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= VORBEMERKUNGEN DER HERAUSGEBER «Alle Erkenntnis, auch die rein wissenschaftliche, muß in das rein Künstlerische gehen. » 14. Februar 1923 =
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VORBEMERKUNGEN DER HERAUSGEBER «Alle Erkenntnis, auch die rein wissenschaftliche, muß in das rein Künstlerische gehen. » 14. Februar 1923

#G217a-1981-SE011 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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VORBEMERKUNGEN DER HERAUSGEBER

«Alle Erkenntnis, auch die rein wissenschaftliche, muß in

das rein Künstlerische gehen. »

14. Februar 1923

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«Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation» - diesen Titel gab Marje Steiner den Vorträgen, welche Rudolf Steiner im Oktober 1922 in Stuttgart hielt und als «Pädagogi­scher Jugendkurs» zunächst als Privatdruck erschienen. Sie hatte noch in Dornach 1947 diese Vorträge durchgearbeitet und für eine neue Herausgabe vorbereitet, zu der es aber erst 1953 kommen konnte. Wenn auch Rudolf Steiner vor diesem Auditorium immer wieder die pädagogischen Grundlagen ins Bewußtsein rückt, so kennzeichnet der neue Titel doch den wesentlichen Inhalt des dreizehn Vorträge umfas­senden Zyklus. Es ist die Frage: Wie finden wir den Geist? -, welche, dieser Generation noch nicht bewußt, die treibende Kraft in jener Zeit ist und zu dem geführt hat, was man gemeinhin «Jugendbewegung» nannte. Geistige Wirkenskräfte aber waren es in Wirklichkeit, welche jene Bewegung hervorriefen und, wie Rudolf Steiner betonte, in dieser Form bisher noch nicht sich gezeigt hatten. In verschiedenartige Lebens-zusammenhänge spielten diese Geschehnisse hinein; auch die akade­mische Jugend wurde von diesem Ringen berührt. Die Auseinander­setzungen gaben besonders dem zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts auch ihr Gepräge. Doch erst Rudolf Steiner brachte Klarheit in die vielfältigen Formen, welche durch die Problematik der jungen Menschen auftraten. Es waren Schicksalszusammenhänge, die noch unter der Schwelle des Alltagsbewußtseins ruhten, aber impulsierend wirkten und nach Gestaltung drängten.

Schon bei der ersten Veranstaltung im neuerbauten Goetheanum, Herbst 1920, hielt Rudolf Steiner eine Ansprache an die damals in Dornach versammelten Studenten und führte im Frühjahr 1921 in Stuttgart diese Thematik weiter. So kam es zu insgesamt fünfzehn

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Jugendansprachen. Zeitlich gliedern sie sich in die ersten fünf Anspra­chen, beginnend während des ersten Hochschulkurses 1920 in Dornach und ausklingend in diejenige während des öffentlichen Stuttgarter Kongresses 1921 mit dem Thema « Kulturausblicke der anthroposo­phischen Bewegung». Im nächsten Jahr, 1922, finden dann in Stuttgart die bereits erwähnten Oktobervorträge des Jugendkurses statt, die ja einen Ausgangspunkt in den vorangegangenen Jugendansprachen haben. Für Weihnachten 1922 hatte Rudolf Steiner einen Vortragszyklus mit dem Thema «Der Entstehungsmoment der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwickelung» angekündigt. Die Vereinigung der Naturforscher am Goetheanum und der Zweig der Anthroposophischen Gesellschaft hatten dazu am Goetheanum einge­laden. «Zutritt zu diesen Vorträgen hat jedes Mitglied der Anthroposo­phischen Gesellschaft und solche Persönlichkeiten, die ein offenes Interesse für unsere Bewegung haben. » So hatten sich auch eine Reihe von jüngeren Persönlichkeiten zu jenen Vorträgen in Dortiach einge­funden. Zu diesen im besonderen spricht Rudolf Steiner dann am 6. Januar des neuen Jahres 1923 nach dem Verlust des ersten Goethea­num. Diese Ansprache trägt den Titel «Die Erkenntnis-Aufgabe der akademischen Jugend». 1942 hat Marie Steiner die Ansprache mit vier anderen zu einer Broschüre vereinigt und diesen Ausführungen Rudolf Steiners aus den ersten Januartagen des Jahres 1923 den Titel gegeben «Die Not nach dem Christus. Die Aufgabe der akademischen Jugend. Die Herz-Erkenntnis des Menschen». Wir haben 1957 für die erste Veröffentlichung der gesammelten Jugendansprachen den Titel der Ansprache vom 6. Januar gewählt, aber im Hinblick auf die folgenden Darstellungen Rudolf Steiners vom Jahre 1923 und hauptsächlich 1924 das Beiwort «akademisch» fortgelassen.

Den Höhepunkt des Jahres 1923 bildet zu Weihnachten die durch Rudolf Steiner erfolgte Begründung der Allgemeinen Anthroposophi­schen Gesellschaft. Innerhalb der Freien Hochschule für Geisteswissen­schaft wird von Rudolf Steiner eine Sektion für das Geistesstreben der Jugend ins Leben gerufen. In einer Reihe von Aufsätzen entwirft er die Idee einer solchen Arbeitsstätte und deren zu verwirklichenden Ziele. Diese Aufsätze schließen sich organisch an die Ansprachen des Jahres

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1923 an und führen weiter zu den noch in Breslau und Arnheim, Holland, 1924 stattgefundenen Zusammenkünften Rudolf Steiners mit der Jugend.

Die starke Nachfrage nach der vergriffenen Publikation bedingte diese Neuauflage als Band der Rudolf Steiner Gesamtausgabe in der bisherigen, teilweise erweiterten Zusammenstellung mit dem beibehal­tenen Titel unter Bibliographie-Nummer 217a, in Ergänzung zum «Pädagogischen Jugendkurs» (Bibl. -Nr.217).

Die zeitlich zwischen 1920 und 1924 liegenden Ansprachen werden aber auch in ihrem chronologischen Zusammenhang innerhalb der Gesamtausgabe in den betreffenden Bänden erscheinen.

Welche Bedeutung aber Marie Steiner solchen oftmals nur noch auf Notizen von Teilnehmern sich stützenden Wortlauten Rudolf Steiners beimißt, geht aus einem 1942 verfaßten Geleitwort hervor, das sie einer anderen Reihe von Ansprachen Rudolf Steiners voran stellte:

«Das Jahr 1942... stellt vor unser Seelenauge, durch den Ablauf von vier Dezennien einerseits, von zwei Dezennien andrerseits, ganz beson­ders eindringlich die wichtigsten, einschneidendsten Ereignisse unseres anthroposophischen Lebens. In ihrer schicksalbildenden Bedeutung werden sie nur übertroffen durch das Hinscheiden von Dr. Steiner selbst. Vor vierzig Jahren, im Oktober 1902, fand die Geburtsstunde der anthroposophischen Bewegung statt; vor zwanzig Jahren, in der Nacht des 31. Dezember, verzehrten die Flammen das Goetheanum, den physischen Ausdruck der unermeßlich reichen Gaben Rudolf Steiners.

In unserer aller Seelen, die diese Nacht miterlebt haben, ist sie mit Flammenschrift eingegraben. Alle wundersamen Etappen des allmäh­lichen Aufbaus jenes Werkes, seiner werdenden Verwirklichung leuchten in dem Bilde dieses Feuers wieder auf. Man möchte bei den Einzelheiten verweilen, ihre innere Kraft immer tiefer ins eigene Wesen einfließen lassen, um ganz von ihr erfaßt zu werden. Das Tempo unserer Zeit und ihre Härte erlaubt es nicht. Es wäre egoistischer Schmerz. Aber retten aus dem verbleichenden Geschehen der Vergangenheit darf man das, was bleibenden Wert für die Zukunft hat. Dazu gehört vor allem jedes gesprochene Wort Rudolf Steiners. Wenn es auch durch das Medium

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der Nachschrift auf die Form verzichten muß, die der Autor selbst seiner Niederschrift gegeben hätte, wenn es auch manchmal gekürzt ist, manchmal abgeblaßt sein mag, so ist doch der darin pulsierende Lebensstrom ein so starker, der Geistgehalt ein so läuternder, daß keine stilistische Aufglättung das Unmittelbare dieser reinigenden Katharsiswirkung ersetzen könnte. »

In der Gegenwart befinden sich anthroposophische Bewegung und Anthroposophische Gesellschaft einer Weltlage gegenüber, die von Tag zu Tag Probleme aufwirft, von denen in den zwanziger Jahren sich niemand auch nur eine Vorstellung bilden konnte. So haben gewiß auch diese Ansprachen bleibenden Wert für die Zukunft.

Ansprachen der Jahre 1920/1921 «Schließen Sie niemand aus, sondern schließen Sie alle ein, die mitarbeiten wollen.» Dornach, 16. Oktober 1920

#G217a-1981-SE017 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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Ansprachen der Jahre 1920/1921

«Schließen Sie niemand aus, sondern schließen Sie alle ein, die mitarbeiten wollen.»

Dornach, 16. Oktober 1920

EIN WEG ZU FREIER WISSENSCHAFTLICHER ARBEIT

Ansprache während des ersten anthroposophischen Hochschulkurses im

Goetheanum zu dem damals erschienenen Aufruf an die akademische Jugend

Dornach am 1. Oktober 1920

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Meine verehrten Kommilitonen! Sie werden begreifen, daß ich natür­lich nicht in irgendeiner Weise zu dem Inhalt des Aufrufes selbst spre­chen kann, da er in zu enge Verbindung mit meiner Person gebracht ist. Und daher wird es am besten sein, wenn ich in den Worten, die ich zu Ihnen heute sprechen darf, mich mehr beziehe auf dasjenige, was eigent­lich als ein Wollen sich ankündigt aus der gegenwärtigen Studenten­schaft heraus für neue wissenschaftliche und allgemeine Kulturziele sowie auch für das soziale Leben.

Wenn ich diesen Aufruf mir vor Augen halte, dann erinnert er mich an einen anderen Aufruf, der vor einiger Zeit auch seinen Weg von Stuttgart aus gehen sollte: an den Aufruf, der dazumal ein solcher sein sollte zur Bildung eines Kulturrates.

Im Jahre 1919, als unsere Arbeit in Stuttgart begann, basierte sie sich ja zunächst auf jenen «Aufruf an das deutsche Volk und an die Kultur-welt», den ich verfassen durfte, und der im März vorigen Jahres seinen Weg durch die Welt nahm. Und es basierte sich diese Arbeit auf dasje­nige, was von mir versucht wurde als soziale Richtlinien anzugeben in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage». Als eine der wichtigsten Angelegenheiten wurde damals von einer Anzahl von Per­sönlichkeiten, die sich zu der Gesinnung und zu den sozialen Zielen der «Kernpunkte» bekannten, die Bildung eines Kulturrates beschlossen, und man hatte die Absicht, der Welt vor Augen zu stellen, wie es wirk­lich notwendig ist, an eine Art Erneuerung des Geisteslebens, an eine Durchdringung des Geisteslebens mit neuen Impulsen heranzugehen.

Sie wissen ja, in den «Kernpunkten der sozialen Frage» wird darauf aufmerksam gemacht, wie das wichtigste Streben unserer Zeit sein müsse, ein unterbewußtes Ziel der gegenwärtigen Menschheit zum be­wußten Tun heraufzuheben. Das ist eben: das Gestalten des sozialen Organismus zu einem dreigliedrigen.

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Wer ein wenig hineinschauen kann in dasjenige, was heute brodelt und pulsiert in der strebenden Menschheit, der fühlt schon, wie in die­sen «Kernpunkten» nichts, aber auch gar nichts Utopistisches darinnen ist, sondern wie eigentlich nur aus einer dreißig- bis fünfunddreißigjäh­rigen Beobachtung dasjenige geschaffen ist, was eigentlich im Grunde die größte Anzahl der Menschen will, oder sagen wir, eigentlich wollen sollte nach ihren Instinkten, nach ihren Empfindungen, was sie sich aber noch nicht eingesteht, weil sie eine gewisse Furcht hat, es sich ins Bewußtsein hinaufzuheben.

Man kann auf allen drei Gebieten des Lebens, auf dem Gebiet des geistigen Lebens, auf dem Gebiet des Rechts-, des Staats- oder politi­schen Lebens und auf dem Gebiet des wirtschaftlichen Lebens sehen, wie neue Wege gewandelt werden müssen. Und ich versuchte ja in mei­nen «Kernpunkten» zu zeigen, wie gewissermaßen die Haupthinder­nisse für das Wandeln auf solchen neuen Wegen daher kommen, daß man nun einmal im Laufe der letzten drei bis vier Jahrhunderte sich ein­gelebt hat in die Suggestion, daß der Einheitsstaat alles machen müsse. Der Einheitsstaat hat nach und nach auch das Hochschulwesen okku­piert, könnte man sagen. Annektiert, okkupiert wurde das Hochschul­wesen. Bedenken Sie nur einmal, daß dieses Hochschulwesen sich her­ausentwickelt hat aus dem Geistesleben selbst. Bedenken Sie, daß die Geltung des Hochschulwesens in einer Zeit, die noch gar nicht so lange hinter uns liegt, durchaus auf der individuellen Fruchtbarkeit der ein­zelnen Hochschulen sich aufbaute. Bedenken Sie, wie man sprach von der Juristenfakultät in Bologna, wie man sprach von der medizinischen Hochschule in Salerno, wie man sprach von anderen bedeutenden Hochschulen; wie man herleitete die Geltung des Hochschulwesens in der Welt von den besonderen individuellen Leistungen desjenigen, was in den einzelnen Hochschulen vorhanden war. Und es ist im Grunde genommen nur eine neuere Okkupation oder Annexion, die von den immer mehr und mehr Macht an sich reißenden Staaten ausgeübt wor­den ist, daß schließlich unser Hochschulwesen ganz eingemündet ist in eine Dienerschaft gegenüber den äußeren Bedürfnissen der einzelnen Staaten. Es müßte eigentlich heute gerade in dem Menschen, der sich verbunden fühlt mit dem Erkenntnis-Geistesstreben und überhaupt mit

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dem Kulturstreben der Menschen, doch etwas leben von einer Art hi­storischer Erinnerung an solche Zeiten, in denen es an den Hochschu-len lag, was sie dem Staate geben wollten, was sie aus dem Staate ma­chen wollten. Und, ich möchte sagen, ein gewisser innerer Impuls, der aus dem Nachdenken über die Dinge kommt, der müßte dazu führen, daß man sich vor Augen stellt, wie es wieder und immer wiederum am Ende des 18. Jahrhunderts, im Beginne des 19. Jahrhunderts von einem Zeitalter der Aufklärung betont worden ist, daß in den Zeiten des Mit­telalters die Wissenschaft die Dienerin des theologischen und kirchli­chen Betriebes war. Wie oft ist es wiederholt worden, was Kant - Sie wissen, ich bin kein Kantianer - ausgesprochen hat mit den Worten:

die Zeit ist vorüber, wo alle Wissenschaften der Theologie die Schleppe nachgetragen haben. Die Wissenschaften sind frei geworden. Sie sind dazu berufen, die Fahne voranzutragen aller übrigen Kultur. Aber im Grunde genommen erst, nachdem solche Worte populär geworden sind aus einem berechtigten Gefühl gegenüber dem geistigen Leben in den Wissenschaftsästen, erst nachher ist vom Staate aus diejenige Strömung gekommen, die das Hochschulwesen nun zum Diener des Staatswesens, der Politik, der Jurisprudenz gemacht hat. Und, meine verehrten Kom­militonen, ob es nun besser ist, der Theologie, also wenigstens einem Geistigen die Schleppe nachzutragen, oder dem äußeren Staatswesen die Schleppe nachzutragen, das ist noch erst die Frage. Darüber werden die kommenden Zeiten ihr Urteil zu fällen haben. Denn schön war es auch nicht, daß sozusagen ein Jahrhundert, nachdem Kant das Wört gesprochen hat, die Wissenschaft wolle nicht mehr der Theologie die Schleppe nachtragen, der Generalrektor der Berliner Akademie der Wissenschaft, der berühmte Physiologe Du Bois-Reymond ausgespro­chen hat, daß die Herren Mitglieder der Berliner Akademie der Wis­senschaften sich sehr geehrt fühlten, indem sie sich nennen dürften: Die wissenschaftliche Schutztruppe der Hohenzollern. Das ist schließlich aus dem geworden, was ich nennen möchte: Okkupation des Hoch-schulwesens durch den Staat. Und es ist ja selbstverständlich, daß der Staat nicht für die Wissenschaft, sondern daß der Staat für seine «Be­amten» sorgt. Neulich, meine sehr verehrten Kommilitonen, konnte schon der Rektor der Universität Halle einen Aufsatz erscheinen lassen,

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der doch ganz merkwürdige Schlaglichter wirft auf dasjenige, was nun aus der alten Gesinnung, nach der er Rektor geworden ist, stammt. Der Rektor der Universität Halle scheint ja einigermaßen unterrichtet zu sein über wichtige Vorgänge hinter den Kulissen, denn er macht mit Besorgnis und ganz ausführlich in einem Zeitungsaufsatz darauf auf­merksam, daß die Absicht bestehe, eine große Anzahl deutscher Uni­versitäten eingehen zu lassen und an ihrer Stelle Beamtenschulen zu er­richten, wo man also Beamte in der richtigen Weise dressieren wird. Ja, meine sehr verehrten Kommilitonen, auf diese Dinge muß man hin­schauen, wenn man begreifen will, daß eine verhältnismäßig scharfe Sprache dazumal geführt wurde in jenem Aufruf zu einem Kulturrat, der von Stuttgart ausging. Denn dasjenige, was da hineingewirkt hat in das Universitätswesen, das hat nicht etwa bloß das Anstellungswesen der Professoren, die Unannehmlichkeiten des Prüfungswesens ergrif­fen, sondern das hat die Wissenschaften, die Erkenntnis, den Geist selbst ergriffen. Und dem sollte dazumal Abhilfe geschaffen werden dadurch, daß man alles aufrief, von dem man glaubte, daß es ein Herz, einen Sinn hat für ein Weiterbringen des Erziehungswesens, der geisti­gen Angelegenheiten überhaupt. Und es war damals die Hoffnung der­jenigen Menschen, die mit einem warmen Herzen für eine solche Sache an die Arbeit für diesen Aufruf gingen, daß man sich ja zunächst wen­den müsse an die Vertreter des geistigen Lebens selbst. Sehr viele Gut­meinende meinten eben, aus dem Kreise der Hochschullehrer heraus werden sich ja selbst Einsichtige finden, welche mitgehen mit der Emanzipation des Hochschulwesens vom Staatswesen.

Nun, meine verehrten Kommilitonen, ein wirklich tatkräftiges Mit-gehen wurde nicht gefunden. Aber um so öfter konnte man hören, wie die Herren in eigentümlicher Weise sich äußerten. Sie sagten nämlich:

Ja, wenn diese Dreigliederung des sozialen Organismus mit ihrem freien Geistesleben da wäre, dann würde es ja dahin kommen, daß statt des Unterrichtsministers mit seiner Beamtenschaft die Lehrer an den Universitäten selber eine Art Administration des gesamten Erziehungs­wesens ausüben würden. Nein, sagten die Herrn, da stehe ich doch lie­ber unter dem Unterrichtsminister und seinen Referenten, als daß ich mich einlassen würde auf die Verfügungen und Maßnahmen, die meine

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Herrn Kollegen treffen. Und man konnte ganz sonderbare Aussagen hören über die Herrn Kollegen. Und da man Gelegenheit hatte bei die­ser Wanderschaft durch die Meinungen der Hochschullehrer, zu hören, was der A über den B, der B über den A redete, so blieben nicht viele übrig von denjenigen, an die man sich nun bei dieser Selbstverwaltung, diesem Auf-sich-selbst-gestellt-sein-Wollen des geistigen Organismus hätte halten können. Man machte recht traurige Erfahrungen. Es wird Ihnen ja vielleicht bekannt sein, daß dieser ganze Kulturaufruf mit all seinen guten Intentionen einfach Makulatur blieb, daß sich eigent­lich im Grunde genommen niemand gefunden hat, der für ein freies Geistesleben aus dem Kreise der geistigen Arbeiter hat eintreten wollen.

Aber auch an äußeren Erscheinungen kann man schon verspüren, was in den letzten Jahrzehnten eingetreten ist. Manche würdigen die Dinge noch nicht in der richtigen Art. Ich betone nur, daß zum Bei­spiel dasjenige, was man geworden ist früher durch sein Darinnenste­hen im Hochschulbetriebe, sich in etwas ausdrückte, das gewisserma­ßen aus dem wissenschaftlichen und dem Erkenntnisstreben selbst her­auswuchs. Was etwas zu tun hatte mit dem Erkenntnisstreben, das ist das Gradwesen an den verschiedenen Fakultäten. Man merkt nur, wie sich hereingeschlichen hat in dieses Gradwesen, das aus der Eigenver­waltung der Universitäten hervorgegangen ist, das Staatsprüfungswe-sen, wie schließlich gegenüber den Staatsprüfungen dasjenige, was als Gradwesen aus den Universitäten, also aus den Wissenschaften selber herausgewachsen ist, nur noch eine Dekoration geworden ist.

Gewiß, solche Dinge sind nur Symptome zunächst. Aber sie zeigen als Symptome sehr deutlich, daß ein Absorptionsprozeß des geistigen Lebens durch das politische, durch das äußerlich staatliche Leben in hohem Grade sich vollzogen hat. Und Sie können ganz sicher sein, daß das Staatswesen, worauf ich heute hindeutete, das nur Staatswesen sein will, überhaupt die Universitäten ertöten wird, weil es sie nicht braucht als Universitäten, als Wissenschaftsstätten. Weil es dasjenige, was es bis jetzt aus den Universitäten gebraucht hat, nur als Staatsbeamtenschule brauchte, wird es alles in Staatsbeamtenschulen verwandeln. Das ist die Tendenz der Zeit. Wenn so etwas ausgesprochen wird, will man es immer nur als Utopie, als falsche Prophetenworte hinstellen. Man muß

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aber auch ein wenig hinsehen können in die Richtung, in welcher sich die Zeit bewegt. Und schließlich ist es schon weit fortgeschritten, daß wir aus der Juristenfakultät eine Beamtenschule für den Staat, aus der medizinischen Fakultät ein Bestreben hervorkommen sehen, welches darauf hinausgeht, auch den Heiler der Menschen zu einem bloßen Rad im Staatsbetriebe zu machen. Und an der philosophischen Fakultät? Was hat denn heute noch viel Wert als dasjenige, was die Leute vorbe­reitet, um im staatlichen Sinne Unterrichtsbeamte, nicht Pädagogen zu sein! In Deutschland, dem Musterland, im demokratisierten Deutsch­land heißen ja die Lehrer gar nicht einmal mehr Lehrer oder Professor, sondern - als Schreck aller Schrecken! - Studienassessor oder Studien­oberassessor und dergleichen. Diese Äußerlichkeiten haben aber mit dem ganzen inneren Geist der Wissenschaften zu tun. Und es war wirklich etwas recht Trauriges, daß man die Erfahrung machen mußte, daß auf seiten der Lehrenden absolut kein Herz und kein Sinn ist für eine Verselbständigung des Geisteslebens.

Das muß ich mir vorhalten, wenn ich jetzt den Aufruf, der aus der Studentenschaft heraus kommt, vornehme. Wenn es das Alter nicht machen mag - anders kann man nicht sagen -, dann muß eben die Ju­gend es als heilige Pflicht empfinden, für die Freiheit des Geisteslebens einzutreten. Denn dessen können wir sicher sein: wenn niemand für die Freiheit des Geisteslebens, wenn niemand für die Urquellen einer Erkenntnisemeuerung eintritt, dann wird es schlimm stehen in den Zeiten, in welche die nächste Generation unserer zivilisierten Mensch­heit hineinwächst. Es ist doch nicht ohne Bedeutung, daß ein so geist-reicher Mann wie Oswald Spengler heute schon wissenschaftlich, das heißt mit den Mitteln der alten Wissenschaft beweisen kann, daß die Zivilisation des Abendlandes der Barbarei entgegengeht. Wir haben vieles wissenschaftlich beweisen gelernt. Heute wird wirklich mit einer großen Kraft schon bewiesen, daß all unser Wissen in die Barbarei hineinführt.

Das ist etwas, was, wie man glauben kann, wie ein Alp lasten muß auf der Jugend, die ja heute nicht in blindem Autoritätsglauben auf­wachsen darf, die sich nicht gestatten darf einen blinden Autoritäts­glauben, sondern die mit sehenden Augen hinschauen muß auf dasjenige,

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was vorgeht an den Anstalten, die sie betritt, um in das Leben hineinzuwachsen. Und man darf daher glauben, daß es einen gewissen wohltuenden Eindruck machen kann, abgesehen von allem - und ich will und kann absehen von alledem, was sich in dem Aufruf auf meine Person bezieht -, es macht einen wohltuenden Eindruck, daß nun in Gegensatz zu den alten Führenden die Geführten treten und sagen, was sie wollen, und daß sie es sagen in konkreter Form. Denn, meine sehr verehrten Kommilitonen, die Befreiung des Geisteslebens, die Verselb­ständigung des geistigen Organismus kann nicht durch Tiraden, durch Rhetorik erreicht werden. Dasjenige, was durch den Staat absorbiert worden ist, muß wieder herausgezogen werden. Das kann aber nur ge­schehen, wenn eine wirkliche Kraft des Geisteslebens da ist. Und eben­so wie im Zeitalter des Materialismus die Wissenschaft ohnmächtig war gegenüber den Aufsaugegelüsten des Staates, so würde eine materiell bleibende Wissenschaft ohnmächtig auch bleiben gegenüber diesen Ab­sorptionsgelüsten des die Wissenschaft in die Barbarei überführenden Staates. Herausheben Wissenschafts- und Erkenntnisgeist aus der Poli­tik, aus alledem, in dem er heute zu seinem Verderben steckt, das kann nur etwas Positives. Geradeso wie materielle Wissenschaft eine Beute unwissenschaftlicher Mächte geworden ist, so wird geistige Wissen­schaft durch ihre eigene Wesenheit, durch ihre eigene Kraft heraus­ziehen können diese Wissenschaft wiederum aus den ungeistigen Mäch­ten. Und sie allein wird in der Lage sein, das freie Geistesleben, den auf sich gestellten geistigen Teil des sozialen Organismus zu begründen.

Selbstverständlich müssen Sie sich sagen, die Sie diesen Aufruf unter­schreiben, daß dieser Aufruf, insbesondere wenn er von solcher Seite kommt, als ein Sturm empfunden werden wird. Aber, meine verehrten Kommilitonen, ohne Sturm geht es heute nicht ab; ohne den Willen und den Mut, wirklich umzugestalten, was umgestaltet werden muß, kommen wir nicht vorwärts, sondern gehen in den Niedergang dann weiter, gehen in die Barbarei hinein. Man wird sich von vornherein klar sein mussen darüber, daß dieser Aufruf nicht wohlwollend von gewis­sen Seiten aufgenommen werden kann. Aber ich glaube, daß alle dieje­nigen, die ihn mit vollem Herzen und mutiger Seele unterschreiben, sich auch klar darüber sind, daß man mit einem Aufruf, der wohlwollend

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aufgenommen würde von gewissen Seiten, auf die ich hier hindeu­tete, eben durchaus nichts erreichen könnte. Auf Kampf muß man ge­faßt sein mit demjenigen, was man heute wollen muß.

Selbstverständlich wird es darauf ankommen, daß nun nicht einfach in die Welt hinausgestellt wird ein Aufruf in Worten. Meine sehr ver­ehrten Kommilitonen, ich habe im Laufe meines Lebens viele Aufrufe erlebt. Und ich weiß, daß Aufrufe nichts bedeuten, wenn nicht die Menschen hinter ihnen stehen, für deren Wollen im Grunde genom­men solch ein Aufruf doch nur ein Äußeres, sogar ein äußerliches Aus­drucksmittel ist. Menschen, deren Kräfte nicht erlahmen, wenn sie se­hen, wie in den ersten Zeiten sich alles widersetzt dem, was man so will, tatkräftige Menschen müssen hinter einer solchen Sache stehen, sonst sind Worte von solcher Schärfe allerdings nicht gerechtfertigt. Aber sie müssen in unserer Zeit im Grunde genommen gerechtfertigt sein nach all den Erfahrungen, die gemacht worden sind. Aber alledem, was in dieser Weise durch solche Kritik des Bestehenden denjenigen, die es angeht, als Kritik klargemacht werden muß, alledem muß zur Seite ge­stellt werden die positive Arbeit. Und wir werden wohl sehen müssen, wenn dasjenige, was beabsichtigt ist, glücken soll, daß sich Kreise bil­den und immer mehr und mehr Kreise bilden, immer größere und grö­ßere Gebiete, ganz international, die auch wirklich in dem Sinne gei­steswissenschaftlich arbeiten, daß sie die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen mit Geisteswissenschaft befruchten.

Es ist ja nach und nach zu Merkwürdigem gekommen, wenn es sich darum gehandelt hat, anzuschließen junge, strebende Gemüter an den Betrieb des Geisteslebens. Mir würde da vieles einfallen, wenn ichäüber dieses Kapitel reden wollte. Ich will Ihnen zum Beispiel nur eine nette Szene erzählen, die sich einmal abspielte an einer philosophischen Fa­kultät, wo sich ein junger, dazumal hoffnungsvoller Doktor habilitieren wollte für - ja, für Philosophie. Er ging zum Ordinarius, der ihn sehr schätzte, und sagte zu ihm, daß er sich habilitieren wolle, und was ihm nun angenehm wäre, daß da als Antritts-Vorlesungsthema gewählt würde. Da sagte der Ordinarius, der, wie gesagt, dem jungen Doktor wohlwollend gegenüberstand, und der die Privatdozentur dieses jungen Doktors an seiner Seite wünschte: Ja, aber das geht gar nicht! Ich kann

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Sie meinen Kollegen nicht vorschlagen, daß Sie Privatdozent werden; es würde ja alles über mich herfallen. Sie haben ja in der Philosophie nur Dinge geschrieben über philosophische Geschehnisse und Persön­lichkeiten des 19. Jahrhundert; so jemanden dürfen wir nicht zulassen zur Dozentur. Da müssen Sie über viel, viel ältere Sachen geschrieben haben. - Ja, sagte der junge Doktor, was soll ich denn jetzt machen, Herr Hofrat? Ich dachte, was ich über Schopenhauer, über den Ent­wicklungsgang der Ästhetik im 19. Jahrhundert geschrieben habe, das würde taugen? - Vielleicht merken die Anwesenden Wiener schon, um wen es sich handelt? - Ja, sagte der Herr Hofrat, das kommt nicht darauf an, über was Sie schreiben, sondern nur darauf kommt es an, daß es alt und unbekannt ist. Schauen wir einmal im Lexikon einen alten italienischen Ästhetiker nach. - Sie schlugen das Lexikon auf und kamen gerade auf G, wo der Name Gravina verzeichnet stand. Sie wußten alle beide nichts von ihm, aber der betreffende Ordinarius fand, das wäre das Richtige. Und der junge Doktor machte seine Habi­litationsschrift über dieses interessante Thema, einen ganz unbekannten, unbedeutenden italienischen Ästhetiker. Und nun konnte ihn der Or­dinarius als Privatdozent zulassen. Die Sache hat aber nicht so kurz ge­dauert; er mußte sich doch immerhin, ich glaube sogar ein und ein hal­bes Jahr, damit beschäftigen, denn es war ja nicht so leicht, die Ver­dienste dieses unbekannten italienischen Ästhetikers in das richtige Licht zu stellen.

Das ist nur so ein extremer Fall. Aber man kann ja ungeheuer viele solcher Fälle hinstellen.

Nehmen wir nur einmal, wie es dahin gekommen ist, daß nach und nach überhaupt alle Freiheit in der Dissertationsthemawahl im Grunde genommen aufgehört hat. In einem solchen Fach wie die neuere Philo­logie hat es zum Beispiel Wilhelm Scherer dahin gebracht, das ganze Dissertationswesen eigentlich zu schematisieren, zu organisieren. Man ließ den Studenten, der da kam und um sein Dissertationsthema fragte, einfach diejenige Dissertation machen, ob es ihm nun entsprach, ob er davon etwas Besonderes speziell getrieben hatte oder nicht, darauf kam es nicht an, man ließ ihn die Dissertation machen, die irgendeinem Professor, der dann ein ausführliches Buch über das Thema schreiben

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wollte, dienen konnte, indem er die einzelnen Dissertationen zusam­mennahm und dergleichen. Dieser äußere Betrieb entspricht aber mehr, als man glaubt, dem inneren Gang des Geisteslebens. Und ich glaube nicht fehl zu gehen, wenn ich sage: Es wäre das größte Verdienst, das Sie sich erwerben könnten, meine verehrten Kommilitonen, wenn Sie dem Geiste, der von da her weht, nun wirklich einen frischen, elemen­taren Quell wissenschaftlichen Arbeitens entgegenstellen könnten. Wenn Sie Kreise bildeten und mit all den Hilfsmitteln und Quellen, die Ihnen zur Verfügung stehen, nun erst wahre, ursprüngliche, elemen­tare wissenschaftliche Arbeit versuchten. Von Gruppe zu Gruppe in einzelnen Städten mögen sich diejenigen zusammenfinden - das müßte ich sagen, wenn Sie meinen Rat wollen -, die aus solchem Geiste heraus arbeiten wollen. Will man zum lebendigen Gedeihen des wissenschaft­lichen Lebens, des Erkenntnislebens arbeiten, dann wird der Chemiker, der Physiker, der Philosoph, der Jurist, der Historiker, der Philologe zu irgendeinem gemeinschaftlichen Thema in gemeinschaftlicher Bear­beitung etwas beitragen können. Und wenn es erwünscht ist, dann werden wir uns, die wir in Domach für diese Hochschulkurse arbeiten, Mühe geben, daß eine Art freies Komitee aus denjenigen Vortragenden entsteht, die vorgetragen haben über die verschiedenen Zweige der Wissenschaft, welche von der anthroposophisch orientierten Geistes­wissenschaft befruchtet worden sind, und daß von diesem Komitee Vorschläge ausgehen können über dasjenige, was zunächst behandelt werden müßte. Nicht aus solchem Geiste heraus sollen dann Themen gestellt werden, wie er von Leuten ausging und ausgeht, die bis zum heutigen Tage regieren auf diesen Gebieten, sondern es soll mehr aus dem Bedürfnis des allgemeinen Geisteslebens der Menschheit heraus das oder jenes angeraten werden. Und wiederum soll auf die freie Wahl gezählt werden. Dasjenige, was notwendig ist, mögen die, die etwas erfahren haben, sagen. Dasjenige, wofür man sich besonders geeignet hält, dafür mag sich derjenige, der sieht, was als notwendig bezeich­net wird aus diesem freien Komitee heraus, entscheiden. Und so könn­ten zusammenarbeiten in einer fortwährenden freien geistig-wissen­schaftlichen Korrespondenz diejenigen, die jetzt als Pioniere gewisser­maßen eines freien Hochschulwesens hier in Dornach ihre Vorträge

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hielten, mit denjenigen, die aus der Studentenschaft heraus enthusias­miert und interessiert sind für dasjenige, was aus dem Geistesleben der Zivilisation des Abendlandes werden soll durch diese Geisteswissen­schaft.

Das ist ungefähr der Weg, auf dem man zunächst in positiver Weise in wissenschaftlicher Arbeit versuchen könnte, die Worte des Aufrufes wahrzumachen. Natürlich ist es heute noch nicht an der Zeit, mehr ins Einzelne gehend diese Ratschläge zu geben. Aber Sie können überzeugt sein, daß diejenigen, die hier in Dornach oder in Stuttgart arbeiten, schon im anthroposophisch orientierten geisteswissenschaftlichen Sinn jederzeit bereit sein werden, mit all ihren Kräften dasjenige zu fördern, das zu tragen, das zu beraten, da mitzutun, wo es sich darum handelt, daß eine begeisterte Studentenschaft ihr Scherflein beitragen will, da oder dort, in dieser oder jener Gruppe, zu dem, was heute einmal eine große, eine umfassende, eine intensive Aufgabe, ein gewaltiges Ideal sein muß: aus einem erneuerten, an die Urquellen zurückgehenden gei­stigen Forschen heraus das Geistesleben - und damit das allgemeine Kul­tur- und Zivilisationsleben der Menschheit - zum Aufstieg, zu einer Morgenröte, nicht zu einem Niedergang, nicht zu einer Abendröte, wie manche meinen, zu führen.

Und, indem ich Ihnen verspreche, daß alles dasjenige, was an mir sein wird, auch dazu getan werden soll, damit ein intensives, ein auf innerer Harnionie gebautes wissenschaftliches Zusammenarbeiten statt­finden soll, indem ich Ihnen das verspreche, möchte ich die Frage be­antworten, die an mich gestellt worden ist: was ich rate zunächst als das Positive, was geleistet werden soll. Wenn wir wirklich in diesem Sinne zusammenarbeiten, dann wird gerade aus der Studentenschaft das­jenige hervorgehen können, was leider nicht hervorgegangen ist aus denjenigen, die angeblich die Studentenschaft führen, deren Aufgabe es allerdings wäre, der Studentenschaft Führer zu liefern. Erweisen sie sich als solche nicht, nun, dann wird gerade eine gute Schule im Los­kommen von allem Autoritätsglauben dasjenige sein, was Sie werden durchmachen müssen, wenn Sie sich auf den Boden des freien wissen­schaftlichen Arbeitens stellen. Daß Sie mit der Geisteswissenschaft und mit alledem, was von Dornach aus und von Stuttgart aus gewollt wird,

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gut zusammenarbeiten können, wenn Sie sich auf einen solchen Boden stellen, das, glaube ich, kann ich voraussehen. Und aus dieser Gesin­nung heraus möchte ich heute zu Ihnen, meine verehrten Kommilito­nen, gesprochen haben.

DAS MENSCHLICHWERDEN DES WISSENSCHAFTLICHEN LEBENS Ansprache am letzten Tage des ersten anthroposophischen Hochschulkurses in Domach am 16. Oktober 1920

#G217a-1981-SE029 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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DAS MENSCHLICHWERDEN DES WISSENSCHAFTLICHEN LEBENS

Ansprache am letzten Tage des ersten anthroposophischen Hochschulkurses

in Domach am 16. Oktober 1920

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Meine lieben Kommilitonen! Es geht aus manchen Ausführungen die­ser Art das eine hervor, daß tatsächlich mit allem Nachdruck bei dem, was wir uns hier denken als anthroposophisch orientierte Geisteswis­senschaft, auf Sie gerechnet ist. Wir rechnen mit allem Nachdruck auf Sie aus dem Grunde, weil ja, wenn dem drohenden Untergang der abendländischen Zivilisation entgegengearbeitet werden soll, das tat­sächlich nur - so wie die Verhältnisse heute einmal liegen - von der Wissenschaft herkommen kann. Bedenken Sie, daß dasjenige, was uns in die heutige Lage hineingebracht hat, ja doch im Grunde auch von der Wissenschaft herkommt. Ich will da viel weniger auf das hinweisen, was eigentlich sozusagen auf der flachen Hand liegt: daß die zerstören­den Anti-Kultureinrichtungen der neuesten Zeit ja im Grunde genom­men wissenschaftliche Ergebnisse sind. Darüber kann man sich ja auf leichte Weise Vorstellungen machen, so daß wir das hier nicht zu be­sprechen haben. Aber etwas anderes wollen wir doch ins Auge fassen.

Sehen Sie, das Proletariat, das hat heute, wenn ich mich des grotes­ken Ausdrucks bedienen darf, eine Art Januskopf. Es ist ganz richtig, daß man das Proletariat unbedingt heranzuziehen hat, wenn es sich heute um eine Neugestaltung der Verhältnisse handelt. Das ist wie­derum etwas, was so selbstverständlich wie nur möglich ist. Und ich darf ja vielleicht daran erinnern, daß es in Stuttgart unter der näheren und weiteren Umgebung am meisten verschnupft hat, als ich einmal in einem öffentlichen Vortrag ein gewisses Wort gesagt habe, das aber, wie ich glaube, aus einer wirklichen Erkenntnis der gegenwärtigen Ver­hältnisse heraus schon gesprochen ist. Ich habe nämlich gesagt, daß das Bürgertum zunächst leidet an einem dekadenten Gehirn, und daß es unbedingt angewiesen ist darauf, die Gehirnarbeit zu ersetzen durch die Arbeit des Äthergehirnes, durch etwas Vergeistigtes. Das ist so of­fenbar, wie nur irgend etwas offenbar sein kann. Dagegen hat der Proletarier

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unter der gegenwartigen vertikalen Völkerwanderung ein noch nicht dekadentes Gehirn. Er kann noch aus dem physischen Gehirn heraus arbeiten, wenn man ihn nur dazu gewinnt. - Das hat natürlich sehr stark verschnupft in Bürgerkreisen der näheren und ferneren Um­gebung. Aber heute handelt es sich nicht darum, ob man die Leute mehr oder weniger verschnupft, sondern darum, daß die Wahrheit an den Tag kommt.

Nun aber zeigt eben das Proletariat dieses. Auf der einen Seite wer-den die Proletarier stets geneigt sein, sich zu sagen: Ja, wir wollen nichts wissen von dem, was ihr uns da bringt. Das ist für uns zu schwierig; das interessiert uns zunächst nicht. Aber auf der anderen Seite sind diese Proletarier ganz gespeist mit Abfallprodukten der Wis­senschaft des 19. Jahrhunderts und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Sie arbeiten ja nur mit dem, was davon abgefallen ist. Wir müssen uns schon dazu durchringen, die Sache so anzusehen. Wir müssen uns sagen: Gewiß, es wird recht schwer sein, mit dem, was wir in ganz ernst­hafter Weise aus der Wissenschaft herausarbeiten, ins Proletariat hin-einzukommen. Aber wenn wir nicht nachlassen, wenn wir nicht uns zurückschrecken lassen, sondern auf dieser sozialen Aktion fußen: wir müssen von der Wissenschaft aus das Proletariat gewinnen! - dann werden wir auch ebenso sicher mit etwas Gesundem unter das Proleta­riat kommen, wie man unter das Proletariat gekommen ist mit Marxis­mus und Bolschewismus. Es handelt sich nur darum, daß wir nicht zu früh überhaupt die Puste verlieren, daß wir tatsächlich das einmal als richtig Eingesehene unbedingt durchführen. Das war ja auch immer und immer mein Grundsatz in der anthroposophischen Arbeit. Daher habe ich nie Kompromisse geschlossen, sondern mir eben - es ging nicht anders - ganz mit voller Einsicht in die Sache Feinde gemacht, indem ich alles das, was dilettantisch heraufgekommen ist, einfach ab­gestoßen habe. Und wenn es einem der Mühe wert wäre, könnte man sehr leicht den Nachweis führen, daß das Gros der gegenwärtigen Feinde solche Leute sind, die einmal wegen Überdilettantismus zurück-gestoßen worden sind. Sie würden schon sehen, wenn Sie auf die Ein­zelheiten eingehen, daß die Sache so ist. Man braucht dazu nur einen Gedächtnisersatz zu haben. Das Gedächtnis ist ja nicht mehr so stark

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ausgebildet! Wenn man an geisteswissenschaftliche Schulung heran­kommt, weiß man das. Dann weiß man die Feinde zu taxieren. Sie tau­chen aus Untiefen oft nach Jahren auf.

Deshalb müssen Sie nicht zurückschrecken vor einem machtvollen Einhalten des einmal als richtig Erkannten, dann wird es auch mit dem Proletariat gehen. Denn das Proletariat leidet nur an einem übertriebe­nen Autoritätsgefühl. Sobald man es aber für sich haben würde, würde man es gewinnen. Es ist heute noch schwer, den Leuten klar zu machen, daß ihre Führer von unten bis oben ihre größten Feinde sind; daß sie Schädlinge sind. Das muß man aber den Leuten auch nach und nach beibringen; dann wird es schon gehen. Dann wird man wahrscheinlich eben dem Proletariat für diese gesunde wissenschaftliche Arbeit Inter­esse geben, die wir wissenschaftlich uns erarbeiten. Dann wird man gerade im Proletariat ein außerordentlich gutes Publikum haben. Und für lange Zeit hinaus wird das Proletariat in seiner Masse selbstver­ständlich gerade «Publikum» sein müssen.

Nun möchte ich aber noch auf etwas anderes hinweisen. Sehen Sie, ich habe mich seit den Jahren, die ich in der anthroposophischen Be­wegung tätig bin, eigentlich immer bemüht, in einer gewissen Richtung zu wirken, die darin bestand, zusammenzubringen das Anthroposophi­sche mit dem speziell Wissenschaftlichen. Ich könnte Ihnen Spezialbei­spiele hier vorweisen von den Schwierigkeiten, die sich da immer ent­gegengestellt haben. Es kam zum Beispiel vor vielen Jahren heran ein Gelehrter, der ein außerordentlich gelehrtes Haus war in bezug auf Orientalismus und Assyriologie. Auf der anderen Seite war er begei­stert für Anthroposophie. Es wäre ja selbstverständlich gewesen, daß einer, der nun wirklich als Gelehrter den Orientalismus und so weiter im kleinen Finger hatte und auf der anderen Seite begeistert war für Anthroposophie, daß der diese zwei Dinge nebeneinander bearbeitete. Dazu war er aber nicht zu bringen; der Mann konnte nicht dazu gebracht werden, daß er eine Brücke schlug von einem Gebiet zum andern. Er konnte in beiden vorwärtskommen, aber er konnte nicht eine Brücke schlagen. Dennoch muß es da auch wiederum sein, daß diese Brücke absolut versucht werden muß. Und man findet sie; man findet durch Anthroposophie den Eingang in jede einzelne Wissenschaft.

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Andererseits habe ich einen ganz bekannten Professor der Botanik gefunden, der auch ein begeisterter Theosoph war. Der betreffende Mann schrieb botanische Werke und er schrieb über Theosophie. Er gehörte nicht der Anthroposophischen Gesellschaft an, sondern der Theosophischen. Er schrieb über Theosophie so, wie auch Annie Besant darüber schrieb. Er war ganz und gar Botaniker, wenn er das Theoso­phiebuch zuschlug, und ganz und gar Theosoph, ohne daß man merken konnte, daß er Botaniker war, wenn er in der Theosophie unterrichtete oder Bücher schrieb. Es war ihm sogar ein Greuel, wenn ich mit ihm über Botanik sprach und so vorbereiten wollte eine Art Brücke-Schlagen.

Sehen Sie: dieses ist das Ergebnis der Kultur der letzten Jahrhunderte, diese doppelte Buchführung - so muß ich sie immer nennen. Man will haben dasjenige, was sich auf das Leben bezieht, in der Fachschrift, und dasjenige, was man dann braucht für das Gemüt, für das «Innere», wie man es nennt, in der Sonntagsbeilage seines politischen Blattes. Die Politik nimmt man dazwischen; die will man nach der bis jetzt beste­henden «Dreigliederung» bekommen vom politischen Blatt. Diese Dinge sind diejenigen, die Sie eigentlich vor allen Dingen durchschauen müssen. Und Sie werden dann vielleicht gerade die Berufensten sein, zu helfen, diese Brücke überall zu finden. In einem gewissen Sinne - es wird ja nicht immer so radikal erscheinen - sind die Dinge doch so.

Sehen Sie, der arme Hölderlin hat ja schon um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert das schöne Wort ausgesprochen, als er sich sagte, wenn er in seinem Deutschland herumsieht, dann findet er überall Be­amte, Fabrikanten, Tischler und Schneider, aber - keine Menschen. Er findet Gelehrte, Künstler und Lehrer und so weiter, aber - keine Men­schen. Er findet junge und ältere und alte, gesetzte Leute, aber - keine Menschen.

Man möchte heute sagen: Wir haben eigentlich gerade in unseren ge­lehrten Berufen am wenigsten das noch, daß dort Menschen sind! Wir haben Wissenschaften, und die Wissenschafter schwimmen so eigent­lich als etwas Tatsächliches herum. Im Grunde genommen leben wir ja eigentlich in einem hohen Grade ganz abseits von der Wissenschaft, in­dem wir uns als Menschen fühlen. Denken Sie nur einmal, wenn wir

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heute - ich meine, wenn wir alles, was gelehrtes Wissen ist, zusammen­fassen -, wenn wir heute eine Arbeit machen, um zu habilitieren, was tun wir dann? Dann können wir nicht einfach uns hinsetzen und das, was aus unserer Seele fließt, etwa in eine solche gelehrte Arbeit hinein-schreiben. Das geht ja nicht. Dann würden wir sehr bald den Vorwurf bekommen: Ja, der schreibt aus dem Handgelenk heraus. Das darf man nicht. Man darf nicht aus dem Handgelenk schreiben, sondern man muß zur Doktordissertation seine Bücher studieren, um die man sich sonst nicht kümmert, vielleicht auch nicht liest, die man nur aufschlägt an den Seiten, wo etwas steht, was man zitieren muß, kurz: man muß ein möglichst äußerliches Verhältnis haben zu dem, was man arbeitet, und darf nur ja nicht ein innerliches Verhältnis dazu haben! Wenn man dann wiederum zusammenkommt - da kann ich Ihnen erzählen von einer merkwürdigen Zusammenkunft in Weimar, die zum Beispiel ge­pflogen wurde auch während meiner Arbeitszeit am dortigen Goethe-Schiller-Archiv, wo ich an den Zusammenkünften der Goethe-Gesell­schaft teilnehmen konnte. Sobald man nur irgend etwas redete, was anknüpfend war an Goethe, oder sobald man nur etwas Wissenschaft­liches anschnitt, so sagte man: Da ist wiederum eine Gruppe, die fach­simpelt, das geht doch nicht! Was der Zweck des Zusammenkommens war, das war dasjenige, was man möglichst vermeiden mußte, um ja nicht in einen üblen Geruch zu kommen der Fachsimpelei. Das alles ist im wesentlichen aber mit daran schuld, daß wir in diese Lage hineinge­kommen sind. Man konnte in Weimar ja wirklich alle Fachleute - viele boten schon einmal eine Art Zusammenfügung aller Fächer - in diesen sieben Jahren durchlaufen sehen, wie im Grunde genommen auch keine starke Differenzierung nach Nationalitäten besteht. Denn wenn zum Beispiel Mr. Thomas von einer ganz westlichen Universität in Amerika schreibt, zeigt sich sogar in seiner Arbeit und in seinem Denken - er arbeitete an Goethes «Faust» - kein eigentlicher Unterschied zwischen dem, was irgendein Schmidt- oder Scherer-Schüler arbeitet. Das war im Grunde genommen international, denn Thomas unterschied sich nur dadurch von den anderen: er setzte sich auf den Boden und schlug die Beine übereinander, wenn er auf dem Boden vor dem Bücherschrank saß. Dadurch zeichnete er sich als Amerikaner aus. Aber im übrigen

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arbeitete er wie die anderen. Die einzige Ausnahme war ein russischer Staatsrat. Der Mann wußte nicht, über welche Fragen er forschte. Wenn er aber abends in ein Gasthaus kam, wo man zusammensaß, sagte man immer zu den anderen: Schaut euch nicht um, denn der Staatsrat geht um! - Weil er immer wieder anfing von dem, was er von Goethes «Faust» wußte, hat man es vermieden, mit ihm zusammen­zusitzen. - Nun, diese Dinge sind eigentlich wichtiger, als man ge­wöhnlich denkt; denn sie könnten reichlich vermehrt werden und wür­den doch etwas erläutern, wie das wissenschaftliche Leben sich so nach und nach entwickelt hat. Und aus diesem wollen wir heraus! Wir wol­len ganz gewiß keine Pedanten, keine neuen Fachsimpler werden, aber wir müssen uns klar sein, daß der Mensch höher steht als alle Wissen­schaften, daß er sich nicht von ihr tyrannisieren lassen muß. Und die Emanzipation des Geisteslebens arbeitet eigentlich darauf hin, die Wis­senschaft als solche in ihrer Abstraktion zu bekämpfen, und den Men­schen an die erste Stelle zu stellen. So daß wir nicht nur Wissenschaft so haben, wie Bölsche schreibt über die «Unsterblichkeit» der Wissen­schaft. Wilhelm Bölsche hat auch eine Art von Geisteswissenschaft auf­gestellt, aber die sucht er in Bibliotheken, die aber sind Verpapierung und Verdruckerschwärzung der eigentlichen Geister.

Das ist aber, worauf wir hinarbeiten müssen: dieses Menschlichwer­den des wissenschaftlichen Lebens, dieses: den Menschen in den Vor­dergrund stellen in der sogenannten objektiven Wissenschaft. Die ob­jektive Wissenschaft muß im Leben in dem Menschen eigentlich ihr Dasein haben. Und man wird dadurch nicht zum vertrockneten Men­schen, wenn man das hat. Im Gegenteil, man wird durch dasjenige, was ich jetzt nennen möchte «Bekämpfung des abstrakten Daseins», gerade zu einem nutzlichen Mitarbeiter werden an dem, was wir so notwendig haben: an dem Bekämpfen der Verbarbarisierung des abendländischen Zivilisationslebens.

Das ist dasjenige, was im Grunde genommen am allernotwendigsten ist für diejenigen, die in die gelehrten Berufe, oder eben von den Wis­senschaften getragenen Berufe hineingehen. Deshalb glaube ich, daß es schon außerordentlich segensreich sein wird, wenn Sie sich zusammen-tun an den einzelnen Hochschulen und in freier Weise solche Themen

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wissenschaftlich behandeln, solche Themen ausarbeiten, wie es versucht werden soll aus denjenigen Körperschaften heraus, die wir schon haben, vor allen Dingen aus der Waldorfschule heraus. Ich denke mir dabei nicht, daß da ein schulmäßiger Betrieb eingerichtet werden soll, ganz und gar nicht, meine lieben Kommilitonen, sondern ich denke mir etwas anderes. Wir werden gewissermaßen versuchen, die Fäden so zu gestalten, daß sie aus den Notwendigkeiten der Zeit heraus gewoben sind, daß sie im Grunde genommen gefunden werden im Hinblick auf dasjenige, was eigentlich in der Gesinnung des Gesamtzusammenhan­ges unserer Kultur liegt. Und dann soll einfach von gewissen Persön­lichkeiten unserer Waldorfschul-Lehrerschaft namentlich, der Körper­schaft, die ihrerseits wiederum eine Art Zusammengehörigkeit festhal­ten soll mit denjenigen, die hier vorgetragen haben, die Aufgabe gelöst werden, gerade die Themen herauszufinden, welche heute gelöst wer­den müssen. Und es soll nur gesagt werden der Studentenschaft, was für Aufgaben notwendig sind nach den Einsichten eben, die diese Kreise haben können. Dann ist das übrige also ja durchaus kein Sich-Aufgaben-stellen-Lassen oder so etwas, sondern es ist ein Ergründen, was heute als besonders notwendig vorliegt. Und da wird sich schon die Möglichkeit bieten, wirklich richtig aus wissenschaftlichen Unter­gründen heraus zu arbeiten. Nur das möchte ich durchaus betonen, daß vermieden werden muß, daß sich abschließen mehr oder weniger wirk­lich oder angeblich arbeitende kleine wissenschaftliche Kreise, und daß man glaubt, daß man damit heute schon genug tun kann. Dieses könnte ja natürlich sehr nützlich sein und wird auch sehr nützlich sein, es muß auch schließlich getan werden, aber wir brauchen daneben eine groß­zügige Studentengruppenbewegung, die sich heute wirklich bewußt ist:

es kann nicht so fortgehen unter der Jugend, wie es gehen würde, wenn diese Jugend nur folgen würde in ihren Intentionen denjenigen, die heute noch aus alten Zeiten heraus, aus alten Traditionen heraus stam­men und eben die Ämter innehaben. Wenn man davon spricht, daß die Sozialdemokraten ihre Führer loswerden müssen, so ist es vor allen Dingen notwendig, daß die Jugend von heute die alten Führer in einer gewissen Weise losbekommt. Das wird schwerer werden, als es eigent­lich gehen müßte.

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Denn sehen Sie, ich kann ja natürlich da nicht an der Sache vorbei­kommen, auf die es eigentlich ankommt. Und ich muß Sie schon bitten, durchaus sich klar darüber zu sein, daß ich in aller Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit über diese Dinge rede. Sie können ganz sicher sein: wir würden leicht vorwärtskommen in der anthroposophisch orientierten Geistesbewegung, wenn wir das in uns frei hätten, daß wir eigentlich nur für den Geist und als Anregung dem Geiste nach arbeiten müßten. Die Ämter vergeben, die Grade erteilen, die Studenten durchfallen las­sen im Staatsexamen - das tun die anderen. Und das ist ein wichtiger Faktor. Den unterschätzen wir auf unserem Boden durchaus nicht. Denn wir wissen ganz genau, was es heute an Mut und Kühnheit be­darf gerade für den angehenden Gelehrten und angehenden wissen­schaftlichen Arbeiter, bei uns zu sein und zu bleiben. Denn wir können ihm ja eigentlich heute noch außerordentlich wenig bieten. Wenn wir unsere einzelnen Bewegungen nach und nach zur Tragkraft bringen, dann werden die Dinge schon besser. Ich habe, als die Waldorfschule begründet worden ist, gesagt: Die Gründung ist schön, aber sie hat keine Bedeutung, wenn nicht im nächsten Vierteljahr zehn weitere Schulen mindestens begründet werden, denn dann ist sie erst begründet. Und ich habe durchaus in Aussicht genommen - wie ich immer prakti­sche Ideen verfolge, nicht bloß Ideen, die man bloß tradieren kann -, daß, wenn wir überall Schulen gründen können, dann werden wir an unsere Schulen auch diejenigen berufen können, die es unter Umstän­den so machen, wie Dr. Stein es uns selbst erzählt hat. Es ist aber kein System. Er hat sich inskribieren lassen, hat sich angeschaut, wie es in ein paar Vorlesungen zugeht, aber im übrigen hat er Zyklen und sonsti­ges gelesen, hat gelesen, was da zitiert ist, und hat es zur Absolvierung des akademischen Studiums gebracht. Selbstverständlich kann diese Sache nicht verallgemeinert werden, denn wahrscheinlich würden nur drei Viertel der Professoren damit einverstanden sein, daß Sie eigentlich, wenn lauter solche Studenten da wären, wie Dr. Stein einer war, nur in die ersten drei Vorlesungen zu kommen brauchen und dann spazieren gehen können. Das läßt sich heute nicht ohne weiteres realisieren für die Allgemeinheit. Also, ich will das nicht propagieren. Aber ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen, daß jedenfalls der Geist,

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der heute in den Hörsälen auf den Kathedern sitzt, wenn er sich über­trägt auf die Schulbänke, uns keine Zukunft bringt. Aus dieser Not­wendigkeit heraus müssen Sie schon den Mut finden, wenigstens in einer gewissen Weise sich mit demjenigen zu alliieren, was hier gewollt wird. Aber auf der anderen Seite - ich dachte praktisch, wie die Wal­dorfschule begründet worden ist -: wenn wir in der Lage sind, das Gei­stesleben wirklich zu emanzipieren, so werden wir immer mehr und mehr Waldorfschulen haben, und dann werden wir auch unseren jun­gen Freunden aus der Studentenschaft eine Zukunft bieten können. Es ist durchaus nicht unidealistisch gemeint, daß ich das sage. Aber dann wird es schon leichter gehen. Aber wir müssen eben von hüben und drüben uns gegenseitig unterstützen. Wie wir arbeiten wollen an der Gründung von freien Schulen bis zu den Hochschulen hinauf, so wer­den wir nur arbeiten können, wenn wir auf der anderen Seite eine ver­ständnisvolle Studentenschaft uns entgegenkommen sehen. Dazu sind nicht nur kleine Gruppen notwendig, dazu ist eine studentische Bewe­gung notwendig, die in großem Stil arbeiten will, die in großem Stil für das eintreten will, was hier gedacht ist.

Da muß ich doch darauf aufmerksam machen, daß das von mir ganz ernsthaft gemeint ist, was ich in diesen Tagen als die Begründung des Weltschulvereins Ihnen angeführt habe. Den denke ich international gebildet, so daß er gewissermaßen aus dem Denken und Empfinden der heutigen Zeit heraus noch geschaffen werden soll. Wenn wir der Welt erst zum Verständnis bringen, daß es heute eigentlich nur zwei Bewe­gungen gibt, die miteinander zu ringen haben, das ist auf der einen Seite der die Welt in den Sumpf hineinführende Bolschewismus, auf der anderen Seite die Dreigliederung des sozialen Organismus, dann sind die Menschen auch vor die Wahl gestellt, sobald sie sehen, daß es mit den alten Impulsen nicht mehr weitergeht! Daß es entweder ge­schehen muß, daß diejenigen, die in vernünftiger Weise die Kultur vor­wärtsführen wollen, allmählich in den Dreigliederungsimpuls sich hin­einleben müssen, oder daß, wenn die Menschen dazu zu bequem sind, der Bolschewismus Europa überfluten und die europäische Kultur bar­barisieren wird. Wenn die Menschen das verstehen, werden sie doch leichter zu gewinnen sein als heute.

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Drei Dinge sind es, die man durchaus berücksichtigen muß. Wenn man vor der Welt, vor der internationalen Welt, heute von so etwas re­det, wie es der Dornacher Bau ist, und daß man Geld dazu braucht, da stellen sich die Leute auf den Standpunkt: das muß doch alles Idealismus sein! Da kann man doch nicht so schofel sein, Geld dazu herzugeben! Geld ist doch viel zu schmutzig, um es für eine so ideali­stische Sache zu verwenden. Kurz, die Leute sind, wenn sie nicht lange dazu vorbereitet werden, nicht ohne weiteres für so etwas zu haben. Und da wir ja aus mitteleuropäischen Ländern wegen der Valuta keine Möglichkeit haben, unseren Bau fertigzustellen, so sind wir eben ange­wiesen auf andere Teile der heutigen zivilisierten Welt. Die geben uns aber so ohne weiteres kein Geld. Da findet man im Grunde sehr zuge-knöpfte Taschen. Dagegen sind die Leute heute noch verhältnismäßig leicht zu gewinnen, wenn man ihnen sagt, man will Sanatorien begrün­den. Da bekommt man Geld, soviel man haben will. Das können wir nun nicht, Sanatorien begründen, aber wir können uns auf das Mittlere einlassen. Das Mittlere ist dasjenige, was ich mit dem Weltschulverein meine. Der Weltschulverein kann alle Kultureinrichtungen finanzieren, wenn er in der richtigen Weise verstanden wird. Und für die Einrich­tung des Schulhaften findet man doch noch einiges Verständnis, weni­ger für so etwas, was direkt der Bau ist. Für dasjenige, was in der Mitte steht sozusagen, müssen wir wirken. Daher kommt es darauf an, daß in einer gewissen Weise vorbereitet werde diese Begründung des Welt­schulvereines, den wir als etwas Universelles haben werden, daß Stim­mung gemacht werde für diesen Weltschulverein. Und ich möchte da­her meinen, daß es das beste wäre, wenn Sie in Ihre Entschlüsse, in Ihre stärkste Initiative das aufnehmen werden, daß Sie an jeden heran-treten, der Ihnen zugänglich ist, und ihn überzeugen davon, daß dieser Weltschulverein verbreitet werden muß über alle Länder, daß an ihm es hängt, das Geistesleben zu emanzipieren. Daß er finanzieren muß soviele freie Schulen über die ganze Erde hin, als irgend möglich ist. Die Emanzipation des Geisteslebens muß eben im größten Stile betrie­ben werden. Wir müssen dahin kommen, uns von dem zu emanzipie­ren, was uns im Grunde genommen geistig knechtet. Das können wir aber nur, wenn wir Stimmung dafür machen. Die Tyrannis ist ja großer,

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als man meint. Von einem Orte Europas aus werde ich diese Begrün­dung des Weltschulvereins selber versuchen zu inaugurieren. Aber was vorangehen muß, das ist: Stimmung dafür zu machen. Denn man kann heute nicht etwas erreichen dadurch, daß man Gruppen bildet von zwölf, fünfzehn Leuten, die die Sachen ausarbeiten. Sondern darauf kommt es an, daß wir möglichst verbreiten diese Idee: ein Weltschul­verein muß entstehen. Nun kann ich mir ja gut vorstellen, bin auch durchaus damit zufrieden, daß ja selbstverständlich die Studenten nicht gerade sehr weit ihr Portemonnaie aufmachen können. Das ist nicht notwendig. Dazu gehören die anderen. Aber das, was der Student doch aufmachen kann, das ist - Sie wissen, ich meine das cum grano salis -, was der Student aufmachen kann, das ist sein Mund. Das ist dasjenige, was ich meine: daß Sie möglich machen können, für den Weltschul­verein, überall wo Sie hinkommen, den Mund aufzumachen. Damit dann, wenn wir in allernächster Zeit diesen Weitschulverein begründen, wir nicht auf taube Ohren stoßen, sondern auf vorbereitete Menschen. Das ist das, was sein muß.

Sie sehen, Aufgaben haben wir genug. Was wir brauchen, ist nichts anderes als wirklichen Mut und einen freien Blick in die Welt hinein. Warum sollten wir es nicht zustande bringen, mit jugendlichen Kräften wirklich auch diejenigen Dinge zu überwinden, die überwunden wer­den müssen, weil sie noch mit aller Signatur der alten Zeit in unsere Zeit hereinragen und uns beugen wollen? Wir dürfen uns nicht beugen lassen. Wir müssen heute einsehen, daß wir auf des Messers Schneide tanzen, man kann auch sagen: auf einem Vulkan tanzen. Es ist nicht so, meine lieben Kommilitonen, daß die Dinge so fortgehen werden, wie sie jetzt gehen. Wir gehen sehr, sehr traurigen Zeiten entgegen. Aber wir können diesen traurigen Zeiten abhelfen dadurch, daß wir mit Mut und Energie in diese Zeiten hineinwachsen. Und ich glaube, darin kann Ihnen schon Geisteswissenschaft, Anthroposophie eine Stütze sein. Sie kann jedem eine Stütze sein.

Ich bitte Sie zum Schlusse nur: Treiben Sie die Dinge nicht partiku­laristisch, sektenmäßig, sondern im weitesten Stile. Schließen Sie nie­mand aus, sondern schließen Sie alle ein, die mitarbeiten wollen. Es kann nichts anderes ausschlaggebend sein als lediglich der Wille, daß

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jemand ehrlich in unserer Richtung mitarbeiten will, in derjenigen Richtung, die uns durch das Hineinwachsen in wissenschaftliche Be­rufe vorgezeichnet ist. Mir scheint es wirklich, meine lieben Kommili­tonen, daß nach dieser Richtung hin nicht mehr weiter gesündigt wer­den darf. Wir müssen weitherzig sein. Wir müssen jeden als sehr will­kommenen Mitarbeiter betrachten, der ehrlich mit uns arbeiten will. Wir dürfen keinen Unterschied zwischen Mensch und Mensch aufkom­men lassen, sondern wir mussen jeden mitarbeiten lassen, der einfach den Willen hat mitzuarbeiten. Es soll die Sache auch so sein, wie im Grunde genommen in der anthroposophischen Bewegung es immer war. Wir haben nie von jemandem verlangt, daß er etwas ablegt von dem, was er sonst vertritt in der Welt. Nie hat jemand etwas abzulegen brauchen, sondern man hat nur anzunehmen brauchen das, was ihm von der anthroposophischen Bewegung heraus eben hat werden kön­nen. Und ich darf da vielleicht an ein Persönliches erinnern. Sie wissen ja, wie mir immer zum Vorwurf gemacht wird, daß ich einmal mit der theosophischen Bewegung gegangen wäre. Kein Mitgehen war es! Die theosophische Bewegung ist eigentlich zu mir gekommen; sie hat sich mir angeschlossen eine Zeitlang, bis sie das, was ich vertreten habe, hinauswarf. Aber ich habe bei der ersten Zusammenkunft in London dazumal zu den Theosophen gesagt, daß es sich nicht darum handle, daß wir irgend etwas von der Zentrale aus annehmen, sondern: wir bringen zu dem gemeinsamen Altar dasjenige, was wir gerade zu brin­gen haben.

In solchem Sinne kann man dann zusammenarbeiten in weitestem Maße. Und wenn Sie im Stile eines solchen Arbeitens gerade in Studen­tenkreisen wirken, dann werden wir vorwärtskommen.

ÜBER DIE JUGENDBEWEGUNG Fragenbeantwortung während der Freien Anthroposophischen Hochschulkurse in Stuttgart am 20. März 1921

#G217a-1981-SE041 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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ÜBER DIE JUGENDBEWEGUNG

Fragenbeantwortung während der Freien Anthroposophischen Hochschulkurse

in Stuttgart am 20. März 1921

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Frage: Was war die Jugendbewegung, was ist sie, und wie kann man von ihr aus zur An-throposophie gelangen? Diejenigen, die durch die Jugendbewegung durchgegangen sind, glauben in der Anthroposophie eine Fortsetzung dessen zu finden, was sie in der Jugend-bewegung gesucht haben. Sie wollen etwas hören über die Bedeutung der Jugendbewe­gung vom geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkt aus.

Rudolf Steiner: Die Jugendbewegung gehört einem Zeitalter an, in dem ich selber nicht mehr jung war; so müssen diejenigen, die der Jugendbewegung angehören, über dieselbe äußerlich besser unterrichtet sein als ich.

Die Jugendbewegung ist, äußerlich genommen, nicht durchaus eine abstrakte einheitliche Bewegung, sondern es finden sich Menschen der verschiedensten Vorstellungswelten und Weltanschauungen in ihr zu­sammen. Die Menschen finden sich vielleicht dem Gefühl nach zusam­men. Das ist die eine Seite der Jugendbewegung. Es sind andere Kräfte -keine Persönlichkeiten halten sie zusammen, elementarere Kräfte als zum Beispiel Weltanschauungskräfte, die in ihr wirken und sie zusammen­halten. Es gibt innerhalb der Jugendbewegung viele Persönlichkeiten, die keine klar formulierte Auskunft geben könnten über das, was sie wol­len; sie könnten nicht aus dem Bewußtsein heraus sagen, was sie wollen.

Die zweite Seite der Jugendbewegung ist, daß sie international überall so zutage getreten ist, daß man zum Beispiel nicht sagen kann, daß sich die Jugendbewegung der Schweiz und die Jugendbewegung Deutsch­lands gegenseitig beeinflußt haben, sondern die Jugendbewegung ist aus elementaren Kräften heraus international in die Höhe geschossen. Sie ist eine allgemeine menschheitliche Sache. Man muß die Charakteristiken der Jugendbewegung gewissenhaft beachten. Wenn einem so etwas entgegentritt, hat man das Gefühl, daß man es nur von tiefen Gesichts­punkten aus verstehen kann. Wenn man mit geisteswissenschaftlich­historischen Kenntnissen an die Jugendbewegung herantritt, wird es einem klar, daß sie mit dem innerlich-menschheitlichen, geschichtlichen

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Umschwung, der sich für den Geisteswissenschafter stark kennzeichnet als eingetreten am Ende des 19. Jahrhunderts, zusammenhängt. Man kommt darauf, wenn man die Merkmale genau betrachtet, die man bei den Aussprachen mit denen findet, die in diesem Zeitpunkt noch jung oder Kinder waren.

Ich bin diesen Momenten näher nachgegangen und bin auf Grund meiner Beobachtungen zu der Ansicht oder besser Einsicht gekommen, daß die Jugendbewegung mit dem großen Umschwung vom Ende des 19. Jahrhunderts zusammenhängt und eines der Symptome ist, die zu diesem Zeitpunkt auf das Heraufkommen einer neuen Epoche hindeutet. Wenn man einer Sache sehr nahesteht, lernt man sie nicht in ihrem vollen Wesen kennen, man lernt sie erst kennen, wenn man sich von ihr entfernt; wie man Geschichtszusammenhänge auch erst von einem späteren historischen Zeitpunkt aus beurteilen kann. Man kann durch die geisteswissenschaftliche Methode ein gewisses Sich-Fernstellen errei­chen und dadurch genau beobachten lernen und sich Einsichten in Zusammenhänge verschaffen. So werden einmal die Menschen dahin kommen, daß sie über das Ende des 19. Jahrhunderts so denken und einsehen, daß damals ein bedeutsamer Impuls hereingekommen ist, der heute noch verborgen ist.

Dieser Impuls, der ein menschheitlicher ist, scheint in den Gemütern derer zu leben, die sich der Jugendbewegung zugewendet haben. In diesen Gemütern lebt ein Aufleuchten des ungeheuer bedeutsamen Wendepunktes vom Ende des 19. Jahrhunderts. Manchmal kann es sehr unwichtig sein, sich diskutierend darauf einzulassen, aber es ist wichtig einzusehen, daß wichtige Impulse wirken und von denen emp­funden werden, die sich der Jugendbewegung angeschlossen haben. Geisteswissenschaft will das bewußt auffangen, was m der Mensch­heitsentwickelung wirkt, und sie steht auf dem Standpunkt, daß man ohne sie auch nicht die große Weltkatastrophe verstehen kann. Die Philister, die eine Sache nicht verstehen können, werden sie für ver­schroben halten und wissen nicht, daß sie selber verschroben sind. Die Menschen, die in den Vorstellungen von vorher alt geworden sind, können nicht mehr mit. Dekadente Gehirne leben in denen, die Altes noch in das 20. Jahrhundert hineintragen.

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Es ist kein Widerspruch, wenn sich die Jugendbewegung in die Gei­steswissenschaft hineinlebt. Man kann sogar von einer gewissen Präde­stination der Jugendbewegung für Geisteswissenschaft reden. Die Jugendbewegung ist bedingt durch ein Fühlen desjenigen, was der Geisteswissenschaft mehr oder weniger bewußt vorliegt. Man darf nicht eitel werden. Man darf durch solche Erkenntnisse nicht dahin kommen und zum Beispiel sagen: In mir lebt die Epoche. Wir sind mitbedingt von dem Impuls vom Ende des 19. Jahrhunderts. Wir müssen solche Dinge äußerlich betrachten, nicht patriarchalisch wie unsere Vorväter. Unserem Zeitalter gegenüber kommt man mit so etwas nicht zurecht.

Frage: Wie findet man die Brücke von der Jugendbewegung, in der Menschen sind, die sich gegen die seitherige Weltanschauung auflehnen, zur Anthroposophie? Man kann eine gewisse Ablehnung finden gegen Anthroposophie. Manche Menschen empfinden sie als etwas schroff. Der Weg ist ihnen zu strikte vorgeschrieben. Die Anthroposophen rük­ken ihnen das Geistige zu sehr in den Vordergrund, wihrend sie sich bemühen, sich selbst zu finden

Rudolf Steiner: Dies hängt mit dem erwähnten Impuls zusammen. Man kann dieselbe Frage vom entgegengesetzten Gesichtspunkt sehen. Anthroposophie ist doch dasjenige, was in unserem Zeitalter an gewisse geistige Dinge herangehen kann. Die Menschen, die sich in die Anthro­posophie hineinfinden, sind entwurzelt dem, was als Kultur unmit­telbar vorhergegangen ist. Ein Beispiel ist Friedrich Nietzsche. Er lebte in der Übergangsepoche; er ist vom Schicksal verurteilt gewesen, durch alle intimseelischen Kulturleiden hindurchzugehen. Nietzsche ist durch alles, was man an der Kultur leiden kann, hindurchgegangen. Wenn man ihn in seiner Studentenzeit, in der Wagner-Schopenhauer-Zeit, in der Zeit des Positivismus betrachtet, leidet er an dem, was für die damalige Kultur das Erhebendste war. Man kann sehen, wie dieser Mensch zuerst leidet an der Kultur des 19. Jahrhunderts und dann an ihr zugrunde geht. Er steckte noch in der Kultur des 19. Jahrhunderts darinnen.

Einzelne Menschen konnten sich herausarbeiten und sind dann zur Anthroposophie gekommen. Sie hatten an ihr etwas, was am Ende des 19. Jahrhunderts gewissermaßen keinen Vater und keine Mutter hatte; es war etwas, was sich auf einen neuen Boden stellen mußte. Gegenüber

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dem, was vergangen ist, steht Anthroposophie verlassen da. Man ist nicht Anthroposoph, um eine Weltanschauung zu haben, sondern man ist es mit semem ganzen Menschen. Die Menschen, die kein Ver­hältnis zur Anthroposophie gewinnen wollen, setzen sich einer Gefahr aus, und wenn nicht versucht wird, die Brücke zu finden von denjeni­gen, die dazu fähig sind, die vom entgegengesetzten Pol auch ohne Vater und Mutter sind, so würde für die anderen Menschen unter Um­ständen der Anschluß an die Menschheitsentwickelung versäumt.

Ich kann durchaus verstehen, daß solche Bedenken vorgebracht wer­den. Man müßte sich jedoch bemühen, die Brücke zu suchen. Aber wenn dies ängstlich vermieden wird, so würde man ganz der Gefahr sich aussetzen, die eben charakterisiert wurde, und überhaupt zu kei­nem Fortschritt kommen. Die Jugendbewegung ist vor kurzer Zeit zu einer Schwankung gekommen. Sie strebte überall nach Zusammen­schluß; die Menschen wollten einander finden und zusammenkommen. In den letzten Jahren ist dieses bei einzelnen anders geworden; sie streb­ten nach einem gewissen Sich-Abschließen. Dies trat auch als durch­greifende internationale Nuance auf. Das Sich-nicht-Erfüllen mit einem geistigen Gehalt führt zu einer Einkapselung des einzelnen Individuums.

Es gibt zahlreiche Wege zur Anthroposophie. Man sollte darüber hinauskommen, sich zu stoßen an dem Wesen einzelner Menschen, die Anthroposophen sein wollen, und sollte versuchen, die Anthroposo­phie wirklich zu erleben. In der Gegenwart ist eigentlich Anthroposo­phie das einzige, das nicht dogmatisiert, und das nicht darauf erpicht ist, etwas in ganz bestimmter Weise hinzustellen, sondern das bestrebt ist, etwas von verschiedenen Seiten anzuschauen. Die Hauptsache der An­throposophie liegt im Leben und nicht in der Form. Man ist ja wohl gezwungen, wenn man verstanden werden will, Formen anzuwenden, die gegenwärtig üblich sind.

Ein Amerikaner fragte mich einmal: Ich habe Ihre Schriften gelesen, auch Ihre sozialen. Glauben Sie, daß sie auch noch für kommende Zeit­alter gelten? Ich habe ihm geantwortet: Sie sind so aufgebaut, daß sie sich metamorphosieren können, und dann können ganz andere Folge­rungen für die kommende Zeit sich ergeben als für die jetzige. Es kommt darauf an, daß Leben Leben findet.

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Ein Teilnehmer: Für die Jugend müßte eine Brücke gefunden werden, indem man von der Lehre das ins Leben umsetzt, was die Jugend direkt angeht. Mit der Lehre kann die Jugend nichts anfangen. Die Lehrer zum Beispiel, die aus der Jugendbewegung hervor­gegangen sind, kämpfen um das, was in der Waldorfschule geschieht, schon lange; da könnte man Brücken schlagen. Auch das, was durch die verschiedenen Kurse von der Anthroposophie gedanklich nahegebracht wurde, wurde in der Jugendbewegung unbe­wußt schon erlebt.

Rudolf Steiner: Man muß berücksichtigen, daß in unserem Zeitalter der einzelne den Anschluß an die allgemeine Entwickelung durch Gedanken finden muß; er muß durch Gedanken hindurch. Es ist restlos möglich, Anthroposophie in junge Menschen hereinzubringen und auch in Kinder. Natürlich darf man dabei nicht auf dem Standpunkt der Alten stehen. Zum Beispiel, wenn man dem Kinde den Gedanken der Unsterblichkeit der Seele beibringen will, nimmt man das Beispiel vom Schmetterling und der Puppe. Das Kind wird verstehen können, um was es sich handelt, denn es ist eine Wahrheit. Die Natur selbst stellt im Hervorgehen des Schmetterlings aus der Puppe auf einer niede­ren Stufe dasselbe hin, was auf einer höheren Stufe für die Seele die Unsterblichkeit ist. Wenn man von dem Standpunkt ausgeht, das Kind ist dumm und ich gescheit, so wird das Kind niemals etwas Rechtes lernen, besonders wenn man noch dazu selbst nicht glaubt, was man dem Kind beibringt. Darin liegt die Möglichkeit, alles von der Anthro­posophie an die Kinder heranzubringen. Im Geschichtsunterricht muß das, was als Leben in der Geschichte wirkt, in richtiger Weise an das Leben herangebracht werden.

Frage: Von der Jugendbewegung ist heute ein großer Teil in das Philisterlager überge­gangen. Die Jugendbewegung ist sehr stark seelisch eingestellt. Sie geht nach einem star­ken Natur- und Gefühlsleben, und dadurch kommen die Menschen dazu, sich gegen vieles, was bisher war, zu sträuben. Die Menschen wollten ihre eigene Gesetzlichkeit aus­leben, sie kamen aus dem Gefühlsmäßigen nicht hinaus, sie konnten nicht erkennen, daß das Leben aus innerer Wahrhaftigkeit nur wirklich fruchtbar werden kann, wenn es ganz durchgedacht wird. Deshalb zeigt sich das Nicht-zu-Ende-Denken. Wenn man die Be­deutung der Anthroposophie für junge Menschen erkennt, kann man jungen Menschen weltanschaulich oder philosophisch nachweisen, daß sie zur Anthroposophie kommen müssen, daß Anthroposophie nur bewußter, aber nichts anderes will als was sie auch wollen. Die Lösung der Geschlechterfrage wurde bisher auf drei Wegen gesucht: Kurel­las Körperseele, Askese und jugendliche Ehe. Keiner der drei Wege hat aber eine wirkli­che Lösung gebracht.

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Rudolf Steiner: In diesen drei Wegen wird ein neues Problem, das sich vor die Menschheit stellt, mit altem doginatischem Denken zu lö­sen versucht. Die Wesenheit des freien Menschen läßt sich nicht er­schöpfen in bloß Gedachtem.

In der Anthroposophie sehe ich etwas, was lebt, was fähig ist, aus dem Menschen ein anderes Wesen zu machen, das er vorher nicht war. Er wird frei durch dieses Substantielle, er wird ein wirklich freier Mensch im Verlaufe einer kurzen Entwickelung. Man kann nicht den­kerisch eine Frage lösen, die durch das Leben gegeben ist. Die Frage wird sich durch die Praxis des Lebens lösen, wenn sie vom Standpunkt der Freiheit aus erfaßt wird. Man darf ohne Sorge sein, daß dadurch etwas Unsoziales zustande kommt. Stellen Sie sich vor, man wollte eines Tages erkennen, wie die Konzeption eingerichtet werden muß, daß ein männliches oder weibliches Wesen geboren wird. Wenn dies zur Verstandessache gemacht wird, wären sicher nicht so viel Männer wie Frauen auf der Welt. Trotzdem dies nur ganz individuell sich voll­zieht, kommt doch durch innere Gesetzmäßigkeit ein Soziales zustande. (Rudolf Steiner weist auf sein Buch «Die Philosophie der Freiheit» hin und fährt fort:] Nicht mit einem Sprung, am wenigsten durch Pro­gramme kann man zu einem neuen Leben kommen. Man ist dazu da­durch vorbereitet, wenn man als Untergrund eine freie Gesinnung hat. Dieses Problem muß von jedem einzelnen individuell gelöst werden. Die Jugendliteratur ist in bezug auf die Geschlechterfrage ganz dogma-tisch.

Frage: Die Jugendbewegung war anfangs ganz romantisch. Man erkannte etwas an, was einem draußen in der Natur entgegentrat. Man erkannte, daß man das Göttliche nicht nur mit dem Verstande erfassen kann. Anthroposophie will alles ins Bewußtsein ziehen. Sie geht auf ein Streben nach Erkenntnis aus. Die Brücke zwischen diesen beiden finden die meisten nicht, können sie auch nicht finden.

Rudolf Steiner: Man denkt hierin zu egoistisch; man denkt nicht daran, wie man den Anschluß an die gesamte Menscliheitsentwickelung findet. Das Vorstellungs- und Begriffsmäßige stellt sich in diesem Zeit­alter heraus. Wir erleben heute die Welt vorstellungsgemäß. Es ist not­wendig, sich aus der Dumpfheit des Fühlens zu erheben und zu einer lichtvollen Vorstellung durch das Denken zu kommen. Wir sind Menschen

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doch eigentlich erst durch das Denken. Unser Gefühlsleben wird durch das Denken ein anderes, und wir sind mehr Mensch durch das, was das Denken in uns entbindet. Das Leben im Gefühl wird ange­strebt, weil man eine Scheu vor dem Klaren hat. Das Gefühl kann sehr intensiv sein, wenn es durch das Denken hindurchgeht. «Leben in der Natur» wird so oft mit einem Unterton gefaßt, als wenn man etwas Besonderes anstrebte. Man muß sich klar sein, daß man damit nichts Neues bringt, sondern nur etwas wieder erwirbt, was man früher ver­loren hat. In dem modernen Menschen muß ja die Sehnsucht leben. Ihm wurde von dem Mten zu wenig gegeben; er muß sich etwas er­werben. Es empfiehlt sich, Schillers Abhandlung «Über naive und sen­timentalische Dichtung» zu lesen. «Die Philosophie der Freiheit» ist auf einem natürlichen Verhältnis zur Natur aufgebaut.

Frage: Es besteht eine Kluft zwischen der älteren und jüngeren Jugend. Die Jugend, die jetzt auf den Mitteischulen ist, ist anders als die Jugend der Jugendbewegung. Den Geist der Mittelschuljugend, aus der die Jugendbewegung herauswuchs, hat man mit einem Schlagwort gekennzeichnet als «Romantik der Empörung» . Den Geist der heuti­gen Mittelschuljugend müßte man bezeichnen als «Resignation des Wiederaufbaus». Alles was dem Jugendbewegungsmenschen tiefes Erleben war: nächtliche Fahrten, Lager­feuer, zielloses Umherstreifen - das erscheint der heutigen Jugend als Bolschewismus. Sie lehnt es ab und sehnt sich nach Schranken, an die sie sich halten kann, nach Autori­täten. Ist in dieser Tatsache nur eine vorübergehende Reaktion oder das Aufkommen einer neuen Epoche von der Jugend zu sehen?

Rudolf Steiner: Eine schwierige Zeitepoche war die, die durchge­macht worden ist von den Menschen, die heute zwischen dem fünfund­dreißigsten und fünfzigsten Jahre stehen. Die letzten Jahre des 19. und die ersten des 20. Jahrhunderts waren eine schwierige Zeit; sie war gei­stig auf das Materielle gerichtet. Das Gute, das geistige Leben der fünf­ziger und sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts ist verschüttet worden. Die heute wirksamen Menschen sind zu alt geworden; die meisten, die in der Welt etwas tun, sind mindestens fünfzig Jahre alt. Und diejeni­gen Jungen, die etwas vorhaben zu tun, werden nicht herangelassen. Zwischen beiden steht eine innerlich untätige Generation, und das sind die Väter der heutigen Gymnasiasten. Diese Väter haben einen schlim­men Einfluß auf die Jugend gewonnen, die zu ihnen als zu ihren Füh­rern aufschaut. Autorität ist schon recht, aber es kommt darauf an, an

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was für Persönlichkeiten sie sich knüpft. Und was sind das für Ideale, die in der Generation zwischen fünfunddreißig und fünfzig leben und auf deren Söhne übertragen werden? Mit dieser Jugend kann man nur Mitleid haben.

Frage: Hält Dr. Steiner es für wünschenswert, daß etwas wie eine Organisation unter den Jugendbeweglern, die gleichzeitig Anthroposophen sind, sich bildet?

Rudolf Steiner: Nun, ich halte von Organisation nicht besonders viel. Sehen Sie, ich habe in meinen «Kempunkten» absichtlich gesprochen vom sozialen Organismus, nicht von Organisation. Mit dieser Kost sind wir doch reichlich überfüttert worden in den letzten Jahren.

Frage: Es war gemeint zu fragen, ob sich gemeinsame Aufgaben ergeben würden für die Jugend in der anthroposophischen Bewegung, oder ob jeder seine Aufgabe für sich hat.

Rudolf Steiner: In der Zukunft wird es so sein, daß alle Aufgaben, die der einzelne hat, Aufgaben der Gemeinschaft sein werden, und daß jeder die Aufgaben der Gemeinschaft zu seinen eigenen machen muß. Anders wird es nicht gehen. Aber so etwas kann man nicht organisie­ren, sondern nur assoziieren.

ZUR FRAGE: WIE KANN ANTHROPOSOPHISCHE ARBEIT AN DEN UNIVERSITATEN AUFGEBAUT WERDEN? Schlußwort zu einer Studentenversammlung Dornach, 9. April 1921

#G217a-1981-SE049 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

#TI

ZUR FRAGE: WIE KANN ANTHROPOSOPHISCHE ARBEIT

AN DEN UNIVERSITATEN AUFGEBAUT WERDEN?

Schlußwort zu einer Studentenversammlung

Dornach, 9. April 1921

#TX

Zur Besprechung der Frage, wie antliroposophische Arbeit an den Universitäten aufge­baut werden könne, fand am Nachmittag des 9. April 1921 auf Anregung deutscher Stu­denten eine Zusammenkunft statt. Dr. Steiner ergriff zum Schluß das Wort.

Dr. Stein hat allerdings auf die drei wichtigsten Dinge, die hier in Be­tracht kommen, hingewiesen: bei einer Organisation oder bei keiner Organisation, wie es gewünscht wird. Aber ich möchte vor allen Din­gen das eine betonen: Wenn man in einer solchen Bewegung drinnen-steht, wie es die unsrige ist, so ist es schon notwendig, von dem Ver­gangenen ein wenig zu lernen und weitere Stadien der Bewegung so zu führen, daß gewisse frühere Fehler vermieden werden.

Worauf es in erster Linie ankommen wird, das wird doch dieses sein, daß Anthroposophie, soweit sie heute schon vom Verständnis der Stu­dentenschaft angenommen werden kann und soweit es durch die vor­handenen Kräfte oder durch die vorhandenen Gelegenheiten irgend möglich ist, daß Anthroposophie in ihren verschiedenen Verzweigun­gen unter der Studentenschaft verbreitet werde als positiver geistiger Inhalt. Wir haben im Grunde genommen die Erfahrung gemacht, daß etwas Reales doch nur dadurch zu erreichen ist, daß man auf dem Grunde des Positiven wirklich bauen kann.

Ich hatte gestern Gelegenheit darauf hinzuweisen, daß vor Jahren versucht worden ist, eine Art Weltenbund für Geisteswissenschaft zu begründen, und daß aus diesem Weltenbund, der eigentlich bloß nach den Regeln formaler äußerer Organisation vorgehen wollte, doch nichts geworden ist. Er ist sozusagen so ausgegangen, wie man im Deutschen sagt, wie das «Hornberger Schießen» . Weil man aber dazumal einen Zusammenhalt, ein Zusammenarbeiten brauchte, mußten die vorhan­denen Bekenner zur Anthroposophie in der «Anthroposophischen Ge­sellschaft» zusammengefaßt werden. Das waren nun mehr oder weniger lauter Leute, welche sich eben mit der Anthroposophie beschäftigt

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hatten. Mit einer solchen Organisation, wo eben schon etwas darinnen ist, kann man dann erst etwas machen.

Natürlich wird es für die Studentenschaft ganz besonders notwendig sein, nicht nur zu arbeiten im Sinne einer Verbreitung der gegebenen anthroposophischen Probleme im engeren Sinne, sondern schon auch der Ausarbeitung von Generalproblemen und dergleichen in dem Sinne, wie es Dr. Stein eben gemeint hat. Es wird natürlich zunächst gar nicht so sehr nötig sein, mit solchen Dingen auf Dissertationen hinzuarbei­ten. Es ist oft, wirklich recht oft vorgekommen, daß ich in der letzten Zeit gefragt worden bin von jüngeren Semestern etwa in der folgenden Richtung: Ja, wir möchten eigentlich die Anthroposophie zusammen­bringen mit unserer speziellen Wissenschaft. Wie kann man sich da ver­halten, daß man in der richtigen Weise mit seinem Ziel nach der Pro­motion, nach dem Staatsexamen, hinarbeitet? Was soll man da tun? Wie soll man seine Arbeit einrichten? - Ich habe dann immer den fol­genden Rat gegeben: Versuchen Sie so schnell wie möglich sich durch das offizielle Studium durchzuschlängeln, so schnell wie möglich durchzukommen, wobei ich dann Immer sehr gern bereit bin, mit irgendeinem Rat zur Seite zu stehen. Wählen Sie sich irgendein wissen­schaftliches Thema, das Ihnen hervorzugehen scheint aus dem Verlauf Ihrer Studien, als Dissertationsarbeit oder Staatsprüfungsarbeit oder dergleichen. Welches Thema Sie auch wählen, ein jedes ist selbstver­ständlich anthroposophisch diametral entgegengesetzt den anderen Betrachtungsweisen, darüber kann gar kein Zweifel sein. Jedes ist dia­metral entgegengesetzt. Aber nun rate ich Ihnen: Schreiben Sie Ihre Dissertation so, daß Sie zunächst das hineinschreiben, was der Professot zensieren kann, was er verstehen wird; und nehmen Sie sich ein zwei­tes Heft, da schreiben Sie alles das hinein, was sich Ihnen ergibt im Laufe Ihres Studiums und von dem Sie glauben, daß es eigentlich von der Anthroposophie her hereingearbeitet werden sollte. Das bewahren Sie sich dann auf. Dann machen Sie ihre zwei Bogen - so lang muß eine Dissertation sein -; die reichen Sie ein. Und versuchen Sie fertig zu werden. Dann können Sie mit dem, was Sie sich außer diesem einen im zweiten Heft nach und nach erworben haben, der Anthroposophie wirklich tatkräftig helfen. Denn man merkt in der Tat eigentlich erst,

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was für bedeutsame Probleme - Spezial- und Spezialistenprobleme -einem aufschießen, wenn man in die Notwendigkeit versetzt ist, wirk­lich wissenschaftlich zu arbeiten mit einem gewissen Thema und der­gleichen. Aber es entsteht eine Gefahr durch, ich möchte sagen, ein un­klares Zusammenarbeiten mit der Professorenschaft. Und ein Vorlegen von Dissertationen an die Professoren, die «im anthroposophischen Sinne» gehalten sind - die passen gewöhnlich nicht für Professoren -, das halte ich deshalb nicht für günstig, weil es uns in dem Tempo, das die anthroposophische Bewegung haben soll, eigentlich aufhält.

Wir brauchen möglichst viele akademisch gebildete Mitarbeiter. Wenn uns irgend etwas fehlt, gründlich fehlt heute in der anthroposo­phischen Bewegung, so ist es eine genügend große Anzahl akademisch gebildeter Mitarbeiter. Ich will damit nicht die Äußerlichkeit bezeich­nen, daß man, sagen wir, abgestempelte Leute braucht. So ist es nicht gemeint. Aber erstens brauchen wir Leute, die innerlich wissenschaft­lich arbeiten gelernt haben. Dieses innerlich wissenschaftlich Arbeiten lernt man doch am besten bei seiner eigenen Arbeit. Zweitens aber brauchen wir möglichst bald die Mitarbeiter, welche aus der Studen­tenschaft heraus kommen, und die nicht mehr aufgehalten werden durch die Rücksichten auf ihr späteres Fachstudium. - Sehen Sie, es ist gar nicht weiter wunderbar, daß das so schwer geht, wie es zum Bei­spiel in der Schweiz geht. - Man hat als Student natürlich leicht die Möglichkeit, in den ersten Semestern sich einem solchen Bunde an­zuschließen, wenn man freien Sinn genug dazu hat. Dann kommen die letzten Semester. Da ist man mit anderem beschäftigt, und da wird die Sache schwieriger. Und so reißen immer fort und fort die Fäden ab, die man gezogen hat. Das ist gerade vorhin hervorgehoben worden.

Also das möchte ich sagen, speziell für das wissenschaftliche Zusam­menarbeiten: Die Themen müssen schon in einer solchen Übergangs­zeit eine zweifache Bearbeitung erfahren: die eine, die der Professor versteht, und die andere, die man sich aufhebt für später.

Selbstverständlich will ich damit durchaus nicht sagen, daß nicht ganz spezielle Gelegenheiten, die da sind, ergriffen werden, und daß nicht diese Gelegenheiten, die da sind, in ganz eminentestem Sinne von

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der Studentenschaft wachsam beobachtet und auch wirklich im Sinne und Dienste der Bewegung ausgenützt werden: Ich hoffe auf der einen Seite, fürchte fast ganz leise auf der anderen Seite, daß unser lieber Freund, Professor Römer in Leipzig, nun mit einer Unsumme von an­throposophischen Dissertationen überschwemmt wird! Aber ich denke, das würde auch zu den Dingen führen, die ihm wahrscheinlich am lieb­sten wären. Und ein solches Dokument studentischen Vertrauens würde zeigen, daß er nicht zu den Professoren gehört, von denen jetzt eben gesprochen worden ist. Das würde ja aus dem Fundament hervor­gehen.

Nun brauchen wir allerdings einen Ausbau desjenigen, was hier in Dornach schon einmal besprochen worden ist, nämlich doch immerhin eine Art von Zusammenarbeit. Das werden Sie sich später untereinan­der ausmachen, wie es technisch am besten zu bewerkstelligen ist. Es wäre schon gut, wenn mit Hilfe der Waldorflehrer, die ergänzt würden durch andere Persönlichkeiten aus unseren Reihen - Professor Römer, Dr. Unger und andere -, ein gewisser Austausch vor allen Dingen über die Wahl der Themen der Dissertationen oder der wissenschaftlichen Arbeiten stattfinden könnte, ohne daß irgendwie die freie Initiative des einzelnen davon beeinträchtigt ist. Es kann alles nur in Form von Rat­schlägen geschehen. Es sollte gerade dadurch für dieses wissenschaftli­che Arbeiten ein engerer Zusammenschluß - der ja nicht gerade eine Organisation zu sein braucht, aber ein Ideenaustausch - von Ihnen ge­sucht werden.

Das Wirtschaftliche ist natürlich eine sehr, sehr bedeutungsvolle Sache. Es ist schon so, daß namentlich das Universitätswesen, aber eigentlich mehr oder weniger das gesamte Hochschulwesen unter unseren Wirtschaftsnöten außerordentlich leiden wird. Nun handelt es sich da­bei darum, daß man nun wirklich einmal klar sieht, daß eigentlich nur geholfen werden kann, wenn es möglich ist, solche Institutionen vor­wärtszubringen, wie es zum Beispiel für Deutschland der «Kommende Tag» ist, wie es hier das «Futurum» ist. So daß von diesen Organisa­tionen aus eine Reorganisation auch der wirtschaftlichen Lage des Stu­dententums ausgehen kann. Es sind - ich kann Ihnen die Versicherung geben - all die Dinge, die von uns aus nach solcher Richtung hin in

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Angriff genommen werden, eigentlich auf schnelles Wachstum berech­net. Wir haben nicht Zeit, uns Zeit zu lassen, sondern wir müssen tat­sächlich mit solchen wirtschaftlichen Organisationen rasch vorwärts-kommen. Und da muß ich nun allerdings sagen: da werden uns die Mitglieder der Studentenschaft, vielleicht mit ganz geringfügigen Aus­nahmen, vor allen Dingen helfen können durch das Verbreiten des Verständnisses für solche Dinge. Es ist ja wirklich schon vorgekom­men in bezug auf andere Dinge, daß der Student bei seinem Papa eini­ges durchsetzen konnte für dieses oder jenes, etwas durchsetzen konnte auch bei seiner Verwandtschaft. Nicht jeder hat nur mittellose Freunde. Und da ist dann wirklich etwas vorhanden, was wie eine Lawine wirkt. Lassen Sie sich das nur durchaus durch den Kopf gehen, wie stark er­fahrungsgemäß so etwas wie eine Lawine wirkt: wenn man irgendwo anfängt, es geht weiter. Gerade so etwas geht weiter, wo man aus dem Positiven heraus wirkt: Versucht diese Prospekte zu studieren, die er­schienen sind vom «Kommenden Tag» und «Futurum», und versucht, Verständnis hervorzurufen für so etwas.

Dieses Verständnis ist es, zu dem sich namentlich die ältesten Leute außerordentlich schwer emporarbeiten. Ich habe gesehen, wie ältere Leute, ich möchte sagen, gekaut haben an dem Verstehenwollen des­jenigen, was «Kommender Tag» oder «Futurum» wollen, wie sie immer wieder und wiederum, wie die Katze auf die Pfoten, zurückge­fallen sind auf ihre alten wirtschaftlichen Vorurteile, mit denen sie eben hineingesaust sind in den wirtschaftlichen Niedergang, und wie sie sich nicht herausfinden. Da glaube ich, daß wirklich lebt helles Verständnis der lieben Kommilitonen, das auch nach den älteren Generationen hin-über einiges wirken könnte. Auf eine andere Weise können wir doch nicht vorwärtskommen. Denn ich kann Ihnen sagen: Dann, wenn wir einmal in bezug auf diese wirtschaftlichen Institutionen so weit sind, daß wir wirksam etwas machen können, daß wir erstens genug Mittel haben, um ins Große gehend - denn nur da hilft es - etwas zu tun, und auf der anderen Seite überwinden können den gerade auf diesem Ge­biete so scharf hervortretenden Widerstand des Proletariats, das sich einfach gerade einer wirtschaftlichen Besserung der Lage der Studenten feindlich entgegenstellt, dann wird es tatsächlich die erste Sorge sein

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müssen dieser unserer wirtschaftlichen Organisationen, wirtschaftlich gerade in bezug auf die Studentenschaft zu arbeiten.

Die «Kampfprobleme»! Ja, sehen Sie, da handelt es sich um folgen­des. Die Anthroposophische Gesellschaft, wenn sie auch früher nicht so geheißen hat, besteht seit dem Beginn des Jahrhunderts, und sie hat immer eigentlich nur positiv gearbeitet, wenigstens soweit ich selber in Betracht komme. Sie ließ die Gegner schimpfen, alles mögliche tun. Aber natürlich kommen dann die Gegner mit gewissen Einwänden. Sie sagen, da ist das gesagt worden, da jenes gesagt worden, ja das, das ist nicht einmal widerlegt worden. - Es ist schon so, daß man schwer Ver­ständnis findet dafür, daß eigentlich derjenige, der etwas behauptet, die Beweisverpflichtung hat, nicht derjenige, dem es angeworfen ist. Und wir konnten es wirklich erleben, immer wieder und wiederum, daß merkwürdige Anschauungen gerade unter den Akademikern, ich meine jetzt Dozenten, Professoren, Pfarrer und solche, die also aus den Aka­demikern hervorgegangen sind, hervortraten. Denken Sie doch nur ein­mal, daß von, ich möchte sagen, für die äußere Welt «ehrwürdigen» -ich sage es aber selbstverständlich nur unter Gänsefüßchen - Professoren Dinge vorgebracht werden gegen Anthroposophie, Anthroposophen und so weiter, die so belegt sind, daß, wenn man diesen Belegen mit Beweisgründen nachgeht, das ein Hohn, ein blutiger Hohn ist auf alle irgendwie möglichen Methoden, wie man irgendwie etwas behauptet in der Wissenschaft. Daher mußte ich bei so jemandem, wie es der Profes­sor Fuchs ist, einfach sagen: Es ist unmöglich, daß der Mensch etwas anderes ist als ein ganz unmöglicher Anatom! Denn, soll ich glauben, daß er gewissenhaft seine Dinge prüft, wenn er nach alledem, was vor­gelegt worden ist, meinen Taufschein in dieser Weise prüft, wie er ihn geprüft hat? Man muß nämlich von der Art, wie ein Mensch das eine Gebiet behandelt, auf das andere schließen. Solche Dinge zeigen ein­fach - durch den Umstand, daß die Leute einmal heraustreten und ihre besonderen Gewohnheiten zeigen - die Symptome, wie heute wissen­schaftlich gearbeitet wird. Auch die Dinge, die heute an den Universi­täten und an den technischen Hochschulen vorgebracht werden, stehen im Grunde genommen kaum auf besseren Füßen, als die Dinge, die auf diese Weise behauptet werden; es treten nur die allgemein ungeheuer

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locker gewordenen Gewohnheiten im Wissenschaftsleben auf diese Weise zutage. Und das ist es, was nötig ist: daß man gewissermaßen den Kampf auf ein höheres Niveau hebt.

Und da ist es nicht notwendig, daß man sich, wie zum Beispiel der Kommilitone wünschte, was ich sehr gut begreife, als «Kampforganisa­tion» ausspiele. Das ist nicht notwendig. Sondern nur das eine: das zu vermeiden, was in der Anthroposophischen Gesellschaft so zahlreich aufgetreten ist. In der Anthroposophischen Gesellschaft trat immer dieses hervor, so unglaublich es ist - natürlich nicht bei allen, aber sehr häufig -: Man war genötigt, sich gegen einen wüsten Anwurf zu ver­teidigen, auch dann irgendwelche scharfen Worte zu gebrauchen, zum Beispiel, sagen wir in dem Fall, wenn ein Herr von Gleich einen Vor­tragenden «Winter» erfindet, indem er liest, daß ich selber Wintervor­träge gehalten habe, dann eine Persönlichkeit «Winter» erfindet, und das in einer sehr üblen Weise in den Kampf hineinbringt. Ja, sehen Sie, ich glaube nicht, daß man in diesem Falle zu scharfe Worte sagt, wenn man von Trottelitis sprechen würde! Denn hier hat man es, selbst wenn es bei einem General auftritt, mit einer echten Trottelitis in Reinkultur zu tun. - Und in der Anthroposophischen Gesellschaft war es dann gewöhnlich so, daß man nicht demjenigen unrecht gegeben hat, der etwa so wie Herr von Gleich handelte, sondern demjenigen, der sich verteidigt hat. Bis zum heutigen Tag! Erfuhren wir es doch ein paarmal, daß es hieß: In dieser Weise darf man nicht aggressiv werden. - Aggres­siv werden, heißt nämlich in den Augen von vielen Leuten: sich in die­ser Weise zu verteidigen. Da ist schon notwendig, daß man, ohne zu betonen, daß man Kampforganisation ist oder dergleichen, doch mit wachsamem Auge die Dinge verfolgt und zurückweist. Sie müssen da konkret im Positiven auftreten. Und dann müssen die anderen dahin­terstehen, hinter dem, der genötigt ist, sich zu verteidigen. Es handelt sich nicht darum, daß wir selber Kampfhähne werden; aber darum han­delt es sich, daß, wenn es nötig werden sollte, sich zu verteidigen, daß dann die anderen dahinterstehen. Und es handelt sich darum, daß man wirklich die Symptome des Weltanschaulichen, Wissenschaftlichen, Religiösen und so weiter in dieser Beziehung in unserer Zeit verfolgt, sich dafür interessiert.

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Nehmen Sie diese einzelne Erscheinung: Ich war genötigt, philoso­phische, oder wie soll man es nennen, Schreibereien - es ist nach mei­ner Meinung gleich, wie man sie nennt - des Grafen Keyserling einmal in der entsprechenden Weise zu charakterisieren, weil er in seiner un­glaublichen Oberflächlichkeit hineingemischt hat die Tollheit, ich sei von Haeckelschen Anschauungen ausgegangen. Das ist natürlich eine nicht bloß objektive, sondern in diesem Falle subjektive Unwahrheit, das heißt, eine Lüge, weil man verlangen muß, daß derjenige, der so etwas behauptet, nach den Quellen sucht; und er hätte sehen können das Kapitel, das ich in den frühesten Jahren meiner Schriftstellerei ge­schrieben habe in meinen Auseinandersetzungen mit Haeckel, in der Einleitung zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften. Sie können das ja alle sehr gut nachlesen. - Nun hat der Graf Keyserling durch sei­nen Verleger eine kleine Schrift erscheinen lassen: Nun also, sehen Sie, wir haben es bereits in der wissenschaftlichen Moral so weit gebracht, daß jemand, der eine «Weisheitsschule» grün­det, es für berechtigt hält, daß er Dinge in die Welt hinaussenden darf, für deren Erforschung er zugestandenermaßen keine Zeit hat, die er also nicht erforscht! Hier ertappt man einen scheinbar sich vornehm Dünkenden - denn der Graf Keyserling hat in seiner Schreiberei immer die Allmacht angeführt; das ist dasjenige, was so imponiert bei dem Grafen Keyserling, daß er immer die Allmacht anführt. Die ganze gegenwartige

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Schreiberei ist an einem Punkt angekommen, wo sie am meisten versumpft und verlumpt ist. Und trotz der Allmacht ist hier eine vollständige moralische Verlumpung der Ansichten da. Und da muß schon einmal den Leuten gesagt werden: Ganz gewiß, es verlangt auch von dir niemand, daß du Steiner-Quellenforschung treibst; aber dann, wenn du schon keine Steiner-Quellenforschung treibst, keine Zeit hast, dann - in bezug auf alle diese Dinge, zu denen du von der Sache etwas wissen müßtest: Halte den Mund!

Sehen Sie, es ist notwendig, daß wir uns keinen Illusionen hingeben, daß wir einfach abstreifen jegliches durch das Konventionelle heraufge­kommene Autoritätsprinzip und dergleichen, daß wir uns frei gegen­überstellen, wirklich, wirklich prüfend, demjenigen, was in unserer Zeit vorhanden ist. Dann werden wir heute schon recht viel solches bemer­ken können.

Ich würde Ihnen raten, manche der Sätze, die der große Germanist Roethe in Berlin ab und zu immer wiederum prägt, rein der Form nach - ich will ganz absehen von der Anschauung, die man dabei durchaus respektieren kann - sich anzusehen. Dann werden Sie das Lehrreiche finden. Wir brauchen keine Kampforganisation zu sein. Wir müssen aber bereit und wachsam sein, um, wenn die Dinge, die heute wirklich so schauderhaft in den Niedergang hineinführen, konkret auf­treten, dann dagegen auch wirklich aufzutreten. Brauchen wir denn dazu eine Organisation anthroposophischer Studenten zu sein? Wir brauchen ja einfach nur wachsame, anständige und wissenschaftlich ge­wissenhafte Leute sein zu wollen, dann können wir immer - ganz von dem absolutesten Privatstandpunkt aus - gegen solche Schäden zu Felde ziehen. Und wenn wir außerdem noch für die positive Arbeit organisiert sind, dann kann die Anzahl derjenigen, die dafür organisiert ist, hinter uns stehen und uns halten. Das letztere brauchen wir. Aber es wäre durchaus nicht sehr gescheit, wenn wir uns als Kampforganisa­tion auftun würden. Dagegen handelt es sich darum, daß wir wirklich ernsthaftig arbeiten an der Verbesserung unserer gegenwärtigen Zu­stände. Und dazu gehört schon einmal, daß man die furchtbaren Schä­den, die auf dem einen oder anderen Feld zutage treten - und die wirk­lich sich leicht aufdrängen, denn sie sind in Unsummen da -, daß man

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diese Dinge beachtet, und daß man den Mut hat, gegen sie in der Form, in der man es kann, aufzutreten.

Sie haben schon etwas getan, wenn Sie nur das tun können: bei einer geringen Anzahl Ihrer Kommilitonen einfach das Urteil richtigstellen in bezug auf solche Dinge, auch wenn das im kleinsten Kreise geschieht. Ich habe gestern zu jemandem von uns hier in bezug auf den Weltschul­verein gesagt: Ich halte es gerade in bezug auf solche Dinge besonders wertvoll, wenn angefangen wird damit, daß einer zu zwei, drei ande­ren, also ganz kleinen Gruppen, davon spricht, selbst wenn es nur zwei sind; und, ganz radikal ausgedrückt, wenn einer gar keinen anderen findet, so sage er es sich wenigstens selber! Also diese Dinge sind schon durchaus so, daß man anfassen kann dasjenige, was der einzelne ver­mag. Es werden einzelne viel mehr vermögen, wie es tatsächlich schon vorgekommen ist bei einem Arzt, der Mitglied war, und dessen Kom­militonen sich als sehr begeisterungsfähig erwiesen. Es handelt sich darum, daß wir uns nicht dadurch Feinde machen, daß wir in wüster Form als Kampfhähne auftreten, aber auch darum, daß wir den Kampf nicht scheuen, wenn die anderen anfangen. Das ist es: wir müssen immer den anderen anfangen lassen; und dann muß die nötige Hilfe hinter uns stehen, die nicht die Taktik aufkommen läßt, denn es ist eine ganz bestimmte Taktik aufgekommen: daß wir angefangen hätten. Wenn von drüben angefangen wird, dann ist man genötigt, sich zu ver­teidigen; und dann können Sie immer lesen, daß von anthroposophi­scher Seite das und das im Kampfe als Angriff geführt worden ist und so weiter. Es wird immer der Spieß umgedreht. Das ist geradezu Me­thode bei den Gegnern. Das dürfen wir nicht aufkommen lassen.

Was den Weltschulverein betrifft, so möchte ich dazu nur noch das eine sagen: Nach meiner Empfindung wäre es wohl das allerbeste, wenn unabhängig voneinander gleichzeitig der Weltschulverein begrün­det werden könnte in Entente- und in neutralen Ländern, allerdings auch im deutschen mitteleuropäischen Gebiet. Wenn es gleichzeitig ge­schehen könnte, so daß sozusagen unabhängig voneinander die Dinge gleichzeitig aufschössen, wäre es das allerbeste. Dazu gehört natürlich eine gewisse Wachsamkeit, was etwa geschieht. Es müßte dann, wie ich glaube, ganz besonders von der Schweiz hier eine Vermittlung stattfinden.

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Es wäre gut, wenn man jetzt gerade für den Augenblick die Sache rnachen könnte. Ich kann Ihnen versichern: die Dinge sind auf des Messers Schneide - und wenn heute dieselben Kriegsmöglichkeiten vorhanden wären, die im Jahre 1914 vorhanden waren, dann, dann hät­ten wir längst wiederum Krieg. Es stehen die Dinge in bezug auf Stim­mungen und so weiter auf des Messers Schneide. Und wir bekommen so etwas wie diesen Weltschulverein nicht zustande, wenn er zum Bei­spiel jetzt in Deutschland begründet wird, und dann etwa die anderen, wenn auch nur eine Woche, hintennachtrappen müßten. Er käme ein­fach nicht zustande; es wäre unpraktisch, es zu machen.

Dagegen dürfen wir auf der anderen Seite durchaus wiederum das nicht aufkommen lassen, daß wir im geringsten etwa verleugnen, wie wir überhaupt zu den Dingen stehen. Diese Hochschule für Geistes­wissenschaft heißt Goetheanum. Wir haben diesen Namen «Goe­theanum» im Verlauf des Weltkrieges hier noch gegeben. Die anderen Nationen, insofern sie sich an der Anthroposophie beteiligt haben, haben den Namen aufgenommen, haben ihn akzeptiert. Wir haben nie­mals verleugnet, daß wir Gründe haben, die Hochschule für Geistes­wissenschaft «Goetheanum» zu nennen, und es wäre daher nicht ei­gentlich gut, wenn in Deutschland die Sachen als irgendeine Imitation von der anderen Seite auftreten dürften.

Also es würde sich schon darum handeln, daß man in dieser Bezie­hung - verzeihen Sie das harte Wort - ein wenig nicht ungeschickt vor­gehen würde, daß man es ein wenig geschickt machen würde im grö­ßeren Weltkultursinne! Da müßte nun von der Schweiz hier mit vollem Verständnis gearbeitet werden. Es müßte also eigentlich unbedingt gleichzeitig von Mitteleuropa, von der Entente und von Neutralen aus die Sache in die Höhe schießen.

Vorläufig weiß ich ja noch nicht, ob sie auch nur an einem oder zwei Orten in die Höhe schießen wird. Ich habe heute morgen die Mittei­lung bekommen, daß das gestern zusammenberufene Komitee, das so wacker arbeiten wollte, wenige Minuten, nachdem die Versammlung von gestern den Saal verlassen hat, schlafen gegangen ist; es sei auf heute abend vertagt worden. Ob sie heute abend tagen, wollen wir zu­nächst noch abwarten. Wir haben schon sehr merkwürdige Erfahrungen

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gemacht; und aus dieser Kenntnis heraus, daß wir schon die ver­schiedenartigsten Erfahrungen gemacht haben, habe ich mir jetzt er­laubt, zu Ihnen hier darüber zu sprechen, daß man im weiteren Verlauf der Bewegung die gemachten Erfahrungen berücksichtigen soll.

Ich bin aber auf der anderen Seite überzeugt, wenn gerade unter der Kommilitonenschaft sich der nötige starke Impuls und die gehörige Be­geisterung finden wird, namentlich für dasjenige, was ich selbst und andere meiner Freunde im Verlaufe dieses Kurses genannt haben: Be­geisterung für die Wahrheit - dann wird die Sache gehen.

Ich möchte noch sagen: Ich habe neulich ein Stück aus einem Feuilleton vorgelesen, und ich kann Ihnen versichern, was neulich in Stuttgart stattgefunden hat, ist nicht im mindesten ein Ende, sondern erst ein Anfang, und ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß es noch viel, viel schlimmer kommen wird. Ich habe das zu unseren Freunden hier des öfteren gesagt - vor sehr, sehr langer Zeit schon -, ich habe neulich ein Stück aus einem Feuilleton vorgelesen, in dem steht: «Geistige Feuerfunken, die Blitzen gleich nach der hölzernen Mäusefalle zischen, sind also genügend vorhanden, und es wird schon einiger Klugheit Steiners bedürfen, versöhnend zu wirken, damit nicht eines Tages ein richtiger Feuerfunke der Dornacher Herrlichkeit ein unrühmliches Ende bereitet. »

Ich habe wirklich die Meinung, daß dasjenige, was als Reaktion ein­treten muß gegen eine solche Aktion, die immer stärker und stärker werden wird, daß das besser gestaltet und vor allen Dingen energischer wird durchgeführt werden müssen. Und ich glaube, daß Sie, meine lie­ben Kommilitonen, nach dieser Richtung hin nötig haben, all Ihre ju­gendliche Begeisterung hineinfließen zu lassen in dasjenige, was wir hier öfter während dieses Kurses genannt haben: Enthusiasmus für die Wahrheit. Jugendlicher Enthusiasmus für die Wahrheit war immer ein sehr guter Impuls in der Fortentwickelung der Menschheit. Möge er es in einer Sache, die Sie für gut erkennen, auch in der nächsten Zukunft durch Sie werden.

ANTHROPOSOPHIE UND JUGENDBEWEGUNG Aussprache Nfld Fragenbeantwortung während ter Freien Anthroposophischen Hochschulkurse in Stuttgart am 8. September 1921

#G217a-1981-SE061 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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ANTHROPOSOPHIE UND JUGENDBEWEGUNG

Aussprache Nfld Fragenbeantwortung

während ter Freien Anthroposophischen Hochschulkurse

in Stuttgart am 8. September 1921

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Begrüßung: Zuerst möchte ich Herrn Dr. Steiner in aller Namen dan­ken für die Zusammenkunft, die er uns gewährt hat trotz seiner großen Inanspruchnahme. Die Anregungen, die uns Herr Doktor an Ostern gegeben hat, haben in uns inzwischen weitergewirkt. Wir haben in der Zwischenzeit nicht viel voneinander gehört, aber als wir hier wieder zusammenkamen und uns aussprachen, da merkten wir, daß wir alle ein Stück weitergekommen waren. Manches, was an Ostern noch Pro­blem war, ist heute nicht mehr Problem. Wir sind heute schon zu kon­kreten Dingen gekommen. Wir meinen, daß uns aus unserer besonde­ren Mittlersteflung zwischen Anthroposophie und Jugendbewegung besondere Aufgaben erwachsen, Aufgaben nach zwei Seiten: gegenüber der Jugendbewegung und gegenüber der anthroposophischen Bewe­gung. Wir wollen Anthroposophie an die Jugendbewegung heranbrin­gen. Dies ist wohl am besten möglich in der Wirksamkeit von Mensch zu Mensch. Es soll jedoch dieses Wirken unterstützt und gefördert werden durch ein mehr «offizielles» Wirken aus der Gemeinsamkeit. Deshalb soll ein Vertrauensleutenetz über ganz Deutschland eingerich­tet werden mit dem Mittelpunkt in Tübingen. Aufgabe der Vertrauens-leute soll es sein, mit den jungen Anthroposophen ihres Kreises in Ver­bindung zu treten, Tagungen der Jugendbewegung zu besuchen, Schrif­ten zu verbreiten unter Ausnützung persönlicher Beziehungen. Dazu kann ein Artikel über Jugendbewegung und Anthroposophie in einer anthroposophischen Zeitschrift erscheinen. Die Arbeit soll in enger Fühlung mit dem Hauptverband erfolgen. Als entschlossensten Gegner betrachten wir die katholische Jugendbewegung. Darauf bitten wir Herrn Doktor vielleicht etwas näher einzugehen. Unsere Arbeit in der anthroposophischen Bewegung denken wir uns so: Wir wissen, daß wir reicher werden müssen an Wissen. Aber als unsere besondere Auf­gabe betrachten wir, gemeinschaftsbildend zu wirken. Wir wollen wie

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bisher unser Gemeinschaftsleben weiterführen mit gemeinsamen Aben­den, Wanderungen, Festen und so weiter. Aber wir wollen es allmäh­lich durchdringen und umgestalten lassen von anthroposophischem Geist. Hier bitten wir Herrn Doktor um einige besondere Anregun­gen. Wir denken uns, daß wir in unseren Gemeinschaften zuerst jün­gere Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft, Studenten und andere einladen. Noch eine praktische Frage möchte ich hier anschlie­ßen: Ist es möglich, daß ein junger Mensch aus der Jugendbewegung auch Bürge für die Aufnahme in die Anthroposophische Gesellschaft sein kann?

Rudolf Steiner: Ich darf vielleicht auf den letzten Punkt zuerst ein­gehen, die Frage nach dem Hineintragen der Anthroposophie in die Jugendbewegung. Dazu ist notwendig, daß Sie eine wirkliche Einsicht haben in die Bedingungen, die da doch obwalten nicht nur im Äuße­ren, sondern im Inneren. Sehen Sie, die anthroposophische Bewegung -Sie kennen ja zum großen Teil ihre Geschichte - konnte natürlich nicht anders arbeiten, als daß sie von Anfang an die realen Möglichkeiten ins Auge faßte. Zu Beginn der Entstehung der Anthroposophischen Ge­sellschaft war die Menschheit noch wenig reif für die anthroposophi­sche Bewegung. Aber man konnte nicht warten auf die allgemeine Reife, um die Bewegung überhaupt auf die Beine zu stellen. Nun, da waren gewisse Leute, die schon seit langem etwas gesucht hatten, etwas aus unbestimmten Tiefen der Seele heraus, Leute, die zum Teil noch nicht gefunden hatten Theosophie und Mystik, waren da zu treffen, die zum Teil auch gar nicht wußten, daß es so etwas gab wie Anthroposo­phie, Leute, die eine gewisse Sehnsucht nach etwas Tieferem hatten, als das Leben bot.

Ich wurde da zum Beispiel einmal eingeladen in einen Verein, wo Immer die verschiedensten Leute an Talent und Bildung vereinigt waren, die solche Sehnsucht hatten. Und ich ging hin, denn ich hatte damals mehr Zeit als jetzt. Unter diesen Leuten fand ich nun etwas Kurioses vor. Ich war damals Lehrer an der Arbeiterbildungsschule in Berlin und hatte da meine Zuhörer. Dort - an jenem Ort - war ich wirklich nur aufgefordert und ein Neuling, aber zu meiner Überraschung

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fand ich da eine kleine Anzahl von meinen Zuhörern der Ar­beiterbildungsschule. Sie sehen, diese Sehnsucht, von der ich gespro­chen habe, war überall vorhanden, und mit dieser Sehnsucht mußte man rechnen, denn sonst wäre man mit der anthroposophischen Bewe­gung überhaupt nicht weitergekommen. So, wie man es heute machen kann, konnte man es damals gar nicht machen. Es war nun aber die Schwierigkeit, den Leuten, die diese Sehnsucht hatten, die Dinge ver­ständlich zu machen. Viele konnten nicht mit, sie wollten etwas ande­res haben. Aber dennoch fanden sich immer einzelne Leute darunter, die mitmachten, und es wurde dann daraus diese Bewegung. Aber da­durch hat die Bewegung durchaus noch die Folgen ihrer Kinderkrank­heit an sich: Unklares, mystisches Streben, allerlei von dieser Art, wie Sie hier auch noch bemerken konnten.

Da wollen nun zum Beispiel die verschiedensten Menschen etwas hören von dem, was ihnen liegt. Nun macht einer die Bekanntschaft mit einem Anthroposophen. Er verlangt vielleicht eine Antwort auf eine medizinische Frage und gerät dabei an jemanden, der sagt: Da müssen Sie den und den Spruch aus Dr. Steiners «Seelenkalender» le­sen. Zwar hat Steiner so die Angewohnheit, daß Sie bei ihm immer etwas anderes finden, als was Sie suchen, aber das, was Sie suchen, würden Sie dann auch schon finden; das geht dann schon aus dem Spruch in Sie über.

Damit mußte man rechnen. Und wir sollten nicht vergessen, daß die anthroposophische Bewegung in ihrem Ausgangspunkt fast etwas Kan­tiges und Eckenhaftes hat, was höchst unsympathisch wirken kann. Aber mit alldem mußte gerechnet werden. Man kann nirgends mit dem Kopf durch die Wand gehen. Das steckt einmal darinnen, und darüber sollten Sie sich keinen Illusionen hingeben. Durchaus mußte man rech­nen mit dieser Sehnsucht, die in der heutigen Jugend darinnensteckt. Aber das dürfen Sie auch nicht aus den Augen verlieren, gerade in dem Augenblick, wo Sie der anthroposophischen Bewegung nähertreten wollen, daß die anthroposophische Bewegung soweit ist, selbst mit allen alten Vorurteilen zu brechen. Es wird ja ohne die Vorurteile auch unbedingt gehen; es ist ja durchaus möglich, daß man mit allem Phili­strösen brechen kann.

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Das ist das, was ich vorausschicken wollte, damit Sie von Ihrem Ge­sichtspunkte aus nicht kommen und sagen, die Anthroposophen sind so schreckliche Leute.

Das andere ist, daß die Gemeinschattsbildung, das gemeinsame Wan­dern, durchaus nicht ausgeschlossen ist, im Gegenteil gefördert werden soll. Die Gemeinschaftsbildung, wenn sie getragen ist von anthroposo­phischem Geist, kann alle möglichen Formen annehmen. Sie müssen nicht vergessen, daß, wenn Sie davon sprechen, daß heute diese Ge­meinschaftsbildung etwas ganz Neues ist, Sie müssen nicht vergessen, daß wir Alten auch einmal jung waren, und daß sich damals solche Leute immer gefunden haben, die solche Gemeinschaften gebildet ha­ben. Ich erinnere mich noch an einen Kreis, den wir in Berlin gebildet hatten, der vielleicht auch nichts anderes war, doktrinär gesprochen, als eine Clique. Aber gute Ziele haben ja auch die Cliquen gehabt, denn jeder Gemeinschaft liegt ja eine solche Clique selbstverständlich zu­grunde. Die Gemeinschaftsbildung hat natürlich auch allerlei Anhäng­sel gehabt, die zusammenhingen mit dem Charakter der einzelnen Leute. Schon der Titel unserer Gemeinschaft in Berlin war dazu eigent­lich ausersehen, die Philister zu ärgern. Ich sage dies in Anführungsstri-chen: Diese Gemeinschafts bildung hieß «Der Verbrechertisch». Unter anderen gehörte auch Otto Erich Hartleben dazu. Damit soll nicht ge­sagt sein, daß wir eingebrochen haben und so weiter. Ich sage Ihnen dies nur, damit Sie sich ein umfassendes Bild davon machen können, daß die heutige Jugendbewegung nicht die erste Gemeinschaftsbildung ist. Das haben Sie ja auch schon zum Ausdruck gebracht.

Dann aber ist auch durchaus nichts dagegen einzuwenden, daß Mit-glieder der Jugendbewegung Bürgen sein können für diejenigen aus der Jugendbewegung, die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft werden wollen. Das ist durchaus etwas, was absolut realisiert werden kann. Und das bringt mich dann auf die andere Frage.

Da ist ja eben, vollständig mit Recht, die Frage der katholischen Ju­gendbewegung in die Debatte hineingeworfen worden. Bezüglich dieser Jugendbewegung müssen Sie außerordentlich vorsichtig sein und die Möglichkeit, doch beeinflußt zu werden nach der einen oder anderen Richtung, nicht aus dem Auge verlieren. In der katholischen Jugendbewegung

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sind eine ganze Anzahl von Leuten, die hoffnungsvolle und tüchtige Menschen sind. Aber auf der anderen Seite ist es der größte Fehler, den Sie machen können, wenn Sie auf die katholische Jugend­bewegung als katholische Jugendbewegung irgendwie hereinfallen wür­den. Ihre Jugendbewegung geht hervor aus dem Bedürfnis der Jugend selbst. Das, was ich nur mit ein paar Worten bringen möchte, ist, daß die ganze Schwierigkeit auf folgendem beruht. Die ganze Jugendbewe­gung ist zusammengekommen aus dem Bedürfnis des einzelnen, und sie hat nur den Kitt, der in den Herzen des einzelnen ruht. Das ist bei der katholischen Jugendbewegung nicht der Fall. Nämlich alle Bewe­gungen, die wirklich der Zukunft entgegen wollen, haben heute nicht eine solche Möglichkeit wie die katholische Jugendbewegung, die etwas, was feststeht durch die Entwickelung der Menschheit, durch Tradition und so weiter, mit ungeheurer Zielsicherheit hütet. Die Jugendbewe­gung muß dezentralistisch sein. Die katholische Jugendbewegung ist durchaus zentralistisch. Und die größte Gefahr, die besteht, ist, selbst in die katholischen Grundlagen zu fallen. Sie dürfen sich dieses nicht so leicht vorstellen! Denken Sie, es tritt eine Bewegung auf, die da sagt: Wir wollen gut katholisch sein, wir wollen alles tun, um die Leute zu dem lebendig wirkenden Christentum zurückzuführen, wir wollen nichts von den Jesuiten wissen. - Für den, der das hört, könnte es leid­lich scheinen. Aber nur der kann einen Gesichtspunkt gewinnen, der weiß, daß eine solche Bewegung gut aufgestellt sein kann mit allen Pro­grammen gegen die Jesuiten, aber daß das alles gut gemacht sein kann von einem Jesuitenpater. Denn das liegt durchaus im Programm der Jesuiten, daß sie sich ihre Gegner selbst aufstellen. Sie werden es kaum für möglich halten, daß viele auf die Sache hereinfallen. Aber sehen Sie sich die Jungkatholische Bewegung an, die bildete sich vor vielen Jahren gegen den Jesuitismus,und schon nach fünfzehnJahren segelte sie mithin-ein. Das ist etwas, was nicht aus dem Programm herauszufallen braucht.

Wenn Sie nicht darauf aufmerken, daß der Jesuit mit den Mächtig­sten seiner Gegner rechnet und so, in gewisser Weise, großzügig ist, werden Sie niemals klar sehen können. Sehen würden Sie sonst, daß man gegen die katholische Jugendbewegung als solche nicht vorsichtig genug sein kann, auf daß man nicht in sie hineinschlüpft. Ich habe gute

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Bekannte gehabt, die damals auf demselben Boden gestanden haben wie ich. Wenn ich aber heute wieder mit jemandem von ihnen zusammen­komme, so kann ich bemerken, daß ein großer Teil in den Bann der katholischen Kirche gefallen ist. Der Bann der katholischen Kirche ist so groß, und die katholische Kirche hat eine ungeheure Anziehungs­kraft. Und wenn man dieses alles in Erwägung zieht, muß man immer auf eine Falle gewärtig sein. Deshalb meine ich, daß Sie nur weiterkom­men, wenn Sie die absolute Selbständigkeit der katholischen Jugendbe­wegung gegenüber wahren. Sie müssen sich klar sein, daß überhaupt alle Kraft davon abhängt, daß Sie absolut unbeeinflußbare Menschen finden, von denen Sie sicher sind, sie haben nicht etwas im Hinterhalt. Sie werden bei den Jesuiten keine Abstempelung finden; daß sie Ihnen alles gerade heraushalten, das werden Sie dort nicht finden können. Ich sage Ihnen dieses nur, um eben die Sache zu charakterisieren, und um Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie Ihre Sache in schlechtes Fahrwasser bringen könnten, wenn Sie nachgiebig wären gegenüber der katholischen Jugendbewegung, die jetzt auch gegen den Jesuitismus schreit. Aber Sie müssen die Menschen einmal wieder nach fünfzehn Jahren anschauen, dann werden Sie sehen, nach welcher Seite hin sie ge­landet sind.

Und mit dem Aufsatz über anthroposophische Jugendbewegung würde man ein mehreres noch hinzuleisten. Das ist etwas sehr Wichti­ges, was aus dem hervorgeht, von dem ich schon öfters zu Ihnen ge­sprochen habe, daß vieles, was aus der Jugendbewegung hervorgeht, tief in der Seele gelegen ist. Es kann das meiste nur verstanden werden, wenn man begreift, was die Jugendbewegung ist. Ich kann mir sehr gut vorstellen, daß ein solcher Aufsatz sehr günstig wirken kann, und es würde sicher gut sein, wenn dies von den jungen Leuten geschähe. Wenn dies zustande käme, dann müßte man da natürlich wiederum auf die besondere Gegnerschaft gefaßt sein, die ja schon einmal in günsti­gem und ungünstigem Sinne mit der Individualität verbunden sein kann. Mit dem muß man notwendigerweise rechnen, wenn es auch äußerlich wenig so ausschaut. Wenn auch viele sagen, die Anthroposo­phen tun nur, was ihnen befohlen wird, so ist es doch praktisch so, daß die Individualität nirgends so ausgeprägt ist wie in der Anthroposophischen

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Gesellschaft. Da tut jeder nur, was er wirklich will. Dies hat tat­sächlich schon seine Nachteile.

Es ist schön richtig, daß etwas einheitlich vorhanden sein muß da, wo man es mit einer Bewegung zu tun hat. Und wenn Sie nun Ver­trauensleute wählen, so ist es schon notwendig, daß Sie darauf Rück­sicht nehmen, daß die Vertrauensleute nicht Streitigkeiten anfangen, sondern daß sie wirklich Leute sind, die das Ganze über das Persönli­che stellen. Das wird immer bei der Jugendbewegung nötig sein. Also ich meine, daß Sie sich da Ihre Leute anschauen müssen, denn man muß doch seine Leute kennen, wenn man Vertrauen zu ihnen haben will. Das ist das wenige, was ich zu Ihren Fragen sagen wollte.

Frage: Wie soll Gemeinschaft gepflegt werden?

Rudolf Steiner: Sehen Sie, wenn Sie den Geist der Anthroposophie erfaßt haben, so werden Sie so denken, daß die Art, wie die einzelne Gemeinschaftsbildung gepflegt werden soll, durchaus in zweiter Linie in Betracht kommt. Es kann sicher gut sein, daß die einzelnen Gemein­schaften, die schon da sind, durchaus aus ihrem eigenen Wesen heraus weitergepflegt werden und auch das tun, was sie immer getan haben. Es kommt nicht darauf an, daß man sich nun programmäßig vornimmt, dies und das soll geschehen. Anthroposophie kann nur so wirken, daß man sie in jede Form hineinstecken kann. Am besten ist es, wenn Sie äußerlich nicht darangehen, die bisherigen Vorkehrungen abzuändern, sondern Sie sollten daran denken, die Anthroposophie als solche hin­einzutragen. Anthroposophie ist eine geheime Macht, die nach und nach in alles hineinkommen könnte.

Ein Teilnehmer: Es wird einem immer von Anthroposophen entgegengehalten, daß man durch die Wanderungen in Schwärmerei verfiele.

Rudolf Steiner: Nun, nicht wahr, die Wanderungen als solche gehö­ren nicht zu den Gebieten, die das Schwärmen befördern. Wanderun­gen sind schwärmerisch, wenn die Mitglieder schwärmerisch sind.

Ein Teilnehmer: Es wird einem immer vorgeworfen, gerade von anthroposophischer Seite, die Jugendbewegung könnte nichts als wandern und Feste feiern.

Rudolf Steiner: Das hängt zusammen mit dem, was ich vorausgesetzt

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habe, was bei der anthroposophischen Bewegung auch seine Geltung hat. Sie ist ja auch unter Menschen entstanden, und die Menschen, die sich in ihr von Anfang an bewährten, sind natürlich mehr von der Art, daß sie nicht so auf Wanderungen eingestellt sind, sondern hereinge-stellt sind in gänzlich andere Arbeitsverhältnisse. Daher können Sie von ihnen nicht verlangen, daß sie viel übrig haben für die Wandervögel. Ich meine, das ist ja natürlich, daß man verstehen muß, daß einem da allerlei entgegengehalten wird. Nun kann man die Wanderungen ruhig beibehalten. Das alles ist durchaus etwas, woran Sie sich nicht zu keh­ren brauchen. Die anthroposophische Bewegung hätte gerade so gut unter Wandervögeln entstehen können. Bei allen diesen Dingen muß man so sprechen, daß man wirklich die ganze Breite, das ganze Umfas­sende der Anthroposophie ins Auge fassen muß und sich nicht be­schränken will auf irgendwelche Kleinigkeiten. Man kann nicht verlan­gen von der anthroposophischen Bewegung, daß sie jedem wilden Fa­natismus entgegenkommt. Ich kann mir vorstellen, daß man sagen könnte, man braucht überhaupt nicht zu denken, sondern nur zu wan­dern. Damit ist nicht gesagt, daß alle Gemeinschaftsbildungen diese derartig wilde Form annehmen müssen, aber es ist das bei vielen der Fall. Die anthroposophische Bewegung ist zur Geltung gebracht wor­den von Menschen, die natürlich ganz andere Gefühle hatten, als die sind, die die heutige Jugend hat; sie ist nicht in der Jugend entstanden. Es wird angebracht sein, wenn sie von der Jugend gepflegt werden kann. Aber entstanden ist sie etwas greisenhaft; sie hatte von Anfang an nichts Jugendliches. Ich mußte immer mit diesem Greisenhaften rech­nen. Das, was sich mir einmal in den ersten Vorträgen entgegenstellte, ist charakteristisch für die Greisenhaftigkeit. Ich habe da geredet, wie ich es gewohnt bin zu reden, und da ist mir so ein greisenhafter Mensch entgegengetreten und hat gesagt: Wenn Sie so laut reden, dann vertreiben Sie ja die geistige Wesenheit. So laut darf man nicht reden, man sagt doch auch Geheimwissenschaft. - Dieser ist übrigens später bis zu seinem Tode einer der treuesten Anhänger der Anthroposophie gewesen. Am besten ist es, wenn man sich gar nicht an diesem Greisen­haften stößt. Man braucht sich nicht daran zu stoßen, sondern sich nur an die Sache zu halten.

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Frage: Was halten Herr Doktor von Sonnenwendfeiern? Könnten Sie dazu vielleicht etwas sagen?

Rudolf Steiner: Sehen Sie, ich habe schon zu Ostern gesagt, da müs­sen Sie sich an das halten, was für den, der in der Anthroposophie dar­innensteht, eine Tatsache ist, die man aber überall erfahren kann. Ich habe da gesagt, wie etwas in der Menschheitsentwickelung am Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts auftritt, was den Unter­grund der heutigen Jugendbewegung besonders bildet, was als Sehn­sucht und so weiter auftritt, als etwas, was eigentlich aus den tiefe­ren Untergründen der Seele herauftaucht, und was wir in der Wirkung sehen.

Die Menschen früherer Zeiten schauten Dinge, die bestanden haben, als ganz reale Mächte an, und diese Mächte waren so geartet, daß sie im Menschen wirkten bis in das Jahr hinein: Wirkungen, die gesetzt wur­den auf die Sommersonnenwende. Sie werden das, was ich gesagt habe, im vollen Umfange verstehen, wenn Sie sich in die alten Zeiten verset­zen. Da ist der Mensch mit den Naturgesetzen ganz anders verbunden. Wenn er so mit dem Ganzen der Natur verbunden ist, so sind die Ge­danken, die da zur Sonnenwende gefaßt werden, die fruchtbarsten für die Aufnahme der Gesetze. Man muß zu etwas radikalen Ausdrücken greifen, wenn man sich über das, was damals gelebt hat in den Men­schen, seine eigenen Gedanken machen will. Die Menschen haben sich gesagt, so wie der Stier herausgeführt wird zur Befruchtung zu be­stimmten Jahreszeiten, so muß die menschliche Seele sich herausstellen, damit sie befruchtet werde zu bestimmten Jahreszeiten. Nun besteht ja die Tatsache, daß die Erde im Sommer schläft, das heißt die Erde ist in einem Zustande wie der Mensch, wenn er schläft. Die Erde schläft im Sommer und wacht im Winter. Und so wie im Schlaf der Ätherleib am regsamsten ist, so auch die Erde in diesem Zustande. Da fühlten sich die Menschen früher am meisten mit ihr verbunden. Sie wissen, wie sie um die Sommersonnenwende ihre größten Feste abhielten. Dagegen im Süden, in Afrika und so weiter, da war es so, daß die Leute als das größte Fest betrachteten die Wintersonnenwende. Da wollte man mit dem in Berührung kommen, was von dem wachenden Ätherleib der Erde ausging; dies beruht auf einem polaren Gegensatz im Geist des

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Menschen. Und letzten Endes kann man alle Zeitengewohnheiten dar­auf zurückführen.

Alles dieses tauchte als ein Gefühl zunächst wieder auf im Menschen in der damaligen Zeit. Für ihn hängt das alles damit zusammen, daß darin eine gewisse Gesetzmäßigkeit enthalten ist. Es ist durchaus rich­tig, daß die Dinge wieder heraufkommen. Ich habe Schmerzen ausge-standen, als ein Professor auf die Idee kam, daß das Osterfest nicht mehr nach dem Himmel vor sich gehen soll, sich nicht mehr nach dem Himmel richten soll, sondern immer auf den 1. April verlegt werden soll. Ihm kam diese Idee so gescheit vor, daß man nicht mehr ein be­wegliches Fest haben sollte, sondern daß man es immer auf den 1. April feiern sollte. Dadurch wird der Mensch mit seinem Empfinden aber ganz herausgerissen aus dem ganzen Geschehen im Weltall. Dieses menschliche Empfinden müßte ja verkommen, wenn es heraustritt aus dem Geschehen im Weltall, während dieses Zusammenleben im Welt­all etwas in sich hat, was ja auch den Menschen lebendig und jung er­hält. Wenn das Gefühl vorhanden ist, den Geist der Sonnenwende zu erleben, so daß man weiß, man machte das damals aus den höchsten Gefühlen heraus, dann würde es gut sein, wenn man das fördert. Aber darinnenstehen im konkreten Leben soll man, so daß man weiß, daß etwas anderes ist in der Sommersonnenwende als in der Wintersonnen­wende. Dieses Denken sollte bei solchen Gelegenheiten gepflegt werden.

Frage nach der Lebensgestaltung.

Rudolf Steiner: Nicht wahr, das läßt sich nur machen, wenn die an­throposophische Bewegung als solche Glück hat mit dem, was in das gesamte soziale Leben eingreifen soll. Natürlich, solange die anthropo­sophische Bewegung noch irgend etwas Sektiererisches in sich hat, so lange wird immer so etwas herauskommen, daß man sie auch eine Sekte nennt.

Die Anthroposophie hat heute Heilmethoden gefunden. Die Leute werden kommen und geheilt sein wollen; aber die Menschen stellen sich dann hin im Namen einer Partei und wettern gegen das Gesetz, das etwas wie die anthroposophische Bewegung überhaupt zuläßt. Ich führe einen konkreten Fall an! Die Leute möchten Anthroposophie

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unter der Hand pflegen, aber vor dem öffentlichen Auftreten schrecken sie zurück. Anthroposophie kann aber nur und muß tatsächlich im Großen wirken; sie kann sich nur dann durchsetzen. Aber die Leute müssen auch den Mut haben, den anthroposophischen Geist in die weite Offentlichkeit zu bringen. Danach strebte ich immer, von Anfang an, zu verwirklichen, daß wir ein therapeutisches Institut, ein For­schungsinstitut und so weiter gründeten. Es muß so gearbeitet werden, daß man wirklich auf anthroposophischem Boden steht. Das wird na­türlich, wenn es fortgeht wie jetzt, nicht möglich sein. Natürlich hängt immer die Wirkung der Sache von dem Willen derjenigen ab, wie stark diejenigen in der Öffentlichkeit wirken, die sich auf anthroposophi­schen Boden stellen. Und natürlich kann man sagen, wenn man immer abstrakt davon spricht, das ist für die nächsten Jahre nicht möglich.

Als ich aufgetreten bin mit meinem Dreigliederungsgedanken, da sind Leute gekommen, die haben gesagt: Das kann noch hundert Jahre dauern, ehe das eintritt, da ist der Zeitraum schlecht gewählt. - Ich kann nur sagen, wenn man dies bei allem Handeln dächte, dann würde gar nichts mehr geschehen. Das ist nicht die richtige Einstellung, son­dern für mich ist die Fragestellung so: Was soll man tun? - Da muß ich sagen, daß die anthroposophische Bewegung nicht so weit wäre, wie sie jetzt ist, wenn ich damals die Frage mir nicht immer wieder vorgelegt hätte. Wenn man sich auf anthroposophischen Boden stellt, so handelt es sich darum, auch den Willen zu entwickeln. Je mehr Leute wir haben, die sich rückhaltlos auf diesen Boden stellen, desto besser ist es. Wir haben jetzt nicht die Aufgabe, darüber nachzudenken, wie lange es dauern wird, bis die Leute reif sind für unsere Ideen, sondern die Aufgabe, daran zu arbeiten, daß die Leute reif werden. Darum muß man schon alles Mögliche tun, als wenn schon die Reife da wäre. Man muß damit rechnen, als wenn die Reife schon eine Realität wäre. Die Leute denken immer: Kann man das auch tun? - Dies ist eine gewisse Furcht. Man fürchtet sich, das zu tun, wie dann, wenn man sich be­sinnt, ob man mit dem Denken an das «Ding an sich» herankommt. -Ich kann mir das so vorstellen: Da steht ein Teller Suppe, und daneben liegt ein Löffel. Der Löffel ist das Denken, der Teller Suppe das Ding an sich. Wenn Sie nun darüber nachdenken, ob der Löffel, der Ihnen

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gebracht wurde, nun in einem realen Verhältnis zu der Suppe steht, oder wenn Sie sich fragen, was wird geschehen, wenn ich jetzt den Löf­fel in die Hand nehme und esse? Dann werden Sie nicht satt werden, sondern Sie müssen eben zugreifen!

Frage nach der Volkshochschul-Bewegung.

Rudolf Steiner: Ich habe mich davon überzeugen können, daß von der Volkshochschule ein Aufstieg nicht zu erwarten ist. Die Lehrer nehmen alles restlos hin, was sich aus der älteren Kultur entwickelt hat, und man verzapft es dann in der Volkshochschule. Wird es nun besser, wenn man mit dem Inhalt der gegenwärtigen Kultur Volkshochschulen begründet? Natürlich kann man nur so sagen und meinen, man müßte es so ähnlich machen, wie ich es gehalten habe, wenn ich gerufen wor­den bin. So viel man irgend an Lebendigem hineintragen kann, soll man es tun. Aber verschwendete Kräfte sind es. Nicht wahr, ganz zurück­ziehen kann man sich nicht. Aber man muß sich klar sein, daß man nicht in eine Aufstiegsbewegung hinein arbeitet, sondern in eine Nie­dergangsbewegung.

Das habe ich nicht nur dagegen gesagt, weil die Dozenten an sich ge­rade einen Inhalt für ihre Vorlesungen wählen, der nicht zukunftsfähig ist. Es kam mir darauf an zu zeigen, daß wir die Methode, nach der da gelehrt wird, gerade überwinden müssen. Auf den Geist, der dahinter stehen muß, kommt es doch mehr an, als man denkt. Man kann da sa­gen, die Volkshochschul-Bestrebungen haben doch auch hohe Grund-sätze. Aber Grundsätze haben keine Wirkung. Man glaubt, wenn sich da zehn oder zwölf Leute zusammentun und ein ideales Schulpro­gramm austüfteln, so wird schon etwas Gutes dabei herauskommen. Gescheit sind diese Leute alle, furchtbar gescheit. Es werden die schön­sten Programme gemacht, wie die Volkshochschule werden kann. Aber sehen Sie, darauf kommt es nicht an. Wenn jemand etwas gründet, so kommt es nicht auf ein Programm an, sondern darauf kommt es an, mit den Menschen das Möglichste zu leisten. Nicht wahr, die Leute kommen überall mit idealen Programmen. Aber in einer Schule muß man zuerst mit den Menschen rechnen, die darinnen sind, bei denen man sich nicht an das Programm halten kann. Wir müssen doch sehen,

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daß wir aus dieser Art der Denkensweise herauskommen und uns auf den Boden des wirklichen Lebens stellen.

Nun kann man sagen: Ja schön, ich will eben irgendwo arbeiten. Ich habe ein Missionsgebiet, und das will ich herantragen an Menschen, mit denen ich eine Kulturstufe erreichen kann von, sagen wir, A. Nun kann aber jeder einsehen, daß A nicht das Höchste ist, was man erreichen kann, sondern man muß A und B erreichen. Aber nun hat man nicht die Menschen, mit denen man das erreichen kann. Dann ist es aber bes­ser, so sagt man, man erreiche nur A. Wenn man so konstruiert, er­reicht man nicht nur nicht A, sondern A minus B.

Das Empfinden für das Reale im Leben muß man sich aus der Gei­steswissenschaft heraus nehmen. Nicht in programmatischen Begriffen muß man leben. Man muß sich wohl in den Begriffen ausdrücken, -aber auf die Begriffe kommt es nicht an. Darauf kommt es an, daß das, was Leben ist, wirklich überall hineingetragen wird, nicht daß das Tote hineingebracht wird in die Volkshochschule.

Frage nach Muck-Lamberty.

Rudolf Steiner: Diese Dinge wiederholen sich an allen Orten. Ich er­innere nur an den Häußer' der hier sein Wesen treibt. Dieser Mann ist hier herumgezogen zum Entsetzen der verschiedenen Leute, im Siegle-Haus erschienen und hat auch vor den Leuten allerlei Heftiges vorge­tragen. Aber ich möchte davor warnen, vor allen Dingen vor denen, die nicht wirken auf gesunde Weise durch ihren Verstand, sondern die wir­ken auf suggestive Weise. Diese Leute haben eine starke Kraft, die aber nicht das sein kann, was von einem gesunden Menschen kommt, son­dern von einem Verrückten. Und das muß man nicht übersehen. Die Dinge müssen gesund sein, wenn sie breitere Gebiete umfassen wollen. Und wenn die Jugendbewegung der Menschheit dienen will, so muß sie gesund bleiben. Da kommen wir zu Dingen, die da Kraft entwik­keln. Aber diese hier ist eine Kraft der Tollen, die die Tiere auch haben. Auf die Kraft kommt es nicht an, sondern viel mehr auf das, was sich durch ihre Kraft ausspricht. Die Sache ist so, daß wir wirklich nur aus anthroposophischem Geist in eine Sache eindringen können, wenn wir alles Suggestive ausschalten. Man darf sich nicht von dieser Kraft übermannen

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lassen. Denn ich muß sagen, ich habe erlebt, daß ganz be­schränkte Leute aus dieser Kraft kolossale Sachen ausgeführt haben. Vor der Seelentrunkenheit muß man sich in acht nehmen, insbesondere in einer Jugendbewegung. Man soll sich schon diesen Dingen gegen­über so verhalten.

Sehen Sie, ich glaube, da gibt es etwas, das, so einfach es scheinen mag, Ihnen sehr viel Schutz geben kann, und darauf möchte ich Sie hinweisen. In allen Bewegungen, auch in der anthroposophischen Be­wegung, gibt es Menschen, die furchtbar mystisch veranlagt sind. Da sagte mir einmal eine alte Freundin, eine Römerin: Ach, die Anthropo­sophen sind alle so «erhaben», die haben alle ein Gesicht «bis ans Bauch». - Und von dieser Sorte gibt es überall Leute. Das ist das eine Extrem. Das andere ist die grenzenlose Oberflächlichkeit, mit der viele Leute über alles hinweggehen. Aber nicht wahr, um nicht ungerecht zu werden, handelt es sich darum, daß man sich nicht zu stark in die Macht anderer begibt, sondern daß man seinen Menschen beisammen hält. Und dazu gibt es nur ein Mittel, das aber für jeden notwendig ist, und das ist der Humor. Alle Gesichter bis ans Bauch und alle Ober­flächlichkeit sind schädlich. Das, was man braucht, um zu einer richti­gen Stellungnahme zu kommen, das ist der Humor. Solchen Erschei­nungen gegenüber bekommt man das richtige Urteil, wenn man auch über sie lachen kann. Damit will man nicht ironisieren, sondern das, was sie haben, auf sich wirken lassen. Humor ist das, was man überall zur Beurteilung braucht. Die Jugendbewegung soll nicht so werden wie mit dem Gesicht bis ans Bauch, sondern sie soll wirklich gesunden Hu­mor pflegen. Ich kenne merkwürdig viele Pessimisten in der Jugendbe­wegung, die durch ihren Pessimismus allem ausgesetzt sind. Die Ge­genwart ist so gescheit, daß sie gar nicht merkt, wie die ganze Kultur verrückt wird. Wenn Sie hei richtigen «Mystikern» nachfragen, so schildern diese den Einfluß der Außenwelt auf den Menschen gefähr­lich, wie der Mensch von jedem Luftzug in Abhängigkeit steht. Wenn das wirklich so wäre, so wären alle Menschen die furchtbarsten Hyste­riker. Wenn die Menschen wirklich so abhängig wären, so würden nur hysterische Menschen leben. Sie wären machtlos in die Hand gegeben jedem Luftzug. Aber der Mensch ist, Gott sei Dank, nicht so. Da

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haben Sie diese Menschen. Das ist es also wirklich, worauf es ankommt, daß man sich so erzieht, daß man auch höher empfinden kann, daß man jeden Hauch so empfinden kann, und daß er einen doch nicht umwirft.

Frage nach Fidus und Gertrud Prellwitz.

Rudolf Steiner: Die Leute machen Bücher und treten vor die Welt und stehen ohne wirkliche Erfahrung da. Fidus und Gertrud Prellwitz sind die Urphänomene dafür. Solche Leute wissen absolut alles. Sie wissen zum Beispiel auch, wie man ist, wenn man wahrer Anthropo­soph ist. Sie sind eben der Typus des gegenwärtigen intellektuellen Menschen. Gertrud Prellwitz unterscheidet sich nicht von den übrigen, deswegen muß man die Sache mit Humor nehmen.

Ebenso das andere, daß man erlebt hat, daß Menschen alle Augen­blicke kommen und sagen: Ach, etwas Schreckliches ist vorgegangen! Ganz unnatürliche Sexualität entwickelt mein Kind. - Fragt man dar­auf nach dem Alter des Kindes, so erfährt man, daß es erst fünf Jahre alt ist. Glauben Sie doch, daß die Sexualität erst mit dem Reifwerden herauskommt, und daß es tatsächlich keinen Unterschied macht, ob ein Kind die Nase kitzelt, oder ob es sich anderswo kratzt. Interpretieren Sie doch nicht überall die Erotik hinein, damit man nicht die furchtba­ren Theorien ausgießt. Wenn man ein fünfjähriges Kind auf Erotik an-sieht, so ist das Blech. Bei dieser Frage kommt es vielmehr auf gesun­des Denken an, als viele Theorien zu bringen. Denn das meiste, was jetzt überhaupt darüber entwickelt wird, ist einfach Blech. Wirklich, die Leute brauchen bloß zu bedenken, wie schrecklich kurzsinnig diese Sachen sind. Es hat Kulturen gegeben, wo man das Essen mit Scham­gefühlen begleitet hat. Daraus könnten nun ähnliche Theorien über das Essen entstehen. Sie werden erfahren: Wenn Sie sich wirklich mit den umfassenden Fragen des Lebens befassen, dann werden Sie keine Zeit übrig haben für solches Theoretisieren.

Ein Teilnehmer: Diese Sachen sollten ernster erfaßt werden.

Rudolf Steiner: Sie stellten die Frage so wie eine Frage, von der man sagen muß: Sie ist so gestellt, als wollte man ein Haus bauen und hat noch nicht den Boden dazu.

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Ein Teilnehmer: Muck-Lamberty bringt den Boden in sein Handwerk mit Kunst und so weiter. Und dann wollen sie - die «Neue Schar» - das Leben von Grund aus umge­stalten.

Rudolf Steiner: Aber auf die Realität kommt es an. Man kann nicht in der Welt nach rückwärts wachsen, sondern nur nach vorwärts. Vom Nachdenken über Erotik läßt sich nicht vorwärtskommen. Wenn man gesunde Grundlagen entwickelt, so wird das erotische Leben von selbst gesund. Das erotische Leben ist gerade so, daß man es richtig hinein­stellen muß in das Leben. Wie es erscheint am Menschen und in einem gewissen Jahresalter, so entwickelt es sich auch in einem gewissen Kul­turzusammenhang. Man kann es nur herausspringen lassen. Wenn die anderen Dinge sich gesund entwickeln, entwickelt sich auch eine ge­sunde Erotik. Durch das Programmäßige auf diesem Gebiete schadet man am allermeisten. Auch im sozialen Leben wird es sich so entwik­keln, wie es sich entwickeln muß unter gesunden Voraussetzungen. Überall sind gesunde Voraussetzungen nötig. Unzählige Menschen sind zu mir gekommen und haben mich gefragt über vorgeburtliche Erzie­hung. Diese Theorien, die darüber aufgestellt worden sind, sind etwas, was fürchterlich ist. Denn es ist ein ganz treibhausartiges Denken, was da zutage tritt. Notwendig ist, daß die Mutter gesund ist und ordent­lich lebt. Der kindliche Organismus ist von der Mutter abhängig. Wenn die Mutter sich gesund hält, wird das Kind von selbst ordentlich gebo­ren. Es gibt gewisse Fragen, die zu stellen es keinen Sinn hat. Nur weil wir heute unter einem Überfluß an geistiger Produktion leben, werden diese Fragen unzeitig gestellt. Die Leute müssen Themen haben. Die Erfahrung wollen sie nicht abwarten. Sie schreiben, und dadurch kön­nen dann Bewegungen entstehen, die zu nichts führen.

Ein Teilnehmer: Die Bewegung ist nicht durch Denken entstanden, sondern ganz un­bewußt. Man lebt in kleinen Kreisen zusammen und sucht eine gewisse Natürlichkeit.

Rudolf Steiner: Was heißt das: eine gewisse Natürlichkeit? - Neh­men Sie an, Sie haben da einen Kreis und da und da; hier einen Kreis Bauernburschen, hier dekadente Adelige, hier gesunde Menschen. Jeder Kreis lebt sich in einer ganz verschiedenen Weise aus. Da können Sie nicht sagen: Irgendeine Theorie ist etwas nutze! - Es handelt sich wirklich

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darum, daß gewisse Dinge sich nur entwickeln können, wenn eine Grundlage da ist. Ich will nicht die Sachen ironisieren. Man kann nicht darüber nachdenken, wie ein neugeborenes Kind seine Sexualität pflegt. Da muß man eben den Mut haben, im rechten Moment das Mögliche, das Richtige zu finden. Deshalb muß man gerade versuchen, auf diesem Gebiete erst recht den Humor zu entwickeln, wirklich die Mittelstraße zu gehen zwischen Philisterium und Lotterkeit, die schon von Aristo­teles gewiesen worden ist.

Ein Teilnehmer: Es muß streng geschieden werden, weil Muck-Lamberty und Ger­trud Pr4lwitz etwas ganz Verschiedenes sind. Was die Menschheit darüber erfahren hat, hat sie von Älteren erfahren. Stammler und Fidus haben falsche Dinge über Muck ver­breitet. Muck hat junge Menschen gesucht, mit denen er zeigen will, daß etwas besteht, was zwischen Mensch und Mensch gleichberechtigt ist. Da haben sie als eine der äußeren Formen den Tanz, den Volkstanz gebracht. Die Menschen strömten zu, aber ebenso schnell auch weg. Die suggestive Wirkung war schnell verflogen. Die zurückgeblieben sind, stellen eine wirkliche geistige Macht dar. Die Handwerkergemeinde ist eine der ge­sündesten Bewegungen. Die Menschen in Naumburg versuchen, brüderlich alle Wirt­schaft aufzubauen, und wollen unabhängig sein von dem, was sie verneinen. Dabei hat sich ein erotisches Leben entwickelt, das gesund war, bis Gertrud Prellwitz Theorien hineintrug. Die Krise ist jetzt aber überstanden. Die Menschen dort sind jetzt über Ger­trud Prellwitz hinaus. Ihre geistige Bewegung mündet jetzt in die Anthroposophie ein.

Rudolf Steiner: Die Dinge sind so, daß man alles von seiner guten Seite aus behandeln kann, und das braucht nicht bezweifelt zu werden. Aber es ist doch wichtig, daß man hier auch die nötige Perspektive hat. Es ist zum Beispiel unstreitig, daß ein Teil derjenigen Leute, die die an­throposophische Bewegung getragen haben, aus spiritistischen Kreisen gekommen sind, und es ist doch später etwas Tüchtiges daraus gewor­den. Deshalb kann man aber nicht den Spiritismus verteidigen. Bei den Dingen in Naumburg muß man beachten, wie es kommt, daß gerade in Naumburg die Sache so geworden ist, wie sie ist. In Naumburg waren immer solche Bewegungen, die jederzeit zurückgehen. Es kann eine starke Einseitigkeit in so etwas hineingetragen werden. Der Naumbur­ger Fall ist ebensowenig beweisend wie der Umstand, daß die Leute in eine Studentenbewegung einmündeten. Trotzdem ich nicht den Spiritis­mus verteidigen werde, sind doch tüchtige Menschen daraus hervorge­gangen. Es kann natürlich aus allem Möglichen etwas hervorgehen. Aus solchen Faktoren kann man also nicht das Material für eine Ansicht

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nehmen. Muck-Lamberty wollte die Menschheit beglücken; er trat für Reinheit und Handwerk ein und so weiter. Wanderlehrer, die er auf­stellte, hatten einen Kreis von Jungen um sich, mit denen sie lebten. Er trat für Reinheit ein und hatte zwei uneheliche [aber gewollte] Kinder.

[Es folgt ein Durcheinanderreden, das nicht mitgeschrieben werden konnte.]

Rudolf Steiner: Es ist also sicherlich notwendig, daß wir die Anthro­posophie als solche treiben, und daß wir dann nicht erwarten können, daß so etwas zu befürchten ist. Die Anfänge, von denen heute gespro­chen wurde, werden doch die Anfänge sein müssen.

Frage: Eine pädagogische Frage. Wie stellt sich die Anthroposophie und die Waldorf­schule zu den vorhandenen freien Schulgemeinden und Landerziehungsheimen, wo die Lehrer als Freund und Mensch auftreten? Von Anthroposophen habe ich die Antwort bekommen: Diese Schulen müßten zu vermeiden sein, weil sie ein gewesenes Bildungs­ideal verwirklichen wollen, weil sie gräzisierend seien.

Rudolf Steiner: Die Sache ist diese. Die Waldorfschule beruht auf einer Pädagogik, die ganz aus der anthroposophisch zu gewinnenden Menschenerkenntnis hervorgeht, indem sie hierauf den Hauptwert legt, daß der Mensch nur so behandelt wird, wie er es im tiefsten Inneren will. Darauf beruht die Waldorfschule, ohne daß man Programme macht. Es wird auf Menschenerkenntnis gebaut und nicht das Kind ge­fragt, aber in gewissem Sinne doch gefragt, was es will. Die Hauptsache ist damit verbunden, daß die Waldorfschule wirklich eine demokrati­sche Einheitsschule ist. Sie setzt Proletarierkinder neben Kinder aus den höchsten Ständen. Sie erfüllt im höchsten Maße etwas, was man demokratische Einheitsschule nennen kann. Im übrigen stellt man sich auf den Standpunkt, daß man sagt: Wir leben in einer Welt, die nur da­durch, daß sie große, umfassende Kulturimpulse in sich aufnimmt, zu einer Gesundung kommen kann, die man aber nicht durch Gegenmittel, die Ausnahmen bleiben, erwerben kann. Also es handelt sich darum, daß man dasjenige, was besteht, akzeptiert. Ich stelle mich pädagogisch ein, wie sich das aus den betreffenden Verhältnissen, zum Beispiel einer Stadt, ergibt. Habe ich die Möglichkeit, in einer Stadt eine anthroposo­phische Schule zu gründen, so gründe ich sie aus den Gegebenheiten der Stadt.

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Was die pädagogische Methode anbelangt, so ist es selbstverständlich, daß man nichts sagen kann gegen ein Landerziehungsinstitut, das diese Pädagogik einführt. Dagegen glaube ich, daß das keine soziale Tat dar­stellt, weil man die jungen Menschen hinwegführt von dem Leben, in das sie hineingestellt sind; man erzieht sie abseits. Das beachtet man nicht. Ich kenne eine ärztliche Persönlichkeit, die ausgezeichnet ist, die aber zu mir kam und sagte: Dieser Mensch hat kein normales Herz, da muß man etwas tun. Ich sagte: Wenn Sie dem Manne das Herz gesund machen, so kann er nicht mehr leben, weil sein ganzer Organismus dar­auf eingestellt ist. Denn man muß immer einen Blick haben für das Ganze. Das Hinaustragen aufs Land gibt jungen Leuten wohl guten Gemeinschaftssinn, den man in der Abgeschlossenheit erziehen kann, aber bewähren würden sich diese Anstalten erst, wenn sich diese Men­schen später im gesamten sozialen Organismus bewähren würden. Da habe ich gewisse Bedenken. Es kommt darauf an, den ganzen Organis­mus gesund zu machen. Es kann sich nicht darum handeln, auf anthro­posophischem Boden so zu diskutieren, wie man überhaupt diskutiert; um das kann es sich bei uns nicht handeln. Ich habe einen ausgezeich­neten Lehrer aus einem Landerziehungsheim nach Stuttgart berufen. Ihm gefällt es hier besser; er muß doch hier etwas finden, was über das hinausgeht; der Mann muß doch beides vergleichen können. Daraus sehen Sie gleichzeitig, daß man nicht einseitig ist, denn sonst hätte ich den Lehrer nicht berufen. Es handelt sich darum, das Gute überall zu finden. Man darf nicht glauben, daß man überall das Programm durch-drücken muß.

Ein Teilnehmer: In diesen Schulen, wo junge Leute zusammen leben, müßte ein Leben entstehen, das nicht weltfern ist.

Rudolf Steiner: Aber ein Individuum! Die einzelnen müssen später doch wieder als Individualitäten wirken. Das ist etwas, wenn Sie dem nachgehen würden, so müßten Sie feststellen, daß sich in den Lander­ziehungsheimen leicht eigensüchtige Naturen entwickeln, die meinen, es müßte überall so sein wie dort. Es werden furchtbare Kritiker, schreckliche Kritikaster, denen nichts in der Welt recht ist. Es ist darin etwas, wie sozialer Sonderlingsgeist. Da muß man schon sehen, daß man nicht das Unmögliche will.

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Was hätte ich tun sollen? Wäre ich von einer Abstraktion ausgegan­gen, hätte ich die Waldorfschule niemals begründet. Erziehungsheime im Sinne von Wyneken und Lietz' wo man alles herstellen kann, lassen sich im Grunde leicht verwirklichen. Ein Landerziehungsheim ist im Grunde nur zu machen auf Grundlage dessen, was man aus der Gesell­schaft herauszieht. Außerdem werden nicht viele Proletarierkinder in Landerziehungsheimen sein.

Ein Teilnehmer: Ich war selbst Lehrer an einer freien Schule, die jetzt zusammenfiel. Wir hatten aber mehr Freiplätze als andere. Die Reichen zahlten einen Überschuß an Schulgeld, wovon dann an arme Kinder Freistellen abgegeben werden konnten.

Rudolf Steiner: Das ist aber das Unsoziale an der Sache, auch bei der Waldorfschule. Sie muß auch noch kapitalisiert werden. Dies geht nur zu verbessern, wenn wir die Dreigliederung durchführten.

Ein Teilnehmer: In Internaten wird ein Familienleben geführt, während die Form der heutigen Familie nicht immer die günstigste ist.

Rudolf Steiner: Es handelt sich um wirklichkeitsgemäße Urteile. So ist Internatsleben zum Beispiel in englischen Kreisen immer dagewesen. Man kennt dort das Internatsleben mit seinen Licht- und Schattenseiten.

Rudolf Steiner schließt die Aussprache.

DIE ERKENNTNIS-AUFGABE DER AKADEMISCHEN JUGEND Ansprache in Dornach am 6. Januar 1923 nach dem Brande des Goetheanum in der Silvesternacht 1922/23

#G217a-1981-SE081 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

#TI

II

Ansprachen des Jahres 1923

Alle Erkenntnis, auch die rein

wissenschaftliche, muß

in das rein Künstlerische gehen.

14. Februar 1923

#SE217a-083

DIE ERKENNTNIS-AUFGABE DER AKADEMISCHEN JUGEND

Ansprache in Dornach am 6. Januar 1923 nach dem Brande des Goetheanum

in der Silvesternacht 1922/23

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Meine lieben Freunde! Meine sehr verehrten Anwesenden! Ich müßte Ihnen ein Buch vorlesen, wenn ich Ihnen mitteilen wollte all die außer­ordentlich lieben Worte und die Worte inniger Verbindung mit dem, was hier durch die furchtbare Katastrophe verloren worden ist; ich werde mir erlauben, daher nur die Namen derjenigen mitzuteilen, wel­che unterzeichnet haben solche Worte des Anteiles, des Hingegeben-seins an die Sache. Es sind zum Teil Zeichen dafür, wie tief in die Her­zen vieler Menschen doch gegangen ist, was von hier aus an die Welt mitgeteilt werden darf. Es sind zum Teil auch Zeichen von wirklich tiefgefühlten Wünschen und auch tatkräftigen Willensentschließungen, das wieder zu erringen, was wir verloren haben. Die breite Anteil­nahme an unserer Arbeit und an unserem Verluste wird für viele von Ihnen ja gewiß eine Quelle von Kraft sein können, und schon aus die­sem Grunde darf ich hier die Mitteilung von alledem machen. Denn unsere Sache soll ja nicht bloß eine theoretische sein, unsere Sache soll eine Sache der Arbeit, der Menschenliebe, des hingebungsvollen Menschheitsdienstes sein, und deshalb gehört zu dem, was von hier aus gesprochen werden soll, auch die Mitteilung dessen, was Tat oder Ab­sicht zur Tat ist. Ich werde mir nur erlauben, diejenigen Namen zu nennen, die nicht Persönlichkeiten angehören, welche hier sind, denn was sich die Herzen derer mitzuteilen haben, die hier sind, das ist ja in diesen Tagen, in diesen Tagen des wirklich vom Schmerz durchwühlten Zusammenseins mehr stumm, aber doch nicht weniger tief und deutlich zum Ausdrucke gekommen. So werden Sie mir gestatten, daß ich die lieben Freunde der Sache, die hier Ihre Anteilnahme auch schriftlich zum Ausdrucke gebracht haben, jetzt nicht besonders anführe. Sie ken­nen sie ja. [Es folgt die Verlesung der Namen.]

Wir dürfen schon annehmen, daß in vielen Herzen dasjenige, was hier versucht worden ist, tief eingewurzelt ist, und ich möchte den heu­tigen Vortragsabend damit ausfüllen, daß ich gewissermaßen episodisch

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die Betrachtungen dieser Tage unterbreche und des Umstandes ge­denke, daß es zunächst ein Kursus war, welcher auswärtige Freunde in größerer Anzahl zu den Freunden hinzugerufen hat, die sonst hier im Goetheanum die anthroposophische Sache sich zu erarbeiten versuch­ten. Und insbesondere möchte ich mich zuerst in Gedanken wenden an die jungen, an die jüngeren Freunde, welche zu diesem Kursus hierher gekommen sind, und die sich ja zur größten Befriedigung gewiß von allen, welche es mit Anthroposophie ernst meinen, in der letzten Zeit in so schöner, tiefer und herzlicher Weise innerhalb dieser Bewegung eingefunden haben.

Wir müssen uns durchaus klar darüber sein, welche Bedeutung es hat, wenn sich junge Seelen, Seelen, welche in dem Streben darinnen stehen, dasjenige zu erwerben, was heute von einem jungen Menschen erwor­ben werden kann an Wissenschaft, Kunst und so weiter, wenn solche Seelen sich finden, um mitzuarbeiten innerhalb der anthroposophischen Bewegung. Diese jüngeren Freunde, die zu diesem Kursus hier erschie­nen sind, sie gehören ja nun auch zu denen, die vor kurzer Zeit hierher gekommen sind, das Goetheanum gesehen haben, wiedergesehen haben und wohl gedacht haben, daß sie es in anderem Zustande bei ihrer Rückreise verlassen werden, als das jetzt der Fall ist. Und wenn ich vorzugsweise mich jetzt zuerst in Gedanken an diese jüngeren Freunde wende, dann ist es doch so, daß ein jeder, dem die anthroposophische Bewegung am Herzen liegt, eigentlich als seine unmittelbare Seelen-sache alles empfinden muß, was irgendwelche Gruppen oder einzelne andere Menschen, die innerhalb der Bewegung sich befinden, angeht. Die jüngeren Freunde sind ja zum großen Teil solche, welche den Weg finden wollen zur anthroposophischen Arbeit aus dem heraus, was man heute das Geistesleben nennt. Und insbesondere möchte ich zuerst zu denen sprechen, welche dem akademischen Leben angehören und aus diesem heraus den Antrieb gefühlt haben - aber kaum durch dieses er­zeugt -, sich innerhalb der anthroposophischen Bewegung zu weiterem Streben mit anderen Menschen zusammenzutun.

Da ist es ja ganz gewiß vor allen Dingen der heilige Ernst des Stre­bens nach einer Erfüllung der menschlichen Seele mit Geistesleben, was diese jungen Leute getrieben hat. Innerhalb der Anthroposophie wird

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allerdings von einem Geistesleben gesprochen, das in unmittelbarer Anschauung nicht auf jene leichte Weise erworben werden kann, die man heute ganz besonders liebt. Und es wird ja kein Hehl daraus ge­macht - auch nicht in der Literatur, aus der sich im weitesten Umkreise jeder überzeugen kann, was er innerhalb der anthroposophischen Ar­beit findet -, daß die Wege zur Anthroposophie schwierig sind. Aber schwierig nur aus dem Grunde, weil sie zusammenhängen mit dem Tiefsten, aber auch mit dem Kraftvollsten der Menschenwürde, und weil sie auf der anderen Seite auch zusammenhängen mit dem, was unserem Zeitalter, unserer Epoche ganz besonders notwendig ist, was geradezu so bezeichnet werden darf, daß der Einsichtige, der die Niedergangs­erscheinungen in unserer Zeit richtig zu würdigen weiß, die Notwen­digkeit eines solchen Fortschrittes anerkennen muß, wie er von der an­throposophischen Bewegung wenigstens versucht wird.

Nun darf durchaus nicht außer acht gelassen werden, daß die anthro­posophische Sache in mehrfacher Art für den Menschen der Gegenwart etwas sein kann. Sie kann ihm allerdings dadurch etwas werden, daß er mit wirklicher innerer Hingabe versucht, zur Anschauung der geistigen Welten selbst zu kommen, um sich dadurch zu überzeugen, daß alles, was hier mitgeteilt wird aus den geistigen Welten, durchaus auf Wahr­heit fußt. Aber ich muß immer und immer wieder betonen, daß - so notwendig es ist, daß einzelne, oder vielleicht eine unbegrenzte Zahl von Menschen in der Gegenwart diesen ernsten, schwierigen Weg ge­hen - auf der anderen Seite aber doch jeder, der nur unbefangenen, ge­sunden Menschenverstand hat, eine völlig auf wirkliche innere Gründe gestützte Einsicht in die Wahrheit der Anthroposophie gewinnen kann.

Das muß immer wieder und wieder betont werden, damit nicht der Einwand, der ganz ungültig ist, scheinbar Geltung sich verschaffe: daß eigentlich nur derjenige, der hellsehend in die geistige Welt hineinblickt, irgendwie ein Verhältnis gewinnen könne zu dem, was in der anthro­posophischen Bewegung als Wahrheit verkündet wird. Das heutige allgemeine Geistesleben, die allgemeine Zivilisation und Kultur, sie bringen ja allerdings so viele Vorurteile vor den Menschen hin, daß er wegen dieser Vorurteile zur völligen Besinnung im gesunden Menschenverstande nur schwer kommen kann, um auch ohne Hellsehen

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sich von der Wahrheit der anthroposophischen Sache zu über­zeugen.

Aber gerade dazu sollte die Anthroposophische Gesellschaft die Wege weisen, und in dieser Richtung sollte sie ihre Arbeit leisten, daß die Vorurteile der gegenwartigen Zivilisation immer mehr und mehr hinweggeräumt werden. Wenn die Anthroposophische Gesellschaft nach dieser Richtung ihre Pflicht tut, dann darf man sich der Hoffnung hingeben, daß jene inneren Erkenntniskräfte auch ohne Heilsehen den­jenigen erwachsen, die aw irgendwelchen Gründen die exakte Clair­voyance, von der hier gesprochen werden muß, nicht anstreben können, daß sie doch zu einer vollkräftigen Überzeugung von der Gültigkeit der anthroposophischen Erkenntnis kommen können.

Aber es kann noch ein ganz besonderer Weg sein, den nun der jün­gere akademische Mensch heute zur Anthroposophie für sich finden kann. Sehen Sie, was eigentlich heute das akademische Studium geben sollte und geben könnte, wäre der gediegenste Ausgangspunkt, um auch zur eigenen Anschauung - ich sage ausdrücklich: zur eigenen An­schauung - des anthroposophischen Geistesgutes zu kommen, wenn Wissenschaft und Erkenntnis und inneres Leben innerhalb unseres Schulbetriebes so vorhanden wären, wie die Möglichkeit dazu eben heute durchaus vorliegt.

Aber bedenken Sie einmal, wie wenig innerlich verbunden innerhalb der gegenwärtigen Zivilisation der jüngere Mensch heute mit dem ist, was er als seine Wissenschaft, als seine Erkenntnis erstreben soll. Be­denken Sie, wie es zumeist heute nicht anders sein kann, als daß mehr oder weniger als etwas Äußerliches die einzelnen Wissenschaften an den jüngeren Menschen herankommen. Sie treten ja heran mit einer Systematik, die durchaus nicht geeignet ist, die oftmals außerordentlich bedeutungsvollen, sogenannten empirischen Erkenntnisse in ihrem ganzen Wert sprechen zu lassen. Ja, meine lieben Freunde, es gibt heute innerhalb einer jeden Wissenschaft, die gepflegt wird, erschütternde Wahrheiten, manchmal erschütternde Wahrheiten in Einzelheiten, in Spezialitäten. Und es gibt namentlich solche Wahrheiten, von denen ich behaupten möchte, daß, wenn sie richtig an den jungen Menschen herantreten würden, sie wirken würden wie eine Art seelischen Mikroskops

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oder Teleskops, so daß, wenn sie von der Seele richtig ver­wendet werden könnten, sie ungeheure Geheimnisse des Daseins auf­schließen würden.

Aber gerade von solchen Dingen, die ungeheuer aufschlußgebend sein würden, wenn sie richtig gepflegt würden, die die Herzen und die Seelen hinreißen würden, wenn sie aus den Tiefen der Menschheit und der Persönlichkeit heraus innerhalb des akademischen Lebens an die Jugend herankämen, gerade von solchen Dingen muß heute vielfach ge­sagt werden, daß sie innerhalb einer ausgesponnenen gleichgültigen Sy­stematik oftmals eben mit Gleichgültigkeit an die Jugend herangebracht werden, so daß das Verhältnis der Jugend zu dem, was unsere empi­rische Wissenschaft auf den mannigfaltigsten Gebieten an Aufschluß-möglichkeiten hervorgebracht hat, ein durchaus Äußerliches bleibt. Und man möchte sagen: mancher, ja, wohl die meisten unserer jungen akademischen Menschen gehen heute durch das Studium ohne inneren Anteil, lassen die Sache gewissermaßen mehr oder weniger als ein Pano­rama an sich vorübergehen, um dann mit den nötigen Wiederholungen die Examina machen zu können und eine Lebensstellung zu finden.

Es klingt ja fast paradox, wenn man sagen würde, es sollten auch die Herzen der akademischen Jugend bei jeglichem sein, das ihnen vorge­bracht wird. Ich sage, das klingt wie ein Paradoxon, obwohl es so sein könnte. Denn die Möglichkeit ist vorhanden, weil für denjenigen, der gerade dazu eine subjektive Anlage hat, heute manchmal das trockenste Buch oder der trockenste Vortrag genügen kann, um, wenn auch nicht auf die Kraft des Schreibers oder des Vortragenden hin, so doch viel­leicht aus der eigenen Kraft heraus tief auch dem Herzen nach ergriffen zu werden. Aber ich muß ja sagen: manchmal geht es einem schon ganz tief zur Seele, wenn man, vielleicht sogar bei den besten der jungen Freunde, die herankommen zur anthroposophischen Bewegung, merkt, daß sie nicht durch ihre Schuld, sondern durch ihr Schicksal innerhalb des heutigen Zivilisationslebens nicht nur für ihr Herz nichts bekom­men haben aus dem gegenwärtigen Erkenntnisbetrieb heraus, sondern -vielleicht werden mir es manche nicht verzeihen, aber die meisten der jungen Akademiker, die hier sind, werden es wohl verstehen -, sondern auch nichts für ihren Kopf.

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Wir sind heute in diesem Zeitalter durch die naturwisserischaftliche Entwickelung, die ich während dieses naturwissenschaftlichen Kurses zu charakterisieren versuchte, bei einem Punkte der Zivilisaflonsent­wickelung angelangt, in dem es möglich wäre, daß ohne alle Anthropo­sophie, durch bloßen vollmenschlichen Betrieb des wissenschaftlichen und Erkenntnislebens, die jungen Menschen aus der gewöhnlichen Na­turwissenschaft heraus das erleben müßten, was ich nennen möchte eine Art tiefer seelischer Beklemmung. Ja, die Naturwissenschaft der Gegenwart ist so, daß gerade derjenige, der sie emsig und fleißig stu­diert und ihre Dinge ernst nimmt, etwas wie eine seelische Beklemmung empfindet, etwas von dem empfinden kann, was üher die menschliche Seele kommt, wenn sie ringt mit dem Erkenntnisproblem. Denn wer sich ein bißchen umsieht aus dem oder jenem heraus, was innerhalb der Naturwissenschaft heute vorliegt, an den treten große Weltprobleme heran, Weltprobleme, die aber oftmals eingekleidet sind, ich möchte sagen, in kleine Formulierungen von Tatsachen. Und diese Formulie­rungen von Tatsachen, die drängen einen dahin, etwas in der eigenen Seele zu suchen, was gerade deshalb, weil diese naturwissenschaftlichen Wahrheiten vorhanden sind, als Rätsel gelöst werden muß; sonst kann man nicht leben, sonst fühlt man sich beklemmt.

Oh, wäre diese Beklemmung die Frucht unseres naturwissenschaftli­chen Studiums! Dann würde aus dieser Beklemmung, die den ganzen Menschen ergreift, nicht allein die Sehnsucht nach der geistigen Welt entstehen, sondern auch die Begabung, in die geistige Welt hineinzu-schauen. Auch dann, wenn man Erkenntnisse nimmt, die den Men­schen nicht befriedigen können, kann gerade durch das richtig an die Seele und an das Herz herangebrachte Unbefriedigende das höchste Streben entfacht werden.

Das ist es, meine lieben Freunde, was man manchmal als so furchtbar empfindet, als so niederschmetternd empfindet innerhalb des Erkennt­nisbetriebes der Gegenwart, daß gar kein Anspruch darauf gemacht wird, fühlen zu lassen, wie die Dinge, die in der Gegenwart da sind, auf den ganzen Menschen so wirken können, daß er gehindert wird in seinem jungen Leben, überhaupt an das Menschenwürdigste heranzu­kommen, wenn er nicht gerade aus einer besonders veranlagten Sehnsucht

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heraus sich frei macht von dem, was ihn nur mit den Hindernis­sen behaftet, die in den Weg gelegt werden.

Und wenn man von den Naturwissenschaften weg zu den Geistes­wissenschaften sieht: sie sind während des naturwissenschaftlichen Zeitalters in einen Zustand gekommen, daß, wenn man als junger Mensch mit einer Anleitung, die diese Geisteswissenschaften wiederum vom vollmenschlichen Standpunkte aus behandeln würde, sich ihnen so hingeben könnte, daß man durch sie wenigstens etwas bekommen würde, was ich nennen möchte eine seelische Atemnot. Denn alle die abstrakten Ideen, die Ergebnisse dokumentarischer Forschung und all das andere, was heute in den Geisteswissenschaften enthalten ist, das würde, wenn es wenigstens mit menschlichem Anteil an den jungen Menschen herangebracht würde, ja gerade das Ziel verfolgen können, in ihm diese Atemnot der Seele zu erzeugen, die den Drang in ihm er­wecken würde, hinaufzusteigen in die frische Luft, die in das Gebiet der heutigen Geistesbetrachtung durch anthroposophische Weltan­schauung gebracht werden soll.

Wer dem Geiste meiner Vorträge über die naturwissenschaftliche Entwickelung der neueren Zeit gefolgt ist, wird gewiß nicht sagen kön­nen, daß ich eine überflüssige Kritik an diese Naturwissenschaft der Gegenwart angelegt habe. Im Gegenteil, ich habe durch meine Vorträge ihre Notwendigkeit bewiesen, habe versucht zu beweisen, daß die Na­turwissenschaft und schließlich auch die Geisteswissenschaft der Ge­genwart nichts anderes sein können als Grundlagen, denn sie dienten und müssen dienen zu Grundlagen der Zivilisation, die einmal gelegt werden müssen, damit weitergebaut werden kann darauf.

Aber der Mensch kann nicht anders, als Mensch sein, voller Mensch sein nach Leib, Geist und Seele. Und indem der heutige junge Mensch in einem Zeitalter leben muß, in dem ihm notwendigerweise etwas ent­gegentritt, was den Menschen gar nicht enthält, könnte dennoch das edelste und auch kraftvollste menschliche Streben erregt werden, wenn eben nur dasjenige, was notwendig, aber nicht menschlich befriedigend ist, im höchsten Sinne des Wortes aus voller Menschlichkeit ihm heute entgegengebracht würde. Wenn das so geschähe, dann würden unsere jungen Leute nichts anderes brauchen als die Errungenschaften der

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heutigen physikalischen Wissenschaft, der heutigen Geisteswissenschaf­ten an den Akademien selber zu hören; und sie würden gerade daraus nicht nur den innersten Drang, sondern auch die Befähigung erhalten, Geisteswissenschaft in Vollmenschlichkeit in sich aufzunehmen. Und aus dem, was dann leben würde in den jungen Menschen, würde ganz von selbst erwachsen, daß ihnen die anthroposophische Gestalt der Wissenschaft auch diejenige würde, die notwendig ist, damit wir wei­terkommen in der Zivilisation der Menschheit.

Ich glaube, daß unsere jüngeren Freunde, wenn sie sich die vielleicht etwas paradox klingenden Worte, die ich gesprochen habe, richtig überlegen, damit einigermaßen charakterisiert finden werden die wich­tigsten der Leiden, die sie während ihrer akademischen Zeit durchzu­machen hatten. Und ich darf annehmen, daß in diesem Leiden bei der Mehrzahl der Grund liegt, warum sie zu uns gekommen sind. Aber dieses Leiden gehört bei vielen schon einer Vergangenheit, einer nicht mehr einzuholenden Vergangenheit an. Denn was man eigentlich in einer gewissen Zeit der Jugend haben sollte, das kann man ja in dersel­ben Gestalt später nicht mehr haben. Aber dennoch glaube ich, daß eines als Ersatz dienen kann. Was Ersatz sein soll für das, was man nicht mehr haben kann, das ist die Erkenntnis der Aufgabe, die insbe­sondere auch die jüngeren Leute unter uns haben zur Pflege des an­throposophischen Lebens in der Gegenwart.

Stellt Ihr Euch diese Aufgabe: zu tun für die anthroposophische Bewegung, was Ihr aus Eurer eigenen Überzeugung entweder schon wisset, was für sie zu tun ist, oder wovon Ihr im Laufe der Zeit Euch in Eurem eigensten Innern, in Eurem ganz individuellen Innern über­zeugen könnt, daß es notwendig ist für die weitere Zivilisation der Menschheit: dann werdet Ihr eines in Eurem Herzen einmal tragen können, tragen können länger als dieses Erdenleben währet: dann wer­det Ihr tragen können das Bewußtsein, in einem Zeitalter der größten menschlichen Schwierigkeiten Eure Pflicht gegenüber der Menschheit und der Welt getan zu haben. Und das wird ein reichlicher Ersatz für dasjenige sein, was Ihr mit Recht verlorengeben möget.

Empfindet man so recht, wie es steht mit der Jugend innerhalb unse­res Zeitalters, dann sieht man auch in der richtigen Weise auf die Tatsache

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hin, daß akademische Jugend innerhalb unserer Kreise sich ein­gefunden hat, und dann wird wohl auch - wenn ich mich so ausdrük­ken darf - nach und nach das Talent entstehen, ein Verhältnis zu die­ser Jugend zu gewinnen von seiten derjenigen innerhalb der Anthropo­sophischen Gesellschaft, welche ihr nun, sagen wir, nicht als Jugend angehören in dieser oder jener Beziehung.

Aber ich glaube, es gibt ein Wort, welches aus unserer gegenwärtigen Trauerlage herkommen kann, das ich auch zu den ältesten Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft sprechen kann, und das ist die­ses: daß der Mensch, der heute sich als Mensch richtig versteht, inner­halb der Anthroposophischen Gesellschaft ja erfahren kann, was wie­derum mit Ernst betrachtet werden muß, wenn die Zivilisation der Menschheit weitergehen soll, wenn die Niedergangskräfte nicht die Oberhand gewinnen sollen über die Aufgangskräfte. Es ist ja nahezu so weit gekommen innerhalb der allgemeinen Kultur und Zivilisation der Gegenwart, daß es fast komisch klingt, wenn einer sagt: Wenn der Mensch in seinem Geistig-Seelischen ist zwischen dem Einschlafen und Aufwachen, so sollte er dafür gesorgt haben, daß sein Geistig-Seeli­sches sich während dieser Zeit in der richtigen Weise verhalten kann. Aber innerhalb der anthroposophischen Bewegung erfahren Sie ja, daß dieses Geistig-Seelische, wie es lebt zwischen dem Einschlafen und Aufwachen, der Keim ist, den wir in die Ewigkeit der Zukunft hinaus-tragen. Was wir im Bette zurücklassen, wenn wir schlafen, dasjenige, was von uns sichtbar ist, wenn wir vom Morgen bis zum Abend unser Tageswerk vollbringen, das tragen wir nicht hinaus durch die Pforte des Todes in die geistige, in die übersinnliche Welt. Wohl aber tragen wir jenes geistig Feine hinaus, das außerhalb des physischen und des Ätherleibes vorhanden ist, wenn der Mensch sich zwischen dem Ein­schlafen und Aufwachen befindet. Sehen wir jetzt ab davon, welche Be­deutung das Schlafesleben für den Menschen hier auf Erden hat; das aber kann durch anthroposophische Geisteswissenschaft dem Men­schen klar werden, daß jenes Feine, Substantielle, welches, für das ge­wöhnliche Bewußtsein unwahmehmbar, zwischen dem Einschlafen und Aufwachen lebt, gerade dasjenige ist, was er an sich tragen wird, wenn er durch die Pforte des Todes geschritten ist, wenn er in anderen

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Welten, als es diese Erdenwelt ist, seine Aufgabe zu verrichten hat. Aber die Aufgaben, die er da zu verrichten hat, er wird sie verrichten können, je nachdem er dieses Geistig-Seelische gepflegt hat. Oh, meine lieben Freunde, in jener geistigen Welt, die um uns ist ebenso wie die physische Welt, leben auch diejenigen Menschenseelenwesen ein gegen­wärtiges Dasein, die jetzt eben nicht in einem physischen Leibe sind, sondern vielleicht Jahrzehnte, Jahrhunderte lang noch zu warten haben auf ihre nächste Erdenverkörperung. Diese Seelen, sie sind da, wie wir physischen Menschen auf Erden da sind; und in dem, was hier unter uns physischen Menschen geschieht, was wir dann später das geschicht­liche Leben nennen, in dem wirken nicht nur die Erdeiimenschen, in dem wirken auch diejenigen Kräfte, die sich hereinstrecken aus Men­schen, die gegenwärtig zwischen dem Tod und einer neuen Geburt sind. Diese Kräfte sind da. Wie wir unsere Hände ausstrecken, so strecken diese Wesen ihre Geisterhände in die unmittelbare Gegenwart herein. Und eine wüste Geschichtsschreibung ist es, wenn nur die Do­kumente verzeichnet werden, welche vom Irdischen handeln, während die wahre Geschichte, die sich auf Erden abspielt, mit bewirkt wird von den aus der geistigen Welt hereinwirkenden Geisteskräften derer, die zwischen dem Tod und einer neuen Geburt sind. Wir arbeiten auch mit den nicht auf der Erde verkörperten Menschen zusammen.

Und so wie wir eine Sünde begehen wider die Menschheit, wenn wir die Jugend nicht in der rechten Weise erziehen, so begehen wir eine Sünde wider die Menschheit, eine Sünde wider die edelste Arbeit, die aus unsichtbaren Welten von den nicht verkörperten Menschen verrich­tet werden soll, wir begehen eine Sünde an der Entwickelung der Menschheit, wenn wir unser eigenes Geistiges nicht pflegen, damit es so durch die Pforte des Todes geht, daß es dort bewußter und be­wußter sich entwickeln kann. Denn wenn das Geistig-Seelische nicht auf Erden gepflegt wird, dann geschieht es, daß dieses Bewußtsein, das in einer gewissen Weise sofort und dann immer mehr und mehr zwi­schen dem Tod und einer neuen Geburt aufleuchtet, daß dieses Be­wußtsein getrübt bleibt bei all den Seelen, die hier kein geistiges Leben pflegen. Wird sich der Mensch seiner vollen Menschlichkeit bewußt, dann gehört das Geistige dazu.

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Das sollte der Ernst der Menschen der Gegenwart sein, die in rechter Art etwas verstehen von den Impulsen der anthroposophischen Bewe­gung, daß sie wissen, in welcher Weise das durch anthroposophische Geisteswissenschaft Erworbene ein Welten-Lebensgut, eine Welten-Lebenskraft ist. Daß es eine Sünde begehen heißt im höheren Sinne, wenn man unterläßt dasjenige zu pflegen, was da sein muß, um die Erde, um die Erdenmenschheit weiter zu entwickeln, weil es zum Un­tergange des Irdischen führen muß, wenn es nicht da ist. Und in vielem kommt es darauf an, neben dem, was man vielleicht gern mehr oder weniger theoretisch hinnimmt aus der Geisteswissenschaft, zu empfin­den den tiefen Ernst, der darin liegt, sich zu verbinden mit einer im Geiste zu ergreifenden, umfassenden Menschheitsangelegenheit.

Und das, meine lieben Freunde, ist etwas, was nun nicht für eine be­sondere Menschenkategorie gilt, das ist etwas, was ganz gewiß für Junge und Alte gilt. Das scheint mir aber auch dasjenige zu sein, in dem sich Junge und Alte zusammenfinden können, damit ein Geist ein­mal herrsche innerhalb dessen, was Anthroposophische Gesellschaft ist.

Mögen die jüngeren Leute ihr Bestes bringen, mögen die älteren Leute dieses Beste verstehen, möge Verständnis von der einen Seite Verständnis auf der anderen Seite finden: dann allein kommen wir vor­wärts. Lassen Sie uns aus den traurigen Tagen, die wir durchgemacht haben, aus dem schmerzlichen Leid, mit dem wir durchdrungen sind, Entschlüsse in unser Herz eindringen, die nicht bloße Wünsche, nicht bloße Gelobungen sind, sondern die so tief in unseren Seelen sitzen, daß sie Taten werden können. Auch im kleinen Kreise werden wir, wenn wir den großen Verlust ausgleichen wollen, Taten brauchen.

Jugendtaten sind, wenn sie in den richtigen Wegen gehen, welten-brauchbare Taten. Und das Schönste, was man als älterer Mensch wol­len kann, ist, zusammenarbeiten zu können mit denjenigen Menschen, die noch Jugendtaten verrichten können. Wenn man das in der richti­gen Weise weiß, oh, meine lieben Freunde, dann kommt einem die Ju­gend wohl auch verständnisvoll entgegen. Und nur dann werden wir selbst das allein tun können, was zum Ausgleich unseres großen Ver­lustes notwendig ist, wenn die Jugend, die uns das entgegenbringen kann, was einstmals für die Zukunft notwendig ist, sehen kann - und

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ganz gewiß dann zu ihrer eigenen Befriedigung -, an schönen Beispie­len sehen kann, was die älteren Leute zur Ausgleichung dieses Verlu­stes tun können.

Bemühen wir uns, daß wir voneinander Rechtes, Kraftvolles sehen können, damit sich Kraft an Kraft erkrafte, dann allein werden wir vor­wärtskommen.

ÜBER DEN AUSBAU DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT Ansprache und Gesprich zur Vorbereitung der Delegiertenversammlung in Stuttgart am 8. Februar 1923

#G217a-1981-SE095 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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ÜBER DEN AUSBAU

DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Ansprache und Gesprich zur Vorbereitung der Delegiertenversammlung

in Stuttgart am 8. Februar 1923

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Rudolf Steiner: Man ist jetzt so weit, daß wenigstens der Entwurf eines Rundschreibens an die Anthroposophische Gesellschaft gemacht ist. Damit ist eine Art Boden geschaffen, auf dem eine Verhandlung mög­lich wäre. Ich glaube, daß es jetzt vielleicht gut wäre, wenn Sie das, was Sie selber wünschen, in einer gemeinsamen Verhandlung mit dem bis zu einer Delegiertenversammlung vorhandenen Komitee verhandeln würden. Dieses Komitee ist rein sachlich zusammengestellt, so sachlich, daß nicht, wie es früher war in dem Ihnen bekannten Dreißiger-Aus­schuß, die Mitglieder der einzelnen Institute, sondern diejenigen, wel­che die bestehenden Einrichtungen zu repräsentieren haben, in diesem Komitee darinnen sind. Dieses Komitee ist so zusammengesetzt, daß von dem alten Zentralvorstand Herr Leinhas für den «Kommenden Tag», Dr. Unger als Rest des alten Zentralvorstandes, Dr. Rittelmeyer als Repräsentant der Bewegung für religiöse Erneuerung, dann Wolf­gang Wachsmuth, Herr von Grone, Dr. Palmer, Dr. Kolisko, für den Philosophisch-Anthroposophischen Verlag Fräulein Mücke und für die übrigen auswärtigen Interessen Herr Werbeck aus Hamburg darinnen sind. Die sieben Stuttgarter habe ich gebeten, daß sie mit Ihnen ge­meinschaftlich die von Ihnen gemeinten Schritte unternehmen. Ich werde selber morgen früh nach Dornach abreisen müssen und am Montag wieder da sein. Ich bedaure, daß ich an den nächsten Bespre­chungen nicht teilnehmen kann. Ich glaube nun, daß es jetzt das aller­beste ist, da ja mit mir selbst auch von Ihrer Seite keine Differenz sein kann, daß Sie rein von sich aus die Verhandlungen mit diesen Persön­lichkeiten führen. So wie die Verhältnisse liegen, sind diese Persönlich­keiten die gegebenen, da alle Schattierungen unter ihnen vertreten sind; die jugendlichen durch die Anwesenheit von Herrn von Grone und Wolfgang Wachsmuth - ich sehe ab, ob Ihnen diese beiden sympa­thisch sind -, die ja völlig jungfräulich in bezug auf alle Vorstandschaft

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sind. Außerdem hat Dr. Palmer erklärt, daß er jede mögliche Brücke zu der Jugend bauen will.

Der Aufruf an die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft ist im Entwurf vorhanden. Er wird im wesentlichen das enthalten, was jetzt die Anthroposophische Gesellschaft sagen mußte. Er mußte na­turgemäß aus denen hervorgehen, die die Anthroposophische Gesell­schaft bis jetzt geführt haben. Vom 25. bis 28. Februar wird eine Dele­giertenversammlung insofern stattfinden, als die einzelnen Zweige und Gruppen, die sich zusammengehörig betrachten, ihre Delegierten hier­herschicken, damit eine Art Generalversammlung stattfinden soll. Da­mit ist Gelegenheit gegeben, alle Ansichten über den Ausbau vertreten zu können. Bis jetzt stand man ja vor der Alternative, es so zu machen oder aber die Anthroposophische Gesellschaft, so wie sie war, eingehen zu lassen und etwas völlig Neues zu begründen. Im Jahre 1918 hätte man leichter Hand etwas Neues begründen können. Jetzt steht man vor positiven Einrichtungen, mit denen man vor der Welt engagiert ist und aus denen man nicht herauskommt, daher muß alles aus der Ge­sellschaft heraus entstehen. Die Gesellschaft selbst muß in sich freier gestaltet sein, und es muß unmöglich sein, sich in ihr beengt zu fühlen. Ich denke, es wird gehen, möchte aber gerne etwas hören, was Sie von sich aus zu sagen haben. Daß es so lange gedauert hat, bis wir so weit waren, muß man auf die Bedächtigkeit des Alters schieben. Wir werden gerne hören, was Sie im gegenwärtigen Augenblick zu sagen haben.

Ein Vertreter der Jugend spricht über das Darinnenstehen der jüngeren Menschen in der Gesellschaft mit Rücksicht auf das, was Dr. Steiner in dem letzten Stuttgarter Zweig-Vortrag über die einzelnen Phasen in der Geschichte der Anthroposophischen Gesell­schaft gesagt hat.

Rudolf Steiner: Was Sie sagten von der Scheidewand, die entstanden ist im Zusammenhang mit der ersten, zweiten und dritten Phase der Bewegung, die sehr deutlich voneinander zu scheiden sind, ist richtig. Man muß ja berücksichtigen, daß die einzelnen Phasen annähernd sie­ben Jahre gewährt haben, wie ja die Gesellschaft selbst etwa im ein­undzwanzigsten Lebensjahr steht. Was richtig ist, ist dieses: die Im­pulse des Eintretens und der Beteiligung sind eigentlich bei den früheren

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Mitgliedern andere gewesen als jetzt bei den wesentlich akade­misch-jugendlichen Kreisen. Sie sind insofern verschieden, als die Leute, die während der ersten Phase gekommen sind, mit dem ganzen Kom­plex, zwar aus den heutigen Zeitverhältnissen, aber mit ganz unbe­wußten Sehnsuchten gekommen sind; sie haben sich nicht im Zusam­menhang mit irgendwelchen Zeitverhältnissen gewußt und waren in einem Lebensalter, in dem man sich über sein Verhältnis zur Zeit nicht klar Rechenschaft gibt. Sie kamen mit ganz allgemein menschlichen Interessen, die mit der Zeit in Beziehung stehen, aber die Leute gaben sich nicht darüber Rechenschaft. So war es fast auch noch in der zwei­ten Phase. Die Anthroposophie kam wesentlich weiter, aber die An­throposophen, mit Ausnahmen, interessierten sich weniger für die auf das Zeitgemäße gehenden Fragen. Die dritte Phase war den früher Ein­getretenen gruselig. Sie kamen mit denen allen zusammen, die unbe­friedigt waren - nicht mit unbestimmten Zeitverhältnissen, sondern in ganz bestimmter Art mit dem, was diese Menschen in den heutigen Bildungsanstalten erfahren hatten. Sie würden nicht zur Anthroposo­phie gekommen sein, wenn nicht der starke Gegensatz zu den heutigen Bildungsanstalten in ihnen vorhanden gewesen wäre. Sie kamen mit anderen Impulsen als die, die zum geringsten Teil auch eigentlich die Anthroposophie im Verhältnis zur Zeit gesehen hatten. Ich selber habe darüber sprechen müssen. Was ich über das Verhältnis der Anthropo­sophie zur Zeit gesagt habe, ist eigentlich sehr wenig aufgenommen worden. Sie aber kamen merkwürdigerweise und doch nicht merkwür­digerweise mit einer Sehnsucht, die eigentlich auf das Zentrale der An­throposophie geht.

Es hat sich nun ein Merkwürdiges herausgestellt: nämlich das Miß­verständnis gegenüber den Hochschulkursen. Ich will nichts sagen gegen ihren Wert. Aber die Hochschulkurse waren ein Mißverständnis. Es ist von Ihnen das gar nicht gesucht worden, was dort ausgesprochen worden ist. Sie suchten Anthroposophie an sich. Das konnten diejeni­gen nicht verstehen, die in früheren Zeiten als Akademiker in die An­throposophische Gesellschaft hineingekommen waren. Diese wollten ihre akademische Arbeit mit der Anthroposophie zusammenschweißen. Sie haben das nicht akzeptiert. Sie werden also auch mit der Zeit in gar

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keinen Konflikt kommen mit dem, was ich das Gros der Anthroposo­phischen Gesellschaft genannt habe. Der wirkliche Konflikt bestand nur mit den Akademikern, weil diese geglaubt haben, auf biologische, chemisch-physikalische, historische Weise Anthroposophie vertreten zu wollen. Sie wollen das nicht. Sie wollen reine Anthroposophie ha­ben. Sie haben die Schwierigkeit, über diesen Berg zu kommen, ge­meinsam auch mit der gesamten Gesellschaft. Das Akademische, das da eingedrungen ist, ist wie ein Berg; hinüber und herüber muß er aber übergangen werden. Wenn von beiden Seiten mit gutem Willen gear­beitet wird, so wird sich das vielleicht nützlich erweisen. Auf der an­deren Seite aber, wenn man weiterkommen will, so bedarf es zuletzt auch ein bißchen des Spezialisierens. Wenn auf beiden Seiten der gute Wille vorhanden ist, so wird es gehen.

Ein Teilnehmer spricht über einige Wünsche der jüngeren Menschen in bezug auf die Umgestaltung der Zweigarbeit, insbesondere des Vortrags und Referatwesens.

Rudolf Steiner (unterbricht): Dieses Büchelchen von Albert Steffen [Der pädagogische Kurs am Goetheanum] ist deshalb berechtigt, weil es in einer wirklich künstlerischen Art den Inhalt meiner Vorträge wiedergibt. Es ist kein Journalistenreferat; es steht auf selbständigem Boden. Früher ist etwas Derartiges nicht geschehen. Wir werden sehen, ob das Schule macht. Es wäre ein Glück.

Nicht wahr - der Aufruf, der wird im wesentlichen zweierlei umfas­sen müssen. Das eine: die Betonung der Notwendigkeit eines innerli­chen Arbeitens in der anthroposophischen Bewegung. Zweitens ist jetzt schon ein so starkes Geschlossensein in der Anthroposophischen Ge­sellschaft unerläßlich, daß es die auftretenden Gegner abwehren kann. Abwehr nicht durch Polemik, sondern durch wirkliche sachgemäße Arbeit vor der Welt. Wenn endlich in Anbetracht der Gegnerschaft nichts gemacht wird, so geht die Anthroposophie zugrunde. Man kann nicht in der Weise arbeiten, daß der eine dies behauptet, der andere es widerlegt. Bei den wichtigsten Gegnern kommt man nicht an das Pu­blikum heran. Wetin heute aus den Kreisen der Alldeutschen und Deutschvölkischen über Anthroposophie Verleumdungen ausgestreut

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werden, so hat man dafür ein Publikum, das unter allen Umständen alles glaubt. Dem kommt man nicht bei. Man muß die Menschen, die unter diesem Publikum sich befinden, kennen. Man kann gewisse Dinge nicht einem katholischen Publikum sagen. Sind die Widerlegun­gen falsch, so sind sie falsch. Sind sie aber richtig, so nützen sie uns nichts, sondern - ich muß schon dieses Wort gebrauchen - schaden uns nur, gerade bei den -Katholiken. Sie ärgern sich, wenn man in der Lage ist, die gegnerischen Behauptungen zu widerlegen. Recht haben schadet uns heute, Unrecht vielleicht weniger. Die Dinge kann man nur durch die positive Arbeit entkräften. Machen Sie sich stark, wie die andern es sind. Dr. Rittelmeyer hat mit Recht neulich den Ausspruch gebraucht, ich selbst habe auch schon oft gerade darauf hingewiesen: Man ahnt gar nicht, wie überall etwas ist, wovon man sagen kann: es wird überall Feuer gemacht! Unsere Gegnerschaft wird in der nächsten Zeit in ganz furchtbarer Weise zum Ausdruck kommen. Ihr gegenüber ist es nötig, eine geschlossene Körperschaft zu bilden. Alle Dinge, die gut sind, ge­reichen der Gesellschaft zur Gefahr. Es ist schon so, die Bewegung für religiöse Erneuerung gereicht der Anthroposophischen Gesellschaft zur Gefahr. Es ist so, daß man sich nicht vorgestellt hat, daß auch noch auf diesem Gebiet von uns etwas zustande kommt. Und wenn wir, was natürlich wiederum sehr wünschenswert ist, in das Akademische weiter hineinarbeiten, dann werden die Leisegangs überall hervorschlüpfen. Es macht mir wirklich Sorge, weil die alten reaktionären Mächte immer stärker werden. Bei Gründung des Hochschulbundes waren viel mehr Chancen vorhanden, die alten Mächte zurückzustauen. Heute sind diese Chancen geringer geworden. Sie werden viel zu leiden haben. Aber selbst dann, wenn die Anthroposophie getötet würde, sie würde wieder aufstehen, denn sein muß sie doch, und eine Notwendigkeit ist sie doch. Entweder gibt es eine Erdenzukunft oder keine. Die Erdenzukunft ist von der Anthroposophie unzertrennlich. Wenn diese keine Zukunft hat, dann erreicht die ganze Menschheit keine Zukunft. Die Tendenz allein genügt. Die Anthroposophie kann bezüglich ihrer Aus­breitung manche Phasen durchmachen. Ich glaube schon, daß Sie über diesen Berg, den ich vorhin angedeutet habe, zum Vorteil der Gesell­schaft in allem Frieden werden kommen müssen.

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Ein Teilnehmer spricht über ein anderes Verhältnis, das die Jugend zur Gesellschaft haben müßte.

Rudolf Steiner: Sie müssen nur bedenken, daß bei alten Kulturströ­mungen, die schon weltgeschichtlich erwachsen sind, ganz andere See­lenhaltungen vorhanden waren als bei solchen, die historisch ganz jung sind. Man hat heute einfach keine Vorstellung mehr, wie schwer es war in den ersten christlichen Jahrhunderten, ein Christ zu sein. Heute ist es bequem, ein Christ zu sein. Es war früher nicht die äußere Märtyrerschwierigkeit, sondern die innere Seelenschwierigkeit. Es war schwer, vor sich selber ein Christ zu sein. Heute ist es schwer, ein richtiger Anthroposoph zu sein. Es ist in gewissem Sinne schwer. Diejenigen, die schon lange Anthroposophen sind, die tragen in sich, in ihrer gan­zen Seelenhaltung, die ganze Schwierigkeit, verbunden zu sein mit dem ersten Auftreten einer geistigen Bewegung; in ihnen ist das Verständnis für gewisse Erscheinungen des Lebens nicht so stark. Diejenigen, die schon lange Anthroposophen sind, länger als die Jungen, reden manch­mal diesen gegenüber glatt aneinander vorbei. Erst in diesen Tagen ist mir ein sehr krasses Beispiel aufgetreten. Diese Freunde hatten Bespre­chungen; die Stimmung war dort, daß der Glaube darüber vorhanden war, jetzt sind alle Brücken gebaut, jetzt versteht man sich auf das i-Tüpfelchen. Man war drüben ganz ehrlich. Bei Ihnen dagegen trat mir die Stimmung entgegen, man müsse die Opposition organisieren; man hat sich gar nicht gefunden. In dem spiegelt sich durchaus die leichte Illusionsfähigkeit über die Verhältnisse des Lebens wider, wenn man in einer gewissen Lebenshaltung ist, die ich charakterisiert habe. Es ist schwer, Anthroposoph zu sein; es ist nicht leicht, eine gewisse Starrheit zu überwinden. Die Illusionisten sind ehrlich. Sie kommen mit der Frischheit der Seele, und deshalb sind Sie, als einer, der noch nicht müde geworden ist, weniger geneigt, diese Illusionen zu haben, als ein Müder. Viele sind müde und mürbe geworden durch die Schwierigkei­ten, die sich uns entgegengestellt haben. Daher ist auch in diesen Tagen viel aneinander vorbeigeredet worden.

Ein Teilnehmer spricht über seinen ursprünglichen Plan, die für die Opposition ver­wandten Kräfte besonders von seiten der Jugend umzubiegen und in fruchtbarer Weise zu organisieren.

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Rudolf Steiner: Manche Dinge sind schon so, daß ein realistisches Denken sie auch ins Auge fassen muß. Irgendwie muß es auch in der Zukunft so etwas geben, was Ihre Bildungsanstalten sind. Wenn auch gerade in dieser Hinsicht alle Zukunftshoffnungen im Keime sind, so darf es doch nicht so sein, daß die Hochschule eine bloße Attrappe bleibt. Da macht es mir wirklich Sorge, wie weit entfernt wir davon noch sind. Auf der andern Seite ist das Hochschulwesen ganz im argen. Vor einem Jahrhundert hatte man wenigstens noch eine einheitliche Weltanschauung; das ist jetzt ganz vorüber, auch in der Gesinnung der Menschenwürde. Sehen Sie, Leisegang - es kommt ja gar nicht auf die Art an, wie er mich behandelt -, aber Leisegang, der ja demnächst Professor werden wird, da er ja alle Aspirationen dafür besitzt, hat jetzt ein Werk über Plato herausgegeben, einen ersten Band. Er behan­delt mich gar nicht so schlimm wie den Plato, er behandelt den Plato viel schlimmer, er macht eine Karikatur aus ihm, nur - die Leute mer­ken es nicht. Sehen Sie, und da macht es mir Sorge, wirklich Sorge, wie weit weg man von der Möglichkeit ist, eine Hochschule zu schaffen.

Ein Teilnehmer weist auf die Art und Weise hin, wie in dem Gefangenenlager, in dem er tätig war, von den Gefangenen eine Hochschule geschaffen worden ist, und stellt dies als Beispiel für die Schaffung einer Hochschule für Geisteswissenschaft hin.

Rudolf Steiner: Man kann ja heute nicht eine Hochschule ins Leben rufen, weil dazu erst als Vorbedingung notwendig ist, daß die einzelnen Wissenschafter vorhanden sind. Ideen und Ansätze sind zwar schon vorhanden. Solange man aber die Menschen, die innerhalb der Bewe­gung arbeiten sollen - ich muß mich schon kraß ausdrücken -, eben nur als Hungerleider haben kann, wird es schwer gehen. Das wird des­halb täglich schwieriger, weil die Zeit sich naht, wo man kaum daran denken kann, daß die vorangehende Zeit die nachfolgende mit Stipen­dien versorgt. Die Möglichkeit herbeizuführen, auf eine andere Art eine vollkommen neue Bildung ins Leben zu rufen, wird täglich schwieriger. Ich muß schon bei jeder Gelegenheit aus rein spirituellen Gründen zwei Dinge betonen: erstens, mit aller Intensität danach zu streben, so stark als möglich zu werden; zweitens, alle Energie darauf zu verwenden, daß der Kreis der Freunde größer wird; es wäre nicht

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notwendig, nach der Zahl zu sehen, nur in Anbetracht der Zeitverhält­nisse. Im Spirituellen muß zwar das Gegenteil richtig sein, der Zeit gegenüber aber ist es so. Es braucht die Verbreitung des Kreises nicht auf Kosten der Verflachung zu gehen, aber Anstrengungen dahingehend muß man schon machen, damit man eine große Zahl von Freunden erhält. Sonst ist der Untergang des einzelnen und der Bewegung als sol­cher eher möglich. Es ist schon so. Sie dürfen sich aber nicht scheuen, um die Vergrößerung nach außen zu erreichen, auch als Jugend recht stark zu sein.

Ein Teilnehmer spricht darüber, wie schwer es ist, sich mit dem Alter zu verständigen.

Rudolf Steiner: Abgesehen von Bewertungen, ist es aber in gewissem Sinne so, daß das Nichtverstehen gegenseitig ist! Das Alter ist so, daß man sagen kann: So, wie es ist, ist es nicht seine Schuld, sondern sein Schicksal. Das Wehren der Jugend gegen das Alter aber ist Schutzmittel und Schwäche zugleich!

Werden Sie Genies an Interesse!

DIE DREI HAUPTFRAGEN FÜR DIE ANTHROPOSOPHISCHE JUGENDBEWEGUNG Ansprache und Fragenbeantwortung in Stuttgart am 14. Fehruar 1923

#G217a-1981-SE103 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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DIE DREI HAUPTFRAGEN

FÜR DIE ANTHROPOSOPHISCHE JUGENDBEWEGUNG

Ansprache und Fragenbeantwortung in Stuttgart am 14. Fehruar 1923

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Meine lieben Freunde! Ich denke, ich darf annehmen, daß der vorlie­gende Aufruf an die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland Ihnen allen bekannt geworden ist. Sie haben ja daraus ge­sehen, daß eingesehen wird in den Kreisen der Anthroposophischen Gesellschaft, daß gewissermaßen das Steuer, wie es bisher namentlich von Stuttgart aus getrieben worden ist, jetzt gedreht werden muß, und daß doch ein Bewußtsein vorhanden ist von dem, daß eine solche Wen­dung in der Steuerung notwendig ist. Die Einzelheiten, die dabei in Be­tracht kommen, werden naturgemäß auf der Delegiertenversammlung besprochen werden. Ich glaube, Sie werden ja vorzugsweise Interesse haben an all dem, was da vorgehen wird. Sie haben ja die Gesellschaft in einer bestimmten Verfassung vorgefunden, als Sie selbst aus den äußeren Verhältnissen Ihres Lebens heraus den Weg zur Anthroposo­phie gesucht haben. Sie haben sich gerade vorgestellt, daß doch irgendwo das gefunden werden muß, was ein junger Mensch sucht aus den Tiefen seiner Seele heraus, es aber nicht finden kann in den Institutionen der heutigen Welt. Sie waren hineingestellt in diese Institutionen und fan­den, daß das, was durch die neuere Geschichte herausgekommen ist, nicht übereinstimmt mit dem, was aus der menschlichen Seele als Menschentum eigentlich gefordert wird. Vielleicht haben Sie gesucht, wo diese Forderung nach wahrem Menschentum erfüllt sein würde, und schließlich glaubten Sie dies in der Anthroposophischen Gesellschaft finden zu können. Nun stimmte manches nicht überein mit den Tatsa­chen, so wie sie da waren. Zunächst waren Sie alle es ja nicht, welche dieses Nichtstimmen irgendwie zu einem Konflikt getrieben haben. Sie haben zwar manches unbefriedigend gefunden, aber Sie blieben zu­nächst bei der Konstatierung dieser Unbefriedigtheit stehen. Dagegen muß schon vor den vergangenen und frischen Tatsachen innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft selbst die Tatsache ins Auge gefaßt werden, daß einfach die Anthroposophische Gesellschaft der Entwickelung

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der Anthroposophie nicht nachgekommen ist, und daß ins Auge gefaßt werden muß, inwieweit etwas ganz Neues geschaffen werden muß, oder die alte Anthroposophische Gesellschaft mit einem völlig neuen Impuls weiterzuführen ist.

Das ist von den Persönlichkeiten, die in engerem oder weiterem Um­fang an der Führung beteiligt waren, ins Auge gefaßt worden, manche alte Sünde, die ja meist in Unterlassungen bestand und in bürokrati­schen Formen, manche bürokratische Form zu verlassen und den Ver­such zu machen, im Einvernehmen mit den Vertretern der Anthropo­sophischen Gesellschaft in Deutschland zunächst die Grundlage zu schaffen, auf der die Gesellschaft weitergeführt werden kann.

Es ist ja in Stuttgart so, daß man sagen muß, die Entwickelung der letzten Jahre hat hier zusammengeführt eine große Anzahl ausgezeich­neter Arbeiter. Als Einzelpersönlichkeiten sind sie ja ausgezeichnete Leute, auf einen Haufen zusammengebracht sind sie in ihrer Art ja eine wirklich große Bewegung. Aber wie auch schon hier eine der leitenden Persönlichkeiten gesagt hat, jeder steht dem andern im Wege. Das ist eigentlich auch in vieler Beziehung hier das Unfruchtbare gewesen. Je­der einzelne hat seinen Posten ganz gut ausgefüllt. Man kann mit der Waldorfschule im höchsten Grade zufrieden sein. Aber die eigentliche Anthroposophische Gesellschaft, trotzdem die Anthroposophen da waren, ist im Grunde nach und nach verschwunden, begann sich, man kann nicht einmal sagen, in Wohlgefallen, sondern in Mißfallen aufzu­lösen. Diesem Zustand muß ein Ende gemacht werden, wenn die Ge­sellschaft nicht vollständig zerfallen soll.

Dieses haben Sie ja offenbar sehr deutlich bemerkt und sich dann Ihre Ansichten gebildet. Aber es ist ja doch notwendig gewesen, daß die Anthroposophische Gesellschaft aus ihren alten Stützen heraus sich wieder eine Form gibt. Denn immerhin liegt ja in dem Gros der An­throposophischen Gesellschaft die Arbeit von dreiundzwanzig Jahren vor. Viele, die darin sind, sind in einer ganz anderen Lage und finden ja doch etwas vor, was besteht: auch wenn der Zweig zerfällt, die einzel­nen Anthroposophen bleiben, und die Anthroposophie findet schon ihre Verbreitung; zum Beispiel Frau Wolfram, die in Leipzig durch lange Jahre den Zweig geführt hat und dann zurückgetreten war von

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der Leitung, hat vor kurzem eine Ortsgruppe des «Bundes für freies Geistesleben» gegründet, im bewußten Gegensatz gegenüber dem dor­tigen anthroposophischen Kreise.

Daß die Ersetzung der alten Kräfte durch junge Kräfte allein nicht genügt, zeigt sich in Leipzig, denn der dortige Vorsitzende ist aus der Studentenschaft hervorgegangen. Es muß also der Ausgleich geschaffen werden zwischen dem, was durch zwei Jahrzehnte geschaffen ist, und dem, was an junger Kraft hereinkommt.

Der Aufruf soll ja auch in rechter Weise dieses vertreten. Viele Mit­glieder der Anthroposophischen Gesellschaft haben in dieser Gesell­schaft ein beruhigendes Element gesucht; es war ihnen dann immer sehr unangenehm, wenn gegen äußere Gegnerschaft etwas gesagt werden mußte. Man mußte manchmal scharfe Worte gebrauchen. Aber das wird auch in der Zukunft nicht zu umgehen sein, denn die Gegner­schaft nimmt immer wüstere Formen an. Eine merkwürdige Verteidi­gungsstellung muß darum schon eingenommen werden. Das darf man nicht aus dem Auge verlieren. Die Alten haben es schwer, gute An­throposophen zu sein, nachdem das beruhigende Element in ihnen Ge­wohnheit geworden ist.

Sobald man in der Anthroposophie so lebt, daß man die Dinge, die man erlebt, wie aus einer Gewohnheit heraus erlebt, so ist dieses etwas sehr Schlimmes. Anthroposophie ist ja etwas, was eigentlich jeden Tag aufs neue erworben werden muß; anders kann man Anthroposophie nicht haben. Man kann nicht bloß sich erinnern an das, was man sich auch einmal zurechtgelegt hat. Und dieser Schwierigkeit, daß der Mensch ja - als ich ganz jung war, sagten wir immer - ein Gewohnheits­tier ist, dieser Tatsache verdankt die alte Anthroposophische Gesell­schaft die Schwierigkeiten. Denn Anthroposophie darf nicht zur Ge­wohnheit werden. Sie werden ja wiederum die Schwierigkeiten finden, daß eben Anthroposophie doch fordert, daß man herauskommt über alles auch bloß im erkenntnismäßigen Sinne Egoistische. Der Mensch kann ja natürlich wie andere Lebewesen egoistisch sein. Anthroposo­phie aber und Egoismus vertragen sich nicht. Man kann ein leidlicher Philister sein, wenn man Egoist ist, sogar ein leidlicher Mensch. Wenn man als Anthroposoph egoistisch ist, dann verwickelt man sich in fortwährende

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Widersprüche. Das liegt daran, daß der Mensch eigentlich nicht wirklich mit seinem ganzen Wesen auf der Erde lebt. Wenn er von einem vorirdischen Dasein herunterkommt auf die Erde, so bleibt immer noch ein Stück von ihm im Astralischen, so daß, wenn der Mensch morgens aufwacht, das, was da in ihn hineingeht, nicht der ganze Mensch ist; vom übersinnlichen Menschen stamint eben das, was untertaucht. Der Mensch ist nicht ganz auf der Erde, er beläßt einen gewissen Teil seines Daseins im Übersinnlichen. Und damit hängt zu­sammen, daß es eigentlich eine vollständig befriedigende soziale Ord­nung nicht geben kann. Eine solche soziale Ordnung kann nur aus irdi­schen Verhältnissen stammen. Innerhalb einer solchen sozialen Ord­nung können die Menschenwesen nicht ganz glücklich werden.

Ich habe es immer wieder gesagt: die Dreigliederung ist nicht das Pa­radies auf Erden, sondern sie zeigt einen in sich möglichen Organis­mus; denn das wäre sonst Betrug, da der Mensch nicht allein ein irdi­sches Wesen ist. Dieser Umstand ist es, an den man sich eigentlich hal­ten muß, um seinen ganzen Menschen wirklich zu fühlen; und das ist es, warum der Mensch niemals mit einer bloß materialistischen Weltan­schauung zufrieden sein kann, wenn er sein volles Menschentum in sich fühlt. Erst wenn wir dieses so recht fühlen, sind wir eigentlich für An­throposophie in Wahrheit reif, wenn wir fühlen, wir können nicht ganz auf die Erde herunterkommen, wir brauchen etwas für unseren über­sinnlichen Menschen.

Derartiges haben Sie offenbar ganz instinktiv gefühlt, und daraufhim sind Sie zur Anthroposophischen Gesellschaft gekommen und werden sich klar werden müssen, daß Sie durch diese Tatsache mehr oder weni­ger Ihre Schwierigkeit fühlen. Denn wenn auf der einen Seite Anthro­posophie niemals Gewohnheit werden kann, so ist auf der andern Seite notwendig, daß Anthroposophie nicht in einem Wesen aufgeht, das wirklich von einem bloß irdischen stammt. Denn das, was im Egoismus aufgeht, hängt mit dem Irdischen zusammen. Der Mensch wird also schlechter, wie er als Mensch ist, wenn er übersinnlich und zugleich egoistisch ist: es wird ein übersinnliches Wesen ganz zum Charakter eines sinnlichen Wesens gemacht. Spirituelles Fühlen und Empfinden verträgt sich nicht mit dem Egoismus. Da fängt das Hemmnis an.

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Nun, da liegt aber auch der Punkt, wo die anthroposophische Bewe­gung zusammenfällt mit dem, was die Jugend von heute wirklich sucht aus dem Umstande heraus, daß jeder Zusammenhang mit der geistigen Welt doch verloren worden ist. Und nun sind die äußeren Institutionen da. Die Jugend flieht sie und sucht nach einem Bewußtsein von ihrem Menschentum. Aus diesem Gefühl heraus müssen Sie eben versuchen, zurechtzukommen mit dem, was schon da ist, und mit Ihrem eigenen Inneren fühlen. Sie müssen die Schwierigkeit, die Sie finden, zusammen­halten mit den Schwierigkeiten, die die andern haben, dann wird der Weg gefunden werden können, daß wir für die nächste Zeit tatsächlich eine starke Anthroposophische Gesellschaft - auch in dem Kreise, der die Verinnerlichung sucht -, eine starke anthroposophische Bewegung bekommen.

Wenn Sie diesen Weg gehen, werden Sie durch manche Entbehrung und durch manche Schwierigkeit hindurchgehen müssen, denn die Menschheit will eine solche Bewegung nicht. Es wird Ihnen manches noch bevorstehen, bevor Sie wirklich so weit sind, daß Sie wirklich mit Ihrem ganzen Menschen fest mit der Sache verbunden sind. Dann wird sich auch die Anthroposophie unter allen Umständen geltend machen. Das Zerbrechen der zivilisierten Welt ist ein so starkes, daß Europa nicht mehr lange Zeit haben wird, wenn es nicht zum Geist sich wen­det. Nur aus dem Geist heraus kann ein Aufstieg kommen! Daher muß das Geistige unbedingt gesucht werden, und in diesem Streben haben Sie recht getan, haben Sie den richtigen Weg eingeschlagen. Jetzt han­delt es sich nun darum, daß die Arbeit aufgenommen werden wird für die nächste Zukunft. Und um da noch einiges zu hören, was Sie sich vorstellen, wie Ihre Intentionen sich gestalten werden, sind wir heute ja zusammengekommen.

Ein Teilnehmer fragt danach, wie heute die wissenschaftliche Arbeit sich gestalten soll.

Rudolf Steiner: Wenn es sich um das Wissenschaftliche handelt, so ist von dem, was in der Zukunft wird da sein müssen, eigentlich nichts da. Damit ist nicht gesagt, daß absolut nichts da wäre. Auf allen Wissen­schaftsgebieten ist nämlich dasjenige vorhanden an äußerem Tatsachen-erkennen, was man braucht, um in diejenigen Gebiete vorzudringen,

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die wirklich in der Zukunft werden da sein müssen, wenn nicht kor­rumpierte Menschenseelen in der Zukunft entstehen sollen. Es sind schon eine Reihe von wissenschaftlichen Gebieten mit bedeutsamen Er­gebnissen von den kleinsten Sammlungen bis herauf zum Londoner Museum da. Mit diesen können aber die gegenwärtig Forschenden im Sinne einer Wissenschaft der Zukunft nichts anfangen, da die Men­schen, die heute durch die Weltordnung oder in der sozialen Ordnung in Positionen hineingekommen sind, innerlich tot sind. Sie wissen mit dem Tatsachenmaterial nichts anzufangen, da sie wie durch eine Art automatischer Entwickelung zu diesem Tatsachenmaterial gekommen sind.

Das Schwierige für die Anthroposophen ist nicht das, daß nicht an­throposophisch gewirkt werden könnte - die zusammenfassenden Ideen und spirituellen Schauungen sind schon vorhanden -, sondern das Schwierige ist, daß das, was man heute für das Wissenschaftliche braucht, nämlich das Tatsachenmaterial, diejenigen bewahren, die nichts mit den Tatsachen machen können. So kommt es, daß diejeni­gen, die den Kulturinhalt eigentlich begründen sollten, mit leeren Hän­den dastehen, und daß das Tatsachenmaterial Monopol von Leuten ist, die nichts damit anfangen können. So wird der akademischen Jugend auf den Hochschulen das Tatsachenmaterial nicht so vorgebracht, daß sie es mit dem richtigen Blick ansehen lernt, sondern wenn man ihr zum Beispiel in der Zoologie ein Skelett zeigt, oder in der Botanik eine Pflanze und so weiter, sie eigentlich gar nichts daran lernt. Dasjenige, was sie daran lernt, ist: da ist das Schädelbein, hier ist der Schulterkno­chen, da das Schienbein und so weiter. So könnte man auch einen Tisch beschreiben oder eine Maschine. Ein Skelett zum Beispiel wird der aka­demischen Jugend nicht so gezeigt, daß sie die Empfindung haben müßte, daß es gewachsen ist, sondern es wird ihr so gezeigt wie eine Maschine, die man in ihre einzelnen Teile zerlegen kann.

Wenn man in der richtigen Weise zuerst den seelendurchtränkten Blick schärft, so sieht man sofort, wenn man zum Beispiel bei einem Hundeskelett das Rückgrat von hinten nach vorn entlang betrachtet: Da in dem hinteren Teil wirkt Mondenkraft, während man, wenn man nun weitergeht zum Schädelskelett, sieht, wie da wirksam ist Sonnenkraft;

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und dazu wirkt in die Strömung der Beine hinein Erdenkraft. Das ist etwas, was unmittelbar gesehen werden kann, wenn man nur die Menschen nicht dadurch abhält, es zu sehen, daß man überhaupt den Sinn dafür gar nicht erzieht. Was ich eben gesagt habe, man müßte es so sehen können, wie man einer Plastik, die einen Menschen darstel­len soll und auch an ihn erinnert, sofort ansieht: das ist ein Mensch. In der Art müßte man auch einem Hundeskelett ansehen können, was da an ihm Sonnenhaftes, Mondenhaftes wirkt. Man muß eben nur dafür die Antezedenzien bekommen haben.

Diejenigen nun, die bezüglich der Tatsachen die Mittel bekommen haben, können mit ihnen nichts anfangen. Es ist schon so. Diejenigen aber, die nun eigentlich die wissenschaftlichen Mittel brauchten, die haben sie nicht. Das begründet eben den Ausspruch: es ist nichts da. Es ist auch die andere Parallele möglich: es ist alles da. Das ist die unge­heure Schwierigkeit, sich da zurechtzufinden. Wenn nicht der heutige Student durch ein besonders günstiges Karma, durch die ganze Art, wie seine Seele gelenkt wird, dazu kommt, aufmerksam zu werden, daß es eine geistige Welt gibt, so wird er abgebracht von der geistigen Welt, und es kommt ihm einfach lächerlich die Tatsache vor, daß es eine gei­stige Welt gibt. So ist sich der heutige Student durchaus klar zum Bei­spiel darüber, daß er den Keim zu suchen hat im Mutterkörper, aber er kommt nicht darauf, daß ein Menschenkeim oder ein Tierkeim so ange­sehen werden müßte, wie es sich aus den Elementen der Wirklichkeit er­gibt, nämlich, daß die Keimung darauf beruht, daß an einer Stelle des mütterlichen Organismus das Eiweiß zerfällt, aber sofort im Zerfallen aufgehalten wird dadurch, daß die kosmischen Kräfte beginnen, hinein­zuwirken, und der ganze Makrokosmos sich als Miniatur in dem zerfal­lenden, aber gleich sich wieder zusammensetzenden Eiweiß ausdrückt, so daß also tatsächlich die Form des Weltalls in der Entstehung des Embryos zur Geltung kommt. Der mütterliche Organismus gibt eben nur die Materie her, die zuerst zerfallen muß, damit der Makrokosmos sie wieder aufbaut. Wenn man die Keimung nach der heutigen Wissen­schaftsweise anschaut, so ist es genau so, als wenn man eine Papierrose nimmt und behauptet, man habe sie gerade eben von einem Rosenstock abgepflückt. In diesen Dingen zeigt es sich, wie eine gründliche Umkehr

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auf allen Gebieten des Wissenschaftlichen, so auch des Künstleri­schen und des Religiösen notwendig ist. Auch auf religiösem Gebiet herrscht ja der allerärgste Materialismus.

In Deutschland sind nun die Verhältnisse besonders schwierig. Die Menschen verlieren mit der Zeit allen Mut zum Leben. Dieser Mut zum Leben aber kann nur aus der übersinnlichen Welt kommen. Der Zwei­fel ist durchaus möglich; er kommt aus der Sinnenwelt. Der Mut, den Zweifel zu überwinden, kommt aus der übersinnlichen Welt. Und Mut gehört dazu, die Dinge in der richtigen Weise anzuschauen. In dem na­turwissenschaftlichen Kursus, den ich zu Weihnachten in Dornach ge­halten habe, habe ich auf die Tatsache hingewiesen, daß, wo Atome ent­stehen, Sterben ist. Atomismus ist die Wissenschaft vom Abgestorbe­nen. Die heutige Wissenschaft nähert sich mit der Konstatierung vieler Tatsachen der anthroposophisch-naturwissenschaftlichen Anschauung. Überall kann man die Tatsachen finden, die auf das Geisteswissen­schaftliche hindeuten. Im Radium zum Beispiel hat man den eklatante­sten Fall zerfallender Materie, die zerstäubende Atome erzeugt. Überall hat man Tatsachen, die in das Geistige hineinführen, aber die äußere Wissenschaft lehnt aus Mangel an Mut dieses Hineinführen in das Gei­stige ab.

Auch in der Wirtschaft ist es heute so, daß wir seit dem 19. Jahrhun­dert anstatt der vielen Nationalwirtschaften Weltwirtschaft haben. Die Weltwirtschaft hat schon ein viel schnelleres Tempo als die Natio­nalwirtschaft; bis in den kleinsten Umkreis läßt sich dieses langsame Tempo der Nationalwirtschaft zeigen. Die Züge, die durch die Natio­nalwirtschaft geführt werden, fahren langsamer als die, die heute in Stuttgart einlaufen, das heißt, die durch die Weltwirtschaft geführt werden. Und wenn man jetzt von dem Weitwirtschaftlichen zum Natio­nalwirtschaftlichen wieder zurück will, so kann dieses nur ein Zerstö­ren des bereits Errungenen und Vorhandenen bedeuten.

Ein Teilnehmer fragt danach, wie man sich ein Verhältnis zur Architektur und Plastik bilden könnte.

Rudolf Steiner: Dabei kommt es sehr auf die Weltanschauung an. Die heutige Weltanschauung, die nur von der bloßen Logik, der sinnlichen

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Beobachtung ausgeht, muß sich notwendigerweise vorstellen, daß die Welt irgendwo mit Brettern vernagelt ist. Man hat sich äußere Natur-grenzen gesetzt, über die man nicht hinauskommt. In der Logik hat man die innere Gesetzgebung, die der Mensch sich selbst gibt, ganz ohne die Natur. Alle Erkenntnis, auch die rein wissenschaftliche, muß in das rein Künstlerische gehen. Man muß sich zum Künstler erziehen, so daß man die Formen gestaltet, wie in der Natur die Formen gestaltet werden. Das aber lernt man, sobald man sich hinfindet zu dem Punkt, wo die Natur selber zur Künstlerin wird. Man muß auch in sich die Naturerkenntnis so weit vertiefen, daß es nur möglich ist, Pflanze, Tier und Mensch als Künstler zu betrachten. Dann erst lernt man die unendlich interessanten statischen und dynamischen Verhältnisse er­kennen, die schon allein der menschliche Körper in sich schließt. Dann wird man sehen, wie jeder Knochen gewissermaßen ein Balkensystem darstellt; wie es em Unterschied ist, ob ich in der Front mit ausge­spreizten Beinen stehe oder ob ich ein Bein vorstelle und im Schritt ste­he. Jeder Mensch ist in sich ein feinstes Bauwerk. Die älteren Reli­gionsbekenntnisse haben ihren einzuweihenden Schülern das wunder­bare Darinnenstehen des Menschen in der Welt gelehrt durch seine eigenen dynamischen und statischen Verhältnisse. Wenn man eine Bud­dha-Statue anschaut, so hat man darin eine Dynamik und Statik des Menschen. Dadurch, daß die Beine breit unter den Oberkörper gelegt sind, wird der Bau und die Statik des Oberkörpers erkannt und beson­ders hervorgehoben. Soweit man den Menschen in der Bewegung und stehend studiert, bekommt man die Form der Architektur. Ein voll­kommener Bau ist nichts anderes als das vollkommene Stehen und Ge­hen des Menschen. Jede Kultur hat dieses Statische und Dynamische im Menschen durch ihre Architektur in anderer Weise aufgefaßt und dar­gestellt. Die assyrisch-babylonische Kultur stellte dar das Verkünden des Logos mehr durch das Vorbeugen des Menschen, die griechische Kultur durch das ruhige Stehen. Man braucht bloß die Art kennen, in der der Mensch in der Welt darinnensteht, um lebensvoll alle Bau-formen zu erkennen. Heute ist ja die Bauphantasie eine sehr einge­schränkte. Und dennoch muß der heutige Baustil ein solcher sein, der aus dem menschlichen Selbsterlebnis herausgeboren ist, der aus dem

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«Erkenne dich selbst» fließt. Dieses ist versucht worden im Goethe­anum.

Geht man über von den Bewegungsverhähnissen des Menschen zu den Formverhältnissen, dann kommt man von der Architektur zur Pla­stik. Plastik ist das Erleben der menschlichen Formverhältnisse. Von der Architektur zur Plastik überzugehen, bedeutet ein Übergehen der Bewegung vom Gleichgewicht zur Form des Menschen. Je weiter die Kenntnis vom Menschen fortschreitet, desto mehr Kunst, desto mehr differenzierte Architektur und Plastik wird möglich sein, die dem Men­schen nahesteht. Dazu aber, daß man zur Form des Menschen überge­hen kann, ist in der heutigen Zeit ein selbständig gebautes, auf Selbstlo­sigkeit und Liebe gebautes soziales Leben notwendig. Der Grieche konnte noch seine eigene Form fühlen durch sein Darinnenstehen in der Welt. Der heutige Mensch muß im Anschauen des anderen Men­schen synthetisch aufbauend die Plastik finden, die in der heutigen Zeit nötig ist. Der Grieche brauchte keinen anderen Menschen anzuschauen; er fand durch das Erleben seines eigenen Körpers die Plastik.

Die Kunst beruht auf dem Offenbarmachen geheimer Naturkräfte. Die Kunst braucht man, um den Menschen, um die Natur zu verste­hen. So ist das, was man in die heutige Plastik hineinbringen müßte, die lebendige künstlerische Anschauung des Menschen. Man muß den Menschen so anschauen, daß man sieht, wie einerseits in der Form des Kopfes, so wie ich es in der Gruppe im Goetheanum versuchte zu ge­stalten, das luziferische Leben, wie andererseits als Gegenpol in der Erhärtung des Knochenskeletts Ahriman sich auswirkt, und wie dann das Zusammenwirken beider den idealen Menschen bildet. Wir müssen wieder die Menschengestalt erlangen.

Die hebräische Kultur hat tief wahr gemacht die moralischen Impul­se, die in ihrer Religion liegen. Sie hat es aber nicht gewagt, von ihrem Gott ein Bild zu machen. Allmählich kam man durch die Entwickelung zur logisch empirischen Vorstellung der Menschennatur und verlor dann das Künstlerische. So kam es, daß nicht mehr ein Zusammengehen von Weltanschauung und Kunst ist. Auf der einen Seite steht die logisch empirische Weltanschauung, auf der andern die künstlerische Phantasie.

Es ist noch keine Verbindung geschaffen zwischen der Anschauung

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der vom Menschen losgelösten Gesetzmäßigkeit auf der einen Seite und der künstlerischen Willkür auf der andern Seite. Aus der Erkenntnis des Menschen in seiner vollen Gestalt wird die Architektur und Plastik der Zukunft geschaffen werden müssen.

Ein Teilnehmer: Über die Schwierigkeiten der Studenten, sich mit anthroposophischen Arbeiten geltend zu machen.

Rudolf Steiner: Die Anthroposophische Gesellschaft muß einsehen lernen, wie wichtig es ist, daß nicht das, was an Leistung in ihrem Rahmen da ist, unbeachtet liegen bleibt; sie muß zur Anerkennung der Leistungen kommen. Sie muß Arbeiten, wie die von Dr. von Baravalle oder die Broschüre von Caroline von Heydebrand «Gegen Experi­mentalpsychologie und -pädagogik» werten lernen. Nach und nach muß es auch so werden, daß - angenommen, unsere Forschungsinstitute würden die Aufgaben schon gelöst haben, die in den naturwissenschaft­lichen Kursen und Zyklen liegen -, daß es dann dahin kommt, daß selbst die Gegner sagen, da ist etwas vorhanden, vor dem sie Achtung haben, was in der Anthroposophischen Gesellschaft gearbeitet wird. Man muß sich schulen, menschliche Leistungen anzuerkennen. Heute wird der Student, der eine anthroposophische Dissertation macht, zu­rückgewiesen! Die Gesellschaft muß zu einer Stätte werden, in der der­artige Dinge «das Gewissen» werden, so daß es nicht mehr vorkommen kann, daß ein Professor eine anthroposophisch orientierte Arbeit aus diesen Gründen ablehnt. Die Forschungsinstitute, in denen Menschen der Praxis sind, müssen dahinterstehen, so daß der Student, der in einem Seminar arbeitet oder eine Doktorarbeit macht, diese auch ausgestaltet bekommt. Die Anthroposophische Gesellschaft muß so werden, daß der Professor eine anthroposophisch orientierte Seminararbeit oder Dissertation annehmen muß, sofern sie substantiell genug ist, weil er Sorge hat, daß er die Anthroposophische Gesellschaft sonst auf den Hals bekommt.

Rudolf Steiner fragt, ob Vertreter der Jugend zur Delegiertenver­sammlung kommen.

Ein Vertreter der Jugend sagt einiges zur Delegiertenversammlung.

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Rudolf Steiner: Es wäre gut, wenn in möglichst kompendiöser Form mit völligem Ernst etwas vorgebracht würde über die drei Hauptfragen, um die es sich hier handeln muß:

Erstens: Wie steht es überhaupt mit der studentischen- und Jugend­bewegung?

Zweitens: Was macht jemand, der sein volles Menschentum aus der Anthroposophie heraus fühlt, an den Hochschulen für Er­fahrungen?

Drittens: Was erwartet der akademische und jüngere Mensch von der Anthroposophischen Gesellschaft?

Diese Dinge müssen natürlich dadurch zur Wirksamkeit gebracht wer­den, daß man sie in einer eindringlichen Weise erfaßt. Wie es mit unse­ren Bildungsanstalten um die Wende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gestanden, hat Nietzsche in eindringlicher Weise gezeigt. Er hat glänzend geschildert, wie die Bildungsanstalten sein müßten, und was er von ihnen erwartet. Leider ist Nietzsche ja fast vergessen. Heute würde das überboten werden müssen, was Nietzsche damals ge­schildert hat. Diese drei eben charakterisierten Fragen sind die wichtig­sten. Und wenn es gelingt, daß überhaupt die Persönlichkeiten in das Zentrum der Anthroposophischen Gesellschaft hineinkommen, die nicht nur auf ihrem Gebiet das höchste Interesse haben, sondern auch Aufmerksamkeit für alles das, was in der Gesellschaft und überall vor­geht, dann wird alles gut werden. Das Interesse und die Aufmerksam­keit hat gefehlt. Es zeigt dies die Tatsache, daß das Entstehen der reli­giösen Bewegung bis zum Momente ihres Auftretens nicht bemerkt worden ist. Aufmerksamkeit und Interesse für alles muß einziehen in die Anthroposophische Gesellschaft. Denn es ist schon so, daß Gedan­ken nicht wachsen, sie bleiben unverändert, daß aber Aufmerksamkeit und Interesse wächst und Früchte tragen kann.

Man muß vor allen Dingen klar und entschlossen den Weg in die über­sinnlichen Welten suchen und gehen. Dann wird man auch das richtige Verhältnis zu den Menschen finden. Und umgekehrt: hat man das rich­tige Verhältnis zu den Menschen gefunden, dann ist man auch nicht mehr weit von dem Eintritt in die übersinnlichen Welten.

ANKÜNDIGUNG EINER JUGENDSEKTION Nachrichtenblatt, 24. Februar 1924

#G217a-1981-SE115 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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III

Von der Jugendsektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft

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ANKÜNDIGUNG EINER JUGENDSEKTION

Nachrichtenblatt, 24. Februar 1924

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Zu den schon genannten Sektionen, nach deren Errichtung der Vor­stand der Anthroposophischen Gesellschaft am Goetheanum strebt, sollte noch eine weitere hinzukommen. Sie wird möglich sein, wenn das Wollen dieses Vorstandes auf entsprechender Seite Entgegenkom­men findet. Die Jugend stand in jedem Zeitalter in einem gewissen Gegensatz zum Alter. Mit dieser Zigeunerwahrheit tröstet sich gar mancher über die Lebenserscheinungen innerhalb der heutigen Jugend hinweg.

Aber dieser Trost könnte leicht zum Unheil werden.

Man sollte die gegenwärtige Jugend aus dem «Geiste der Gegenwart» heraus sowohl in ihren bedenklichen Verirrungen wie in ihrem nur allzu berechtigten Streben nach anderem, als was die Alten ihnen ge­ben, verstehen.

Da ist zunächst die Jugend, die durch die Lebenszusammenhänge in die akademische Laufbahn hinein gedrängt wird. Ihr wird «Wissen­schaft» entgegengebracht. Gediegene, sichere, für das äußere Leben fruchtbare Wissenschaft. Unsinn wäre es, nach der Art vieler Laien, über diese Wissenschaft zu zetern. Aber die Jugend erfriert doch see­lisch an dieser Wissenschaft, ehe sie dazu kommt, ihre Gediegenheit, ihre Sicherheit, ihre Fruchtbarkeit für das äußere Leben einzusehen.

Die Wissenschaft verdankt ihre Größe einer starken Opposition, die sie von der Mitte des 19. Jahrhunderts an getrieben hat. Damals wurde man gewahr, wie der Mensch leicht in die Unsicherheit der Erkenntnis hineinsegelt, wenn er sich aus den Niederungen des Forschens in die Höhen einer Weltanschauung erhebt. Man glaubte, abschreckende Bei­spiele eines solchen Erhebens erlebt zu haben.

Und so wollte man denn die «Wissenschaft» befreien von der Welt­anschauung. Sie sollte an die «Tatsachen» in den Tälern der Natur sich halten und die Höhenwege des Geistes meiden.

Man hatte, als man die Opposition gegen die Weltanschauung trieb, am Opponieren eine gewisse Seelenbefriedigung. Die Weltanschauung-Bekämpfer

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von der Mitte des 19. Jahrhunderts waren in ihrer Kampfes-stimmung beglückt.

Die gegenwärtige Jugend kann diese Beglückung nicht mehr mitma­chen. Sie kann befriedigende Gefühle in der Seele nicht mehr aufrüh­ren, indem sie den Kampf gegen die «Unsicherheit» und «Schwarmgei­sterei» der Weltanschauung miterlebt.

Denn es gibt heute eben nichts mehr, gegen das man kämpfen kann. Es ist unmöglich, dafür einzutreten, die «Wissenschaft» von der «Welt­anschauung» zu befreien. Denn die Weltanschauung ist mittlerweile er­storben.

Dagegen aber hat das Fühlen der Jugend eine Entdeckung gemacht. Durchaus nicht eine Entdeckung des Verstandes, sondern eine solche, die aus der ganzen, ungeteilten Menschennatur kommt.

Die Jugend hat entdeckt, daß sich ohne Weltanschauung nicht men­schenwürdig leben läßt. Viele Alte haben die «Beweise» gegen die Weltanschauung vernommen. Sie haben sich der Kraft der Beweise ge­fügt. Die Jugend kümmert sich verstandesmäßig nicht mehr um diese Kraft der Beweise; aber sie empfindet instinktiv die Ohnmacht alles Verstandes-Beweisens da, wo das Menschenherz aus einem unbesiegli­chen Drang spricht.

Die Wissenschaft tritt der Jugend gediegen entgegen; aber ihre Gediegenheit verdankt sie der Weltanschauungslosigkeit. Die Jugend verlangt nach Weltanschauung. Die Wissenschaft bedarf aber doch der Jugend.

Am Goetheanum möchte man die Jugend so verstehen, daß man mit ihr die Wege zur Weltanschauung sucht. Und man hat die Hoffnung, daß im Lichte der Weltanschauung die wahre Liebe zur Wissenschaft erzeugt werde. Man möchte da Wissenschaft nicht in Weltanschauungs­träumerei verlieren, sondern in wachendem Geist-Erleben erst recht gewinnen.

Der Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft fragt die Jugend, ob sie auch ihn verstehen möchte. Findet er dieses Verständnis, dann kann aus der «Sektion für das Geistesstreben der Jugend» etwas Le­benskräftiges werden.

I. Was ich den älteren Mitgliedern in dieser Sache zu sagen habe

#G217a-1981-SE119 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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VON DER JUGENDSEKTION

DER FREIEN HOCHSCHULE FÜR GEISTESWISSENSCHAFT

Nachrichtenblatt, 9. März 1924

I. Was ich den älteren Mitgliedern in dieser Sache zu sagen habe

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Die Ankündigung der «Sektion für das Geistesstreben der Jugend» am Goetheanum hat erfreuende Antworten aus den Kreisen der Jugend hervorgebracht. Vertreter der «Freien Anthroposophischen Gesell­schaft» und die jüngeren Mitglieder, die am Goetheanum leben, haben dem Vorstande der Anthroposophischen Gesellschaft zum Ausdrucke gebracht, daß sie mit vollem Herzen bereit sind, teilzunehmen an dem, was er beabsichtigt.

Ich sehe in den beiden Kundgebungen wertvolle Ausgangspunkte für einen schönen Teil der Arbeit unserer Gesellschaft. Kann diese die Brücke schlagen zwischen älteren und jüngeren Menschen unseres Zeit­alters, dann wird sie ein Wichtiges vollbringen.

Was zwischen den Zeilen der beiden Zuschriften zu lesen ist, kann in die Worte gefaßt werden: unsere Jugend spricht in einem Tone, dessen Klangfarbe in der Entwickelung der Menschheit neu ist. Man fühlt, das Seelenauge ist nicht auf die Fortsetzung dessen gerichtet, was ererbt aus der vorangegangenen Zeit und vermehrt in der Gegenwart werden kann. Es ist nach dem Hereinbrechen eines neuen Lebens aus den Ge­bieten hin gewendet, in denen nicht die Zeit entwickelt, sondern das Ewige offenbart.

Will der ältere Mensch heute von der Jugend verstanden werden, so muß er in seinem Verhalten zum Zeitlichen das Ewige als treibende Kraft walten lassen. - Und er muß dies auf eine Art tun, welche die Ju­gend versteht.

Man sagt, die Jugend wolle nicht eingehen auf das Alter, wolle nichts annehmen von dessen errungener Einsicht, von dessen gereifter Erfah­rung. - Aus seinem Unmut über das Verhalten der Jugend spricht das heute der ältere Mensch aus.

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Wahr ist es: die Jugend sondert sich von dem Alter ab; sie will unter sich sein. Sie will nicht hinhorchen auf das, was von dem Alter kommt.

Man kann besorgt werden über diese Tatsache. Denn diese Jugend wird einmal alt werden. Sie wird ihr Verhalten nicht bis in das Alter fortsetzen können. Sie will richtig jung sein. Sie frägt, wie man «richtig jung)> sein kann. Das wird sie nicht mehr können, wenn sie selbst in das Alter eingetreten sein wird.

Deshalb, so meint der ältere Mensch, müßte die Jugend ihre Anma­ßung ablegen und wieder zum Alter emporblicken, um da das Ziel zu sehen, nach dem ihr Geistesauge gerichtet sein müsse.

Indem man dies ausspricht, denkt man, es liege an der Jugend, daß sie von dem älteren Menschen nicht angezogen wird.

Aber die Jugend könnte gar nicht anders, als auf den älteren Men­schen hinschauen und ihn sich zum Vorbild nehmen, wenn er wirklich «alt» wäre. Denn die menschliche Seele, und ganz besonders die junge Seele, ist so geartet, daß sie sich zu dem wendet, was ihr fremd ist, um es mit sich zu vereinigen.

Nun sieht jedoch die heutige Jugend an dem älteren Menschen nicht etwas, das ihr als Menschliches fremd zugleich und aneignungswert er­scheint. Denn der gegenwärtig ältere Mensch ist nicht wirklich «alt». Er hat den Inhalt von vielem aufgenommen, er kann von vielem reden. Aber er hat das Viele nicht zur menschlichen Reife gebracht. Er ist an Jahren älter geworden; aber er ist in seiner Seele nicht mit seinen Jah­ren mitgekommen. Er spricht aus dem altgewordenen Gehirn noch so, wie er aus dem jungen gesprochen hat. Das fühlt die Jugend. Sie emp­findet nicht «Reife», wenn sie mit den älteren Menschen zusammen ist, sondern die eigene junge Seelenverfassung in den altgewordenen Kör­pern. Und da wendet sie sich ab, weil ihr das nicht als Wahrheit er­scheint.

Die älteren Menschen haben durch Jahrzehnte auf dem Gebiete der Erkenntnis die Meinung ausgebildet, daß man über das Geistige in den Dingen und Vorgängen der Welt «nichts wissen könne». Wenn die Ju­gend das hört, so muß sie das Gefühl bekommen, daß der ältere Mensch ihr nichts zu sagen habe, denn das «Nichtwissen» kann sie sich

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ja doch selbst besorgen; auf den Alten wird sie nur hinhorchen, wenn von ihm das «Wissen» kommt. Vom «Nichtwissen» zu reden, das ist erträglich, wenn es mit Frische, mit Jugendfrische, geschieht. Vom «Nichtwissen» aber zu hören, wenn die Rede von dem altgewordenen Gehirn kommt, das verödet die Seele, besonders die junge Seele.

Die Jugend wendet sich heute von den älter gewordenen Menschen nicht deshalb ab, weil diese «alt» geworden sind, sondern weil sie «jung» geblieben sind, weil sie nicht verstanden haben, in rechter Art «alt» zu werden. Dieser Selbsterkenntnis bedürfen heute die älteren Menschen.

Man kann aber nur in rechter Art «alt» werden, wenn man den Geist in der Seele zur Entfaltung kommen läßt. Geschieht dies, so hat man in einem altgewordenen Körper dasjenige, was mit diesem zusammen­stimmt. Dann wird man der Jugend nicht nur das entgegenbringen können, was die Zeit an dem Körper entwickelt hat, sondern was das Ewige aus dem Geist heraus offenbart.

Wo ernstlich nach dem Geist-Erlebnis gesucht wird, da kann sich das Gebiet finden, auf dem die Jugend sich wieder mit den älteren Men­schen zusammenfindet. Es ist eine inhaltlose Phrase, wenn gesagt wird:

mit der Jugend muß man «jung» sein. Nein, man muß unter der Jugend als älterer Mensch in der rechten Art verstehen «alt» zu sein.

Die Jugend kritisiert gerne das, was von älteren Menschen kommt. Das ist ihr gutes Recht. Denn sie muß dereinst das tragen, wozu es im Fortschritt der Menschheit die Alten noch nicht gebracht haben. Aber man ist kein rechter älterer Mensch, wenn man bloß mitkritisiert. Das läßt sich wohl die Jugend eine Zeitlang gefallen, weil sie sich nicht am Widerspruch zu ärgern braucht; aber zuletzt wird sie der «alten Jun­gen» überdrüssig, weil deren Stimme zu rauh ist, und das Kritisieren in jugendlichen Stimmen mehr Leben hat.

Die Anthroposophie möchte im Suchen nach dem Geiste ein Feld finden, auf dem junge mit älteren Menschen sich gerne zusammenfin­den. Der Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft darf erfreut darüber sein, daß seine Ankündigung in der Art von der Jugend aufge­nommen wird, wie es geschehen ist. Aber auch die tätigen Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft werden den Vorstand nicht im

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Stiche lassen dürfen. Denn zugleich mit der Zustimmung von der einen Seite erhalte ich von der andern ein Schreiben, in dem Worte stehen, auf die hinhören muß, wer mit seinem Herzen der Anthroposophischen Gesellschaft angehört. «Es könnte der Tag kommen, wo wir uns von der Anthroposophischen Gesellschaft lösen müssen, so wie Sie sich einstmals innerlich von der Theosophischen lösen mußten. »

Dieser Tag würde kommen, wenn wir in der Anthroposophischen Gesellschaft in der nächsten Zeit nicht verwirklichen könnten, was mit der Ankündigung einer «Jugend-Sektion» gemeint ist. Hoffentlich gehen die tätigen Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft in der Richtung des Vorstandes am Goetheanum, auf daß der Tag komme, an dem von den «Jungen» gesagt werden kann: wir müssen uns immer in­niger mit der Anthroposophie zusammenschließen.

Ich habe diesmal zu den älteren Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft über die «Jugend» gesprochen; in der nächsten Nummer möchte ich der Jugend sagen, was mir auf dem Herzen liegt.

II. Was ich den jüngeren Mitgliedern in dieser Sache zu sagen habe

#G217a-1981-SE122 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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Nachrichtenblatt, 16. März 1924

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II. Was ich den jüngeren Mitgliedern in dieser Sache zu sagen habe

In dem Briefe, den das Komitee der Freien Anthroposophischen. Ge­sellschaft auf meine Ankündigung einer Jugendsektion an die Mitglie­der dieser Gesellschaft richtet, findet sich der Hinweis darauf, daß ich «die Angelegenheit» des «Jung-Seins für so wichtig» halte, «daß sie:Ge­genstand einer eigenen geisteswissenschaftlichen Disziplin werden kann».

Ich halte diese Angelegenheit wirklich für so wichtig. Wer die Schil­derung meines Lebensganges in der Wochenschrift «Goetheanum» liest, wird begreifen, warum ich so denke. Als ich selber so jung war wie die­jenigen, die in diesem Briefe sprechen, fühlte ich mich einsam mit der

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Seelenverfassung, die ich heute in weiten Kreisen der Jugend lebendig finde. Meine damaligen Jugendgenossen empfanden anders als ich. Das Zivilisationsleben, von dem in diesem Briefe gesagt wird, daß es die Ju­gend «durch keinen Beruf mehr zu einer Weltanschauung kommen» lasse, und daß die Jugend durch ihr «Streben nach einer Weltanschau­ung» zu keinem Berufe mehr geführt werden» könne, war in jener Zeit im Aufstieg. Es wurde von der Jugend als Blüte der neuesten Stufe in der Menschheitsentwickelung empfunden. Man fühlte sich «befreit» von den Verstiegenheiten des Weltanschauungsstrebens und geborgen in der Aussicht auf Berufe, die aus den «sicheren» Grundfesten der «Wissenschaft» sich heraushoben.

Auch ich sah das «Blühen» dieser Zivilisation. Aber ich mußte emp­finden, daß aus dieser Blüte keine echte Menschheitsfrucht werde ent­stehen können. Meine Jugendgenossen empfanden das nicht. Sie waren in dem Erleben des « Bluhens » mitgerissen. Sie entbehrten noch nicht die Frucht, weil sie ihre Begeisterung im Anblicke der unfruchtbaren Blüte verschwendeten.

Jetzt ist alles anders geworden. Die Blüte ist verwelkt. Statt der Frucht ist ein lebensfremdes Gebilde zum Vorschein gekommen, das im Menschen das Menschtum erfrieren läßt. Die Jugend empfindet die Kälte der weltanschauungslosen Zivilisation.

In meinen Jugendgenossen lebte eine Oberschicht des Bewußtseins. Die konnte sich freuen über die fruchtlose Blüte, weil sich ihre Frucht-losigkeit noch nicht gezeigt hatte. Und die Blüte war «als Blüte» glän­zend. Die Freude am Glanz deckte die tieferen Schichten des Bewußt­seins zu; die Schichten, in denen unversiegbar im Menschen die Sehn­sucht nach wahrem Menschtum lebt. An der verwelkten Blüte kann die Jugend der Gegenwart keine Freude mehr haben. Die Oberschichte des Bewußtseins ist öde geworden, und die tieferen Schichten sind bloßge­legt; die Sehnsucht nach einer Weltanschauung ist in den Herzen offen­bar, und sie droht, das seelische Leben zu verwunden.

Ich möchte der Jugend heute sagen: scheltet die «Alten» nicht zu stark, die mit mir vor vierzig Jahren jung waren. Gewiß, es gibt unter ihnen Oberflächlinge, die auch heute noch ihre Leerheit als Überlegen­heit eitel zur Schau tragen. Aber es sind unter ihnen auch solche, die in

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Resignation ihr Schicksal tragen, das ihnen das lebendige Erfahren ihres wahren Menschtums versagt hat.

Dieses Schicksal stellte sie in die letzte Phase des «finstern» Zeitalters, durch die im Erleben der Materie das Grab des Geistes geschaufelt ward.

Die Jugend aber ist an das Grab gestellt. Und das Grab ist leer. Det Geist stirbt nicht und kann nicht begraben werden.

Das Jung-Sein ist. für diejenigen, die es heute erleben, zum Rätsel geworden. Denn im Jung-Sein ist die Sehnsucht nach dem Geist bloß­gelegt. - Das «lichte» Zeitalter ist aber angebrochen. Es wird nur noch nicht empfunden, weil die meisten Menschen noch in ihren Seelen die Nachwirkung der alten Finsternis tragen. Wer aber Sinn für Geisteswe­sen hat, der kann wissen, daß es «licht» geworden ist.

Und das Licht wird erst wahrnehmbar werden, wenn die Rätsel des Daseins in neuer Form wieder geboren sein werden.

Jung-Sein ist eines der ersten dieser Rätsel. Wie erlebt man das Jung-Sein in einer Welt, die im Altwerden erstarrt ist? Das ist die Ge­fühlsfrage, die in den jungen Menschen der Gegenwart lebt.

Weil das Jung-Sein so zum Menschenrätsel geworden ist, kann es seinen lebendigen Lösungsversuch nur in «einer eigenen geisteswissen­schaftlichen Disziplin» finden.

Es wird in einer solchen Disziplin nicht in leeren Phrasen von dem Jung-Sein gesprochen werden, sondern es wird in ihr das Licht gesucht werden, welches auf das Jung-Sein fallen muß, damit es sich selber in seinem Menschtum wahrnehmen kann.

Das heutige Jung-Sein will Weltanschauung, die den Lebensberuf mit Wärme erfüllen kann. Es fürchtet die Berufe, die eine weltanschauungs-lose Zivilisation geschaffen hat. Es möchte den Beruf aus dem Mensch­wm erwachsen sehen, nicht das Menschtum von dem Beruf ertötet wis­sen. Sich in der Welt zurechtfinden, ohne im Suchen den Menschen zu verlieren, dazu gehört lebendiges Seelenverhältnis zur Welt. Das aber erwacht nur im Erleben der Weltanschauung. In einer solchen Gesin­riung ist die Ankündigung des Vorstandes der Anthroposophischen Ge­sellschaft erfolgt. In einer solchen Gesinnung möchte dieser die jungen Anthroposophen zur Erarbeitung eines Lebens in wahrem Menschtum in einer Jugendsektion vereinen.

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Aber noch Eines möchte ich den jüngeren Mitgliedern sagen. Wenn es gelingt, der Jugendsektion den rechten Inhalt zu geben, so werden diejenigen, die im anthroposophischen Leben verstanden haben, in der richtigen Art «alt» zu werden, mit der Jugend gemeinsame Sache ma­chen wollen. Es möge dann die Jugend nicht sagen: wir setzen uns mit den «Alten» nicht an einen gemeinsamen Tisch. Denn Anthroposophie soll kein Alter haben; sie lebt im Ewigen, das alle Menschen zusam­menführt. Die Jugend möge in der Anthroposophischen Gesellschaft ein Feld finden, auf dem sie jung sein kann. Aber die «Alten» werden, wenn sie Anthroposophie in ihr ganzes Wesen lebendig aufnehmen, den Zug zur Jugend verspüren. Sie werden finden, daß, was sie durch das Alter sich erobert haben, sich am besten der Jugend mitteilen läßt. Die Jugend wird ja vergeblich nach dem wahren Menschtum ringen, wenn sie dasjenige Menschtum flieht, in das sie doch einmal auch ein­treten muß. Im Weltenlauf muß sich das Alte immer wieder verjüngen, wenn es nicht dem Wesenlosen anheimfallen will. Und die Jugend wird bei den echten «alten» Anthroposophen finden können, was sie braucht, wenn sie nicht eines Tages an einem eigenen Alter anlangen will, vor dem sie entfliehen möchte, aber es nicht kann.

III. Was ich Weiteres den jüngeren Mitgliedern zu sagen habe

#G217a-1981-SE125 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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Nachrichtenblatt, 23. März 1924

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III. Was ich Weiteres den jüngeren Mitgliedern zu sagen habe

Wo immer heute die «Jugendbewegung» auftritt, da offenbart sie, daß sie aus einem Entbehren heraus lebt. Was «entbehrt» der junge Mensch, dem sein Jung-Sein zum Bewußtsein kommt? Man kann doch innerhalb der heutigen Zivilisation so viel «lernen». Sie enthält nicht nur eine Fülle des Wissenswerten, sondern eine Überfülle.

Es liegt nahe zu glauben, daß wegen dieser Überfülle die Jugend verwirrt werde, daß sie den Inhalt der Überfülle nicht «verstehen»

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könne. Aber die Erfahrung zeigt, daß dieser Glaube falsch ist. Der junge Mensch «versteht» ganz gut, was ihm die Zivilisation entgegen­bringt. Verstehen kann man, was sich im Denken ergreifen läßt. Und unsere heutige Zivilisation ist trotz ihrer Überfülle fast ganz in Gedan­ken zu fassen.

Der junge Mensch wird gewahr, wenn er beginnt, zur Zivilisation ein Verhältnis zu gewinnen, daß er versteht. Und ein richtiger Instinkt sagt ihm, daß dieses Verstehen, dieses denkende Ergreifen auch sein ferneres Schicksal sein soll. Allein mit dem «Verstehen» läßt sich nicht jung sein. Man kann nur jung sein, wenn man mit vollem Herzen, mit gan­zer Seele erlebt, was auf das Verstehen wartet. Und man ahnt als junger Mensch, daß man alt wird, wenn man das Erlebte allmählich in das Verstandene hinüberführt.

Die Jugend von heute nimmt aus der Zivilisation etwas auf, womit man alt werden, aber nicht etwas, womit man jung sein kann. Diese Zi­vilisation hat dem ersten Lebensalter fast gar nichts zu geben. Man müßte heute mit zwanzig Jahren die Erde betreten, dann könnte man sich mit dem Inhalt der Zivilisation durchdringen.

Diese Zivilisation hat den Geist verloren. Sie bringt nur die Materie in Gedanken. Diese Gedanken lassen sich nicht erleben; sie lassen sich nur verstehen. Und hat man sie verstanden, dann liegen sie wandlungs­unfähig, steinhart in der Seele. Sie sind bei ihrem Entstehen schon völ­lig reif; sie können deswegen nicht wachsen. Der junge Mensch aber muß wachsen; und er will, daß, was er in seine Seele aufnimmt, mit ihm wachsen kann.

Eine wirkliche Geisteswissenschaft kann auch nur in Gedanken sich offenbaren. Allein diese Gedanken sind anschaubar, erlebbar; sie kön­nen von niemand mit einem höheren Grad von Reife aufgenommen werden, als er selbst hat. Aber sie sind dem Wesen des Menschen ver­wandt. Sie wachsen und reifen mit ihm. Gibt mir als Achtzehnjährigem jemand Gedanken aus dem Materiellen, dann nehme ich sie so auf, wie ich das auch tun würde, wenn ich vierzig oder fünfzig Jahre alt wäre. Läßt mich jemand Gedanken, die aus dem Geiste quellen, an seiner Menschheitsentfaltung erleben, so mag er siebenzig Jahre alt sein; wenn ich selbst nur achtzehn Jahre zähle, so vereinigen sie sich harmonisch

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mit meiner achtzehnjährigen Seelenverfassung und wachsen heran, wie ich selber wachse.

Die materialistische Denkungsart und Anschauung fordert von der Jugend, daß sie sich innerlich mit «Altem» fülle. Die Jugend aber will ihr Jung-Sein erleben. Deshalb wird das «Alter erleben» der Jugend zur Entbehrung. Die Jugendsektion am Goetheanum möchte der Jugend eine Erkenntnis geben, die lebt, und mit deren Leben man das Jung-Sein lebendig in sich ergreifen kann. Die Zivilisation von heute hat keine Gedanken, mit denen man das «Jung-Sein» erleben kann. Eine wirkliche Geisteswissenschaft wird solche Gedanken haben.

Hört man als älterer Mensch heute die Jugend sprechen, so hat man oft das Gefühl: ach, wie alt klingen doch die Reden, die aus dem Ju­gendmunde kommen! Das aber sind die Reden, die der junge Mensch bei den «Alten» heute findet. Er nimmt sie auf; aber er vereinigt sie nicht mit sich. Indem er sie erleben will, fühlt er sich unwahr. Er redet, was in ihm keine Wahrheit haben kann; und er trägt seine Wahrheit in sich, ohne daß er sie vor sich selber offenbaren kann. Sie würgt ihn; sie wird ihm zu einem von innen kommenden Alpdruck.

Atmungsfreiheit im lebendigen Geistesleben will die Jugend, damit der Alpdruck verschwinde. Erwachen in gesunder Geistesanschauung will sie, damit das Bewußtsein sich mit dem Erleben des Jung-Seins er­füllen kann.

Die Jugend möchte im Jung-Sein wachen; allein die Gedanken der materialistischen Zivilisation lassen sie nur davon träumen. Aber man kann nur träumen, wenn man das Bewußtsein abgedämpft hat. So muß das Jugendbewußtsein abgedämpft durch die mechanische Wirklichkeit wandeln. Deren Hammerschläge, deren elektrische Wellen stoßen hin­ein in die Träume. Aber sie können nicht das Erwachen bewirken. Denn sie sind nicht menschlich; sie sind außermenschlich.

Geisteswissenschaft kann für Seelen sein, die erwachen wollen. Sie will dem Menschen nicht bloß Wissen vermitteln, sondern das Leben nahe bringen. Dann wird es seiner Freiheit gegeben sein, das Leben in Wissen zu wandeln.

Menschen, die da glauben, Poeten zu sein, die aber doch nur Phili­ster sind, wenden ein: nehmet der Jugend die Träume, bringt sie zum

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Erwachen, und ihr nehmet ihr das Beste von ihrem Jung-Sein weg. Wer so spricht, der weiß nicht, daß Träume ihren vollen Wert erst erlangen, wenn sie von dem Lichte des Wachens bestrahlt werden. Die mechani­stische Zivilisation bringt die Jugendträume nicht in ihrem freudigen Leuchten zur Offenbarung, sondern sie zermürbt sie schon im Entste­hen, so daß sie drückend, lastend werden.

Nur in solchen Bildern kann hier gesagt werden, was die Jugendsek­tion wirken will. Sie wird kein «Programm» veröffentlichen; sie wird keine Erklärung des «Wesens der Jugend» geben. Sie wird versuchen, Leben werden zu lassen, was ihre Begründer selbst an den Entbehrun­gen der jungen Menschen von heute erleben können. Das wird eine «Jugendweisheit» geben, die im Leben sich täglich neu entfalten kann.

Junge Menschen, die am Goetheanum leben, haben sogleich nach dem Ankündigen der Jugendsektion und seither fortdauernd ihren Wil­len kundgegeben, innerhalb dieser Sektion arbeiten zu wollen. Enthu­siasmus spricht aus diesen Kundgebungen. Ich habe im ersten Aufruf gesagt, die Jugendsektion wird wirken können, wenn verstanden wird, was mit ihr gemeint ist. Ich glaube wirklich, daß der Enthusiasmus das richtige «Verstehen» herbeiführen kann. Nicht jenes «Verstehen», von dem ich hier gesprochen habe und durch das die Jugend entbehrt, son­dern jenes Verstehen, das zwar mit demselben Worte bezeichnet wird, das aber doch ein ganz anderes ist. Ein Verstehen, das nicht aus dem Verstande, sondern aus dem ganzen Menschen kommt.

Die Sehnsucht des Vorstandes der Anthroposophischen Gesellschaft kann nur sein, sich vor einem empfänglichen Enthusiasmus zu fühlen. Dann darf er hoffen, daß die Lebenskraft der Geisteswissenschaft hin­reiche, um diesem Enthusiasmus zu geben, was er gerne tragen möchte. Mit der Jugend so leben, daß sie ihr Jung-Sein in wahrer Menschlich­keit dem Alter entgegenführen kann, das möchte dieser Vorstand, weil er glaubt, daß er damit gerade das trifft, was die Jugend entbehrt und wonach sie sehnenden Herzens verlangt.

VON DER JUGENDSEKTION DER FREIEN HOCHSCHULE FÜR GEISTESWISSENSCHAFT Nachrichtenblatt, 30. März 1924

#G217a-1981-SE129 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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VON DER JUGENDSEKTION

DER FREIEN HOCHSCHULE FÜR GEISTESWISSENSCHAFT

Nachrichtenblatt, 30. März 1924

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Noch einmal möchte ich mich namentlich an die jüngeren Freunde in der Antliroposophischen Gesellschaft wegen der Begründung der Ju­gendsektion wenden. Es scheinen sich innerhalb der Kreise unserer Ju­gend zwei Meinungen gegenüberzustehen. Die eine empfindet das Jung-Sein als etwas, das suchen muß. Sie fühlt einen Zug zur Anthro­posophie hin, weil sie da Befriedigung für ihr Suchen zu finden hofft. Sie ist gewahr geworden, daß dieses Suchen nach den Tiefen der Seele ge­hen muß, und daß die zeitgenössische Zivilisation nach diesen Tiefen nicht führen kann. Es gibt eine Jugend, die so nach Esoterik sucht, weil sie ahnend entdeckt hat, daß in der Esoterik der wahre Inhalt des Men­schen erst erlebt werden kann.

Diese Jugend wird den Weg zu dem leicht finden, was der Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft mit der Jugendsektion anstrebt. Und dieser Vorstand wird niemand in seinem selbständigen Streben be­einträchtigen. Er wird ein Herz haben für diese Selbständigkeit. Aber er wird auch eingedenk der Tatsache sein, daß die Pflege des esote­rischen Lebens ihm als seine Aufgabe zugewachsen ist. Ihm wird diese Sorge die erste sein. Er wird die Jugendsektion so leiten, daß in ihr der Esoterik ihr Recht zukommt, und er glaubt, aus der wahren Esoterik auch die wahre «Jugend-Weisheit» finden zu können.

Aber es gibt noch eine andere Jugendmeinung. Diese wird leicht ver­sucht, das Jung-Sein in einem so absoluten Sinne zu nehmen, daß ihr auch schon das Streben nach Esoterik wie das Aufnehmen eines Fremdkörpers erscheint. Sie möchte vor allem, unbeirrt von allem, was von außen kommt, sich in das eigene Jung-Sein vertiefen, und sich die­ses zum Verständnis bringen.

In der Anthroposophischen Gesellschaft hofft wohl auch die Jugend, die dieser Meinung ist, etwas zu finden. Sonst wäre sie gar nicht darin­nen. Aber sie glaubt, der Anthroposophie erst den rechten Geist durch die Betätigung ihres Jung-Seins bringen zu müssen. Der Vorstand der

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Anthroposophischen Gesellschaft wird weit davon entfernt sein, diesem Teile der Jugend mit einer philiströsen Kritik zu begegnen. Aber es könnte leicht geschehen, daß seine Absichten von manchem jungen Menschen in einem falschen Lichte gesehen werden. Denn er kann von seiner gewonnenen Einsicht nicht abweichen, daß in der durch die An­throposophische Gesellschaft versuchten Esoterik der Ewigkeitsstrom fließt, nach dem die Jugend hinstrebt. Er kann nicht in den Irrtum ver­fallen, daß die Esoterik durch das Jung-Sein erst ihre wahre Gestalt er­halten müsse, da er doch weiß, in der Esoterik wird die Jugend die rechten Wege finden, um im wahren Sinne «jung» sein zu können.

Ich spreche dieses aus, nicht weil ich auf einen Gegensatz zwischen einem Teile der Jugend und dem Vorstande hinweisen will. Einen sol­chen sehe ich nicht; und es kann vor einer praktischen Weltauffassung einen solchen gar nicht geben. Denn der Vorstand ist sich bewußt, daß ihm seine Aufgaben aus der geistigen Welt kommen; und er wird in al­lem die Wege zu gehen haben, die ihm von da gewiesen werden. Einen «Gegensatz» dazu im Felde seines Wirkens kann es für ihn nicht geben.

Aber es wäre doch möglich, daß die Jugend selbst in Gegensätze hin­eintriebe, wenn der eine Teil sein Streben einseitig gegenüber dem an­dern betonte. Und das könnte der anthroposophischen Jugendbewe­gung unermeßlichen Schaden bringen. Es wird dies aber nicht gesche­hen, wenn die Jugend etwas, das sie von der «allzualt» gewordenen Zi­vilisation gelernt hat, schärfer beachten würde, als sie dies oft tut. Es ist ein gewisser Hang zur Abstraktion, zum Reden in bloßen Begriffen. Ich habe es in der vorangehenden Betrachtung ausgesprochen, wie wenig gut dies Abstrahieren der Jugend bekommt. In Wahrheit will das auch niemand in der Jugendbewegung. Aber im Reden über Jung-Sein, über die Ideale der Jugend ist es doch da. Es ist sogar ein bedenkliches Stück «Alter» in der heutigen Jugend. Besinnt sich demgegenüber die Jugend auf ihre wahren Erlebnisse, so wird sie finden, daß diese wie Fragestellungen sind, und daß die Esoterik der Anthroposophischen Gesellschaft ihr wenigstens Versuche von Antworten entgegenbringt.

Auf der Grundlage einer solchen praktischen Einsicht wird gewiß eine Verständigung zwischen einzelnen verschiedenen Meinungen in unserer Jugendbewegung erwachsen.

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Der Verkehr mit der Esoterik kann der Jugend selbst zum Erlebnis werden. Geschieht dieses, so wird die Jugend eben einsehen, daß sie gerade durch diesen Verkehr verwirklichen kann, was sie oft in unbe­stimmter Art sich ideell vor die Augen rückt. Geschieht es nicht, so könnte es leicht sein, daß ein Teil der Jugend nicht aus angeborenem, aber äußerlich aufgenommenem «Alt-Reden» sich einen theoretischen Vorhang schiebt vor das angedeutete Erlebnis.

Wird die Jugend sich verstehen, so wird sie auch den Vorstand der Antliroposophischen Gesellschaft verstehen.

6. April 1924 In der Freien Hochschule soll das unmiuelbar Menschliche zur Geltung kommen

#G217a-1981-SE132 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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DIE FREIE HOCHSCHULE FÜR GEISTESWISSENSCHAFT

Nachrichtenblatt, 6. April 1924

In der Freien Hochschule soll das unmiuelbar Menschliche

zur Geltung kommen

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Diese Institution kann nicht aus abstrakten Überlegungen von «oben her» zustande kommen. Sie muß aus den Bedürfnissen unserer Mit­gliedschaft von «unten her» entstehen. Der Vorstand der Anthroposo­phischen Gesellschaft hat den Plan gefaßt, eine Jugendsektion zu bilden, weil diese dem entspricht, was die jungen Menschen in unserer Gesell­schaft aus den Tiefen ihres Wesens heraus suchen. Und er wird sie so gestalten, daß diesen Bedürfnissen in dem Maße, in dem sie auftreten, entsprochen werden kann.

So muß es auch für die anderen Sektionen werden. Dazu aber ist notwendig, daß die Bedürfnisse, welche innerhalb unserer Mitglieder-schaft zutage treten, auch wirklich durch die ganze Gesellschaft fließen und zuletzt sich in dem vereinigen, was man vom Vorstand am Goethe­anum erwartet. Man sollte sich deshalb immer mehr zum Bewußtsein bringen, daß der Sinn der Weihnachtstagung nicht der war, einen blo­ßen «Verwaltungsvorstand» zu bilden. Gewiß, die «Verwaltung» muß da sein, und es soll nicht vergessen werden, daß sie notwendig ist und daß sie Sorgfalt und Genauigkeit zu entwickeln hat. Aber die Hauptsa­che wird sein, daß durch die Gesinnung in der Mitgliederschaft der Vorstand am Goetheanum wirklich in den Mittelpunkt der geistigen In­teressen der Gesellschaft gestellt wird. In ihm sollte zusammenfließen, was an solchen geistigen Interessen vorhanden ist.

Diesem Vorstand soll es ferne liegen, die Initiative in den einzelnen Teilen der Gesellschaft zu dem oder jenem in irgendeiner Art beschrän­ken zu wollen. Aber man sollte es immer mehr als eine Notwendigkeit ansehen, daß alles, was in der Gesellschaft auftaucht, zum Wissen die­ses Vorstandes gebracht werde. Er kann dann, was an dem einen Orte, oder von der einen Menschengruppe gewollt ist, in Einklang bringen mit dem, was von anderer Seite beabsichtigt wird. Dieser Vorstand wird

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nicht in einseitiger Art wie eine Behörde «von oben» wirken wollen; er wird es sich zur Aufgabe machen, offenes Herz und verständnisvollen Sinn zu haben für alles, was aus der Mitgliedschaft heraus nach Ver­wirklichung strebt. Er möchte in dieser Beziehung nur auch auf Ver­ständnis nach der Richtung hin rechnen dürfen, daß man ihm entge­genkommt, tätig entgegenkommt, wo er aus seiner Initiative, aus den Zielen der antliroposophischen Bewegung heraus, etwas durchführen möchte. In diesem Sinne habe ich bei der Weihnachtstagung gesagt:

dieser Vorstand soll ein Initiativ-Vorstand sein.

Wenn man immer mehr diesen Vorstand in solcher Art wird ansehen wollen, dann wird er in rechter Art der Berater werden können in allen Angelegenheiten der Gesellschaft. Und ein «Berater» möchte er sein; da er wohl weiß, daß es dem Geiste der Anthroposophischen Gesellschaft gründlich widerspräche, wenn er ein «Verfüger» sein wollte. Er wird bei seinen Ratschlägen an nichts anderes appellieren als an die freie Ein-sicht der Mitglieder; aber er wird auch nur rechter «Berater» sein kön­nen, wenn in rechter Gesinnung an seinen Platz gebracht wird, was in den Absichten, in den Bestrebungen der Mitglieder liegt.

Der Vorstand am Goetheanum möchte, daß so ferne wie möglich läge, in Paragraphen und Programmen eine Verbindung mit dem Wir­ken in der Gesellschaft herzustellen; er möchte, daß das unmittelbar Menschliche, das in jeder Einzelheit auch individuell wirken kann, zur ganz allgemeinen Geltung innerhalb der Gesellschaft komme. Und er möchte das vor allem bei alle dem erreichen, was für die Freie Hoch­schule für Geisteswissenschaft getan werden soll.

ÜBER WESEN UND ZIEL DER JUGENDBEWEGUNG 22. Juni 1924

#G217a-1981-SE135 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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IV

Ansprachen des Jahres 1924

Ich habe niemals etwas anderes im Unterbewußtsein der jugendlichen Menschen eingeschrieben gesehen. Das ist es wirklich: Die Welt muß aus dem Fundament neu begründet werden. Arnheim, 20. Juli 1924

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ÜBER WESEN UND ZIEL DER JUGENDBEWEGUNG

Aus Rudolf Steiners Bericht in der Wochenschrsft

« Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht. Nachrichten für deren Mitglieder»

I. Jahrgang, Nr.24. vom 22. Juni 1924

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«Zwei Versammlungen der in Breslau bestehenden Jugendgruppe der Antliroposophischen Gesellschaft konnten abgehalten werden. Als tief befriedigend darf diese Tatsache bezeichnet werden. Mit offenem Her­zen und ernster Seelenstimmung sprachen einzelne Teilnehmer des Ju­gendkreises: offene Herzen und teilnahmsvolle Seelen schaute ich vor mir, wenn ich sprach. Man redete über das Wesen der Jugendbewegung und über Ziele derselben, welche die Zeit fordert. Es lag viel Idealis­mus, Seelensorge, aber auch viel guter Wille in den Teilnehmern dieser Versammlungen. Man möchte wünschen, daß in Einigkeit die Jugend nach der Verwirklichung dessen strebt, was sie im Herzen nach der gei­stigen Welt hindrängt, und daß sie sich nicht durch Uneinigkeit schwach macht.»

Ansprache und Fragenbeantwortung während der Breslau-Koberwitzer Tagung

in Breslau am 9. Juni 1924

Aus der Begrüßungsansprache des Versammlungsleiters: Dank an Herrn Dr. Steiner, Frau Dr. Steiner und die übrigen Vorstandsmitglieder. Wir möchten versuchen, im Bewußtsein zu haben, welch ungeheure Bedeu­tung es hat, daß Herr Dr. Steiner, der Weltaufgaben zu erfüllen hat, in unserem Kreise erscheint. Dieses wird uns die nötige Ehrfurcht geben, das anzuhören, was er zu uns zu sprechen hat. Wir wollen ihn begrü­ßen als einen, der jugendlich zu sein versteht, jugendlicher, als wir selbst sein können. Was wir Herrn Dr. Steiner entgegenbringen, ist le­diglich ein Suchen, und mehr kann man von uns nicht erwarten. Wir sind nicht nur Akademiker, sondern auch Kaufleute, Beamte, und zumeist nicht Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft.

Eine Teilnehmerin: Wenn wir Blumen, wenn wir Steine, wenn wir Sterne anschauen, wenn wir die Welt anschauen, werden wir in dem Welt-Anschauen vorzeitig alt. Wir finden

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nicht die Art der Weltanschauung, die uns jugendlich sein läßt. Daher lassen viele das Welt-Anschauen und versuchen nur, in sich die Jugendlichkeit zu erleben. Um richtig in der Welt zu stehen, suchen wir nach einer Weltanschauung, die uns jugendlich sein läßt, und in diesem Suchen wollen wir vor Herrn Dr. Steiner hintreten.

Rudolf Steiner: Ich danke Ihnen herzlich für die liebevollen Begrü­ßungsworte, die ausgesprochen worden sind, und darf wohl sagen, daß ich Sie in ebenso herzlicher Weise begrüße, weil seit vielen Jahren vor meiner Seele gerade das als etwas außerordentlich Wichtiges und Be­deutungsvolles für die Gegenwart steht, was in Ihren Herzen, Ihren Seelen, Ihren Gemütern vorgeht. Daß man die Jugendbewegung von heute, wenn man unbefangen in der Welt drinnensteht, in höchstem Maße ernst nimmt, davon können Sie durchaus überzeugt sein. Wenn es auch so aussieht für Sie, wenn Sie herumschauen, nicht unter Ihren Altersgenossen, sondern unter den älteren Menschen der Gegenwart, wenn es auch so aussieht, als ob man die Jugendbewegung nicht ernst nimmt, sie wird ganz gewiß von derjenigen Seite ernst genommen, die heute geistigen Bestrebungen nachgeht.

Es sind jetzt schon mehrere Jahre verflossen, seit ein kleiner Kreis jugendlicher Menschen hereingekommen ist in die Anthroposophische Gesellschaft und nicht bloß als Zuhörer teilnehmen wollte an dem, was die Anthroposophische Gesellschaft gibt, sondern auftrat mit denjeni­gen Gedanken, Empfindungen und Gefühlen, die der heutige junge Mensch eben in semem Jungsein zusammenfaßt. Und gewissermaßen das tat eigentlich jener kleine Kreis, der sich vor Jahren in Stuttgart ein­fand und an die anthroposophische Bewegung die Frage stellte: Wie könnt Ihr uns einen Platz innerhalb dieser anthroposophischen Bewe­gung geben? Ich glaube, daß von meiner Seite aus diese damalige Frage wirklich verstanden worden ist. Es ist ja nicht immer leicht - und dar­über werden wir uns vielleicht heute oder in diesen Tagen überhaupt unterhalten können -, es ist nicht immer leicht, die Frage zu verstehen, die der wirklich suchende Mensch heute an die Zeit richtet, und der junge Mensch hat schon eine Anzahl von Fragen mit vollem Rechte, die nicht mit voller Klarheit gestellt werden können.

Sehen Sie, damals, als zum erstenmal Jugendbewegung und anthro­posophische Bewegung sich berührten, da kam es mir wirklich vor, wie

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wenn die beiden durch eine Art von Schicksal, Karma, geradezu zu­sammengeführt würden, und ich muß eigentlich bis heute daran festhal­ten, daß es so ist, daß Jugendbewegung und anthroposophische Bewe­gung wirklich durch ein inneres Schicksal aufeinander hingewiesen werden. Wenn ich das zu Hilfe nehme, was ich selber durch viele Jahr­zehnte erlebt habe im Streben nach einer Gemeinschaft von Menschen, die nach dem Geiste suchen wollen, und wenn ich das zusammenhalte mit demjenigen, was etwa seit der Wende des Jahrhunderts als Jugend­bewegung aufgetreten ist, so muß ich sagen, dasjenige, was ganz wenige fühlten vor vierzig Jahren schon, und was damals, weil es eben ganz wenige fühlten, kaum bemerkt worden ist, das ist heute gefühlt inner­halb der immer allgemeiner werdenden Jugendbewegung. Es ist in den eben gesprochenen Begrüßungsworten ganz schön zum Ausdruck ge­kommen, wie schwer es dem jungen Menschen heute eigentlich wird, zu leben.

Es war immerhin, wenn es auch zu allen Zeiten eine Art Jugendbe­wegung gegeben hat, es war immerhin zu anderen Zeiten anders, als es in unserer Zeit ist. Ältere Menschen, wenn man mit ihnen über die Jugend­bewegung spricht, antworten einem heute sogar sehr häufig damit, daß sie sagen: Ach Gott, die Jugend hat eben immer anders gefühlt als das Alter, hat immer etwas anderes gewollt. Das hat sich dann abgeschlif­fen, hat sich ausgeglichen. In der Jugendbewegung von heute braucht man auch nichts anderes zu sehen als das, was die jüngere Generation gegenüber den älteren Generationen in jeder Zeit gewollt hat. - Ich we­nigstens habe diese Antwort auf die brennende Frage der heutigen Ju­gendbewegung von sehr vielen Seiten gehört. Und dennoch, diese Antwort ist schon ganz falsch, diese Antwort ist schon ganz unrichtig. Und gerade darin liegt eine ungeheure Schwierigkeit. Es war zu allen Zeiten bei jüngeren Leuten, selbst wenn sie ganz radikal in einer Ju­gendbewegung aufgetreten sind, immer doch etwas von dem, was man so nennen kann: Es wurde das, was das Alter ringsherum gegr ündet hat an Institutionen, an allerlei Einrichtungen, es wurde das bis zu einem gewissen Grade doch von den jungen Leuten anerkannt und konnte an-erkannt werden. Die jungen Leute konnten ein Ideal darin erblicken, in das Alte nach und nach hineinzuwachsen. Heute ist es nicht mehr so.

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Ob er Akademiker ist oder nicht, darauf kommt es nicht mehr an, son­dern darauf, daß der junge Mensch, wenn er überhaupt leben will, in die Einrichtungen ja hineinwachsen muß, die die Alten zustande gebracht haben, und daß die jungen Menschen sich darin durchaus fremd fühlen; daß der junge Mensch das, was ihm da entgegenkommt, wie eine Art von Tod des Menschen empfindet, ja, daß er innerhalb dieser Einrich­tungen die ganze Art, wie sich die älteren Menschen innerhalb dieser Einrichtungen benehmen und verhalten, als etwas Maskenhaftes fühlt. Der junge Mensch fühlt seine eigenen inneren Menschenformen, die findet er lebendig, und das, was um ihn herum ist, findet er wie lauter Maskenantlitze. Das ist das, was den Menschen heute, wenn er jung ist, zur Verzweiflung bringen kann, daß er unter den Älteren nicht Men­schen, sondern zumeist Masken findet. Es ist wirklich so, daß einem die Menschen entgegentreten wie Abdrücke, Siegelabdrücke irgendwel­cher Menschenklassen, irgendwelcher Berufe oder selbst irgendwelcher Ideale, daß sie emem aber nicht entgegentreten als innerlich lebendige, volle Menschen.

Nun sehen Sie, da möchte ich sagen, wenn es vielleicht auch etwas abstrakt aussieht, allein es lebt im Gefühl gar sehr, wir stehen heute eben sehr stark an einem Wendepunkt der Zeiten, wie die Menschheit wenigstens in historischen Zeiten und auch zu einem großen Teil in vorhistorischen Zeiten nie gestanden hat. Ich liebe es gar nicht, immer von Übergangszeiten zu sprechen; Übergangszeiten sind ja alle von vorher zu nachher; es handelt sich nur darum, was übergeht. Aber in unserer Zeit ist es schon so, daß die Menschheit an einem Wendepunkt steht, wie sie vor einem gleichen in historischer und vorhistorischer Zeit nie gestanden hat. Das hängt damit zusammen, daß in den Unter­gründen der menschlichen Seele, weniger sogar im Bewußtsein als in den Untergründen der menschlichen Seele, schon bedeutsame Dinge vorgehen, welche eigentlich Vorgänge der geistigen Welt sind, die nicht bloß auf die physische Welt sich beschränken. Man spricht davon, daß mit der Wende des 19. und 20. Jahrhunderts das sogenannte finstere Zeitalter abgelaufen ist, und daß ein neues lichtvolles Zeitalter im Beginn ist. Ganz gewiß, wer in die geistige Welt hineinschauen kann, der weiß, daß es so ist. Daß jetzt nicht viel Licht zum Vorschein kommt,

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spricht nicht dagegen; die Menschen sind an die alte Finsternis gewöhnt, und gerade so wie eine Kugel, der man einen Stoß gegeben hat, fortrollt, so rollt das eine Zeitlang fort, rollt durch Trägheit fort. Un­sere Zivilisation ist heute durchaus eine solche, die in Trägheit fortrollt, und wenn wir hinschauen auf das, was um uns herum in Trägheit rollt, dann müssen wir sagen: Eines ist schon da, was das, was um uns ist, gemeinschaftlich hat. Man will heute alles, was überhaupt vorhanden ist

- es ist schwer, ein lebendiges Wort zu finden, weil die Dinge tot sind -, man will alles bestätigt haben; es ist eigentlich alles nur berechtigt für das, was schließlich als Zivilisation sich ergeben hat, was bestätigt ist. Bestätigt muß jede wissenschaftliche Wahrheit sein, bestätigt muß alles das sein, was irgendein Mensch behauptete, bestätigt muß aber der Mensch selber sein; wenn er in irgendeinen Beruf eintritt, muß er ir­gendwie bestätigt werden, von außen her muß der Mensch bestätigt werden. Wenn man im wissenschaftlichen Leben drinnenlebt, so nennt man das: es muß bewiesen werden. Was nicht bewiesen ist, gilt nicht, das kann man nicht verstehen.

Nun sehen Sie, ich könnte noch viel reden über dieses Bestätigtwer­den, über dieses Bewiesenwerden. Es tritt einem ja manchmal in gro­tesker Weise entgegen. Sehen Sie, ich war auch einmal jung, nicht mehr ganz jung, da habe ich - ich will das kleine Erlebnis erzählen, weil es nicht ganz ohne Zusammenhang steht mit dem, was ich sagen will -eine Zeitschrift redigiert und hatte einen Prozess, bei dem es sich um eine Kleinigkeit handelte. Es handelte sich nicht um vieles; ich bin sel­ber hingegangen und habe in der ersten Instanz gewonnen. Der Prozes­sor war nicht zufrieden, er hat an die zweite Instanz appelliert. Ich ging wieder hin, da kam der gegnerische Advokat und sagte: Ja, Sie brau­chen wir gar nicht, wir brauchen nur Ihren Rechtsanwalt, wo ist denn der? - Da sagte ich, ich habe gar keinen mitgebracht, ich habe gedacht, das geht mich an. Da half nichts. Ich mußte mit aller Schlauheit, die man aufwenden konnte, es dahin bringen, daß der Prozeß vertagt wurde und mir bedeutet wurde, daß ich das nächstemal da nichts zu suchen hätte, daß ich einen Rechtsanwalt zu schicken hätte, denn in der zweiten Instanz sei das nicht üblich, daß ein Mensch seine Sachen selbst vertritt. Ich ging erheitert weg. Die Sache kam mir aus dem Gedächtnis,

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und sie fiel mir gerade an dem Tag ein, wo am nächsten Tag der Prozeß sein sollte. Ich ging in die Stadt und dachte, ich kann mir das doch morgen nicht mehr sagen lassen, daß ich unnötig bin. Da ging ich dann die Straße entlang, traf eine Tafel von einem Rechtsanwalt und ging hinauf. Ich kannte ihn gar nicht, wußte nichts von ihm. Der sagte:

Wer hat mich denn Ihnen empfohlen? - Ich sagte: Gar niemand. - Ich dachte, ein anderer wird es auch nicht besser machen, und nahm den nächsten, der mir entgegentrat. - Da sagte er: Schreiben Sie mir auf einen Zettel auf, was ich morgen sagen soll. Ich schrieb es ihm auf und blieb, weil es so Usus ist, eben weg. Nach einigen Tagen schrieb er mir, daß der Prozeß gewonnen ist. - Nun sehen Sie, so könnte ich aus mei­nem eigenen Leben tatsächlich Hunderte von Sachen erzählen. Es han­delt sich überall gar nicht darum, daß man irgendwo als Mensch dabei ist, sondern daß die Dinge laufen, wie sie von Menschen eingerichtet sind. Das fühlt der junge Mensch. Er will nicht, daß alles bestätigt wird, er will etwas anderes. Er will an die Stelle der Bestätigung, des Beweises das Erleben setzen. Dieses Wort «Erleben» verstehen die alten Menschen ganz und gar nicht. Es steht nicht in ihrem Konversations-lexikon darinnen. Sehen Sie, welch ein Greuel ist das Wort «Erleben»! Weil Sie sprechen von geistigem Erleben, ist es ein Greuel für sehr viele Leute. Und das ist, was einem beim Übergang vom finsteren Zeitalter ins lichte Zeitalter entgegentritt. Es ist eine radikale Wende einer Zeit da.

Nun ist es auch wiederum natürlich, daß ja dieser Übergang in zwei Strömungen sozusagen aufgetreten ist. Deshalb sind in einer gewissen Weise anthroposophische Bewegung und Jugendbewegung schicksals-mäßig schon miteinander verbunden. Denn die anthroposophische Be­wegung vereinigt die Leute jeglichen Standes, Berufes und Alters, die an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert gefühlt haben, daß der Mensch sich in einer ganz anderen Weise in das gesamte Weltall hinein­stellen muß. Er muß nicht nur etwas bestätigt bekommen, bewiesen bekommen, er muß etwas erleben können. Und so erschien es mir wirklich ganz karmisch, ganz schicksalsgemäß, daß die beiden Bewe­gungen zusammengeführt wurden. Und das hat ja dann dazu geführt, daß wirklich eine Art Jugendbewegung, eine Art anthroposophische

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Jugendbewegung innerhalb der anthroposophischen Bewegung ent­standen ist, und daß dieses zuletzt dazu geführt hat, daß, als die an-throposophische Bewegung auf unserer Weihnachtstagung am Goethe­anum neu begründet wurde, wir bald darauf die Einrichtung einer Ju­gendsektion folgen ließen, wo nun tatsächlich die Interessen, die heute in der ehrlichsten, aufrichtigsten Weise durch die Gemüter der jungen Menschen gehen, gepflegt werden sollen.

Es war, ich möchte sagen, ein ungeheuer erfreulicher Vorstoß, der da in den ersten Monaten des Jahres in bezug auf unsere anthroposophi­sche Jugendbewegung gemacht worden ist. Daß es jetzt etwas stagniert, hat seine Gründe; das liegt in der Schwierigkeit der Jugendbewegung. Sehen Sie, die Schwierigkeiten liegen darinnen, daß aus dem Chaos, namentlich aus dem geistigen Chaos, das in der Gegenwart besteht, es schwer ist, irgend etwas herauszugestalten. Heute etwas zu gestalten, ist eben viel schwieriger, als es jemals gewesen ist. Deshalb ist es schon so - sehen Sie, es liegt mir wirklich ganz ferne zu renommieren; dieje­nigen, die mich kennen, werden das wissen -, aber es ist so, daß einem heute die merkwürdigsten Dinge begegnen. Ich mußte, als der außeror­dentlich freundliche, liebenswürdige, verzeihen Sie, daß ich noch ein­mal darauf zurückkomme, Ausspruch des Herrn Rektor Bartsch gestern an meine Ohren drang, der da sagte, daß ich, wenn ich hier zur Anthroposophischen Gesellschaft komme, wie der Vater empfunden werde - ich mußte ja sagen, es ist schon etwas daran. Aber da werde ich als der Vater angesprochen - Väter sind alt, die können nicht mehr ganz jung sein. In Dornach hatte ich gerade, als wir mit der Jugendsektion anfingen, die Anregung gegeben, es sollten sich die jungen Leute von sich aus klipp und klar aussprechen. Da traten eine Anzahl junger Leute auf und sprachen sich sehr schön und ehrlich aus. Da sprach ich mich auch aus. Nachher, als die ganze Sache zu Ende war, sagte mir jemand, der mich sonst ganz gut kennt, nachdem er sich das auch angehört hatte: «Sie sind dennoch der jüngste unter den Jungen gewesen. » So etwas kann einem heute passieren: da wird man als der alte Vater angeredet, da als der jüngste unter den Jungen. Da können doch die Begriffe nicht mehr ganz fest stehen. Also wissen Sie, wenn man so die Sprossen hinauf-und hinunterklettert, bald als das Väterchen, bald als der jüngste unter

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den Jungen, hat man gerade Gelegenheit, in das hineinzuschauen, was alles die Gemüter bewegt.

Nun, ich sagte, die Jugendsektion sei in eine Stagnation hineinge-kommen. Sie wird schon wieder herauskommen. Sie ist aus dem Grunde hineingekommen, weil es zunächst wirklich dem jugendlichen Gemüte außerordentlich schwer wird, sich in das auch hineinzudenken, was es ganz klar fühlt. Sehen Sie, unsere Zivilisation hat mit dem Geist den Menschen verloren! Und wenn ich jetzt mehr von den Hintergrün-den des Daseins spreche, so sehe ich doch, daß junge Menschen, die erst vor kurzem aus der geistigen Welt zum physischen Dasein herun­tergestiegen sind, eben mit ganz anderen Forderungen an das Leben heruntersteigen als die, die früher heruntergestiegen sind. Warum ist das so? Sie brauchen mir das ja nicht zu glauben. Aber mir ist es eine Erkenntnis, nicht bloß ein Glaube. Sehen Sie, man macht, bevor man zum physischen Erdendasein heruntersteigt, in der geistigen Welt aller­lei durch, was inhaltsvoller, gewaltiger ist als das, was man auf der Erde durchzumachen hat. Damit soll das Erdenleben nicht unterschätzt wer­den. Die Freiheit könnte sich nie entwickeln ohne das Erdenleben. Aber großartiger ist das Leben zwischen Tod und Geburt. Die Seelen, die heruntergestiegen sind, das sind die Seelen, die in Ihnen sind, meine lieben Freunde. Die waren wirklich ansichtig einer hinter dem physi­schen Dasein verlaufenden ungeheuer bedeutungsvollen geistigen Be­wegung in überirdischen Regionen, derjenigen Bewegung, die ich in­nerhalb unserer Anthroposophischen Gesellschaft die Michael-B ewe­gung nenne. Es ist so. Ob es der heutige materialistische Mensch glauben will oder nicht, es ist so! Und die führende Macht für heute, für unsere gegenwärtige Zeit - man könnte sie ja auch anders nennen, ich nenne sie die Michael-Macht -, strebt eigentlich innerhalb der geistigen Füh­rung der Erde und der Menschheit nach einem Neugestalten alles Seelenhaften auf der Erde. Die Menschen, die im 19. Jahrhundert so gescheit geworden sind, ahnen ja gar nicht, daß von der geistigen Welt aus die Seelenverfassung aufgegeben ist, die gerade als die aufgeklärteste im 19. Jahrhundert sich herausgebildet hat, daß der ein Ende gesetzt ist, daß eine Michael-Gemeinschaft von Wesen, die niemals auf die Erde kommen, aber die Menschheit leiten, danach strebt, eine neue

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Seelenverfassung in die Menschheit hineinzubringen. Der Tod der alten Zivilisation ist eben einmal gekommen.

Ich habe es in der Zeit, in der die Dreigliederungsbewegung war, die eben an dem Tode der alten Zivilisation gescheitert ist, öfters gesagt:

Wir haben heute keine Dreigliederung im öffentlichen Leben nach Geist, nach Jurisprudenz und so weiter und nach Wirtschaft, sondern wir haben eine Dreigliederung nach Phrase, Konvention und Routine. Phrase ist das, was als das geistige Leben auftritt, und Routine - nicht Menschenwohlwollen, Menschenliebe, wie sie herrschen soll im Wirt­schaftsleben - ist das, was das Wirtschaftsleben beherrscht.

Diese Seelenverfassung, in der die Menschen darinnenstecken, diese Seelenverfassung soll durch eine andere abgelöst werden, die wieder aus dem Menschen selber heraufkommt, die im Menschenwesen erlebt ist. Das ist das Streben von geistigen Wesenheiten, die, ich möchte sagen, durch die Zeichen der Zeit erkennbar sind und die Führung unseres Zeitalters übernommen haben. Die Seelen, die in Ihren Leibern auf die Erde heruntergezogen sind, die haben diese Michael-Bewegung gesehen und sind unter dem Eindruck der Michael-Bewegung heruntergekom­men. Und hier lebten sie sich ein in eine Menschheit, die eigentlich den Menschen ausschließt, den Menschen zur Maske macht. Und so ist eigentlich die Jugendbewegung eine wunderbare Erinnerung an das vor-irdische Erleben, an wichtigste Eindrücke dieses vorirdischen Lebens. Und hat man diese unbestimmten, unterbewußten Erinnerungen an das vorirdische Leben, diesen Anblick des Strebens nach einer Erneuerung der menschlichen Seelenverfassung, man findet nichts davon auf der Erde. Das ist, was eigentlich heute in jugendlichen Gemütern vorgeht.

Die anthroposophische Bewegung ist dasjenige, was sich aus der Mi­chael-Bewegung offenbart; sie hat das, was da gewollt wird, unter die Menschen zu bringen. Die anthroposophische Bewegung möchte hier auf der Erde von der Erde aus hinaufschauen zu der Michael-Bewe­gung. Die Jugend bringt sich die Erinnerung aus dem vorirdischen Dasein mit. Das führt schicksalsmäßig zusammen. So erschien mir alles das, was sich im Zusammenhang der Jugendbewegung mit der anthro­posophischen Bewegung abgespielt hat, wirklich wie ganz innerlich, nicht bloß durch irdische Verhältnisse, sondern durch geistige Verhältnisse,

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insofern diese geistigen Verhältnisse zum Menschen gehören, ge­geben zu sein. Aus diesen Untergründen heraus empfinde ich gerade diese Jugendbewegung als die, welche unendlich viele Hoffnungen er­wecken kann für die Zukunft dessen, was man im richtigen Sinne als Anthroposophisches empfinden kann.

Es tritt einem natürlich immer wieder das entgegen, was dadurch, daß sowohl anthroposophische Bewegung wie Jugendbewegung An­fänge sind, eigentlich auftreten muß. Wir haben ja die Freie Anthropo­sophische Gesellschaft neben der Antliroposophischen Gesellschaft in Deutschland begründen sehen, und diese Freie Antliroposophische Ge­sellschaft hatte, da das auch sein muß, eine Vorstand sich erkoren oder gewählt. Ich glaube, es waren sieben Mitglieder im Vorstand - es sagt jemand, es seien neun - ach, gar neun; nun, sehen Sie, es waren neun, aber es ist einer nach dem andern bis auf drei, die zuletzt übrig geblie­ben sind, so hinauskomplimentiert worden; alles ganz verständlich, ganz richtig verständlich. Die Freie Anthroposophische Gesellschaft wollte im wesentlichen das Jugenderlebnis erfassen. Nun kam es zur Diskussion über das Jugenderlebnis. Da bestritt man eben einem nach dem andern, die da im Vorstand waren, daß er das rechte Jugenderleb­nis haben könnte. Es blieben drei zurück, die diskutierten selbstver­ständlich untereinander, ob alle das Jugenderlebnis hätten. Auch da tritt etwas ganz Merkwürdiges auf, schicksalsmäßig Hindeutendes tritt zwischen der Jugendbewegung und der anthroposophischen Bewegung zutage. Es tritt spaßhaft auf, ist aber sehr ernsthaft. Denn wenn man über die großen Schicksalsfragen nachforscht, kommt man auf sehr be­deutende Dinge, und da zeigt sich oft symptomatisch die Größe des Schicksals. Als wir die Antliroposophische Gesellschaft begründet hat­ten, hatten wir auch Vorstandsmitglieder, die zankten sich furchtbar, und mir war es klar, daß dann einige allein dastehen werden, wenn sie die andern hinauskomplimentieren würden; aber daß es damit nicht zu Ende kommen würde, sondern daß dann die linke Seite mit der rechten in Streit kommen würde, die linke Seite eines Menschen mit der rechten Seite eines Menschen, ob die rechte oder die linke das Jugenderlebnis wirklich habe. Das schaut wie Ironie aus, ist es aber nicht. Aber es weist nur darauf hin, daß das, was heute Jugenderlebnis genannt werden

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muß, tief unten in der Seele liegt, und es ist das Bedeutsame in dem Jugenderlebnis, daß es nicht unbedingt in klare Worte gefaßt werden kann. Klare Worte sind in der Zeit der Gescheitheit so viele gesprochen worden! Es kommt darauf an, daß wir eben zu Erlebnissen kommen. Aber da sollte es dann auch schon so sein, daß, ich möchte sagen, das auch auftritt, was notwendig zu diesem Nicht-zu-klaren-Formen-und­so-weiter-Kommen dazugehört. Der Anspruch auf das Recht, im Un­bestimmten zu beharren, ist eben vorhanden. Ein anderes muß hin­zukommen: sich wirklich nicht unter dem Eindruck der Unklarheit auseinanderzutrennen, sondern zusammenzugehen und sich zu äußern.

Insoweit Sie, meine jungen Freunde, hier zusammensitzen, möchte ich eigentlich vor allem den Wunsch aussprechen, daß Sie alle, was Sie auch fühlen, denken und empfinden mögen, mit eisernem Willen zu­sammenhalten, richtig zusammenhalten. Das brauchen wir vor allen Dingen, wenn wir in den großen Lebensfragen heute etwas erreichen wollen. Da können wir gar nicht immer darauf hinschauen, ob der eine ein bißchen eine andere Meinung hat als man selber. Es handelt sich wirklich darum, daß man sich zusammenfindet auch in der größten Differenz der Gefühle und Empfindungen. Das wird vielleicht später die schönste Errungenschaft sein, daß man in der Jugend trotz der Diffe­renz in den Empfindungen zusammenzuhalten wußte. Es ist ja heute für den jungen Menschen wirklich so, daß er vor allen Dingen vermißt, den Menschen zu finden. Er fand unter dem, wo er hineingesteckt wurde, eben nicht den Menschen, weil der Mensch erstorben ist. Masken sind da, nicht Menschen! Überall Masken! Nun trat natürlich das hervor, was hervortreten mußte. Man suchte den Menschen! Und das ist etwas ungeheuer Ergreifendes. Denn all die verschiedenen Pfadfinderbewe­gungen, Wandervogelbewegungen und so weiter sind alle ein Suchen nach dem Menschen. Man sucht sich zusammenzuschließen. Jeder sucht beim andern den Menschen. Es ist ganz begreiflich. Weil geistig der Mensch eigentlich nicht mehr da war, so sagte man sich: Aber ich fühle doch, der Mensch muß doch da sein. Nun suchte man den Men­schen, suchte ihn vor allen Dingen im Zusammenschluß. Aber das hat -das dürfen wir nicht aus den Augen verlieren - etwas ungeheuer Tragi­sches gehabt.

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Viele junge Leute haben diese Tragik durchgemacht. Sie sind in den Zusammenschluß eingetreten und haben gemeint, den Menschen zu finden. Der Zusammenschluß erfüllte sie nicht mit irgend etwas, was sie suchten; sie wurden um so emsamer wiederum. Und diese zwei Pha­sen der Jugendbewegung sind deutlich hervorgetreten: die Phase der Geselligkeit, die Phase der großen Einsamkeit. Wieviele junge Leute sind heute da, die wirklich mit dem Bewußtsein, nirgends verstanden zu werden, einsam durch die Welt ziehen.

Nun ist es so, man kann im anderen Menschen den Menschen nicht finden, wenn man ihn nicht auf geistige Weise zu suchen versteht, denn der Mensch ist einmal ein geistiges Wesen, und wenn man dem Men­schen nur äußerlich gegenübertritt, so kann man ihn nicht finden, auch wenn er da ist. Es ist ja heute jammervoll, wie die Menschen eigentlich im Leben aneinander vorbeigehen. Gewiß, man schimpft heute mit Recht auf frühere Zeiten. Es ist vieles, was barbarisch war. Aber etwas war da: der Mensch fand den Menschen im anderen Menschen. Das kann er heute nicht. Die Menschen, die heute Erwachsenen, gehen alle aneinander vorbei. Keiner kennt den anderen. Es kann nicht einmal einer mit dem anderen leben, weil keiner dem anderen zuhört. Jeder schreit dem anderen etwas in die Ohren: seine eigene Meinung, und sagt dann, das ist meine eigene Meinung, das ist mein Standpunkt. Man hat heute wirklich lauter Standpunkte. Mehr Inhalt ist nicht da, denn das, was von den Standpunkten aus geltend gemacht wird, ist gleichgül­tig. Diese Dinge mit dem Herzen, nicht mit dem Verstande angesehen, die vibrieren durch die Jugend. Und deshalb können Sie sicher sein, die Empfindung muß richtig sein, daß etwas von Schicksalszusammenhang zwischen Jugendbewegung und anthroposophischer Bewegung besteht, daß nicht, weil man das auch probieren wollte, nachdem man vieles probiert hatte, die jungen Leute an die Anthroposophie herankamen, sondern aus einem Schicksal kamen sie heran. Und das gibt mir die Gewißheit, daß wir werden zusammenarbeiten können. Wir werden uns zusammenfinden, und wie auch die Dinge sich entwickeln, sie müs­sen sich so entwickeln, daß vor allen Dingen das Menschliche im weite­sten Sinne, das in der Jugend lebt, zur Geltung kommt. Denn sonst kommt etwas ganz anderes, wenn nicht wirklich Geist aus dem jugendlichen

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Leben hervorquillt. Dann ist allerdings das jugendliche Leben da, man wird das Jungsein empfinden können, aber dieses Jungsein, ohne von Geist erfüllt zu sein, das hört im Anfang der Zwanzigerjahre auf. Denn physiologisch können wir die Jugend ja doch nicht erhalten. Wir müssen schon alt werden, aber wir müssen aus der Jugend ins Alter etwas hineintragen können. Wir müssen das Jungsein auch so ver­stehen, daß wir mit ihm in der richtigen Weise älter werden können, und ohne vom Geist in der Seele, in der tiefsten Seele berührt zu wer­den, kann man die Jahre zwischen zwanzig und dreißig doch nicht überstehen, ohne in das graue Seelenelend zu verfallen. Und das ist das, was zugleich meine große Sorge ausmacht. Diese besteht darin: Wie können wir zusammenarbeiten so, daß der Abgrund zwischen dem zwanzigsten und dem dreißigsten Jahr von unserer Jugend wirklich le­bendig überschritten wird, ohne daß sie ins graue Seelenelend hinein-kommt. Ich habe die Menschen schon kennengelernt, welche in der Mitte der Zwanzigerjahre ins graue Seelenelend hineingekommen sind. Denn im Grunde genommen ist das, was nach dem Ablauf des Kali Yuga in den Untergründen der jugendlichen Seele lebt, der Schrei nach dem Geistigen. Es ist schon richtig, das macht nichts aus, daß unter Ihnen viele sind, die nicht in der Anthroposophischen Gesellschaft sind. Ich war bis zu Weihnachten auch nicht darinnen. Da ich Vorsitzender werden mußte, mußte ich in sie eintreten. Darauf kommt es nicht an. Es kommt darauf an, daß man nach dem wirklich konkreten Geistigen sieht.

Mit diesen Worten wollte ich Ihnen eine kleine Einleitung geben. Ich hoffe, daß Sie vieles werden zu sagen haben. Sprechen Sie sich unver-hohlen aus, wählen Sie sich einen Vorsitzenden oder tun Sie das, wie Sie wollen. So habe ich auch die Dornacher Jugend gebeten, sich offen auszusprechen, damit wir zusammenarbeiten können. Der Dornacher Vorstand wird sicher aufmerksam zuhören, und wir werden das alles als gute Lehren für die Jugendsektion am Goetheanum entgegenneh­men, was Sie selber zu sagen haben. Wir wollen uns nicht väterlich, sondern recht «söhnlich» verhalten zu dem, was Sie zu sagen haben.

Frage: Einer der jungen Freunde erzählte davon, daß sie gerne etwas Gemeinsames ar­beiten wollten. Dieses gemeinsame Arbeiten sei ihnen aber schwer geworden; am besten

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seien ihnen die Weihnachtsspiele gelungen. Sie würden immer nach kurzer Zeit müde werden, sie fühlten sich von ihrem Beruf zerrieben. - Dann wurde noch über die Mi­chaels-Idee gesprochen.

Rudolf Steiner: Wie kann man sich in den Beruf hineinstellen, wie­derum mit innerlicher Freude in dem Beruf darinnen richtiger Mensch sein? Ja, sehen Sie, diese Dinge sind ja nicht so ganz leicht zu beant­worten, meine lieben Freunde, aber man darf vielleicht etwas zu der Antwort beitragen, wenn man diese Dinge als Erlebnis kennt. Sehen Sie, ich habe so manche Freunde gehabt, als ich so alt war wie Sie. Die warfen dazumal auch die Frage auf, wie kann man sich in den Beruf hineinstellen, ohne in der Freudlosigkeit zu vergehen, ohne gewisser­maßen das Seelische zu ertöten. Sie haben sich dann, nachdem sie alle -dazumal nannte man es Brauseköpfe, wenn einer sich frei entwickeln wollte - lange frei gebummelt hatten, in irgendeinen Beruf hineingescho­ben, aber sie verkümmerten seelisch furchtbar. Ich möchte nicht gern von mir selber reden, aber in diesem Falle muß ich es. Ich habe mich in keinen Beruf hineingestellt, denn hätte ich es getan, es wäre zu keiner antliroposophischen Bewegung gekommen. Um das Vermächtnis Goe­thes zu gestalten, durfte man in keinem Beruf darinnenstehen. Man muß das Leben gestalten. Deshalb darf ich aus meinem Leben heraus einiges sagen zur Beantwortung der Frage. Das Problem kann nicht gelöst werden, sich in den heutigen Beruf hineinzustellen und innere Le­bensfreudigkeit zu behalten. Deshalb muß man sich aber doch in die heutigen Berufe hineinstellen, denn es gehört Resignation dazu, sich in keinen Beruf hineinzustellen. Dazu müssen Sie sich schon aufschwin­gen einzusehen, daß es nicht möglich ist, sich in die heutigen Berufe hineinzustellen mit Lebensfreudigkeit oder Befriedigung. Das wird erst möglich sein, wenn das Berufsleben so beschaffen ist, daß es dem Men­schen angemessen ist. Darauf muß verzichtet werden, sich in einen heu­tigen Beruf hineinzustellen und lebensfreudig zu sein. Sie müssen das Problem jenseits des Berufes lösen. In der wenigen Zeit, die Ihnen der Beruf übrig läßt, müssen Sie sich aber um so intensiver anstrengen. Es ist außerordentlich wohlig, und ich gebe Ihnen ganz recht in dem, was Sie gesagt haben von der anderen Seite her, Weihnachtsspiele zu spielen und daran Freude zu haben; aber ich habe Leute kennengelernt, die

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auch zu den Weihnachtsspielen kamen, auch dabei waren und mittaten, die hatten nicht nur auf dem Körper, sondern auch auf der Seele graue Haare. Dazu braucht man nicht jung zu sein.

Die Anthroposophie hat eine Eigentümlichkeit. Wenn Sie heute ein strebsamer Mensch sind, und sich ein bißchen bilden wollen, nehmen Sie das auf, was in den Büchern steht. Was für Ansprüche macht die Li­teratur? Sie macht den Anspruch, daß sie eindeutig ist. Wenn Sie ein wissenschaftliches Buch nehmen, ist es egal, ob Sie achtzehn, fünfund­zwanzig, siebenunddreißig oder achtzig Jahre alt sind. Die Wahrheit soll überall auf Sie wirken. Das soll absolut wahr sein. Das ist bei der Anthroposophie nicht so. Die Anthroposophie werden Sie als acht-zehnjähriger Mensch anders aufnehmen wie als sechsundzwanzigjähri­ger, weil sie mit Ihnen wächst. Sie schmiegt sich an den Menschen an in seiner Jugendlichkeit und auch in seinem Alter. So wie der Mensch sel­ber alt wird, wird auch die Anthroposophie alt. Wenn man sich in die­ser ganz neuen, nennen Sie es Weltauffassung, Seelenverfassung, wie Sie wollen, wenn man sich in dem ganz Neuen ergeht, Gemeinschaften ge­staltet, um gerade das leben zu lassen in der Gemeinschaft, wird man schon darauf kommen: Da kann man jung sein und kann sich in richti­ger Weise hineinfinden, so daß die Dinge sich auch jugendlich auswir­ken. Die alten Leute machen uns ja ohnehin den Vorwurf, daß Sie die Anthroposophie nicht verstehen. Ein gutes Zeichen für die Anthropo­sophie! Man soll sie nicht verstehen, man soll sie erleben. Und dieser letzte Konservatismus muß auch noch verschwinden, daß man glaubt, man kann sich in die heutigen Berufe mit Freude hineinfinden. Man muß neben dem Beruf einen Weg finden und für diesen Weg so viele Menschen finden, daß eine solche Kraft entsteht, daß die Berufe neu gestaltet werden können. Denn nur in neugestalteten Berufen kann man sich freuen.

Daß diese Kraft entsteht, dazu kann viel geschehen, wie ich es Ihnen in der Michaels-Kraft charakterisiert habe. Die muß sich aber in gran­diosen Michaels-Festlichkeiten ausleben. Wir müßten es wirklich dahin bringen, daß das aufkeimende Leben der Zukunft, das von uns noch ganz embryonal gefühlt werden kann, in Festen der Hoffnung, in Festen der Erwartung entstehen kann. In Festen, wo man nur durch

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Hoffnung und Erwartung zusammengehalten wird, nicht durch scharf konturierte Ideale, müßte man gerade in diesen Festen dieses Bild vor sich haben des Michaels mit den Führeraugen, der weisenden Hand, mit dem geistigen Rüstzeug. Solch ein Fest muß entstehen. Warum ist es nicht entstanden? So fest ich hinweisen werde, daß dieses Fest aus dem Schoße der anthroposophischen Bewegung hervorgehen muß, so fest werde ich es auch zurücklialten, so lange nicht die Kraft da ist, es wür­dig zu halten. Denn spielerisch es zu machen, dazu ist die Zeit zu ernst. Wenn es in würdiger Weise gefeiert wird, wird es große Impulse in die Menschheit hineinsenden. Daher müssen wir so lange warten, bis die Kraft dazu da ist. Nicht bloß ein vages, blaues, dunstiges Erbauen an der Michaels-Idee soll da sein, sondern das Bewußtsein, daß eine neue Seelenwelt unter den Menschen begründet werden muß. Es ist tatsäch­lich das Michaels-Prinzip das Führende. Dazu gehört gemeinschaftli­ches Erleben, um gerade auf eine Michaels-Festeszeit hinzuarbeiten, wo dann der Geist der Hoffnung in die Zukunft, der Geist der Erwartung leben kann. Das ist schon etwas, was walten kann und nach dem Beruf eine große Befriedigung gewähren kann, daß man schon mit Resigna­tion in den Beruf hineingehen kann. Es soll Sie das nicht verstimmen, sondern anregen.

Frage: Man wird gezwungen, während des Berufes ein anderer Mensch zu sein. Am Abend macht man Übungen, klettert die Leiter hinauf und wird am Tage wieder hinun­tergezogen.

Rudolf Steiner: Man kann das auch nicht hineintragen in den Beruf, weil heute viel zu wenig Menschen sind, als daß eine wirkliche Kraft entstehen kann. Das würde bewirkt werden, wenn alle die, die das, wenn auch noch so dunkel, fühlen, daß etwas anderes zu erwarten ist, nach einer Vereintheit streben würden. Wenn Sie sich heute in irgend­einem Beruf drinnen befinden, nicht wahr, das wissen Sie ja doch ganz klar, sind noch eine ganze Anzahl anderer darinnen, die das nicht so fühlen wie Sie. Diese Menschen haben auch gar nicht das Bedürfnis, den Abend irgendwie in Jugendbewegungsversammlungen zuzubrin­gen; sie stehen in dem Beruf so darinnen, daß sie eigentlich darinnen zufrieden sind, weil sie gar nicht das Zeug haben, unzufrieden zu sein; sie wollen gar nicht, daß der Beruf ihnen Freude macht.

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Etwas Charakteristisches ist da in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts aufgetreten. Bei wissenschaftlichen Versammlungen bin ich zur Verzweiflung getrieben worden. Solange man die paar Stunden von offiziellen Verhandlungen hatte, wurde wissenschaftlich verhandelt. Dann setzte man sich zusammen, und wer nun aus dem Beruf heraus ein Sterbenswörtchen sagte, der wurde für einen Philister angesehen. Diejenigen unter ihnen, die keine Philister sein wollten, sie waren es erst recht. Die hatten immer das Wort auf den Lippen: Nur nicht fach­simpeln! Das zeugt dafür, daß man sich überhaupt gar nicht interes­sierte für das, was man berufsmäßig trieb. Das ist auf allen Gebieten so. Die Menschen sind zum großen Teil Opfer der Zeit; sie wären auch für etwas Besseres zu gewinnen. Dazu gehört eben, daß noch mehr Macht in den geistigen Bewegungen der Zeit zutage treten kann, damit nicht diejenigen, die den Beruf als niederdrückend empfinden, dastehen und erdrückt werden durch die anderen, die gar nicht solche Bedürfnisse haben. Also je mehr wir darauf verzichten, schon morgen etwas zu erreichen, um so mehr wir uns bemühen, emsig zu arbeiten in dem, was sein soll zunächst eine geistige Gemeinschaft, die auf etwas hin-arbeitet, desto besser wird das sein. Das ist das, was wir ins Auge fas­sen müssen.

Frage: Gegensatz von jung und alt. Die alten Anthroposophen wollen nur den Geist in sich hineinzerren. Die jungen wollen herausgestalten. Die andern wollen bremsen; sie äußern sich spöttisch über das, was die Jugend schafft.

Rudolf Steiner: Es brauchte der Gegensatz zwischen jungen und älte­ren Leuten nicht so stark hervorzutreten. Da scheint mir doch das Richtige das zu sein, was ich gesagt habe, daß man versuchen soll, weil es ja schon gegenwärtig unmöglich ist, alle über einen Leisten zu schla­gen, auch gegen den andern, sagen wir, tolerant zu sein. Es ist ganz gewiß, daß man ja auf der einen Seite anstreben wird, wenn man dazu das nötige Temperament hat, mit dem, was da ist, auch nach außen in die Welt hineinzuschauen, hineinzureichen. Es wäre traurig, wenn es nicht so wäre. Aber auf der andern Seite liegt da auch ein beträchtlicher Unterschied in der Stärke vor. Es wird stärkere Elemente geben, die werden in der Lage sein, manches früher durchzuführen, als die andern

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sich getrauen. Aber zu etwas Durchgreifendem wird man doch nur kommen, wenn sich die verschiedenen Schauierungen zusammenfin­den. Man kann sich zusammenfinden. Da könnte die anthroposophi­sche Bewegung viel tun; sie tut es nur leider nicht.

Ich glaube schon, wenn die Jugendbewegung in die Anthroposophie hineinfinden wird, werden die verschiedenen Nuancen schon zur Gel­tung kommen. Was von mir abhängt, so wird niemals etwas gegen die Jugendbewegung eingewendet werden, die von der Temperamentslage ausgeht, die Sie vertreten haben. Ich möchte am allerwenigsten einwen­den dagegen. Nur habe ich in meiner Jugend gesehen, wie stark man da gegen Widerstand anstößt und sich die Stirne blutig schlägt. Es ist gut von denen, die es wollen, aber wissen Sie, es ist schon einmal nicht je­dermanns Sache, so, ich möchte sagen, von vorneherein auch wirklich sich dem unbestimmten Schicksal auszusetzen. Aber ist man in der Lage, in dieser Richtung wieder zu wirken, dann weniger dadurch, daß man die anderen, die es nicht so machen, kritisiert, sondern, daß man auf das hinweist, was wjrklich geschaffen worden ist. Es handelt sich durchaus darum, auf das Positive hinzuweisen, was in dieser Richtung schon geschaffen wurde. Das ist, wie ich glaube, auch unter der Jugend viel zu wenig bekannt; es bleibt in kleinen Kreisen. Und das ist das Ge­fährliche, wenn es auch in der Jugend dadurch, daß es in der Jugend hervortritt, nicht in so krasser Form wie in den Sekten auftritt. Es darf nichts Sektiererisches vorkommen. Es muß das allgemein Menschliche darin walten.

Frage über die verschiedenen Altersstufen, die versammelt sind, zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Jahren, und die verschiedenen Bildungsgrade der Betreffenden.

Rudolf Steiner: Daß das so ist, daran ist im Grunde genommen nur das schuld, daß in unserer Zivilisation der Egoismus eine so ungeheuer starke Rolle spielt. Es ist den Menschen nicht möglich, sich in den andern hineinzufühlen. Ein jeder redet und tut nur aus sich heraus. Den­ken Sie nur, wie das sofort anders ist, wenn man sich in den andern hineinfühlen kann. Nehmen wir an, es ist einer in den sechziger Jahren und er redet mit einem fünfjährigen Knaben. Eigentlich finde ich, daß das fünfiähn.ge Kind sich viel mehr in den Sechzigjährigen hineinfindet

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als der Sechzigjährige sich in das Kind. Das Hineinkriechen in den andern, das ist das, was man lernen muß. Das kann man durch Anthro­posophie, weil sie biegsam ist. Wenn wir durch geistige Interessen zu­sammengehalten werden, dann verschwindet der Altersunterschied zwi­schen fünfzehn und fünfundzwanzig leicht, namentlich, wenn man eine Weile zusammen ist. Wenn man aber nur durch die egoistischen Inter­essen zusammengehalten ist, dann verstehen die Fünfzehn- und die Fünfundzwanzigjährigen sich nicht. Es handelt sich um die Überwin­dung des Egoismus. Man muß sich in etwas Objektives hineinfinden. Egoismus ist die Signatur des Zeitalters. Wenn wir anfangen uns recht-schaffen für den Menschen zu interessieren, so kann das nicht fortdau­ern. Den Egoismus überwindet man gründlich, wenn man ihn zuerst überwindet bei etwas, was so schwer in die Seele eingeht wie die Anthroposophie. Da muß man sich auf sein Inneres beziehen. Da streift man den Egoismus ab und kann dann schon in den anderen hin­einfinden. Das tritt als eine Frucht auf.

Daß Sie sich nicht verstehen können, hat den Grund, weil Sie nicht den Menschen haben. Wenn einer kein Mensch ist, sondern eine Scha­blone, wie man heute mit fünfundzwanzig Jahren ungefähr ist, wie soll er den anderen Menschen verstehen? Wenn man Akademiker ist, ist man mit fünfundzwanzig Jahren nicht ein Mensch, sondern ein Klei­derstock, an dem das Abiturientenexamen hängt und die Angst vor dem letzten Abschlußexamen. Man ist mit fünfzehn Jahren ein Kleiderstock, an dem noch die Klassenzeugnisse hängen, die von den Eltern unter­schrieben werden müssen. Die verschiedenen Gegenstände verstehen sich nicht, aber sobald wir an den Menschen kommen, verstehen wir uns. So ist es mit den Berufen, mit den verschiedenen Berufen. Wir sind nicht mehr rechtschaffene Menschen, wir sind tatsächlich das, was ein Ab­klatsch der verschiedenen Verhältnisse ist. Und darin liegt das Bedeut­same der Jugendbewegung, daß sie das abgestreift hat, daß sie Menschen will. Das tritt einem doch bei diesen Menschen entgegen. Wenn sie aus dem Beruf draußen sind, wollen sie Menschen sein. Das werden sie werden, wenn sie von solchen Dingen klar durchdrungen sind.

Hermann Bahr schildert, wie es ihm ergangen ist, wenn er in eine Großstadt kam. Er wurde überall eingeladen, am Sonntag, am Montag,

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und nun - nicht wahr, ja, er konnte die Damen, die am Tische links saßen, und die Damen, die rechts saßen, nicht voneinander unterschei­den; er konnte die Damen vom Sonntag nicht von den Damen vom Montag unterscheiden. Es kam ihm alles durcheinander. Ja, sehen Sie, wenn man eben in solche Gesellschaften kommt, da schauen sich die Leute so ähnlich, weil sie alle ein Abklatsch dieser Verhältnisse sind.

Frage: Soll man den Beruf fallenlassen und sich nur der Anthroposophie widmen, oder kann man den Beruf durchwärmen?

Rudolf Steiner: Das ist eine individuelle Sache. Man soll nie davor zurückschrecken, das, was man als das Richtige erkannt hat, auszufüh­ren. Einmal kann man es, einmal kann man es nicht. Wenn man es kann, soll man einen Riecher dafür haben und es auch tun. Natürlich, man kann auch Märtyrer werden. Nur soll das keine allgemeine Regel werden. Denn dann kommt man nicht vorwärts, oder wenigstens müßte das dann eine allgemeine Regel werden. Aber wenn bloß unter hundert ein Prozent zum Märtyrer bereit sind, dann kommt man nicht weiter, weil das die anderen zunichte werden lassen. Das läßt sich nur individuell beantworten. Ich habe es in meinem Leben individuell be­antwortet, indem ich nie in einen Beruf hineingegangen bin. Gewiß, Sie können sagen, dadurch weiß ich nicht, wie man einen Beruf fördern kann. So neben denen, die da waren, stand ich ja schon auch. Aber es ist schon so geworden, daß das Berufsleben etwas Erstarrtes hat, daß es außerordentlich schwierig ist, bei der Kompliziertheit der Lebenszu­sammenhänge heute in irgendeinem Beruf viel auszurichten. Hat man einen Riecher, kann man es tun.

Frage: Es wurde erzählt, daß man Einzelgruppen gebildet hatte, weil man nicht jung und alt vereinen konnte. Wiederum Frage nach dem Beruf.

Rudolf Steiner: Es ist nicht viel anzufangen mit dem Beruf, wenn man Mensch sein will. Man muß resignieren und neben dem Beruf ein selbständiges Leben entfalten. Was der Herr hier sagt, kommt aus einem Mißverständnis der Anthroposophie heraus.

Der Fragesteller: Die Anthroposophie greife ich nicht an. Man muß verstehen können, was die Jugendbewegung Gutes hat.

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Rudolf Steiner: Es handelt sich nur darum, daß gerade die Jugend­bewegung an der Anthroposophie erfahren kann, erleben kann, wie man mit Ausschluß alles Negativen im Einklang mit dem ganzen Kos­mos positiv wirken kann. Denn Anthroposophie schließt ihrem Wesen nach, da sie von keinem angenommen wird, der sie nicht erleben kann, ein unfreies Wirken aus. Ich bin nie darauf ausgegangen, für Anthropo­sophie zu agitieren. Ich sagte, was ich wußte. Ich wußte, wenn ich zu tausend spreche, so werden es zunächst nur fünf sein, bei denen die Sache wirklich anfaßt. Ich machte mir nie etwas daraus, denn bei den Heringen im Meer geht es auch so. Da werden auch aus tausend Eiern, die ausgestreut werden, nur zwei oder drei wirkliche Heringe. Wer auf den Erfolg sieht, kann den Erfolg nie haben. Man muß aus der Sache heraus wirken. Das meine ich, sollte Platz greifen, daß man einen jeden tun läßt, was er tun kann, und eben nicht zu ablehnend ist, nicht zu stark sagt: Das sollte die Jugend nicht sein, das sollte die Jugendbewe­gung nicht sein. Es sollten möglichst viele zusammensein, jeder aus seiner Individualität heraus das zu tun, was er kann.

Der Unterschied zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig wird schon überwunden werden, wenn alle jung sind, und jung sind schon alle. Das ist nicht so schlimm, was differiert. Die Grundform ist schon da. Andere, die bleiben draußen, die gehen ins Kino, die gehen doch nicht in die Vereinigungen der Jugend.

Nun handelt es sich darum, daß vielleicht zu stark daran gedacht wird, daß man eme Form geben soll. Es handelt sich vielmehr darum, daß ein aufrichtiges Verhältnis von Mensch zu Mensch gewonnen wird als eine Form. Hat man sich lieb, so geht man da hin, wo man sich lieb hat, und sucht nicht nach einer Form. Vielleicht ist das gerade falsch, nach einer Form zu suchen. Es handelt sich darum, daß Sie sogar dann zusammenkommen, wenn Sie ganz uneinig sind; daß Sie gerne zuein­ander kommen, gerne beisammen sind. Und wenn dieses Rein-Mensch­liche, im Gefühl Liegende die Form gibt, ist das die gesündeste Form. Jedes programmäßige Formsuchen wird sogar die Jugendbewegung stö­ren. Wir haben auch in bezug auf die Jugendsektion am Goetheanum an Mannigfaltiges gedacht, und es wird auch Mannigfaltiges hervor­kommen, was Grundlage geben wird, sich mit den Dingen zu beschäftigen,

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wenn man über einen gewissen Punkt der Stagnation hinüberge-kommen sem wird.

Wenn wirklich das nach dem Kali Yuga auftretende Streben nach dem Licht - es muß ja nicht ein abstraktes Geisteslicht sein - so stark in den Menschen ist, daß sie gar nicht anders können als dem zu folgen, dann brauchen wir nicht weitere Formen. Es ist nur störend, besondere Formen zu haben. Es muß in den Menschen das Lebendige zusammen­kommen. Ich denke mir, wenn auch nur unter einer großen, großen Versammlung zwei oder drei sind, die ganz herzhaft begeistert sind für ihre Sache, wird man zusammenkommen, weil die zwei oder drei dort sind, weil die dort zu treffen sind. Es muß das Menschliche sein. Das wird ganz sicher gefunden werden, wenn wir nicht mit schlaffen Armen, schlaffen Beinen und schlaffen Gehirnen zusammenkommen, sondern mit Eifer und ernsthaft in unserem Innern etwas wollen. Und wenn wir von dem andern nicht erwarten, daß er uns amüsiert, sondern hin­gehen und selber etwas leisten wollen, daß wir etwas leisten wollen und vom anderen möglichst wenig erwarten, selber möglichst viel tun wol­len, dann haben wir die Form. Es ist so schwer, über allgemeine pro-grammatische Sachen zu sprechen. Es kommt auf das Leben an bei den Dingen, die im Leben stehen. Wenn man im Beruf darinnensteht und dann extra das machen soll, wird man müde im Beruf. Aber die Begei­sterung ist notwendig, die heute für die Jugend deshalb so leicht drin­nen sein kann, weil sie beim Alter so schrecklich fehlt. Es bewegt sich nicht, es fehlt die Begeisterung; das Alter hat Blei im Körper. Das kann in der Jugend schon Begeisterung hervorrufen, wenn Sie sich heute vornehmen, wirklich das, was Sie jeder denken, in der nächsten Zeit gemeinsam mit denen, die heute zusammen sind, zu besprechen. Da haben Sie schon Form genug, und wir werden allerlei Botschaften, aller­lei Fragen vom Goetheanum ausgehen lassen. Da werden Sie wieder etwas zu tun haben, und so suchen Sie einfach Gelegenheit, um sich zu treffen, und schwänzen möglichst wenig die Versammlungen. Dann wird es schon werden; das gibt die beste Form. Es ist tatsächlich vielleicht sogar der erste Grundsatz in bezug auf die Formbildung: Wir haben so und so viele Freunde, die wollen als ersten Grundsatz betrachten, unsere Zusammenkünfte nicht zu schwänzen. Dann ist schon eine Form da.

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Frage nach der Wandervogeljugend.

Rudolf Steiner: In Wirklichkeit braucht kein Gegensatz zu sein. Man geht in die Natur hinaus bei den Wandervögeln, man will die Ein­drücke der Natur haben, man will an der Natur das Menschliche erle-ben und so weiter. Wenn man nachher, nachdem man das alles ange­strebt hat und glaubt, es eine Zeitlang durchgemacht zu haben, in ein anderes Extrem verfällt, die Natur nicht mehr haben will und Bücher liest, dann hat man das erste auch nicht in der richtigen Weise gehabt. Heute kann der Mensch die ganze Welt durchwandern und sieht nichts. Man kann Ihnen die schönsten Exemplare von Italienreisenden, von englischen Wandervögeln zeigen, die gar nichts gesehen haben. Sie haben die Galerien angesehen, sie haben in Wirklichkeit nichts gesehen. Ich habe eine Anzahl von Wandervögeln gesehen, die den Drang gehabt haben, etwas zu sehen, die aber nichts gesehen haben.

Um etwas zu sehen, muß man ein Herz haben. Wenn man aber schon in der Volksschule verhindert wird, ein ganzer Mensch zu sein, sieht man nicht, was in der Natur ist. Wenn man wieder darauf einge­hen kann, was alles in der Natur ist, dann findet man auch in «Wie er­langt man Erkenntnisse der höheren Welten?» etwas anderes als andere. Dieses Buch ist durchaus nicht mit Ausschluß der Natur geschrieben, sondern durchaus im Anblick der Natur. Man hat gesagt, man könne meinem Stil ansehen, daß ich mit der Schreibmaschine schreibe, weil mir bei Tag die Zeit dazu fehle. Diese Kritik kann ganz gewiß nicht recht haben. Ich habe mir noch nie ins Bett, wo ich meine meisten Sachen schreibe, eine Schreibmaschine gestellt. Das würde auch grotesk aussehen. Es kommt darauf an, wie die Sachen konzipiert sind. Sie sind durchaus im Anschauen der Natur konzipiert. «Wie erlangt man Er­kenntnisse der höheren Welten?» ist durchaus ein Wandervogelbuch. Ich sehe keinen Gegensatz, der beruht darauf, daß man weder das eine noch das andere ganz ist. Als Wandervogel die Natur erleben, dann wird man auch das Buch erleben, das gar kein Buch sein soll. Es schaut nur so aus. Aber man kann eben gewisse Dinge nur durch Drucker­schwärze in die Welt setzen. Wenn die Jugendbewegung gelingt, wer­den wir auch über die Druckerschwärze hinwegkommen. Wir müssen zum Menschlichen kommen, nur, nicht wahr, die Anthroposophische

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Gesellschaft kann nicht alles auf einmal erreichen; sie tut schon viel dazu; es ist leider nicht gelungen. Es war meine Absicht, gewisse Din­ge, die man von Mensch zu Mensch sagt, niemals drucken zu lassen. Ich bin so froh, daß heute keiner mitschreibt. Es haben sich immer wieder Leute gefunden, die nachgeschrieben haben. Das, was eine schlimme Nachschrift war, ist hinausgekommen, und so hatte ich doch wieder das Mittel zu finden, die Dinge drucken zu lassen.

DIE WEGE ZU DEN VERLORENGEGANGENEN WIRKSAMEN KRÄFTEN DER NATUR 29. Juni 1924

#G217a-1981-SE161 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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DIE WEGE ZU DEN VERLORENGEGANGENEN

WIRKSAMEN KRÄFTEN DER NATUR

Bericht Rudolf Steiners in der Wochenschrift

«Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht. Nachrichten für deren Mitglieder»

1. Jahrgang, Nr. 25 vom 29. Juni 1924

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«An dem landwirtschaftlichen Kursus haben auch eine Anzahl jüngerer Mitglieder unserer Gesellschaft teilgenommen. Diese fühlten am Ende der Tagung noch das Bedürfnis, ihren Kreis zu versammeln. Das ge­schah in den frühen Morgenstunden des 17. Juni. Aus tiefstem Herzen sprachen da jüngere Freunde über ihre Sehnsucht, im Schaffen und in der Arbeit an die Einsichten aus dem geistigen Gebiete heranzukom­men, die den Menschen mit den wirksamen Kräften der Natur verbin­den. Es war eine Aussprache aus dem Innersten der Seele der Jugend heraus, die über den unfruchtbaren Materialismus hinauskommen möchte, der mit der Natur nicht verbindet, sondern den Menschen von ihr trennt und seine Arbeit zur Unfruchtbarkeit verurteilt. Ich durfte bei dieser Jugendversammlung auf die Wege hinweisen, auf denen diese Sehnsucht sich bewegen sollte, um zu einem Ziele zu kommen.»

Ansprache während der Breslau-Koberwitzer Tagung in Koberwitz

am 17. Juni 1924

I

Die Jugendbewegung von heute sucht wieder die Natur. Auch die anthroposophische Jugend sucht die Natur, aber sie sucht den Geist in der Natur. Als eine Art Appell an den Geist lebt dieses Suchen in den Herzen dieser Jugendbewegung. Aber es war gegenüber diesem Appell an den Geist in der Natur wenig Entgegenkommen in der aus den frü-heren Jahrhunderten stammenden Zivilisation. Denn die Menschheit hat nach und nach seit dem 15. Jahrhundert den Geist aus ihrem be­sonderen Weltenkarma heraus verlieren müssen.

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Nun ist dies so, daß man der Natur gegenüber am leichtesten den Geist verlieren kann, wenn man auf dem Wege ist, den Geist überhaupt zu verlieren. Denn bedenken Sie: der Natur ist beigegeben als die Grundbedingung ihres Werdens das Tote. Sie dürfen ja nicht vergessen, daß das Lebendige zu seinem Bestehen immer das Tote braucht. Den­ken Sie nur einmal, daß ja in allem Lebendigen eingelagert sein muß als Knochengerüst oder anderes Gerüst dasjenige, was aus dem Weltenall als das Tote aufgenommen wurde. Wir tragen daher den Tod unser ganzes irdisches Leben lang dadurch in uns, daß wir Unlebendiges, Totes haben müssen. Wir müssen Totes haben. In uralten Zeiten wußte man, daß dieses Tote gerade dasjenige ist, durch das sich das Lebendige die Offenbarungen des Geistigen erwirbt. Und noch aus lateinischen Zeiten klingt es heraus als ein Spruch wie dieser:

In sale sit sapientia.

Die sapientia ruht in dem Salz. Und man fühlte in den Zeiten, in denen noch die Traditionen von der alten instinktiven hellseherischen Weisheit vorhanden waren, daß man in dem toten Salze, mit dem man sich die Knochen, auch das sonstige Gerüst bildete, schauen muß das­jenige, was einen als Menschen anders macht als diejenigen Wesen, die ringsherum sind, und die nicht in der Lage sind, durch leblose Gerüste genügend in sich aufzunehmen von dem, was geistiges Licht, was die sapientia ist. Aber wir leben wiederum in einer Zeit des CJberganges, wo eben der junge Mensch fühlt, er finde auch in der Natur ringsherum gewissermaßen den Tod des Geistes, wenn er in dem Stil des letzten Jahrhunderts, mit den Traditionen des letzten Jahrhunderts sich dieser Natur nähert.

Die Natur baut sich einen weisheitsgetragenen Kristall auf. Der weisheitsgetragene Kristall kann uns entzücken, wenn wir in die Natur hinauswandern. Aber wir müssen uns zugleich klar sein, daß ja Götter sterben mußten, nicht den Erdentod, sondern den Tod der Verwand­lung, das heißt den Übergang ins Bewußtseinslose, um in den licht­erglänzenden Kristallformen wieder aufzuleben. Und wir müssen es heute in unser Empfinden hineinbekommen, daß, wenn wir hinaus-schauen in das Tote, uns da hindurch das in der Natur für Jahrtausende

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unbewußt ruhende Götterleben entgegenleuchtet. Wir müssen in unse­rer Seele die Möglichkeit finden, dieses Licht, das uns von der Sonne treffen kann, herzerquickend auch überall in der Natur als das Götter-licht zu fühlen und zu finden.

Suchen wir heute die in jahrtausendelanger Zeit ruhende göttliche Seelenwelt in der ganzen himmelerglänzenden Natur ringsherum zu empfinden! Und da gibt es denn für die Seelen viel, viel zu suchen. Die Jugend von heute sucht alte, alte Erkenntnisse der Menschheit, jene alten Erkenntnisse, die schon zu den alten Satumzeiten mit der Mensch­heit verbunden waren, die dann, als die Sonnen- und Mondenzeiten kamen, eintraten in eine Art von Weltenschlaf, in ein ruhendes Be­wußtsein, um aus ihrer eigenen Geistsubstanz heraus die Grundlagen zu bilden für dasjenige, was Erdennatur ist. Und so ist die Erdennatur eigentlich für die Seele, die das nur ahnt, die aber nicht durch diese Erdennatur durchschauen kann zum Geist, so ist die Erdennatur auch im Sommer für das heutige jugendfühlende Herz wie eine Schneedecke, allerdings in hellen Geisteskristallen hinglänzend, aber in sich den Tod, das heißt, die Bewußtlosigkeit, tragend und die Seele auffordernd, tief unter der seelischen Eisdecke die aus noch älteren Zeiten herstammen­den, feuerlodernden, vom Mittelpunkt der Erde ausstrahlenden leben­digen Worteswirkungen aus dem Irdisch-Natürlichen heraus zu emp­finden.

Es ist ein Kompliziertes, wenn es ausgesprochen ist, es ist aber ein elementar Einfaches, wenn es heute von der Jugend gesucht wird. Und wenn irgendwo ertönt der Appell an die Natur, dann kommt er heraus aus dieser Jugendseele. Sie will dann haben ein Erinnern, ein Sich-Ver­binden mit dem Götterquell alles Erd- und Sternenhaften. Und das ist dasjenige, was man empfindet, wenn heute die Jugend wieder nach der Natur sucht. Es liegt etwas von einem tiefernsten Weltenkarma in der nach Natur und Geist suchenden Jugend von heute, etwas von Welten­karma, was eigentlich nur im Ernste der Seele richtig ergriffen werden kann.

Denken wir nur einmal, wie vor Zeiten - wir nennen sie heute die Rousseau-Zeit, wir haben sie auch in Deutschland gehabt, in einer nach der Natur glühenden Vorgängerschaft Goethes und Schillers, in der

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Sturm- und Drangzeit, die aber viel weitere Kreise damals ergriffen hat als die bloß literarischen -, denken wir zurück, wie da der Ruf nach der Natur auf eine literarisch-abstrakte Weise durch weite Gebiete der Zivi­lisation geklungen hat. Stellen wir uns nur emmal die intensiv warmen Appelle an die Natur, die aus Rousseaus Seele kamen, so recht vor. Ja, viele werden heute schon ergriffen, wenn sie jene Rufe nach der Natur vernehmen. Aber was ist auf diese Rufe an die Natur erfolgt? Natur, Natur möchten wir wieder haben, so riefen die jungen Leute.

Goethe selbst rief hinein in einer fast greisenhaft bedächtigen Weise, daß es uns unheimlich ist: «Natur! Wir sind von ihr umgeben und um­schlungen... Ungebeten und ungewamt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf... » - Goethe wollte sich nicht zum Bewußtsein kommen lassen dasjenige, was da als Ruf nach der Natur bei den Rousseauisten und andern zum Vorschein kam. Und wenn man sich in den Goethe von damals hineinfühlt, dann bekommt man heute noch aus der Art und Weise, wie er gegenüber der Natur empfindet, und wie er an die Appelle der anderen herankam, etwas wie eine leise Gänsehaut, die über die Oberfläche des Menschen zieht, und man fühlt das Schauern, das er gerade bei diesem Rufe nach der Natur empfand. Dieser Ruf er­schien Goethe als etwas Unnatürliches selber, und er wollte in den Kreislauf des Tanzes der Natur, ohne daß es von ihm erbeten ist, auf­genommen sein, und er empfand, die Natur bittet nicht, die Natur warnt auch nicht.

Dann kam im 19. Jahrhundert die Erfüllung jenes Rufes nach der Natur. Es war das Wissen, das sogenannte Wissen von der Natur, das immer wieder ertönende Rufen nach der Natur im steifsten materialisti­schen Sinne nicht nur in bezug auf die Erkenntnis, in bezug auf alles Leben. Eine schauerliche Erfüllung des Rousseauismus kam so im 19. Jahrhundert wie ein Reich der Dämonen, die erst kicherten, als die Leute um Rousseau und die andern nach der Natur riefen, die dann hohnlachten, die Natur in einer ahrimanischen Gestalt, in der äußersten ahrimanischen Gestalt an die Menschheit herankommen zu lassen.

Das ist der Hintergrund. Und wenn wir dann nach dem Mittelgrund sehen, dann kommt die Stimmung des tragischen Karma, jene Stim­mung, wo etwas, was unten liegt in den Seelen der heutigen Jugend,

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nur unter den größten inneren Seelenschwierigkeiten heraufgeht in das volle Bewußtsein, etwas, was da unten seit dem Ablauf des Kali Yuga liegt. Dann muß dieser Appell an die Natur gefunden werden, dann muß das alte Götterwirken gefunden werden in alledem, was in der Natur erdet und strömet und luftet und feuert, und was über der Natur leuchtet und west und lebt. Gefunden werden muß er, dieser alte Geist der Natur. Aber wie wird vermieden dasjenige, was wie ein Regen wil­der Dämonen, aber auch wie ein Regen wilder Täuschungen dem Ruf nach der Natur nachgefolgt ist im 19. Jahrhundert? Das darf nicht so sein! Das 20. Jahrhundert darf nicht ein materialistisches werden! Und so ruft die Stimme des Karma in den Seelen der jungen Leute von heu­te: Wenn Ihr werden laßt das 20. Jahrhundert materialistisch, wie es das 19. war, dann habt Ihr vieles nicht nur von Eurer, sondern von der Menschlichkeit der ganzen Zivilisation verloren. - Das ist dasjenige, was man, wenn man solche Stimmen hören kann, empfindet und immer wieder und wiederum heute in mannigfaltigster Weise empfinden kann, wo die Jugendkreise sich versammeln. Das ist auch dasjenige, was ge­rade viele Mitglieder dieser Jugendbewegung in einem unbestimmten Fühlen doch so sicher macht, so daß gleichzeitig zu vernehmen sind in den jugendlichen Seelen Unbestimmtheiten, Unsicherheiten, Wege nach der einen, nach der andern Seite zu gehen, und zu gleicher Zeit heraus aus dieser Unbestimmtheit und Unsicherheit eine Sicherheit, die noch nicht ganz lichtvoll ist, die aber eine gewisse Kraft in sich trägt. Nur darf diese Kraft nicht gebrochen werden, muß nicht gebrochen werden. Dazu möchte aber Anthroposophie ihrerseits auch einiges tun, weil sie glaubt, den konkreten Geist in allen Einzelheiten zu vernehmen: in den Wurzeln der Pflanzen, in den Taten des Lichtes über den Pflanzen, in den seelischen Segnungen der Wärme durch die Pflanzen hindurch, weil sie glaubt, daß alles dasjenige, was wie ein mahnender Ruf zu­gleich der Menschheit beigegeben worden ist: die Tierheit, weil sie glaubt, daß an dieser Tierheit mannigfaches zu heilen ist. Tiere sind auf der Erde um der Menschen willen. Daß wir uns gegenüber den Tie­ren wie gegenüber aller Natur in der richtigen Weise verhalten, dazu ist notwendig, daß wir in aller Natur die einzelnen geistigen Wesen fühlen, empfinden und zuletzt auch erkennen.

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Das kann heute auch gefühlt werden, wenn die Notwendigkeit vor-liegt, nicht im allgemeinen über den Geist zu sprechen, sondern wenn die Notwendigkeit vorliegt, das geistige Wirken bis in die einzelnen Maßnahmen des landwirtschaftlichen und des sonstigen heutigen natür­lichen Betriebes zu suchen. Deshalb war es mir durchaus in tiefster Seele sympathisch, als da kam von Euch die Meinung, es könnte heute noch der eine oder der andere Gedanke gewechselt werden.

[Es folgte nun eine Aussprache.]

II

Sehen Sie, es ist die Sache so: Was heute noch diejenigen, die schon den Weg in die anthroposophische geistige Bewegung hinein gefunden haben, immer wieder in einem gewissen Sinne unsicher macht, was sie glauben machen muß, daß kräftige Stützen gesucht werden müssen, um den Weg zu finden nach dem, was man sucht: der Grund dafür ist ei­gentlich darin gelegen, daß junge Menschen, die mit vollem Herzen fühlen, wir müssen in einer neuen Art gegenüber dem, was uns an Weis­tümern aus den Jahrhunderten heraus entgegenkommt, den Weg zum Menschen suchen, fast immer wieder - wenigstens durch die äußeren Verhältnisse - zurückgeworfen werden in das alte Fahrwasser. Es konnte einem nicht klar dasjenige vor die Seele treten, was in unserer Zeit nach dem Kali Yuga offenbar unklar sein muß, was einem entge­gengetreten ist als das ja in der neueren Zeit nicht offenbare, aber ver­borgene Suchen der Menschheit aus der «Natur» heraus in die Natur hinein, aus dem «Geist» heraus in den Geist hinein.

Sehen Sie, unser lieber Freund Ritter sprach davon, wie er Bauern-kind war und aus dem Bauerntum herausgewachsen ist. Man konnte dieses Herauswachsen aus dem Bauerntum gerade in der Zeit in seiner ganz urphänomenalen Bedeutung erleben, die sich abgespiegelt hat, als Menschen wie Sie noch nicht einmal in der Wiege lagen, geschweige denn viele andere, die hier sitzen. Da kam sie schon heran, diese Zeit, in der die Unsicherheit begann. Sehen Sie, das Leben des bäuerlichen Menschen, wie es sich abgespielt hat im Laufe der Jahrhunderte, ist ja

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heute im Grunde genommen nur noch eine Mythe. Denn dieses Leben ist seelisch etwas ganz anderes als dasjenige, was hinweggehoben ei­gentlich aus allem Sein die Naturwissenschaft oder gar die Zivilisation in sich hat. Der Bauer war wirklich geistiger als der heutige Gelehrte. Und man konnte schon empfinden so in den sechziger, siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, wie eine Art gerade im Bauerntum lebende Geistigkeit abstirbt. Man hat es oftmals sehen können, wie die Bauern davon ergriffen wurden, daß ihre Söhne studieren müßten. Es war schon eine solche bäuerliche Abstraktion, wo gegen das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts die Idee aufkam, ihre Söhne müßten studieren. Es ist das schon etwas ganz anderes, als früher das Bauerntum war, das richtig mit der Natur zusammenlebendes Bauerntum war. Gewiß, da haben auch die Söhne studiert, aber sie haben nicht in dem Sinne stu­diert wie später, namentlich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Sie haben nicht studiert, die Söhne, im Bewußtsein des Bauern, sondern sie sind Pfarrer geworden. Und Pfarrer werden verband sich mit dem Bewußtsein des Bauern; Pfarrer werden verband sich im Bewußtsein damit, den Weg nach dem Geiste zu suchen. Suchen nach dem Geiste war dasjenige, was der Bauer wollte, wenn er seine Söhne durch die Bildungsanstalten durchschickte. Sie wurden aber in diesen Bildungs­anstalten nach und nach ganz geistesarm und geistesleer im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Da verwandelte es sich auch in dem Bewußtsein des Bauern: der Sohn müsse studieren - und dazu gesellte sich allmählich das andere: der Sohn, der wird uns fremd, der kommt in ein ganz anderes Leben hinein, den haben wir nicht mehr.

Man kann diese Dinge nur andeuten, denn sie sind eigentlich nur im Leben richtig zu begreifen gewesen. Und bei der ganzen Vergröberung des Lebens gegen das Ende des 19. Jahrhunderts kam dann dasjenige, was eigentlich die Abneigung, zuweilen in Haß überschlagende Antipa­thie gegen alles Geistige gerade beim Bauerntum war. Ich erinnere mich eines sehr netten Bildes aus einem Bauernkalender, das ja ganz gewiß von einem Journalisten ausgedacht war, aber das ausgedacht war, doch aus der Stimmung herausgeboren war, die in den siebziger, achtziger Jahren da war. Da wurde in einer gewissen Gegend Mitteleuropas das begründet, was man dazumal als Bauernbund auffaßte. Bauern taten

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sich zusammen. Und der Repräsentant eines solchen Bauernbundes war auf diesem Bilde, auf dem er weit hinein bis über die Ohren eine Zip­felmütze zog und dann sagte: «Koa Advokat, koa Lehrer derf in den Bauernbund hinein. » Sehen Sie, so war das Bewußtsein, daß man mit Gelehrsamkeit auf allen Gebieten, sogar auf dem Gebiete der Theologie nichts mehr anzufangen wußte. Man empfand sich sehr schlau, wenn man die landläufige Gelehrsamkeit aus dem Bunde ausschloß.

Nun, in dem drückte sich wirklich eine Anschauung aus, die gegen das Ende des 19. Jahrhunderts eben Menschen erzeugte, die eigentlich nur mehr «Bilder» waren. Die Menschen wurden eigentlich bloße Bil­der. Es gingen nicht mehr Menschen auf der Erde herum, bis auf ein­zelne Ausnahmen - es waren alles Bilder. Und als die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert kam, da war die zivilisierte Welt nicht von Men­schen, da war sie von Bildern bevölkert. Und es war die Zeit gekom­men, wo dasjenige, was Wahrheit sein sollte, in der merkwürdigsten Art in sein Gegenteil verkehrt wurde. Sehen Sie, es konnte einem da­zumal manchmal das Herz weh tun über die Dinge, die da als Wahrhei­ten hinausgestellt wurden. So kam die Lehre auf, welche geradezu nach Übervölkerung einzelner Gebiete drängte. Und man sagte: Wenn recht viele Leute geboren werden, so ist das ein Zeichen dafür, daß alles gut geht -, und man drängte geradezu zu der Bevölkerungszunahme. In der Bevölkerungszunahme, wie sie dazumal aufgefaßt wurde, wollte man ausdrücken etwas vom wirklichen Fortschritt. Sah man die ganze Sache geistig an, so mußte man sich sagen: durch den Einfluß einer sol­chen Weltanschauung kommen immer mehr und mehr Seelen herunter auf die Erde aus der geistigen Welt, die eigentlich verfrüht herunterka­men, geistige Frühgeburten waren und die im Grunde genommen gar nicht die Erde fanden. Die Menschen im letzten Drittel des 19. Jahr­hunderts haben ja die Erde gar nicht gefunden. Sie waren auf der Erde, ohne den Inhalt ihres Wesens gefunden zu haben, und gingen herum wie Anhängsel an ihren Verstand. Das war ja das Furchtbare, daß man die Menschen herumgehen sah als Anhängsel an ihren Ver­stand, nicht als Menschen!

Und so kam denn dieses 20. Jahrhundert, in welchem zahlreiche Seelen geboren wurden, die nun ihrerseits wiederum, so wie die andern

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als Schatten, als Bilder, fremd der Natur herumgingen, die tiefste Ent­behrung empfanden gegenüber diesen Menschenbildern und dasjenige, was ja das Menschliche ist, wiederum suchen mußten.

Da ist ja aber aus jenen alten Zeiten alles mögliche an äußeren sozia­len Einrichtungen geblieben, was eben der junge Mensch wie eine Art seelenbedrückender Einflüsse empfinden muß. Wären wir in der Lage, das äußere Leben schon zu formen, wie wir die Seelen wecken können durch Anthroposophie, dann würde ja das ganz anders sein, dann würde man heute nicht immer davon sprechen, daß Anthroposophie nun «konkret» werden solle, sondern dann würde man empfinden, An­throposophie könnte schon weltgestaltend werden, wenn die äußeren Mächte nicht hindernd eintreten würden. Denken Sie nur, wie wir uns heute entwickeln, gerade als junge Menschen heute entwickeln. Ja, der Dr. Ritter hatte die Möglichkeit, einzulaufen mit seiner Entwickelung in ein großes Gut, das, ich möchte sagen, noch in seinem Bestande in Köfering sich geistig erhalten hatte, während ringsherum die Welt sich materialistisch austobte. Das ist schon ein Phänomen. Aber denken Sie, so ist immer ein Phänomen da, wo Sie heute ein äußeres Refugium fin­den werden für dasjenige, was gerade die Jugend sucht. Da muß schon irgendwie dasjenige, was Anthroposophie ist, im Hintergrund stehen, weil auf andere Art wiederum in der Anthroposophie man nicht nach dem Verstande strebt, nicht studiert, sondern wiederum im besten Sinne des Wortes doch «Pfarrer» wird, wenn man lernen will. Und wenn dieser Übergang in einer merkwürdig schnellen Weise geschehen wird von dem alten Pfarrerwerden, das zur Lüge geworden ist, zu dem neuen Pfarrerwerden, dann tritt einem das ganz besonders entgegen. Und es ist ja ein merkwürdiger Weg, der sich gerade zum Beispiel in Köfering vollzog, den Sie am allerbesten verstehen werden, auch Ihrer Art sich werden begreiflich machen können, den ich bezeichnen möchte: als den Weg von der anthroposophischen Wesensgestaltung des Gutsherrn zu der anthroposophischen Gestaltung des Gutes.

Wir müssen im Herzen verstehen lernen dasjenige, was den doch immer nur gedachten Geist, der der Natur fremd bleibt, zu dem erar­beiteten Geist macht, der nun wiederum die Wege hinaus findet in die natürliche Tatsachenwelt. Deshalb habe ich in diesem Kursus versucht,

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ich möchte sagen, aus dem tatsächlichen Erleben heraus die Worte zu finden. Es kann heute nicht anders der Geist gefunden werden, als wenn man auch wiederum die Möglichkeit findet, in naturgegebene Worte ihn zu kleiden; damit werden auch die Empfindungen wieder stark werden. Sehen Sie, denken Sie sich, Sie verwandeln dasjenige, was man heute schon wissen kann - denn die Michael-Zeit ist da -, was scheinbar auch nur in Ideen lebt, in wirkliche Andacht, dann sind Sie auf dem allerbesten Wege. Sie sind auf dem allerbesten Wege, wenn Sie die Dinge in Andacht verwandeln. Ja, was kann dann alles aus den Dingen werden! Meditieren heißt ja: dasjenige, was man weiß, in An­dacht verwandeln, gerade die einzelnen konkreten Dinge. Wenn man natürlich solche Dinge sagt, wie ich sie vielfach jetzt gesagt habe, dann steht man ja, ich möchte sagen, in dem Lichte einer gewissen Frech­dachsigkeit. Denn diejenigen, die nicht in geistiger, sondern in konven­tioneller Art alt geworden sind in das 20. Jahrhundert hinein, empfin­den nicht das ganz tiefe Gefühl, das man bekommen kann, wenn man genötigt ist, das Gehirn des Menschen als etwas zu bezeichnen, was auf demselben Wege - nur etwas nach anderer Richtung hin - sich entwik­kelt hat wie der Dung. Aber empfinden Sie dieses in den Menschen hineingehende Kraftende: daß das Gehirn ist wie ein Dunghaufen sich bildend. Und empfinden Sie auch, wie im Düngen den weltenschaffen-den Kräften zurückgegeben wird dieses Dung-Stoffliche, damit der Geist es dort empfangen kann in einem viel höheren Sinn, als empfan­gen kann der menschliche Geist dasjenige, was ihm an Stofflichem von innen gegeben wird. Sehen Sie sich nun an diesen Menschen: er nimmt den äußeren Stoff auf, er hat ja keine Ahnung, was er mit der Pflanze, was er mit den gezüchteten Pflanzen von außen herein aufnimmt, er ist unwissend gegenüber dem, was er von außen herein aufnimmt. Und nun beginnt es in ihm durch Göttermacht zu arbeiten. Es beginnt schon zu arbeiten, wenn er auf der Zunge dasjenige, was er von außen emp­fängt, in Geschmack umwandelt. Da hält er noch etwas fest in der blo­ßen Sinnlichkeit, mit der da die Dinge umgewandelt werden. Dann ent­schwindet es dem Bewußtsein, und ein stark Weisheitsvolles tritt auf. Das alles im Menschen wandelt sich um und läuft darauf hinaus, daß wir den Geist fassen können, und das, was wir unbewußt so umgearbeitet

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haben, läuft aus in den Dunghaufen, der das Gehirn ausfüllt. Lernen wir so denken, daß wir nun als Menschen wirklich genötigt sind, diesen Dung in der richtigen Weise der Welt zu übergeben, daß wir ihn nicht nun so verwenden, als ob wir kleine Maschinen für die Kinder aus zus ammengepreßtem Dung machen wollten! So verwendet nämlich sein Gehirn der Mensch der Gegenwart. Er düngt nicht mit seinem Gehirn die Geistesfelder, damit der Geist auf diesen Geistes-feldern wirken kann; er macht Mechanismen aus demjenigen, was da ist. Und sehen Sie, wenn man nun weiß, wozu das Gehirn bestimmt ist: den Göttern, die zu den Menschen herabkommen, die Geistesfelder zu düngen - wenn man dann jene scheue Ehrfurcht bekommt, die aus einer solchen inneren Betrachtung der Sache hervorgeht, wenn man ahnen lernt, was da gerade. im Unbewußten und Unterbewußten vor sich geht, und dann dazu übergeht, die dem Menschlichen nachgestaltete Natur in seine Erkenntnis aufzunehmen, sie nach dem, was da ist, wirklich mit dem Dung zusammen sich anzuschauen, dann sieht man, wie darinnen langsam und allmählich sich bewußt wird, was unbewußt gerade im Menschen wirkt.

Dann lernt man wirklich aus sich erneuern dasjenige, was nur noch traditionell vor langer Zeit gelebt hat, was Glauben war, und wie so vieles, was aus alten, naturdurchdrungenen, hellseherischen Zeiten sich fortpflanzen mußte, unverstanden im Romanismus der neueren Zeit lebt, zum Beispiel so ein Spruch wie dieser:

Naturalia non sunt turpia.

Es sind schön alle Dinge der Natur. Wenn sie nicht schön erscheinen, so rührt dies vom Menschen her, weil er die Schönheit nicht sehen, nicht riechen kann. - Und stellen Sie einmal zusammen dasjenige, was Gesinnung nach dieser Richtung in alten Zeiten, was Gesinnung nach dieser Richtung in neuen Zeiten war. Sehen wir uns das ganze Gebiet der westlichen Kultur an. Ein großer Teil dessen, wie man da die Natur nachahmt, besteht darinnen, daß man wäscht. Gewiß, waschen ist natür­lich sehr gut, aber so, wie man heute in jenen europäisch-amerikanischen Gebieten das Waschen betreibt, wäscht man damit alle Natur überhaupt hinweg. Man betäubt sich selbst in das Reinigen hinein. Man erinnert

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sich, wie auch in Ägypten viel gewaschen wurde. Die ägyptische Reini­gung ist ja noch etwas, was man dann in Griechenland etwas vergaß, an das man sich aber noch erinnerte, indem man von der Katharsis sprach.

Das alles gibt uns das Bewußtsein, daß wir wiederum sagen, wenn wir hinaufgehen in der Natur an die irdische Oberfläche, sind wir im Bauch darinnen des kosmischen Wesens. Und dann bekommen wir auch jene Empfindung wiederum zurück, die ich eigentlich nur noch erlebt habe, wenn ich als ganz kleines Kind mit Bergleuten verkehrt habe, nicht mit den Kohlenbergbauern, sondern mit den Bergbauern, die nach Metallen gingen. Ja, da waren noch einige darunter, die wußten, wenn man heruntersteigt in die Erde, dann begegnet man Geistern, die man an der Oberfläche nicht findet; da begegnet man den Organen, mit denen die Erde vom Weltenall träumt und denkt. Da war das Denken noch etwas, was in der Erde lebte. Da wußte man eben noch, daß, wenn man hinaufschaut, man abstrakte Sterne schaut, wenn man aber etwas bekannt wird mit demjenigen, was unter der Erde ist, daß man dann im Weltall etwas sieht, was man bezeichnen kann mit demjenigen, was Bilder sind, aber Bilder, die entstehen, die wirklich lebendige Bil­der sind. Da lebte man dasjenige, was so trostlos totes Erkennen war beim Ablauf des Kali Yuga, wieder in das besonders Empfindungsge­mäße hinein. Können wir das, dann werden wir uns allmählich den Fesseln entringen, die die Zeit dem abstrakten Menschen angelegt hat.

Deshalb muß ich Sie immer wieder auf dasjenige hinweisen, wodurch Sie sich als junge Leute so ganz besonders intensiv verbinden können. Und das ist gerade das, daß Sie sich folgendes sagen: Anthroposophie trat auf. Sie kam unter die Menschen, die sich aus dem götterlosen Denken in der Umgebung herausentwickelten. Diese Menschen standen nun vor der Anthroposophie, sie verabstrahierten auch die Anthroposo­phie. Und so spielte sich etwas ab, was darinnen bestand, daß Anthro­posophie gut begriffen wurde, aber in einer etwas abstrakten Stimmung von den alten Leuten so um die Wende des 20. Jahrhunderts und hinein ins 20. Jahrhundert; sie begriffen eigentlich schon Anthroposophie. Und es ist eine nicht zufällige, sondern karmisch notwendige Erschei­nung, daß eigentlich es wiederum in der Geschichte unserer anthropo­sophischen Entwickelung eine Zeit gibt, in der diejenigen Menschen zu

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uns kamen, die in irgendeiner Weise ihr Pensionsdekret bekommen hatten, die aus der umliegenden Welt heraus sich in die Alterspensions­zeit begaben. Was, glauben Sie, mußte man, wenn man verantwortlich war für die Anthroposophie, immer wiederum erleben? Solange die Leute im Berufe der Zivilisation darinnen steckten, sagten sie: Ja, ich kann vielleicht der Anthroposophie mehr nutzen, wenn ich nicht Anthroposoph bin. Ich bin ihr ja ganz geneigt, aber ich kann ja nicht Anthroposoph sein. - Und sie kamen dann erst - und dann in jener merkwürdig innerlichen Weise oftmals -, wenn sie pensioniert waren. Wir haben viele gerade aus diesen Kreisen hineindringen sehen, so daß wir das schon durchlebt haben als eine gewisse Tragik.

Dann kam die Zeit, wo nun das ältere Mitglied wirken sollte. Es kam die Zeit vom Beginn des 20. Jahrhunderts, die ganz schwere Zeit im

zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, wo das spätere Mittelalter , wirken sollte. Das versagte! Das versagte, das spätere Mittelalter, bau­melte hin und her zwischen dem Entlassensein aus dem Doktorexamen

- und das konnte ja auch bei den Proletariern und bei dem Bauerntum der Fall sein -, baumelte hin und her zwischen dem Entlassensein aus dem Doktorexamen und dem Noch-nicht-angekommen-Sein beim Pen­sionszeugnis. Das baumelte so das ganze Leben: das konnte sich über­haupt nicht mehr zurechtfinden. Das war ganz in der Anthroposophie darinnen, meinte, es müßten aus der Anthroposophie heraus Taten ent­stehen. Da kam dann die Notwendigkeit, zur Dreigliederung zu schrei­ten, eine Dreigliederung im Wirtschaftlichen, im Leben zu schaffen, wo Geist-Natur hätte leben können. Und das wäre ja auch entstanden, wenn die Dreigliederung die Herzen ergriffen hätte. Aber es versagte. Man arbeitete mit Menschenwesenheiten zwischen dem Abiturienten-zeugnis und dem Pensionsdekret. Das ist die Tragik dieser Menschen.

Nun, es war unmöglich, weiterzukommen. Und gar erst, nachdem dieser Abgrund ist zwischen den Pensionierten und denjenigen, die nun nichts Rechtes mehr vom Doktorexamen, vom Abiturientenexamen hielten, nicht mehr diese Examen sehr stark respektierten, die sie nur noch gewohnheitsmäßig erwarben, und die sich auch nicht dasjenige einbildeten, was sich sehr stark in den siebziger, sechziger Jahren die Leute eingebildet hatten, daß man eigentlich die Sache so auffassen

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sollte, daß man die Menschen nicht in ihrem durchgeistigten Blute ein­herschreiten sehe, sondern sie irgendwo an der Wand zu hängen habe, eingerahmt als Zeugnis. Diese Gesinnung ist ja nun nicht mehr da. Und ich muß oftmals denken, wenn mir die heutige Jugend entgegenkommt, an einen alten Freund, den ich hatte. Ich hatte ihn kennengelernt, als er schon Ende der Fünfziger war; er hatte sich etwas erworben in einer kleinen Stadt; er war dann vierundsechzig Jahre alt und verband in merkwürdiger Weise dieses Alter mit seiner Jugend. Denn er hatte sich als achtzehnjähriger Mensch in ein Mädchen verliebt, sich auch mit die­sem verlobt, und wollte es nun in seinem Alter heiraten. Aber die Kir­che, in der seine Geburtsregister sich befanden, war abgebrannt, und so konnte er keinen Geburtsschein mehr erhalten und mußte auf die Hei­rat verzichten. Denn es war die Zeit, wo man irgendwo aufgeschrieben sein mußte, und man mußte dann durch die Registraturen sich überall Ausweise beschaffen, durch die man beweisen wollte, daß man da sei. Denn man sah nicht mehr darauf, daß man da ist, man sah nur darauf, daß es dasteht, daß man da ist.

Nun kam die Jugend und konnte eben nicht mehr an dasjenige so glauben, was im Doktordiplom, im Abiturientenzeugnis, was in ande­ren Zeugnissen steht, weil man nicht mehr daran glaubte, daß derjenige, der es ausgestellt hat, etwas kann. Es kam die Zeit, die sich in den tiefer angelegten Jugendseelen, gerade auch der Proletarier, auslebte, jenes wärmste Jugendstreben zu entfalten, wo sich aber die junge Menschheit wie durch einen Abgrund getrennt fühlte von der alten Menschheit. Der Abgrund, der ja wirklich in denen heute steckt, die im Beginne des 20. Jahrhunderts die Menschheit erreicht haben zwischen dem fünfundzwanzigsten und achtundvierzigsten Lebensjahr. Da war so recht die Gelegenheit dazu geboten, wenn man in dem beginnenden Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die Lebenszeit durchmachte zwischen dem fünfundzwanzigsten und dem achtundvierzigsten Lebensjahre, nicht mehr Mensch zu bleiben. Man hatte nur noch Kleider. Das spä­tere Mittelalter bildete schon eine Art Abgrund. Bei der jetzigen Jugend kommt es nicht auf die Art an, daß Anthroposophie immer mehr und mehr in Abstraktionen verwandelt wird, immer mehr und mehr in Ideen, Begriffe und sogar in Wissenschaften umgewandelt wird. Nun

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kommt die Jugend, die all das wiederum nur empfinden, leben will: in Taten - im Begreifen der Natur. Man kann aber nicht dabei stehenblei­ben. Das möchte ich heute mit besonderer Stärke betonen.

Man sagte, man schmiede das Michael-Schwert. Es handelt sich auch noch um etwas anderes. Es handelt sich darum, daß nun einmal diese Tatsache in dem okkulten Teil der Welt besteht, daß dasjenige, was als Michael-Schwert hergerichtet werden muß, daß das wirklich im Schmieden auf einen Altar getragen werde, der eigentlich äußerlich nicht sichtbar sein könnte, der unter der Erde liegen müßte, wirklich unter der Erde liegen müßte. Naturgewalten unter der Erde kennenzu­lernen führt dazu, zu verstehen, daß das Michael-Schwert im Schmie­den auf einen Altar getragen werden muß, der unter der Erde ist. Da muß es von empfänglichen Seelen gefunden werden. Es kommt darauf an, daß Sie mittun, indem Sie dazu beitragen, daß von immer mehr und mehr Seelen das Michael-Schwert gefunden werde. Und nicht allein damit ist es getan, daß es geschmiedet werde, sondern es ist damit erst etwas getan, daß es gefunden werde. Haben Sie das starke und zugleich bescheidene Selbstvertrauen als junge Menschen, daß Sie ja karmisch dazu berufen sind, das Michael-Schwert herauszutragen, es zu suchen und zu finden. Dann werden Sie gerade dasjenige haben, was Sie bei solchen Versammlungen, wie der heutigen, suchen. Dann werden Sie auch erkennen dasjenige, was ich Ihnen von der Anthroposophie sagen mußte, von den Schwierigkeiten sagen mußte, die diejenigen hatten, die zwischen dem Doktorexamen und dem Pensionsdekret standen. Und Sie werden daran erkennen, aber nun in recht instinktiv-bildhafter Art, so daß der Geist der Abstraktion, dieser furchtbare ahrimanische Geist, nicht auch Sie berühren kann - denken Sie in mächtigen Bildern daran -, daß zwei Worte sich verbunden haben in dem Streben der Jugend, die eigentlich im 19. Jahrhundert nicht mehr verstanden wurden.

Wenn man so das Wort «Wandervogel» hört, so kommt einem aus diesem Wort das Gefühl: weiß denn heute überhaupt ein gereister Mensch, was in alten Zeiten das Wandern war, was der Wanderer war? Zu bildhaftem Seelenerleben müssen wir wieder zurück. Weiß denn heute ein Mensch noch, wenn er der Vogelwelt gegenübersteht, daß man erst das durchmachen muß, was Siegfried durchmachen mußte, um die

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Sprache der Vögel zu verstehen? Wandervögel - Wotan, Siegfried: das ist dasjenige, was man erst wieder empfinden, verstehen muß. Man muß erst den Weg finden von der abstrakten Auffassung des Wandervogels zu dem in Wind und Wolken und Wellen des Erdorganismus webenden Wotan und zu der verborgenen Sprache der Vögel, die man kennenler­nen muß, indem man zuerst das Siegfried-Erinnern und das Siegfried­Schwert in sich rege macht, das nur die prophetische Vorausnahme des Michael-Schwertes war. Man muß den Weg finden vom Wanderer zu Wotan, den Weg finden, wie man leichten Herzens sich öffnend wieder glauben kann an die verborgene Sprache der Vögel. Sie alle empfinden den Weg vom Wandervogel zum Wotan, zum Siegfried. Und kann man das in seiner Seele tief empfinden, so wird man auch die Möglichkeit finden, die Natur zu empfinden, und wissen um diese Dinge. Und gewinnt man dann die Möglichkeit, auch noch ein wenig träumen zu können, so wird man mit den himmlischen Träumen in der Natur leben können.

Das ist dasjenige, worüber wir zunächst nicht nachdenken, sondern was wir durchempfinden, durchfühlen können. Tut Ihr das, so werdet Ihr eine Gemeinschaft bilden, die nach Eurem Herzen ist, in der Ihr finden werdet, über mancherlei Stufen schreitend, gerade dasjenige, was Ihr sucht. Wollen wir das in unserem Bewußtsein leben lassen, wollen wir damit unsere Seelen erfüllen!

DAS LEBEN DER WELT MUSS IN SEINEN FUNDAMENTEN NEU GEGRÜNDET WERDEN Ansprache während der anthroposophisch-pädagogischen Tagung in Arnheim am 20. Juli 1924

#G217a-1981-SE177 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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DAS LEBEN DER WELT MUSS IN SEINEN FUNDAMENTEN

NEU GEGRÜNDET WERDEN

Ansprache während der anthroposophisch-pädagogischen Tagung

in Arnheim am 20. Juli 1924

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Meine lieben Freunde! Die Frage und die Sehnsucht, die Ihnen auf dem Herzen liegen, insofern Sie sich als Jugend versammelt haben, sind sol­che, welche - hier weniger, dort mehr - seit etwa zwei Jahrzehnten in den Herzen der heutigen Jugend wahrgenommen werden können, seit dem Zeitpunkte, den man aus der Einsicht in die Entwickelung der Menschen heraus den Abschluß des Kali Yuga und den Aufgang des lichten Zeitalters nennt. Von vorneherein stößt man damit leicht auf ein Mißverständnis, wenn man den Aufgang des lichten Zeitalters gerade in unsere Zeit hereinsetzt. Zu bemerken ist nicht viel von Lichterwerden. Man kann sogar durchaus sagen: Die Verhältnisse sind seit der Jahr­hundertwende verworrener und dunkler geworden. Das ist nun einmal so: wie es in äußeren physikalischen Erscheinungen eine Trägheit gibt, wonach ein Körper seinen Zustand, den er angenommen hat, beibehält, so ist es auch bei allen Menschen: sie behalten noch eine Trägheit bei. Wir können sehen, wie das Beibehalten geschieht, wie die meisten Menschen heute keine Menschen des 20. Jahrhunderts sind, sondern bei den meisten hat man das Gefühl, man muß sie doch einmal vor hundert Jahren oder vor noch längerer Zeit gesehen haben. Sie sind nicht bloß in einem Lebensalter stehengeblieben, sondern - man möchte sagen, so paradox es klingen mag - sie sind stehengeblieben lange vor ihrer Geburt auf dem Standpunkt, auf dem sie gestanden haben.

Dennoch aber: wenn man auf die Wesenheiten hinsieht, die sich am Erdenschicksal betätigen, so findet man in ihnen, daß der Mensch aus einem Zeitalter herausgewachsen ist, in dem er mehr oder weniger durch schöpferisch geistige Mächte unbewußt geführt worden ist, die seine Seele aus Geisteskräften leiten. Der Mensch ist hineingewachsen in jenes Zeitalter, in dem sich gewisse geistige Wesen zurückgezogen haben und andere, die mehr ihre Impulse auf die Freiheit der Menschen angelegt haben, in die Entwickelung der Menschheit eingegriffen haben.

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Die Menschen verstehen mit ihrem Bewußtsein heute im allgemeinen noch wenig von diesem Eingreifen ganz neuer geistiger Mächte in die Entwickelung der Menschheit. Aber die Jugend hat tief im Unter­bewußten gerade seit der Jahrhundertwende eine innere Erlebnisart, durch die sie zeigt, daß sie fühlt: da rüttelt etwas erdbebenartig an der Entwickelung der Menschheit. Nun kommen die Menschen und sagen:

Es war doch immer so. Stets hat die Jugend sich gegen das aufgelehnt, was das Alter oder die Tradition in irgendein Zeitalter hineingestellt hat. Ganz Gescheite sagen dann: Die Kronprinzen sind die Opponen­ten der Imperatoren. Die Jugend lehnt sich auf gegen das Alter.

Das war allerdings bis zu einem gewissen Grade immer der Fall. Was aber heute in der Jugend, zum Teil ganz unbewußt, lebt, war eben noch nicht da. Und man kann sagen, es war niemals eine so große Dis­krepanz, ein so großer Gegensatz da zwischen dem, wie das innere Er­leben der Jugend äußerlich zum Ausdruck kommt, und dem, was das innere Erleben der Jugend eigentlich ist. Wir haben alle möglichen Be­wegungen der Jugend gesehen: Wandervogelbewegung, die freien Ju­gendgruppierungen mit den verschiedenen Namen, wir haben alles mögliche von dieser Art gesehen - solch ein Sich-Herausziehen aus all dem, was gegenwärtig die alten Leute für Zivilisation halten, ein Ent­fliehen-Mögen zu den Mächten, die man zunächst nicht bezeichnen will. Von Anfang an schien es mir ganz deutlich, daß durch einen Großteil der gegenwärtigen Jugend im tiefsten Unterbewußtsein eigent­lich ein Zug lebt von einem merkwürdig gründlichen Verständnis dafür, daß ein großer, erdbebenartiger Umschwung in der ganzen Entwicke­lung der Menschheit sich vollziehen muß.

Manchmal nimmt man solche Dinge in erschütternder und eindring­licher Art wahr. Immer möchte ich auf ein Beispiel hinweisen, das mir in Norwegen passiert ist. Es kam ein ganz junger Mensch, ein Gymna­siast, zu mir. Man wollte ihn abweisen, weil man meinte, solch ein ganz junger Kerl kann mich nur molestieren - in diesen Dingen wird ja nicht immer das Rechte gemeint. Das Karma machte es, daß ich gerade zur Türe herausging und ihn hereinnahm, weil ich meinte, trotzdem er ganz jung war, da ist es notwendig, daß man eine Unterredung herbei­führt. Er setzte mir auseinander: Unter uns Gynmasiasten lebt eine

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Sehnsucht nach etwas, was uns das Gymnasium nicht gibt. Wir möch­ten eine Jugendzeitschrift begründen - nur unter uns Gymnasiasten. Können Sie uns nicht helfen? - Ich will, wenn die Sache sich vollzieht, in jeder Art helfen, sagte ich. Dann sprach ich noch etwas weiter mit diesem jungen Mann, der Gymnasiast war, noch nicht einmal nahe dem Abiturium. Es zeigte sich da, daß in der unterbewußt klarsten Weise das vorhanden war, was viele Jugenderlebnis nennen, was ja recht we­nig von denen verstanden wird, die alt sind.

Ich habe viel gefragt bei jenen, die alt sind, was sie sich unter dem Jugenderlebnis vorstellen. Solche Antworten waren da: Die Jugend hat immer opponiert! Ich habe auch unter den Jungen gefragt, die behaup­teten, das Jugenderlebnis zu haben. Da habe ich auch keine Auskunft bekommen. Und dennoch habe ich gewußt, daß viele, die keine Aus­kunft geben können, in ihrem Unterbewußtsein das Jugenderlebnis kennen. Es kommt nur sehr wenig heraus, wenn die Jugend darüber spricht, aber es ist in klarster Weise im Unterbewußtsein durchaus vor­handen. Was die Jugend ganz deutlich und stark fühlt, das kommt zum Beispiel dann heraus, wenn die Jugend, sagen wir, ein Naturpanorama bewundert. Das hat man immer bewundert, aber nicht so, wie die heu­tige Jugend das tut. Vielleicht tut das die heutige Jugend viel unvoll­kommener. Aber die heutige Jugend tut es so, daß sie deutlich fühlt:

Wir sind hilflos. Wir müssen selbst zur einfachsten Naturbewunderung erst durch allerelementarste Kräfte gelangen.

Sehen Sie, wenn einem so etwas entgegentritt, dann fühlt man so tief, tief, welch innere Bedeutung diese ganze Jugendbewegung hat. Man er­innere sich nur an jenen gewaltigen Ruf nach der Natur, der zum Bei­spiel durch Rousseau und seine Anhänger da war. Auch da war eine Ju­gendbewegung, die sich explosionsartig sogar geäußert hat, viel stürmi-scher als die heutige Jugendbewegung. Was ist daraus geworden? Aus all dem ist das größté Philisterium des 19. Jahrhunderts geworden, ge­rade das, was macht, daß die Jugend sich heute so einsam fühlt inner­halb der gegenwärtigen zivilisierten Menschheit. Dasjenige, was an gei­stigem Leben vorhanden ist, was so vorhanden ist, daß sich die Men­schen konventionell darüber freuen oder selbst darüber sich ärgern, das ist alt geworden. Die Jugend fühlt noch viel mehr, sie fühlt es. Aber da

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muß ich den größten Wert legen auf das mehr Erkenntnismäßige. Es wird heute so viel revolutioniert, reformiert. Das ist so gräßlich alt, so gräßlich sterbensartig, revolutionieren zu wollen. Das sind alles Dinge, in die ein Mensch, der um die Jahrhundertwende geboren ist, wenn er ehrlich gegen sich ist, eigentlich nicht hineinwachsen kann. So fühlt die Jugend. Die Jugend fühlt: Wir haben nicht aufwachsen können, schon als Kinder nicht aufwachsen können neben älteren Leuten, an denen sich hätte heranbilden können freudige Begeisterung an der Natur. Nein, wir haben eigentlich wild die Seelen heranwachsen sehen. - Und da entstand der Drang: Heraus! Irgendwohin, wohin es auch sei! Immer nur heraus aus dem, was die Jahrhunderte heraufgetragen haben!

Ja, sehen Sie, wenn ich über diese Sache spreche, spreche ich unbe­stimmt. Das ist gerade das Notwendige im Leben: unbestimmt, aber herzhaft. Will man es zur gewohnten philiströsen Klarheit bringen, dann fälscht man es.

Nun, dieses Jugenderlebnis - ich habe es in der Morgendämmerung beobachtet. Jetzt ist es Tag. Ich habe es in der Morgendämmerung be­obachtet, ich habe den Unterschied wahrnehmen können zwischen den jugendlichen Menschen der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, die nun auch Jugend waren, begeisterungsvolle Jugend waren und die aus der jugendlichen Begeisterung heraus das Alte als grau angesehen haben und dann sich jugendlich gebärdet haben. Ich habe gesehen - ich rede, liebe Freunde, in konkretem Sinne - solch einen Vertreter in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Er hat seine Begeisterung dadurch ausgelebt, daß er eine große Rede auf einen gefallenen Acht­undvierziger (1848) gehalten hat. Ich habe mir diese Rede angehört. Es steckt ein Hofrat darin, sagte ich. Und er ist auch einer geworden. Ich habe andere kennengelernt, solche, die eigentlich schon dazumal nicht mit irgend etwas, was sich als Beruf herausgebildet hatte, in der Tradi­tion zusammenwachsen konnten. Ich habe jugendliche Menschen der achtziger Jahre früh ins Grab sinken sehen, weil es einfach für sie nicht möglich war, mitzuerleben die heraufgekommene Menschheitsentwik-kelung. Dazumal gab es unterbewußt eine Jugendbewegung, die etwas sehr Eigentümliches hatte, das ich so bezeichnen möchte: Sie hatte - Sie mißverstehen den Ausdruck nicht -, sie hatte etwas von Gschämigkeit,

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Schamhaftigkeit. Sie gestanden nicht, was sie fühlten. Es wollte nicht an die Oberfläche des Daseins, was sie fühlten; es siechte lieber dahin, als daß es an die Oberfläche des Daseins hätte kommen wollen. Es konnte vor allen Dingen nicht hineinwachsen in das, was die normale Entwik­kelung der Menschen in der Zeit anforderte. Nun kamen noch Jahre, Jahrzehnte. Das Gefäß wurde sozusagen voll, übersprudelnd. Die Schamhaftigkeit konnte nicht mehr weiter dauern. Die Jugend mußte sich selber fragen, woran sie litt, wonach sie sich sehnte. Ja, sehen Sie, das haben wir hereinfließen sehen können in verschiedene Jugendverei­nigungen dieser Jugendbewegung.

Vor verhältnismäßig nicht langer Zeit kam eine Anzahl von solchen Menschen auch in die anthroposophische Bewegung herein. In einer merkwürdigen Weise konnte eine gewisse Verständigung gefunden werden zwischen der anthroposophischen Bewegung und zwischen dem, was in den Herzen der Jugend lebt. Es ist heute vielfach trotz des kurzen Zeitraumes auf den mannigfaltigen Gebieten ein Hereinwachsen und Heranwachsen der Jugend in die anthroposophische Bewegung durchaus geworden. Aber das, was wir insbesondere in der Jugendbe­wegung brauchen, das ist ein Wollen, menschlich den Menschen zu verstehen, sonst kommen wir nicht über das fruchtlose Diskutieren hinaus. Menschlich den Menschen zu verstehen! Es ist schrecklich gleichgültig, was der Inhalt dessen ist, was wir miteinander reden, wo­von wir reden. Das Wesentliche ist, daß wir ein Herz haben für das, was der andere fühlt. Da werden wir einig sein, da kann man immer wieder einig sein. Aber das ist es, was gerade herzlich verstanden wer­den muß, und in dieser Beziehung wäre es schon notwendig, daß ein­zelne innerhalb der Jugendbewegung stehende jugendliche Führer noch etwas zunehmen würden in ihrem Vertrauen in die Aufrichtigkeit und Verläßlichkeit der anthroposophischen Bewegung. Sonst kommen wir mit der Jugendsektion nicht vorwärts.

Die Jugendsektion glaubte ich zuerst inaugurieren zu müssen wegen derjenigen, die in aufrichtiger, klarer Weise fühlen: Jugendsehnsucht im heutigen Lebensstile ist in mir. Die mögen sich einmal wirklich in die­ser Jugendsektion der Anthroposophischen Gesellschaft zusammenfin­den, dann werden wir das zustande bringen, wovon ich in den «Mitteilungen»

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spreche als von der Jugendweisheit. Es soll nichts Pedantisches sein, es soll etwas sein, was durch herzliches Wirken, durch herzliche Verständigung unter den Menschen erarbeitet wird. Gewiß, es handelt sich darum, daß man da tastend forscht, liebevoll erfaßt, wie es in der Jugend heute lebt. Zunächst haben wir versucht, eine Rundfrage zu ge­ben an die Jugend, wie man sich die Jugendbewegung vorstellt, damit Gedanken auftreten sollten, vielleicht nicht Gedanken, besser vielleicht Faustschläge des Gefühls, Spatenstiche des Willens. Alles hätte hinein­genommen werden können. Es ist nichts daraus geworden. - Nun ging ich einmal schärfer vor und habe jetzt eine Rundfrage an die Jugend ge­richtet. Sie werden sie gelesen haben: «Wie stellst Du Dir vor, daß die Welt der Menschheit um 1935 sein soll, wenn dasjenige, was Du in Deiner Jugend ersehnst, darin Platz haben soll?» Das ist etwas, wo­rüber man, wenn man es ernst nimmt, gründlich viel nachdenken, gründ­lich viel empfinden kann. Wir kommen wirklich nur weiter, wenn das Weiterkommen durchaus ehrlich ist, nicht phrasenhaft ist darauf kommt es an.

Wohin ist unsere alte Welt gesteuert? Wenn wir uns in die alte Welt einleben, dann sehen wir: wir leben nicht etwa in den drei Gliedern der Weltordnung, die bei der Dreigliederung angegeben worden sind. Wir leben heute in der Phrase, wir leben in der Konvention, wir leben in der Routine. Phrase, Konvention, Routine: das ist es, was auf allen Gebieten Platz gegriffen hat. Der junge Mensch hört von Kindheit an, wie man sich verhalten soll zum Menschen, so oder so. Er kann sich nicht darnach richten, weil er einen ganz neuen Impuls seit der Jahr­hundertwende in seiner Seele empfangen hat.

Ich habe schon durchaus fühlen können: Jahrzehnte vor dem Ablauf des Kali Yuga, da kommt etwas herauf, was sich nicht in irgendeinem Beruf, wie er traditionell aus alten Zeiten herkommt, einfügen läßt. Aber ernst ist es mir schon gewesen. Ich selbst steckte niemals in einem Berufe darin. Wäre ich untergetaucht in einem Berufe, dann gäbe es heute keine anthroposophische Bewegung. Anthroposophische Bewe­gung ist doch etwas, was ganz frei von allem Traditionellen geschaffen worden ist. Der geringste Hang zu dem oder jenem würde die anthro­posophische Bewegung unmöglich gemacht haben.

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Alle jene, welche nicht begreifen können, daß so etwas von Anfang an gemacht werden soll, sind Gegner der anthroposophischen Bewe­gung. Die anthroposophische Bewegung ist auf diese Weise die reinste Jugend. Warum sollte sich da Jugend und Jugend nicht zusammenfin­den? Wenn dann eine anthroposophische Bewegung ehrlich ist, und die Jugend nötig hat, ehrlich zu sein, was ist dazu vor allen Dingen nötig? Mut! Den lernt man sehr schnell oder gar nicht. Wirklich Mut! Mut, sich zu sagen: Das Leben der Welt muß in seinen Fundamenten neu ge­gründet werden.

Ich habe niemals etwas anderes im Unterbewußtsein der jugendlichen Menschen eingeschrieben gesehen. Das ist es wirklich: Die Welt muß aus dem Fundament neu begründet werden. Nun kommen alle die Wi­derlegungsgründe. Man diskutiert über alles mögliche, man deckt jenes gerne zu. Da verfälscht man das, was im Unterbewußtsein ganz ehrlich sein will und was Mut braucht. Anthroposophische Bewegung kann die hohe Schule des Mutes sein. Allerdings, es ist schwierig, daß die an­throposophische Bewegung die Schule des Mutes wird, weil sie von vie­len heute nicht als das Erste ins Leben hineingestellt wird, sondern als das, was nebenherläuft. Das kann man schon in den äußeren Veranstal­tungen sehen. Nach und nach wird es häufigerweise so, daß man gar nicht weiß, wie man weiter damit zurechtkommen soll, daß wir zu lau­ter Kursen eingeladen werden, daß sie irgendwo abgehalten werden, wo die Leute Sommeraufenthalt nehmen, so ganz nebenbei, wie man aufs Land geht. Warum soll man nicht statt der Konzerte, die man sonst hört, auch Anthroposophie haben? Es ist ein Symptom - an sich ist es nicht schlimm -, aber es ist ein Symptom dafür, daß der durchgreifende Mut nicht da ist, sich ins Substantielle in der Hauptsache hineinzule­ben, sich mit dem Geistigen der Anthroposophie in Wirklichkeit zu verbinden, nicht mit dem Schatten der Anthroposophie. Es ist schon eine Gefühlssache, um die es sich handelt. Ich will nicht kritisieren, ich will nur auf Symptome aufmerksam machen.

Es muß die Jugendbewegung den Anschluß an das finden können, was ich gestern als das große Ziel des Jahrhunderts hingestellt habe, als die Impulse der Michael-Zeit. Aber da muß die Jugend lernen, tiefer in sich selbst hineinzusteigen, alle Träumereien abstrakter Art zu vermeiden.

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Dann stellen sich schon die großen Probleme ein. Kein Philister versteht das, wenn man ihm sagt, Michael hat die kosmische Intelligenz verloren, er ist oben geblieben. Jetzt, nachdem Michael ohne dasjenige erscheint, was er verwaltet hat, handelt es sich darum, daß der Mensch auf Erden aufersteht, um es mit ihm, für ihn zurückzuerobern. Die Ju­gend wird so etwas verstehen, wenn sie sich selbst versteht. So etwas wird heute vielfach nur als poetische oder sonst geartete Verkleidung von irgend etwas Abstraktem genommen. Das ist es nicht. Darum han­delt es sich, daß das Geistige wesenhaft ist, daß wir lernen müssen mit dem Geistigen verkehren. Daß wir auch eine Empfindung erhalten, wie das Geistige sich anders verhält als vor emiger Zeit. Morgendliches Sonnenpanorama war vor einem Jahrhundert etwas, was der Schein war, der nebelhafte Schein von einer geistigen Welt. Man sah: hinter dem Vorhang, hinter dem nebelhaften Schein lebt das Geistige; vorher war es glimmend, im Laufe des 19. Jahrhunderts ist es anders gewor­den: da ist es flammend geworden. Da kommen aus dem Schein die Flammen heraus, und es ist nicht wahr, wenn jemand einen Sonnenauf­gang für die heutige Zeit nach dem Beispiele Herders oder Goethes be­schreibt. Er ist anders geworden: dazumal war er glimmend, heute ist er flammend geworden. Aus den Flammen kommt heraus das Auffor­dernde, zur Aktivität entflammende Geistige. Die geistige Welt hat eine andere Geste angenommen zur physischen Welt!

Wenn man diese Gesetze der geistigen Welt versteht, dann wird ver­hütet werden können, daß die Bewegung des 20. Jahrhunderts ein sol­ches Philisterium wird, wie die nachrousseauische Zeit es geworden ist. Wenn das, was jetzt die Jugend begeistern kann dadurch, daß sie wirk­lich jung ist, verständnisvoll ergreifen wird die geistige Welt, die da ist, dann wird die Michael-Zeit kommen. Wenn sie das nicht kann, dann wird im 20. Jahrhundert das Philisterium unendlich viel größer sein als jenes, welches auf Rousseau gefolgt ist. Bravere Bürger als im 19. Jahrhundert hat es in allen früheren Jahrhunderten nicht gegeben, ob­wohl die früheren den Rousseauismus nicht gekannt haben. Wir reden hier viel von Waldorfschulprinzip, von neuer Pädagogik. Das Wichtig­ste ist, daß man im Wachstum bleibt. Jeden Tag ist die Gefahr vorhan­den, daß die Dinge sauer werden. - Das ist es, worauf es ankommt, daß

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man nicht vom Kleben an den Gewohnheiten einschläft, wenn man et­was tun soll, wenn man etwas bereiten soll. Wir müssen uns angewöh­nen, zwischen Schlafen und Wachen einen Abgrund aufzurichten; wir müssen richtig schlafen, aber auch richtig wachen können. Wir schlafen aber fortwährend da, wo wir wachen sollen. Wir sind nicht so geartet, daß wir uns sagen: wir müssen immer neu und neu aufwachen, sonst nützen uns alle Reform- und Revolutionsbewegungen nichts. Gerade bei den besten Bestrebungen ist es viel schlechter, wenn sie vom Phili­sterium ergriffen werden. Wo ein starkes Licht ist, ist auch ein starker Schatten. Was notwendig ist, ist nicht, daß man dieses oder jenes aus-denkt, was geschehen soll, sondern daß die Menschen fühlen: das Gei­stige draußen spricht aus einer flammenden Natur, der Sonnenaufgang ist etwas anderes geworden.

Aber unsere Herzen sind auch anders geworden, wir tragen nicht mehr dieselben Herzen in der Brust. Unser physisches Herz ist hart, unser ätherisches Herz ist beweglicher geworden. Wir müssen die Mög­lichkeit finden, uns an unser übersinnliches Herz zu wenden. Wir müs­sen nach dieser Richtung hin Geisteswissenschaft verstehen. Geistes­wissenschaft, so trocken es klingt, ist etwas geworden, wovon alle Leute reden. Wissenschaft ist etwas recht Faules. Man muß sich schon klar sein, Geisteswissenschaft ist es, was leben muß in den Herzen. Die Herzen der Jugend sind wie geschaffen, auf diesem Gebiete das Rich­tige zu fühlen. Man muß den Mut haben, wirklich es zu denken. Schiller hat aus seiner Begeisterung heraus der Welt viel zu sagen gehabt. Er ist unter merkwürdigen Umständen gestorben. Aber man hat ihn doch se­ziert und sein Herz gefunden. Es war ein leerer Beutel, ganz vertrock­net, verbrannt.

So werden alle Herzen verbrennen, die sich in ihrer Erneuerung er­greifen. Wollen wir mit der Spiritualität ernst machen, dann müssen wir selbst uns mutvoll gestehen: Wenn es in uns nicht geht, mit der Welt mitzuleben, so kommt das davon her, daß wir neue Herzen haben müs­sen. Das sollen wir aber nicht bloß als Phrase empfinden. Werden wir uns bewußt, daß wir neue Herzen haben, daß neue Herzen die Welt ganz anders fühlen müssen als die alten Herzen, und nehmen wir das ganz ernst, dann wird aus der Jugendbewegung etwas werden wie

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eme Flamme, die der Flamme des Sonnenaufgangs entgegenschlagen wird.

Das kann aber erst werden, nicht aus Diskussion über das Jungsein, nicht aus dem Sprechen über Erlebnisse. Dabei erlebt man sonderbare Dinge. In Breslau hat man mich bei den Alten empfangen, indem man mich Vater genannt hat. Bei der Jugend hat man gesagt, ich sei der Al­lerjüngste, obwohl ich dreimal so alt war wie die meisten der Anwesen­den. Ja, es kommt darauf an, daß man sich dies selber gestehen kann. Flammen von innen, Flammen von außen herein: die beiden Flammen müssen zusammenschlagen. Es kommt nicht darauf an, daß man dieses oder jenes lernt, bestimmt oder definiert. Es kommt darauf an, daß man eine neue Begeisterung wirklich aufbringt. Nie tzsche hat ein schö­nes Wort über Mich elet geprägt. Michelet erscheint ja vielem gegenüber als begeisterungsfähiger Mensch. Michelet, sagt Nietzsche, die Begeiste­rung, die sich den Rock auszieht. - Michelet hat nämlich immer Zeit gehabt, den Rock auszuziehen, wenn er in Begeisterung geriet. Miche­let hatte immer Zeit gehabt, um mit Wärme in Begeisterung zu kom­men, sich aber dabei den Rock auszuziehen. Man spürt, wie dieser Mann die Seidenweste angezogen hat, und man spürt, wie er Zeit hat, um so recht in die Begeisterung zu kommen, sich langsam den Rock auszuziehen. - Die rechte Begeisterung aber ist die, die nicht Zeit hat, den Rock auszuziehen, die unter dem Rocke schwitzt und nicht be­merkt, daß sie schwitzt. Deshalb: Begeisterung, meine lieben Freunde! Begeisterung, die uns so überwältigt, daß wir den Rock anbehalten, daß wir die Begeisterung aus dem vollen, unmittelbaren Leben heraus zu ent­wickeln uns gedrängt fühlen. Wir brauchen heute wirklich eine Über­windung des in sich Klebenden, des Müden. Es ist so müßig, klar wer­den zu wollen. Wir dürfen auch nicht Zeit dazu haben, nach alter Art klar werden zu wollen. Wir haben es nötig, wirklich in Begeisterung zu kommen. Begeisterung wird alles machen. Dann wird das Wort einen Sinn haben: Begeisterung trägt den Geist in sich. - Das ist etwas, was sehr natürlich ist. Enthusiasmus braucht man. Enthusiasmus trägt den Gott in sich. Da ist der Gott im Worte.

Innerlich zusammenwachsen mit der Flamme, die sich heute entzün­det, auf daß die Michael-Impulse verwirklicht werden! Ohne daß

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Flammen da sind, können sie nicht verwirklicht werden. Aber um durchflammt zu leben und zu arbeiten, dazu ist notwendig, daß man selber Flamme wird. Nur die Flamme wird von der Flamme nicht ver­zehrt. Wenn wir so fühlen können, daß wir Flammen werden, die von den Flammen nicht verbrannt werden, dann können wir ruhig die physi­schen Herzen als leere Beutel zurücklassen, denn wir haben das ätheri­sche Herz, das verstehen wird, daß die Menschheit in ein neues Zeital­ter hineinrückt: in das Leben der Geistigkeit. Das Zusammenwachsen mit der Geistigkeit wird das volle Jugenderlebnis sein.

Anhang

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Der Zeitraum, in welchem die hier gesammelten Jugendansprachen stattfanden, ist ein gewichtiger innerhalb der anthroposophischen Bewegung. Es ist daher gerechtfertigt, weil dieser Band der Rudolf Steiner Gesamtausgabe sich vor­nehmlich an einen bestimmten Leserkreis, die Jugend, richtet, einiges Doku­mentarische im Anhang festzuhalten. Dazu gehören in erster Linie der Aufruf von Rudolf Steiner «An das deutsche Volk und die Kulturwelt», auf den er selbst zu sprechen kommt, und der «Aufruf an die akademische Jugend», der zum ersten Hochschulkurs im Goetheanumbau führte. Von Bedeutung ist nicht minder der Aufruf vom 13. Februar 1923 an die Mitgliedschaft der Anthropo­sophischen Gesellschaft nach der Brandkatastrophe. Anschließend findet in Stuttgart die Delegiertenversammlung Ende Februar 1923 statt, die in dem Band «Anthroposophische Gemeinschaftsbildung», Bibl.-Nr. 257, veröffentlicht wurde. Es kommt während dieser Versammlung auf Vorschlag von Rudolf Steiner neben der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland zur Be­gründung einer «Freien Anthroposophischen Gesellschaft». Dieser von keiner Seite erwartete Ratschlag stellte beide Gesellschaften vor neue Probleme. Doch hatte Rudolf Steiner in einem «Memorandum» die Grundsätze formuliert, wel­che das Mittel abgeben sollten, sich «zu vereinigen», so überraschend das auch klingt. Er führte damals in einer Ansprache am 28. Februar vor den Delegierten aus: «Die beiden Gruppen können ja unmöglich sich miteinander verständigen. Deshalb ist das nicht eine Scheidung in der Gesellschaft, was ich vorschlage, sondern es ist gerade das Mittel, zu vereinigen. Auf geisteswissenschaftlichem Boden vereinigt man sich dadurch, daß man differenziert, individualisiert, nicht daß man zentralisiert.« So ist das Memorandum in der Tat ein Dokument von hohem Wert und hat seine formbildende Kraft nicht etwa durch den vergange­nen damaligen Umstand eingebüßt.

In den Anhang wurden auch Berichte über Ansprachen aufgenommen, von denen keine Nachschriften vorliegen. Herr Kurt von Wistinghausen hat für diese Buchausgabe seine Schilderung der fehlenden Breslauer Zusammenkunft besonders durchgesehen und verbessert, wofür wir ihm auch an dieser Stelle danken. - Der Brief zur Frage der Berufswahl wurde uns von einem Stuttgarter jetzt nicht mehr lebenden Mitglied vor Jahren zur Verfügung gestellt.

Fred Poeppig berührt außer seiner Schilderung auf Seite 208 noch das Problem der Berufswahl und vermittelt, was Rudolf Steiner in Dornach darüber aus­sprach. «In einer anderen Gruppe, die mit dem Berufsproblem rang, gab Rudolf Steiner den Rat, jede Woche sich zusammenzufinden, um die Probleme zu be­sprechen. Keiner darf fehlen von Ihnen. Und indem Sie immer wieder sich ver­sammeln, um sich Ihre Ziele klarzumachen, werden Sie mit der Zeit die rechten Wege finden.«

Zum Abschluß veröffentlichen wir noch Aufzeichnungen von Maria Strakosch­-Giesler. Sie nahm als Malerin an den zwei Vorträgen während des Jugendkurses

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im Oktober 1922 in Stuttgart teil und hat darüber in Form von Er­innerungsbildern, wie sie sie nennt, berichtet. Sie betont: «Es war die Aufgabe Rudolf Steinees, in diesem Jugendkurs den Sinn fir das Künstlerische in den Hörern zu wecken, und so wurde die Malerei und die Farbenwelt behandelt. »

Fast täglich fand noch ein Kursus über Sprachgestaltung von Marie Steiner statt, zu dem Rudolf Steiner Erläuterungen und Ergänzungen gab. In dem Buch «Methodik und Wesen der Sprachgestaltung», Bibl.-Nr. 280, wurde dieser «Kursus über künstlerische Sprachgestaltung 1922» in der Nachschrift von Marie Steiner veröffentlicht.

AN DAS DEUTSCHE VOLK UND AN DIE KULTURWELT!

#G217a-1981-SE193 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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AN DAS DEUTSCHE VOLK UND AN DIE KULTURWELT!

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Sicher gefügt für unbegrenzte Zeiten glaubte das deutsche Volk seinen vor einem halben Jahrhundert aufgeführten Reichsbau. Im August 1914 meinte es, die kriegerische Katastrophe, an deren Beginn es sich gestellt sah, werde diesen Bau als unbesieglich erweisen. Heute kann es nur auf dessen Trümmer blicken. Selbstbesinnung muß nach solchem Erlebnis eintreten. Denn dieses Erlebnis hat die Meinung eines halben Jahrhunderts, hat insbesondere die herrschenden Ge­danken der Kriegsiahre als einen tragisch wirkenden Irrtum erwiesen. Wo lie­gen die Gründe dieses verhängnisvollen Irrtums? Diese Frage muß Selbstbesin­nung in die Seelen der Glieder des deutschen Volkes treiben. Ob jetzt die Kraft zu solcher Selbstbesinnung vorhanden ist, davon hängt die Lebensmöglichkeit des deutschen Volkes ab. Dessen Zukunft hängt davon ab, ob es sich die Frage in ernster Weise zu stellen vermag: wie bin ich in meinen Irrtum verfallen? Stellt es sich diese Frage heute, dann wird ihm die Erkenntnis aufleuchten, daß es vor einem halben Jahrhundert ein Reich gegründet, jedoch unterlassen hat, diesem Reich eine aus dem Wesensinhalt der deutschen Volkheit entspringende Aufgabe zu stellen. - Das Reich war gegründet. In den ersten Zeiten seines Be­standes war man bemüht, seine inneren Lebensmöglichkeiten nach den Anfor­derungen, die sich durch alte Traditionen und neue Bedürfnisse von Jahr zu Jahr zeigten, in Ordnung zu bringen. Später ging man dazu über, die in mate­riellen Kräften begründete äußere Machtstellung zu festigen und zu vergrößern. Damit verband man Maßnahmen in bezug auf die von der neuen Zeit gebore­nen sozialen Anforderungen, die zwar manchem Rechnung trugen, was der Tag als Notwendigkeit erwies, denen aber doch ein großes Ziel fehlte, wie es sich hätte ergeben sollen aus einer Erkenntnis der Entwickelungskräfte, denen die neuere Menschheit sich zuwenden muß. So war das Reich in den Weltzusam­menhang hineingestellt ohne wesenhafte, seinen Bestand rechtfertigende Ziel­setzung. Der Verlauf der Kriegskatastrophe hat dieses in trauriger Weise geof­fenbart. Bis zum Ausbruche derselben hatte die außerdeutsche Welt in dem Verhalten des Reiches nichts sehen können, was ihr die Meinung hätte erwek­ken können: die Verwalter dieses Reiches erfüllen eine weltgeschichtliche Sen­dung, die nicht hinweggefegt werden darf. Das Nichtfinden einer solchen Sendung

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durch diese Verwalter hat notwendig die Meinung in der außerdeutschen Welt erzeugt, die für den wirklich Einsichtigen der tiefere Grund des deutschen Niederbruches ist.

Unetmeßlich vieles hängt nun für das deutsche Volk an seiner unbefangenen Beurteilung dieser Sachlage. Im Unglück müßte die Einsicht auftauchen, welche sich in den letzten fünfzig Jahren nicht hat zeigen wollen. An die Stelle des kleinen Denkens über die allernächsten Forderungen der Gegenwart müßte jetzt ein großer Zug der Lebensanschauung treten, welcher die Entwickelungs­kräfte der neueren Menschheit mit starken Gedanken zu erkennen strebt, und der mit mutigem Wollen sich ihnen widmet. Aufhören müßte der kleinliche Drang, der alle diejenigen als unpraktische Idealisten unschädlich macht, die ihren Blick auf diese Entwickelungskräfte richten. Aufhören müßte die Anma­ßung und der Hochmut derer, die sich als Praktiker dünken, und die doch durch ihren als Praxis maskierten engen Sinn das Unglück herbeigeführt haben. Berücksichtigt müßte werden, was die als Idealisten verschrieenen, aber in Wahrheit wirklichen Praktiker über die Entwickelungsbedürfnisse der neuen Zeit zu sagen haben.

Die «Praktiker« aller Richtungen sahen zwar das Heraufkommen ganz neuer Menschheitsforderungen seit langer Zeit. Aber sie wollten diesen Forderungen innerhalb des Rahmens altüberlieferter Denkgewohnheiten und Einrichtungen gerecht werden. Das Wirtschaftsleben der neueren Zeit hat die Forderungen hervorgebracht. Ihre Befriedigung auf dem Wege privater Initiative schien un­möglich. Überleitung des privaten Arbeitens in gesellschaftliches drängte sich der einen Menschenklasse auf einzelnen Gebieten als notwendig auf; und sie wurde verwirklicht da, wo es dieser Menschenklasse nach ihrer Lebensanschau­ung als ersprießlich erschien. Radikale Überführung aller Einzelarbeit in gesell­schaftliche wurde das Ziel einer anderen Klasse, die durch die Entwickelung des neuen Wirtschaftslebens an der Erhaltung der überkommenen Privatziele kein Interesse hat.

Allen Bestrebungen, die bisher in Anbetracht der neueren Menschheitsforde­rungen hervorgetreten sind, liegt ein Gemeinsames zugrunde. Sie drängen nach Vergesellschaftung des Privaten und rechnen dabei auf die Übernahme des letz­teren durch die Gemeinschaften (Staat, Kommune), die aus Voraussetzungen stammen, welche nichts mit den neuen Forderungen zu tun haben. Oder auch, man rechnet mit neueren Gemeinschaften (zum Beispiel Genossenschaften),

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die nicht voll im Sinne dieser neuen Forderungen entstanden sind, sondern die aus überlieferten Denkgewohnheiten heraus den alten Formen nachgebildet sind.

Die Wahrheit ist, daß keine im Sinne dieser alten Denkgewohnheiten gebil­dete Gemeinschaft aufnehmen kann, was man von ihr aufgenommen wissen will. Die Kräfte der Zeit drängen nach der Erkenntnis einer sozialen Struktur der Menschheit, die ganz anderes ins Auge faßt, als was heute gemeiniglich ins Auge gefaßt wird. Die sozialen Gemeinschaften haben sich bisher zum größten Teil aus den sozialen Instinkten der Menschheit gebildet. Ihre Kräfte mit vol­lem Bewußtsein zu durchdringen, wird Aufgabe der Zeit.

Der soziale Organismus ist gegliedert wie der natürliche. Und wie der natür­liche Organismus das Denken durch den Kopf und nicht durch die Lunge be­sorgen muß, so ist dem sozialen Organismus die Gliederung in Systeme notwen­dig, von denen keines die Aufgabe des anderen übernehmen kann, jedes aber unter Wahrung seiner Selbständigkeit mit den anderen zusammenwirken muß.

Das wirtschaftliche Leben kann nur gedeihen, wenn es als selbständiges Glied des sozialen Organismus nach seinen eigenen Kräften und Gesetzen sich ausbildet, und wenn es nicht dadurch Verwirrung in sein Gefüge bringt, daß es sich von einem anderen Gliede des sozialen Organismus, dem politisch wirk­samen, aufsaugen lässt. Dieses politisch wirksame Glied muß vielmehr in voller Selbständigkeit neben dem wirtschaftlichen bestehen, wie im natürlichen Orga­nismus das Atmungssystem neben dem Kopfsystem. Ihr heilsames Zusammen-wirken kann nicht dadurch erreicht werden, daß beide Glieder von einem ein­zigen Gesetzgebungs- und Verwaltungsorgan aus versorgt werden, sondern daß jedes seine eigene Gesetzgebung und Verwaltung hat, die lebendig zusammen-wirken. Denn das politische System muß die Wirtschaft vernichten, wenn es sie übernehmen will; und das wirtschaftliche System verliert seine Lebenskräfte, wenn es politisch werden will.

Zu diesen beiden Gliedern des sozialen Organismus muß in voller Selbstän­digkeit und aus seinen eigenen Lebensmöglichkeiten heraus gebildet ein drittes treten: das der geistigen Produktion, zu dem auch der geistige Anteil der beiden anderen Gebiete gehört, der ihnen von dem mit eigener gesetzmäßiger Rege­lung und Verwaltung ausgestatteten dritten Gliede überliefert werden muß, der aber nicht von ihnen verwaltet und anders beeinflußt werden kann, als die nebeneinander bestehenden Gliedorganismen einer natürlichen Gesamtorga­nismus sich gegenseitig beeinflussen.

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Man kann schon heute das hier über die Notwendigkeiten des sozialen Or­ganismus Gesagte in allen Einzelheiten vollwissenschaftlich begründen und ausbauen. In diesen Ausführungen können nur die Richtlinien hingestellt wer­den, für alle diejenigen, welche diesen Notwendigkeiten nachgehen wollen.

Die deutsche Reichsgründung fiel in eine Zeit, in der diese Notwendigkeiten an die neuere Menschheit herantraten. Seine Verwaltung hat nicht verstanden, dem Reich eine Aufgabe zu stellen durch den Blick auf diese Notwendigkeiten. Dieser Blick hätte ilim nicht nur das rechte innere Gefüge gegeben; er hätte sei­ner äußeren Politik auch eine berechtigte Richtung verliehen. Mit einer solchen Politik hätte das deutsche Volk mit den außerdeutschen Völkern zusammenle­ben können.

Nun müßte aus dem Unglück die Einsicht reifen. Man müßte den Willen zum möglichen sozialen Organismus entwickeln. Nicht ein Deutschland, das nicht mehr da ist, müßte der Außenwelt gegenübertreten, sondein ein geistiges, politisches und wirtschaftliches System in ihren Vertretern müßten als selbstän­dige Delegationen mit denen verhandeln wollen, von denen das Deutschland niedergeworfen worden ist, das sich durch die Verwirrung der drei Systeme zu einem unmöglichen sozialen Gebilde gemacht hat.

Man hört im Geiste die Praktiker, welche über die Kompliziertheit des hier Gesagten sich ergehen, die unbequem finden, über das Zusammenwirken dreier Körperschaften auch nur zu denken, weil sie nichts von den wirklichen Forde­rungen des Lebens wissen mögen, sondern alles nach den bequemen Forderun­gen ihres Denkens gestalten wollen. Ihnen muß klar werden: entweder man wird sich bequemen, mit seinem Denken den Anforderungen der Wirklichkeit sich zu fügen, oder man wird vom Unglücke nichts gelernt haben, sondern das herbeigeführte durch weiter entstehendes ins Unbegrenzte vermehren.

Dr. Rudolf Steiner.

[Flugblatt März 1919]

AUFRUF AN DIE AKADEMISCHE JUGEND Herbst 1920 Kommilitonen!

#G217a-1981-SE197 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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AUFRUF AN DIE AKADEMISCHE JUGEND

Herbst 1920

Kommilitonen!

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Studenten möchten zu Studenten in ernster Zeit ein ernstes Wort reden: Wir Studenten, die ins Hochschulwissen und Hochschulwesen hineinwach­sen, erleben es anders als diejenigen es erlebten und noch erleben, die darin ihr eigenes Werk erkennen. An ihm erfahren wir täglich als lebensfeindlich eine Macht, die denjenigen, die in ihm ihr eigenes Leben gelebt haben, nicht gegen­überstand und deshalb auch nicht vor die Seele trat. Es ist die Macht einer un­geheuren Lebenslast, deren Gewicht aus alledem besteht, was mit Hochschul­wissen und Hochschulwesen in solcher Weise zusammenhängt, daß von ihm ins zusammenbrechende Geistes- Rechts- und Wirtschaftsleben des Abendlandes keine aufbauwirkende Kraft fließt.

Wir sehen Hochschulwissen und Hochschulwesen vor die Prüfung des Lebens selber gestellt. Und wir können die Frage nicht bejahen: werden sie diese Prüfung bestehen?

Wir blicken auf die einzelnen Fakultäten:

Theologie ist von erstarrtem Dogmatismus und am Äußerlichen haftendem Philologengeist gelähmt. Eine naturalistische Jesusauffassung hat alles geistige Christentum zerstört. Und wo dies nicht ganz zerstört ist, ist es zum orthodo­xen Wortglauben geworden. Volksfremd ist das eine wie das andere. Zum Her­zen der breiten Menschenschichten haben beide keinen Zugang mehr.

Rechtswissenschaft, Staatslehre, Nationalökonomie und alle die anderen so­ziologischen Unterdisziplinen sind unvermögend, den - nach naturwissen­schaftlichem Muster - starr auf das Gewordene gerichteten Blick hineinzusen­den bis in die Quellen des sozialen Werdens und sozialen Lebens. Durch die furchtbaren Erschütterungen der letzten Jahre sind diese Quellen aufgebrochen. Ihre Wasser stauen und brechen sich aber an allen den Hemmnissen, die im äußeren Leben als Einrichtungen, Programme und Gesinnungen aufgetürmt worden sind, und deren Ursprung gerade in dem toten Denken aller derer liegt, die sich aus dem Abfall der akademischen Arbeitsstätten abstrakte Weltan­schauungen und tote lebensauffassungen gebildet haben, wie Marxismus, formales Demokratentum, abstrakten Liberalismus, politisches Phrasentum, reaktionären «Historismus« und konservatives Staatsbonzentum.

Die Medizin und die Naturwissenschaften verkommen in geistlosem Beob­achten und zusammenhanglosem Tatsachen-sammeln, die aus Ungeist geboren, keinen Zugang finden zu den Problemen des organischen Lebens und zu den Sehnsüchten, die im Menschenherzen nach befreiender Weltanschauung leben.

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Das gesunde und kranke Menschenwesen bleibt uns verschlossen, weil von der Natur zum Menschen keine Brücke geschaffen wird. Eine totgeborene, mecha­nistische Wissenschaft ertötet den Keim philosophischen Strebens.

Aus den Naturwissenschaften wird keine den Geist entbindende philosophi­sche Kraft geboren. Wir werden in philosophische Fakultäten ohne wirkliche Philosophie geführt. Die Spezialitas hat die Universitas vernichtet. Die Wort-wissenschaft hat die Sprachweisheit untergraben; die Geschichte ist Quellenre­gistratur; die Kulturgeschichte verzerrt das menschliche Leben zum abstrakten Kausalitätsgewebe, das gesponnen wird ohne Verständnis für den Menschen-willen.

Dieser Fakultätsgeist war keine Sonne, die dem Zeitalter des Materialismus geleuchtet hätte. Und so ist es begreiflich, daß die diesem Zeitalter entsprunge­nen technischen, kommerziellen und landwirtschaftlichen Hochschulen auf geistlose Art in eine bloße Lebensroutine statt in wahre Lebenspraxis führen.

Wir Studenten blicken aus nach den Führernaturen. Sie versagen. Und wir ste­hen, auf uns selbst gewiesen, führerlos da. Das Staatsleben, die soziale Ordnung sind selbst zum Mechanismus geworden; uns winkt nur: Räder in diesem abzu­geben. Wir sehen die ethische Stoßkraft und die sittlichen Daseinsgrundlagen in erschreckender Weise aus dem öffentlichen und privaten Leben schwinden.

Die Führer, denen wir aus freier Wahl zu folgen vermöchten, müßten wir daran erkennen, daß sie den Willen und die Kraft haben, die ganze Last unserer wissenschaftlichen Vergangenheit und Gegenwart nicht nur auf sich zu neh­men, sondern dieser Last dasjenige volle Leben abzutrotzen, das aus wahrer Religiosität in unserem Selbst erstehen will.

Volle Kraft der Jugendlichkeit in der Reife ernstester und gründlichster Wis­senschaftlichkeit: diese Verbindung erblicken wir heute nur in Rudolf Steiner. Durch seine Philosophie der Freiheit hat er die Quelle befreit, aus der Jugend, die nicht alt werden kann, fließt; und in der anthroposophisch orientierten Gei­steswissenschaft hat er aus der Kraft solcher Freiheit heraus durch Jahrzehnte hindurch die Gegenstände unserer Fachdisziplinen zu einem Gliederbau gefügt, in dem sie nicht mehr als Summe von Spezialitäten dem individuellen und sozia­len Leben gegenüber stumm bleiben, sondern in dem sie aus einer neuen Uni­versitas heraus, die der freie Menschenwille aus ihnen erscMossen hat, eine wahrhaft geistige und soziale Sprache zu sprechen begonnen haben.

Organe zu werden dieser lebendigen Sprache der geistigen Wirklichkeit, «Diener des Wortes« zu werden: das ist es, was uns aus Geisteswissenschaft winkt! Die geistige und soziale Not unserer Tage fordert von uns Studenten die Befreiung des Lebens von den Lasten, die als Leichen ehemaliger Lebenskräfte es niederhalten. In seinen Anweisungen zu tätiger Selbsterziehung, in seinen philosophischen, geisteswissenschaftlichen, künstlerischen, praktisch-pädagogi­schen, sozialen und wirtschaftlich richtungweisenden Leistungen, die in der

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Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, im Goetheanum in Dornach bei Basel, gipfeln, stellt Rudolf Steiner Marksteine des Weges hin, auf dem wir zur fortschreitenden Befreiung unseres eigenen Wesenskernes und zur Mitarbeit am geistig sozialen Aufbau der Gemeinschaft aus dem einheidichen Kern der menschlich-sittlichen und außermenschlich-natürlichen Gesamtwirklichkeit kommen können.

Diese Gedanken und Erkenntnisse möchten wir in ihrem ganzen verpflich­tenden Gewicht ins Bewußtsein jedes einzelnen Studenten stellen. Wir sprechen zu den gesunden Köpfen und Herzen unserer akademischen Mitbürger: zu dem, was jeder Sorte von Spießbürger- und Muckertum und gespreiztem Phra­senwesen Feind ist. Wir sprechen als Vertreter einer Sache, die größer ist als wir sind, von der wir aber wissen, daß sie uns größer machen wird, als wir jetzt noch sind.

Wer diese Worte als Appell an seinen Pflichtwillen versteht, wird gebeten, durch Unterzeichnung der beiliegenden Karte zu bezeugen, daß er sich mit sei­ner Gesinnung hinter den in diesem Aufruf vertretenen Impuls stellt, in dem Sinne, daß unter den sämtlichen Unterzeichnern eine lose Gemeinschaft zu­stande kommen werde, die als Boden zum Ausbau der geisteswissenschaftlichen Arbeit und zu ihrer gesellschaftlichen Fruchtbarmachung dienen soll. Am Dornacher Goetheanum und an der Stuttgarter Freien Waldorfschule ist diese Arbeit tatkräftig in Angriff genommen. Die Formen, in denen sie sich an anderen Orten entwickeln will, wollen wir nicht durch abstrakte Satzungen vor­weg bestimmen. Durch freie gegenseitige Verständigung werden sie sich er­geben, wo Arbeitswille sich entzünden wird.

Hans Altemüller, cand. med., München; Otto Altemüller, stud. phil., Mün­ster; Hermann von Baravalle, stud. phil., Wien; V. C. Bennie, math., London; Gertrud Bernhardi, Kunstakademie, Leipzig; Franklin Bircher, cand. med., Zürich; Walter Birkigt, stud. rer. merc., Leipzig; Karl Gustav Bittner, stud. jur., Prag; Martin Borchart, stud. theol., Marburg; Anton Burg, stud. philos., Freiburg; Dr. H. Büchenbacher, philos., München; Wilhelm Chlormann, cand. theol., Mannheim; Kurt Dannenberg, stud. phil., Berlin; Marie Deutsch, cand. med., Wien; J. K. van Deventer, Dipl. ing., Utrecht; H. J. V. van De­venter, cand. med., Utrecht; H. J. Dibbern, cand. mach., Stuttgart; Friedrich Doldinger, stud. phil., Freiburg; Walter Dollfus, stud. jur. et rer. pol., Bern; Felix Durach, stud. arch., Stuttgart; Hedwig Engelhorn, cand. rer. pol., Frei­burg; Dr. Richard Eriksen, Kristiania; Friedrich Franke, stud. philos., Gießen; Verena Gildemeister, cand. med., Tübingen; Norbert Glas, cand. med., Wien; Emil Gmelin, stud. rer., electr., Stuttgart; Meta Gorgus, stud. rer. pol., Mann­heim; Walter Gradenwitz, stud. theol., Tubingen, Andreas Grunelius, stud. rer. pol., Tübingen; Helene Grunelius, cand. med., Frankfurt; Gerhard Günther,

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Kunstgewerbeschule, München; Alfred Haag, stud. phil., Würzburg; Gerhard Häcker, stud. chem., Stuttgart; Heinr. Hänselmann, cand. phil., Stuttgart; Carl Hammann, cand. med., Tübingen; Erika Hammann, stud. pharm., Darmstadt; Maximilian Hans, stud. chem., Stuttgart; Jakob Hauser, stud. rer. pol., Zürich; Otto Hoerler, cand. jur. et rer. pol., Zürich; Karl Hoffmann, cand. ing., Darmstadt; Johannes Hohlenberg, cand. phil., Kopen­hagen; Rudolf Honegger, stud. phil., Basel; Paul Hottinger, stud. med., Zürich; Gottfried Husemann, stud. theol., Tübingen; Hans Jacobi, stud. phil., Jena; Erwin Jeangros, cand. phil., Bern; R. Jehmlich, Kunstakademie, Leipzig; A. P. Imrie, ing., Glasgow; Hans Itel, stud. phil., Basel; Willi Kirsch, stud. philos., München; Ludwig Köhler, stud. theol., Tübingen; Otto Kratz, cand. forest., Gießen; Eugen Kraus, stud. chem., Prag; Manfred von Kries, stud. med., Freiburg; Olga Krietsch, stud. math., Hamburg; Hans Krüger, stud. theol., Tübingen; Ernst Kunert, stud. mus. et phil., Leipzig; Hans Erhard Lauer, stud. phil., Heidelberg; Helmuth Lauer, stud. arch., Stuttgart; Kurt Laute, stud. math., Stuttgart; Hermann Liebert, stud. med., Freiburg; Bernt Ljungquist, stud. theol., Upsala; Erwin Maier, stud. rer. nat., Stuttgart; Rudolf Meyer, cand. theol., Hamburg; Julie Charlotte Mellinger, cand. rer. pol., Frankfurt; Elisabeth Mittag, stud. phil., Stuttgart; Wolfgang Moldenhauer, stud. phil., Berlin; Otto Palmer, stud. math., Stuttgart; Ehrenfried Pfeiffer, stud. phil., Basel; Otfried Plaß, stud. mach., Darmstadt; Dr. phil. Hermann Poppelbaum, stud. rer. nat., Frankfurt a. M.; Josef Prinke, Kunstakademie, Prag; Liselotte Prinz, stud. chem., Leipzig; Wilhelm Rath, stud. phil., Berlin; Dr. Franz Reichel, phil., Prag; Hans Reipert, stud. mach., Stuttgart; Albert Reps, stud. philos., Leipzig; Werner Rosenthal, stud. mach., Stuttgart; Kurt Röth, stud. chem., Heidelberg; Georges de Rubis, stud. ing., Berlin; Wolfgang Rudolph, stud. chem., Stuttgart; Walter Scheidegger, cand. med., Basel; Kurt Schiffler, stud. ing., Stuttgart; C. Schmid-Curtius, cand. med., Stuttgart; Ger­trud Schoop, Kunstgewerbeschule, Zürich; Hedwig Schramm, stud. med., Marburg; Eugen Schwab, stud. rer. nat., Stuttgart; Hans Schwedes, stud. phi­los., Heidelberg; Otto Senn, stud. phil., Tübingen; Henri Smits, cand. rer. mont., Charlottenburg; Adolf Steinemann, cand. arch., Darmstadt; Franz Ta­buschat, cand. med., Tübingen; Johannes Thielemann, stud. ing., Dresden; Ernst Umlauff, stud. phil., Breslau; Dr. Hans Hasso von Veltheim, stud. phi-los., München; Hans Vetter, stud. phil., Tübingen; Ludwig Waslé, cand. agr., Gießen; Gernot Weißhardt, stud. chem., Stuttgart; Ernst Wich, stud. ing., München; Marcel Wrzesniewski, cand. rer. electr., Stuttgart; Paul Zahner, stud. rer. pol., Zürich.

Bund für anthroposophische Hochschularbeit

Geschäftsstelle des Arbeitsausschusses: Stuttgart, Champignystraße Nr. 17.

AN DIE MITGLIEDER DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT IN DEUTSCHLAND Rundschreiben der leitenden Vertrauenskörperschaft

#G217a-1981-SE201 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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AN DIE MITGLIEDER DER

ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT IN DEUTSCHLAND

Rundschreiben der leitenden Vertrauenskörperschaft

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Liebe Freunde! Die Anthroposophische Gesellschaft ist in eine neue Phase ihrer Entwicklung eingetreten. Es gilt diese mit vollem Bewußtsein zu erfassen und die anthroposophische Arbeit danach zu gestalten. In früheren Jahren mochte es genügen, die Ergebnisse der Geistesforschung mit offenem Sinn und emp­fänglichem Herzen aufzunehmen und ihr in kleineren Kreisen Stätten zu berei­ten. In den letzten Jahren ist die anthroposophische Bewegung mehr und mehr eine Weltbewegung geworden. Diese Tatsache stellt neue Anforderungen an diejenigen, die Anthroposophie vor der Welt vertreten wollen. Das ergibt sich sowohl aus dem inneren Fortschritt der Anthroposophie, als auch aus dem Wandel der allgemeinen Zeitverhältnisse. Die Erkenntnis der Fruchtbarkeit der Anthroposophie für alle Gebiete des Lebens gab einer Reihe von Persönlichkei­ten seit dem Jahre 1919 den Mut, eine Reihe von Unternehmungen im Sinne der anthroposophischen Weltanschauung und ihrer Auswirkung in der Lebens-praxis zu begründen. Diesem Wollen kam Dr. Steiner entgegen im Vertrauen darauf, daß sich diejenigen, welche die Unternehmungen in Angriff nahmen, auch mit unbeugsamem Willen für die Durchführung einsetzten. Angesichts der Tatsache, daß in weiten Kreisen der Anthroposophischen Gesellschaft die Mei­nung Platz gegriffen hat, Dr. Steiner sei selbst der Begründer solcher Unter­nehmungen, ist es unsere Pflicht, zu betonen, daß dies nicht der Fall ist. Die volle Verantwortung liegt vielmehr bei denjenigen, die sie begründet haben. Wie Anthroposophie das Leben befruchtet, dort, wo sie aus ihren eigenen inne­ren Impulsen heraus wirken kann, zeigen solche Schöpfungen wie das nun ver­nichtete Goetheanum und die eurythmische Kunst, welche sich unter der Lei­tung von Frau Marie Steiner in den letzten Jahren in ungeahnter Weise entfaltet hat. Sie haben in der Welt Anerkennung gefunden als Schöpfungen von allge­mein menschlicher Bedeutung. Ebenso hat die Freie Waldorfschule in Deutsch­land und weit darüber hinaus durch die aus anthtoposophischer Geisteser­kenntnis geborene Pädagogik die größte Beachtung gefunden. Auf dem Gebiet des praktischen Wirtschaftslebens war es möglich - trotz der heftigen Anfein­dungen, die gerade auf diesem Gebiet aus alten Anschauungen heraus auftra­ten -, die Aktiengesellschaft »Der Kommende Tag« so auszubauen, daß dieses Unternehmen seine wichtige Aufgabe innerhalb der ihm durch die allgemeinen Wirtschaftsverhältnisse gezogenen Grenzen erfüllen kann.

Dr. Steiner hat die Wege gewiesen, wie die wissenschaftliche Arbeit durch übersinnliche Erkenntnisse befruchtet werden kann. Dadurch ergeben sich aber

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für die anthroposophische Arbeit gewaltige Aufgaben. Der Wissenschafter kann ihnen nur gerecht werden, wenn er in sein Forschen anthroposophische Me­thode einfließen läßt, wie es z.B. in der Arbeit über die Milzfunktion von Frau L. Kolisko aus dem Wissenschaftlichen Forschungsinstitut geschehen ist. Wer die Schwierigkeiten kennt, mit denen die Forschung auf diesem Gebiete bisher zu kämpfen hatte, muß eine solche Entdeckung, wie sie in dieser Schrift hinge-stellt ist, als den epocheinachenden Anfang einer neuen Erkenntnis von der Natur des menschlichen Organismus begrüßen. Die Arbeit von Dr. Hermann von Baravalle «Zur Pädagogik der Mathematik und Physik» bedeutet auf ihrem Gebiete eine Leistung von ähnlicher Wichtigkeit. Die Schrift über experimen­telle Pädagogik von Dr. C. von Heydebrand muß als eine Tat auf dem Gebiet der Pädagogik bezeichnet werden. Sie ergibt eine geradezu vernichtende Kritik der grotesken Ausartungen der Experimental-Psychologie und -Pädagogik, der sie zum erstenmal positive Ergebnisse der geisteswissenschaftlichen Erziehungs­kunst entgegenstellt.

Wie sollen diese Leistungen von der äußeren Wissenschaft berücksichtigt werden, wenn sie nicht in unseren eigenen Reihen in ihrem vollen Umfang ge­würdigt werden?

Über solche positiven Ergebnisse hinaus ergibt sich aus vielen Hinweisen Dr. Steiners, wie in Fortsetzung berechtigter naturwissenschaftlicher Forschung sich gerade der Forscher selbst auf den Weg zur übersinnlichen Erkenntnis ge­stellt sehen kann. Diesen wichtigen Aufgaben muß die Anthroposophische Ge­sellschaft, wenn sie die wahre Trägerin anthroposophischen Lebens sein will, lebendiges Interesse zuwenden. Die Pflege des geisteswissenschaftlichen Er­kenntnisweges ist Hauptaufgabe der Anthroposophischen Gesellschaft. Das ge­genwärtige Bewußtsein ist in vielen Menschen in einer Umwandlung begriffen, die so manchen in ein seelisches Chaos hineinzutreiben droht, wenn ihm nicht anthroposophische Arbeit Kraft zur Gestaltung entgegenbringt.

Die Jugend trägt eine Kraft neuen Werdens in sich. Aus der dumpfen Atmo­sphäre der Hörsäle, die manchmal auch noch bei unseren Hochschulkursien zu fühlen war, strebt die Jugend dahin, wo sie die Anthroposophie als solche fin­det. Ihrem Verlangen nach gesunder Verinnerlichung muß Anthroposophie so entgegentreten, daß sie Erkenntnis, Gemüt, moralisches und religiöses Streben ergreift. Eine ältere Generation, die den Weg der inneren Seelenentwickelung im Sinne der Anthroposophie beschritten hat, kann in keinen Gegensatz zur Jugend kommen, da diese Entwickelung jugendliche Kräfte in allen Seelen er­weckt. Auf dieser Grundlage des anthroposophisch-seelischen Entwickelungs­strebens gibt es keinen Gegensatz zwischen Alter und Jugend.

Der Verleumdungsfeldzug unserer Gegner verlangt einen mit sachlicher Deutlichkeit geführten, energisch betriebenen Gegenfeldzug. Diejenige Gegner­schaft, welche Dr. Steiner aus der Begründung der anthroposophischen

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Geisteswissenschaft erwachsen ist, wäre von keiner erheblichen Bedeutung ge­wesen. Eine gefährliche Gegnerschaft entstand erst seit der Begründung der ver­schiedenen Unternehmungen seit 1919. Diese letztere Art der Gegnerschaft griff törichte Behauptungen ehemaliger Mitglieder auf und verwendete sie als Mittel für ihre Absicht, die Anthroposophie aus der Welt zu schaffen. So brachte es eine skrupellose Gegnerschaft fertig, mit einer Flut von Verleum­dungen die Person Dr. Steiners zu überschütten.

Es ist die Aufgabe der Anthroposophischen Gesellschaft und besonders der­jenigen, welche die Anthroposophie auf allen Gebieten nach außen vertreten wollen, diesen Verleumdungen energisch entgegenzutreten, um endlich Dr. Steiner in wirksamer Weise vor solchen Angriffen zu schützen. Vor allem gilt es Verleumdungen, wie sie z. B. in den «Psychischen Studien» enthalten sind und welche dann von fast allen Gegnern kritiklos kolportiert worden sind, dadurch energisch zu bekämpfen, daß ihre Urheber charakterisiert und an den Pranger gestellt werden.

So gab es in München einen Menschen, der Dr. Steiner durch seine fanati­sche Anhängerschaft besonders lästig fiel, indem er z. B. versuchte, ihm bei jeder Gelegenheit die Hände zu küssen. Nachher verwandelte er sich aus ge­kränkter Eitelkeit in einen ebenso fanatischen Gegner. Aus dieser Schmutz-quelle schöpften alle die anderen Gegner. Den Charakter unserer Gegner be­leuchtet auch ein Beispiel aus der neuesten Zeit. Ein Privatdozent einer altbe-rühmten Universität versuchte unter dem Deckmantel wissenschaftlichen Inter­esses unveröffentlichtes Material von uns zu erlangen. Ungefähr um dieselbe Zeit bewies er seinen Mannesmut dadurch, daß er einige unserer Mitglieder bat, ihn in der polemischen Auseinandersetzung - wie er sagte - nicht so wie den Prof. Drews zu behandeln und ihm so seine Karriere zu verderben. Auch die Methode vieler dieser neuen Gegner muß gekennzeichnet werden. Sie haben ein Zerrbild der Anthroposophie vielfach unter Mißbrauch ihrer offiziellen Stellun­gen oder wissenschaftlichen Autorität den Zeitgenossen aufzudrängen versucht, indem sie zahlreiche aus dem Zusammenhang gerissene Stellen aus den Büchern und Vorträgen Dr. Steiners böswillig zusammengestellt haben. Diesem Zerrbild muß von unserer Seite durch sachgemäße Vertretung das wahre Bild des an­throposophischen Geistesgutes entgegengestellt werden.

Wir sind es der Anthroposophie schuldig, daß bei ihren Vertretern eine durch selbständiges Erleben des Geistigen geschaffene Seelenhaltung zum Aus­druck kommt, welche sie befähigt, die Anthroposophie in voller Würde so hinzustellen, daß alle Menschenseelen den Weg zu ihr finden können. Es wer­den auch Behauptungen der Gegner wie z. B., daß die übersinnlichen Erkennt­nisse über vergangene Menschheitszustände keine Bedeutung für das wirkliche Leben haben, ihre Widerlegung finden einfach durch das Lebensverhalten der Anthroposophen selbst, wenn diese Erkenntnisse in der Zweigarbeit und dem

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individuellen Leben so gepflegt werden, daß offenbar wird, was sie den Men­schen an Erkraftung der Persönlichkeit und an Erleuchtung des Daseins zu geben vermögen. Die Erkenntnisse vom vorgeburtlichen und nachtodlichen Leben werden dann nicht abstrakt dogmatisch an die Menschen herankommen, wenn sie als ethische Kraft unmittelbar fühlbar werden. Die Neubelebung des Christentums durch die anthroposophischen Forschungsergebnisse wird dann nicht als eine bestreitbare Behauptung oder als ein unsicheres Versprechen vor die Menschen hingestellt werden, wenn sie ihnen aus der ganzen Haltung der Anthroposophen selbst entgegentritt.

Dringend notwendig ist auch, im Hinblick auf die Stärke der Gegnerschaft, daß alle in der Anthroposophischen Gesellschaft vorhandenen lebendigen gei­stigen Kräfte weder in der Vereinsamung erlahmen, noch sich in Gegensätz­lichkeiten zermürben, sondern im freien Zusammenwirken sich voll entfalten, und daß von der Leitung der Gesellschaft aus jeder im echt anthroposophischen Geist Tätige möglichst zur vollen Wirksamkeit im Dienst der gemeinsamen Sache gefördert wird. Es muß ein menschliches Verhältnis unter den einzelnen Anthroposophen entstehen. Nach neuen beweglichen Formen muß gesucht werden, wie die Anthroposophische Gesellschaft aus ihrer Absperrung und Selbstabsperrung heraus zu einer vielseitigen Vermittlerin ihres Geistesgutes wird. Jede Leitung der Gesellschaft wird unterstützt und zugleich beweglich erhalten werden müssen durch eine lebendige Organisation von Vertrauensper­sönlichkeiten, die sich für die Gesamtarbeit mitverantwortlich fühlen werden.

Was wir in diesem Aufruf aus unserem Empfinden für die neuen Aufgaben der Anthroposophischen Gesellschaft nur in Umrissen dargestellt haben, möch­ten wir einer Vertreterversammlung zur Beratung vorlegen. Bei der außeror­dentlichen Tragweite der Entscheidungen, die wir treffen müssen, bitten wir die Arbeitsgruppen in Deutschland, solche Persönlichkeiten, denen eine Neu­gestaltung der Anthroposophischen Gesellschaft warm am Herzen liegt, zu einer vom 25. bis 28. Februar in Stuttgart stattfindenden Tagung zu entsenden.

Bis zur Vertreterversammlung werden wir Unterzeichneten die leitende Ver­trauenskörperschaft für die Angelegenheiten der Anthroposophischen Gesell­schaft bilden.

Stuttgart, den 13. Februar 1923

Jürgen v. Grone, Dr. Eugen Kolisko,

Johanna Mücke, Emil Leinhas, Dr. Otto Palmer, Dr. Friedrich Rittelmeyer, Dr. Carl Unger, Wolfgang Wachsmuth

MEMORANDUM für das Komitee der Freien Anthroposophischen Gesellschaft, zu dessen Orientierung, März 1923

#G217a-1981-SE205 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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MEMORANDUM

für das Komitee der Freien Anthroposophischen Gesellschaft, zu dessen Orientierung, März 1923

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l. In bezug auf die äußere Konstitution der Freien Anthroposophischen Ge­sellschaft wäre darauf hinzuarbeiten, daß diese Gesellschaft dem «Entwurf der Satzungen»* entspricht. Dadurch ist es möglich, Menschen zu einer Gesellschaft zu einigen, die sich darin individuell ganz frei empfinden, ohne daß der Gesell­schaft fortwährend die Auflösung droht. Wer den «Entwurf« im rechten Sinne lebendig versteht, wird das alles in demselben erfüllt finden müssen.

2. Zunächst ist notwendig, alle diejenigen Persönlichkeiten zusammenzufas­sen, die bereits Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft sind und von denen das gebildete Komitee der Meinung ist, daß sie von denjenigen Gesichts­punkten ausgingen, die in berechtigter Art die Trennung in zwei Gruppen der Gesamtgesellschaft bewirken mußten. Bloße Unzufriedenheit mit der alten Lei­tung kann nicht genügen, sondern nur die positive Orientierung auf ein anthro­posophisches Ziel, von dem angenommen werden muß, daß es von der alten Leitung nicht erreicht werden kann.

3. Zunächst aus diesem so gebildeten Kreise der Freien Anthroposophischen Gesellschaft sind Vertrauenspersönlichkeiten zu ernennen, die von dem Komi­tee anerkannt werden. Man sollte zu Vertrauenspersönlichkeiten nur solche er-nennen, die ein Interesse haben, der gegenwärtigen Zivilisation Anthroposophie zu geben. Es werden dann zu den schon in der Anthroposophischen Gesell­schaft befindlichen Persönlichkeiten solche kommen, die erst aufgenommen werden. Aber gerade bei diesen ist darauf zu achten, daß sie das Positive des Anthroposophischen zu der Grundrichtung ihres eigenen Lebens gemacht haben. Menschen, die nur ein allgemeines gesellschaftliches Interesse haben, ohne intensiven anthroposophischen Einschlag, sollte man nicht zu Vertrauensper­sönlichkeiten ernennen, wenn sie auch in die Gesellschaft mit der Idee etwa aufgenommen werden, daß sie zu wirklichen Anthroposophen heranwachsen.

4. Für die Aufnahme selbst sollte ein Darinnenstehen in der anthroposophi­schen Weltanschauung bis zu einem gewissen Grade maßgebend sein. Es muß aber zunächst für die Aufnahme in die allgemeine Freie Anthroposophische Ge­sellschaft Weitherzigkeit herrschen. Strenge sollte erst bei der Bildung der enge­ren Gemeinschaften eintreten.

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* Gemeint sind die damals allein bestehenden Satzungen der alten Anthroposophischen Gesellschaft.

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5. Die Freie Anthroposophische Gesellschaft sollte ein Werkzeug werden zur Verbreitung der Anthroposophie in der Welt. Aus ihrem Schoße müßte die Vortrags- und sonstige Verbreitungsarbeit hervorgehen, auch Institute und son­stiges müßte aus ihr gebildet werden.

6. Ein anderes ist die allgemeine Freie Antliroposophische Gesellschaft, ein anderes die in ihr zu bildenden Lebensgemeinschaften. In diesen - ob exote­risch oder esoterisch - müßten sich zusammenfinden die Menschen, die sich in­nerlich zusammengehörig fühlen, die den Geist gemeinsam erleben wollen. Neben solchen Lebensgemeinschaften ist es durchaus möglich, daß sich das Zweigleben im Sinne des «Entwurfes» herausbildet. Die Zweige wären dann eben Gruppen der Freien Anthroposophischen Gesellschaft im allgemeinen. Es könnte aber durchaus sein, daß die Mitglieder der Freien Anthroposophischen Gesellschaft in die Zweige der Anthroposophischen Gesellschaft eintreten und darinnen mit den Mitgliedern dieser gemeinsame Arbeit tun.

7. Die Arbeit in den Lebensgemeinschaften wird eine solche sein, die sich in­nerhalb derselben abschließt. Sie ist auf die geistige Vervollkommnung der Ver­einigten gerichtet. Was ein Mitglied einer solchen Lebensgemeinschaft nach außen unternimmt, tut es als Vertreter der allgemeinen Freien Anthroposophi­schen Gesellschaft. Selbstverständlich kann dabei doch eine solche Lebensge­meinschaft zu einer bestimmten äußeren Wirksamkeit treten; allein, es bleibt wünschenswert, daß dann ihre einzelnen Mitglieder eben als Repräsentanten der allgemeinen Freien Anthroposophischen Gesellschaft auftreten. Das braucht natürlich nicht eine bürokratische Verwaltung einer Vereinstätigkeit zu begründen, sondern kann durchaus eine freie Bewußtseinstatsache der einzel­nen sein.

8. Aus den beiden Komitees, dem der Anthroposophischen Gesellschaft und dem der Freien Anthroposophischen Gesellschaft, wäre je ein Vertrauenskomi­tee zu begründen. Diesen beiden obliegt die Erledigung der gemeinsamen An­gelegenheiten der Gesamt-Anthroposophischen Gesellschaft.

9. Es sollten alle Institutionen der Gesamt-Anthroposophischen Gesellschaft in den Interessenkreis der Anthroposophischen und der Freien Anthroposophi­schen Gesellschaft fallen. Das kann ganz gut sein, wenn eine Zentral-Verwal­tungsstelle geschaffen wird, die die Angelegenheiten der Gesamtgesellschaft im Auftrage der beiden Komitees (vermittelt durch ihre Vertrauens-Komitees) verwaltet. Es sollte die Gliederung in zwei Gruppen der Gesellschaft durchaus nicht dazu führen, daß etwa eine anthroposophische Institution - insbesondere eine solche, die schon besteht - nur als eine Angelegenheit der einen Gruppe angesehen werde.

Es sollten in die Zentralkasse Quoten - die von den Komitees zu bestimmen wären - von den Mitgliederbeiträgen fallen, so daß die Angelegenheiten der Ge­samtgesellschaft entsprechend versorgt werden können.

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10. Es sollte die Meinung verstanden werden, daß die beiden Gruppen nur entstanden sind auf Grundlage dessen, daß es unter den Mitgliedern eben schon zwei scharf unterschiedene Abteilungen gibt, die zwar beide dieselbe Anthro­posophie wollen, die sie aber auf verschiedene Weise erleben wollen. Wird das richtig verstanden, so kann die relative Trennung nicht zu einer Spaltung, son­dern zu einer Harmonie führen, die ohne Trennung nicht möglich wäre.

11. Von der Freien Anthroposophischen Gesellschaft sollte in keiner Art ver­sucht werden, die historischen Entwickelungskräfte der Anthroposophischen Gesellschaft zu zerstören. Wer für sich die Freiheit haben will, sollte die Frei­heit des anderen ganz unangetastet lassen. Daß es Unvollkommenheiten in der alten Anthroposophischen Gesellschaft gibt, sollte nicht weiter zur Befehdung dieser, sondern dazu führen, eine nach der Meinung der maßgebenden Persön­lichkeiten entsprechende Freie Anthroposophische Gesellschaft zu bilden, wel­che diese Unvollkommenheiten vermeidet.

12. Es sind durch die Trennung alle Vorbedingungen vorhanden, daß sich insbesondere die Jugend in der Freien Anthroposophischen Gesellschaft wohl befindet. Denn die Lebensgemeinschaften werden freie Gruppen sich verste­hender Menschen sein können; und das wird die Grundlage bilden können, daß sich auch in der allgemeinen Freien Anthroposophischen Gesellschaft niemand in seiner Freiheit beengt fühlt.

[Rudolf Steiner]

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Von den beiden Jugendansprachen, welche in Dornach am 17. März 1924 und in Stuttgart am 11. April 1924 stattgefunden haben, besitzen wir keine Nach-schriften. Wir bringen daher über die Dornacher Versammlung einen Bericht von Fred Poeppig aus seinem 1955 in zweiter, geänderter Auflage im Verlag

J. Ch. Mellinger, Stuttgart, erschienenen Buch «Schicksalswege zu Rudolf Steiner«. Poeppig schildert die Domacher Zusammenkunft in dem Kapitel «Alte Jugend« (S. 111ff.):

BERICHT ÜBER DIE DORNACHER JUGENDANSPRACHE VOM 17. MÄRZ 1924

#G217a-1981-SE208 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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BERICHT ÜBER DIE DORNACHER JUGENDANSPRACHE

VOM 17. MÄRZ 1924

Fred Poeppig

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... So baten wir Dr. Steiner um eine Zusammenkunft. An die dreißig jün­gere Menschen, vorwiegend die Wächter und Eurythmistinnen, kamen eines Abends in der Schreinerei mit Dr. Steiner und den Vorstandsmitgliedern zu­sammen. Nachdem dieser den Abend eingeleitet hatte und uns bat, uns auszu­sprechen, begannen eine Reihe ihre Erfahrungen und Erlebnisse als , im Gegensatz zu den , zu bekennen. Es war so etwas wie eine . Einer berichtete von einem Freunde, der ein Verbrecher geworden wäre, wenn er nicht den Weg zur Anthroposophie gefunden hätte. Er demonstrierte ihn, wie er mit der Faust auf den Tisch zu schlagen pflegte:

Jetzt war er Priester der Christengemeinschaft geworden und konnte seine Willens-kräfte positiven Zielen zuwenden.

Nachdem sich einige in dieser Art ausgesprochen hatten, trat Rudolf Steiner nach vorn und, sich an das Pult lehnend, ohne aufs Podium zu steigen, begann er in legerer Art von seiner eignen Jugend zu erzählen:

«Als ich so jung war wie Sie - so etwa begann er -, da gab es zwar auch junge Menschen, die ähnliche Erlebnisse hatten, wie Sie es vorgebracht haben. Einige, die gern jungen Mädchen nachstiegen (wovon ein Wortführer von uns gesprochen), andere, die mit dem nicht zurechtkamen, was man auf der Uni­versität vorfand. Aber eines gab es damals noch nicht, und daran können Sie den Zeitumschwung erkennen. Damals, sehen Sie, hätten sich niemals Studen­ten gefunden, höchstens verbummelte Studenten, aber dazu gehören Sie ja nicht, die sich zur Bewachung einer - nun, alten Scheune hergegeben hätten, denn etwas anderes ist im Grunde diese Schreinerei ja nicht. Hieraus können Sie etwas von dem großen Umschwung in der Zeitkultur und in Ihrem eignen Leben ermessen. Daß so etwas heute überhaupt möglich ist, das zeigt Ihnen deutlich, daß Sie von demjenigen, was Sie draußen vorfinden, nicht befriedigt

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sind. Und deshalb sind Sie doch hierher gekommen, wenn Sie unser Gelände bewachen!

Denn eines gab es damals noch nicht in meiner Jugend, was heute vorhanden ist. Das ist die moderne Geisteswissenschaft. Die gab es in meiner Jugend nicht. Und daher sind viele meiner jüngeren Freunde, mit denen ich studierte, im späteren Leben verkommen. Sie konnten mit dem Leben nicht fertig wer­den, da sie Fragen auf der Seele hatten, die ihnen von keiner Seite beantwortet wurden. Sie fanden nirgends, was sie im Inneren suchten. Das, sehen Sie, ist heute anders geworden. Denn heute gibt es eine Geisteswissenschaft, die auf derartige Fragen konkrete Antworten zu geben vermag. Und darum sind Sie ja schliesslich hier, weil Sie der Ansicht sind, an dieser Stelle dasjenige zu finden, was Sie draußen in der allgemeinen Kultur nicht finden können, nicht wahr?

Wie aber, wollen wir uns einmal fragen, ist denn diese Geisteswissenschaft uberhaupt zustande gekommen?

Nun, meine lieben Freunde, da will ich Ihnen nur etwas ganz Äußerliches andeuten, was mit mir selbst und meinem Leben zusammenhängt. Sie können das ja auch in den Kapiteln aus meinem finden, der jetzt im erscheint. Ohne diese Äußerlichkeit, die ich Ihnen damit an­deuten möchte, wäre eben doch so etwas wie die Geisteswissenschaft nie mög­lich geworden.

Denken Sie einmal darüber nach, was geworden wäre, wenn ich zum Beispiel keinen freien Beruf gewählt hätte, sondern, sagen wir, in eine staatliche Anstel­lung als Lehrer oder Dozent hineingegangen wäre. Nun, dann wäre eben die Geisteswissenschaft oder Anthroposophie niemals zustande gekommen. Denn so etwas konnte sich doch nur dadurch ausbilden, daß ich es vorzog, in keinen der bestehenden Berufe hineinzugehen.

Es stellte sich ja im weiteren Verlauf unserer geisteswissenschaftlichen Arbeit heraus, daß die Vorträge, die ich da zu halten hatte, wie sie der heute üblichen Zeitkultur ja ziemlich fern liegen, nicht in den Rahmen der bestehenden Säle oder Lokale hineinpaßten. Sie nahmen sich darin im Grunde deplaziert aus. Es paßte der äußere Rahmen einfach nicht zu dem Inhalt dieser Vorträge. Was also mußte geschehen? - Der rechte Rahmen mußte dafür erst geschaffen werden, wo diese geisteswissenschaftlichen Vorträge und die an diese sich anschliessen­den künstlerischen Veranstaltungen eine würdige Stätte finden konnten. Nun sehen Sie, deshalb bauten wir das Goetheanum! Der richtige Bau mußte erst aufgeführt werden, weil in der heutigen Welt kein Platz für solche Veranstal­tungen war, wie sie durch die Geisteswissenschaft gepflegt werden sollen.

Und sehen Sie, meine jungen Freunde, so etwas müssen Sie auch tun! Jeder an der Stelle, wo er im Leben steht - dann wird schon das Rechte geschehen! »

Dann fügte er noch hinzu: «Den Menschen aber, von dem einer von Ihnen gesprochen hat, der mit der Faust auf den Tisch klopfte, den hätte ich gern hier

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gehabt. Denn darauf kommt es an: Spatenstiche des Willens zu tun! Sie haben ja alle ganz interessante Dinge aus Ihrem Leben erzählt, aber so kommen wir esgentlich nicht recht weiter. Was heute vielfach aus dem Munde des jungen Menschen kommt, das ist oft etwas recht Müdes, Altes, was als Seeleninhalt aus der Zeit in ihm lebt. So kommt es, daß, wenn man heute die jungen Menschen reden hört, man das Gefühl hat: die reden ja genau so wie die Alten. Etwas Greisenhaftes klingt aus den Worten der Jungen, das ihre eigentlich tieferen Impulse mehr überdeckt als offenbart. Und so bleibt denn vieles in den alten Bahnen stecken.

Was wollen Sie etgentlich hier auf Erden anfangen?

Das sollten Sie sich vor die Seele stellen. Dann erst kommen Sie dazu, sich Ihr bewußt zu machen, wie Sie eben in anderer Art in der Welt und zur Welt stehen, wie Sie anderes zu tun haben als die heute alten Men­schen...»

BERICHTE VERSCHIEDENER TEILNEHMER UBER DIE STUTTGARTER ANSPRAQHE VOM 11. APRIL 1924

#G217a-1981-SE211 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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BERICHTE VERSCHIEDENER TEILNEHMER UBER DIE

STUTTGARTER ANSPRAQHE VOM 11. APRIL 1924

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Die Stuttgarter Versammlung erwähnt Rudolf Steiner selbst in seinem Bericht im Nachrichtenblatt «Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht« vom 20. April 1924, Nummer 15, über «Eine Erziehungstagung der Waldorf­schule in Stuttgart»: »Unsere jungen Anthroposophen hielten eine Jugendver­sammlung ab, bei der besprochen wurde, was Anthroposophie dem jungen Menschen der Gegenwart für sein Suchen werden kann. An den Gesichtern die­ser jungen Freunde konnte man lesen, wie bei ihnen Jugendempfindung mit Gefühl für die Anthroposophie zusammenfällt. Mit tiefster Befriedigung schaue ich auf diesen Teil der Erziehungstagung zurück. »

Aus dem Aufsatz von Ernst Lehrs «Eindrücke von der Stuttgarter Erzie­hungstagung« im Nachrichtenblatt vom 27. April 1924, Nummer 16: »Die be­sondere Jugendversammlung mit Dr. Steiner im überfüllten Saale der Land­hausstraße, von der Freien Anthroposophischen Gesellschaft für die Teilneh­mer der Tagung veranstaltet, wurde nicht eine Veranstaltung neben den ande­ren, sondern zu einem Teil der Tagung selber.

Dr. Steiner hat selbst auf dieser Versammlung gesprochen. An diesem Tage ist zum ersten Male der Jugend öffentlich zugerufen worden: ».

In einem Brief «An die Mitglieder der Freien Anthroposophischen Gesell­schaft« von Ernst Lehrs, Maria Röschl und Wilhelm Rath wird die Stuttgarter Versammlung ebenfalls erwähnt (Nachrichtenblau vom 27. April 1924):

«Rudolf Steiner rief der Jugend eindringlich ins Bewußtsein, daß es ihr ja nicht mehr genüge zu warten, bis der Geist sich auf sie herabsenke; vielmehr liege in unserem Wesen das Streben, in eigenem Ringen zum Geiste durchzustoßen.

- so rief er aus - Mut! - noch einmal Mut und noch einmal Mut!>...

Der Geist aber braucht keine Programme. Er hat die Eigentümlichkeit, daß, wo er einmal lebt, sich die Dinge aus sich selbst heraus entwickeln und weiter bilden. Die Jugendsektion am Goetheanum will aus dem lebendigen Geiste her­aus derjenigen Jugend dienen, die nach diesem Geiste strebt. Deshalb darf man nicht nach ihrem Programm fragen, sondern es wird an der Jugend selber lie­gen, wieviel die Sektion ihr sein kann. Wird die Jugend verstehen, nach dem Geiste zu fragen, so kann ihr durch Anthroposophie die Jugendweisheit zuteil werden, die sie braucht, um mitwirken zu können an der Erneuerung der Welt.»

DIE BRESLAUER JUGENDANSPRACHEN RUDOLF STEINERS JUNI 1924

#G217a-1981-SE212 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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DIE BRESLAUER JUGENDANSPRACHEN RUDOLF STEINERS

JUNI 1924

Kurt von Wistinghausen

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Im letzten Jahr seines Lebens hatte Rudolf Steiner eine für viele Teilnehmer ge­radezu lebensentscheidende Begegnung mit der ihm zustrebenden Jugend in Schlesien aus Anlaß des Landwirtschaftlichen Kursus, der von ihm im Breslau benachbarten Koberwitz abgehalten wurde.

Es war am 6. Juni 1924, Freitag abends vor dem Pfingstfest. Wir standen -eine kleine Gruppe von Gästen - festlich gestimmt, im Vestibül des Schlosses Koberwitz bei Breslau und erwarteten Rudolf Steiners Ankunft. Graf Keyser­lingk holte ihn am Hauptbahnhof in Breslau nach seiner langen Reise ab. Es dunkelte schon, als das Auto endlich vorfuhr. Als Rudolf Steiner dem Wagen entstiegen war, erschraken wir alle über sein äußerst angegriffenes Aussehen. Er trug trotz der Sommerzeit einen Wintermantel. Eine am Griff seiner schweren Aktentasche befestigte Tragschnur, über die Schulter geworfen, schnitt tief in den dunklen Stoff des Mantels ein. Meine erste Regung als des Jüngsten im Kreise war, herzuzuspringen, um Rudolf Steiner die vollgepackte Aktentasche abzunehmen. Eine kleine Abwehrbewegung war die eindeutige Antwort: «An­gewachsen, angewachsen», hieß es.

Man lernte, daß hier andere Gesetze galten als die bürgerlicher Höflichkeit und Hilfsbereitschaft. Wie wir später erfuhren, bildeten viele Mitgliedskarten den Inhalt der dicken Tasche, die, nach der Weihnachtstagung neu ausgegeben, von Rudolf Steiner persönlich unterschrieben wurden. Auf jedem Namen ruhte dabei sein Blick.

Am andern Morgen konnten wir Rudolf Steiner um eine Jugendstunde in Breslau in der Zeit des Landwirtschaftlichen Kursus bitten. Er ging sofort dar­auf ein und interessierte sich für unsere Arbeit mit der Jugend, die größtenteils noch gar nicht aus Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft bestand.

Die erste Zusammenkunft fand in einem Musiksaal, der damals der Christen-gemeinschaft zur Verfügung stand, mitten im Zentrum Breslaus, schon am 9. Juni in Anwesenheit der nach Schlesien gekommenen Dornacher Vorstandsmit­glieder und einiger älterer Mitglieder statt, eine zweite wenige Tage später in einer Schulaula in etwas kleinerem Kreise und fast ohne Beteiligung älterer An­throposophen. Noch kleiner war der Kreis der jungen Teilnehmer des eben be­endigten Landwirtschaftlichen Kursus, die am 17. Juni noch einmal nach Ko­berwitz bei Breslau kamen, um dort eine Stunde besonderer Weihe mit Rudolf Steiner und den Gastgebern zu erleben. Von der vermutlich am 11. Juni statt-gehabten zweiten Jugend-Zusammenkunft ist ein Wortlaut nicht bekannt geworden.

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Das wird damit zusammenhängen, daß Rudolf Steiner am Schluß der ersten Zusammenkunft seiner Freude darüber Ausdruck gab, »daß heute keiner mitschreibt». Als wir jungen Veranstalter ihm daraufhin beichten mußten, daß doch jemand im Hintergrund sitze, der den Verlauf festgehalten habe (es war Frau Lili Kolisko), ging zwar Rudolf Steiner herzhaft lachend darauf ein, doch hat der Ernst, mit dem er von seiner ursprünglichen (allgemeinen) Absicht ge­sprochen hatte, «gewisse Dinge, die man von Mensch zu Mensch sagt, niemals drucken zu lassen», die Beteiligten bei der nächstfolgenden Gelegenheit davon abgehalten, seine Worte zu stenographieren. Es kam ihm ganz besonders im Kreise der Jugend darauf an, alles konventionell üblich Gewordene vermieden zu sehen und nur das rein Menschliche wirksam sein zu lassen. «Sprechen Sie sich unverhohlen aus... Der Dornacher Vorstand wird sicher aufmerksam zuhören, und wir werden das alles als gute Lehren für die Jugendsektion am Goetheanum entgegennehmen, was Sie selber zu sagen haben. Wir wollen uns nicht väterlich, sondern recht söhnlich verhalten zu dem, was Sie zu sagen haben. » In seinen Begrüßungsworten hatte nämlich der junge Versammlungslei­ter Risdolf Steiner nicht als «Großvater» der Jugend ansprechen wollen, son­dern als denjenigen, der sie das rechte Jungsein lehren könne - nachdem Rudolf Steiner tags zuvor im großen Mitgliederkreise als «Vater» der anthroposophi­schen Bewegung willkommen geheißen worden war und diesen Titel freundlich abgewehrt hatte. «Aber da werde ich als der Vater angesprochen. Väter sind alt, die können nicht mehr ganz jung sein... » In Dornach «traten eine Anzähl junger Leute auf und sprachen sich sehr schön und ehrlich aus. Da sprach ich mich auch aus. Nachher... sagte mir jemand, der mich sonst ganz gut kennt, nachdem er sich das auch angehört hatte: . So etwas kann einem heute passieren, da wird man als der alte Vater angeredet, da als der Jüngste unter den Jungen... Also wissen Sie, wenn man so die Sprossen hinauf- und hinunterklettert, bald als das Väter­chen, bald als der Jüngste unter den Jungen, hat man gerade Gelegenheit, in das hineinzuschauen, was alles die Gemüter bewegt. »

Die Kameradschaftlichkeit, mit der Rudolf Stein.er so zu uns sprach, war aber nur die Einleitung zu dem, was nun kam. Die Verbundenheit der von Rudolf Steiner repräsentierten Geistesströmung mit den nach der Jahrhundert­wende Geborenen beruhte auf geistigen Hintergründen, die wir nicht ins Auge zu fassen gewagt hätten. Jetzt wurde direkt von uns gesprochen: «Sehen Sie, man macht, bevor man zum physischen Erdendasein heruntersteigt, in der gei­stigen Welt allerlei durch, was inhaltvoller, gewaltiger ist als das, was man auf der Erde durchzumachen hat. Damit soll das Erdenleben nicht unterschätzt werden. Die Freiheit könnte sich nie entwickeln ohne das Erdenleben. Aber großartiger ist das Leben zwischen Tod und Geburt. Die Seelen, die herunter-gestiegen sind, das sind die Seelen, die in Ihnen sind, meine lieben Freunde. Die

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waren wirklich ansichtig ein.er hinter dem physischen Dasein verlaufenden un­geheuer bedeutungsvollen geistigen Bewegung in überirdischen Regionen, der­jenigen Bewegung, die ich innerhalb unserer Anthroposophischen Gesellschaft die Michaels-Bewegung nenne... Die Seelen, die in. Ihrem Leben auf die Erde heruntergezogen sind, die haben diese Michaels-Bewegung gesehen und sind unter dem Ein.druck der Michaels-Bewegung heruntergekommen. Und hier leb­ten sie sich ein in eine Menschheit, die eigentlich den Menschen ausschließt, den Menschen zur Maske macht ... Die anthroposophische Bewegung möchte hier auf der Erde von der Erde aus hinaufschauen zu der Michaels-Bewegung. Die Jugend bringt sich die Erinnerung aus dem vorirdischen Dasein mit. Das führt schicksalsmäßig zusammen. »

Mit diesem Wort von den Michaels-Ereignissen in der geistigen Welt war das Thema angeschlagen, das ein.erseits Rudolf Steiners ganzes Wirken jener letzten Jahre durchzog, andererseits aber auch den roten Faden durch die Breslauer Ju­gendbegegnungen schlin.gen sollte. Auftrag und ernste Problematik der jünge­ren Generation traten in ein unerahnt neues und großes Licht. Ein neues Michaels-Zeitalter war 1879 angebrochen. Das «Finstere Zeitalter« (Kali Yuga) war mit der Jahrhundertwende abgelaufen. «Denn im Grunde genommen ist das, was nach dem Ablauf des Kali Yuga in. den Untergründen der jugendlichen Seele lebt, der Schrei nach dem Geistigen.» Die Bewegung erstrebe «die Er-neuerung alles Seelenhaften auf Erden».

Als dann in der Fragebeantwortung, die schon an diesem 9. Juni einen brei­ten Raum einnahm, die brennende Frage nach dem rechten geistgemäßen Beruf gestellt wurde und nach einem Handeln im Sinne der Michaels-Idee, sprach Rudolf Steiner mit Entschiedenheit von dem Leerlauf der üblichen Berufe und von der Notwendigkeit, neben dem Beruf einen Weg zu finden zum Kraftquell für die Lebensgestaltung. In diesem Zusammenhang fiel das Wort von den gro­ßen Michaels-Festen, die er, Rudolf Steiner, für die Zukunft im Auge habe, die er aber unbedingt zurückhalten werde, solange in der anthroposophischen Be­wegung die Kraft nicht da sei, das Fest »würdig zu halten». «Wenn es in wür­diger Weise gefeiert wird, wird es große Impulse in die Menscliheit hineinsen­den.« Während Rudolf Steiner von den kommenden «Festen der Hoffnung und Erwartung« sprach, straffte sich vor den Augen der Anwesenden seine Gestalt, sein Blick richtete sich über unsere Köpfe hinweg wie in. die Ferne und nahm einen stählernen Glanz an, der uns als Spiegelung einer Welt erschien, die er unmittelbar erschaute. Mit erhobener Stimme sagte er, in diesen Festen müßte man das Bild vor sich haben des Michaels mit den Führeraugen, der weisenden Hand, mit dem geistigen Rüstzeug. Es war ein Augenblick von schicksalbilden­der Eindruckskraft.

Am Schluß der Aussprache kam noch etwas ebenso Unerwartetes: Rudolf Steiner bezeichnete sein Buch «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Wel­ten?»

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als ein »Wandervogelbuch«. Es sei keineswegs, wie Kritiker gemeint hät­ten, mit der Schreibmaschine geschrieben (denn er habe es wie die meisten sei­ner Werke im Bett liegend verfaßt), sondern «durchaus im Anblick der Natur». Auf das Wandern als solches komme es nicht an, sondern darauf, daß man mit dem Herzen etwas sieht.

Hier ltnüpfte eine Frage an, die Rudolf Steiner bei der darauf folgenden zweiten, ganz als Aussprachestunde veranlagten Zusammenkunft gestellt wurde:

es gebe zwei Arten des Naturerlebens, die eine, wenn man singend und in Gesprächen hinausgeht und hauptsächlich sich und einander fühlt, die andere, wenn man allein hinausgeht und die Formen und Linien der Naturerscheinun­gen wie Buchstaben lesen möchte. Welche Art sei die rechte? Steiner griff die Frage auf, betonte die Wichtigkeit und sprach im Anschluß an Nietzsches «Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« vom dionysischen Erleben einerseits und vom apollinischen andererseits. Die Bedeutung des letzteren im Sinne einer anthroposophisch vertieften Naturerkenntnis trat unmittelbar her­vor und wies auf ein ganz neu verstandenes Wandervogeltum. - Vom Nahsein der im Weltkrieg gefallenen Kameraden wurde in. ernster und zarter Weise ge­sprochen.

Wegen ihrer Wichtigkeit sei hier noch die Antwort Rudolf Steiners auf eine einzelne Frage bei dieser zweiten Jugendbegegnung herausgegriffen. Eine junge Teilnehmerin hatte infolge ihres Mitlebens in der anthroposophischen Jugend­gruppe Schwierigkeiten mit ihren Eltern, was den häuslichen Frieden, auch für ihre zahlreichen Geschwister zu gefährden schien. Rudolf Steiner sagte auf die Frage, ob man in solchen Fällen etwa lieber auf die anthroposophische Betäti­gung verzichten solle: Ihre Eltern werden Ihnen nach ihrem Tode dankbar sein. selbst für diese Begegnung mit der Geisteswissenschaft. (Nach der Erinnerung wiedergegeben.) Vielen Menschen ist dieser Ausspruch schon zu ein.er Kraft-quelle in ernsten Auseinandersetzungen und zur Richtlinie im Verhalten beim Kampf um die Wahrheit geworden.

Die beiden Motive des michaelischen Auftrags und der durchgeistigten Na­turerkenntnis schlossen sich dann in der dritten Versammlung, der erwähnten Koberwitzer Jugendstunde vom 17. Juni, in tiefster Weise zusammen. Die ju­gendlichen Teilnehmer am Landwirtschaftlichen Kursus hatten Rudolf Steiner um die Gelegenheit gebeten, mit ihren Fragen und Gesinnungen vor ihn hintre­ten zu dürfen, worauf er mit großer Güte einging. Was erfolgte, war weit mehr als eine Ansprache, es war ein Abschiedssegen. Sehr ernst war der Ton seiner Worte, als Rudolf Steiner von dem «Ruf nach der Natur» im 19. Jahrhundert sprach, der eine schauerliche Erfüllung der Rousseauschen Sehnsucht durch den Materialismus brachte, denn «die Dämonen lachen Hohn». »Aber wie, wie wird vermieden dasjenige, was wie ein Regen wilder Dämonen, aber auch wie ein Regen wilder Täuschungen dem Ruf nach der Natur nachgefolgt ist im

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19. Jahrhundert? Das darf nicht sein.! Das 20. Jahrhundert darf nicht werden ein. materialistisches! So ruft die Stimme des Karma in. den Seelen der jungen Leute von heute: Wenn ihr werden laßt das 20. Jahrhundert materialistisch, wie es das 19. war, dann habt ihr vieles nicht nur von eurer, sondern von der Menschlich­keit der ganzen Zivilisation verloren!»

Eine Naturanschauung, die zu erleben vermag, daß Götter den Tod der Verwandlung sterben mußten, um «in den licht-erglänzenden Kristallformen wieder aufzuleben«, sucht die Jugend. «Sehen Sie, denken Sie, Sie verwandeln dasjenige, was scheinbar auch nur in Ideen lebt, in wirkliche Ändacht, dann sind Sie auf dem allerbesten Wege... Meditieren heißt ja: dasjenige, was man weiß, in Andacht verwandeln, gerade die einzelnen konkreten Dinge. » - «Man sagte, man schmiede das Michaels-Schwert« (im Begreifen der Natur). »Es han­delt sich darum, daß nun einmal diese Tatsache in dem okkulten Teil der Welt besteht, daß dasjenige, was als Michaels-Schwert hergerichtet werden muß, daß das wirklich im Schmieden auf einen Altar getragen werde, der eigentlich äußerlich nicht sichtbar sein könnte, der unter der Erde liegen müßte. » »Natur­gewalten unter der Erde kennenzulernen, führt dazu, zu verstehen, daß das Michaels-Schwert im Schmieden auf einen Altar getragen werden muß, der unter der Erde ist.« Haben Sie das starke und zugleich bescheidene Selbstvertrauen als junge Menschen, daß Sie karmisch dazu berufen sin.d, das Michaels-Schwert herauszutragen, es zu suchen und zu finden.» «Im Schmieden auf einen Altar tragen...« - welch ein zunächst seltsames Bild! Später lernten wir verstehen, wie gerade solche Bilder die Übung zu befruchten vermögen, handelt es sich doch beim Schmieden um einen Seelenprozeß.

Am Schluß der unvergeßlich mahnenden und zugleich - man kann es nicht anders ausdrücken - Liebe ausströmenden Ansprache folgte noch ein Hinweis, der die Teilnehmer überraschte und bewegte. Wie am 9. Juni knüpfte Rudolf Steiner an das von der Jugendbewegung des Jahrhundertanfangs geprägte Wort «Wandervogel« an und gab ihm einen völlig neuen, vertieften Sinn. »Denken Sie in mächtigen Bildern daran, daß zwei Worte sich verbunden haben in dem Streben der Jugend.« Was man eigentlich gesucht habe, war der Wanderer der uralten Zeit: Wotan, der «in Wind und Wolken und Wellen des Erdorganismus webende Wotan«. Und man suchte die Sprache der Vögel, «die man kennenler­nen muß, indem man zuerst das Siegfried-Erinnern und das Siegfried-Schwert in sich rege macht, das nur die prophetische Vorausnahme des Michaels­Schwertes war.« Mit dem Schwert überwand Siegfried den Drachen, in dessen Blut er badete, das er kostete, um dadurch die «Sprache der Vögel« zu lernen. »Man muß den Weg finden vom Wandern zu Wotan, vom Wotan zum Sieg-fried. »

Eine aus alteuropäisch-germanischen Mysterien gespeiste Sehnsucht lebte in der jungen Generation auf, die nach der Jahrhundertwende zur Erde herabge­kommen

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ist. Aber sie muß verstanden und weitergeführt werden zum Erfassen des Michael-Mysteriums unserer Zeit. Sonst gleitet sie - so darf man wohl fol­gern - in den Materialismus ab und ruft nach einer unzeitgemäßen Rückkehr zu Kräften der Vergangenheit und verfällt damit der Dämonie. Das sagte uns Rudolf Steiner in jenen festlichen Pfingsttagen des Jahres 1924 und forderte uns kurz danach durch die Jugendsektion auf, in die dreißiger Jahre des Jahrhun­derts vorauszublicken. Es war ein vorschauender Hinweis auf die heraufstür-menden Gefahren, denen Mitteleuropa im geheimen Drang nach großer Bewe­gung, echtem Führertum und nach dem Ich-Geheimnis des Blutes erlegen ist. Aber Rudolf Steiners Worte sind weiterhin ein Vermächtnis an die Gegenwart und die Nachgeborenen. Was im Jahre 1924 geschah, kann gesehen werden als ein allererster, von den Beteiligten damals kaum begriffener Schritt auf dem Wege zum wahren michaelischen Jungsein, dem Rudolf Steiner die Jugend ernst und freudig entgegenführen wollte.

Am Schluß der Koberwitzer Ansprache ergriff Rudolf Steiner mit beiden Händen die Hand jedes Teilnehmers. - Dann geleiteten wir ihn zum Breslauer Bahnhof. Er fuhr nach Jena und begründete dort die anthroposophische Heil-pädagogik.

Die anfangs geschilderte erste Jugendversammlung in Breslau hatte ein kur­zes, unerwartetes Nachspiel gehabt. Tags darauf traf Rudolf Stein.er einen der jungen Versammlungsleiter, der gastweise auch am Landwirtschaftlichen Kursus teilnehmen durfte, in der Eingangstür, hielt ihn an und fragte: «War es Ihnen gestern recht so?« In höchster Überraschung über die Frage stammelte dieser einen Dank aller Teilnehmer, hatte aber im gleichen Augenblick den unmittel­baren Eindruck, jetzt sei die Gelegenheit eine Frage zu stellen. Ich also: «Herr Doktor, Sie schreiben doch jetzt wöchentlich Briefe an die Mitgliedschaft im Nachrichtenblatt, könnten Sie nicht auch Richtlinien geben für die Jugend­arbeit? Wir wissen namlich oft gar nicht, wie wir es machen sollen.» Rudolf Steiner darauf nach einigem Überlegen: «Ja, das könnte schon geschehen, aber -nicht wahr? - nicht jede Woche.» «Gewiß nicht, Herr Doktor, wie Sie es eben einrichten können, vielleicht monatlich oder vierteljährlich. » «Ja» erwiderte Rudolf Steiner, «und das müßte dann so etwas sein wie Feuchtersleben.» «Wie wer?«, fragte der Ahnungslose. «Kennen Sie nicht Feuchtersleben?» Damit ging das Gespräch zu Ende, und Rudolf Steiner wurde abgerufen. Erst später konnte sich der Fragende über den Wiener Arzt aus der ersten Hälfte des vorigen Jahr­hunderts und seine in der Zeit der eigenen Jugend Rudolf Steiners weitbekannte «Diätetik der Seele« orientieren. Zu den Briefen an die Jugend kam es durch Rudolf Steiners Krankheit und Tod nicht mehr. Aber ein wichtiger Hinweis auf die Art der geplanten Jugendweisheit war uns gegeben.

BERICHTE VERSCHIEDENER TEILNEHMER ÜBER DIE BRESLAUER JUGENDANSPRACHE VOM 11. JUNI 1924

#G217a-1981-SE218 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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BERICHTE VERSCHIEDENER TEILNEHMER

ÜBER DIE BRESLAUER JUGENDANSPRACHE VOM

11. JUNI 1924

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«Es wird sehr schwer sein, etwas Objektives über die zweite Breslauer Jugend-ansprache von Dr. Steiner zu erhalten. Jeder erinnert sich an etwas anderes, so wie er es eben persönlich aufgenommen hat. Notizen zu machen, lag uns damals sehr fern. Denn uns hat nicht nur der gesprochene Satz von Dr. Steiner so tief beeindruckt, sondern auch sein Verhalten zu den ein.zelnen Fragestellern, zu der vorliegenden Situation in unserem Kreis und auch die Att, wie er man­che Dinge zu uns sagte.

Nach der Einleitung, so ist es in meiner Erinnerung, wurde die erste Frage etwa so gestellt: Wenn wir hinausgehen in die Natur, so habe ich immer eine unbefriedigende Empfindung, daß wir so genießend und rauschhaft uns der Natur gegenüber verhalten. Ich frage mich oft, ob wir als Menschen der Natur nicht auch etwas geben müßten. - Dr. Steiner sagte: Er fügte hinzu, er möchte von sich aus noch einmal auf das Thema aus der ersten Versammlung zurückkommen über das Apollinische und Dionysische. Er sagte sehr ernst, die Jugend lebe sehr einseitig in einem dionysischen Element, und Das Erschütternde war, daß die Veranlassung zu dieser Antwort ein junger Freund gegeben hatte durch seine Fragestellung, der etwa nach zwei Jahren an einer Geisteskranltlieit gestorben ist. [Eine Notiz über das hier noch einmal erwähnte Thema hat sich nicht erhalten.]

Dann wurde die Frage gestellt: Wie verträgt es sich mit der Forderung, immer Toleranz zu üben, wie sie in dem Buche steht mit der Tatsache, daß man als junger Mensch oft in so heftigem Konflikt steht mit den alten Menschen, zum Beispiel den eigenen Eltern. Da übt man gar keine Toleranz. Da sagte Dr. Stein.er:

Am Schluß kam man auf die Frage des Verhältnisses zu den Toten. Ich sagte, als einsamer Rest aus Wandervogel-Freundeskreisen fühle ich nüch gedrängt auszusprechen: Wir sind heute hier nur zu einem sehr kleinen Teil versammelt. Eigentlich sind wir viel mehr, wenn wir an unsere liebsten Gefährten denken, mit denen wir brüderlich in der Jugendbewegung zusammen waren. Sie zogen als Idealisten in den Krieg, und viele kamen nicht wieder. Ich hätte die Frage:

Was können wir tun für jene Kameraden, wie können wir sie hereinrufen in unsere

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gemeinsame Arbeit? Dem Sinne nach antwortete Dr. Steiner: Es sei sehr wichtig, in alles, was zu tun ist, die Toten mit hineinzunehmen. Er sprach von den jungen Toten, die unver­brauchte Ätherleiber haben. Ein waches Bewußtsein würde ungeahnte Kräfte entwickeln.» Siehe auch «Der Tod als Lebenswandlung«, GA Bibl.-Nr. 182.

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ERINNERUNGSBILDER AUS ZWEI VORTRÄGEN VON RUDOLF STEINER UBER MALEREI gehalten während des Jugendkurses, 3. bis 15. Oktober 1922 in Stuttgart

#G217a-1981-SE222 Die erkenntnisaufgabe der Jugend

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ERINNERUNGSBILDER AUS ZWEI VORTRÄGEN

VON RUDOLF STEINER UBER MALEREI

gehalten während des Jugendkurses,

3. bis 15. Oktober 1922 in Stuttgart

Maria Strakosch-Giesler

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Als Rudolf Steiner im Jahre 1922 - es war vom 3. bis 15. Oktober - in Stuttgatt den Jugendkurs hielt, sprach er auch über die Malerei in zwei besonderen Vor­trägen. Es waren viele junge Menschen als Hörer zu diesem Jugendkurs ge­kommen, welche sich ihrem Lebensberuf zuwenden wollten und Hinweise in dieser Richtung suchten. Ein Teil derselben interessierte sich für die Pädagogik im allgemeinen. Rudolf Steiner rechnete in seinen Ausführungen mit dieser Tat­sache und machte auf dem Gebiet der Pädagogik mancherlei Angaben. Heute haben wir unter den Waldorflehrern und unter den Leitern von heilpädagogi­schen Instituten manche Persönlichkeit, die damals den Jugendkurs mitgemacht hatte. Es war die Aufgabe Rudolf Steiners, in diesem Jugendkurs den Sinn für das Künstlerische in den Hörern zu wecken, und so wurde die Malerei und die Farbenwelt behandelt.

Rudolf Steiner gab in zwei Vorträgen nicht nur wertvollste Angaben, son­dern er malte auch selbst vor.

Damals unterhielt «Der Kommende Tag AG. zur Förderung geistiger und wirtschaftlicher Werte» in Stuttgart ein «Naturwissenschaftliches Forschungsin­stitut«. In einem der Laboratorien wurden von einem Chemiker, welcher auf die Anregungen Rudolf Steiners in verständnisvoller Weise einging, Pflanzen-farben hergestellt, und diese waren schon bis zu einer gewissen Brauchbarkeit entwickelt. Nicht lange danach war »Der Kommende Tag» aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, die groß angelegten Arbeiten dieses Forschungsinstitutes einzustellen.

Als nun Rudolf Steiner seine Vorträge über die Malerei während des Jugend-kurses hielt, bat er um die Pflanzenfarben als Malmaterial, da er zugleich ausprobieren wollte, wieweit dieselben inzwischen an Verwendbarkeit als Malerfarben gewonnen hatten. Da ich mit diesen Malversuchen und einigen handwerklichen Herstellungen der Pflanzenfarben zu tun hatte, oblag es mir, das Material für Rudolf Steiner herzurichten.

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Erster Vortrag vom 13. Oktober 1922

Der erste Vortrag über die Malerei wurde nun von ihm so eingerichtet, daß er selbst vormalte.

Um den interessierten und erstaunten Zuschauern seine Malereien, die mit wunderbarem Farbensinn und zartester, aber vollbewußter Strichlage ausge­führt wurden, nahezubringen, sprach er erklärende Worte zu den entstehenden Bildgestaltungen.

Hier soll nun versucht werden, diese Worte andeutend wiederzugeben. Die Grundlagen für diese Arbeit sind allerdings recht mangelhaft. Es wurden keine offiziellen Nachschriften von diesen Vorträgen gemacht. So handelt es sich nur um persönliche Notizen von verschiedenen jungen Leuten, welche aber im ganzen schwer zu enträtseln sind, da die Nachschreibenden meist selber nicht verstanden, was sie nachschrieben. So ist also nur noch ein gewisses Gedanken-gestrüpp vorhanden. Ich selbst habe während der beiden Malvorträge keine Notizen gemacht. Eine andere Grundlage ist die Erinnerungsmöglichkeit. Diese wurde dadurch gestützt, daß die jungen Menschen nach den Vorträgen jeweils in mein Atelier heraufkamen, das auf dem Gelände der Waldorfschule lag. Es wurden dann die Farbenprobleme lebhaft besprochen.

Nach Beendigung des Jugendkurses blieben noch eine Anzahl der jungen Freunde in Stuttgart, und wir versuchten gemeinsam in meinem Atelier die Angaben Rudolf Steiners herauszuarbeiten. Das ist wohl die beste Stütze für das Gedächtnis, wenn man in selbstschaffender Weise in die Probleme einzu­dringen versucht. Dadurch sind später die Angaben und Richtlinien Rudolf Steiners nicht verlorengegangen, sondern in die Praxis eingegangen.

Jetzt zeigt es sich allerdings immer mehr, daß die vielen seitdem neu hinzu­gekommenen Mitarbeiter in den vielen Instituten der anthroposophischen Be­wegung nicht mehr so leicht den Zugang zu dieser heilkräftigen und zukunft-reichen Farbenwelt finden können, und so sei hier der Versuch gemacht, teils aus allerhand Notizen, teils aus der eigenen Erfahrung, die aus dem Gedächtnis an die früheren Worte Rudolf Steiners allmählich herauswuchs, einiges von den damaligen Vorträgen wiederzugeben. In den Skizzen finden sich hie und da Worte und Sätze, die das wiedergeben, was Rudolf Steiner selbst gesprochen hatte. Oft sind es nur halbe Sätze. Diese sind nun zur Kennzeichnung kursiv gedruckt.

Am 13. Oktober sprach Rudolf Steiner in dem ersten Vortrag, den er wäh­rend des Jugendkurses über die Malerei hielt, zuerst über die Kunst im Allge­meinen. Er sagte, daß «Kunst» von dem Worte «Können» komme.

Die Menschen haben wohl schon gelernt, die Farben in der Sinneswelt zu sehen, aber die Farbe ist da zunächst noch tot, und sie muß daher durchseelt werden. Wenn die hierzu notwendige Aktivität der Künstler erstirbt, erstirbt

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auch die Kunst. Die Farbe darf nicht nur äußerlich gesehen und aufgestrichen werden, zum Beispiel das Gelb.

Vor Rudolf Steiner stand ein Malrahmen, auf den ein schönes weißes Papier aufgespannt war, für ihn zum Malen bereit. Er sagte: «Der Ausgangspunkt für das Malen ist die Fläche. Was ist nun eine Fläche? In der Fläche kann der Wille nicht zum Ausdruck kommen, denn der Wille ist dreidimensional.

Der Wille wirkt im Dreidimensionalen> das Gefühl lebt sich aus im Zweidi­mensionalen. Die Fläche ist zweidimensional: nur soviel kann ich aus der Fläche erleben, als in mir Gefühiswelt ist. Gedanken kann ich überhaupt nicht malen, denn Gedanken haben nur eine Dimension.»

Dann wies Rudolf Steiner darauf hin, daß hier die Fläche weiß sei. «Im Weiß ersterben die Farben.« Damit war das Weiß gemeint, wenn neben ihm auf der Fläche eine Farbe gemalt wird. Denn später sagte er: «Wir dringen durch das Weiß wie durch ein Tor in alle Farben ein. Im übenden Eindringen in dieses Wort erfährt man, daß das reine Weiß eben beim Malen ganz überwunden wer­den muß. Es muß eben zum Licht werden. Da legt sich dann ein wenn auch noch so zartes Gelb über das reine Weiß, welches dadurch eine Durchseeltheit bekommt. Und durch die Farbe soll ja alles durchseelt werden, wenn sie richtig erlebt wird.«

Dann begann Rudolf Steiner mit dem Malen. Er sagte dazu: «Ich will etwas gedämpftes Blau malen. Ich muß eine matte blaue Fläche erleben können, die Farbe muß ganz in mir sein. Ich kann vielleicht aus dem matten Blau etwas herausholen. Wenn aber etwas herauskommen soll, muß das blaue Erlebnis in irgend etwas übergehen.«

Während dieser Worte hatte er mit den Pflanzenfarben auf der rechten und auf der linken Seite des Malgrundes ein gedämpftes Blau gemalt in reichen, dem Blau entsprechenden Tönen. Diese wurden wie zu einer großen, die Mitte des Blattes umschließenden Gebärde. Das Blau des Nachthimmels ruhte noch dar­in, doch war es schon leis erhellt von einer anderen Farbe. Das Blauerlebnis ging schon in etwas anderes über. «Ich will etwas malen, was an mich heran­kommt«, sagte er. «Ich habe etwas auf der Fläche, was aus der Fläche heraus-wirken will.« Und so begann er, die ausgesparte Mitte des Blattes mit den strahlenden Formen eines leuchtenden Gelb zu bemalen. Diese Pflanzenfarben, besonders das Gelb, hatten damals den Charakter des Selbstleuchtens, und so kam eine Wirkung unter der Hand Rudolf Steiners zustande, die einen auf das Tiefste ergreifen und innerlich umwandeln konnte. Die Pflanzenfarben ver­loren aber noch leider bald ihre Leuchtkraft und verblaßten schnell. Als er dieses gemalt hatte, sagte er: «Das ist viel zu unruhig, ich kann da nur helfen, wenn ich nach unten da eine Stütze anbringe.> Er malte dann in rosa-rötlichen Tönen die Erdoberfläche. Dann sagte er: #SE217a-225

das von unren eine Stütze bekommt - so erlebt sich aus der Farbe ein Sonnen­aufgang.

Ich muß das fortwährend so erleben, nicht nur, wenn ich male. Das, worauf es beim Malen ankommt, ist, daß alles aus der Farbe herausgeholt werden muß. Womöglich soll nicht gezeichnet werden. Denn Zeichnen im Malen heißt lügen und nicht aus der Farbe heraus leben.«

Nun wandte sich Rudolf Steiner einer zweiten mit weißem Papier bespann­ten Tafel zu und begann ein Neues darauf zu malen. Er sagte dann: «Ich will aus dem schwärzlichen Blau etwas erleben, was sich wie ein Loch in dasselbe hineinbohrt, wie ein kosmisches Loch. Das kann etwas rötliches sein. Ich spiele nun etwas mit dem starken Blau. Dann gebe ich ihm eine Stütze. In der Stütze kann etwas sein von anderer Farbe. So habe ich eine Mondenstimmung.

Vom eignen Farbenerleben geht einem das Herz auf für die Naturfarben. Der Physiker betrachtet nur den Leichnam der Welt. Was schimmernd, schil­lernd über den Dingen schwebt, darüber spielt, das hat Zukunft. Es ist die Farbe das Kind des Kosmos.«

In der Mitte der weißbespannten Tafel war so der Mondaufgang entstanden. Rechts von demselben setzte er oben auf die Tafel eine andere Übung, die aber nichts mit dem Mondaufgang zu tun hatte. Es war wieder ein Versuch, den jungen Menschen etwas vom Wesen der Farbe nahezubringen. Er tat dieses, indem er einen Kopf im Profil malte, er nannte es: «das erste Element eines Ge­sichtes im Profil: Blau-Gelb.« Dann sagte er: «Das Gelb will sich ausfransen. (Nase, Augen, Mund, Kinn.) Das Blau zieht sich zurück.» Das Blau umschloß, wie das Haar, in runder, ruhiger Form, die im bewegten, «ausgefransten« Gelb gestalteten Gesichtsteile. Hier wurden in eindrucksvoller Weise die Bewegun­gen der einzelnen Farben hervorgeholt: Das Gelb, das von innen nach außen strahlen will - und das Blau, das sich zurückzieht, das sich abscMießt und außen dunkler, innen aber heller wird.

In einem Gesicht, bei dem die Stirne sich senkt, sind wieder zwei Farben ne­beneinander, rot und gelb. Das Rot kommt einem entgegen in der nach vorne gebeugten Stirne. Weiter zurück liegt das Gelb in der unteren Partie des Ge­sichtes, welches sich so gegenüber dem Rot zurückzieht. «5ie müssen sich daran erinnern, daß in der Farbenwelt ein durchaus Schöpferisches liegt. Sie werden selber zum Schöpfer, wenn Sie mit der Farbe spielen, doch müssen Sie schon noch die nötige Bescheidenheit dazu behalten.

Wenn ich etwas Teuflisches malen will, werde ich beim Zinnoberrot anfangen müssen - und dann das sanfte, zarte Blau malen. Das Rot will ja immer heraus­kommen und alles Teuflische will auch immer auf mich losstürzen.

Will ich einen Engel malen, der sich bloß anschauen laßt (die allersanfteste Beschäftigung), dann kann ich ihn nur im zartesten Blau malen, es ist das Aller-sanfteste.«

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Zweiter Vortrag vom 15. Oktober 1922

Rudolf Steiner hat bei diesem zweiten Vortrage über die Malerei den Zuschauenden nicht mehr vorgemalt. Auf diesem Gebiete hatte er mit den beiden ge­malten Tafeln, dem Sonnenaufgang und der Mondenstimmung, eine Fülle von Anregungen gegeben, die nun in fortwährender Tätigkeit ausgearbeitet werden mußten.

In diesem zweiten Vortrage wollte nun der Lehrende in den Hörern den Künstlersinn ansprechen und wecken. Zuerst sagte er noch einige Worte über das Material der Pflanzenfarben. Er sprach davon, wie notwendig es sei, nun das richtige Malmittel zu finden. Er hat ja dann in Stuttgart sich noch im Labo­ratorium, in welchem die Pflanzenfarben hergestellt wurden, sehr eingehend mit diesem Problem beschäftigt. Das Resultat war dann recht befriedigend. Es war ein milchig aussehendes Malmittel, welches aus acht verschiedenen Harzen und ätherischen Olen hergestellt worden war.

Im Mai 1921 hatte Rudolf Steiner in Dornach seine drei Vorträge über das Wesen der Farbe gehalten. Im letzten der Vorträge gab er die Gesichtspunkte für die Darstellung der drei Naturreiche, Stein, Pflanze, Tier, aus dem Wesen des Farbigen heraus gestaltet, an.

In dem Vortrag vom 15. Oktober 1922 ging er mit wenigen Worten auf Mi­neral- und Tierreich ein und erwähnte dann auch die menschliche Gestalt. Er zeigte, wie man zu jedem der Reiche eine andere Einstellung finden müsse. Jedoch mit dem Wesen der Pflanzen beschäftigte er sich näher und zeigte, wie die Farben bei der Pflanze besonders in den Blüten entstehen. - Ganz anders muß die Einstellung zu den leblosen Gegenständen sein als zu den Pflanzen.

Bei der Pflanze müssen wir miterleben, daß dieselbe irdisch und sonnenhaft ist, und aufsuchen das, was vom Sonnenlicht an ihr bewirkt wird. Die Pflanze hat erstens die Richtung nach aufwärts. Diese strebt bis zum Fruchtpunkt. Die Richtung nach aufwärts stammt nun vom vorigen Jahre und stellt dar alles, was die Pflanze vom Allernützlichsten hat.

Das, was die Farbe ist, das, was auch die große Schönheit ist, schwingt im Kreise als Blatt und Blüte um den aufwärtsstrebenden Stengel und stammt von diesem Jahr.

Nun folgen Angaben in den von Rudolf Steiner geprägten Worten; er sagte:

«Ober das Naturschöne kann man keine Begriffe bekommen. Jedes Stück Natur ist eine Revolte gegen das Ästhetentum. Die Natur ist dann schön, wenn sie das Unnützliche anrankt an das Nützliche.

Die Blume gibt sich schon selbst die Farbe, das muß der Maler erleben können. Jedes Malen nach Modell ist bei der künstlerischen Ausgestaltung schon ganz unmöglich, aber lernen müssen künstlerisch Empfindende von der großen Künstlerin. der Natur!

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Unsere Seele kann heute nur schwer hineinwachsen in das freie Gestalten, aber die Welt des Farbigen ist in sich ein Schaffendes, und wir müssen uns in sie ganz hineinleben.

Dann müssen wir vor allem wieder empfinden lernen, wie ein blauer Fleck in die Tiefe zieht - ein roter Fleck aber kommt heraus, kommt entgegen. Die Flä­che ist das Lebenselement der Empfindung in ihrer Zweidimensionalität. Dabei fängt sie auf, was das Lebenselement der Farbe ist. Blau kommt gleichsam von hinten an die Fläche heran. Rot und Gelb wollen von vorne herankommen an die Fläche.

Die Farbe muß man erleben als Perspektive. Die Zentralperspektive ist tot, hängt mit dem Intellektualismus zusammen. In der Farbenperspektive muß erlebt werden, daß auf der dunklen Seite die Farbe sich entfernt, auf der hellen Seite sie sich naht. Die Farbe muß auf der Fläche gleichsam aufgefangen wer­den. Wenn man im Unterricht die Farbenperspektive nahe bringen will, kann es auf folgende Weise geschehen: Man laßt einen runden, blauen Fleck malen und ein Gelb ringsum. Dann versucht man die Empfindung dafür zu wecken, wie das Blau zurückgeht und das Gelb vorkommt. Das Blau wirkt wie ein Loch. -Danach wird ein roter Fleck gemalt und ein bläulich-grünlicher Rand ringsher-um. Das Rot wirkt dann erhaben.«

Rudolf Steiner deutete dann noch darauf hin, daß man aus dem Material her­aus arbeiten soll. Da nahm er die Plastik als Beispiel. Er sagte zum Plastiker:

«Arbeitest du im Holz, dann mußt du alles gleichsam herauskratzen, die Höh­lungen auskratzen, arbeitest du aber in Marmor, so muß alles gleichsam aufge­setzt werden, zum Beispiel die Nase.»

Dann erwähnte er, daß die Rahmenfrage an sich unkünstlerisch sei. Der Goldrahmen ist der letzte Rest von den Goldgründen der alten Meister. Diese sahen, wenn sie geistig schauten, die Gestalten und Menschen aus dem lichten Gold hervorgehen.

Wiederum versuchte nun Rudolf Steiner bei seinen Hörern den Sinn und die richtige Aufnahmefähigkeit für das Künstlerische zu wecken, besonders bei der Betrachtung der bildenden Kunst.

Er nahm Dürers «Melancholie», diesen bekannten Kupferstich, als ein Bei­spiel. Er zeigte daran, daß Dürer nicht eine Melancholie abmalen wollte, son­dern, wie das Wort Melancholie - das schwarzfarbig bedeutet - sagt, diese Schwarzfarbigkeit durch das Licht überwinden zu lassen. Die Lichtgestaltung des Raumes zeigt das Bild. Es ist eine Licht-Dunkel-Studie, um die Geheim­nisse des Lichtes an Mineral, Pflanze, Tier und Mensch zu studieren. Er sagte dann: «Hat Dürer nicht noch Anderes, Tieferes empfunden?, fragen wohl sen­timentale Menschen, denn das Zeitalter will das wahrhaft Künstlerische nicht mehr empfinden. Man muß tatsächlich dieses rein erleben, so auch beim Maleri­schen. Die Form muß aus der Farbe kommen!>

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Dürer wollte also die Offenbarungen des Lichtes studieren. Hier darf wohl noch hinzugefügt werden, was mir persönlich Rudolf Steiner über diesen Kup­ferstich von Dürer sagte, als er mir einmal den Auftrag gab, Dürers Melancho­lie in Farben umzusetzen.

Er übergab mir als erste Aufgabe, daß ich untersuchen solle, wie viele Hell-Dunkel-Schattierungen Dürer an dem Vielflächner, der sich in der Mitte der linken Seite befindet, angewendet habe. Es seien gleichsam alle Nuancie­rungen, die im ganzen Bilde zu finden seien, in diesem Körper zusammenge­faßt. Bei eingehendem Studium, zum Beispiel eines Reichsdruckes, der wirklich alle Nuancierungen bringt, entdeckte ich deren zwölf, vom hellsten Licht zur tiefsten Schwärze gehend.

Als ich dies Rudolf Steiner sagte, nickte er zustimmend. «Und nun überset­zen Sie das ganze Bild in das Farbige, aber achten Sie darauf daß sich zwei Lichtquellen auf dem Blatt befinden. Eine kommt von außen auf das Bild und erhellt die Gegenstände und eine bricht hervor aus dem Bilde selbst.« Dabei legte er seine zarten, ausdrucksvollen Hände in behutsamer Bewegung so auf das Bild, daß die linke Hand leicht auf der Kugel lag, die sich zu Füßen der engelhaften Gestalt befindet. Diese Kugel ist von außen beleuchtet.

Die andere Hand legte er auf das Licht, das oben über dem Meere und dem Land aus den Wolken machtvoll hervorbricht. Ein Regenbogen überwölbt diese Lichtquelle und vor ihr flieht eine dunkle Fledermaus. Sie trägt vor ihren Flü­geln eine Art Schriftband mit der Inschrift: Melencolia - i. Melancholia - flieh! -Die Kugel und ihre ganze Umgebung ist beleuchtet von der Sonne, die sie von außen bescheint. In gelblichen Tönen wird diese Lichtwirkung sich gestal­ten. Das über Erde und Meer hervorflutende Lichtelement wird dagegen in der Farbe des Pfirsichblüt erscheinen. Für die Dunkelheit kommen beim gelblichen Lichte die Farben Blau und Violett in der Hauptsache in Betracht. Beim Pfir­sichblüt durch den Regenbogen alle Farben.

Hierauf kam Rudolf Steiner auf das Farbenwesen selbst wieder näher zu sprechen. Wir müssen die Farbenperspektive künstlerisch erleben, die Raumper­spektive geht eigentlich nicht in den Raum herein. Auch mit dem Material müssen wir leben lernen. Die Goethesche Farbenlehre ist für die Farbenper­spektive eine Fundgrube, besonders das Kapitel «Sinnlich-sittliche Wirkung der Farben«. Den Köpfen geht es nicht ein, aber den Fingern, und man kann doch nur aus den Händen malen und nicht aus dem Kopfe.

Rudolf Steiner gab nun noch wertvollste Hinweise darauf, wie sich das Wesen des Farbigen beim Menschen darbietet. Er führte etwa folgendes aus:

Durch die Farbe muß man wirklich das Innere des Menschen erleben. Das ist möglich, wenn man die Farbe seines Antlitzes erlebt.

Beim Tier kann man nicht das Innere durch die Farbe erleben, auch wenn das Fell abgezogen ist. Doch wenn man das Menschenantlitz malt. so wird man

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die Farbe seines Antlitzes zu durchdringen suchen, und rings um dasselbe wird man farbig seinen Astralleib sehen.

Das Antlitz des Menschen hat nichts in der Natur, was ihm ähnlich ist. Es ist das Allermenschlichste. Und die Farbe desselben als äußere Offenbarung des Innern ist ein Wertvollstes am Menschen. Das Gehirn ist nicht am wertvollsten beim Menschen. Das menschliche Haupt ist wahr nach außen hin und deshalb kosmisch und nirgends sonst zu finden.

Die Beine sind von außen aus der Schwerkraft der Erde gebildet. Die Beine stellen sich von der Erde hinein in unseren Organismus.

Ein Geometer wird einer, weil er das Gehirn deutlich erlebt. Und Mathema­tiker werden wir dadurch, daß wir unsere Gliedmaßen bis ins Knochensystem erleben Nicht aus dem Nervensystem kommt die mathematische Begabung, im Hirn ist nur die Spiegelung.

Der menschliche Akt bildet sich in uns um zu einem Erleben in der Farbe.

Jetzt ist das Leben in der Farbe verlorengegangen. Das Inkarnat wird nicht mehr erlebt gemalt. Raffael und seine Zeitgenossen konnten noch nicht von den menschlichen Formen absehen. Die Farbe des Menschen brachte er zum Aus­druck in der Art, wie er den Menschen anzog. Maria und Josef sind gegeben in Blau und Rot. Weiblich - männlich. In Paris haben wir von Leonardo den Dionysos und Johannes. Wir können beobachten, wie bei Johannes alle von außen kommende Farbe abprallt, während bei Dionysos alle Farbe von innen kommt.

Aus den Händen heraus muß gemalt werden. Man muß im Strich die Persön­lichkeit erkennen. Im amorphesten Farbenfleck muß man die Hand sehen und muß wissen, ob der Maler den roten Fleck von links nach rechts gemalt hat.

«Aus den Tiegeln, aus der bewegten flutenden Farbe aber soll gemalt wer­den, nicht von der Palette herunter mit der festen Farbe.» Den zum Schluß an­gegebenen Hinweis gab Rudolf Steiner in einem seiner drei Vorträge über das Wesen der Farbe; derselbe ist zum Verständnis der Angaben über die Strichfüh­rung notwendig.

HINWEISE

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HINWEISE

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Die hier innerhalb der Gesamtausgabe veröffentlichten Ansprachen von Rudolf Steiner sind unter dem Namen Jugendansprachen bekanntgeworden. Die Ansprachen vom

20. März und 8. September 1921, vom 9., 17. Juni und 20. Juli 1924 wurden bereits 1949 als Arbeitsmaterial für Mitarbeiter der Anthroposophischen Jugendarbeit vervielfältigt. Die erste gedruckte, um fünf Ansprachen erweiterte Ausgabe erschien 1957. Die vor­liegende, um eine weitere Ansprache ergänzte Auflage umfaßt alle Ansprachen an die Jugend, insofern sich Nachschriften erhalten haben. Eine Aufstellung von allen stattge­fisndenen Ansprachen befindet sich auf Seite 6.

Zur Wiedergabe der Tezte muß ausdrücklich betont werden, daß die vorhandenen Nachschriften mit wenigen Ausnahmen lückenhaft, meist aphoristisch angefertigt wur­den; die Nachschrift vom 20. März 1920 besteht aus nachgeschriebenen Notizen, welche aus dem Gedächtnis der Teilnehmer ergänzt wurden. Diese besonderen Umstände sollten berücksichtigt werden.

Eine wesentliche Vorarbeit für die Herausgaben leistete Werner Teichert, der mit viel Mühe einen Teil der Texte, die sich verstreut in den Händen verschiedener Teilnehmer an den Jugendversammlungen befanden, sammelte. Die Herausgabe der Jugendansprachen war eine der Aufgaben, aus denen sein früher Tod 1955 ihn herausriß. Frau Dr. Steiner hatte noch die Ansprachen zum Druck bestimmt.

Werke Rudolf Steiners, welche innerhalb der Gesamtausgabe (GA) erschienen sind, werden in den Hinweisen mit der Bibliographie-Nummer angegeben. Siehe auch die Über sicht am Schluß des Bandes.

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17 Ansprache an die Studenten: Die Ansprache fand innerhalb des ersten anthropo­sophischen Hochschulkurses, 26. September bis 16. Oktober 1920, an der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, Goetheanum, in Dornach statt. Die Hoch­schulkurse veranstaltete der «Verein Goetheanismus» zusainmen mit dem «Bund für Anthroposophische Hochschularbeit». Die Einrichtung besorgte Dr. Roman Boos, der auch den Einladungstext verfaßt hatte.

zu dem Inhalt des Aufrufes: Im Anhang, S. 197, veröffentlichen wir den durch den Bund für anthroposophische Hochsehularbeit, Swttgart, verbreiteten «Aufruf an die akademische Jugend».

an einen anderen Aufruf Aufruf zur Begründung eines Kulturrates! Herausge­geben Pfingsten 1919 in Stuttgart durch den Arbeitsausschuß des Bundes für Drei­gliederung des sozialen Organismus, abgedruckt in Hans Kühn, «Dreigliederungs­Zeit. Rudolf Steiners Kampf für die Gesellschaftsordnisng der Zukunft«, Dornach 1978, S. 214ff. Unter den zahlreichen Unterschriften fällt der Name von Thomas Mann, der damals in München lebte, auf, oder der Naine von Kapellmeister Fritz Busch, Stuttgart. Der umfangreiche Aufruf schließt mit folgenden Worten:

»Aus dem Gesagten ergeben sich folgende Grundforderungen, deren Erfüllung im dreigliedrigen sozialen Organismus möglich ist: i. Befreiung der Unterrichts-tätigkeit von jeder staatlichen Aufsicht. Einrichtung der Grundschule nur nach pädagogisch-didaktischen Gesichtspunkten und Vetwaltung derselben nur durch Persönlichkeiten, die innerhalb der Selbstverwaltung der Geisteskultur stehen. 2. Abschaffung des staatlichen Berechtigungswesens für Miuel- und Fachschulen.

3. Autonomie der Hochschulen.

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Wir stellen diese Fragen hiermit zur öffentlichen Diskussion. Wir wenden uns an alle diejenigen, denen die Kultur im weitesten Sinne des Wortes am Herzen liegt, vor allem an die Vertreter der Wissenschaft und Kunst, der Erziehung und des Unterrichts, insbesondere auch an die Eltern und nicht zuletzt an die aka­demische Jugend. Wir wenden uns ferner an die Auslandsdeutschen, die auf ihren vorgeschobenen Posten die ungesunde Vermengung des kulturellen Lebens mit den staatlichen und wirtschaftlichen Interessen stets besonders schmerzlich emp­funden haben. Wir fordern alle auf, die gewillt sind mitzuwirken im Sinne der Emanzipation des Geisteslebens, sich mit uns zusammenzuschließen zur Bildung einer Gemeinschaft, deren Aufgabe es sein wird, das gesamte Unterrichts- und Erziehungswesen im Sinne des oben Charakterisierten umzugestalten. Wir sind erfüllt von der Hoffnung, daß es durch die gemeinsame Arbeit einer solchen freien Vereinigung von Menschen, die auf den verschiedensten Gebieten des Geistes­lebens tätig sind und die durchdrungen sind von der Erkenntnis, daß die Be­freiung der Geisteskultur höchste Lebensnotwendigkeit ist, möglich sein wird, den Grundstein zu legen zur Organisation eines freien, auf sich selbst gestellten Geisteslebens.«

17 Im Jahre 1919: «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkei­ten der Gegenwart und Zukunft,, - dieses Buch von Rudoff Steiner erschien in einer Auflage von 40 000 Exemplaren (GA Bibl.-Nr. 23); am Ende des Buches folgte der Aufruf »An das deutsche Volk und an die Kulturwelt!». Der Aufruf wurde durch ein Komitee in Deutschland, Österreich und in der Schweiz verbrei­tet; er ist im Anhang, S. 193, wiedergegeben.

18 Geltung des Hochschulwesens: Vergleiche hierzu die Aufsätze Rudolf Steiners über die Hochschulfrage aus dem Jahre 1898 in »Gesammelte Aufsätze zur Kul­tur- und Zeitgeschichte 1887-1901», GA Bibl.-Nr. 31, S. 235ff., 289ff. und 310ff., und den Aufsatz »Freie Schule und Dreigliederung» in »Aufsätze über die Drei­gliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915-1921», GA Bibl.-Nr. 24,

S. 35 ff.

19 ImmanuelKant, 1721-1804.

Emil Du Bois-Reymond, 1818-1896.

Die wissenschaftliche Schutztruppe der Hohenzollern: Emil Du Bois-Reymond in seiner Akademischen Rede vom 3. August 1870 (Reden, Bd. 1, S. 92): »Die Berliner Universität, dem Palaste gegenüber einquartiert, ist durch ihre Stiftungs­urkunde das geistige Leibregiment des Hauses Hohenzollern.»

Aufsatz des Rektors der Universität Halle: Konnte bis jetzt noch nicht festgestellt werden.

22 Oswald Spengler, 1880-1936, Geschichts- und Kulturphilosoph, in seinem Haupt­werk »Untergang des Abendlandes« (2 Bde., 1918/22).

25 Domenico Benedetto Gravina, geb. 1807 in Palermo, Kunstschriftsteller, Abt des Benediktinerklosters zu Monreale.

Wilhelm Scherer, 1841-1886, Sprach- und Literaturwissenschafter.

29 Ausführungen dieser Art: Bezieht sich auf die vorausgegangenen Veranstaltungen.

unter der gegenwärtigen vertikalen Völierwanderung: Dainit bezeichnete Rudolf Steiner die sich in der Gegenwart vollziehende soziale Umschichtung: das Heraufkommen

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des Proletariats als des vierten Standes, der aber zugleich die Über­windung der alten Klassen- und Standesunterschiede mit sich bringen wird.

31 ein Gelehrter: Konnte bisher nicht eindeutig festgestellt werden.

32 Prnfessor der Botanik: Otto Penzig, 1856-1929, Professor der Botanik an der Universität Genua, Verfasser eines großen Werkes über Mißbildungen der Pflan­zen.

Friedrach Hölderlin, 1770-1843.

33 Mr. Thomas: Calvin Thomas, 1854-1919, Germanist an der Columbia University (Nrw York); verfaßte die Biographie »Goethe», New York 1917.

Erich Schmidt, 1853 1913, Literarhistoriker, 1885-1886 Direktor des Goethe Archivs in Weimar; Schüler von Wilhelm Scherer.

34 Wilhelm Bölsche, 1861-1939, naturwissenschaftlicher Schriftsteller.

35 die Aufgahe gelöst werden: Auf Grund dieser Anregung wurden im Anschluß an den ersten anthroposophischen Hochschulkurs am Goetheanum in Dornach von einigen Waldorflehrern und verschiedenen Vortragenden die »Freien Anthropo­sophischen Hochschulkurse» in Stuttgart eingerichtet.

36 Dr. Walter Johannes Stein, 1891-1957, Lehrer an der Freien Waldorfschule in Stuttgart.

37 die Begründung des Weltschulvereins: Der von Rudolf Steiner hier erwähnte Weltschulverein ist damals nicht zustande gekommen. Er war nicht als eine Art Verband bereits bestehender Waldorfschulen gedacht, sondern als eine über die ganze zivilisierte Welt gehende Organisation zur Propagierung eines freien Gei­steslebens und zur Finanzierung von Institutionen - vor allem von fr't'im Schulen und Hochschulen -, die der Begründung eines von staatlichen Einrichtungen freien geistigen Lebens dienen sollten. - Nach Rudolf Steiners Tod ist der Ver­such der Begründung eines solchen Weltschulvereins noch einmal aufgenommen worden; er hat ebenfalls zu keinem Ergebnis geführt.

38 wegen der Valuta: Gesprochen 1920!

41 Fragenheantwortung: Teilnehmer an den Freien Anthroposophischen Hochsehul­kursen in Stuttgart hatten Rudolf Steiner um eine Aussprache über die Jugend­bewegung gebeten. Diese Zusammenkunft fand am Palmsonntag während der Ferienkurse, die im Anschluß an das erste Semester der Freien Hochschulkurse eingerichtet wurden, statt. Rudolf Steiner hielt während dieser Tage einen acht Vorträge umfassenden Kursus über »Naturbeobachtung, Matliematik, wissen­schaftliches Experiment und Erkenntnisergebnisse vom Gesichtspunkt der Anthro­posophie», GA Bibl.-Nr. 324.

41/42 geschichtlichen Umschwung: Das Ende des Kali Yuga. Siehe auch den für Mit­glieder der Anthroposophischen Gesellschaft während des Wiener West-Ost-Kon­gresses am 11. Juni 1922 gehaltenen Vortrag »Anthroposophie als ein Streben nach Durchehristung der Welt», abgedruckt in Rudolf Steiner »Das Sonnen-mysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung. Exoterisches und esoterisches Christentum» (12 Vorträge, in versch. Städten 1922), GA Bibl. Nr. 211. An diesem Vortrag nahmen eine Reihe von jungen Freunden teil, die Rudolf Steiner um einen »Jugendkurs» baten, der im Spätherbst in Stuttgart stattfand.

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43 Friedrich Nietzsche, 1844-1900. Siehe Rudolf Steiner «Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit» (1895), GA Bibl.-Nr. 5, und die Aufsätze über Nietz­sche in »Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 1887-1901», GA Bibl.-Nr. 31, S. 453-614.

45 Kurellas Körperseele: Alfred Kurella, 1895-1975, Schriftsteller und Kulturpoliti­ker; seine Schrift «Körperseele» erschien 1919.

48 in meinen «Kernpunkten»: «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebens-notwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft» (1919), GA Bibl.-Nr. 23.

49 eine Art Welte"hund für Geisteswissenschaft: Siehe hierzu die Ausführungen Rudolf Steiners in seinem Schlußwort zum vierten Disputationsabend (8. April 1921) in «Die befruchtende Wirkung der Anthroposophie auf die Fachwissen­schaften» (Vorträge und Ansprachen, Dornach 1921), GA Bibl.-Nr. 76, S. 195ff.

52 Professor Römer: Oskar Römer, 1866-1952, Professor der Zahnheilkunde, zuerst in Straßburg im Elsaß, dann von 1918-1934 in Leipzig (1920 Ordinarius, 1925 Dekan der medizinischen Fakultät, 1928 Rektor).

Dri Unger: Dr. ing. Carl Unger, 1878-1929.

«Der Kommende Tag», Aktiengesellschaft zur Förderung wirtschaftlicher und geistiger Werte, Stuttgart 1920-1925, ein assoziatives Unternehmen im Sinne der sozialen Dreigliederung.

«Futurum A.-G.», Ökonomische Gesellschaft zur internationalen Förderung wirt­schaftlicher und geistiger Werte, Dornach 1920-1924.

54 Prof. Fuchs: In Nr. 5 des 2. Jg. der Stuttgarter Wochenachrift «Dreigliederung des sozialen Organismus» (August 1920) hatte Rudolf Steiner in einem Aufsatz «Ein paar Worte zum Fuchs Angriff» zu emer vom Göttinger Anatomen Prof. Dr. Hugo Fuchs vom Zaune gerissenen Attacke geschrieben: »Von einem Forscher, der ernst genommen werden soll, muß verlangt werden, daß er den Sinn für objektive Tatsachen hat. Wer ein anatomisches Präparat vorgelegt erhält, das gegen eine absurde Behauptung spricht, der kann wissenschaftlich nur ernst genommen werden, wenn er sich das Präparat erst ansieht und seinen Zusammenhang mit andern Tatsachen ins Auge fassen will. Prof. Dr. Fuchs hört, daß in Stuttgart gegen die blöde Behauptung, ich sei Jude, mein Taufschein vorgewiesen worden ist. Er sagt, wie so viele andere, die in gewissenloser Weise die Lüge verbreiten, ich sei Jude, es gebe auch getaufte Juden. Nun, mein Taufschein enthält aber Daten, die so gegen meine Abstammung von Juden sprechen, daß sich schon aus ihnen die Behauptung meines Judentums als eben blöder Unsinn enthüllt. Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß ich selbst keinen Wert auf meine Abstammung von diesem Gesichtspunkte aus lege. Es handelt sich für mich lediglich darum, daß es dreist erlogen ist, wenn man mich zum Juden macht. Für mich aber ist, wer so über Tatsachen spricht, wie Prof. Fuchs über mein angebliches Judentum, wenn auch nur so nebenher, kein Wissenschafter...« Abgedruckt in «Aufsätze zur Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915-1921«, GA Bibl.-Nr. 24.

55 wenn ein Herr von Gleich einen Vortragenden «Winter» erfindet: Siehe Rudolf Steiners Schlußwort zum vierten Disputationsabend in «Die befruchtende Wir­kung der Anthroposophie auf die Fachwissenschaften», GA Bibl.-Nr. 76, S. 198 und 199.

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56 Graf Hermann von Keyserling, 1880-1946.

ich sei von Haeckelschen Anschauungen ausgegangen: In «Philosophie als Kunst» (Darmstadt 1920) hatte Hermann Keyserling von Rudolf Steiner geschrieben, daß »es... jedenfalls für sein Wesen symbolisch ist, daß seine geistige Laufbahn in gewissen Hinsichten von Haeckel ausging».

Über seine Beziehung zu Haeckel sprach Rudoff Steiner in einem öffentlichen Stuttgarter Vortrag über «Die Wahrheit der Geisteswissenschaft und die prakti­schen Lebensforderungen der Gegenwart» (16. Nov. 1920). Er kam zum Schluss:

«... Wahr ist es nicht, daß ich irgendeine Anknüpfung an Haeckel gesucht habe. Haeckel ist an mich, an die Art und Weise der Bestrebungen, die ich gepflegt habe, von sich aus herangekommen. Nicht ich bin Haeckel nachgelaufen. Haeckel, trotzdem er Haeckel ist, ist zu mir gekommen. Gerade so, wie ich der Thenso­phischen Gesellschaft nicht nachgelaufen bin, sondern die Theosophische Gesell­schaft zu mir gekommen ist und meine Vorträge verlangt hat...» (»Dreigliede­rung des sozialen Organismus», 2. Jg., Nr.22.)

Wie Haeckel von sich aus an Rudolf Steiner herangekommen ist, findet sich genau dargestellt in »Mein Lebensgang» (1923-25), GA Bibl.-Nr. 28, Kap. XV.

eme kleine Schrift erscheinen lassen: «Der Weg zur Vollendung. Mitteilungen der Gesellschaft für Freie Philosophie. Schule der Weisheit.» I. Heft, November 1920.

steht da folgender Satz: Wörtlich: «... anstatt einen etwaigen Irrtum meinerseits zu korrigieren, was ich mir gern gefallen ließe, denn zu spezieller Steinerquellen­forschung habe ich keine Zeit gehabt ... zeiht Steiner mich schlankweg der Lüge...» (a.a.O. S. 47).

57 Gustav Roethe, 1859-1926, Germanist. Verfaßte auch nationalistische politische Flugschriften und hielt solche Reden. Nach seinem Tode erschienen «Deutsche Reden», 1927.

59 Diese Hochschule ... heißt Goetheanum: Am 18. Oktober 1917 sagte Rudolf Steiner - vollkommen überraschend auch für die anwesenden Anthroposophen, denen der Dornacher Bau »Johannesbau» hieß - in einem öffentlichen Vortrag in Basel: «Ich möchte die Weltanschauung, welche auf die Art wissenschaftlich ent­steht, wie ich es angedeutet habe ... nach den Quellen, aus denen sie für mich selber stammt ... am liebsten Goetheanismus nennen, so wie ich ... den Bau in Dornach draußen, der dieser Weltanschauung gewidmet ist, am liebsten Goethe­anum nennen würde...»

60 Ich hahe neulkh ein Stück aus einem Feuilleton vorgelesen: Aus dem Jahrbuch von Elsbeth Ebertin, »Ein Blick in die Zukunft», Freiburg i. Br. 1921, S. 63; siehe hierzu auch die Ausführungen Rudolf Steiners in dem Dornacher Vortrag vom 23. Januar 1921, abgedruckt in «Die Verantwortung des Menschen für die ,Welt-entwickelung durch seinen geistigen Zusammenhang mit dem Erdplaneten und der Sternenwelt« (18 Vorträge, Dornach, Stuttgart, Den Haag 1921), GA BibI.­Nr. 203, S. 113ff.

ein richtiger Feuerfunke: In der Silvesternacht 1922/23 wurde das Goetheanum durch Brand zerstört.

61 Aussprache: Vom 28. August bis zum 7. September 1921 fand im Gustav-Siegle-Haus in Stuttgart ein allgemeiner öffentlicher Kongreß mit dem Thema »Kultur­Ausblicke der anthroposophischen Bewegung» statt, an welchem Rudolf Steiner

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den Vottragszyklus «Anthroposophie, ihre Erkenntniswurzeln und Lebensfrüchte, mit emer Einleitung über den Agnostizismus als Verderber echten Menschen­tums» hielt. (8 Vorträge, GA Bibl.-Nr. 78) - Am 4. September versainmelten sich etwa 1200 Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft, um über die Voraus­setzungen, Aufgaben und Ziele einer Antliroposophischen Gesellschaft zu be­raten. Den Abschluß der Versammlung bildete eine längere Ansprache von Rudolf Steiner, nachdem er aufgefordert worden war, der Gesellschaft einen Rat zu er­teilen. In diesem Zusammenhang müssen wir leider darauf verzichten, den ganzen Wortlaut zu veröffentlichen, sondern uns nur auf die Wiedergabe der drei Grund­sätze beschränken, die Rudolf Steiner aussprach, nachdem er »aus einigen Charak­teristiken unseres Gesellschaftslebens heraus dasjenige zu sagen» versuchte, was ihm »heute gerade notwendig erschien».

«Mein erster Rat geht dahin, dafür zu sorgen, daß die Reste nicht der Theo-sophie, aber des theosophisch-gesellschaftlichen Empfindens endlich aus unserer Gesellschaft herausgesetzt werden mögen. - Und das ist der zweite Rat, den ich geben möchte, daß in unserer Gesellschaft Institutionen Platz greifen, so geartet, daß nicht bloß ideales Vertrauen, das im höchsten zu schätzen ist, unter unseren Mitgliedern herrsche, sondern daß ein niemals und nfrgends unterbrochener leben­diger Verkehr möglich werde. - Und das ist der dritte Rat, von dem ich sprechen möchte, daß wir uns aneignen die Fähigkeit, die Dinge ernst genug zu nehmen, nicht mit der heute in der Welt vorhandenen Oberflächlichkeit.» Rudolf Steiner kam dann auch noch auf die Worte von Heidenreich zu sprechen und sagte: »Aber man muß eben diese Grundsätze in ihrer Totalität verstehen; versteht man sie in ihrer Totalität, dann weiß man auch eine Empfindung zu entwickeln für dasjenige, was herantritt an diese anthroposophische Bewegung. Hier hat ein Vertreter der Jugendbewegung gesprochen! Hier sitzen eine ganze Anzahl von Vertretern der Studentenschaft, meine lieben Freunde! Daß die Angehörigen solcher Bewegungen oder solcher Körperschaften zu unserer Anthroposophischen Gesellschaft gekom­men sind, das iSt etwas, was wir als epochemachend innerhalb der Geschichte unserer anthroposophischen Bewegung betrachten müssen. Wir müssen die Mög­lichkeit finden, alles zu tun, was von solcher Seite her mit Recht von der Anthro­posophischen Gesellschaft erwartet werden kann.» Dann folgte ein Hinweis auf die Studentenbewegung »für ein fruchtbares Fortwirken unserer Bewegung in die Zukunft hinein».

Junge Anthroposophen hatten Rudolf Steiner um eine besondere Besprechung gebeten; diese fand am 8. September im Zweighaus der Gesellschaft, Landhaus-strasse 70, statt.

In der oben erwähnten Versammlung vom 4. September 1921 hatte Alfred Hei­denreich ausgesprochen: »Wenn ich als junger Mensch um das Wort gebeten habe, so möchte ich in aller Bescheidenheit eine Miueilung machen. Wir Anthroposo­phen, die aus der Jugendbewegung hervorgegangen sind, haben uns während des Kongresses in einigen Sonderbesprechungen zusammengefunden und sind uns klar geworden, daß uns in unserer Mittlerstellung zwischen Jugendbewegung und Anthroposophie besondere Aufgaben erwachsen. Wir sind uns darüber klar ge­worden, daß es nicht nur unsere Pflicht ist, Anthroposophie an die Jugendbe­wegung heranzubringen, sondern daß es auch unsere Pflicht ist, unsere jungen Kräfte in den Dienst der Anthroposophie zu stellen, daß ein entsprechendes Tun daraus hervorgehen kann.»

61 an Ostern: Siehe die Fragenbeantwortung vom 20. März 1921 auf Seite 41 ff.

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61 ein Artikel über Jugendbewegung und Anthroposophie: Dr. Alfred Heidenreich,

1898-1969, der auch diese Begrüßungsworte sprach, verfaßte bald darauf eine

Schrift »Jugendbewegung und Anthroposophie», welche im Verlag »Der Kom­

mende Tag AG», Stuttgart, erschien; die erste Auflage von 5000 Exemplaren war

bald vergriffen. - Dr. Heidenreich nahm im September 1922 teil an der Begrün­

dung der Christengemeinschaft und wurde sogleich in das führende Kollegium

als Lenker aufgenommen. Zuerst wirkte er in Frankfurt am Main; 1929 ging er

nach England und 1938 wurde er in die Oberlenkung berufen.

62 ihre Geschicbte: Siehe Rudolf Steiner »Die Geschichte und die Bedingungen der anthroposophischen Bewegung im Verhältnis zur Anthroposophischen Gesell­schaft» (8 Vorträge, Dornach 1923), GA Bibl.-Nr. 258.

Arbeiterbildungsscbule: Siehe Rudolf Steiner »Mein Lebensgang» (1923 bis 1925), GA Bibl.-Nr. 28, Kap. XXVIII, und Johanna MückelAlwin Alfred Rudolph, »Erinnerungen an Rudolf Steiner und seine Wirksamkeit an der Arbeiter-Bildungs-schule 1899-1904», 2. Aufl., Basel 1979.

63 Seelenkalender: »Anthroposophischer Seelenkalender» (1912), Dornach 1977.

64 Otto Erich Hartleben, 1864-1905, Lyriker, Dramatiker und Erzähler; siehe auch »Mein Lebensgang», GA Bibl.-Nr. 28, ferner »Briefe» II, Dornach 1953.

69 daß die Erde im Sommer schläft: Siehe »Der Jahreskreislauf als Atmungsvorgang der Erde und die vier großen Festeszeiten», GA Bibl.-Nr. 223.

73 Muck-Lamberty: Friedrich Lamberty-Muck, Holzdrechsler.

Häußer: Ludwig Häußer (gest. 1927), Wanderprediger.

75 Fidus: Eigentlich Hugo Höppener, 1868-1918, Maler und Illustrator; war früher Mitglied der Theosophischen Gesellschaft.

Gertrud Prellwitz, 1869-1942, Dichterin und Essayistin; war wie Fidus eine Zeit­lang Mitglied der Theo sophischen Gesellschaft.

76 die »Neue Schar»: Siehe Adam Ritzhaupt, »Die in Thüringen», Jena 1921. Der Verfasser schildert die hier zur Sprache gekommene kurze Phase der deutschen Jugendbewegung in ihren auch heute noch interessierenden Einzel­heiten.

77 die Mittelstraße..., die schon von Aristoteles gewiesen worden ist: Siehe die Vor-träge «Theosophische Moral» (Norrköping 28., 29. und 30. Mai 1912) in »Chri­stus und die menschliche Seele» (10 Vorträge, Norrköping und Kopenhagen 1912/14), GA Bibl.-Nr. 155, S. 110.

78 gräzisierend: Die alten Griechen nachahmend.

80 Gustav Wyneken, 1875-1964, Leiter der »Freien Schulgemeinde Wickersdorf».

Hermann Lietz, 1868-1919, Leiter von Landerziehungsheimen.

80/81 Zum Jahr 1922: Am 10. März fand eine Versammlung der am Kursus teilneh-menden Studenten statt mit einer Ansprache von Rudolf Steiner. René Maikowski dankt nachträglich in einem Brief an Rudolf Steiner vom 22. März noch beson­ders für diese Ausführungen. Eine Nachschrift liegt indessen nicht vor

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85 Literatur: Siehe die Übersicht über die Rudolf Steiner Gesamtausgabe auf Seite

245/246.

89 Vorträge über die naturwissenschaftli:he Entwickelung: Siehe »Der Entstehungs­moment der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Ent­wickelung» (9 Vorträge, Dornach 1922/23), GA Bibl.-Nr. 326.

92 eine Sünde an der Entwickelung der Menschheit: Siehe Erstes Bild aus »Die Prü­fung der Seele», Worte des Capesius, in «Vier Mysteriendramen» (1910-13), GA Bibl.-Nr. 14.

95 Ansprache: Die Ereignisse des Jahres 1923, vor allem hervorgerufen durch den Brand des Goetheanum, hat Marie Steiner festgehalten in dem Buch »Rudolf Steiner und die Zivilisationsaufgaben der Anthroposophie. Ansprachen und Fragen­beantwortungen. Ein Rückblick auf das Jahr 1923« (Dornach 1943). - Die Stutt­garter Ansprachen vom 8. und 14. Februar stehen im Zusammenhang mit dem Versuch einer Neugestaltung der Anthroposophischen Gesellschaft durch eine neugebildete Vertrauenakörperschaft für die Angelegenheiten der Anthroposo­phischen Gesellschaft.

Delegiertenversammlung: Diese Versammlung fand vom 25. bis 28. Februar in Stuttgart statt; siehe die beiden Vorträge Rudoll Steiners zur Delegiertenversamm­lung in «Anthroposophische Gemeinschaftabildung» (10 Vorträge, Stuttgart und Domach 1923), GA Bibl.-Nr. 257.

der Entwurf eines Rundschreibens: Das Rundschreiben der genannten leitenden Vertrauenskörperschaft wurde am 13. Februar 1923 von Stuttgart aus an die Mit­glieder der Anthroposophischen Gesellschaft verschickt.

Komitee: Die erwähnte Vertrauenskörperschaft.

96 in dem letzten Stuttgarter Zweigvortrag: Siehe den Vortrag vom 6. Febr. 1923 in »Anthroposophische Gemeinschaftsbildung» (10 Vorträge, Stuttgart und Dorn-ach 1923), GA Bibl.-Nr. 257, S. 49 ff.

wie ja die Gesellschaft selbst etwa im einundzwanzigsten Lebensjahr steht: 1902 begründet!

98 Albert Steffen, 1884-1963, Der pädagogische Kurs am Goetheanum: »Der Lehrer-kurs Dr. Rudolf Steiners im Goetheanum 1921», Dornach/Basel 1922; siehe auch »Die gesunde Entwickelung des Leiblich-Physischen als Grundlage der freien Entfaltung des Seelisch-Geistigen» (16 Vorträge, Dornach 1921/22), GA Bibl.­Nr.303.

99 die Bewegung für religiöse Erneuerung: Siehe den Vortrag vom 30. Dezember

1922 in »Das Verhältnis der Sternenwelt zum Menschen und des Menschen zur Sternenwelt. Die geistige Kommunion der Menschheit» (12 Vorträge, Dornach 1922), GA Bibl.-Nr. 219, S. 162ff.

die Leisegangs: Benannt nach Hans Leisegang, einem bekannten Gegner. damals Privatdozent an der Universität Leipzig.

Gründung des Hochscbulbundes: Juli 1920 in Stuttgart.

102 Werden Sie Genies an Interesse!: Mitgeteilt von Karin Ruths-Hoffmann, welche an der Ansprache teilnahm.

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103 der vorliegende Aufruf Siehe Anhang S. 201.

Delegiertenversammlung: Siehe Hinweis zu S. 95.

108 bei einem Hundeskelett: Siehe auch 1. Vortrag in »Der Goetheanismus, ein Um­wandlungsimpuls und Auferstehungsgedanke» (12 Vorträge, Dornach 1919), GA Bibl.-Nr. 188.

109 Antezedenzien (lat.): Voraussetzungen, Grundlagen.

110 In dem naturwissenschaftlichen Kursus: Siehe Hinweis zu S. 89.

Weltwirtschaft: Siehe »Nationalökonomischer Kurs» (14 Vorträge, Dornach 1922), GA Bibl.-Nr. 340.

111 der heutige Baustil: Siehe »Wege zu einem neuen Baustil«, GA Bibl.-Nr. 286.

112 in der Gruppe im Goetbeanum: Hinweis auf die plastische Holzgruppe «Der Menichheitirepräsentant zwischen Luzifer und Ahriman», die sich in einem eige­nen Raum, dem sog. Gruppenraum im heutigen Goetheanum befindet.

113 Arbeiten: Dr. Hermann von Baravalle: »Zur Pädagogik der Physik und Mathe­matik», Stuttgart 1921. Caroline von Heydebrand: »Gegen Experimentalpsycho­logie und -pädagogik», Stuttgart 1921 - Caroline von Heydebrand und Dr. von Baravalle waren Lehrer an der Freien Waldorfschule in Stuttgart.

114 bat Nietzscbe in eindringlicher Weise gezeigt: In seinen in den ersten Monaten des Jahres 1872 in Basel gehaltenen Vorträgen »Über die Zukunft unserer Bil-dungsanstalten» (erst mit dem Nachlaß veröffentlicht).

115 Von der Jugendsektion: Die nachfolgenden Aufsätze sind auch abgedruckt in »Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Der Wiederaufbau des Goetheanum 1924-1925», GA Bibl.-Nr. 260a, S. 144-160.

117 Nachrichtenblatt: Das seit 1924 erscheinende Nachrichtenblatt »Was in der Anthro­posophischen Gesellschaft vorgeht. Nachrichten für deren Mitglieder».

140 das sogmannte finstere Zeitalter: Kali Yuga, ungefähr von 3101 v. Chr. bis 1899 n. Chr.

141 eine Zeitschrift redigiert: Rudolf Steiner redigierte 1888 die «Deutsche Wochen-schrift», Berlin/Wien; siehe hierzu »Gesammelte Aufsätze zur Kultur- uitd Zeit­geschichte 1887-1901», GA Bibl.-Nr. 31, S. 17 bis 145; desgleichen »Mein Lebens­gang» (1923-25), GA Bibl.-Nr. 28, Kap. VIII.

143 einer Jugendsektion: Siehe die Aufsätze über die Jugendiektion in diesem. Band, S. 117ff.

in den ersten Monaten des Jahres: Siehe auch den Bericht von Fred Poeppig,

S. 208.

des Herrn Rektor Bartsch: Moritz Bartsch, 1869-1944, Lehrer, Vorsitzender der Breslauer Gruppe der Anihroposophischen Gesellschaft.

144 die Michael-Bewegung: Siehe auch »Die karmischen Zusammenhänge der anthro­posophischen Bewegung» (»Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammen­hänge», 3. Bd.), GA Bibl.-Nr. 237, und »Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg

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der Anthroposophie. Das Michael-Mysterium» (1924/25), GA Bibl.­Nr.26.

145 eine Dreigliederung nach Phrase, Konvention und Routine: Siehe auch »Geistige Wirkenakrafte im Zusammenleben von alter und junger Generation. Pädagogi­scher Jugendkurs» (13 Vorträge, Stuttgart 1922), GA Bibl.-Nr. 217.

150 Deshalb muß man süh aber doch in die heutigen Berufe hineinstellen: Siehe den Brief Rudolf Steiners auf S. 220/221.

153 Bei wissenschaftlühen Versammlungen: Siehe auch diesen Band, S. 33 f.

155 Hermann Bahr, 1863-1934.

156 Das ist eine individuelle Sache: Siehe den Brief Rudolf Steiners auf S. 220/221.

160 Zur Versammlung vom 11. Juni 1924: Von der am 11. Juni1924 stattgefundenen Versammlung hat sich keine Nachschrift erhalten. Wir bringen aber im Anhang auf S. 211 f. im Einverständnis von einigen der Teilsiehmer an dieser Versammlung die dort wiedergegebenen Briefstellen.

161 Koberwitz: In Koberwitz fand auf dem Gute des Grafen Carl von Keyserlingk in der Zeit vom 7. bis 16 Juni 1924 ein landwirtschaftlicher Kursus durch Dr. Rudolf Steiner statt. Siehe »Geisteswissenschaftliche Grundlagen zum Gedeihen der Landwirtschaft. Landwirtschaftlicher Kursus», GA Bibl.-Nr. 327, und den »Bericht über Breslau-Koberwitz in Dornach» in »Die Konstitution der Allge­meinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geistes­wissenschaft. Der Wiederaufbau des Goetlieanum 1924-1925», GA Bibl.-Nr. 260a, S. 300ff.

seit dem 15. Jahrhundert: 1413, Beginn des fünften nachadantischen Zeitraumes. Siehe unter den zahlreichen Ausführungen besonders »Die Naturwissenschaft und die weitgeschichtliche Entwickelung der Menschheit seit dem Altertum» (6 Vor­träge, Dornach und Stuttgart 1921), GA Bibl.-Nr. 325.

163 Saturnzeiten ... Sonnen- und Mondenzeiten: Siehe »Die Geheimwissenschaft im Umriß« (1910), GA Bibl.-Nr. 13.

164 Goethe selbst rief hinein: Im Aufsatz »Die Natur«, der zuerst im »Tiefurter Jour­nal» 1782 erschien; siehe auch in «Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften», herausgegeben und kommentiert von Rudolf Steiner in Kürschners «Deutsche National-Litteratur» (1883-97), 5 Bände, Nachdruck Dornach 1975, GA Bibl.-Nr. la-e. Band II, S. 5 ff.

166 unser lieber Freund Ritter: Dr. Walter Ritter, 1892-1960, Güterdirektor bei Graf Lerchenfeld, Köfering, für die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise.

169 in Köfering: Schloß Köfering bei Regensburg, da« Besitztum des Grafen Otto von Lerchenfeld.

177 Tagung in Arnheim: Siehe den Bericht von Rudolf Steiner »Über die anthropo­sophisch-pädagogische Tagung in Holland« in «Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, GA Bibl.-Nr. 260a, S. 347 ff. - Die Jugend versammlung wird in dem Bericht nicht erwahnt; es war die letzte Ansprache, die Rudolf Steiner an junge Menschen richtete.

182 eine Rundfrage: Die erste von Rudolf Steiner gestellte Frage lautete: »Was will ich als junger Mensch?», die zweite Frage: »Wie stellst du dir vor, daß auf dem

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Gebiete, das dir seelisch als Berafsgestaltung vorschwebt, die Welt im Jahre 1935 beschaffen sein soll?»

182 Wir leben heute in der Phr»se: Siehe Bemerkung zu S. 145.

183 was ich gestern als das große Ziel des Jahrhunderts hingestellt habe: Im Arnheimer

Mitglieder-Vortrag vom 19. Juli1924; siehe »Esoterische Betrachtungen karmi­

scher Zusammenhänge», 6. Bd. (15 Vorträge, in verschiedenen Städten 1924), GA

Bibl.-Nr. 240, S. 162ff.

186 Jules Michelet, 1798-1874, französischer Historiker.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.