des Menschen sozusagen auf das Sichtbare wirkt, und sogar gewisse vernünftige Mediziner sehen schon ein, daß man Untauglichkeiten für das praktische Leben nicht wohl heilen kann durch Kaltwasserkuren, sondern so, daß man eine Art Beichte einleiten muß, etwas loslösen muß vom Menschen, wenn Heilung eintreten soll.

Nun wollen wir einmal die Kehrseite betrachten. Es gibt heute vernünftige Mediziner, die sich sagen, man müsse sich an die Seele des Menschen wenden, wenn man wissen wolle,

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wie der Mensch in gewisser Beziehung untauglich wird. Diese Mediziner wissen, daß Freude und Lust Heilmittel sind, daß sie gesundend wirken, daß sie das, was verholzt und verknöchert ist, wieder aufweichen, wieder in unsere Gewalt bringen. Aber das ist nicht genug, gerade so wenig, wie es genügt, wenn jemand sagt, das verborgene Geheimnis muß losgelöst werden von der Seele des Menschen. Sie wissen nicht, daß alles, was ein Erlebnis des Innern ist, doch seine große Bedeutung hat, wenn es auch verkehrt auftritt. Sollen wir alles Geheimnisvolle in der Menschennatur aufheben, weil es bei manchen Menschen verkehrt wirkt? Sollen wir etwa, wie es da und dort gefordert wird, die Ärzte zu Beichtvätern machen? Es kann auch unendlich gesundend für die Seele sein, wenn sie in der Lage ist, den Schleier des Geheimnisses über manche Dinge zu ziehen. Ein persischer Spruch sagt: Die Zeit, die man zum schweigenden Nachdenken verwendet, bevor man etwas sagt, die erspart man in bezug auf die Zeit der Reue über das, was man unbedacht gesagt hat! Goethe hat nicht umsonst das Wort vom «offenbaren Geheimnis» gesprochen. In allem Sinnlichen, das uns umgibt, können wir etwas sehen an Geheimnisvollem, etwas, das so tief in den Dingen liegt, daß man es nicht aussprechen kann, das aber auch so von Seele zu Seele flutet. Und Gesundheit breitet sich aus, wenn der Mensch so das Geheimnis des Lebens fühlen kann.

Dieses Geheimnis des Lebens wird besonders durch Geisteswissenschaft gepflegt. Allerdings macht sie es den Menschen nicht so leicht, an die Dinge heranzukommen. Es ist nicht so bequem, an sie heranzukommen. Die Geisteswissenschaft kann nur anregen, nur sagen, das und jenes ist da. Dann muß der Mensch an sich selbst herantreten und muß mitarbeiten. Unbequem mag es sein, aber unendlich gesund ist es. Dadurch wird das innerste Glied der mensch-

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lichen Wesenheit angeregt; Geisteswissenschaft wirkt unmittelbar auf das Ich. Wenn wir von der Planetenentwickelung hören, wenn uns erzählt wird, was die unsichtbaren Glieder der Menschennatur sind, was von Leben zu Leben geht mit dem Menschen — durch alles das wird unmittelbar an das Idi appelliert. Alle diese großen Ideen, alle diese weltumfassenden Ideen bleiben nicht trockene Ideen und Abstraktionen. Wärme und Seligkeit strahlt von ihnen aus, Wärme und Seligkeit durchstrahlt und durchwogt den astralischen Leib des Menschen. Zufriedenheit und Seligkeit geht hervor aus dem, was die Geisteswissenschaft bietet. Und das, was den Menschen so als Wärme, als Feuer durchwebt und durchglüht, das geht weiter in seinen Lebensleib. Alles, was Kräfte des Ätherleibes sind, wird durchzogen von den Kräften der Geisteswissenschaft selber, und der Ätherleib überträgt die Kräfte wiederum auf den physischen Leib, überträgt sie als Geschicklichkeit, so, daß zum Beispiel die Hand geschickt und praktisch wird, wenn die großen, erhabenen Ideen der Geisteswissenschaft sich bis in den physischen Leib hinein ergießen.

Geisteswissenschaft macht das Gehirn zu einem schmiegsamen, biegsamen Werkzeuge, so daß es von den Vorurteilen loskommen kann. Geisteswissenschaft wirkt mit starker Kraft herunter bis in den physischen Leib des Menschen. Bis zu den praktischen Handgriffen hin kann der Mensch eingetaucht werden in Geisteswissenschaft. Ich will Ihnen dafür ein Beispiel geben. Es ist gewiß nützlich, wenn man dem Kinde heute das Turnen möglich macht. Es ist das eine außerordentlich gesunde Übung, wenn sie richtig betrieben wird. Schon in dem Vortrage über Erziehung habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß es wichtig ist, sich dabei bewußt zu bleiben, daß der Mensch nicht nur ein physischer Apparat ist, sondern von höheren Gliedern durchgeistigt

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ist. Man soll sich ganz hineinversetzen können in den Turnenden, um jede Regung des ätherischen und astralischen Leibes mitzufühlen. Einen Turnlehrer kannte ich, der war ein großer Theoretiker. Er kannte den physischen Leib des Menschen ganz genau. Er hatte auch theoretischen Turnunterricht zu geben. Darauf kommt es nicht an, daß man das Physische genau kennt, sondern darauf, daß er bei jeder Übung eine Erhöhung des inneren Behagens erlebt. Man soll zweckvoll erleben, was die einzelne Übung sein soll. Wer ein lebendiges Gefühl, nicht nur eine abstrakte Vorstellung des physischen Leibes hat, der weiß, daß man ein lebendiges Gefühl haben kann für alles das, was das Kind erlebt, zum Beispiel beim Hinaufklettern einer Leiter. Es ist ein Turnen denkbar, das so harmonisch wirkt im Zusammenwirken von ätherischem und physischem Leib, daß der beste Grund gelegt wird für ein gutes Gedächtnis im späteren Alter. Auch das, was sichtbar vorgeht, wird nur dann richtig verstanden, wenn es aus der Geisteswissenschaft heraus verstanden wird. Wir hätten im Turnen das beste Mittel gegen das schwindende Gedächtnis im Alter, wenn man den Turnunterricht aus der Geisteswissenschaft heraus würde betreiben wollen.

Geisteswissenschaft ist keine Theorie, nichts Dogmatisches, sondern etwas, das dem Leben Lebendiges mitteilt. Man wird einst einsehen, daß nur durch Geisteswissenschaft der Mensch ein wahrer Lebenspraktiker werden kann. Nur der ist ein Lebenspraktiker, der dieses Leben handhaben kann, der nicht sein Sklave ist. Der Mensch soll durch seine unsichtbaren Glieder immer Herr bleiben seiner äußeren Natur. Nur dadurch wird der Mensch Praktiker bis ins letzte Glied seines Lebens hinein, daß er immer Führer ist des Leiblichen. Derjenige Mensch ist ein Lebenspraktiker, der also aus einem wahren Verständnis seiner Glieder her-

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aus verstehen kann, was Fichte gesagt hat, was aber so oft falsch verstanden wird. Das wird des Menschen Ideal sein, wenn er von seinem Unsichtbaren wieder das Sichtbare lenken wird: «Der Mensch kann, was er soll; und wenn er sagt: Ich kann nicht, so will er nicht.»

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DAS GEHEIMNIS DER MENSCHLICHEN TEMPERAMENTE Berlin, 4. März 1909

Es ist oftmals betont worden, daß des Menschen größtes Rätsel der Mensch selber ist. Im Grunde sucht alle tiefere Naturforschung ihr letztes Ziel dadurch zu erreichen, daß sie alle Naturvorgänge zusammenfaßt, um die äußere Gesetzmäßigkeit zu begreifen, und alle Geisteswissenschaft sucht die Quellen des Daseins deswegen auf, um des Menschen Wesenheit und Bestimmung zu begreifen, zu lösen. Wenn das also ohne Frage richtig ist, daß im allgemeinen des Menschen größtes Rätsel der Mensch selber ist, so muß auf der anderen Seite wiederum betont werden, was jeder von uns bei jeder Begegnung mit Menschen fühlt und empfindet, daß jeder einzelne Mensch im Grunde wieder ein Rätsel für den anderen und in den meisten Fällen für sich selber ist. Nicht mit den allgemeinen Daseinsrätseln haben wir es heute zu tun, wohl aber mit jenem für das Leben nicht weniger bedeutsamen Rätsel, das uns jeder Mensch bei jeder Begegnung aufgibt. Denn wie unendlich verschieden sind die Menschen in ihrem individuellen, tiefsten Innern! Man braucht nur das Wort Temperament auszusprechen, das heute unserm Vortrag zugrunde liegen soll, um zu sehen, daß der Rätsel so viele sind wie Menschen. Innerhalb der Grundtypen, der Grundfärbungen, haben wir eine solche Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit unter den Menschen, daß man wohl sagen kann, daß innerhalb der eigentümlichen Grundstimmung des menschlichen Wesens, die man

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Temperament nennt, das eigentümliche Daseinsrätsel sich ausdrückt. Und da, wo die Rätsel eingreifen in die unmittelbare Lebenspraxis, da spielt die Grundfärbung des menschlichen Wesens, das Temperament, eine Rolle. Wenn uns der Mensch entgegentritt, so fühlt man, daß etwas von dieser Grundstimmung uns entgegentritt. Deshalb darf man nur hoffen, daß die Geisteswissenschaft das Nötige zu sagen hat auch über das Wesen der Temperamente.

Man fühlt, die Temperamente des Menschen gehören zu dem Äußeren, denn, wenn man auch zugeben muß, daß die Temperamente aus dem Innern quellen, so drücken sie sich doch aus in allem, was uns äußerlich am Menschen vor Augen tritt. Durch eine äußere Naturbetrachtung ist das Rätsel des Menschen aber nicht zu lösen. Nur dann kann man der eigentümlichen Färbung des menschlichen Wesens nahetreten, wenn wir erfahren, was die Geisteswissenschaft über den Menschen zu sagen hat. Wir erfahren da, daß wir im Menschen zunächst dasjenige haben, wodurch der Mensch sich hineinstellt in seine Vererbungslinie. Er zeigt die Eigenschaften, die er ererbt hat von Vater, Mutter, Großeltern und so weiter. Diese Merkmale vererbt er wiederum auf seine Nachkommen. Dadurch, daß der Mensch so in eine Generationenreihe hineingestellt ist, daß er Ahnen hat, dadurch hat er gewisse Eigenschaften. Aber dasjenige, was er ererbt von seinen Vätern hat, gibt uns nur eine Seite der menschlichen Wesenheit. Hiermit verbindet sich dasjenige, was der Mensch aus der geistigen Welt mitbringt, was er zu dem hinzubringt, was ihm Vater und Mutter, was ihm die Ahnen geben können. Mit dem, was da herunterfließt in der Generationsströmung, verbindet sich etwas anderes, das von Leben zu Leben, von Dasein zu Dasein geht. Auf der einen Seite sagen wir: Das oder das hat der Mensch von seinen Ahnen. - Wir sehen aber, wenn wir einen Menschen

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von Kindheit an sich entwickeln sehen, wie sich aus dem Kern seiner Natur heraus das entwickelt, was die Frucht vorhergehender Leben ist, was er niemals von seinen Vorfahren ererbt haben kann. Wir kennen das Gesetz der Wiederverkörperung, der Folge der Lebensläufe. Das ist nichts anderes, als der spezielle Fall eines allgemeinen Weltgesetzes.

Nicht so paradox erscheint es uns, wenn wir uns überlegen: Sehen wir uns ein lebloses Mineral an, einen Bergkristall. Er hat eine regelmäßige Form. Geht er zugrunde, so hinterläßt er nichts von seiner Form, was bestehen bleibt, was auf andere Bergkristalle übergehen könnte. Der neue Kristall bekommt nichts von seiner Form. Steigen wir hinauf aus der Welt des Mineralischen in die Welt des Pflanzlichen, so wird uns klar, daß nicht aus demselben Gesetz heraus, wie beim Bergkristall, eine Pflanze entstehen kann. Eine Pflanze kann nur da sein, wenn sie sich herleitet von der Vorfahrenpflanze. Hier wird die Form erhalten und hinübergeleitet in die andere Wesenheit. Gehen wir hinauf in die Tierwelt, so finden wir, wie eine Entwickelung der Art stattfindet. Wir sehen, wie gerade das neunzehnte Jahrhundert seine größten Ergebnisse darin gesehen hat, diese Entwickelung der Art aufzufinden. Wir sehen, wie nicht nur aus einer Form eine andere hervorgeht, sondern wie jedes junge Tier im Leibe der Mutter noch einmal die früheren Formen, die niederen Entwickelungsphasen durchmacht, die seine Vorfahren gehabt haben. Bei den Tieren haben wir eine Steigerung der Art.

Beim Menschen haben wir nicht nur eine Steigerung der Art, eine Entwickelung der Gattung, sondern eine Entwickelung der Individualität. Was der Mensch sich im Laufe seines Lebens durch Erziehung, durch Erfahrung erwirbt, das geht ebensowenig verloren wie die Vorfahren-

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reihe der Tiere. Es wird eine Zeit kommen, wo man den Wesenskern des Menschen zurückführen wird auf ein vorheriges Dasein. Man wird erkennen, daß das menschliche Wesen eine Frucht eines früheren Daseins ist. Die Widerstände, gegen die diese Lehre sich einleben muß, werden überwunden werden, geradeso, wie die Meinung der Gelehrten früherer Jahrhunderte überwunden wurde, daß Lebendiges aus Unlebendigem, zum Beispiel aus Flußschlamm entstehen könne. Noch vor dreihundert Jahren glaubte die Naturforschung, daß sich Tiere aus Flußschlamm, also aus Unlebendigem, entwickeln könnten. Es war ein italienischer Naturforscher, Francesco Redi, der zuerst die Behauptung aufstellte, daß Lebendiges nur aus Lebendigem entstehen könne. Er wurde angegriffen wegen dieser Lehre; fast wäre es ihm gegangen wie Giordano Bruno. Heute ist ja das Verbrennen nicht mehr Mode. Wer heute mit einer neuen Wahrheit hervortritt, wer zum Beispiel Seelisch-Geistiges auf Seelisch-Geistiges zurückführen will, den wird man ja heute nicht gerade verbrennen, aber man wird ihn für einen Narren ansehen. Es wird eine Zeit kommen, wo es für einen Unsinn angesehen werden wird, zu meinen, daß der Mensch nur einmal lebt, daß nicht etwas Bleibendes da ist, das sich verbindet mit dem, was die vererbten Merkmale sind.

Nun entsteht die große Frage: Wie kann dasjenige, was aus ganz anderen Welten stammt, was sich Vater und Mutter suchen muß, sich vereinen mit dem Leiblich-Physischen, wie kann es sich umkleiden mit dem, was die körperlichen Merkmale sind, durch die der Mensch hineingestellt wird in die Vererbungslinie? Wie geschieht die Vereinigung der beiden Strömungen, der geistig-seelischen Strömung, in die der Mensch hineingestellt ist durch die Wiederverkörperung, und der leiblichen Strömung der Vererbungslinie? Es

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muß ein Ausgleich geschaffen werden. Indem die beiden Strömungen sich vereinigen, färbt die eine Strömung die andere. Sie färben sich gegenseitig. So wie sich die blaue und die gelbe Farbe etwa vereinigen in dem Grün, so vereinigen sich die beiden Strömungen im Menschen zu dem, was man sein Temperament nennt. Hier strahlt aus das Seelische des Menschen und die natürlichen vererbten Merkmale. In der Mitte drinnen steht, was das Temperament ist, mitten zwischen dem, wodurch der Mensch sich anschließt an seine Ahnenreihe und dem, was er mitbringt aus seinen früheren Verkörperungen. Das Temperament gleicht das Ewige mit dem Vergänglichen aus. Dieser Ausgleich geschieht dadurch, daß dasjenige, was wir als die Glieder der menschlichen Natur kennengelernt haben, in ganz bestimmter Art und Weise miteinander ins Verhältnis tritt.

Wir kennen diesen Menschen, wie er uns entgegentritt im Leben, zusammengeflossen aus diesen beiden Strömungen, wir kennen ihn als eine viergliedrige Wesenheit. Zuerst kommt der physische Leib in Betracht, den der Mensch gemeinsam hat mit der mineralischen Welt. Als erstes übersinnliches Glied erhält er den Ätherleib eingegliedert, der das ganze Leben hindurch mit dem physischen Leib vereinigt bleibt; nur im Tode tritt eine Trennung der beiden ein. Als drittes Glied folgt der Astralleib, der Träger von Instinkten, Trieben, Leidenschaften, Begierden und von all dem, was an Empfindungen und Vorstellungen auf- und abwogt. Des Menschen höchstes Glied, das, wodurch er über alle Wesen hinausragt, ist der Träger des menschlichen Ichs, das ihm in so rätselhafter Weise, aber auch in so offenbarer Weise, die Kraft des Selbstbewußtseins gibt. Diese vier Glieder sind uns entgegengetreten in der menschlichen Wesenheit.

Dadurch nun, daß zwei Strömungen im Menschen zu-

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sammenfließen, wenn er hineintritt in die physische Welt, dadurch entsteht eine verschiedene Mischung der vier Wesensglieder des Menschen, und eines erhält sozusagen die Herrschaft über die anderen und drückt ihnen die Färbung auf. Beherrscht der Ich-Träger die übrigen Glieder des Menschen, so herrscht das cholerische Temperament vor. Herrscht der Astralleib über die anderen Glieder, so sprechen wir dem Menschen ein sanguinisches Temperament zu. Herrscht vor der Äther- oder Lebensleib, so sprechen wir vom phlegmatischen Temperament. Und ist vorherrschend der physische Leib, so handelt es sich um ein melancholisches Temperament. Gerade wie sich Ewiges und Vergängliches miteinander mischen, so tritt das Verhältnis der Glieder zueinander ein. Es ist oft auch schon gesagt worden, wie im physischen Leibe die vier Glieder sich äußerlich ausprägen. Das Ich drückt sich in der Zirkulation des Blutes aus. Deshalb ist beim Choleriker vorherrschend das Blutsystem. Der Astralleib findet seinen physischen Ausdruck im Nervensystem; wir haben deshalb beim Sanguiniker im physischen Leibe tonangebend das Nervensystem. Der Ätherleib drückt sich physisch aus im Drüsensystem; deshalb ist beim Phlegmatiker im physischen Leibe tonangebend das Drüsensystem. Der physische Leib als solcher kommt nur im physischen Leibe zum Ausdruck; deshalb ist der physische Leib beim Melancholiker das äußerlich Tonangebende. In allen Erscheinungen, die uns in den einzelnen Temperamenten entgegentreten, können wir dies sehen.

Beim Choleriker ist vorzugsweise das Ich und das Blutsystem vorherrschend. Dadurch tritt er auf als der Mensch, der sein Ich unter allen Umständen durchsetzen will. Von der Zirkulation des Blutes schreibt sich alles Aggressive des Cholerikers her, alles was mit der starken Willensnatur des Cholerikers zusammenhängt. Im Nervensystem und Astral-

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leib sind die auf- und abwogenden Empfindungen und Gefühle. Nur dadurch, daß diese durch das Ich gebändigt werden, kommt Harmonie und Ordnung hinein. Würde er sie nicht durch sein Ich bändigen, so würden sie auf- und abfluten, ohne daß man bemerken könnte, der Mensch übt irgendeine Herrschaft über sie aus. Der Mensch würde hingegeben sein allem Wogen von Empfindung zu Empfindung, von Bild zu Bild, von Vorstellung zu Vorstellung und so weiter.

Etwas von dem tritt ein, wenn der astralische Leib vorherrscht, also beim Sanguiniker, der in gewisser Weise den auf- und abwogenden Bildern, Empfindungen und Vorstellungen hingegeben ist, da bei ihm der Astralleib und das Nervensystem vorherrschen. Das, was des Menschen Blutzirkulation ist, ist der Bändiger des Nervenlebens. Was tritt ein, wenn ein Mensch blutarm, bleichsüchtig ist, wenn der Bändiger nicht da ist? Dann tritt ein zügelloses Auf- und Abfluten der Bilder; Illusionen, Halluzinationen treten auf. Einen kleinen Anflug davon haben wir beim Sanguiniker. Der Sanguiniker kann nicht bei einem Eindruck verweilen, er kann nicht festhalten an einem Bilde, er haftet nicht mit seinem Interesse an einem Eindruck. Er eilt von Lebenseindruck zu Lebenseindruck, von Wahrnehmung zu Wahrnehmung. Das kann man besonders beim sanguinischen Kinde beobachten; da kann es einem Sorge machen. Leicht ist Interesse da, ein Bild fängt leicht an zu wirken, macht bald einen Eindruck, aber der Eindruck ist bald wieder verschwunden.

Gehen wir jetzt zum phlegmatischen Temperament über! Wir sahen, daß das phlegmatische Temperament dadurch entsteht, daß vorherrschend gemacht ist das, was wir Ätheroder Lebensleib nennen, das, was des Menschen Wachstumsund Lebensvorgänge im Innern regelt. Es kommt das in

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innerer Behaglichkeit zum Ausdruck. Je mehr der Mensch in seinem Ätherleib lebt, desto mehr ist er in sich selber beschäftigt, und läßt die äußeren Dinge laufen. Er ist in seinem Innern beschäftigt.

Beim Melancholiker haben wir gesehen, daß der physische Leib, also das dichteste Glied der menschlichen Wesenheit, der Herr wird über die anderen. Immer, wenn der dichteste Teil Herr wird, dann fühlt das der Mensch so, daß er nicht Herr ist darüber, daß er ihn nicht handhaben kann. Denn der physische Leib ist das Instrument, das er durch seine höheren Glieder überall beherrschen soll; jetzt aber herrscht dieser physische Leib, setzt dem anderen Widerstand entgegen. Das empfindet der Mensch als Schmerz, Unlust, als die trübselige Stimmung des Melancholikers. Es ist immer ein Aufsteigen von Schmerzen da. Von nichts anderem rührt diese Stimmung her, als daß der physische Leib der innern Behaglichkeit des Ätherleibes, der Beweglichkeit des Astralleibes und der Zielsicherheit des Ichs Widerstände entgegenstellt.

Was wir da sehen als die Mischung der vier Wesensglieder des Menschen, das tritt uns im äußeren Bilde klar und deutlich entgegen. Wenn das Ich vorherrscht, will der Mensch sich gegen alle äußeren Widerstände durchsetzen, will in Erscheinung treten. Es hält dann förmlich die anderen Glieder des Menschen im Wachstum zurück, den Astralleib und den Ätherleib, läßt sie nicht zu ihrem Rechte kommen. Rein äußerlich tritt das einem schon entgegen. Johann Gottlieb Fichte zum Beispiel, der deutsche Choleriker, ist schon äußerlich als solcher kenntlich. Er verriet schon äußerlich deutlich im Wuchs, daß die anderen Wesensglieder zurückgehalten worden sind. Oder ein klassisches Beispiel eines Cholerikers ist Napoleon, der so klein geblieben ist, weil das Ich die anderen Wesensglieder zu-

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rückgehalten hat. Es handelt sich nun natürlich nicht darum, daß behauptet wird, der Choleriker sei klein und der Sanguiniker groß. Wir dürfen die Gestalt des Menschen nur mit seinem eignen Wuchs vergleichen. Es kommt darauf an, in welchem Verhältnis zur ganzen Gestalt der Wuchs steht.

Beim Sanguiniker herrscht das Nervensystem, der Astralleib vor. Er wird in seinem in sich beweglichen Leben an den Gliedern arbeiten; er wird auch das äußere Abbild des Menschen so beweglich wie möglich machen. Haben wir beim Choleriker scharf geschnittene Gesichtszüge, so beim Sanguiniker bewegliche, ausdrucksvolle, sich verändernde Gesichtszüge. Sogar in der schlanken Gestalt, im Knochenbau, sehen wir die innere Beweglichkeit des Astralleibes am ganzen Menschen. In den schlanken Muskeln zum Beispiel kommt sie zum Ausdruck. Das ist auch zu sehen in dem, was der Mensch äußerlich darlebt. Auch wer nicht hellsehend ist, kann dem Menschen schon von hinten ansehen, ob er Sanguiniker oder Choleriker ist. Dazu braucht man nicht Geisteswissenschaftler zu sein. Sieht man einen Choleriker gehen, so kann man beobachten, wie er jeden Fuß so setzt, als ob er bei jedem Schritt nicht nur den Boden berühren wolle, sondern als ob der Fuß noch ein Stück in den Boden hineingehen sollte. Beim Sanguiniker dagegen haben wir einen hüpfenden, springenden Gang. Auch feinere Merkmale finden sich in der äußeren Gestalt. Die Innerlichkeit der Ich-Natur, die geschlossene Innerlichkeit des Cholerikers tritt uns entgegen in dem schwarzen Auge des Cholerikers. Sehen Sie sich den Sanguiniker an, bei dem die Ich-Natur nicht so tief gewurzelt ist, bei dem der astralische Leib seine ganze Beweglichkeit ausgießt, da ist das blaue Auge vorherrschend. So könnten viele Merkmale angeführt werden, die das Temperament in der äußeren Erscheinung zeigen.

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Das phlegmatische Temperament tritt einem entgegen in der unbeweglichen, teilnahmslosen Physiognomie, in der Fülle des Körpers, besonders in der Ausarbeitung der Fettpartien; denn das ist das, was besonders der Ätherleib ausarbeitet. In alledem tritt uns die innere Behaglichkeit des Phlegmatikers entgegen. Er hat einen schlotternden Gang. Er tritt sozusagen nicht ordentlich auf, setzt sich nicht in Beziehung zu den Dingen. — Und sehen Sie sich den Melancholiker an, wie er zumeist einen vorhängenden Kopf hat, nicht aus sich heraus die Kraft hat, den Nacken zu steifen. Das Auge ist trübe; da ist nicht der Glanz des schwarzen Cholerikerauges. Der Gang ist zwar fest, aber es ist nicht der Gang des Cholerikers, das feste Auftreten des Cholerikers, sondern es ist etwas Schleppend-Festes.

So sehen Sie, wie bedeutsam Geisteswissenschaft zur Lösung dieses Rätsels beitragen kann. Aber nur, wenn man auf die ganze Wirklichkeit geht, zu der auch das Geistige gehört, wenn man nicht bloß bei dem sinnlich Wirklichen bleibt, kann Lebenspraxis folgen aus der Erkenntnis. Deshalb kann nur aus Geisteswissenschaft diese Erkenntnis fließen, so daß es zum Heile der ganzen Menschheit und des einzelnen ist. Bei der Erziehung muß sehr genau auf die Art des Temperamentes geachtet werden, denn bei den Kindern ist es besonders von Wichtigkeit, dieses sich entwickelnde Temperament leiten und lenken zu können. Aber auch später bei der Selbsterziehung ist es noch wichtig für den Menschen. Bei dem, der sich selbst erziehen will, ist es wertvoll, daß er achte auf das, was sich in seinem Temperamente ausdrückt.

Ich habe Ihnen hier die Grundtypen angeführt. So rein kommen sie im Leben natürlich nicht vor. Jeder Mensch hat nur den Grundton eines Temperamentes, daneben hat er von den anderen. Napoleon hatte zum Beispiel viel Phleg-

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matisches in sich, obwohl er ein Choleriker war. Wenn wir das Leben praktisch beherrschen, so kommt es darauf an, daß wir auf unsere Seele dasjenige wirken lassen können, was sich typisch ausdrückt. Wie wichtig es ist, das sieht man am allerbesten, wenn man bedenkt, daß die Temperamente ausarten können, daß das, was uns in der Einseitigkeit entgegentreten kann, auch ausarten kann. Was wäre die Welt ohne die Temperamente, wenn die Menschen nur ein Temperament hätten! Das Langweiligste, was Sie sich denken könnten! Langweilig wäre die Welt ohne die Temperamente, nicht nur im sittlichen, sondern auch im höheren Sinne. Alle Mannigfaltigkeit, Schönheit und aller Reichtum des Lebens sind nur möglich durch die Temperamente. Bei der Erziehung handelt es sich nicht darum, die Temperamente auszugleichen, zu nivellieren, sondern es handelt sich darum, sie in die richtigen Geleise zu bringen. Aber in jedem Temperamente liegt eine kleine und eine große Gefahr der Ausartung. Beim cholerischen Menschen liegt in der Jugend die Gefahr vor, daß ein solcher Mensch durch Zornwütigkeit, ohne daß er sich beherrschen kann, sein Ich eingeprägt erhält. Das ist die kleine Gefahr. Die große Gefahr ist die Narrheit, die aus ihrem Ich heraus irgendein einzelnes Ziel verfolgen will. Beim sanguinischen Temperamente ist die kleine Gefahr die, daß der Mensch in Flatterhaftigkeit verfällt. Die große Gefahr ist, daß das Auf- und Abwogen der Empfindungen in Irrsinn einmündet. Die kleine Gefahr des Phlegmatikers ist die Interesselosigkeit gegenüber der äußeren Welt; die große Gefahr ist die Idiotie, der Stumpfsinn. Die kleine Gefahr beim melancholischen Temperament ist der Trübsinn, die Möglichkeit, daß der Mensch nicht herauskommt über das, was im eignen Innern aufsteigt. Die große Gefahr ist der Wahnsinn.

Wenn wir uns das alles vorhalten, so werden wir sehen,

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daß in dem Lenken und Leiten der Temperamente eine bedeutsame Aufgabe der Lebenspraxis liegt. Aber um die Temperamente zu leiten, ist der Grundsatz zu beachten, daß immer mit dem gerechnet werden muß, was da ist, nicht mit dem, was nicht da ist. Hat ein Kind ein sanguinisches Temperament, so können wir ihm nicht dadurch in der Entwickelung weiterhelfen, daß wir Interesse hineinprügeln wollen; man kann nicht ihm einbleuen etwas anderes, als was eben sein sanguinisches Temperament ist. Wir sollen nicht fragen: Was fehlt dem Kinde, was sollen wir ihm einprügeln? - sondern wir sollen fragen: Was hat ein sanguinisches Kind in der Regel? Und damit müssen wir rechnen. In der Regel werden wir eines finden, ein Interesse kann immer erregt werden; das Interesse für irgendeine Persönlichkeit, wenn das Kind auch noch so flatterhaft ist. Wenn wir die richtige Persönlichkeit nur sind, oder wenn wir ihm die richtige Persönlichkeit beigesellen können, so tritt das Interesse schon auf. Nur auf dem Umwege der Liebe zu einer Persönlichkeit kann beim sanguinischen Kinde Interesse auftreten. Mehr als jedes andere Temperament braucht das sanguinische Kind Liebe zu einer Persönlichkeit. Alles muß getan werden, daß bei einem solchen Kinde die Liebe erwache. Liebe ist das Zauberwort. Wir müssen sehen, was da ist. Wir müssen sehen, allerlei Dinge in die Umgebung des Kindes zu bringen, von denen man doch bemerkt hat, daß es tieferes Interesse daran hat. Diese Dinge muß man zum Sanguiniker sprechen lassen, muß sie auf das Kind wirken lassen, muß sie ihm dann wieder entziehen, damit das Kind sie wieder begehrt, und sie ihm von neuem geben. Man muß sie so auf das Kind wirken lassen, wie die Gegenstände der gewöhnlichen Welt auf das sanguinische Temperament wirken.

Beim cholerischen Kinde gibt es auch einen Umweg, durch

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den die Entwickelung immer zu leiten ist. Hier heißt das, was die Erziehung sicher leitet: Achtung und Schätzung einer Autorität. Hier handelt es sich nicht um ein Beliebtmachen durch die persönlichen Eigenschaften, wie beim sanguinischen Kinde, sondern es kommt darauf an, daß das cholerische Kind immer den Glauben hat, daß der Erzieher die Sache versteht. Man muß zeigen, daß man in den Dingen Bescheid weiß, die um das Kind vorgehen. Man darf sich nicht eine Blöße geben. Das Kind muß immer den Glauben erhalten, daß der Erzieher die Sache kann, sonst hat er sofort verspielt. Ist Liebe zur Persönlichkeit das Zaubermittel beim sanguinischen Kinde, so Achtung und Schätzung des Wertes einer Person das Zauberwort beim cholerischen Kinde. Ihm müssen besonders solche Gegenstände in den Weg geführt werden, die ihm Widerstand entgegensetzen. Widerstände, Schwierigkeiten müssen ihm in den Weg gelegt werden. Man muß versuchen, ihm das Leben nicht so leicht zu machen.

Das melancholische Kind ist nicht leicht zu leiten. Hier aber gibt es wieder ein Zaubermittel. Wie beim sanguinischen Kinde Liebe zur Persönlichkeit, beim cholerischen Schätzung und Achtung des Wertes des Erziehers die Zauberworte sind, so ist beim melancholischen Kinde das, worauf es ankommt, daß die Erzieher Persönlichkeiten sind, die im Leben in einer gewissen Weise geprüft sind, die aus einem geprüften Leben heraus handeln und sprechen. Das Kind muß fühlen, daß der Erzieher wirkliche Schmerzen durchgemacht habe. Lassen Sie das Kind merken an allen den hunderterlei Dingen des Lebens die eigenen Lebensschicksale. Das Mitfühlen mit dem Schicksale dessen, der um einen ist, wirkt hier erziehend. Auch hier beim Melancholiker muß man rechnen mit dem, was er hat. Er hat Schmerzfähigkeit, Unlustfähigkeit; die sitzen in seinem

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Innern, die können wir nicht ausprügeln. Aber wir können sie ablenken. Lassen wir ihn gerade im Außenleben berechtigten Schmerz, berechtigtes Leid erfahren, damit er kennenlernt, daß es Dinge gibt, an denen er Schmerz erleben kann. Das ist es, worauf es ankommt. Nicht soll man ihn zerstreuen: dadurch verhärten Sie seine Trübsinnigkeit, seinen Schmerz im Innern. Er soll sehen, daß es Dinge im Leben gibt, an denen man Schmerz erfahren kann. Wenn man es auch nicht zu weit treiben darf, so kommt es doch darauf an, daß an den äußeren Dingen Schmerz erregt wird, der ihn ablenkt.

Der Phlegmatiker darf nicht einsam aufwachsen. Wenn es bei den anderen schon gut ist, Gespielen zu haben, so ist das besonders beim Phlegmatiker der Fall. Er muß Gespielen haben mit den mannigfaltigsten Interessen. Er kann erzogen werden durch das Miterleben der Interessen und möglichst vieler Interessen der anderen Persönlichkeiten. Wenn er sich gleichgültig verhält gegen das, was in der Umgebung ist, so kann sein Interesse angefacht werden dadurch, daß die Interessen der Gespielen, der Gesellen auf ihn wirken. Kommt es beim melancholischen Kinde auf das Miterleben des Schicksals einer anderen Persönlichkeit an, so beim phlegmatischen auf das Miterleben der Interessen seiner Gespielen. Nicht Dinge als solche wirken auf den Phlegmatiker; aber wenn sich die Dinge in anderen Menschen spiegeln, dann spiegeln sich diese Interessen in der Seele des phlegmatischen Kindes. Dann sollen wir besonders darauf sehen, daß wir Gegenstände in seine Umgebung bringen, Ereignisse in seiner Nähe geschehen lassen, wo das Phlegma am Platze ist. Man muß das Phlegma auf die richtigen Gegenstände lenken, denen gegenüber man phlegmatisch sein darf.

So sehen wir bei diesen Erziehungsgrundsätzen, wie die

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Geisteswissenschaft eingreift in die praktischen Fragen des Lebens. Auch die Selbsterziehung kann der Mensch hier in die Hand nehmen. Nicht dadurch kommt zum Beispiel der Sanguiniker zum Ziele, daß er sich sagt: Du hast ein sanguinisches Temperament, das mußt du dir abgewöhnen. - Der Verstand, direkt angewandt, ist auf diesem Gebiete oft ein Hindernis. Indirekt vermag er dagegen viel. Der Verstand ist hier die allerschwächste Seelenkraft. Bei stärkeren Seelenkräften, wie es die Temperamente sind, vermag der Verstand direkt sehr wenig, kann nur indirekt wirken. Der Mensch muß mit seinem Sanguinismus rechnen; Selbstermahnungen fruchten nicht. Es kommt darauf an, den Sanguinismus am rechten Orte zu zeigen. Wir können uns durch den Verstand Erlebnisse schaffen, für die das kurze Interesse des Sanguinikers berechtigt ist. Wenn wir also solche Verhältnisse auch noch so sehr im Kleinen herbeiführen, bei denen das kurze Interesse am Platze ist, so wird es schon hervorrufen, was nötig ist. Beim cholerischen Temperament, da ist es gut, solche Gegenstände zu wählen, durch den Verstand solche Verhältnisse herbeizuführen, bei denen es uns nichts hilft, daß wir toben, wo wir durch unser Toben uns selbst ad absurdum führen. Das melancholische Temperament soll nicht an den Schmerzen und Leiden des Lebens vorbeigehen, sondern soll sie gerade aufsuchen, soll mitleiden, damit sein Schmerz abgelenkt werde an die richtigen Gegenstände und Ereignisse. Sind wir Phlegmatiker, die keine Interessen haben, so ist es gut, daß wir uns möglichst viel mit recht uninteressanten Gegenständen beschäftigen, uns mit recht viel Quellen der Langweile umgeben, daß wir uns gründlich langweilen. Dann werden wir uns gründlich kurieren von unserem Phlegma, es uns gründlich abgewöhnen. So rechnet man mit dem, was da ist, und nicht mit dem, was nicht da ist.

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Wenn wir so mit Lebensweisheit uns durchdringen, dann wird sich uns das Grundrätsel des Lebens, das uns der einzelne Mensch bietet, lösen können. Nicht dadurch ist es zu lösen, daß wir abstrakte Vorstellungen und Begriffe hinpfahlen. Das allgemeine Menschenrätsel kann man in Bildern lösen. Dieses einzelne Rätsel ist nicht durch das Hinpfahlen der abstrakten Vorstellungen und Begriffe zu lösen, sondern wir müssen jedem einzelnen Menschen so entgegentreten, daß wir ihm unmittelbares Verständnis entgegenbringen. Das kann man aber nur, wenn man weiß, was im Grunde der Seele ist. Die Geisteswissenschaft ist etwas, das langsam und allmählich sich eingießt in unsere ganze Seele, so daß sie die Seele nicht nur für die großen Zusammenhänge empfänglich macht, sondern auch für die feinen Einzelheiten. Bei der Geisteswissenschaft ist es so, daß, wenn eine Seele der anderen gegenübersteht, und diese fordert Liebe, so wird ihr die Liebe entgegengebracht. Wenn sie etwas anderes fordert, so wird sie ihr das andere geben. So schaffen wir durch solche wahre Lebensweisheit soziale Untergründe. Das heißt in jedem Augenblicke ein Rätsel lösen. Nicht durch Predigt, Ermahnung, Moralpauken wirkt Anthroposophie, sondern dadurch, daß sie einen sozialen Untergrund schafft, in welchem der Mensch den Menschen erkennen kann. Die Geisteswissenschaft ist der Untergrund des Lebens, und die Liebe ist die Blüte und Frucht eines solchen von der Geisteswissenschaft angeregten Lebens. Daher darf die Geisteswissenschaft sagen, daß sie etwas gründet, das einen Boden ergibt für das, was das schönste Ziel der menschlichen Bestimmung ist: die echte, wahre Menschenliebe.

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DIE RÄTSEL IN GOETHES «FAUST» EXOTERISCH Berlin, 11. März 1909

Es war im August 1831, da siegelte Goethe ein Paket ein und übergab es seinem treuen Sekretär Eckermann und traf die testamentarische Verfügung zur Herausgabe des eingesiegelten Schatzes. Denn dieses Paket enthielt in einem umfassenden Sinne Goethes ganzes Lebensstreben. Es enthielt den zweiten Teil von Goethes «Faust», der erst nach Goethes Tod veröffentlicht werden sollte. Goethe hatte selbst das Bewußtsein, daß er den Inhalt seines reichen, weit verzweigten und in die Tiefen des Menschendaseins gehenden Lebens in dieses Werk hineingelegt hatte; und wie sehr für ihn selbst dieser Augenblick bedeutungsvoll war, das mag aus den Worten hervorgehen, die er in dieser Zeit sprach. Er sagte: Nun habe ich eigentlich mein Lebenswerk abgeschlossen; was ich weiterhin tue, und ob ich überhaupt noch etwas tue, das ist gleichgültig!

Wenn man eine solche Tatsache auf die Seele wirken läßt, dann sagt man sich: In schönerer und harmonischerer Weise kann eigentlich nicht leicht ein Menschenleben für die übrige Menschheit fruchtbar gemacht werden, und zwar, was das Wesentliche ist, bewußt fruchtbar gemacht werden. Und es hat etwas tief Erschütterndes, wenn man Goethes Leben von diesem Zeitpunkt an - es dauerte ja nicht mehr ein Jahr - verfolgt und eine solche Tatsache auf sich wirken läßt wie die, daß er dann noch einmal Ilmenau besuchte und jene schönen Verse wieder las, die er am 7. September 1783, also sozusagen in seiner Jugend, geschrieben hatte:

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Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.

Da mag man sich wohl sagen: Mögen diese Verse dazumal in der Jugend auch eine Augenblicksstimmung bedeutet haben, sie ordneten sich dem Gesamtbild Goethes in einer neuen Weise ein, als er sie an seinem Lebensabend unter Tränen der Rührung wieder las.

Goethes «Faust» ist wirklich in literarischer und geistiger Beziehung ein Testament allerersten Ranges an die Menschheit. Was Goethe damals 1831 zum Abschluß brachte, nachdem er neuerdings seit dem Jahre 1824 energisch an diesem zweiten Teil des «Faust» gearbeitet hatte, das war seit der frühesten Jugend Goethes begonnen. Denn wir sehen, wie Goethe seit dem Anfang der siebziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts in seiner Seele fühlte, was man die faustische Stimmung nennen könnte, und wie er dann 1774 begann, die ersten Teile seines «Faust» niederzuschreiben. Und in den wichtigen Augenblicken seines Lebens kam er immer wieder auf diese Dichtung seines ganzen Daseins zurück.

Merkwürdig tritt es uns vor Augen: Er bringt mit nach Weimar, da er nach seiner Art eintritt in die große Welt, die ersten Partien des «Faust». Sie erscheinen da allerdings noch nicht, aber dadurch, daß von einer weimarischen Hofdame, Fräulein von Göchhausen, eine Abschrift von dem damals mitgebrachten «Faust» erhalten geblieben ist, haben

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wir heute noch die Gestalt des «Faust», wie sie in der Dichtung war, als Goethe in Weimar eintraf. Bekannt ist dann die Gestalt, in welcher der «Faust» im Jahre 1790 zum ersten Male gedruckt an die Öffentlichkeit trat; dann weiterhin die Fassung, die 1808 in der ersten Gesamtausgabe von Goethes Werken erschienen ist. Alles, was wir über den «Faust» haben, einschließlich jenes bedeutungsvollen Dokumentes, das Goethe als sein Testament hinterlassen hat, zeigt uns die verschiedenen Stufen Goetheschen Werdens. Denn es ist unendlich interessant, zu beobachten, wie doch ihrem ganzen inneren Wesen nach diese vier Stufen von Goethes Faust-Schöpfung uns verschieden entgegentreten, wie sie ein Aufsteigen des ganzen Goetheschen Lebensstrebens bedeuten.

Was Goethe nach Weimar mitgebracht hat, ist ein literarisches Werk ganz persönlichen Charakters, in das er hineingegossen hat die Stimmungen, die Stufen des Erkennens und auch des Verzweifelns an der Erkenntnis, wie sie ihn begleitet haben in seiner Frankfurter Zeit, in der Straßburger Zeit und auch noch in der ersten Weimarer Zeit, ein Werk eines Menschen, der heiß strebt nach Erkenntnis, heiß strebt, sich hineinzufühlen in das Leben, der alles, was ein aufrichtig und ehrlich Strebender an Verzweiflung erleben kann, durchgemacht hat und hineingegossen hat in dieses Werk. Das alles ist in der ersten Gestalt des «Faust» darinnen. Und als der «Faust» 1790 als Fragment erschien, hatte ihn derjenige Goethe umgestaltet und daran gearbeitet, der nach einer tief in seiner Seele liegenden Sehnsucht sein ganzes Streben und inneres Leben abgeklärt hatte durch das Anschauen der italienischen Natur und der italienischen Kunstwerke. Aus dem persönlichen Werke eines in den Lebensstürmen Hin- und Hergeschlagenen ist geworden das Werk eines bis zu einer gewissen Stufe Abgeklärten, der

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nun eine Perspektive des Lebens vor sich hat, die in sehr bestimmter Art und Weise vor seiner Seele steht.

Dann kommt die Zeit der Verbindung Goethes mit Schiller, die Zeit, wo Goethe im eigenen Innern erkennen und erleben lernte eine Welt, die lange schon in ihm veranlagt war, eine Welt, von der man sagen kann, daß sie der erlebt, dem die geistigen Augen zum Schauen der geistigen Umwelt aufgegangen sind. Jetzt wird ihm die Persönlichkeit des Faust eine Wesenheit, die hineingestellt ist zwischen zwei Welten: zwischen dieWelt des Geistigen, zu dem der Mensch hinaufstrebt durch seine Läuterung, durch seine Veredlung, und diejenige Welt, die ihn herunterzieht. Faust wird eine Wesenheit, die hineingestellt ist zwischen die Welt des Guten und die Welt des Bösen. Während wir vorher im «Faust» das ringende Persönlichkeitsleben des Einzelnen gesehen haben, sehen wir jetzt vor unsere Seele hingerückt einen großen Kampf der guten und der bösen Mächte um den Menschen, der in den Weltenkampf hineingestellt ist als das würdigste Objekt, um das die guten und die bösen Wesenheiten in der Welt kämpfen. Und während uns gleich im Anfänge des «Faust» der am Wissen verzweifelnde Mensch hingestellt wird, tritt uns jetzt entgegen der Mensch, der zwischen Himmel und Hölle hineingestellt ist, und damit wird das Gedicht wesentlich um eine Stufe hinaufgehoben zu einem erhöhten Dasein. Da ist es uns, als ob in der Gestalt, in der uns der «Faust» 1808 entgegentritt, Jahrtausende der Menschheitsentwickelung zusammenklingen würden. Da müssen wir denken an die großartigste dramatische Darstellung des Menschenlebens, welche die alte Zeit hervorgebracht hat, an das Buch Hiob - wie da der böse Geist herumgeht in der Menschheit und dann herantritt vor Gott, und der Gott zu ihm sagt: Du hast dich auf der Erde umgetan; hast du achtgegeben auf meinen Knecht Hiob?

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Was uns da entgegenklingt, wieder ertönt es uns in der Dichtung, die uns im Faust entgegentritt. Im «Prolog im Himmel» unterredet sich der Gott mit Mephistopheles, mit dem Sendling der bösen Geistigkeit:

«Kennst du den Faust?» - «Den Doktor?» - «Meinen Knecht!»

So klingt nach in dem, was Goethe hingestellt hat, um sein ganzes Fausträtsel im richtigen Lichte erscheinen zu lassen, was uns im Buche Hiob so entgegentönt: Kennst du meinen Knecht, den Hiob?

Dann geht Goethes ganzes reiches Leben weiter, weiter in einer Vertiefung in das Menschendasein, von der heute die Welt sehr wenig ahnt. Und nachdem er in mannigfaltiger Weise in diesem oder jenem Werke zum Ausdruck brachte, was sich da in seiner Seele durchgelebt hat, geht er dann, rückschauend auf sein ganzes Leben, 1824 noch einmal daran und schildert jetzt Fausts Durchgang durch die große Welt, aber so, daß der zweite Teil jetzt ganz ein Charakterbild innerer menschlicher Seelenentwickelung wird.

Blicken wir hin auf den ersten Teil, so müssen wir sagen: Unendlich lebenswahr und lebenswirklich ist das, was da von einer strebenden Seele geschildert wird. Alles, was uns in dem ersten Teil, insbesondere in den zuerst entstandenen Partien entgegentritt, ist von einer tiefen, tiefen Naturwahrheit, aber mancherlei, was da hineinklingt, es klingt uns noch wie eine Art Theorie, wie wenn jemand von Dingen spricht, die er noch nicht selbst in der Seele voll erlebt hat.

Und nun der zweite Teil: Da ist alles innerstes Erlebnis der eigenen Seele. Da sind höchste Erlebnisse geistiger Art, durch die der Mensch die Stufen des Daseins hinansteigt, die physische Welt durchdringt und eindringt da, wo des Menschen Seele sich vereinigt mit der Geistigkeit der Welt,

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HINWEISE

Im Winterhalbjahr 1908/09 führte Rudolf Steiner die sediste der öffentlichen Vortragsreihen durch, wie sie seit 1903 in Berlin regelmäßig stattfanden. Sie umfaßt achtzehn Vorträge. Davon sind in Buchform bereits erschienen die Vorträge II und III unter dem Titel Die Nachschriften dieser Vorträge waren nicht zum Druck be­stimmt und Rudolf Steiner hat sie selber nicht durchgesehen. Wie schon aus der sehr unterschiedlichen Länge ersichtlich, sind vor allem die hier erstmals veröffentlichten Vorträge lückenhaft nachgeschrieben worden und weisen daher Mängel auf. Die Zitate wurden wenn immer möglich nachgeptüft.

Zu Seite

10 Da ist vor einiger Zeit eine erschienen: Der «Abriß

der Psychologie> von Prof. Hermann Ebbinghaus, Leipzig 1908.

Die angeführte Stelle steht im Wortlaut auf Seite 18.

18 Goethes Ausspruch: in «Entwurf einer Farbenlehre. Einleitung>.

21 was Novalis sagt: in den «Fragmenten>. Gesammelte Werke,

herausgegeben von Carl Seelig, Herrliberg-Zürich 1946, Dritter

Band, Nr.1771.

23 Vortrag in der Natur forschenden Gesellschafl: vgl. Goethes Auf-

zeichnungen daruber in «Glückliches Ereignis>, 1794.

25 ein Brief Schillers: vom 23. August 1794.

26 gegenständliches Denken: vgl. Goethes Aufsatz «Bedeutende För­dernis durch ein einziges geistreiches Wort», 1823.

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27 Brief von Fichte: vom 21. Juni 1794, Abdruck in Heft XV der

«Veröffentlichungen aus dem literarischen Frühwerk von Rudolf

Steiner», Dornach 1942.

29 Brief von Hegel: vom 20. Februar 1821.

30 Virchows Vortrag: «Goethe als Naturforscher und in besonderer

Beziehung auf Schiller>, 1861.

32 das Bild «Komm, Herr Jesus, sei unser Gast. .. !» ist von Fritz

Uhde, 1848-1911. Vgl. den Vortrag von Rudolf Steiner vom

5. Oktober 1917, Vortrag X der Reihe «Kunstgeschichte als Ab­

bild innerer geistiger Impulse>, Dornach 1919.

34 in meinem Buche «Goethes Weltanschauung»: 1. Aufl. 1897, Frei­

burg i. Br. 1948.

34 Goethe zu Eckermann: am 25. Januar 1827.

46 Die Briefe Schillers üher die ästhetische Erziehung des Menschen:

Goethe schreibt darüber Schiller am 26. Oktober 1794. Der zitierte

Satz steht im 4. Brief.

47 Ein wunderbar schönes Wort: im obengenannten Brief Goethes.

49 «was fruchtbar ist, allein ist wahr»: im Gedicht «Vermächtnis»,

1828/32.

55 Das Goethesche Wort: «Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst

und zur Außenwelt, so heiß' ich's Wahrheit. Und so kann jeder

seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige>,

in «Maximen und Reflexionen».

58 Losskij, Nikolaj, geb. 6. Dezember 1870. Das Buch erschien 1908.

66 einen Gedanken, den er einst ausgesprochen hat: in «Maximen

und Reflexionen».

75 Zur Zeit der großen Stürme im westlichen Europa: am 16. Oktober

1795. «Es iSt mir in der Tat lieb, Sie noch ferne von den Händeln

am Main zu wissen. Der Schatten des Riesen könnte Sie leicht

etwas unsanft anfassen.>

84 «Hier wird's Erreichnis»: Erst 1928 wurde eine Handschrift

Goethes mit der Schreibweise Ereignis bekannt.

109 Der Spruch von Goethe: «Selige Sehnsucht», West-östlicher Divan.

113 der wirklich große Bibelgelehrte: Ferdinand Christian Baur, 1792

bis 1860, Theologieprofessor in Tübingen von 1826 bis 1860.

114 So dürfen wir doch einen Bibelforscher ... nicht vergessen: August

Friedrich Gfrörer, 1803 bis 1861. Bibliothekar und Professor in

Stuttgart, wurde 1853 katholisch. «Wer aber jetzt noch, nachdem

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das nötige histori5che Licht über die Frage ausgegossen ist, das vierte Evangelium für ein Machwerk und unterschoben erklärt, dem sage ich ins Gesicht, daß er unter dem Hute nicht bei Troste sei . . .» Gfrörer in «Geschichte des Urchristentums», III. Haupt­teil, Seite 346, Stuttgart 1838.

139 Die Wahrheit des Bibelwortes: Joh. 8, 32.

148 Ein anderer Forscher: «Aberglaube und Zauberei von den ältesten Zeiten an bis in die Gegenwart», von Dr. Alfred Lehmann, Direktor des psychophysischen Laboratoriums der Universität Kopenhagen. Deutsche Ausgabe von Dr. Petersen, Stuttgart 1898.

154 Raimundus Lullus 1235 bis 1315. Vgl. über den angeblichen Ver­such das obengenannte Werk von Lehmann, Seite 157.

159 Da wurde erzählt: so z.B . von H.P. Blavatsky in «Isis unveiled». Das wurde übernommen von S. Ellmore (Pseudonym) in der «Chicago Tribune». Er bezeichnete alles später selber als er­dichtet. Vgl. das obengenannte Werk von Lehmann, Seite 305.

162 Ein Schuldirektor: Heinrich Schramm, vgl. Rudolf Steiner «Mein Lebenigang>, Kapitel II.

167 den Ausspruch, den Feuerbach getan: Ludwig Feuerbach, 1804 bis 1872, in der Anzeige von Moleschotts «Lehre der Nahrungs­mittel für das Volk», 1850.

185 ein alter Spruch, der manchem einfällt: z. B. bei Börne: «Es gibt tausend Krankheiten, aber nur eine Gesundheit>. Vermischte Aufsätze, Dramaturgische Blätter, Aphorismen.

212 daß es wahr ist, was ein altes Wort sagt: «mens sana in corpore sano>, Juvenal, Satiren 10, 356.

214 Tolstoj, Leo Nikolajewitsch, 1828-1910. Carnegie, Andrew, 1835-1919.

224 die Zeit, aus der die großen Romane stammen: 1864-1869.

225 eine Fabel des Ostens: aus «Meine Beichte>, 1879 verfaßt.

229 Und nun sehen wir uns den anderen an: die teilweise lücken-hafte Nachichrift ergänzt nach Carnegies «Autobiography> 1920, deutsch 1921.

233 ein anderes merkwürdiges Evangelium: Carnegie: «TIse Gospel of wealth and other timely Essays>, 1900, übersetzt von Heubner:

«Das Evangelium des Reichtums>, Leipzig 1907.

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234 Er wendet sich gleich gegen Tolstoj, von dem er sagt: «Das höchste

Lebensideal ist wohl nicht durch eine solche Nachahmung des

Lebens Christi zu erreichen, wie sie uns Graf Tolstoj zeigt, son­

dern dadurch, daß wir, von Christi Geist beseelt, die veränderten

Bedingungen unseres Zeitalters gleichwohl anerkennen und diesen

Geist in neuen, unsern heutigen Verhältnissen angepaßten Formen

Ausdruck finden lassen.>

241 Etwas ist da, das vor der Geburt da war: «Meine besondere

Beziehung zu der Welt ist nicht in diesem Leben festgestellt

worden und hat nicht mit meinem Körper und nicht mit meinem

in der Zeit entstandenen Bewußtsein begonnen>, Tolstoj «Das

Leben», 2. u. 3. Teil, Eugen Diederichs, Jena 1911, Seite 207.

249 Heinroth tat von Goethe den schönen Ausspruch: siehe den Auf­

satz von Goethe «Bedeutende Fördernis durch ein einziges geist­

reiches Wort>. Zur Morphologie. Zweiten Bandes erstes Heft,

1823.

258 Goethe-Zitat: Zahme Xenien, Erste Reihe.

261 «Man weint nicht, weil man traurig ist . ..»: Der Satz stammt von William James, 1842-1910, Professor der Psychologie und Philosophie an der Harvard Universität. «Printiples of Psycho­logy>, 1890, deutsch 1909.

273 was Fichte gesagt hat: in «Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution>. Erster Teil:

Zur Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit, Heft 1-2 (anonym, ohne Druckort), 1793.

277 Francesco Redi: 1626-1689.

290 Er sagte: zu Eckermann, am 6. Juni 1831: «Mein ferneres Leben

kann ich nunmehr als ein reines Geschenk ansehen, und es ist

jetzt im Grunde ganz einerlei, ob und was ich noch etwa tue.»

296 . . . was er schon als Knabe gesucht hatte: vgl. «Dichtung und

Wahrheit>, erster Teil. Erstes Buch.

297 die «Aurea Catena Homeri»: Goldene Kette Homers. 1723 er­

schienenes Buch.

297 Eliphas Levi: «Dogme et Rituel de la haute Magie», 1861.

306 Nostradamus: Michel de Nhtredame, 1503-1566, französischer

Astrolog. Magische Bücher von ihm sind nicht bekannt. Dagegen

kannte Goethe das damals berühmte Werk von Emanuel Swe­

denborg (1688-1772): «Arcana coelestia, Himmlische Geheim­

nssse», 8 Bände, 1749-1756.

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310 Wie einer ist, so ist sein Gott: «Wie einer ist, so ist sein Gott:

Darum ward Gott so oft zu Spott.> (Weimar 1814.)

315 wenn er zuletzt an seine weimarischen Freunde schreibt: am

6. September 1787 und am 28. Januar 1787 in «Italienische Reise>.

316 «indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist»: Goethe

in «Winckelmann» .

334 Plutarch: Marcellus Kap. 20.

342 Nur strebe nicht nach höheren Orden: In Goethes Handschrift

steht «Orden>.

356 . . . hat Goethe in zwei Gedichten zum Ausdruck gebracht: in

«Eins und Alles> (6. Oktober 1821) und in «Vermächtnis> (Fe­

bruar 1829).

357 Erreichnis: vgl. den Hinweis zu Seite 84.

358 . . . das einzige Zusammentreffen mit Friedrich Nietzsche: Rudolf

Steiner in «Mein Lebensgang», Kapitel 18.

359 Noch ehe Friedrich Nietzsche seinen Doktor gemacht hatte:

von 1869-1879 Professor in Basel.

359 Karl Marx' erstes soziales Buch: «Kritik der politischen Uko­

nomie>, 1859.

362 David Friedrich Strauss, 1808-1874. Das «Leben Jesu> erschien

1835/36.

363 Eugen Dühring, 1833-1921, «Kursus der Philosophie>, 1875, in

4. Auflage 1895 als «Wirklichkeitsphilosophie».

369 Goethe: «Wem die Natur ihr offenbares Geheirnnis zu enthüllen

anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer

würdigsten Auslegerin, der Kunst.> Goethe, Sprüche in Prosa.

370 Vorträge über Faust: «Die Rätsel in Goethes Faust>, 13. und 14. Vortrag im vorliegenden Band.

370 Fausts Gang zu den «Müttern»: Vgl. dazu Goethes Gespräch mit Eckermann vom 10. Januar 1830. Die erwähnte Erzählung steht bei Plutarch, Marcellus Kap. 20.

372 «Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten», zuerst erschienen in «Lucifer-Gnosis» Nr.13-28 (Berlin 1905-1908). Gesamtaus­gabe 1961.

386 Chorus mysticus: Faust 2. Teil, Schlußszene.

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403 Mittagsfrau: vgl. dazu Ludwig Laistner «Das Rätsel der Sphinx»,

Berlin 1889. Rudolf Steiner verweist auf dieses Werk im Zusam­

menhang mit dem hier behandelten Gegenstand im Zyklus

«Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und

neuer Geburt>, 4. Vortrag. Gesamtausgabe 1959.

406 Baldur und Hödur: Siehe auch Rudolf Steiner, Der Baldur-

Mythos und das Karfreitagsmysterium, Dornach 1930.

411 Hu, Ceridwen, Druiden- und Drottenmysterien: Vgl. Charles

William Heckethorn «Geheime Gesellschaften, Geheimbünde und

Geheimlehren», Leipzig 1900. Rudolf Steiner besaß dieses Werk.

418 «Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, ehe Abraham war, war ich»:

Johannes 8, 58.

«Ich und der Vater sind eines»: Johannes 10, 30.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.