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Ich habe Ihnen heute also das Christus-Volk und das Kirchenvolk geschildert und das dritte, was da hineinspielt, und dann die Wechsel­wirkung davon, um zu einem inneren Einblick in die neuzeitliche Reli­gionsentwickelung ihren Symptomen nach zu kommen, das werde ich dann morgen schildern.
Ich habe Ihnen heute also das Christus-Volk und das Kirchenvolk geschildert und das dritte, was da hineinspielt, und dann die Wechsel­wirkung davon, um zu einem inneren Einblick in die neuzeitliche Reli­gionsentwickelung ihren Symptomen nach zu kommen, das werde ich dann morgen schildern.
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NEUNTER VORTRAG
Dornach, 3. November 1918
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Wir wollen anknüpfen an die Betraditungen, die wir gestern gepflogen haben. Wir haben im wesentlidien darauf hingewiesen, wie durch Tat­sadien, die idi ja erwähnt habe, das sogenannte Christus-Volk nadi dem Osten gewissermaßen hingesdioben worden ist, und wie sidi aus anderen Tatsadien heraus ergeben hat, daß aus Europas Mitte, weit übrigens nadi Westen hinüber, das eigentlidie Kirdienvolk, man könnte audi sagen, die Kirdienvölker sidi entwickelt haben. Idi habe dann darauf hingewiesen, wie mit dieser Grundtatsadie zusammenhingen die versdiiedenen Kämpfe, die sidi entwickelt haben gerade um die Wende zu dem fünften nadiatlantisdien Zeitraum hin, unmittelbar danach. Ich habe aber auch darauf hingewiesen, wie innerhalb des­jenigen Gebietes, in dem sich die eigentlichen Kirchenvölker ausgebildet haben, dadurdi, daß der Christus-Impuls gewissermaßen nidit fort­wirkend, sondern in der Zeit gehalten worden ist, durch Tradition und Schriftüberlieferung fortgepflanzt werden sollte, die Zusammen-koppelung, die Konfundierung gekommen ist zwischen dem Christen­tum und dem politisch-staatlich organisierten römischen Papsttum, der päpstlichen Kirche; wie dann sich hineingestellt haben einzelne andere Kirchen in diese Papstkirche. Man kann sagen, daß die anderen Kir­chen, die sich hineingestellt haben, gewiß große Unterschiede von dem Papstkirchentum aufweisen, daß sie aber auch wiederum vieles ge­meinsam haben mit diesem Papstkirchentum, jedenfalls doch Dinge, die uns jetzt in diesem Zusammenhang interessieren. Diese Dinge, die sind so, daß sie uns selbst die protestantische Staatskirche näher dem römi­schen Katholizismus, der römisch-katholischen Kirche wenigstens er­scheinen lassen, als etwa der orthodox-katholische Kirchenstaat, die russische sogenannte Staatskirche, bei der aber das Staatskirchentum nie das Wesentliche war, sondern die Art und Weise, wie durch das russische Volk der Christus-Impuls, fortwährend sich betätigend, sich geltend machte. Ich habe Ihnen dann gezeigt, wie durch dieses Her­unterholen des Christus-Impulses in die rein weltlichen Angelegenheiten,
Wir wollen anknüpfen an die Betraditungen, die wir gestern gepflogen haben. Wir haben im wesentlidien darauf hingewiesen, wie durch Tat­sadien, die idi ja erwähnt habe, das sogenannte Christus-Volk nadi dem Osten gewissermaßen hingesdioben worden ist, und wie sidi aus anderen Tatsadien heraus ergeben hat, daß aus Europas Mitte, weit übrigens nadi Westen hinüber, das eigentlidie Kirdienvolk, man könnte audi sagen, die Kirdienvölker sidi entwickelt haben. Idi habe dann darauf hingewiesen, wie mit dieser Grundtatsadie zusammenhingen die versdiiedenen Kämpfe, die sidi entwickelt haben gerade um die Wende zu dem fünften nadiatlantisdien Zeitraum hin, unmittelbar danach. Ich habe aber auch darauf hingewiesen, wie innerhalb des­jenigen Gebietes, in dem sich die eigentlichen Kirchenvölker ausgebildet haben, dadurdi, daß der Christus-Impuls gewissermaßen nidit fort­wirkend, sondern in der Zeit gehalten worden ist, durch Tradition und Schriftüberlieferung fortgepflanzt werden sollte, die Zusammenkoppelung, die Konfundierung gekommen ist zwischen dem Christen­tum und dem politisch-staatlich organisierten römischen Papsttum, der päpstlichen Kirche; wie dann sich hineingestellt haben einzelne andere Kirchen in diese Papstkirche. Man kann sagen, daß die anderen Kir­chen, die sich hineingestellt haben, gewiß große Unterschiede von dem Papstkirchentum aufweisen, daß sie aber auch wiederum vieles ge­meinsam haben mit diesem Papstkirchentum, jedenfalls doch Dinge, die uns jetzt in diesem Zusammenhang interessieren. Diese Dinge, die sind so, daß sie uns selbst die protestantische Staatskirche näher dem römi­schen Katholizismus, der römisch-katholischen Kirche wenigstens er­scheinen lassen, als etwa der orthodox-katholische Kirchenstaat, die russische sogenannte Staatskirche, bei der aber das Staatskirchentum nie das Wesentliche war, sondern die Art und Weise, wie durch das russische Volk der Christus-Impuls, fortwährend sich betätigend, sich geltend machte. Ich habe Ihnen dann gezeigt, wie durch dieses Her­unterholen des Christus-Impulses in die rein weltlichen Angelegenheiten,


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Aktuelle Version vom 16. Oktober 2023, 16:55 Uhr

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Geschichtliche Symptomatologie

Neun Vorträge, gehalten in Dornach vom 18. Oktober bis 3. November 1918

GA 185

1982

Inhaltsverzeichnis


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ERSTER VORTRAG Dornach, 18. Oktober 1918

Ich werde versuchen, heute, morgen und übermorgen einiges Bedeutungsvolle anzuknüpfen an die Betrachtung, die ich in der vorigen Woche hier vor Ihnen angestellt habe. Was ich anknüpfen will an diese Dinge, die uns bis zu einer gewissen Tiefe hineingeführt haben in die Impulse, welche die neuere Menschheitsentwickelung beherrschen, das soll sich herausergeben aus allerlei Wendepunkten des neueren ge­schichtlichen Lebens. Wir wollen versuchen, dieses neuere geschichtliche Leben bis zu dem Punkte zu betrachten, an dem wir sehen können, wie die Menschenseele in der Gegenwart im Weltenzusammenhange drinnensteht, sowohl mit Bezug auf ihre Entwickelung im Kosmos, wie auf ihre seelische Entwickelung gegenüber dem Göttlichen und ihre Ich-Entwickelung gegenüber dem Geistigen. Aber ich möchte ein­mal diese Dinge an mehr oder weniger Alltägliches und Ihnen Bekann­tes anknüpfen. Deshalb lege ich heute zunächst - Sie werden morgen und übermorgen sehen warum - jenen geschichtlichen Überblick über die neuere Menschheitsentwickelung zugrunde, der auch gestern zum Teil der Betrachtung über neuere Geschichte zugrunde gelegen hat, die ich versuchte in meinem öffentlichen Vortrage in Zürich zu geben.

Wir wissen aus früheren Vorträgen, die ich über ähnliche Themata gehalten habe, daß ich vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft aus das, was man gewöhnlich Geschichte nennt, verwandelt sehen muß in eine Symptomatologie. Das heißt von dem Gesichtspunkte, den ich hier meine: Dasjenige, was man gewöhnlich empfängt als Geschichte, was verzeichnet wird in dem, was man schulmäßig Geschichte nennt, das sollte man nicht ansehen als das wirklich Bedeutungsvolle im Ent­wickelungsgange der Menschheit, sondern man sollte das nur ansehen als Symptome, die gewissermaßen an der Oberfläche ablaufen und durch die man durchblicken muß in weitere Tiefen des Geschehens, wodurch sich dann enthüllt, was eigentlich die Wirklichkeit ist im Werden der Menschheit. Während gewöhnlich die Geschichte die sogenannten historischen Ereignisse in ihrer Absolutheit betrachtet, soll hier das, was

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man historische Ereignisse nennt, nur als etwas angesehen werden, was gewissermaßen ein tiefer darunterliegendes, wahres Wirkliche erst ver­rät, und, wenn man es richtig betrachtet, offenbart.

Man braucht ja nicht sehr tief zu denken, so wird man sehr bald darauf kommen, wie unsinnig zum Beispiel eine sehr häufig gemachte Bemerkung ist: daß der Mensch der Gegenwart ein Ergebnis der Ver­gangenheit der Menschheit sei, und diese Bemerkung an die Betrach­tung desjenigen knüpft, was dann die Geschichte von dieser Vergan­genheit gibt. Lassen Sie diese geschichtlichen Ereignisse, die Sie in der Schule als Geschichte vorgeführt bekommen haben, einmal Revue pas­sieren, und fragen Sie dann, wieviel davon Einfluß gewonnen haben kann, so wie es die Geschichte glaubt darstellen zu können, auf Ihr eigenes Gemüt, auf Ihre eigene seelische Struktur! - Aber die seelische Struktur zu betrachten, wie sie in der Gegenwart hineingestellt ist in die Entwickelung der Menschheit, das gehört ja zur wirklichen Selbst­erkenntnis des Menschen. Diese Selbsterkenntnis wird nicht gefördert durch die gewöhnliche Geschichte. Manchmal wird allerdings ein Stück Selbsterkenntnis gefördert, herbeigeführt, aber auf einem Umwege, zum Beispiel wie mir gestern ein Herr erzählte, daß er einmal in der Schule nicht wußte, wann die Schlacht von Marathon geschlagen wor­den ist und deswegen drei Stunden Arrest bekommen hatte. Das ist allerdings dann etwas, was auf die Seele des Menschen wirkt und was dann auf einem Umwege etwas beitragen könnte zu Impulsen, die zur Selbsterkenntnis führen! Aber die Art und Weise, wie die Ge­schichte von der Schlacht von Marathon spricht, wird wenig beitragen zur wirklichen Selbsterkenntnis des Menschen. Dennoch muß auch eine symptomatologische Geschichte schon Rücksicht nehmen auf die äuße­ren Tatsachen, einfach aus dem Grunde, weil sich gerade durch die Betrachtung und Wertung der äußeren Tatsachen der Einblick gewin­nen läßt in dasjenige, was wirklich geschieht.

Nun will ich zunächst nur gewissermaßen ein Bild der neueren menschlichen Geschichtsentwickelung aufrollen, jener, die gewöhnlich in der Schule dadurch betrachtet wird, daß man mit der Entdeckung Amerikas, mit der Erfindung des Schießpulvers - nun, Sie wissen ja das alles, nicht wahr - anfängt und sagt: Nun war das Mittelalter

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abgeschlossen, jetzt beginnt die neuere Zeit. - Aber es handelt sich, wenn man eine solche Betrachtung fruchtbar für den Menschen anstellen will, darum, daß man vor allen Dingen den Blick hinwendet auf die wirklichen Umschwünge in der Menschheitsentwickelung selbst, auf diejenigen großen Wendepunkte, in denen das Seelenleben des Men­schen aus einer gewissen Artung in eine andere Artung übergegangen ist. Diese Übergänge bemerkt man sogar gewöhnlich nicht. Man be­merkt diese Übergänge eben nicht, weil man sie über dem Gestrüppe der Tatsachen übersieht. Wir wissen ja aus rein geisteswissenschaft­licher Betrachtung, daß der letzte große Wendepunkt in der mensch­lichen Kulturentwickelung in den Anfang des 15. Jahrhunderts fällt, wo der fünfte nachatlantische Zeitraum beginnt. Wir wissen, daß 747 vor dem Mysterium von Golgatha der griechisch-lateinische Zeitraum begonnen hat und bis dahin dauerte, wo dann der neuere fünfte nach-atlantische Zeitraum begann, bis in den Anfang des 15. Jahrhunderts. Nur darum, weil man die Dinge oberflächlich betrachtet, kommt für die gewöhnliche Anschauung nicht heraus, daß wirklich das ganze See­lenleben der Menschen sich geändert hat in dem betreffenden Zeit­punkt. Und es ist ein ganz gewöhnlicher Unsinn, wenn man zum Bei­spiel das 16. Jahrhundert so vorstellt in der Geschichte, als ob es ein­fach sukzessive aus dem 11. oder 12. Jahrhundert hervorgegangen wäre, und ausläßt jenen beträchtlichen Umschwung, der gegen das 15. Jahrhundert zu, dann auslaufend davon, sich zugetragen hat. Na­türlich ist ein solcher Zeitpunkt approximativ, annähernd; aber was ist denn nicht annähernd im wirklichen Leben? Bei all dem, wo ein Entwickelungsvorgang, der in sich in einer gewissen Weise zusammen-hängend ist, hinüberdringt in eine andere Zeit, da müssen wir immer von «approximativ» sprechen. Wenn der Mensch geschlechtsreif wird, so kann man auch nicht genau den Tag in seinem Leben bestimmen, sondern es bereitet sich vor und läuft dann ab. Und so ist es natürlich auch mit diesem Zeitpunkt 1413. Die Dinge bereiten sich langsam vor und nicht gleich tritt alles und überall in seiner vollen Stärke auf. Aber man bekommt gar keinen Einblick in die Dinge, wenn man nicht den Zeitpunkt des Umschwunges ganz sachgemäß ins Auge faßt.

Nun kann man nicht anders - wenn man, zurückschauend hinter die

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Zeit des 15. Jahrhunderts, nach der wichtigsten Seelenverfassung der Menschheit rückblickend frägt und dann vergleichen will mit dem, was nach dem Beginne des 15. Jahrhunderts immer mehr und mehr in diese Seelenverfassung der Menschheit hineinkam - man kann nicht anders, als das Auge hinwenden zu jenem umfassenden Tatsächlichen, welches sich das ganze sogenannte Mittelalter hindurch über die europäische zivilisierte Menschheit ausbreitete, und das noch innig zusammenhing mit der ganzen Seelenkonstitution der griechisch-lateinischen Zeit: Es ist die Form, welche sich allmählich im Laufe der Jahrhunderte aus dem Römischen Reiche heraus in dem an das römische Papsttum ge­bundenen Katholizismus herausgebildet hatte. Der Katholizismus kann ja nicht anders betrachtet werden bis zum großen Wendepunkt der neueren Zeit, als daß man ins Auge faßt, wie er ein Universalimpuls war, wie er als Universalimpuls sich ausbreitete. Sehen Sie, die Men­schen waren im Mittelalter gegliedert; sie waren gegliedert nach Stän­den, sie waren gegliedert nach Familienzusammenhängen, sie waren gegliedert in den Zünften und so weiter. Aber durch all diese Gliede­rungen zog sich hindurch dasjenige, was der Katholizismus in die Seelen träufelte, und er zog sich hindurch in jener Gewandung, welche das Christentum angenommen hatte unter mancherlei Impulsen, die wir noch kennenlernen werden in diesen Tagen, und unter jenen Impulsen, die ich Ihnen in den vorigen Vorträgen angeführt habe. Es breitete sich der Katholizismus aus als jenes Christentum, das wesentliche Ein­flüsse in Rom von jenen Seiten empfangen hat, die ich eben charakteri­siert habe.

Womit rechnete denn der von Rom ausgehende und sich in seiner Art durch die Jahrhunderte entwickelnde Katholizismus, der wirklich ein Universalimpuls war, der die tiefste Kraft war, welche in die Zivi­lisation Europas hineinpulsierte? Er rechnete mit einer gewissen Un­bewußtheit der menschlichen Seele, mit einer gewissen Suggestivkraft, die man auf die menschliche Seele ausüben kann. Er rechnete mit jenen Kräften, welche die menschliche Seelenverfassung seit Jahrhunderten hatte, in welchen die menschliche Seele, die erst in unserem Zeitraume erwachte, noch nicht voll erwacht war. Er rechnete mit denen, die erst in der Gemüts- und Verstandesseele waren. Er rechnete damit, daß er

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ihnen in ihr Gemüt durch suggestives Wirken einträufelte dasjenige, was er für nützlich hielt, und er rechnete bei denen, welche die Gebil­deten waren - und das war ja zumeist der Klerus -, mit dem scharfen Verstand, der aber in sich noch nicht die Bewußtseinsseele geboren hatte. Die Entwickelung der Theologie bis ins 13., 14., 15. Jahrhundert ist so, daß sie überall auf den denkbar schärfsten Verstand zählte. Aber wenn Sie Ihre Kenntnisse über das, was der menschliche Verstand ist, von dem Verstande heute nehmen, so können Sie niemals eine richtige Vorstellung gewinnen von dem, was der Verstand bis ins 15. Jahr­hundert bei den Menschen war. Der Verstand bis ins 15. Jahrhundert hatte etwas Instinktives, er war noch nicht durchdrungen von der Bewußtseinsseele. Es war nicht ein selbständiges Nachdenken in der Menschheit, das nur von der Bewußtseinsseele kommen kann, sondern es war da und dort ein ungeheuer großer Scharfsinn, wie Sie ihn ganz gewiß in vielen Auseinandersetzungen bis ins 15. Jahrhundert finden, denn gescheiter sind viele dieser Auseinandersetzungen als die der spä­teren Theologie. Aber es war nicht jener Verstand, der aus der Bewußt­seinsseele heraus wirkte, sondern es war jener Verstand, welcher, wenn man populär spricht, aus dem Göttlichen heraus wirkte, wenn man esoterisch spricht, aus dem Engel, aus dem Angelos heraus wirkte; also etwas, worüber der Mensch noch nicht verfügte. Das selbständige Den­ken wurde erst möglich, als der Mensch auf sich selber gestellt war durch die Bewußtseinsseele. Wenn man auf solche Weise mit suggesti­ver Kraft einen Universalimpuls so ausbreitet, wie das geschehen ist durch das römische Papsttum und alles, was damit in der Kirchen-struktur verbunden war, dann trifft man viel mehr das Gemeinsame, das Gruppenseelenhafte der Menschen. Und das traf auch der Katho­lizismus. Und es brachten es - wir werden die Dinge schon von einem anderen Gesichtspunkte noch besprechen - gewisse Impulse der neueren Geschichte dahin, daß dieser Universalimpuls des sich ausbreitenden Katholizismus gewissermaßen seinen Sturmbock fand an dem Römisch-Germanischen Imperium, und wir sehen, wie die Ausbreitung des uni­versellen römischen Katholizismus eigentlich unter fortwährendem Zusammenprallen und Sich-Auseinandersetzen mit dem Römisch-Deutschen Imperium geschieht. Sie brauchen ja nur in den gebräuchlichen

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Geschichtsbüchern die Zeit der Karolinger, die Zeit der Hohen­staufen zu studieren, und Sie werden da überall sehen, daß es sich im wesentlichen darum handelt, daß in Europas Kultur einzieht der ka­tholische Universalimpuls, wie er von Rom aus gedacht wird.

Wenn wir von dem Gesichtspunkt des Beginnes der Bewußtseins­seelenkultur die Sache recht ansehen wollen, so müssen wir auf einen großen Wendepunkt hinblicken, durch den äußerlich symptomatisch sich zeigt, wie das, was durch das Mittelalter wirklich herrschend war in dem eben charakterisierten Sinne, aufhört so herrschend zu sein, wie es früher war. Und dieser Wendepunkt in der neueren geschicht­lichen Entwickelung ist der, daß 1309 von Frankreich aus der Papst einfach von Rom nach Avignon versetzt wird. Damit war etwas ge­tan, was früher selbstverständlich nicht hätte geschehen können, wor-innen sich zeigte: Jetzt beginnt das, wo die Menschheit anders wird als früher, da sie sich beherrscht wußte von einem Universalimpuls. Man kann sich nicht vorstellen, daß es früher einem König oder einem Kaiser einfach hätte einfallen können, den Papst von Rom irgendwo andershin zu versetzen. 1309 wurde kurzer Prozeß gemacht: der Papst wurde nach Avignon versetzt, und es beginnt jene Zänkerei mit Päp­sten und Gegenpäpsten, die eben an die Versetzung des Papsttums gebunden war. Und damit in Verbindung sehen wir dann, wie etwas, was allerdings in einem ganz anderen Zusammenhange mit dem Chri­stentum war, das in eine gewisse äußere Verbindung mit dem Papst­tum gekommen war, mit betroffen wurde. Während 1309 der Papst nach Avignon versetzt wird, sehen wir, daß bald danach, 1312, der Tempelherren-Orden aufgehoben wird. Das ist solch ein Wendepunkt der neueren Geschichte. Man soll solch einen Wendepunkt nicht bloß hinsichtlich seines tatsachlichen Inhaltes betrachten, sondern als Sym­ptom, um allmählich zu finden, was für eine Wirklichkeit dahinterliegt.

Nun wollen wir andere solche Symptome vor unserem Seelenauge vorüberziehen lassen. Wir haben sie, wenn wir die Zeit, in welcher dieser Wendepunkt lag, einmal vor unserer Seele auftreten lassen. Da haben wir, über Europa hinschauend, die Tatsache auffällig, daß das europäische Leben mehr nach Osten hinüber doch radikal beeinflußt wird von jenen Ereignissen, die sich im geschichtlichen Leben, ich

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möchte sagen, wie Naturereignisse wirksam machen. Das sind die fort­währenden Wanderungen - mit den Mongolenwanderungen haben sie in der weiteren neueren Zeit begonnen -, die stattfinden von Asien nach Europa herüber, und die ein asiatisches Element nach Europa hereinbrachten. Sie müssen nur bedenken, daß man, wenn man an ein solches Ereignis wie das von Avignon diese Tatsache anschließt, man sehr bedeutsame Anhaltspunkte gewinnt für eine historische Sympto­matologie. Denn bedenken Sie das Folgende. Wenn Sie wissen wollen, welches die äußeren, nicht die inneren geistigen, sondern die äußeren menschlichen Veranlagungen und Wirkungen waren, welche sich an das Ereignis von Avignon knüpften und die zu ihm geführt haben, dann werden Sie bei einem zusammenhängenden Komplex von mensch­lichen Entschlüssen und Tatsachen stehenbleiben können. Das können Sie nicht, wenn Sie solche Ereignisse betrachten wie die herüberziehen-den Mongolen, bis später dann zu den Türken. Sondern indem Sie solch ein historisches Ereignis, solch einen Tatsachenkomplex ins Auge fassen, müssen Sie folgende Erwägungen anstellen, wenn Sie wirklich zu einer geschichtlichen Symptomatologie kommen wollen.

Nehmen Sie einmal an: Da ist Europa, da ist Asien (s. Zeichng. S.16), die Züge gehen herüber. Nun nehmen wir an, solch ein Zug sei bis zu dieser Grenze vorgedrungen, dahinter seien meinetwillen die Mon­golen, später die Türken, wer immer, davor seien die Europäer. Wenn Sie die Ereignisse von Avignon nehmen, so finden Sie einen Tatsachen-komplex von menschlichen Entschlüssen, menschlichen Taten vor. Das haben Sie dort nicht. Dort müssen Sie zwei Seiten betrachten, die eine, die hier liegt, und die andere, die hier liegt (auf die Zeichnung deu­tend). Für die Europäer ist dieser Sturm, der da herüberkommt, ein­fach wie ein Naturereignis: man sieht nur die Außenseite. Die kom­men herüber und stören einfach, sie dringen ein. Dahinter aber liegt all diejenige Kultur, all die Seelenkultur, die sie selbst in sich tragen. Ihr eigenes seelisches Leben liegt dahinter. Das mag man wie immer beurteilen, aber es liegt dieses seelische Leben dahinter. Das wirkt gar nicht über die Grenze hinüber. Die Grenze wird gewissermaßen wie ein Sieb, durch das nur etwas wie elementarische Wirkungen durchgeht. Solche zwei Seiten - ein Inneres, das bei den Menschen bleibt, die

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# Bild s. 16

hinter einer solchen Grenze stehen, und dasjenige, was nur zugewen­det wird dem anderen - finden Sie in dem Ereignis von Avignon natürlich nicht; da ist alles in einem Komplex drinnen. Solche Ereig­nisse wie diese Wanderungen von Asien herüber, die haben eine große Ähnlichkeit mit der Naturanschauung selber. Denken Sie sich, Sie schauen die Natur an, Sie sehen die Farben, Sie hören die Töne:

Das ist ja alles Teppich, das ist ja alles Hülle. Dahinter liegt Geist, dahinter liegen die Elementarwesen, bis heran zu dem hier. Da haben Sie auch die Grenze. Sie sehen mit Ihren Augen, Sie hören mit Ihren Ohren, fühlen mit Ihren Händen. Dahinter liegt der Geist, der kommt hier nicht durch. Das ist in der Natur so. Das ist ja da nicht ganz gleich, aber etwas Ähnliches. Was dahinter als Seelisches liegt, das dringt da nicht durch, das wendet nur die Außenseite nach der anderen Ge­gend hin.

Es ist außerordentlich bedeutsam, daß man dieses merkwürdige Mittelgebilde ins Auge faßt, wo Völker oder Rassen aufeinander-prallen, die sich gewissermaßen nur ihre Außenseite zukehren, dieses merkwürdige Mittelgebilde - welches auch unter den Symptomen auf­tritt - zwischen eigentlichem menschlich-seelischen Universalerleben, wie

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es also angeschaut werden muß, wenn man so etwas erblickt wie das Ereignis von Avignon, und zwischen richtigen Natureindrücken. All das historische Gerede, das in der neueren Zeit heraufgekommen ist, und das keine Ahnung hat von dem Eingreifen eines solchen Mittel-dings, all das kommt zu keiner wirklichen Kulturgeschichte. Weder Buckle noch Ratzel konnten daher zu einer wirklichen Kulturgeschichte kommen. Ich nenne zwei weit auseinanderliegende kulturgeschichtliche Betrachter, weil sie von den Vorurteilen ausgingen: Nun, man muß halt dasjenige, was von zwei Ereignissen aufeinanderfolgt, so betrach­ten, daß das spätere die Wirkung, das frühere die Ursache ist, und die Menschen so darinnen gestanden haben.

Das ist also wiederum solch ein Ereignis. Wenn man es als Symptom betrachtet im neueren Werden der Menschheit, dann wird es, wie wir in diesen Tagen sehen werden, eine Brücke von den Symptomen hin­über zur Wirklichkeit.

Nun sehen wir etwas auftauchen aus dem Komplex von Tatsachen heraus, was wir wiederum mehr symptomatisch betrachten wollen. Wir sehen im Westen von Europa, anfangs noch wie ein mehr oder weniger einheitliches Gebilde, dasjenige auftauchen, was später zu Frankreich und England wird. Denn zunächst können wir es - wie wir auftauchen sehen in der Zeit, was später zu diesen zwei Gebilden wird, wenn wir nicht die äußerlichen Unterscheidungen wie den Kanal ins Auge fassen, der aber doch nur etwas Geographisches ist - eigentlich nicht unterscheiden. In England drüben ist in den Zeiten, als die neuere geschichtliche Entwickelung beginnt, überall im Grunde französische Kultur. Englische Herrschaft greift herüber nach Frankreich; die Mit­glieder der einen Dynastie machen Anspruch auf den Thron im anderen Lande und so weiter. Aber eines sehen wir, was da auftaucht, was das ganze Mittelalter hindurch ebenfalls zu dem gehört hat, das gewisser­maßen in die Unterordnung getrieben wurde durch den katholisch-römischen Universalimpuls. Ich sagte schon, die Menschen hatten Ge­meinschaften, sie hatten Blutsverwandtschaften in Familien, an denen sie zäh festhielten, sie hatten zünftliche Gemeinschaften, alles mögliche. Aber durch das alles geht etwas durch, was mächtiger, herrschender war, wodurch das andere in Unterordnung getrieben wird, wodurch

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dem anderen das Gepräge aufgedrückt wurde: Das war eben der römisch geformte, der katholische Universalimpuls. Und dieser römisch-katholische Universalimpuls machte, wie er die Zünfte oder die an­deren Gemeinschaften zu etwas Untergeordnetem machte, ebenso die nationale Zusammengehörigkeit zu etwas Untergeordnetem. Die natio­nale Zusammengehörigkeit wurde in der Zeit, als der römische Uni­versal-Katholizismus wirklich seine größte impulsive Stärke entwik­kelte, nicht für das Wichtigste in der seelischen Struktur der Menschen angesehen. Aber das ging jetzt auf, das Nationale als etwas zu be­trachten, was wesentlich wird für den Menschen, in unendlichem Grade viel wesentlicher als es früher sein konnte, da der katholische Universalimpuls allherrschend war. Und bedeutsam sehen wir es ge­rade in dem Gebiete auftreten, das ich Ihnen eben bezeichnet habe. Aber wir sehen zu gleicher Zeit, während dort die allgemeine Idee, sich als Nation zu fühlen, auftaucht - wir werden noch über die Sache zu sprechen haben -, wie gestrebt wird, eine ganz wichtige, bedeutsame Differenzierung zu vollziehen. Während wir sehen, wie durch die Jahrhunderte hindurch ein gewisser einheitlicher Impuls über Frank­reich und England sich ausbreitet, sehen wir, wie im 15. Jahrhundert Differenzierungen eintreten, für die der wichtigste Wendepunkt das Auftreten der Jungfrau von Orle'ans 1429 ist, womit der Anstoß ge­geben wird - und wenn Sie in der Geschichte nachsehen, so werden Sie sehen, daß dieser Anstoß ein wichtiger, ein mächtiger ist, der fort-wirkte - der Differenzierung zwischen dem Französischen einerseits, dem Englischen anderseits.

So sehen wir das Auftauchen des Nationalen als Gemeinsamkeit Bildendem, und zu gleicher Zeit diese für die Entwickelung der neue­ren Menschheit symptomatisch bedeutsame Differenzierung, die ihren Wendepunkt 1429 in dem Auftreten der Jungfrau von Orléans hat. Ich möchte sagen: In dem Augenblicke, in dem der Impuls des Papst­tums die westliche europäische Bevölkerung aus seinen Fängen ent­lassen muß, taucht die Kraft des Nationalen gerade im Westen auf und ist dort bildend. - Sie dürfen sich nicht täuschen lassen in einer solchen Sache. So wie Ihnen die Geschichte heute dargestellt wird, können Sie selbstverständlich bei jedem Volk rückwärtige Betrachtungen

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anstellen und können sagen: Nun ja, da ist auch schon das Nationale gewesen! - Da legen Sie keinen Wert darauf, wie die Dinge wirksam sind. Sie können ja bei den Slawenvölkern nachsehen; die werden selbstverständlich unter dem Eindruck der heutigen Ideen und Impulse ihre nationalen Gefühle und Kräfte möglichst weit zurück­führen. Aber die nationalen Impulse waren zum Beispiel gerade in der Zeit, von der wir heute sprechen, in besonderer Art wirksam, so daß Sie eine Epoche umwandelndster Impulse gegeben haben in den Ge­bieten, von denen wir eben gesprochen haben. Das ist es, worauf es ankommt. Man muß sich zur Objektivität durchringen, damit man die Wirklichkeit erfassen kann. Und eine solche symptomatische Tat­sache, die ebenso das Heraufkommen der Bewußtseinsseele ausdrückt, äußerlich offenbart, wie die angeführte, ist auch dieses eigentümliche Sich-Herausorganisieren eines italienischen Nationalbewußtseins aus dem nivellierenden, das Nationale zu einem Untergeordneten machen-den päpstlichen Elemente, wie es über Italien bis dahin ausgegossen war. In Italien wird es gerade in dieser Zeit im wesentlichen der natio­nale Impuls, der die Leute auf der italienischen Halbinsel vom Papst­tum emanzipiert. Das alles sind Symptome, die in der Zeit da sind, als sich innerhalb Europas die Bewußtseinsseelenkultur aus der Ver­standes- und Gemütsseelenkultur heraus entwickeln will.

In derselben Zeit - natürlich sehen wir da auf Jahrhunderte hin -sehen wir dann die Auseinandersetzung, die da beginnt zwischen Mittel- und Osteuropa. Was sich herausentwickelt hat aus demjenigen, was ich als Sturmbock bezeichnet habe für das Papsttum, aus dem Römisch-Germanischen Imperium, das gerät in eine Auseinanderset­zung mit den heranstürmenden Slawen. Und wir sehen, wie durch die mannigfaltigsten historischen Symptome dieses Ineinanderspielen Mit­tel- und Osteuropas stattfindet. Man muß den fürstlichen Herrschaf­ten in der Geschichte nicht so weit die Türe aufmachen, als es heute die Lehrer der Geschichte tun. Schließlich muß man schon der Wilden-bruch sein, wenn man den Leuten als große historische Ereignisse jenen Hokuspokus vormacht, der sich abgespielt hat zwischen Ludwig dem Frommen und seinen Söhnen und so weiter auf einem bestimmten Gebiete von Europa; man muß der Wildenbruch sein, wenn man diejenigen

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Ereignisse als historisch bedeutsame aufzählt, die er in seinen Dramen, die gerade von diesen Ereignissen handeln, als historisch be­deutsam hinstellt. Diese historischen Familienereignisse haben nicht mehr Bedeutung als sonstiger Familientratsch; diese Familienereignisse haben mit der Entwickelung der Menschheit nichts zu tun. Davon be­kommt man erst ein Gefühl, wenn man Symptomatologie in der Ge­schichte treibt. Denn dann bekommt man einen Sinn für das, was sich wirklich heraushebt, und für das, was für den Entwickelungsgang der Menschheit ziemlich bedeutungslos ist. Bedeutungsvoll in der neueren Zeit ist die allgemeine Auseinandersetzung zwischen der europäischen Mitte und dem europäischen Osten. Aber im Grunde genommen ist es nur wie eine Gebärde, was sich da abgespielt hat mit Ottokar und so weiter. Das weist eigentlich nur hin auf dasjenige, was in Wirklichkeit geschieht. Dagegen ist von großer Bedeutung, daß man nicht einseitig dieses Ereignis betrachtet, sondern so, daß man sieht, wie, während jene Auseinandersetzung fortwährend stattgefunden hat, eine koloni­satorische Tätigkeit von Mittel- nach Osteuropa hinüber die Bauern-bewegungen brachte, die später Menschen vom Rhein bis hinunter nach Siebenbürgen brachte, welche dann dort - und durch eine Mischung von Mittel- und Osteuropa trat das ein - das ganze Leben, wie es sich später in diesen Gebieten entwickelte, im allertiefsten Sinne beein­flußten. So daß wir auf der einen Seite die herankommenden Slawen durcheinandergeraten sehen in ihrem Tun mit dem, was sich in Mittel­europa herausgebildet hat aus dem römisch-germanischen Imperium, fortwährend durchzogen von mitteleuropäischen Kolonisatoren, die nach dem Osten hinübergingen. Und aus diesem merkwürdigen Gesche­hen steigt dasjenige auf, was dann in der Geschichte die Habsburgische Macht wird. Aber ein anderes, das da aus diesem Getriebe überall in Europa aufsteigt, wie ich es Ihnen charakterisiert habe, das ist die Bil­dung gewisser Zentren mit einer zentralen, eigenen Gesinnung, die sich innerhalb kleiner Gemeinschaften der Städte ausbildet. Vom 13. bis 15. Jahrhundert ist die Hauptzeit, wo die Städte über ganz Europa hin mit ihrer eigenen Stadtgesinnung heraufkommen. Dasjenige, was ich vorher charakterisiert habe, spielt so durch diese Städte hindurch. Aber Individualitäten bilden sich in diesen Städten herauf.

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Nun ist es immerhin für diese Zeit bemerkenswert und bedeutsam, wie nach der Differenzierung von Frankreich und England, zunächst in England, sich langsam aber gründlich vorbereitet dasjenige, was dann später in Europa zum Parlamentarismus wird. Aus langdauern-den Bürgerkriegen - Sie können das in der Geschichte nachlesen -, die von 1452 bis 1485 dauern, entwickelt sich unter mannigfaltigen äuße­ren Symptomen das historische Symptom des aufkeimenden Parla­mentarismus. Die Menschen wollen, als im 15. Jahrhundert das Zeit­alter der Bewußtseinsseele beginnt, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen. Sie wollen mitreden, sie wollen parlamentarisieren, sich unterhalten über dasjenige, was geschehen soll, und wollen dann aus dem, worüber sie sich unterhalten, die äußeren Geschehnisse for­men, oder wollen sich wenigstens manchmal einbilden, daß sie die äußeren Geschehnisse formen. Und das entwickelt sich, aus ihren schweren Bürgerkriegen im 15. Jahrhundert, innerhalb Englands aus jener Konfiguration heraus, die in deutlicher Differenzierung, in deut­lichem Unterschiede ist von dem, was in Frankreich sich auch unter dem Einfluß des nationalen Impulses gebildet hatte. Dieser Parlamen­tarismus in England bildet sich aus dem nationalen Impuls heraus. So daß man sich klar sein muß darüber: Durch ein solches Symptom wie die Herausbildung des Parlamentarismus aus dem englischen Bürger­krieg im 15. Jahrhundert sehen wir durcheinanderspielen, oder meinet-willen auch durcheinanderspülen, auf der einen Seite die heraufkom­mende nationale Idee, und einen Impuls, der uns schon sehr deutlich hinführt zu dem, was die Bewußtseinsseele will, die im Menschen rumort. Und aus Gründen, die sich schon noch ergeben werden, bricht sich der Impuls der Bewußtseinsseele just durch diese Ereignisse in England durch, nimmt aber den Charakter jenes nationalen Impulses an, den er eben gerade nur dort bekommen konnte; daher bekommt er diese Färbung, diese Nuance. Damit haben wir vieles von dem betrachtet, was Europa gerade im Anfange des Bewußtseinskultur­Zeitalters die Konfiguration gegeben hat.

Hinter all dem, gleichsam im Hintergrunde wie ein halbes Rätsel für Europa dastehend, entwickelt sich das, was später zum russischen Gebilde wird, mit Recht als etwas Unbekanntes angesehen. Wir wissen,

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warum: weil es dasjenige, was es in sich trägt, als Keime für die Zukunft in sich trägt. Aber es gebiert sich zunächst aus lauter Altem heraus, oder wenigstens aus solchem heraus, das nicht eigentlich aus der Bewußtseinsseele entspringt, überhaupt nicht aus der menschlichen Seele. Natürlich ist es einmal entsprungen, aber hier entsprang es nicht aus der menschlichen Seele heraus. Keines von den drei Elementen, das konfigurierend eingriff in das russische Gebilde, entsprang aus der russischen Seele heraus. Das eine der Elemente war dasjenige, was von Byzanz kam, aus byzantinischem Katholizismus, das zweite dasjenige, was eingeflossen war durch die normannisch-slawische Blutmischung, das dritte dasjenige, was von Asien herüberkam. Alle drei sind nicht etwas, was produziert wurde aus dem Inneren der russischen Seele her­aus, es hat aber die Konfiguration gegeben dem, was sich da als ein rätselhaftes Gebilde hinter dem europäischen Geschehen im Osten ausbildete.

Und nun suchen wir uns ein gemeinschaftliches Merkmal für all die Dinge, die uns da als Symptome entgegengetreten sind. Ein solches gemeinschaftliches Merkmal gibt es, das sehr auffällig ist. Wir brauchen nur das, was ja die eigentlich treibenden Kräfte sind, mit dem zu ver­gleichen, was früher die eigentlich treibenden Kräfte in der Mensch­heitsentwickelung waren, und wir finden einen bedeutsamen Unter­schied, der uns charakteristisch hinweisen wird auf das, was das Wesen-hafte in der Bewußtseinsseelenkultur ist, und auf das, was das Wesen-hafte in der Verstandes- und Gemütsseelenkultur ist.

Wir können es ja, um uns die Sache recht deutlich zu machen, zu­nächst mit einem solchen Impuls vergleichen, wie es das Christentum ist: etwas, was bei jedem Menschen ganz aus dem ureigensten Innern heraus produziert werden muß, ein Impuls, der wirklich ins geschicht­liche Geschehen übergeht, aber der aus dem Innern des Menschen her­aus produziert wird. Nun ist das Christentum der größte Impuls von dieser Art in der Erdenentwickelung. Aber wir können ja kleinere Impulse nehmen. Wir brauchen nur dasjenige, was durch das Augu­steische Zeitalter in das Römertum hineingekommen ist, zu nehmen, wir brauchen nur auf die zahlreich aus der Menschenseele hervorspru­delnden Impulse im griechischen Leben zu blicken. Da sehen wir, wie

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überall wirklich aus der Menschenseele heraus produziertes Neues in die Menschheitsentwickelung eintritt. Diese Zeit der Bewußtseinsseelen­kultur bringt es in bezug auf so etwas zu keiner Naissance, sondern höchstens zur Renaissance, zu einer Wiedergeburt. In bezug auf das, was aus der menschlichen Seele herauskommt, kommt es höchstens zu einer Renaissance, zu einer Wiederauferstehung des Alten. Denn das alles, was da als Impulse eingreift, das ist ja nichts, was aus der mensch­lichen Seele herauspulsiert. Das erste, was uns aufgefallen ist, ist ja die nationale Idee, wie man es oftmals nennt, man müßte sagen, der natio­nale Impuls. Der wird nicht aus der Menschenseele produktiv heraus-geboren, sondern der liegt in dem, was wir vererbt erhalten haben, der liegt in dem, was wir vorfinden. Es ist etwas ganz anderes, was, sagen wir, durch die zahlreichen geistigen Impulse im Griechentum auftritt. Dieser nationale Impuls, der ist ein Pochen auf etwas, was da ist wie ein Naturprodukt. Da produziert der Mensch nichts aus seinem Innern heraus, wenn er sich als Angehöriger einer Nationalität betrachtet, sondern er weist nur darauf hin, daß er in einer gewissen Weise ge­wachsen ist, wie eine Pflanze wächst, wie ein Naturwesen wächst. Und ich habe Sie mit Absicht darauf hingewiesen, daß, was da aus Asien herüberkommt, indem es nur die eine Seite der europäischen Kultur zuwendet, etwas Naturhaftes hat. Wiederum geschieht in Europa nichts, was aus der menschlichen Seele heraus produziert wird, dadurch daß die Mongolen, später die Osmanen einbrechen in die europäischen Ereignisse, obwohl vieles unter diesem Impuls geschieht. Auch in Ruß­land geschieht nichts, was aus der menschlichen Seele herauskommt, was dadurch besonders charakteristisch ist; das hat nur Byzantinis­mus und Asiatismus ausgebreitet, diese normannisch-slawische Blut-mischung. Es sind gegebene Tatsachen, Naturtatsachen, die hereinkom­men ins Menschenleben, aber es wird nichts wirklich aus der mensch­lichen Seele heraus produziert. Halten wir das einmal fest als Aus­gangspunkt für später. Der Charakter dessen, worauf der Mensch pocht, wird ein ganz anderer vom 15. Jahrhundert ab.

Betrachten wir mehr innerliche Ereignisse. Wir haben jetzt mehr so die äußerlichen geschichtlichen Tatsachen ins Auge gefaßt; betrachten wir mehr innerliche Ereignisse, die schon mehr im Zusammenhang

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stehen mit dem die Rinde der menschlichen Seele durchbrechenden Bewußtseinsseelenimpuls. Da sehen wir, wenn wir den Blick zum Bei­spiel auf das Konstanzer Konzil hin richten, 1415, die Hinrichtung des Hus. In Hus sehen wir eine Persönlichkeit, die, ich möchte sagen, heraufkommt wie einem Menschenvulkan ähnlich, in dieser bestimm­ten Art. 1414 beginnt das Konstanzer Konzil, das über ihn richtet, mit Beginn des 15. Jahrhunderts, gerade mit dem Beginn der Bewußt-seinsseelenkultur. Wie steht dieser Hus drinnen im modernen Leben? Als ein mächtiger Protest gegen die ganze suggestive Kultur des katho­lischen Universalimpulses. Es bäumt sich in Hus die Bewußtseinsseele selbst auf gegen dasjenige, was die Verstandes- oder Gemütsseele an­genommen hat durch den römischen Universalimpuls. Aber im Zu­sammenhange damit sehen wir - wir könnten auch hinweisen, wie sich das schon vorbereitet hat in den Albigenserkämpfen und so weiter -, wie im Grunde genommen das nicht eine vereinzelte Erscheinung ist. Wir sehen ja, wie in Italien Savonarola auftritt, wir sehen, wie andere auftreten: das Aufbäumen der auf sich selbst gestellten menschlichen Persönlichkeit ist es, die durch das Auf-sich-selbst-gestellt-Sein auch zu ihrem religiösen Bekenntnis kommen will. Sie wendet sich gegen den suggestiven Universalimpuls des päpstlichen Katholizismus. Und das findet seine Fortsetzung in Luther, das findet seine Fortsetzung in der Emanzipation der englischen Kirche voii Rom, die so außerordentlich interessant und bedeutsam ist, das findet seine Fortsetzung in dem Calvinischen Einfluß in gewissen Gegenden Europas. Das ist etwas, was wie eine Strömung durch die ganze zivilisierte europäische Welt geht, was mehr innerlich ist als die anderen Einflüsse, was mehr mit der Seele des Menschen schon zusammenhängt.

Aber wie? Auch anders, als das früher der Fall war. Im Grunde genommen, was bewundern wir an Calvin, an Luther, wenn wir sie eben als historische Erscheinungen nehmen? Was bewundern wir an denen, die das englische Kirchentum von Rom frei gemacht haben? Nicht neue produktive Ideen, nicht Neues, das aus der Seele heraus produziert wird, sondern die Kraft, mit der sie das Alte in eine neue Form gießen wollten, so daß, während es früher hingenommen wurde von der mehr unbewußt instinktiven Verstandes- oder Gemütsseele,

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es jetzt hingenommen werden soll von der auf sich selbst gestellten Bewußtseinsseele des Menschen. Aber nicht neues Bekenntnis wird pro­duziert, nicht neue Ideen werden produziert. Es wird über alte Ideen gestritten, es wird nicht ein neues Symbolum gefunden. Denken Sie nur, wie reich die Menschheit in der Produktion von Symbolen war, je weiter wir zurückgehen. Wahrhaftig solch ein Symbolum wie das Altarsakrament-Symbol, es mußte einmal aus der menschlichen Seele heraus produziert werden. Im Zeitalter Luthers und Calvins konnte man nur darüber streiten, ob so oder so. Aber solch ein Impuls, der aus sich heraus, der ein für sich Individuelles ist, der produziert wer­den muß aus der menschlichen Seele heraus, war nicht da, im ganzen weiten Umfange war er nicht da. Ein neues Verhältnis zu diesen Din­gen bedeutet das Herankommen der Bewußtseinsseelenkultur, aber nicht neue Impulse.

So daß wir sagen können: Indem diese neue Zeit anbricht, wirkt in ihr die heraufkommende Bewußtseinsseele. Sie wirkt sich in ge­schichtlichen Symptomen aus. Und wir sehen, wie auf der einen Seite die nationalen Impulse wirken, wie auf der anderen Seite selbst bis in die Tiefen des religiösen Bekenntnisses hinein das Aufbäumen der Persönlichkeit wirkt, die auf sich selbst gestellt sein will, weil eben die Bewußtseinsseele herausbrechen will aus ihren Hüllen. Und diese Kräfte, diese zwei Kräfte, die ich eben charakterisiert habe, die muß man in ihren Wirkungen studieren, wenn man jetzt die weitere Fort-entwickelung der repräsentativen Nationalstaaten, Frankreich und England, ins Auge faßt. Die erstarken, aber so, daß sie in deutlicher Differenzierung zeigen, wie die zwei Impulse, der nationale und der Persönlichkeitsimpuls, auf verschiedene Weise in Frankreich und in England miteinander in Wechselwirkung treten, und nichts menschlich produziertes Neues, aber Althergebrachtes in Umgestaltung als Grund­lage für die geschichtliche Struktur Europas offenbaren. Man kann sagen: Dieses Erstarken des nationalen Elementes, es zeigt sich auf be­sondere Weise in England, wo das Persönliche, das zum Beispiel in Hus nur als religiöses Pathos wirkte, sich verbindet mit dem Nationalen und sich verbindet mit dem Persönlichkeitsimpuls der Bewußtseins-seele und zum Parlamentarismus immer mehr und mehr wird, den

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Parlamentarismus immer mehr und mehr ausbildet, so daß dort alles nach der politischen Seite hinschlägt. - Wir sehen, wie in Frankreich überwiegt - trotz des nationalen Elementes, das eben stark durch Tem­perament und durch sonstige Dinge wirkt - das Auf-sich-gestellt-Sein der Persönlichkeit, und die andere Nuance gibt. Während in England mehr die nationale Nuance die stärkere Färbung gibt, gibt in Frank­reich mehr das Persönlichkeitselement die nach außen sichtbare und wirksame Nuance. Man muß diese Dinge wirklich intim studieren.

Daß diese Dinge wirken, objektiv wirken, nicht aus der mensch­lichen Willkür heraus, das sehen Sie ja da, wo der eine Impuls wirkt, aber nicht fruchtbar wird, steril bleibt, weil er äußerlich keine Förde­rung findet und weil der Gegenimpuls noch stark genug ist, um ihn zu verkümmern. In Frankreich wirkt der nationale Impuls so stark, daß er das französische Volk emanzipiert vom Papsttum. Daher war es auch Frankreich, das den Papst nach Avignon gezwungen hat. Daher wird da der Mutterboden bereitet für die Emanzipation der Persönlich­keit. In England wirkt stark der nationale Impuls, aber zu gleicher Zeit wie angeboren stark der Persönlichkeitsimpuls: die Kultur wird bis zu einem hoben Grade von Rom emanzipiert durch die ganze Nation hindurch, die sich auch ihre eigene Bekenntnisstruktur gibt. In Spanien sehen wir, wie der Impuls zwar wirkt, aber weder durch die Natur des Nationalen durchwirken kann, noch wie die Persönlichkeit aufkommen kann gegen das Suggestive. Da bleibt alles, ich möchte sagen, in den Eierschalen drinnen und kommt früher in die Dekadenz hinein, als es sich entwickeln kann.

Die äußeren Dinge sind wirklich nur Symptome für dasjenige, was wir durch die äußeren Symptome hindurch suchen. Und ich möchte sagen: Es ist handgreiflich, wenn man nur schauen will, wie das, was man gewöhnlich historische Tatsachen nennt, nur Symptome sind. 1476 war auf dem heutigen Schweizerboden eine bedeutungsvolle Schlacht. Das, was dazumal in den Menschenseelen gelebt hat, als Karl der Kühne bei Murten besiegt worden ist, das tritt uns symptomatisch am bedeut­samsten entgegen in dieser Schlacht bei Murten 1476: die Austilgung beginnt des mit dem römischen Papsttum innig verbundenen Ritter­tums, des Ritterwesens. Aber es ist wieder ein Zug, der durch die

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ganze damals zivilisierte Welt geht, der sich gewissermaßen da nur in einer ganz repräsentativen Erscheinung an die Oberfläche bringt.

Natürlich ist, indem sich so etwas an die Oberfläche bringen will, der Gegendruck des Alten da. Neben dem normalen Fortgang, wissen Sie ja, ist immer alles mögliche Luziferische und Ahrimanische da, das von zurückgebliebenen Impulsen herrührt. Das sucht sich zur Geltung zu bringen. Dasjenige, was als normaler Impuls in die Menschheit eintritt, das muß kämpfen gegen das, was in der luziferisch-ahrimanischen Weise hereinkommt. Und so sehen wir, daß gerade der Impuls, der anschaulich in Wielif, Hus, Luther, Calvin hervortritt, zu kämpfen hat. Ein Symptom für diesen Kampf sehen wir in dem Aufstand der Ver­einigten Niederlande gegen die luziferisch-ahrimanische spanische Per­sönlichkeit des Philipp. Und wir sehen einen der bedeutendsten Wende­punkte der neueren Zeit - aber nur als Symptom können wir ihn auf­fassen - 1588, als die spanische Armada besiegt wird, und damit alles dasjenige zurückgeschlagen wird, was von Spanien her als der stärkste Widerstand gegen das Aufkommen der emanzipierten Persönlichkeit sich entwickelt hat. In den niederländischen Freiheitskämpfen und der Besiegung der Armada sind äußere Symptome gegeben. Es sind nur äußere Symptome, denn die Wirklichkeit erreichen wir nur, wenn wir langsam den Weg zum Inneren gehen wollen. Aber indem so die Wellen aufgeworfen werden, zeigt sich immer mehr das Innere. Diese Welle 1588, als die Armada geschlagen wurde, die zeigt eben, wie die sich emanzipierende Persönlichkeit, welche die Bewußtseinsseele in sich entwickeln will, sich aufbäumte gegen dasjenige, was in starrster Form geblieben war aus der Verstandes- oder Gemütsseele.

Es ist ein Unsinn, die geschichtliche Entwickelung der Menschheit so zu betrachten: Das Spätere ist eine Folge des Fr üheren; Ursache -Wirkung, Ursache - Wirkung und so weiter. Das ist ja riesig bequem. Besonders ist es dann bequem, professorale Geschichtsbetrachtung an­zustellen. Es ist ja riesig bequem, so - nun, so fortzuhumpeln von Schritt zu Schritt von einer historischen Tatsache zu der anderen histo­rischen Tatsache. Aber wenn man nicht blind ist und nicht schläft, sondern offenen Auges die Dinge ansieht, so zeigen die historischen Symptome selbst, wie unsinnig solch eine Betrachtung ist.

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Nehmen Sie ein historisches Symptom, das nun wirklich außer­ordentlich einleuchtend ist von einem gewissen Gesichtspunkte aus. All das, was da heraufkam seit dem 15. Jahrhundert und was diese Im­pulse hatte, von denen ich schon Andeutungen gemacht habe: natio­naler Impuls, Persönlichkeitsimpuis und so weiter, all das brachte Gegensätze hervor, die dann zum Dreißigjährigen Krieg führten. Die Betrachtung des Dreißigjährigen Krieges, wie er so geschichtlich dar­gestellt wird, die ist ja besonders wenig vom Standpunkte der Sym­ptomatologie angestellt. Man kann ihn nicht gut nach der Methode des Kaffeeklatsches betrachten, denn schließlich hat es für die euro­päischen Geschicke doch keine große Bedeutung gehabt, ob gerade der Martinitz und Slawata und der Fabriejus aus dem historischen Fenster zu Prag herausgeschmissen worden sind, und wenn nicht just ein Mist-haufen darunter gewesen wäre, wären sie tot gewesen; da sie aber auf einen Misthaufen - er soll nur aus Papierschnitzeln bestanden haben, welche die Bedienten vom Hradschin hingeworfen und nicht weg-geschafft haben, bis sie endlich zu einem Papiermisthaufen geworden sind - gefallen waren, sind sie am Leben geblieben. Das ist ja eine ganz niedliche Anekdote für den Kaffeeklatsch, aber daß sie in irgend-einer inneren Beziehung zusammenhängt mit der Entwickelung der Menschheit, das wird man doch nicht behaupten können.

Wichtig ist jedenfalls, daß, wenn man beginnt den Dreißigjährigen Krieg zu studieren - ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß er 1618 begonnen hat -, er entspringt aus reinen Bekenntnisgegensätzen, aus dem, was sich gegen den alten Katholizismus, gegen den alten katho­lischen Impuls herausentwickelt hat. Wir sehen überall, wie sich die schweren Kämpfe aus diesen Gegensätzen der neueren Persönlichkeit zum alten suggestiven Katholizismus herausgebildet hatten. Aber wenn wir dann bis zum Ende studieren und bis zum Jahre 1648 kom­men, wo bekanntlich der Westfälische Friede dem Treiben ein Ende gemacht hat, dann können wir uns folgende Frage vorlegen: Was ist denn eigentlich geschehen? - Wenn wir uns nämlich fragen: Wie stand es 1648 mit den protestantischen und katholischen Gegensätzen? Was war aus ihnen geworden im Lauf der dreißig Jahre? Wie hat sich das entwickelt? - Nun, es gibt nichts, was einem bedeutsamer ins Auge

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fallen kann, als daß es mit Bezug auf die Gegensätze zwischen Prote­stantismus und Katholizismus und allem, was damit zusammenhing, 1648 genau so stand wie 1618, und zwar ganz genau so. Wenn auch zwischendurch das eine oder andere ein bißchen verändert hatte das­jenige, um das man angefangen hatte sich herumzuzanken, war, wenig­stens in ganz Mitteleuropa, es dann noch genau so wie beim Ausbruch. Bloß was sich da hineingemischt hat, was gar nicht in den Ursachen von 1618 lag, all dasjenige, was, nachdem da ein gewisses Feld ge­schaffen war, sich hineingemischt hat, das hat dann den politischen Kräften in Europa eine ganz andere Struktur gegeben. Der politische Horizont derjenigen, die sich hineingemischt haben, der ist ein ganz anderer geworden. Aber was da beim Westfälischen Frieden heraus­gekommen ist, was sich wirklich verändert hat gegenüber dem Frühe­ren, das hat nicht das Geringste mit den Ursachen von 1618 zu tun.

Gerade beim Dreißigjährigen Krieg ist diese Tatsache von außer-ordentlicher Wichtigkeit und bezeugt uns, wie unsinnig es ist, die Ge­schichte nach dem Gesichtspunkte von Wirkung und Ursache zu be­trachten, wie man es gewöhnlich tut. Jedenfalls hat sich aus dem, was sich da entwickelt hatte, gerade das ergeben, daß die führende Stellung von England und Frankreich, wie sie sie in Europa erlangt haben, mehr oder weniger aus diesem Kriege hervorgegangen ist, mit dieser Entwickelung des Krieges zusammenhängt. Aber sie hängt wahrhaftig nicht mit den Ursachen, die zu ihm geführt haben, irgendwie zusam­men. Und gerade das ist nun das Wichtigste im Gang der neueren Zeit­geschichte, daß sich anschließend an den Dreißigjährigen Krieg die nationalen Impulse im Verein mit den anderen Impulsen, die ich charakterisiert habe, dazu entwickeln, daß Frankreich und England die repräsentativen Nationalstaaten werden. Wenn vom nationalen Prin­zip im Osten heute so viel geredet wird, so darf man dabei nicht ver­gessen, daß das nationale Prinzip hinübergezogen ist vom Westen nach dem Osten. Das ist wie die Passatströmung auf der Erde: so ist die Strömung des nationalen Impulses vom Westen nach dem Osten ge­gangen. Das muß man sich nur vollständig klar vor Augen halten.

Nun ist es interessant, wie dasselbe, nationaler Impuls im Verein mit der Emanzipation der Persönlichkeit, in den zwei differenzierten

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Gebilden, wo sie, wie wir gesehen haben, 1429 deutlich anfingen sich zu differenzieren, sich ganz verschieden ausnimmt. In Frankreich nimmt sich die Nuance der Emanzipation der Persönlichkeit innerhalb des Nationalen so aus, daß sie vor allem nach innen umschlägt. Ich möchte sagen: Wenn das Nationale (siehe Zeichnung, rot) diese Linie ist und auf der einen Seite vom Nationalen der Mensch liegt, auf der anderen Seite vom Nationalen die Menschheit, die Welt, liegt, so nimmt in Frankreich die Entwickelung vom Nationalen die Richtung zum Menschen hin, in England die Richtung zur Menschheit hin. Frankreich

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verändert das Nationale innerhalb des Nationalstaates so, daß es hin-tendiert zur Umänderung des Menschen in sich, daß es darauf hin-tendiert, den Menschen zu etwas anderem zu machen. In England nimmt aus dem Nationalen heraus das Persönliche den Charakter an, daß es sich hineintragen will in alle Welt, daß es die ganze Welt so machen will, daß überall die Persönlichkeit aufwächst. Der Franzose will mehr zum Erzieher des Persönlichen in der Seele werden, der Engländer will zum Kolonisator der ganzen Menschheit werden mit Bezug auf die Einpflanzung der Persönlichkeit. Zwei ganz verschie­dene Richtungen; der Mutterboden ist das Nationale. Einmal schlägt es nach der Seele, nach innen, das andere Mal schlägt es nach außen, nach der Seele der Menschheit. So daß wir zwei parallelgehende Strö­mungen haben in Frankreich und in England mit zwei sehr stark sich unterscheidenden Nuancen. Daher konnte auch nur in Frankreich, wo das Innere der Persönlichkeit ergriffen wurde, das Gebilde, das sich da jetzt, so wie ich es charakterisiert habe, entwickelte, über Ludwig XIV. und so weiter dann nur zur Revolution hinführen. In England führte es zum ruhigen Liberalismus, weil es sich nach außen entlud, in Frank­reich nach innen, nach dem Innern des Menschen.

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Dies tritt merkwürdigerweise auch geographisch zutage, und es zeigt sich ganz besonders, wenn wir wiederum einen Wendepunkt in der neueren Geschichte als Symptom betrachten, an dem Wendepunkt, wo der aus der Revolution herausgeborene Napoleon 1805 die Schlacht von Trafalgar an die Engländer verliert. Denn was offenbart sich da? Napoleon, als allerdings eigenartige, aber immerhin als Repräsentanz des französischen Wesens, bedeutet die Wendung nach dem Innern auch geographisch, nach dem Kontinente von Europa hinein. Wenn Sie Europa sich als dieses Gebilde vorstellen (siehe Zeichnung), so wird

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Napoleon gerade durch die Schlacht von Trafalgar nach Europa her­eingedrängt (Pfeil), England nach der ganzen Welt hinaus, in ent­gegengesetzter Richtung Dabei müssen wir nicht vergessen, wie diese Differenzierung natürlich auch ihre Auseinandersetzung braucht. Sie braucht ihre Auseinandersetzung, es muß sich gewissermaßen das eine an dem andern abreiben. Das geschieht in dem Kampfe um die Herr-schaft in Amerika. Es geht das schon etwas hervor aus diesem Wende-punkt von 1805. Aber wir sehen, indem wir den Blick auf ein paar Jahrzehnte vorher wenden, wie das, was gerade die Nuance im Fran­zosentum bewirkt hat, der Romanismus, für die Welt zurückgeschlagen wird vom Angelsachsentum in Nordamerika.

So spüren Sie, wenn Sie nur wollen, was da waltet und wirkt. So

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sehen Sie, wie dieser Bewußtseinsimpuls durch seine Kraft gewisser­maßen wie der Zauberlehrling nationale Impulse heraufruft, die sich in der verschiedensten Weise in die Menschheit hineinverpflanzen und hineinnuancieren. Man kann an diese Dinge nur herankommen, wenn man in allem den Bewußtseinsimpuls studiert, aber es vermeidet, pe­dantisch zu werden, sondern sich den Blick frei hält für Bedeutsames und Unbedeutsames, für Charakteristisches und Uncharakteristisches, mehr oder weniger Charakteristisches auch, so daß man dann dadurch aus den äußeren Symptomen zum inneren Gang der Wirklichkeit vor-dringen kann. Denn das Äußere widerspricht eben oftmals sogar ganz dem, was eigentlich als Impuls in der Persönlichkeit drinnenliegt. Und besonders in einer Zeit, in welcher die Persönlichkeit auf sich selber gestellt wird, da widerspricht das Äußere gar sehr dem, was eigentlich in der Persönlichkeit als ein Impuls drinnenliegt.

# Bild s. 32

Auch das zeigt sich, wenn man symptomatisch diese Entwickelung der neueren Geschichte der Menschheit verfolgt. Es ist überall so: Da geht die Strömung (rot schraffiert), da geht die Oberfläche - und die Schullehrer erzählen als Geschichte die Unwirklichkeit. Aber es gibt Punkte, da kommt in die geschichtlichen Ereignisse hinein so wie Wo­gen, die da heraufspülen, manchmal ganz vulkanisch, das durch, was da drunter ist. Wiederum an anderen Punkten, da guckt es, ich möchte sagen, heraus, und einzelne historische Ereignisse verraten das, was drunter ist. Die sind dann als Symptome besonders charakteristisch. Aber manchmal sind es gerade Symptome, wo man, indem man hin-schaut auf die symptomatische Tatsache, über das Äußere sehr stark hinwegsehen muß.

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Nun, besonders charakteristisch für das Aufkeimen des Bewußt­seinsseelenimpulses im Westen Europas ist eine Persönlichkeit sowohl durch ihre persönliche Entwickelung, wie durch ihr ganzes Hinein­gestelltsein in das neuere geschichtliche Leben. Sie stellte sich im Be­ginne des 17. Jahrhunderts gerade hinein in dieses Differenzieren des französischen und englischen Impulses mit seiner ganzen Wirkung, die es damals schon entfacht hat auf das übrige Europa. Im 17. Jahrhun­dert, da hatte es schon eine längere Zeit gewirkt, hatte sich schon aus­gebreitet. Es war die Persönlichkeit, die sich da hineinstellte, eine merkwürdige Persönlichkeit, die man in der folgenden Weise schildern kann. Man kann sagen: Diese Persönlichkeit war außerordentlich freigebig, erfüllt von einem wirklichen, tiefen Dankbarkeitsgefühl für alles dasjenige, was sie empfangen hat, erkenntlich im höchsten Grade, in mustergültiger Weise für alles dasjenige, was ihr als Güte von der Menschheit entgegenschlug, eine Persönlichkeit, sehr gelehrt, fast die Gelehrsamkeit der ganzen Zeit in sich vereinigend, eine Persönlichkeit, außerordentlich friedliebend, abgeneigt den Weltenhändeln als Herr­scher, nur von dem Ideal erfüllt, daß in der Welt Friede sein soll, geradezu weise mit Bezug auf Entschlüsse und Willensimpulse, von einer außerordentlich tiefen Neigung zu freundschaftlichem Verhalten zu den Menschen erfüllt. - So könnte man diese Persönlichkeit schil­dern. Man braucht nur ein bißchen einseitig zu sein, so kann man sie so schildern, wenn man sie äußerlich, wie sie sich darstellt in der Ge­schichte, ansieht.

Man kann sie auch in der folgenden Weise schildern, wenn man nur wieder ein bißchen einseitig wird. Man kann sagen: Das war ein furcht­barer Verschwender, der gar keine Ahnung davon hatte, was er aus­geben konnte oder nicht, das war ein Pedant, so ein richtiger Profes­sorengeist, der überall ins Abstrakte und Pedantische seine Gelehr­samkeit hineintrug. Man kann schildern: Das war ein kleinmütiger Mensch, ein kleinmütiger Charakter, der überall, wo es galt, irgend etwas wacker, tapfer zu verteidigen, kleinmütig sich zurückzog und den Frieden vorzog aus Kleinmut. Man kann sagen: Das war ein ver­schlagener Mensch, der sich durch das Leben so durchschlängelte, indem er überall klugerweise dasjenige wählte, wodurch er in allem durchkam,

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und so weiter. Man kann sagen: Das war ein Mensch, der Be­ziehungen zu anderen Menschen suchte, wie Kinder zu anderen Men­schen ihre Beziehungen suchen. Er hatte in seinen Freundschaften ein Element, das geradezu kindisch war, und das ins Phantastisch-Roman-tische umschlug im Verehren von anderen Menschen und Sich-verehren-Lassen von anderen Menschen. - Man braucht nur ein bißchen einseitig zu sein, dann kann man das eine oder das andere sagen. Und tatsächlich gab es Menschen, die das eine sagten, die das andere sagten; manche sagten beides. Und mit alledem hatte man die äußere historische Per­sönlichkeit von Jakob 1. betrachtet, wie sie sich darlebte, als er von 1603 bis 1625 regierte. Man könnte so reden, wie ich zuerst geredet habe, man könnte so reden, wie ich dann geredet habe, und es wird beides gut für Jakob I. passen. Man kennt gar nicht, weder was in sei­nem Innern in Wirklichkeit lebte, noch was in ihm lebte als Angehöri­ger der Menschheitsentwickelung der neueren Zeit, wenn man das eine oder das andere schildert. Und doch schlägt gerade in der Zeitperiode, da Jakob I. in England regierte, so etwas wie von unten herauf, und es werden dazumal die Symptome stark charakteristisch für dasjenige, was als Wirklichkeit vorgeht.

Nun, von diesen Dingen wollen wir dann morgen weitersprechen.

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ZWEITER VORTRAG Dornach, 19. Oktober 1918

Gestern habe ich versucht Ihnen in großen Zügen ein Bild der Sym­ptome der neueren geschichtlichen Entwickelung der Menschheit zu geben und habe zuletzt wie hineingestellt in diesen Komplex von Symptomen - den wir zunächst nicht schon so verfolgten, daß wir überall auf dasjenige etwa geschaut hätten, was er offenbart, das wer­den wir auch noch tun, sondern den wir mehr im allgemeinen charak­terisiert haben - die merkwürdige Erscheinung Jakob I. von England. Er steht da zu Beginn des 17. Jahrhunderts als sogenannter Herrscher in England eigentlich wie eine Art Rätselgestalt, ungefähr um die Mitte desjenigen Zeitraumes, der verflossen ist vom Beginne des fünften nachatlantischen Zeitraumes bis in das wichtige, Entscheidung brin­gende 19. Jahrhundert. Es wird hier noch nicht - das kann später ge­schehen - meine Aufgabe sein über manches Geheimnis, das mit der Persönlichkeit Jakob I. verbunden ist, zu sprechen. Heute kann das noch nicht meine Aufgabe sein aber ich muß schon heute darauf hin-weisen, wie merkwürdig wieder rum symptomatisch merkwürdig dieser Jakob I. im Verlauf der neueren Geschichte drinnensteht. Man möchte sagen: Ein Mensch, der wirklich nach allen Seiten so widerspruchsvoll charakterisiert werden könnte, wie ich es gestern von zwei Seiten aus versucht habe. Man kann das Beste und man kann das Übelster je nach­dem man es färbt, über ihn sagen.

Man kann vor allen Dingen aber von diesem Jakob I. sagen, daß er innerhalb des Bodens in dem er steht, innerhalb des Bodens, der sich herausentwickelt hat aus all den Verhältnissen, die ich Ihnen ge­schildert habe und auf dem sich besonders entwickelt ein Staatsgedanker der aus dem Nationalimpuk herausgewachsen ist, auf dem sich das ent­wickelt, was wir charakterisiert haben als liberalisierender, wenigstens dem Liberalisieren zuneigender, zustrebender Parlamentarismus, daß auf diesem Boden Jakob I erscheint wie eine entwurzelte Pflanze, wie ein Wesen, das nicht so recht zusammenhängt mit diesem Boden. Schauen wir aber etwas tiefer auf dasjenige, was diesen ganzen fünften

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nachatlantischen Zeitraum nach einer Seite hin charakterisiert, nach der Seite der Geburt der Bewußtseinsseele, dann wird es schon in einer gewissen Beziehung heller um diesen Jakob I. Dann sieht man, daß er die Persönlichkeit ist, welche jenen radikalen Widerspruch darlebt, der so leicht verbunden ist mit Persönlichkeiten aus der Zeit des Be­wußtseinszeitalters. Nicht wahr, in dieser Zeit des Bewußtseinszeit­alters, da verliert die Persönlichkeit denjenigen Wert, den sie früher kraft der Instinkte gerade dadurch gehabt hat, daß sie eigentlich als selbstbewußte Persönlichkeit nicht ausgebildet war. Die Persönlichkeit lebte sich dar in früheren Zeitaltern, man möchte sagen, mit elemen­tarer Kraft, mit einer vermenschlichten, verseelten - man wird mich nicht mißverstehen, wenn ich das sage - tierischen Kraft. Instinktiv lebte sich die Persönlichkeit dar, noch nicht herausgeboren aus dem Gruppenseelentum, noch nicht ganz herausgeboren. Und jetzt sollte sie sich emanzipieren, sollte sich auf sich selbst stellen. Dadurch ergibt sich gerade für die Persönlichkeit ein ganz merkwürdiger Widerspruch. Auf der einen Seite wird alles das, was früher da war für das individuell-persönliche Ausleben, abgestreift, die Instinkte werden hinabgelähmt, und im Innern der Seele soll sich das Zentrum des Persönlichen all­mählich gestalten. Die Seele soll vollinhaltliche Kraft gewinnen.

Daß ein Widerspruch vorhanden ist, Sie sehen es vor allen Dingen an dem, was ich schon gestern sagte. Während man früher, in den Zeit-altern, in denen die Persönlichkeit noch nicht geboren war als selbst­bewußte Persönlichkeit, produziert hat, der Kulturentwickelung pro­duktive Kräfte einverleibt hat, hört das jetzt auf. Die Seele wird steril. Und dennoch stellt sie sich in den Mittelpunkt des Menschen, denn darinnen besteht das Persönliche, daß die Seele sich auf sich selbst, in den Mittelpunkt der Persönlichkeit der Menschenwesenheit stellt. So daß solche überragenden Persönlichkeiten, wie sie dem Altertum eigen waren, Augustus, Julius Cäsar, Perikles - wir könnten alle mög­lichen nennen - nicht mehr möglich werden. Gerade das Elementare der Persönlichkeit verliert an Wert, und es taucht auf das, was sich später demokratische Gesinnung nennt, die die Persönlichkeit nivel­liert, die alles gleichmacht. Aber gerade in diesem Gleichmachen will die Persönlichkeit erscheinen. Ein radikaler Widerspruch!

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Jeder steht durch sein Karma auf irgendeinem Posten. Nun, Jakob I. stand gerade auf dem Posten des Herrschers. Gewiß, in der Zeit der Perserkönige, in der Zeit der Mongolenkhane, selbst noch in dem Zeit­alter, in dem der Papst dem magyarischen Istwan, Stephan I. die hei­lige Stephanskrone aufsetzte, bedeutete die Persönlichkeit etwas in einer bestimmten Stellung drinnen, konnte sich auffassen als hinein­gehörig in diese Stellung. Jakob I. war in seiner Stellung, auch in seiner Herrscherstellung drinnen wie ein Mensch, der in einem Gewande drinnensteckt, von dem ihm aber auch gar nichts paßt. Man kann sagen, Jakob I. war in jeder Beziehung in all dem, worinnen er drin­nensteckte, eben wie ein Mensch in einem Gewande, das ganz und gar nicht paßte. Er war als Kind calvinisch erzogen worden, war dann später zur anglikanischen Kirche übergegangen, allein im Grunde ge­nommen war ihm der Calvinismus ebenso gleichgültig wie die anglika­nische Kirche. Im Innern seiner Seele war das alles Gewand, das ihm nicht paßte. Er war berufen, im herannahenden Zeitalter des parlamen­tarischen Liberalismus, der sogar schon eine Zeitlang geherrscht hatte, als Herrscher zu regieren. Er war sehr klug, sehr gescheit, wenn er mit den Leuten sprach, aber niemand verstand eigentlich, was er wollte, denn alle anderen wollten etwas anderes. Er war aus einer urkatho­lischen Familie heraus, der Familie der Stuarts. Aber als er auf den Thron kam in England, da sahen die Katholiken am allermeisten, wie sie eigentlich nichts von ihm zu erwarten hatten. Daraus entsprang ja jener sonderbare Plan, der so merkwürdig in der Welt dasteht, 1605, nicht wahr, wo sich eine ganze Anzahl von Leuten, die aus dem Katho­lizismus herausgewachsen waren, zusammentaten, möglichst viel Pul­ver unter dem Londoner Parlament ansammelten, und in einem ge­eigneten Augenblicke sollten sämtliche Parlamentsmitglieder in die Luft gesprengt werden. Es war die bekannte Pulververschwörung. Die Sache ist nur dadurch verhindert worden, daß ein Katholik, der davon wußte, die Sache verraten hatte, sonst würde sich über diesem Jakob I. das Schicksal abgespielt haben, daß er mit seinem ganzen Parlamente eines Tages in die Luft geflogen wäre. In nichts paßte er hinein, denn er war eine Persönlichkeit, und die Persönlichkeit hat etwas Singuläres, etwas, was in der Isolierung gedacht, was auf sich selbst gestellt ist.

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Aber im Zeitalter der Persönlichkeit will jeder eine Persönlichkeit sein. Das ist der radikale Widerspruch, der sich ergibt im Zeitalter der Persönlichkeit, das müssen wir nicht vergessen. Im Zeitalter der Persönlichkeit ist es nicht so, daß man zum Beispiel die Königs-Idee oder die Papst-Idee ablehnt. Es ist ja nicht darum zu tun, daß kein Papst oder kein König da sei. Nur möchte, wenn schon ein Papst oder ein König da ist, jeder ein Papst und jeder König sein, dann wären gleichzeitig Papsttum, Königtum und Demokratie erfüllt. Alle diese Dinge fallen einem bei, wenn man diese merkwürdige Persönlich­keit Jakob I. eben symptomatisch ins Auge faßt, denn er war durch und durch ein Mensch des neuen Zeitalters, aber damit auch mit allen Widersprüchen der Persönlichkeit in das neue Zeitalter hineingestellt. Und Unrecht hatten diejenigen, die ihn von der einen Seite charakteri­sierten, wie ich gestern mitteilte, und Unrecht hatten diejenigen, die ihn von der anderen Seite charakterisierten, und Unrecht hatten seine eigenen Bücher, die ihn charakterisierten, denn auch was er selber schrieb, führt uns durchaus nicht in irgendeiner direkten Weise in seine Seele hinein. So steht er, wenn man ihn nicht esoterisch betrach­tet, wie ein großes Rätsel im Beginne des 17. Jahrhunderts gerade auf einem Posten, der von einer gewissen Seite her am allerradikalsten das Heraufkommen des neuzeitlichen Impulses zeigte.

Erinnern wir uns noch einmal an das gestern Gesagte: wie die Dinge eigentlich im Westen Europas zustande gekommen sind. Ich habe ge­sprochen von der Differenzierung des englischen, des französischen Wesens. Wir sehen diese Differenzierung seit dem 15. Jahrhundert. Der Wendepunkt kommt mit dem Auftreten der Jungfrau von Orléans, 1429. Wir sehen, wie die Dinge sich entwickeln. Wir sehen, wie in Eng­land die Emanzipation der Persönlichkeit Platz greift mit der Aspi­ration, die Persönlichkeit in die Welt hinauszutragen, wie in Frank­reich die Emanzipation der Persönlichkeit Platz greift - auf beiden Böden aus der nationalen Idee heraus entspringend - mit der Aspi­ration, möglichst das Innere des Menschen zu ergreifen und es auf sich selbst zu stellen. Da drinnen steht zunächst, also im Beginne des 17. Jahrhunderts, eine Persönlichkeit, die wie der Repräsentant aller Widersprüche des Persönlichen dasteht, Jakob I. Wenn man Symptome

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charakterisiert, muß man niemals pedantisch fertig werden wollen, sondern immer einen unaufgelösten Rest lassen, sonst kommt man nicht weiter. So charakterisiere ich Ihnen Jakob I. keineswegs so, daß Sie ein schönes geschlossenes Bildchen haben, sondern so, daß Sie etwas daran zu denken, vielleicht auch zu rätseln haben.

Es ist immer mehr und mehr hervortretend ein radikaler Unterschied zwischen dem englischen Wesen und dem französischen Wesen. Gerade im französischen Wesen entwickelt sich aus den Wirren des Dreißig­jährigen Krieges heraus auf nationalem Grunde dasjenige, was man nennen kann die Erstarkung des Staatsgedankens. Man kann, wenn man die Erstarkung des Staatsgedankens studieren will, dieses nur an dem Beispiele - aber das Beispiel ist ziemlich singulär - der Entste­hung, des Hinaufkommens zu hohem Glanze und des Herabsteigens wiederum des französischen Nationalstaates tun, an Ludwig XIV. und so weiter. Wir sehen, wie dann im Schoße dieses Nationalstaates die Keime sich entwickeln zu jener weitergehenden Emanzipation der Per­sönlichkeit, die mit der Französischen Revolution gegeben ist.

Diese Französische Revolution, sie bringt herauf drei, man kann sagen, allerberechtigtste Impulse des menschlichen Lebens: das Brüder­liche, das Freiheitliche, das Gleiche. Aber ich habe es schon einmal bei einer anderen Gelegenheit charakterisiert, wie widersprechend der eigentlichen Menschheitsentwickelung innerhalb der Französischen Re­volution diese Dreiheit auftrat: Brüderlichkeit, Freiheit, Gleichheit. Man kann, wenn man mit der menschlichen Entwickelung rechnet, von diesen dreien, von Brüderlichkeit, Freiheit und Gleichheit, nicht spre­chen, ohne daß man in irgendeiner Beziehung von den drei Gliedern der Menschennatur spricht. In bezug auf das leibliche Zusammenleben der Menschen muß die Menschheit allmählich gerade im Zeitalter der Bewußtseinsseele aufsteigen zu einem brüderlichen Element. Es würde einfach ein unsagbares Unglück und eine Zurückwerfung sein in der Entwickelung, wenn am Ende des fünften nachatlantischen Zeitraumes, des Zeitalters der Bewußtseinsseele, nicht wenigstens bis zu einem hohen Grade unter den Menschen die Brüderlichkeit ausgebildet wäre. Aber die Brüderlichkeit kann man nur richtig verstehen, wenn man sie angewendet denkt auf das Zusammenleben von Menschenleib zu Menschenleib

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im physischen Sein. Steigt man aber herauf zum Seelischen, dann kann die Rede sein von der Freiheit. Man wird immer im Irrtum drinnen leben, wenn man glaubt, daß sich Freiheit irgendwie realisieren läßt im äußeren leiblichen Zusammenleben; aber von Seele zu Seele läßt sich Freiheit realisieren. Man darf nicht chaotisch den Menschen als eine Mischmasch-Einheit auffassen und dann von Brüderlichkeit, Freiheit und Gleichheit sprechen, sondern man muß wissen, daß der Mensch gegliedert ist in Leib, Seele und Geist, und muß wissen: Zur Freiheit kommen die Menschen nur, wenn sie in der Seele frei werden wollen. Und gleich sein können die Menschen nur in bezug auf den Geist. Der Geist, der uns spirituell ergreift, der ist für jeden derselbe. Er wird angestrebt dadurch, daß der fünfte Zeitraum, die Bewußt­seinsseele, nach dem Geistselbst strebt. Und mit Bezug auf diesen Geist, nach dem da gestrebt wird, sind die Menschen gleich, geradeso wie, eigentlich zusammenhängend mit dieser Gleichheit des Geistes, das Volkssprichwort sagt: Im Tode sind alle Menschen gleich. - Aber wenn man nicht verteilt auf diese drei differenzierten Seelenglieder Brüder­lichkeit, Freiheit und Gleichheit, sondern sie mischmaschartig durch­einanderwirft und einfach sagt: Der Mensch soll brüderlich leben auf der Erde, frei sein und gleich sein -, dann führt das nur zur Verwirrung. Wie tritt uns daher, symptomatisch betrachtet, die Französische Re­volution entgegen? Gerade symptomatisch betrachtet ist die Französi­sche Revolution außerordentlich interessant. Sie stellt dar, gewisser­maßen in Schlagworten zusammengedrängt und mischmaschartig auf den ganzen Menschen undifferenziert angewendet, dasjenige, was mit allen Mitteln geistiger Menschheitsentwickelung im Laufe des Zeit­alters der Bewußtseinsseele, von 1413, also 2160 Jahre mehr, bis zum Jahre 3573, allmählich entwickelt werden muß. Das ist die Aufgabe dieses Zeitraumes, daß für die Leiber die Brüderlichkeit, für die Seelen die Freiheit, für die Geister die Gleichheit erworben werden während dieses Zeitraumes. Aber ohne diese Einsicht, tumultuarisch alles durch­einanderwerfend, tritt dieses innerste Seelische des fünften nachatlan­tischen Zeitraumes schlagwortartig in der Französischen Revolution auf. Es steht unverstanden da die Seele des fünften nachatlantischen Zeitraumes in diesen drei Worten und kann daher zunächst keinen

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äußeren sozialen Leib gewinnen, führt im Grunde genommen zu Ver­wirrung über Verwirrung. Es kann keinen äußeren sozialen Leib ge­winnen, steht aber da wie die fordernde Seele, außerordentlich bedeut­sam. Man möchte sagen: Alles Innere, was dieser fünfte nachatlantische Zeitraum haben soll, steht unverstanden da und hat kein Äußeres. Aber gerade da tritt etwas symptomatisch ungeheuer Bedeutsames auf.

Sehen Sie, so etwas, wo das, was über den ganzen nächsten Zeit­raum ausgedehnt werden soll, am Anfange fast tumultuarisch zutage tritt, so etwas entfernt sich sehr weit von der Gleichgewichtslage, in welcher sich die Menschheit entwickeln soll, von den Kräften, die den Menschen eingeboren sind dadurch, daß sie mit ihren ureigenen Hier­archien zusammenhängen. Der Waagebalken schlägt sehr stark ein­seitig aus. Luziferisch-ahrimanisch schlug durch die Französische Revo­lution der Waagebalken sehr stark nach der einen Seite aus, namentlich nach der luziferischen Seite. Das erzeugt einen Gegenschlag. Man spricht so, ich möchte sagen, schon mehr als bildlich, man spricht ima­ginativ, aber Sie müssen dabei die Worte nicht allzusehr pressen und müssen vor allen Dingen nicht die Sache wortwörtlich nehmen: In dem, was in der Französischen Revolution auftrat, ist gewissermaßen die Seele des fünften nachatlantischen Zeitraums ohne den sozialen Körper, ohne die Leiblichkeit. Es ist abstrakt, bloß seelenhaft, strebt nach Leib­lichkeit; aber das soll erst geschehen im Verlauf von Jahrtausenden selbst, vielen Jahrhunderten wenigstens. Doch weil die Waagschale der Entwickelung so ausschlägt, ruft es einen Gegensatz hervor. Und was erscheint? Ein Extrem nach der anderen Seite. In der Französischen Revolution geht alles tumultuarisch zu, alles widerspricht dem Rhyth­mus der menschlichen Entwickelung. Indem es nach der anderen Seite ausschlägt, tritt etwas ein, wo alles nun wiederum ganz - und zwar jetzt nicht in der mittleren Gleichgewichtslage, sondern streng ahri­manisch-luziferisch - dem menschlichen Rhythmus entspricht, dem un­persönlichen Fordern der Persönlichkeit. In Napoleon stellt sich hinter­her der Leib entgegen, der ganz nach dem Rhythmus der menschlichen Persönlichkeit, aber jetzt mit dem Ausschlag nach der anderen Seite, gebaut ist: sieben Jahre Vorbereitung - ich habe es schon einmal auf­gezählt - für sein eigentliches Herrschertum, vierzehn Jahre Glanz,

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Beunruhigung von Europa, Aufstieg, sieben Jahre Abstieg, wovon er nur das erste Jahr dazu verwendet, Europa noch einmal zu beunruhi­gen, aber streng ablaufend im Rhythmus: einmal sieben plus zweimal sieben plus einmal sieben, streng im Rhythmus von sieben zu sieben Jahren ablaufend, viermal sieben Jahre im Rhythmus ablaufend.

Ich habe mir wirklich viel Mühe gegeben - manche wissen, wie ich da oder dort darüber eine Andeutung gegeben habe -, die Seele Napo­leons zu finden. Sie wissen, solche Seelenstudien können in der mannig­faltigsten Weise mit den Mitteln der Geistesforschung gemacht werden. Sie erinnern sich, wie Novalis' Seele in früheren Verkörperungen ge­sucht worden ist. Ich habe mir redlich Mühe gegeben, Napoleons Seele, zum Beispiel bei ihrer Weiterwanderung nach Napoleons Tod, irgend­wie zu suchen - ich kann sie nicht finden, und ich glaube auch nicht, daß ich sie je finden werde, denn sie ist wohl nicht da. Und das wird wohl das Rätsel dieses Napoleon-Lebens sein, das abläuft wie eine Uhr, sogar nach dem siebenjährigen Rhythmus, das auch am besten verstanden werden kann, wenn man es als das volle Gegenteil eines solchen Lebens wie Jakobs I. betrachtet, oder auch als das Gegenteil der Abstraktion der Französischen Revolution: die Revolution ganz Seele ohne Leib, Napoleon ganz Leib ohne Seele, aber ein Leib, der wie zusammengebraut ist aus allen Widersprüchen des Zeitalters. Es ver­birgt sich eines der größten Rätsel der neuzeitlichen Entwickelungssym­ptome, sagen wir, in dieser merkwürdigen Zusammenstellung Revo­lution und Napoleon. Es ist, als ob eine Seele sich verkörpern wollte auf der Welt und körperlos erschien, und unter den Revolutionären des 18. Jahrhunderts herumrumorte, aber keinen Körper finden konnte, und nur äußerlich ihr ein Körper sich genähert hätte, der wiederum keine Seele finden konnte: Napoleon. In solchen Dingen liegen mehr als etwa bloß geistreich sein sollende Anspielungen oder Charakterisie­rungen, in solchen Dingen liegen bedeutsame Jmpulse des historischen Werdens. Allerdings müssen die Dinge symptomatisch betrachtet wer­den. Hier unter Ihnen rede ich in den Formen der geisteswissenschaft­lichen Forschung. Aber selbstverständlich, das, was ich jetzt zu Ihnen gesprochen habe, kann man, indem man die Worte ein bißchen anders wählt, überall sonst sagen.

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Und dann, wenn wir versuchen die Symptomgeschichte der neueren Zeit weiter zu verfolgen, sehen wir, verhältnismäßig ruhig, wirklich wie Glieder aufeinander folgend, das englische Wesen sich fortentwik­keln. Im 19. Jahrhundert entwickelt sich das englische Wesen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ziemlich gleichmäßig, ich möchte sagen, in einer gewissen Ruhe das Ideal des Liberalismus geradezu ausprägend. Es entwickelt sich das französische Wesen etwas tumultuarischer, so daß man eigentlich, wenn man die Ereignisse der französischen Ge­schichte im 19. Jahrhundert verfolgt, nie recht weiß: wie kam eigent­lich das Folgende dazu, sich an das Vorangehende anzureihen? - un­motiviert, möchte man sagen. Das ist der hauptsächlichste Grundzug der Entwickelungsgeschichte Frankreichs im 19. Jahrhundert: unmoti-viert. Es ist kein Tadel - ich spreche ganz ohne Sympathie und Anti­pathie -, sondern nur eine Charakteristik.

Nun wird man niemals hineinsehen können in dieses ganze Sym­ptomgewebe der neueren Geschichte, wenn man nicht den Blick darauf wirft, wie eigentlich sich in all dem, was so mehr äußerlich - oder auch seelisch innerlich, aber doch in einem gewissen Sinne äußerlich, wie ich gestern erwähnt habe - sich abspielt, wiederum etwas anderes wirkt. Das möchte ich Ihnen so charakterisieren. Man empfindet schon in einer gewissen Weise, sogar bevor dieses fünfte nachatlantische Zeitalter beginnt, das Herannahen dieses Zeitalters der Bewußtseins­seele. Wie in einem Vorausahnen empfinden es gewisse Naturen. Und sie empfinden es eigentlich mit seinem Charakter, sie empfinden: Es kommt das Zeitalter, in dem die Persönlichkeit sich emanzipieren soll, das aber in einer gewissen Beziehung zunächst unproduktiv sein wird, nichts selbst wird hervorbringen können, das mit Bezug gerade auf die geistige Produktion, die ins soziale und geschichtliche Leben übergehen soll, vom Althergebrachten wird leben müssen.

Das ist ja der tiefere Impuls für die Kreuzzüge, die dem Zeitalter des Bewußtseinsmenschen vorangegangen sind. Warum streben die Leute hinüber nach dem Oriente? Warum streben sie hinüber nach dem heiligen Grabe? Weil sie nicht streben können und nicht streben wollen nach einer neuen Mission, nach einer neuen ursprünglichen speziellen Idee im Bewußtseinszeitalter. Sie streben danach, das Althergebrachte

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in seiner wahren Gestalt, in seiner wahren Substanz sogar, zu finden: Hin nach Jerusalem, um das Alte zu finden und es auf eine andere Weise in die Entwickelung hereinzustellen, als es Rom hereingestellt hat. - Mit den Kreuzzügen ahnt man, daß heraufkommt das Zeitalter der Bewußtseinsseele mit seiner Unproduktivität, die es zunächst ent­faltet. Und im Zusammenhang mit den Kreuzzügen entsteht der Tem­pelherrenorden, von dem ich Ihnen gestern gesprochen habe, dem der König Philipp der Schöne den Garaus gemacht hat. Und mit dem Tempelherrenorden kommen nach Europa die Geheimnisse des orien­talischen Wesens, und sie werden eingeimpft der europäischen Geistes-kultur. Der König von Frankreich, Philipp - ich habe das im Laufe der Zeit ja von einer anderen Seite her charakterisiert -, konnte zwar die Tempelritter hinrichten lassen, konnte ihr Geld konfiszieren, aber die Impulse der Tempeiritter waren durch zahlreiche Kanäle in das europäische Leben hineingeflossen und wirkten weiter fort, wirkten fort durch zahlreiche okkulte Logen, die dann wiederum ins Exote­rische hinausgingen, und die im wesentlichen so charakterisiert werden können, daß man sagen kann, sie bildeten nach und nach die Oppo­sition gegenüber Rom. Rom war auf der einen Seite, erst allein, dann mit dem Jesuitismus verbunden, und dann stellte sich auf die andere Seite alles dasjenige, was, mit dem christlichen Elemente tief zusam­menhängend, Rom radikal fremd, in Opposition gegen Rom sich stellen mußte, und auch von Rom als eine Opposition empfunden wurde und empfunden wird.

Was war denn nun eigentlich der tiefere Impuls dieser Tatsache, daß man gegenüber dem, was von Rom ausströmte, gegenüber diesem suggestiven Universalimpuls, wie ich ihn gestern charakterisiert habe, orientalisch-gnostische Lehren und Anschauungen, Symbole und Kulte nahm, die man einimpfte dem europäischen Wesen? Betrachten wir ein­mal, was es ist, dann wird es uns auch auf den eigentlichen Impuls führen können.

Die Bewußtseinsseele sollte herankommen. Rom wollte bewahren gegenüber der Bewußtseinsseele - und bewahrt es bis heute - die sugge­stive Kultur, jene suggestive Kultur, welche geeignet ist, die Menschen zurückzuhalten vom Übergehen zum Bewußtseinsseelenzustand, welche

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geeignet sein soll, die Menschen auf dem Standpunkte der Verstandes­oder Gemütsseele zu halten. Das ist ja der eigentliche Kampf, den Rom gegen den Fortgang der Welt führt, daß es beharren will, dieses Rom, bei etwas, was für die Verstandes- oder Gemütsseele taugt, während die Menschheit in ihrer Entwickelung fortschreiten will zur Bewußt­seinsseele.

Aber auf der anderen Seite bringt sich die Menschheit mit dem Fort­schritt in die Bewußtseinsseele wahrhaftig in eine recht unbehagliche Lage, die für weitaus die meisten Menschen zunächst in den ersten Jahrhunderten des Bewußtseinszeitalters und bis heute unbequem empfunden wurde. Nicht wahr, der Mensch soll sich auf sich selbst stellen, der Mensch soll als Persönlichkeit sich emanzipieren. Das ver­langt von ihm das Zeitalter der Bewußtseinsseele. Er muß heraus aus all den alten Stützen. Er kann sich nicht mehr bloß suggerieren lassen dasjenige, an was er glauben soll, er soll selbsttätig teilnehmen an der Erarbeitung dessen, was er glauben soll. Das empfand man, insbeson­dere als dieses Zeitalter der Bewußtseinsseele heraufstieg, als eine Ge­fahr für den Menschen. Instinktiv fühlte man: Der Mensch verliert seinen alten Schwerpunkt; er soll einen neuen suchen. - Aber auf der anderen Seite sagte man sich auch: Wenn man gar nichts tut, was sind dann die Möglichkeiten des Geschehens? - Die eine Möglichkeit besteht darinnen, daß man einfach den Menschen hinausfahren läßt auf das offene Meer des Suchens nach der Bewußtseinsseele, ihn gewissermaßen freigibt dem, was in den freien Impulsen des Fortschrittes liegt. Die andere Möglichkeit, wenn der Mensch so hinaussegelt, ist die, daß Rom dann eine große Bedeutung gewinnt, eine große Wirkung üben kann, wenn es ihm gelingt, abzudämpfen das Streben nach der Be­wußtseinsseele, um den Menschen zu erhalten beim Stehen in der Ver­standes- oder Gemütsseele. Dann würde das erreicht werden, daß der Mensch nicht aufsteigt zu der Bewußtseinsseele, daß der Mensch nicht zum Geistselbst kommt, daß der Mensch seine zukünftige Entwickelung verliert. Es wäre das nur eine von den Nuancen, durch welche die zu­künftige Entwickelung verloren werden könnte.

Die dritte Möglichkeit ist die folgende: Man geht noch radikaler vor, man versucht sein Streben ganz abzutöten, damit der Mensch

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nicht in diese pendelnde Schwingung kommt zwischen dem Streben nach der Bewußtseinsseele und dem Streben, das ihm Rom auferlegt. Damit der Mensch nicht in diese pendelnden Schwingungen kommt, untergräbt man sein Streben vollständig, noch radikaler als Rom. Das tut man dann, wenn man die fortschreitenden Impulse eben gerade der Kraft des Fortschrittes entkleidet und das Alte wirken läßt. Vom Oriente hatte man es mitgebracht, allerdings ursprünglich bei den esoterisch eingeweihten Templern in einer anderen Absicht. Aber nach­dem diesem Streben die Spitze abgebrochen war, nachdem der Tempel­herrenorden zunächst so behandelt worden war, wie er eben von Philipp dem Schönen, dem König von Frankreich, behandelt worden ist, da war geblieben, was man so herübergebracht hatte aus Asien an Kultur. Aber es war ihm zunächst die Spitze abgebrochen, in der Histo­rik, nicht bei einzelnen Persönlichkeiten, aber in der historischen Welt. Durch zahlreiche Kanäle, wie ich gesagt habe, war eingeträufelt das, was die Templer herübergebracht haben, aber der eigentliche spiri­tuelle Gehalt war ihm vielfach genommen worden. Und was war es denn? Es war im wesentlichen der Inhalt der dritten nachatlantischen Zeit. Die Katholizität brachte den Inhalt der vierten. Und dasjenige, woraus der Geist ausgepreßt war wie der Saft aus einer Zitrone, was sich fortpflanzte als exoterisches Freimaurertum, als schottische oder Yorklogen oder wie immer, was namentlich ergriff der falsche Esote­rismus der englischsprechenden Bevölkerung, das ist die ausgepreßte Zitrone, die daher, nachdem sie ausgepreßt ist, die Geheimnisse des dritten nachatlantischen, des ägyptisch-chaldäischen Zeitraumes ent­hält, und was nun angewendet wird, um Impulse hineinzusenden in das Leben der Bewußtseinsseele.

Da entsteht sogar etwas, was wirklich wie im bösesten Sinne ähnlich sieht dem Entwickelungsgange, der stattfinden soll. Denn erinnern Sie sich nur an folgendes, das ich Ihnen einmal dargestellt habe. Ich habe Ihnen gesprochen von der Entwickelung in den sieben Zeiträumen (siehe Zeichnung). Hier zu Beginn haben wir die atlantische Kata­strophe, dann den ersten nachatlantischen Zeitraum, den zweiten, drit­ten, vierten, fünften, sechsten, siebenten. Die Entwickelung geschieht so, daß der vierte für sich allein dasteht, gewissermaßen die Mitte

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bildet. Dasjenige, was charakteristisch war im dritten, erscheint wieder­um, nur auf einer höheren Stufe, im fünften. Was im zweiten charak­teristisch war, tritt wiederum auf einer höheren Stufe auf im sechsten. Was im ersten, im urindischen Zeitraum charakteristisch war, erscheint wiederum im siebenten. Solche Übergreifungen finden statt. Erinnern Sie sich, wie ich gesagt habe, daß es einzelne Geister gibt, die sich be­wußt sind dieses Übergreifens, wie in Kepler - als er versuchte, in seiner Art im fünften nachatlantischen Zeitraum die Harmonien im Kosmos durch seine drei Keplerschen Gesetze zu erklären, indem er sagte: Ich bringe herbei die goldenen Gefäße der Ägypter und so wei­ter - das Bewußtsein auftaucht, daß wiederersteht im Menschen des fünften nachatlantischen Zeitraumes dasjenige, was Inhalt des dritten nachatlantischen Zeitraumes war. In gewissem Sinne schafft man also etwas Ähnliches, wie es sich vollziehen will in der Welt, wenn man den Esoterismus, die Kulte des ägyptisch-chaldäischen Zeitalters, her-übernimmt. Aber man kann das, was man da herübernimmt, dazu benützen, um jetzt nicht nur durch Suggestion der Bewußtseinsseele die Selbständigkeit zu nehmen, sondern um die eigentlich treibende Kraft der Bewußtseinsseele abzudämpfen, zu lähmen. Und das ist von dieser Seite aus vielfach gelungen: einzuschläfern die Bewußtseinsseele, die heraufkommen soll. Das ist von dieser Seite aus vielfach gelungen.

Rom - ich spreche jetzt bildlich - braucht den Weihrauch und schläfert

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die Leute halb ein, indem es ihnen Träume verursacht. Diejenige Bewegung, die ich jetzt meine, die schläfert die Leute, das heißt die Bewußtseinsseele, vollständig ein. Das sickerte auch in die Entwicke­lung der neueren Menschheit geschichtlich hinein. Und so haben Sie auf der einen Seite dasjenige, was sich bildet, indem tumultuarisch Brüderlichkeit, Freiheit, Gleichheit auftreten, indem auf der anderen Seite aber der Impuls da ist, der die Menschen im Laufe des fünften nachatlantischen Zeitalters verhindert, das klar einzusehen, wie Brü­derlichkeit, Freiheit und Gleichheit die Menschen ergreifen sollen. Denn das können sie nur klar einsehen, wenn sie die Bewußtseinsseele zur rechten Selbsterkenntnis verwenden können, wenn sie aufwachen in der Bewußtseinsseele. Wachen die Menschen auf in der Bewußtseins-seele, so fühlen sie sich zunächst im Leibe, in der Seele und im Geiste. Das aber soll gerade eingeschläfert werden. So daß wir diese zwei Strömungen in der neueren Geschichte drinnen haben: Auf der einen Seite will man, nun der Impuls nach der Bewußtseinsseele da ist, chaotisch Brüderlichkeit, Freiheit, Gleichheit. Auf der anderen Seite ist das Bestreben der verschiedensten Orden, auszulöschen das Auf­wachen in der Bewußtseinsseele, damit einzelne Individualitäten dieses Aufwachen in der Bewußtseinsseele für sich benützen können. Diese zwei Strömungen gehen ineinander im ganzen Verlauf des geschicht­lichen Lebens der Neuzeit.

Und nun bereitet sich etwas vor. Indem die neuere Zeit ins 18. Jahr­hundert hineinstürmt und in den Anfang des 19. Jahrhunderts, bis ungefähr in die Mitte des 19. Jahrhunderts, ist zunächst stark ein An­hub nach der Emanzipation der Persönlichkeit da, weil, wenn so viele Strömungen da sind, wie ich Ihnen charakterisiert habe, sich die Sache nicht sukzessiv bequem, sondern in Flut und Ebbe vollzieht. Und wir sehen auf nationalem Grunde und aus den anderen Impulsen heraus, die ich Ihnen für den Westen von Europa charakterisiert habe, wie sich entwickelt das, was hin will zu der Emanzipation der Persönlich­keit, was aus der Nationalität heraus und ins Allgemein-Menschliche hinein will. Nur kann es sich nicht ordentlich selbständig entwickeln, weil immer die Gegenströmung ist von jenen Orden, die, insbesondere in England, furchtbar das ganze öffentliche Leben infizieren, viel mehr

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als die äußere Welt irgend meint. Es kann sich nicht entwickeln. Und so sehen wir, wie so merkwürdige Persönlichkeiten auftreten wie Richard Cobden, wie John Lright, die auf der einen Seite wirklich erfaßt sind von dem Impuls nach der Emanzipation der Persönlichkeit, nach der Überwindung des Nationalen durch die Persönlichkeit über die ganze Erde hin, die so weit kamen, daß sie an etwas tippten, was politisch von größter Bedeutung sein könnte, wenn es sich einmal hin­einwagen würde in die neuere geschichtliche Entwickelung, aber diffe­renziert je nach den verschiedenen Gegenden, denn natürlich haben es die Leute nur für ihre Gegend charakterisiert: das Prinzip der Nicht-intervention in andere Angelegenheiten von seiten des Inselreiches als Grundprinzip eines Liberalismus. Es war etwas sehr Bedeutsames, aber es wurde, kaum entstanden, ganz abgestumpft durch das andere Be­streben, das aus dem Impuls des dritten nachatlantischen Zeitraumes heraus war. Und so sehen wir, wie bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts von Westen her dasjenige entsteht, was man gewöhnlich Liberalismus nennt, liberale Gesinnung - bald nennt man es freisinnig -, nun, so wie es einem gerade gefällt. Sie wissen aber, ich meine diejenige An­schauung, die sich am deutlichsten auf politischem Gebiete ausgeprägt hat im 18. Jahrhundert als politische Aufklärung, im 19. Jahrhundert als ein gewisses politisches Streben, das man das liberale politische Streben nannte, und das so allmählich versickerte und ausstarb im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.

Das, was gerade in den sechziger Jahren zum Beispiel überall noch als liberales Element auftrat, trat ja allmählich im wirklichen Leben ganz zurück. Dafür trat etwas anderes ein. Da nähern wir uns bedeut­samen Symptomen des neueren geschichtlichen Lebens. Was mußte nun geschehen? Nicht wahr, eine Zeitlang war der Stoß der Bewußtseins-seele so, daß der eine Flut nach oben getrieben hat: die liberalisierende Flut (s. Zeichng. S.50, rot). Aber was so ausschlägt nach der einen Seite, schlägt dann wiederum nach der anderen Seite aus (blau), so daß wir auch ein Ausschlagen nach der anderen Seite haben. Das wird der Gegenschlag des Liberalismus sein (Pfeil abwärts) . Stellen wir uns nur die Sache gut vor. Der Liberalismus entstand dadurch, daß sich die Menschen, die ihn vertraten, innerlich, ich möchte sagen, so recht faßten,

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so recht in die Hand nahmen und anstürmten gegen die Fangarme der Erde, wie ich es Ihnen charakterisiert habe. Sie machten sich los, ließen sich nicht kapern, wenn ich den trivialen Ausdruck gebrauchen darf, waren einfach von allgemeinen menschlichen Ideen erfaßt. Aber das andere war doch da, wirkte im Werden der neueren Zeit und brachte allmählich diese sehr dünn vertretenen sogenannten liberalen Ideen zu sich hinüber. Und schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren an dem politischen Himmel eigentlich die liberalen Ideen aus­sichtslos, denn diejenigen, die später noch liberale Ideen vertraten, machen doch eigentlich mehr oder weniger den Eindruck von Invaliden des politischen Denkens. Die liberalen Parteien der späteren Zeit waren so mehr die Nachhumpler nur, denn seit der Mitte des 19. Jahrhunderts machte sich immer mehr und mehr geltend die Frucht desjenigen, was aus jenen Orden und Geheimgesellschaften des Westens heraus kam:

die Einschläferung, Einlullung der Bewußtseinsseele als solcher. Dann wirkt das Seelische und Geistige gar nicht mehr, dann wirkt zunächst nur dasjenige, was in der äußeren sinnlich-physischen Welt da ist. Und das trat auf in der neueren Zeit seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als der seiner selbst bewußte Sozialismus in allen möglichen Formen.

Dieser Sozialismus, der da auftrat, kann nur geistig durchdrungen werden, mit Pseudogeist, mit der Maske des Geistes, mit der bloßen Verstandeskultur, die das Tote nur erfassen kann, nicht. Und mit einer solchen toten Wissenschaft hat zunächst Lasalle gerungen, aber Marx und Engels haben sie ausgebildet, diese tote Wissenschaft. Und so bil­dete sich im Sozialismus, der als Theorie sich bestrebte, praktisch zu werden und in der Praxis nichts Rechtes zusammenbrachte, weil er auf dem Standpunkt der Theorie immer stehenblieb, eines der bedeutendsten

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Symptome der neueren geschichtlichen Entwickelung der Mensch­heit heraus. Wir müssen schon einige charakteristische Dinge dieses Sozialismus vor unsere Seele hinstellen.

Es sind ja drei Überzeugungen oder Überzeugungsteile, besser ge­sagt, die den neuzeitlichen Sozialismus charakterisieren. Er fußt erstens auf der materialistischen Geschichtsauffassung, zweitens auf der An­schauung von dem Mehrwert im Wirtschaftlichen, im volkswirtschaft­lichen Zusammenhange, und drittens auf der Theorie der Klassen­kämpfe. Das ist im wesentlichen dasjenige, was Millionen von Men­schen heute als Überzeugung erfüllt über die Erde hin, was sich in diesen drei Dingen zusammenfassen läßt: Theorie der Klassenkämpfe, volkswirtschaftliche Anschauung von der Entstehung des Mehrwertes, materialistische Geschichtstheorie.

Versuchen wir uns ganz klar zu machen, damit wir die Symptome, die ich hier meine, gut verstehen als Unterbau für das, was wir eben morgen darauf bauen wollen, erstens: Was ist materialistische Geschichtsauffassung? - Materialistische Geschichtsauffassung meint:

Alles was geschieht im Laufe der Menschheitsentwickelung, geschieht nur aus äußeren, rein materiellen Impulsen. Die Menschen müssen essen, müssen trinken, die Menschen müssen das, was sie zu essen und zu trinken brauchen, von da- und dorther holen. Sie müssen also mit­einander handeln, sie müssen das erzeugen, was die Natur nicht selbst erzeugt. Aber das ist dasjenige, was überhaupt menschliche Entwicke­lung erzeugt. Wenn in irgendeinem Zeitalter, sagen wir, ein Lessing auftritt - ich will einen bekannten Namen wählen -, warum tritt Les­sing auf, wie er im 18. Jahrhundert aufgetreten ist? Nun, seit dem 16. Jahrhundert, aber insbesondere auch im 18. Jahrhundert ist durch die Einführung des mechanischen Webstuhls, der Spinnmaschine und so weiter eine starke Scheidung entstanden - sie war im Entstehen -, die sich da vorbereitet hat zwischen Bürgertum und dem nachrücken­den Proletariat. Das Proletariat war noch kaum da, aber es war gewissermaßen schon glimmend unter der Oberfläche des sozialen Da­seins. Aber gegenüber den früheren Ständen war im Verlauf des wirt­schaftlichen Lebens der Neuzeit der Bürgerstand erstarkt. Durch die Art und Weise, wie man als Bürger lebt, so daß man den Arbeiter

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unter sich hat, daß man nicht mehr recht anerkennt die früheren Stände, daß man es dazu gebracht hat, die Gütererzeugung, die Güter-verarbeitung, die Güterverteilung, so zu machen, wie es eben der Bür­ger macht, dadurch wird eine gewisse Denkweise allgemein, die nichts anderes ist also ein ideologischer Oberbau für die Art, wie das Bürger­tum Güter produziert, verarbeitet und verhandelt. Das bedingt, daß man in einer gewissen Weise denkt. Derjenige, der nicht ein Bürger ist, der noch ein Bauer ist, der von der Natur umgeben ist, mit der Natur zusammenlebt, der denkt anders. Aber es ist nur eine Ideologie, wie er denkt, denn das, worauf es ankommt, das ist die Art, wie er Güter erzeugt, verarbeitet und verhandelt. Der Bürger denkt dadurch, daß er in Städten zusammengepfropft ist, anders als der Bauer. Er löst sich los von der Scholle, sieht nicht die Natur, daher ist der Zu­sammenhang für ihn abstrakt. Er wird ein Aufgeklärter, der so im Allgemeinen, im Abstrakten von Gott denkt. Aber das ist alles die Folge davon, daß er Güter erzeugt. - Ich spreche die Sache etwas kraß aus, aber in einer gewissen Weise ist es so. - Dadurch, daß man in einer gewissen Weise sei dem 16. Jahrhundert Güter verarbeitet und verhandelt, hat sich ein Denken herausgebildet, das in einer beson­deren Art bei Lessing zum Vorschein kommt. Lessing ist der Reprä­sentant des auf seiner Höhe stehenden Bürgertums, hinter dem das Proletariat nachhinkt in seiner Entwickelung. - So ähnlich ist Herder, Goethe und so weiter zu erklären. All das ist ein Oberbau; wirklich ist für die elementare materialistische Auffassung nur dasjenige, was aus der Gütererzeugung, Güterverarbeitung, aus dem Güterverhan­deIn kommt.

Das ist materialistische Geschichtsauffassung. Will man das Christen­tum erklären, so hat man zu erklären, wie in der Zeit, als unsere Zeit­rechnung begonnen hat, die Handelsverhältnisse zwischen dem Orient und dem Okzident andere geworden sind, man hat zu erklären, wie die Ausbeutung der Sklaven, die Verhältnisse der Herren zu den Skla­ven sich verwandelt haben, und dann daraus zu erklären, wie sich übei all diesem wirtschaftlichen Spiel ein ideologischer Oberbau entwickelt:

das ist das Christentum. Weil die Menschen zu einer anderen Not­wendigkeit gekommen sind, das zu erzeugen, was sie essen und was

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sie zum Essen verhandeln sollen, als das früher der Fall war, deshalb haben sie anders gedacht. Und weil ein radikalster wirtschaftlicher Umschwung im Beginne unserer Zeitrechnung war, so trat auch jener radikale Umschwung im ideologischen Oberbau ein, der sich als Chri­stentum charakterisiert. - Das ist der erste Teil jener Überzeugungen, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durch Millionen und Mil­lionen Herzen Bahn gebrochen haben.

Diejenigen, die im Bourgeoistum geblieben sind, haben eigentlich keine Ahnung, wie tief, tief eingefressen in weitesten Kreisen diese Anschauung ist. Gewiß, die Professoren, die von den Ideen der Ge­schichte sprechen, die von allerlei historischen Schatten sprechen, die haben ein Publikum. Aber selbst unter den Professoren haben sich ein­zelne in der letzten Zeit zum Marxismus schon leise hingezogen gefühlt. Aber unter den breiten Menschenmassen haben sie kein Publikum. Das ist aber im Zeitalter der Bewußtseinsseele, und der Impuls der Bewußt­seinsseele wirkt fort. Die Leute wachen auf, sofern man sie aufwachen läßt. Man versucht, von der einen Seite sie einzuschläfern; von der anderen Seite verlangen sie aber, ich möchte sagen, mitten im Schlafe, wieder aufzuwachen. Da sie nichts anderes haben als die Hinlenkung des Sinnes auf die rein materielle Welt, bilden sie sich die materialisti­sche Geschichtswissenschaft aus. Und so entstanden jene eigentümlichen

Symptome: Einer der edelsten, liberalsten Geister, Schiller, wurde lange gefeiert, wurde äußerlich ungemein bewundert. 1859 wurden zur Jubelfeier seiner Geburt überall Denkmäler errichtet. In meiner Ju­gend lebte in Wien ein Mann, Heinrich Deinhardt hieß er, der bemühte sich, in einer sehr schönen Schrift die Menschen einzuführen in wirk­liche Ideengänge Schillers, in seine Ideengänge, die er niedergelegt hat in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen. Die ganze Auflage dieses Werkes ist eingestampft worden! Der Verfasser, dieser Heinrich Deinhardt, hatte einmal das Malheur, daß er berührt wurde, glaube ich, von einem vorüberfahrenden Wagen - kurz, er fiel um auf der Straße, brach sich das Bein, und konnte nicht kuriert werden - ob­wohl es ein leichter Beinbruch war -, weil er so unterernährt war, daß man ihn nicht gesundmachen konnte. Er konnte das nicht überstehen. Das ist nur ein Symptom für die Art und Weise, wie das 19. Jahrhundert

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jene behandelt hat, die nun wirklich Schiller haben verständlich machen wollen, die die großen Ideen Schillers haben einführen wollen in das allgemeine Zeitbewußtsein. Gewiß werden Sie sagen, oder werden andere sagen: Gibt es denn nicht schöne Bestrebungen auf allen Gebie­ten? - Die gibt es schon, wir werden auch davon noch im Laufe der Zeit sprechen, aber sie führen alle zum großen Teile in Sackgassen hinein.

Das ist das eine Glied der sozialistischen Überzeugung. Das zweite ist die Theorie des Mehrwertes. Man kann sie kurz etwa in folgendem charakterisieren, daß man sagt: Die neuere Produktionsweise hat es dahin gebracht, daß derjenige, welcher verwendet werden muß, um Güter zu erzeugen, um Güter zu verarbeiten, seine eigene Lebenskraft zur Arbeitskraft machen muß, die dann ebenso eine Marktware wird wie andere Marktwaren. Denn es entstehen zwei Klassen von Men­schen: die Unternehmer und die Arbeiter. Die Unternehmer sind die Kapitalisten, und die haben daher die Produktionsmittel. Sie haben die Fabrik, sie haben die Werkzeuge, sie haben alles, was zu den Pro­duktionsmitteln gehört. Das ist die eine Sorte von Menschen, die Ar­beitgeber; sie haben die Produktionsmittel. Dann sind die Arbeiter da; die haben keine Produktionsmittel, sondern nur das einzige auf den Markt zu bringen: ihre Arbeitskraft. Dadurch, daß dieser Gegensatz besteht zwischen dem Unternehmer und dem Arbeiter, daß dem Un­ternehmer, welcher der Besitzer der Produktionsmittel ist, der besitz­lose Arbeiter gegenübersteht, der nur seine Arbeitskraft auf den Markt bringen kann, dadurch ist es möglich, die Entschädigungen für die Ware Arbeit - Ware Arbeit! - auf ein Minimum herabzudrücken, und alles übrige fließt dem Besitzer der Produktionsmittel, das heißt dem Unternehmer, als Mehrwert zu. Dadurch verteilt sich dasjenige, was produziert wird für den Markt und für die Menschheit, also für den Konsum, im ganzen so, daß der Arbeiter nur Entschädigungen be­kommt, ein Minimum; das andere fließt als Mehrwert dem Unter­nehmertum zu. - Das ist Marxistische Theorie. Und das ist die Über­zeugung wiederum von Millionen Menschen. - Und dies ist lediglich durch die ganz bestimmte wirtschaftliche Struktur herbeigeführt, welche das soziale Leben der neueren Zeit angenommen hat. Das führt zuletzt dazu, daß es Ausbeuter und Ausgebeutete gibt.

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Es sind im wesentlichen diese Kategorien, mit denen, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend, erst in kleinen Zirkeln, dann in Sek­ten, nun aber unter Millionen und Millionen Menschen, die Herzen gewonnen werden für die Anschauung einer rein wirtschaftlichen Struktur im sozialen Zusammenleben. Denn man kann sehr leicht zu der Überzeugung sich aufschwingen, wenn man diese Anschauungen, die ich Ihnen nur skizziere, weiterentwickelt, daß man sagt: Also ist der Besitz der Produktionsmittel durch den einzelnen der Verderb der sich entwickelnden Menschheit. Produktionsmittel müssen Gemeingut werden. Alle, die arbeiten, müssen die Produktionsmittel zusammen verwalten können. - Expropriation der Produktionsmittel ist das Ideal des Arbeiterstandes geworden.

Dies ist sehr wichtig, daß man erstens nicht bei den eingerosteten, eben keine Wirklichkeit treffenden Vorstellungen stehenbleibt, welche viele Menschen noch haben, die dem Bürgertum angehörig geblieben sind und sich so durchgeschlafen haben über die neuzeitliche Entwicke­lung. Denn, nicht wahr, sehr viele so im Bourgeoistum eingerostete Menschen, die sich so durchgeschlafen haben durch das, was eigentlich geschehen ist in den letzten Jahrzehnten, haben heute noch die Vor­stellung: Ja, es gibt Sozialdemokraten und Kommunisten, die wollen teilen, die wollen, daß alles gemeinschaftlich wird und so weiter. -Diese Leute müßten eigentlich nun erstaunt sein, wenn sie hören, daß eine sorgfältig ausgebaute, scharfsinnige Anschauung, wie es werden soll und werden muß, unter Millionen und Millionen von Menschen ist: die Theorie vom Mehrwert, der nur dadurch überwunden werden kann, daß die Produktionsmittel Allgemeingut werden. Jeder, der heute sozialistischer Agitator ist, oder auch nur einer, der nachläuft dem sozialistischen Agitator, lacht natürlich den Angehörigen der Bour­geoisie aus, der ihm redet von Kommunismus und was alles die Sozial­demokraten wollen, denn der versteht, daß es sich um die Sozialisie­rung, das heißt um die gemeinsame Verwaltung der Produktionsmittel handelt. Denn den Verderb sieht der heutige Arbeiter in dem Besitz der Produktionsmittel durch einzelne menschliche Individuen, weil derjenige, der keine Produktionsmittel hat, ausgeliefert ist dem, der die Produktionsmittel hat.

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So ist im wesentlichen der soziale Kampf der neueren Zeit ein Kampf um die Produktionsmittel, und Kampf muß sein, denn das ist die dritte Überzeugung der Sozialdemokratie, daß sich alles, was sich entwickelt hat, durch den Kampf entwickelt. Die Bourgeoisie ist heraufgekom­men, indem sie den Adelsstand überwunden hat. Das Proletariat wird heraufkommen und wird sich die Verwaltung über die Produktions­mittel erringen, indem es mit der Bourgeoisie es so macht, wie es die Bourgeoisie mit dem alten Adelsstande gemacht hat. Alles ist Kampf der Klassen. In der Überwindung der einen Klasse durch die andere liegt der Fortschritt der Menschheit.

Diese dreifache Anschauung: erstens, daß dasjenige, was die Mensch­heit vorwärts bringt von Epoche zu Epoche, nur materielle Impulse sind, alles andere nur ideologischer Oberbau ist, zweitens, daß der eigentliche Verderb der Mehrwert ist, der nur überwunden werden kann durch die gemeinsame Verwaltung der Produktionsmittel, und drittens, daß eine Möglichkeit, die Produktionsmittel gemeinschaftlich zu machen, nur die ist, die Bourgeoisie ebenso zu überwinden, wie die Bourgeoisie den alten Adel überwunden hat - das ist es, was sich all­mählich als die sogenannte sozialistische Bewegung über die zivilisierte Welt verbreitet hat. Und man hatte dann als ein bedeutsames geschicht­liches Symptom der allerjüngsten Jahre auch dieses, daß sowohl die Mitglieder des gebliebenen Adels wie auch die Mitglieder der geblie­benen Bourgeoisie sich auf ihre Ruhebetten legten, höchstens Schlag­worte aufnahmen wie vom Teilen und vom Kommunismus, nun, diejenigen Schlagworte, über die manchmal ganz hinten in den Ge­schichtsbüchern so lange Anmerkungen stehen. Aber sehr selten steht überhaupt etwas drinnen darüber! Das also wurde verschlafen, was wirklich geschah. Und das entwickelte sich dann dahin, daß, außer­ordentlich schwierig, aber unter dem Zwang der Verhältnisse, unter dem Einflusse dieser letzten vier Jahre, einige Leute angefangen haben, auf manches hinzuschauen. Es ist gar nicht auszudenken, wie unbeküm­mert die Leute weitergeschlafen hätten, wenn die letzten vier Jahre nicht eingetreten wären, wie unbekümmert darum, daß mit jedem Jahre neue Tausende und Tausende gewonnen wurden für diese sozia­listischen Anschauungen, die ich Ihnen eben charakterisiert habe, und

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daß endlich die Leute auf dem Vulkan tanzen. Aber es ist unbequem, sich zu gestehen, daß man auf einem Vulkan tanzt, und die Leute ver­meiden es, sich klar zu machen, daß sie auf einem Vulkan tanzen. Aber der Vulkan vermeidet es nicht, auszubrechen und diejenigen, die auf ihm tanzen, zu verschütten.

Damit habe ich Ihnen wieder ein Symptom der neueren Geschichte charakterisiert. Denn sie gehört zu den Symptomen der neueren Ge­schichte, diese sozialistische Überzeugung. Sie ist eine Tatsache, sie ist nicht bloß irgendeine Theorie. Sie wirkt. Ich lege keinen Wert auf das Feste der Lassalleschen oder der Marxistischen Theorie, aber natürlich einen großen Wert auf das Vorhandensein von Millionen von Men­schen, die zu ihrem Ideal erkoren haben, das zu tun, was sie doch er­kennen können aus den drei Punkten, die ich angeführt habe. Das aber ist etwas, was radikal entgegengesetzt ist dem Nationalen, das ich Ihnen als eine gewisse Grundlage beim Ausgang der neueren Geschichte gezeigt habe. Da hat sich aus dem Nationalen allerlei herausentwickelt Nun, was das Proletariat anstrebt, so wurde ja schon, als 1848 Karl Marx zunächst das Programm dieses Proletariats veröffentlichte, das im wesentlichen die Punkte enthielt, die ich jetzt angeführt habe, es wurde da geschlossen mit dem Ruf: «Proletarier aller Länder, vereinigt euch! » Und fast keine Versammlung über die ganze Erde hin unter diesen Leuten wurde geschlossen, ohne daß sie geschlossen wurde mit einem Hoch auf die internationale revolutionäre Sozialdemokratie, auf die republikanische Sozialdemokratie. Das war ein internationales Prinzip. Und so tritt neben die römische Internationale mit ihrer Uni­versalidee die Internationale des Sozialismus. Das ist eine Tatsache, denn diese so und so vielen Menschen sind eine Tatsache. Es ist wichtig, daß man das ins Auge faßt.

Um morgen wenigstens vorläufig diese Symptomatologie der neueren Zeit zu krönen, müssen wir schon scharf den Weg ins Auge fassen, der uns gestatten wird, die Symptome zu verfolgen, bis sie uns einiger­maßen zeigen: da können wir durchbrechen und in die Wirklichkeit hineinschauen. Zu all diesem schufen andere Menschen daneben ge­radezu unlösbare Probleme - Sie müssen empfinden, wie die Dinge verlaufen, wie die Dinge sich zuspitzen - unlösbare Probleme. Wir

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sehen, wie sich im 19. Jahrhundert verhältnismäßig ruhig die liberali­sierende parlamentarische Richtung in England entwickelt; tumul­tuarisch, besser gesagt, unmotiviert in Frankreich. Je weiter wir nach Osten gehen, desto mehr müssen wir sagen: Das Nationale wird hin­übergetragen, hinübergeleitet, so wie ich das gestern schon erwähnt habe. Aber dabei entstehen unlösbare historische Probleme. Und das ist auch ein solches Symptom. Freilich, diejenigen Menschen, die nicht nachdenken, die halten alles für lösbar, die glauben, man kann alles lösen.

Ein solches unlösbares Problem - ich meine jetzt nicht für den ab­strakten Verstand, da ist es selbstverständlich lösbar, aber ich meine Wirklichkeiten - wird geschaffen 1870/71 zwischen West-, Mittel- und Osteuropa. Das ist das sogenannte Elsässische Problem. Selbstverständ­lich, die gescheiten Menschen, die können es lösen. Entweder erobert der eine Staat oder der andere, besiegt den andern, dann hat er die Sache gelöst, nicht wahr. Das hat man ja mit Bezug auf das Elsaß von der einen oder von der anderen Seite lange versucht. Oder wenn man das nicht will, stimmt man ab unter der Bevölkerung. Das geht sehr leicht, die Majorität entscheidet. Nicht wahr, auf diese Weise geht es, so sagen die gescheiten Menschen. Aber diejenigen, die in der Wirk­lichkeit stehen, die nicht bloß einen einzelnen Zeitpunkt sehen, sondern die da sehen, wie die Zeit überhaupt ein realer Faktor ist, und wie man nicht, was im Laufe der Zeit sich entwickeln muß, in einem kurzen Zeitraum zur Entwickelung kommen lassen kann - kurz, die Men­schen, die in der Wirklichkeit stehen, die wußten schon, daß dies ein unlösbares Problem ist. Man lese nur, was die Menschen, die hineinzu-schauen versuchten in den Gang der europäischen Entwickelung, über dieses Problem in den siebziger Jahren dachten und schrieben und sag­ten. Vor ihren Augen, vor ihren Seelenaugen stand, wie durch das, was da geschah, der Zukunft Europas sonderbare Vorbedingungen geschaf­fen wurden, wie der Drang entstehen wird im Westen, den ganzen Osten aufzurufen. Dazumal gab es schon Leute, welche wußten: Das slawische Problem wird in die Welt gesetzt dadurch, daß man im Westen die Sache anders wird lösen wollen als in Mitteleuropa. - Ich will nur hindeuten darauf, wie die Sache ist. Ich will hindeuten darauf,

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daß es ein solches handgreifliches Symptom ist, wie ich Ihnen gestern den Dreißigjährigen Krieg vorgeführt habe, um Ihnen zu zeigen, daß man in der Geschichte nicht das Folgende als eine Wirkung des Vorher­gehenden zeigen kann. Gerade der Dreißigjährige Krieg zeigt: Das, womit es angefangen hat, was vor dem Ausbruch des Krieges war, das ist genauso wie nach dessen Ende; aber mit dem, was dann entstanden ist, hat es nicht angefangen. Von Ursache und Wirkung ist nicht die Rede. Sie sehen da etwas Charakteristisches an diesem Symptom, eben­so an dem Elsässischen Problem. Für viele Fragen der neueren Zeit könnte ich Ihnen das gleiche zeigen. Die Dinge werden aufgeworfen, führen aber nicht zu einer Lösbarkeit, sondern zu einer Unlösbarkeit, zu immer neuen Konflikten, führen in Sackgassen des Lebens. Das ist wichtig, daß man das ins Auge faßt. Sie führen so in Sackgassen des Lebens, daß man nicht einerlei Meinung sein kann in der Welt, daß der eine eine andere Meinung haben muß als der andere, einfach wenn er an einem anderen Orte von Europa steht. Und wiederum gehört das zu charakteristischen Seiten neuzeitlicher Geschichtssymptome, daß die Menschen es dazu bringen, sich Tatsachen zu schaffen, die unlösbare Probleme sind.

Jetzt haben wir schon eine ganze Reihe von charakteristischen Din­gen der neuzeitlichen Menschheitsentwickelung: das Unproduktive, das Heraufdämmern insbesondere solcher Gemeinschaftsideen, die kein Produktives beanspruchen, wie die des nationalen Impulses und so wei­ter. Dazwischen doch das fortwährende Anstürmen der Bewußtseins­seele. Und jetzt das Charakteristische des Hineingehens in Sackgassen, überall das Hineingehen in Sackgassen. Denn ein großer Teil dessen, was heute verhandelt wird, was heute die Menschen unternehmen, ist ein Sich-Bewegen in Sackgassen. Und ein weiteres Charakteristisches: die Bestrebung, sich abzudämpfen das Bewußtsein für dasjenige, was gerade als Bewußtsein entwickelt werden soll. Denn es gibt nichts Cha­rakteristischeres als das Abdämpfen des Bewußtseins bei der heutigen sogenannten gebildeten Schichte der Bevölkerung über die wahren Zu­stände in dem sogenannten Proletariat. Alles schläft nämlich gegenüber den wahren Zuständen im Proletariat. Man sieht höchstens das Äußer­liche. Die Hausfrauen schimpfen über die Dienstmädchen, daß sie nicht

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mehr dies und das tun wollen, haben keine Neigung, sich darum zu bekümmern, daß heute nun nicht bloß die Fabrikarbeiter, sondern auch schon die Dienstmädchen von marxistischer Theorie erfüllt sind. Man redet allmählich von allem möglichen Allgemein-Menschlichen. Das ist aber eine reine Rhetorik, wenn man sich nicht wirklich für den einzelnen Menschen interessiert und um den einzelnen Menschen küm­mert. Dann muß man aber wissen, was Wichtiges vorgeht in der Menschheitsentwickelung, dann muß man sich wirklich einlassen auf die Dinge.

Wahrhaftig nicht, um irgendeine soziale Theorie vorzutragen, son­dern um Ihnen Symptome der neueren Geschichtsentwickelung darzu­stellen, habe ich neuerlich auch dieses eine Symptom des Sozialismus vor Ihre Seele hinstellen müssen. Wir wollen morgen dann mit unseren Betrachtungen weiterfahren, um das zu krönen und an einzelnen Stel­len, ich möchte sagen, zur Wirklichkeit durchzubrechen.

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DRITTER VORTRAG Dornach, 20. Oktober 1918

Wir haben einige der symptomatischen Kräfte kennengelernt, welche in der Entwickelung der neuzeitlichen Geschichte spielen. Selbstverständlich nur einige; es würde sehr, sehr weit führen, wenn man alle Kräfte - denn das sind selbstverständlich unendlich viele, sobald man in Einzelheiten geht - besprechen wollte. Aber auch nur die wichtig­sten, wenn man sie besprechen wollte, würde zu weit führen. Es scheint ein Wunsch vorhanden zu sein, daß noch besonders berücksichtigt wer­den sollten spezielle Impulse symptomatischer Art. Das kann ein näch­stes Mal geschehen, so daß ich an einem der Tage der nächsten Woche gerne sprechen will über solche Symptome, die sich insbesondere auf die Schweiz beziehen. Da wollen wir also einmal versuchen, ein Ta­bleau Schweizer Geschichte vor unsere Seele zu stellen, um dies auch zu haben.

Heute aber wollen wir versuchen, wenigstens ein Stück weiterzu-kommen von den Ausgangspunkten aus, auf die wir unsere Betrach­tung erstreckt haben. Ich habe Ihnen gestern zuletzt ein Bild, wenn auch ein sehr dürftiges, davon gegeben, wie eines der bedeutsamsten Symptome neuerer Geschichtsentwickelung, der Sozialismus, sich hineinstellt in die Entwickelung der neueren Zeit. Nun hat für viele Men­schen, welche bestrebt sind, wirkliche Motive der Entwickelung kennen­zulernen, diese soziale, sagen wir besser, sozialistische Bewegung alles überstrahlt, und sie sind nicht recht dazugekommen, etwas anderes daneben gelten zu lassen. So daß auf den ganz bedeutenden Einfluß von etwas, was sich mehr den Blicken entzieht, die Aufmerksamkeit der neueren Zeit nicht intensiv genug gelenkt worden ist. Auch da, wo man wirklich suchte nach neueren Motiven. Es ist nicht die Aufmerk­samkeit verwendet worden auf etwas, was geistiger Art ist. Nicht wahr, diejenigen Persönlichkeiten, welche im Sinne des gestern Besprochenen die neuere Entwickelung mehr verschliefen - namentlich im Laufe des 19. Jahrhunderts und als dieses zu Ende ging, und im 20. Jahrhundert ja erst recht -, die Persönlichkeiten, die den Kreisen angehörten, welche

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sich wenig bekümmerten um die in der Zeitentwickelung liegenden Impulse, die kommen ja von vornherein wenig in Betracht, wenn man frägt: Was ist den Menschen vor Augen getreten an symptomatischen Impulsen der neueren Entwickelung? - Die Historiker haben, insofern sie den alten Ständen angehörten, sich darauf beschränkt, weiter die Genealogie der Herrscherhäuser, die Geschichte der Kriege, höchstens noch einiges, was sich rund um diese Dinge heranreihen läßt, zu ver­zeichnen. Man hat wohl auch Kulturgeschichte geschrieben, aber diese Kulturgeschichten, ich möchte sagen, von Buckle bis Ratzel, sie halten sich ziemlich ferne von den wirklich treibenden Kräften. Neben all dem war allerdings im Proletariat außerordentlich viel neueres Bil­dungsstreben nach derjenigen Richtung hin, die ich gestern charakteri­siert habe, ein sich immer weiter und weiter ausbreitendes Bildungs-streben, welches die drei Fragen stellte, von denen ich gestern gespro­chen habe. Aber innerhalb dieses Proletariats war kein Wille, in die feineren Zusammenhänge des geschichtlichen Werdens hineinzublicken. Und so ist denn bis jetzt gar nicht stark genug hervorgetreten die geschichtliche, die historische Bedeutung der naturwissenschaftlichen Denkweise als geschichtliches Symptom.

Man kann natürlich über die naturwissenschaftliche Denkweise in ihrem Inhalte, man kann über sie mit Bezug auf die Umgestaltung des modernen Denkens sprechen. Aber es ist wichtig, daß man auch noch von dem Gesichtspunkte aus spricht, inwiefern diese naturwissen­schaftliche Denkweise ein geschichtliches Symptom geworden ist wie die anderen, die ich aufgezählt habe, wie der nationale Impuls, wie das Auftürmen von unlösbaren politischen Problemen und so weiter. Denn in der Tat hat sich seit dem Beginne des Bewußtseinszeitalters die naturwissenschaftliche Denkweise in weitesten Kreisen immer mehr und mehr herausgebildet. Und es ist eben falsch, wenn man glaubt, daß nur diejenigen naturwissenschaftlich denken, welche etwas von Naturwissenschaft wissen. Das ist ganz falsch. Das Umgekehrte ist richtig. Die Leute, die Naturwissenschafter sind, denken so naturwis­senschaftlich, wie man heute naturwissenschaftlich denkt, weil die große Masse der zivilisierten Menschheit heute nach dieser Richtung hinneigt, weil man so denkt auch im alleralltäglichsten Handeln, weil so der

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Bauer denkt, wenn er draußen arbeitet, der Arbeiter in der Fabrik, wenn er seine Arbeit verrichtet, der Finanzmann, wenn er seine Finanz-unternehmungen macht. Da überall drinnen ist naturwissenschaftliches Denken, und deshalb hat auch die Naturwissenschaft selbst nach und nach dieses naturwissenschaftliche Denken angenommen. Also man muß eine Sache, die in der Einbildung der Menschen nach dieser Rich­tung auf dem Kopf gestanden ist, wiederum auf die Beine stellen. Man muß nicht hinsehen auf die Denkweise der Naturwissenschafter oder gar der monistischen Phantasten, sondern man muß heute hinsehen auf die Denkweise des großen Publikums. Denn die Naturwissenschaft bildet keinen hinreichenden Impuls zur Opposition gegen den römisch­katholischen Universalimpuls, aber das allgemeine, nach der Natur hin, nach der Naturordnung hin geordnete Denken der zivilisierten Menschheit, das bildet den Oppositionsimpuls. Und diesen Impuls muß man als Symptom in Zusammenhang betrachten mit der ganzen übrigen Entwickelung des neuzeitlichen Menschen.

Sehen Sie, die Schulgeschichte, die beginnt von ihrem Gesichtspunkte aus, der hauptsächlich ein gedankenloser ist, gewöhnlich die Neuzeit mit der Entdeckung Amerikas, mit der Erfindung des Schießpulvers, mit der Erfindung der Buchdruckerkunst und ähnlichen Dingen. Wer aber sich darauf einläßt, den Gang der neueren Geschichte zu betrach­ten, der kommt diesen Symptomen gegenüber - Entdeckung Amerikas, Erfindung der Buchdruckerkunst und so weiter - darauf, daß sie eigent­lich zwar die Menschen hinausführen in die weite Welt auf die Ent­deckungsreisen, daß sie das alte Wissen, welches die Menschheit gehabt hat, ungeheuer populär machen und verbreiten, daß sie aber im Griinde genommen das inhaltliche Bild der europäischen Zivilisation in den nächsten Jahrhunderten nach ihrem Auftreten gar nicht gleich beson­ders ändern. Man kommt darauf, daß die alten politischen Impulse, welche in den verschiedenen Ländern auch sich regeneriert haben, aber welche doch die alten politischen Impulse in dem Sinne geblieben sind, wie ich das gestern und vorgestern ausgeführt habe, gar nicht in der Lage waren, irgend etwas Erhebliches zum Beispiel mit den Entdek­kungsfahrten zu machen. Sie haben höchstens die Möglichkeit gehabt, in diesen Ländern, die entdeckt worden sind, Eroberungen zu machen,

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so wie man früher in anderen Gegenden Eroberungen gemacht hat, sie haben die Möglichkeit gehabt, das Gold von dort herzuholen und da­durch einige Bereicherung zu erzielen. Sie haben die Möglichkeit gehabt, auf dem Gebiete der Buchdruckerkunst nach und nach immer mehr und mehr die Zensurverhältnisse anzuspannen. Aber irgend etwas, was man nennen kann einen durchgreifenden Impuls, haben die alten poli­tischen Kräfte nicht herausziehen können aus dem, womit man gewöhn­lich die neuere Geschichte beginnen läßt. Erst aus der Verbindung der naturwissenschaftlichen Denkweise - als diese naturwissenschaftliche Denkweise zu einigen Ergebnissen geführt hatte - mit dem, was als Erfindungen und Entdeckungen da aufgetreten ist, ohne daß die neuere Naturwissenschaft schon drinnen war, ist das gekommen, was nach dieser Richtung hin ein wirklich bedeutsamer, wichtiger Impuls der neueren Zeit ist. Man kann sich nämlich nicht denken, daß die Koloni­sationsbestrebungen, insoferne sie von den verschiedensten Ländern in der neueren Zeit ausgegangen sind, ohne die modernen naturwissen­schaftlichen Errungenschaften sich vollzogen hätten; und nur was Na­turwissenschaft in Technik umgesetzt schaffen konnte, das führte zu den modernen Kolonisationsbestrebungen. Nur naturwissenschaftliche Ergebnisse konnten die Erde so erobern, wie sie erobert werden mußte im Verlauf der modernen Kolonisationsbestrebungen. Und daher sehen wir diese Kolonisationsbestrebungen im Grunde genommen erst im 18. Jahrhundert richtig einsetzen, als die Naturwissenschaft anfing, sich umzusetzen in technische Ergebnisse.

Damit beginnt aber auch das Maschinenzeitalter. Das Maschinen-Zeitalter beginnt, als die Naturwissenschaft sich umsetzt in technische Ergebnisse. Und damit beginnt ein neues Zeitalter des Kolonisierens, das allmählich seine Kräfte über die ganze Erde ausspannt. Damit be­ginnt ein außerordentlich wichtiger Impuls der neuzeitlichen Entwicke­lung in der Bewußtseinsseele. Denn derjenige, der die Verhältnisse, die hier in Betracht kommen, durchschaut, der weiß, daß gerade jene Im­pulse, die im Kolonisieren liegen, in dem Kolonisieren, das die ganze Erde umspannt, daß jene Bewegungen und Bestrebungen gerade dem Zeitalter der Bewußtseinsseele angehören. Und dieses Zeitalter der Bewußtseinsseele, von dem Sie ja wissen, daß es im vierten Jahrtausend

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sein Ende finden und in das Zeitalter des Geistselbstes eingehen wird, wird über die ganze Erde hin eine andere Konfiguration der Mensch­heit bringen. Diese Konfiguration wird hervorgehen aus den Kolonisa­tionsbestrebungen. Nicht wahr, das Bewußtseinsseelenzeitalter hat ge-funden sogenannte zivilisierte, höchst zivilisierte und ganz wilde Men­schen - so wild, daß sich in ihre Wildheit der Rousseau verliebt hat und eine ganze Theorie von dem Ideal des wilden Menschen aufgestellt hat. Diese ganze Differenzierung der Menschen wird aufhören im Verlaufe des Zeitalters der Bewußtseinsseele. Wie sie aufhören wird, auf die Einzelheiten, darauf können wir natürlich heute nicht eingehen. Aber es gehört zu den Impulsen der Bewußtseinsseele, diese Differenzierung, die althergebracht ist, im wesentlichen aufzuheben.

Dann, wenn man das weiß, stellen sich in die neuzeitlichen Bestre­bungen solche Kriege wie der zwischen den Nord- und Südstaaten Ame­rikas und so weiter erst in den rechten Zusammenhang hinein, und dann erst, wenn man die Dinge so ansieht, wenn man die Wichtigkeit der Kolonisationsbestrebungen für den Bewußtseinszeitraum ins Auge faßt, gewinnt man einen Einblick in die ganze Bedeutung von einzelnen Sym­ptomen, die auf diesem Gebiete auftreten. Und diese Bestrebungen, die sind undenkbar, ohne daß die Menschheit naturwissenschaftlich denkt.

Nun, naturwissenschaftlich denken, da liegt gerade dasjenige, was man so recht ins Auge fassen muß, wenn man gewissermaßen vom Gesichtspunkte des fünften nachatlantischen Zeitraums, des Bewußt­seinsseelenzeitalters, einbrechen will in die wahre Wirklichkeit der menschlichen Entwickelung. Diese neuere naturwissenschaftliche Denk­weise hat das Eigentümliche - ich habe es jetzt hinlänglich hier charak­terisiert -, daß sie nur das Tote, das Gespenstische fassen kann von der Wirklichkeit, daß sie überall auf das Tote geht. Seien wir uns ganz klar über diese wichtige Tatsache. Die neuere naturwissenschaftliche Denkweise strebt von der Beobachtung zum Experiment. Auf allen Gebieten wird von der Beobachtung zum Experiment gestrebt. Es ist ein wichtiger Unterschied zwischen der Naturbeobachtung und jener Erkenntnis, die durch das Experiment erwiesen wird. Die Natur-beobachtung war, so oder so nuanciert, allen Zeiten eigen. Aber wenn der Mensch die Natur beobachtet, da ist er mit der Natur verbunden,

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da lebt er sich in die Natur ein, er lebt das Leben der Natur mit. Da tritt das Eigentümliche ein, daß ihn sein Zusammenleben mit der Na­tur in einer gewissen Weise betäubt. Man kann nicht mit der Natur leben und zu gleicher Zeit im neueren Sinne der Bewußtseinsseele er­kennen. Man kann nicht beides, geradesowenig, wie man zugleich wachen und schlafen kann. Will man mit der Natur zusammenleben, so muß man sich von der Natur in einem gewissen Sinne betäuben lassen. Daher kann auch die Naturbeobachtung nicht eindringen in die Geheimnisse der Natur, denn indem der Mensch die Natur beobachtet, wird er ein bißchen eingeschläfert, wird er betäubt. Dadurch fällt aus seiner Erkenntnis das Geheimnis der Natur heraus. Er muß aufwachen auf dem Gebiete des Übersinnlichen, wenn er in die Geheimnisse der Natur eindringen will.

Aber wenn man betäubt ist, kann man nicht zur Bewußtseinsseele kommen. Daher strebt die neuere Naturbetrachtung ganz instinktiv danach, die Beobachtung allmählich zu überwinden und durch das Ex­periment alles zu gewinnen. Man sucht ja auch auf dem Gebiete der Biologie, auf dem Gebiete der Anthropologie zu experimentieren. Aber wenn man experimentiert, ist die Hauptsache dabei, daß man das Ex­periment zusammenstellt, daß man die Ordnung bestimmt, in welcher man beobachtet. Wie die Dinge selbst angeordnet sind, wenn man zum Beispiel Embryologie experimentell treibt, das ist nicht durch die Natur bestimmt, sondern das ist durch den menschlichen Intellekt, durch den menschlichen Verstand bestimmt, das ist durch das bestimmt, von dem ich Ihnen gesagt habe, daß es sich von der Natur entfernt, um gerade in dem Menschen innerlich zu sein. Wir ertöten die Natur, um sie er­kennen zu lernen im Experiment. Aber nur das, was wir durch das Experiment gewinnen, können wir technisch anwenden. Naturerkennt­nis wird erst reif zur technischen Anwendung, wenn sie auf dem Um­wege durch das Experiment sich reif dazu macht. Was vorher Einfüh­rung der Naturerkenntnis ist in das soziale Leben, ist noch nicht Technik. Es wäre sogar barbarisch, von Technik zu sprechen, wenn man es nicht zu tun hat mit der reinen Umsetzung eines Experimentes in die soziale Ordnung oder in diejenigen Dinge, die im Dienste der sozialen Ordnung stehen.

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Dann aber schafft die moderne Menschheit in die soziale Ordnung hinein Ergebnisse der Experimentierkunde als Technik: Totes. Und das ist das Wesentliche: Totes schaffen wir hinein in die Kolonisations-bestrebungen, Totes schaffen wir hinein, wenn wir für die Industrie unsere Maschinen bauen. Aber nicht nur dann, sondern wenn wir un­sere Arbeiter in einer gewissen sozialen Ordnung zu diesen Maschinen hinzubringen. Totes schaffen wir hinein in unsere neuere geschichtliche Ordnung, indem wir unsere Finanzwirtschaft über kleinere oder grö­ßere Territorien ausbilden. Totes schaffen wir hinein, wenn wir eine soziale Ordnung überhaupt nach dem Muster der modernen Natur­wissenschaft aufbauen wollen, wie es instinktiv die moderne Mensch­heit getan hat. Totes schaffen wir überall hinein in das menschliche Zusammenleben, wenn wir Naturwissenschaft hineinschaffen in dieses menschliche Zusammenleben, Totes, sich selbst Ertötendes.

Das ist eines der wichtigsten Symptome. Wir können sehr aufrich­tige und ehrliche Deklamationen anstellen - ich meine jetzt nicht bloß rhetorische Deklamationen, sondern eben ehrlich gemeinte Dekla­mationen - über die großen Errungenschaften der neueren Zeit, über all dasjenige, was Naturwissenschaft ausgebildet hat, was sie der Tech­nik einverleibt und dann dem sozialen Leben einverleibt hat. Aber wir sagen nur eine halbe Wahrheit, wenn wir von diesen Errungen­schaften sprechen, denn alle diese Errungenschaften haben das Wesent­liche in sich, daß sie ein unbedingt Totes, das durch sich selber nicht entwickelungsfähig ist, in das moderne Leben hineinstellen. Das Größte, was seit Jahrhunderten, seit dem 15. Jahrhundert hineingestellt wor­den ist in die Entwickelung der modernen zivilisierten Menschheit, ist ein solches, das, wenn es sich selbst überlassen wird, sich selber zum Tode führt. Und das mußte sein. Denn man kann die Frage aufwerfen:

Wenn moderne Technik Keim des Todes nur ist, wie sie es auch ist und sein muß, warum trat diese moderne Technik in Erscheinung? -Wahrhaftig nicht trat die moderne Technik in Erscheinung im Laufe der Zeit, weil den Menschen das Schauspiel der Maschine und der Industrie gegeben werden sollte, sondern die moderne Technik trat in Erschei­nung aus einem ganz anderen Grunde. Sie trat in Erscheinung gerade wegen ihres zum Tode führenden Charakters, weil nur dann, wenn

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der Mensch hineingestellt ist in eine tote, mechanische Kultur, er durch den Gegenschlag die Bewußtseinsseele entwickeln kann. Solange der Mensch hineingestellt war in ein Zusammenleben mit der Natur, ohne daß die Maschinen hineingestellt waren, solange wurde er geneigt ge­macht zu einer gewissen suggestiven Behandlung, weil er bis zu einem gewissen Grade betäubt wurde. Man konnte nicht ganz auf sich selbst sich stellen, als man noch nicht in den Tod hineingestellt war. Auf sich selbst gestelltes Bewußtsein und Todbringendes ist innig miteinander verwandt. Das habe ich in den verschiedensten Formen schon versucht, den Menschen klarzumachen. Ich habe versucht, den Menschen klar-zumachen: Wenn sie vorstellen und erkennen, so ist das nicht gebunden an die sprießenden, sprossenden Kräfte des Menschen, sondern gerade an den Abbau des Organismus. Ich habe versucht, den Menschen klar-zumachen, daß es Rückbildung des Organismus ist, daß es die Abbau-und Sterbeprozesse sind, die uns befähigen, im selbstbewußten Sinne zu denken. Könnten wir nicht Gehirnhunger entwickeln, das heißt Abbauprozesse, Zersetzungsprozesse, Zerstörungsprozesse in uns, wir könnten keine gescheiten Menschen sein, sondern könnten nur hintau­melnde Menschen sein, schlafende, träumende Menschen. Gescheite Menschen sind wir durch die Abbauprozesse in unserem Gehirn. Und das Zeitalter der Bewußtseinsseele mußte dem Menschen die Gelegen­heit geben, den Abbau in seiner Umgebung zu haben. Nicht dadurch wurde das moderne, selbstbewußte Denken groß, daß blühende Lebens-prozesse hereingestellt wurden, sondern dadurch wurde gerade das Innerste im Menschen, das selbstbewußte Denken groß, daß Todes-prozesse in der modernen Technik, in der modernen Industrie, im modernen finanziellen Zusammenhang in dieses Leben hereingestellt wurden. Denn das forderte dieses Leben in der Bewußtseinsseele.

Das zeigt sich auch auf anderen Gebieten. Nehmen Sie die Impulse selbst, die wir ins Auge gefaßt haben. Fangen wir einmal an bei Eng­land, wo wir gesehen haben, wie der Parlamentarismus sich bildet durch die Jahrhunderte als eine gewisse Nuance, wie die auf sich selbst gestellte Persönlichkeit sich realisieren will. Nicht wahr, die Persön­lichkeit will sich emanzipieren, sie will sich auf sich selbst stellen. Das heißt aber, indem sie zu gleicher Zeit soziale Persönlichkeit sein will,

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will sie sich geltend machen als Persönlichkeit. Der Parlamentarismus ist nur ein Weg, sich geltend zu machen als Persönlichkeit. Aber indem derjenige, der teilnimmt am Parlamentarismus, sich geltend macht, ver­nichtet er seine Persönlichkeit in dem Augenblicke, wo aus seinem Wollen die Abstimmung wird. Die Persönlichkeit hört auf in dem Augenblicke, wo aus dem Wollen die Abstimmung wird. Und richtig studiert bedeutet das Heranreifen des Parlamentarismus in der eng­lischen Geschichte in den Jahrhunderten, seit dem Bürgerkriege im 15. Jahrhundert, nichts anderes als dieses. Wir erblicken beim Aus­gangspunkt dieses parlamentarischen Lebens, dieses nach dem Parla­mentarismus hintendierenden Lebens Stände, verschiedenste Stände. Diese Stände wollen sich nicht als Stände bloß geltend machen, son­dern als Votum; sie wollen reden, indem sie sich geltend machen als Stände. Nun, reden konnten sie. Aber die Leute sind nicht zufrieden mit dem Reden und Sich-Verständigen, sondern sie wollen dann ab­stimmen. Indem man abstimmt, indem man die Rede ausfließen läßt in die Abstimmung, ertötet man dasjenige, was in der Seele lebt, auch noch so lange man redet. Und so redet sich jede Parlamentarisierung hinein in das absolute Menschheitsnivellement. Sie geht hervor aus der Geltendmachung der Persönlichkeit und endet mit der Auslöschung der Persönlichkeit. Es gibt keine andere Möglichkeit auf diesem Gebiete, als daß die Tendenz hervorsprießt aus der Geltendmachung der Per­sönlichkeit und endet mit der Auslöschung der Persönlichkeit. Es ist ein vollständiger Kreislaufprozeß, wie das Menschenleben selbst. Es beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tode. Nur ist beim Men­schen das auf zwei Zeitpunkte verteilt; im historischen Leben greift das eine unmittelbar in das andere ein, ist Geburt und Tod mitein­ander vermischt. Das ist es, was man ins Auge fassen muß.

Fassen Sie ja das, was ich gesagt habe, nicht etwa auf wie eine Kritik des Parlamentarismus. Denn wenn Sie es auffassen würden wie eine Kritik des Parlamentarismus, dann würden Sie mir insinuieren, daß ich sagte: Der Mensch wird geboren - das ist ein Unsinn, denn er stirbt wieder, also, da er wieder stirbt, so sollte er nicht geboren werden. Man sollte der Welt diese Torheit nicht zumuten, daß sie den Men­schen geboren werden läßt, wenn sie den Menschen wieder sterben

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läßt. - Ich bitte, insinuieren Sie mir nicht, daß ich sage: Der Parlamen­tarismus ist ein Unsinn, weil die Persönlichkeit ihn gebiert und ihn, aus deren Impuls er hervorgeht, selbst wieder vernichtet. - Ich stelle den Parlamentarismus ja nur aus der Rhetorik ins unmittelbare Leben hinein. Ich stelle ihn hinein in dasjenige, was allem Leben eigen ist: in Geburt und Tod, und zeige ihn daher gerade als etwas der Wirklich­keit Angehöriges, zeige Ihnen damit aber auch das Charakteristikon aller äußeren Erscheinungen solcher Art im Zeitalter der Bewußtseins-seele, denn sie alle stehen in diesem Zeichen von Geburt und Tod, das ich eben jetzt angeführt habe.

Nun, unendlich oft ist es ausgesprochen worden in kleinen Kreisen der okkulten Logen der englischsprechenden Welt, wenn man unter sich war: Klären wir die Welt ja nicht auf über das Geheimnis von Geburt und Tod! Denn wenn wir sie aufklären über das Geheimnis von Geburt und Tod, klären wir sie über das jetzige Zeitalter auf. Wir überliefern ihnen ein Wissen, das wir nicht aus der Hand geben wollen. - Daher wurde es als erste Regel geltend gemacht, ja nicht zu sprechen im äußeren Leben über das Geheimnis von Geburt und Tod, daß das in allem, und zwar zunächst in den historischen Erscheinun­gen, drinnensteckt. Denn dadurch wird dem modernen Leben der tra­gische Stempel aufgedrückt und dieses moderne Leben nach und nach zu etwas gezwungen, zu dem es sich gar nicht leicht zwingen lassen will. Es wird dieses moderne Leben gezwungen, von dem Ergebnis der Arbeit die Blicke hinwegzulenken und zur Arbeit selbst hinzu-schauen. Man muß Freude haben am Arbeiten, indem man sich sagt:

Was man in diesem Zeitalter an Außerem erarbeiten kann, das er­arbeitet man für den Tod und nicht für das Geborenwerden. - Und will man nicht für den Tod arbeiten, so kann man nicht im modernen Sinne arbeiten, denn man muß im mödernen Zeitalter maschinenmäßig arbeiten. Und wer das nicht will, will einfach zurückführen in frühere Zeitalter.

Sie können dann die französische Geschichte studieren, wie versucht wird, die Emanzipation der Persönlichkeit nach innen zu treiben. Es führt zu jener furchtbaren Aufhebung der Persönlichkeit, die die Schlußepisode der Revolution und das Aufkommen des Napoleonismus

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zeigt. Und betrachten Sie die Sache gar in Italien. Woraus schöpfte das neuere Italien jene impulsive Kraft, mit der dort das nationale Element bis zum sogenannten «sacro egoismo», bis zum heiligen Egois­mus sich geltend machte, woraus schöpfte dieses neue Italien diese Kraft? Die Dinge, die den Erscheinungen der Welt zugrunde liegen, muß man oft in Tiefen suchen. Gehen Sie zurück bis zu jenem wich­tigen Zeitpunkt, der vor dem Aufkommen des Bewußtseinszeitalters liegt: Diese Kraft ist in allen ihren Seiten geschöpft aus dem, was das römische Papsttum dem italienischen Wesen eingepflanzt hat. Dieses römische Papsttum hat sich für Italien gerade dadurch in seiner Bedeu­tung gezeigt, daß es sein Wesen in die italienische Seele hineingeträu­felt hat; und daraus ist entsprungen, wie es oftmals dem Zauberlehrling so geht, dasjenige, was nicht gewollt worden ist: die Abkehr von dem Papsttum selber mit aller Intensität im modernen Italien. Da sehen Sie am besten zusammenstoßen dasjenige, was angestrebt wird und was sich zu gleicher Zeit selber aufhebt. Nicht die Gedanken, wohl aber die Empfindungskräfte und die Begeisterungskräfte, auch diejenigen, die in Garibaldi gesteckt haben, sie sind die Reste der alten katholischen Begeisterung; aber indem sie sich umgekehrt haben, haben sie sich gegen den Katholizismus gewendet.

Die Menschen werden ihr eigenes heutiges Zeitalter nur verstehen, wenn sie diese Dinge im rechten Zusammenhange fassen. Ich habe Ihnen gesagt: In Europa tragen sich jene verschiedenen symptomati­schen Ereignisse zu, die ich vor Ihre Seele hingestellt habe. Wie im Hintergrunde ist im Osten das russische Gebilde, zusammengeschweißt aus den Resten byzantinisch-religiöser Struktur, aus normannisch­slawischem Blutimpuls, aus dem Asiatismus, wie er sich in der verschie­densten Weise über den Osten von Europa ergossen hat. Das alles aber ist unproduktiv, diese Dreiheit ist ja nichts, was aus der russischen Seele selbst hervorgeht. Diese Dreiheit ist auch dasjenige, was nicht bezeich­nend ist für das, was in der russischen Seele lebt. - Welches ist der größte, der allergrößte denkbare Gegensatz zu der Emanzipation der Persönlichkeit? Das byzantinische Element. Es gibt eine große Persön­lichkeit in der neueren Zeit, die unterschätzt wird, es ist Pobjedonoszew, der ein bedeutender Mensch war, aber ein Mensch, welcher ganz das

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byzantinische Element in sich trug. Er war ein Mensch, der das Gegen­teil von dem nur wollen konnte, was das Zeitalter des Bewußtseins will und auf naturgemäße Weise aus dem Menschen hervorbringt. Man könnte sich denken, daß selbst noch intensiver das byzantinische Ele­ment in der russischen Orthodoxie sich weiter ausgebreitet hätte, daß dieser Tod alles Individuell-Persönlichen noch viel intensiver gewirt­schaftet hätte, es würde doch nichts anderes hervorgegangen sein als der stärkste Drang nach Emanzipation der Persönlichkeit. Sie können die neuere russische Geschichte durchlesen: Wenn Sie nicht das in dieser neueren russischen Geschichte lesen, was sich abspielt so, daß dessen Verzeichnung immer verboten worden ist, dann haben Sie nicht das­jenige, was eigentlich russische Geschichte ist, das heißt das wirk­lich bewegende Element. Wenn Sie aber dasjenige in der russischen Geschichte lesen, was die herrschenden Mächte bisher erlaubt haben als Geschichte zu verzeichnen, dann haben Sie alles dasjenige, was als tod­bringendes Element über das russische Leben sich ausbreitet. Da tritt es am allercharakteristischesten hervor, weil im russischen Leben am meisten Zukunft liegt. Weil geradezu die Keime zur Entwickelung des Geistselbstes im russischen Leben liegen, deshalb ist dasjenige, was äußerlich aufgetreten ist im Zeitalter der Bewußtseinsseele bis jetzt, lauter Todbringendes, lauter Verwesungsduftendes, aber etwas, was da sein mußte, gerade weil dasjenige, was sich herausbilden will als Geistleben, den Untergrund des Todes braucht.

Das muß man einsehen für die Entwickelung des Zeitalters der Be­wußtseinsseele, sonst wird man niemals eindringen in die wirklichen Bedürfnisse der Gegenwart. Man wird auch kein Bild sich machen können von dem, was so zerstörerisch heraufgezogen ist uber die Menschheit, wenn man nicht wissen wird, daß in diesen vier letzten Jahren sich nur wie in einem großen Resumé zusammenfaßt dasjenige, was verbreitet war über das menschliche Leben als Tod seit dem Be­ginne des Bewußtseinszeitalters.

Es ist charakteristisch, daß gerade die Todnatur der naturwissen­schaftlichen Denkungsweise in einer merkwürdigen Weise gewirkt hat für eine der prophetischesten Persönlichkeiten der neueren Zeit. Ganz denkwürdig wird das folgende kleine symptomatische Ereignis immer

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dastehen in der neueren Geschichtsentwickelung: 1830, in Weimar, kommt So ret zu Goethe. Goethe empfängt ihn mit einer gewissen Auf­regung, ich meine Aufregung in der Façon des Benehmens, nicht etwa in leidenschaftlicher Aufregung. Er sagt: Nun ist sie endlich herein­gebrochen, die Bewegung, alles steht in Flammen! - Und einige andere Sätze sagte Goethe noch, so daß Soret glaubte, Goethe rede von der 1830 in Paris ausgebrochenen Revolution und antwortete auch in die­sem Sinne. Aber Goethe redete gar nicht von dieser Revolution. Er sagte: Ach, das meine ich gar nicht, das ist für mich nicht so besonders wichtig. Dagegen wichtig ist, was in der Akademie in Paris verhandelt wird zwischen Cuvier und Geoffroy de Saint-Hilaire. - Da ist Cuvier, der Vertreter der alten Naturanschauung, derjenigen Naturanschau­ung, die nur die Lebewesen nebeneinanderstellt, eben derjenigen Natur-anschauung, die vor allem in die Technik hineingeht, müssen wir sagen, und Geoffroy de Saint-Hilaire, derjenige, der Leben hineinbringt in diesen ganzen Verlauf des Lebens selbst. In Geoffroy de Saint-Hilaire sah Goethe den Anführer eines naturwissenschaftlichen Denkens der neueren Zeit, das nicht mehr in dem Sinne der bloßen Kopernikus, Kepler, Galilei naturwissenschaftlich sein will. Der Vertreter dieses Zeitalters ist Cuvier; dagegen ist Geoffroy de Saint-Hilaire der Ver­treter desjenigen naturwissenschaftlichen Anschauens, das die Beweg­lichkeit des Lebens selbst hineinträgt in die Naturanschauung. Darum sah Goethe den Aufgang eines ganz neuen Zeitalters, indem sich Geoffroy de Saint-Hilaire in seinen Gedanken ein naturwissenschaft­liches Denken zurechtlegte, welches übergehen muß, wenn es sich wirk­lich entwickelt, in übersinnliche Aufklärung über die Natur, welches gar nicht anders kann, als endlich in übersinnliche Erkenntnisse, in hellseherische Erkenntnisse überzugehen. Darin sah Goethe die Revo­lution von 1830, nicht in dem, was politisch in Paris vorgeht. Darin bewies Goethe sich als einer der intensivsten prophetischen Geister seiner Zeit. Er bewies, daß er fühlte und empfand, um was es sich in dieser neueren Zeit handelt.

Man muß in dieser neueren Zeit Mut haben, wirklich hineinzu­schauen in die Verhältnisse. Diesen Mut brauchten alte Zeitalter noch nicht. In die Verhältnisse des Geschehens muß man den Mut haben

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hineinzuschauen, denn es wird wichtig, daß die Bewußtseinsseele ent­wickelt werden kann. Ja, in früheren Zeitaltern war die Entwickelung dieser Bewußtseinsseele noch nicht wichtig. Dadurch, daß die Bewußt­seinsseele gerade das Bedeutungsvolle in diesem Zeitalter wird, da­durch muß alles im Wachen vor sich gehen, was der Mensch für das soziale Leben entwickelt; dadurch kann er nicht die alten Instinkte in das soziale Leben hereintragen. Und er kann nicht allein herein-tragen in das soziale Leben das, was Ergebnis der Naturwissenschaft ist, denn das ist das Tote und kann das Leben nicht beleben, kann das Leben nur mit toten Produkten durchsetzen und in solche zerstörenden Dinge hineinführen, wie sie die letzten vier Jahre gebracht haben. Denn in diesem Zeitalter wird folgendes wichtig.

Nicht wahr, die Menschen müssen auch schlafen. Wenn sie wachen, haben sie ihren gewöhnlichen freien Willen - nun, den können sie zu noch allerlei, das ihnen auf ahrimanisch-luziferischem Wege zukommt, verwenden, um Richtkräfte zu entwickeln. Aber wenn sie einschlafen, dann hört dieser freie, sogenannte freie Wille auf; dann denken die Menschen, ohne daß sie es wissen. Aber es ist nicht minder wirksam. Dann denken die Menschen durchaus auch. Man hört nicht auf zu den­ken, indem man einschläft; man denkt, bis man aufwacht. Man vergißt dies nur in dem Moment, wo man aufwacht. Daher weiß man nicht, welche Gewalt diejenigen Gedanken haben, die in die menschliche Seele hineinspielen vom Einschlafen bis zum Aufwachen. Aber beden­ken wir, daß für das Zeitalter der Bewußtseinsseele die Götter ver­lassen haben die menschliche Seele während des Schlafens. In früheren Zeitaltern haben die Götter vom Einschlafen bis zum Aufwachen hin-eingeträufelt in die Seele das, was sie wollten. Der Mensch wäre nicht frei geworden, wenn sie es weiter hineinträufelten. Dadurch aber ist der Mensch zugänglich allen möglichen anderen Einflüssen vom Ein­schlafen bis zum Aufwachen. Ja, wir können zur Not wachen und zur Not leben, aber wir können nicht schlafen und sterben mit der Natur­wissenschaft und mit dem, was aus der Naturwissenschaft folgt. Denn naturwissenschaftlich denken kann man nur vom Aufwachen bis zum Einschlafen. In dem Augenblicke, wo Sie einschlafen, wo Sie im Schlafe sind, hat das naturwissenschaftliche Denken ungefähr so viel Sinn, wie

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wenn Sie in einem Lande, wo kein Mensch Französisch versteht, über­all Französisch sprechen würden. Da hat nur die Sprache Bedeutung, die man durch die übersinnliche Erkenntnis sich aneignet, die aus dem Übersinnlichen kommt. Die übersinnliche Erkenntnis muß an die Stelle desjenigen treten, was die Götter früher in die Instinkte hineinver­pflanzt haben. Das ist der Sinn des Bewußtseinszeitalters, daß der Mensch aufsteigen muß zu übersinnlichen Impulsen und durchdringen muß zur Erkenntnis. Wenn man glaubt, alles das, was das Zeitalter hervorgebracht hat und noch hervorbringt ohne übersinnliche Impulse, sei etwas Lebendiges und nicht etwas Todbringendes, gibt man sich der gleichen Illusion hin, wie wenn man glauben würde, ein Weib der modernen Zeit könnte gebären ohne zu empfangen. Ein Weib der modernen Zeit bleibt unfruchtbar und stirbt ohne Nachkommenschaft, wenn sie nicht empfängt. Die moderne Kultur, wie sie sich im Zeit­alter der Naturwissenschaft seit dem Beginne des 15. Jahrhunderts ent­wickelt hat gerade in den größten modernen Errungenschaften, bleibt steril und unfruchtbar, wenn sie nicht befruchtet wird von jetzt ab durch Impulse aus der übersinnlichen Welt. Tod muß werden alles dasjenige, was nicht befruchtet wird von der übersinnlichen Welt. Führen Sie ein in diesem Zeitalter der Bewußtseinsseele Demokratie, Parlamentarismus, Technik, modernes Finanzwesen, modernes Indu­striewesen, führen Sie ein das nationale Prinzip über die ganze Welt, führen Sie ein all diejenigen Gesichtspunkte, die die Menschen jetzt zugrunde legen dem, was sie Neuordnung der Welt nennen und mit dem sie reden wie Trunkene, die nicht wissen, wovon sie reden - Sie fördern dann den Tod, wenn Sie nicht all das befruchten wollen durch die Impulse der übersinnlichen Welt. Dann allein hat dasjenige, was wir schaffen müssen, das Todbringende auf allen Gebieten, einen Wert, wenn wir es zu befruchten wissen durch die Errungenschaften des Über­sinnlichen. Es bringt nur Tod über die Menschheit, wenn wir es nicht zu befruchten wissen durch die Impulse des Übersinnlichen.

Fassen wir das nur im vollen Ernste auf, erheben wir uns, gerade aus einer symptomatologischen Geschichtsbetrachtung der neueren Zeit, zu dem Gedanken: Da stellen sich herein in die menschliche Entwicke­lung seit dem 15. Jahrhundert diejenigen Dinge, welche die Menschheit

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verzeichnet als die größte Errungenschaft: die moderne Naturwissen­schaft, die moderne Soziologie, das moderne technische Leben, das mo­derne industrielle Leben, das moderne finanzielle Leben. Die stellen sich herein. Sie sind todbringend, wenn sie nicht befruchtet werden durch Übersinnliches. Sie sind allein befähigt, die Menschheit weiter-zubringen dahin, wohin sie gehen muß, wenn sie befruchtet werden durch Impulse des Übersinnlichen. Dann sind sie gut. Sie sind nicht an sich gut. Nichts ist an sich gut von dem, was die moderne Mensch­heit heute in einem gewissen Übermut und Hochmut als ihre größten Errungenschaften hinstellt. Erst dann wird es gut, wenn es durch­geistigt wird.

Das ist nicht eine Lehre, welche in willkürlicher Weise vor Sie hin-gestellt wird, das ist eine Lehre, die dann, wenn man die moderne Geschichtsentwickelung symptomatologisch betrachtet, sich aus dieser modernen Geschichtsentwickelung selber ergibt. Und die Zeit ist da, wo wir das Bewußtsein entwickeln müssen. Aber wir müssen auch wissen, was wir diesem Bewußtsein zumuten dürfen. In dem Augen­blicke, wo wir auch nur innerlich unbewußt Dogmatiker sein wollen, können wir das Bewußtsein nicht mehr entwickeln. Daher muß ich immer wiederum, wie ich es erst vor kurzem vor Ihre Seele hingestellt habe, erinnern an solche Dinge wie das Folgende: Ich habe einmal in einer Stadt Vorträge gehalten über Bibel und Weisheit. Da waren auch zwei katholische Geistliche drinnen - die meisten von Ihnen wis­sen das kleine Faktum schon -, die kamen, da ich nichts Sonderliches gesagt habe, was anfechtbar war für einen katholischen Geistlichen, und da es nicht gerade Jesuiten waren, die sorgfältig alles studieren und die Aufgabe haben, in alles ihre Nase hineinzustecken, sondern katholi­sche Durchschnittspfarrer, die kamen heran: Ja, wir haben das Purga­torium. Sie sprechen auch von einer solchen Prüfungszeit nach dem Tode. Wir haben das Paradies. Sie sprechen von dem Geist-Erleben, und man kann eigentlich gegen die Sache inhaltlich nicht viel haben. -Sie würden schon genügend dagegen haben, wenn sie weiter eingedrun­gen wären, aber in einem Vortrage fanden sie das natürlich nicht! -Dann sagten sie weiter: Wissen Sie, der Unterschied ist der: Wie Sie reden, so reden Sie nur zu einer gewissen Schicht der Bevölkerung,

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welche die Vorbedingungen sich dazu geschaffen hat, eine gewisse Bil­dung sich angeeignet hat, gewisse Vorstellungen sich angeeignet hat, und wir sprechen zu allen Menschen. Daher finden wir eben die Worte für alle Menschen, und das ist daher das Richtige, für alle Menschen zu sprechen. - Darauf sagte ich zu ihnen: «Hochwürden» - selbstver­ständlich, einen katholischen Geistlichen spricht man mit Hochwürden an, ich bin immer für Beibehaltung der äußeren Titulatur - «Hoch­würden, sehen Sie, darauf kommt es nicht an, was Sie jetzt sagen. Ich will gar nicht daran zweifeln, daß Sie glauben, Sie sprechen für alle Menschen, daß Sie meinen, Ihr Reden so einrichten zu können, als ob Sie für alle Menschen sprechen. Aber das ist eine subjektive Mei­nung, nicht wahr, sie ist dasjenige, was man in der Regel hat, um über­haupt sein Reden vor sich selber zu rechtfertigen. Aber es kommt nicht darauf an, ob wir diesen Glauben haben oder nicht haben, daß wir für alle Menschen sprechen, sondern auf die Tatsachen, auf die Wirk­lichkeit kommt es an. Und da frage ich Sie jetzt nicht theoretisch-logisch: Welches sind die Gründe, warum ich nicht für alle Leute reden sollte, während Sie für alle Leute reden - da würden wir natürlich unendlich viel finden, was für Sie sprechen würde. Aber ich frage Sie nach den Tatsachen: Gehen alle Leute heute noch zu Ihnen in die Kirche herein, für die Sie glauben, zu ihnen sprechen zu können? -Sehen Sie, das ist die Tatsache.» Da konnten sie natürlich nicht sagen, daß alle Leute heute noch zu ihnen in die Kirche gehen! «Sehen Sie», sagte ich ihnen, «und ich rechne mit den Tatsachen, ich rede für die­jenigen, die heraus bleiben, die aber auch ein Recht haben, zu dem Christus geführt zu werden. Für die rede ich. Ich sehe, daß da Men­schen sind, die die Sache so und so hören wollen. Das ist eine Tatsache, und auf die Tatsache kommt es an, auf die subjektiven Meinungen kommt es gar nicht an.»

Das ist vor allen Dingen gesund, daß man lernt, von der Wirklich­keit sich die Ansicht zu bilden, nicht aus seinem Subjektiven heraus, denn nichts ist gefährlicher, als gerade im Zeitalter der Bewußtseins-seele sich Subjektivitäten hinzugeben, mit Vorliebe hinzugeben. Damit wir die Bewußtseinsseele entwickeln, dürfen wir nicht im Unbewußten Dogmatiker werden, sondern wir müssen alles das, was wir zu Triebfedern

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unseres Handelns und Denkens machen, uns von der Tatsachen­welt diktieren lassen. Darauf kommt es gerade an. Und darin besteht ein wesentlicher Kampf in der neueren Zeit unter der Oberfläche des geschichtlichen Werdens, ein wesentlicher Kampf zwischen dem An­nehmen dessen, was man für richtig hält, und dem Diktat der Tat­sachen. Und bei der Geschichtsbetrachtung wird das ganz besonders wichtig. Denn man wird niemals die Geschichte richtig betrachten, wenn man sie nicht zu gleicher Zeit als die große wirkliche Lehrmeiste­rin kennenlernt. Dann darf man aber nicht die Tatsachen, so wie man sie will, hineintragen in die Geschichte, sondern dann muß man wirk­lich die Geschichte sprechen lassen können. In den letzten vier Jahren wurde über die ganze Welt hin gerade mit Bezug auf dieses Sprechen-lassen der Geschichte unendlich viel verlernt. Es spricht sozusagen kaum leicht noch die Tatsache irgendwie, sondern dasjenige, was man für die Tatsache hält. Nun, es wird noch lange so sein, daß man nicht lernen wird, die Tatsachen sprechen zu lassen, aber ebenso lange wird man auch noch nicht bei derjenigen Kraft angelangt sein, die die Menschheit wirklich hinausführt zu einem unbefangenen Auffassen der Wirklichkeit. Und auf ein unbefangenes Auffassen der Wirklichkeit und auf das Erringen einer unbefangenen Stellung zur Wirklichkeit kommt es auf allen Gebieten des Lebens gerade im Zeitalter der Be­wußtseinsseele an.

Was wird erfordert - wenn ich das noch anfügen darf -,wenn wir so aus den Symptomen der Geschichte allmählich vordringen wollen -wir werden in den nächsten Vorträgen weiter davon sprechen - zur Wirklichkeit? Es wird erfordert, daß man gerade in diesem Zeitalter auf das hinschauen kann, was von der übersinnlichen Welt her dem Menschen wieder Produktivität gibt. Denn das Ersterben der Produk­tivität haben wir als das Charakteristischeste in allen Erscheinungen hereinkommen sehen. Der Mensch muß seine Sinne der übersinnlichen Welt eröffnen, damit in sein Ich hereingeht dasjenige, was sein Geist-selbst vorbereitet, sonst würde er sich die Wege zum Geistselbst voll­ständig abschneiden. Das bedeutet, daß der Mensch Bekanntschaft machen muß mit dem reinen Geistigen, mit dem, was gewissermaßen nur in das Zentrum seines Seelischen hinein kann. Wird er einmal geneigt

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sein, in dieses Zentrum seines Seelischen durch eine vernünftige symptomatologische Geschichtsbetrachtung hineinzuschauen, dann wird er auch geneigt werden, dasjenige, was jetzt nicht Mittelpunkt, son­dern Peripherie ist, unbefangener zu betrachten.

Der Mensch hat schon einmal diesen Gegensatz: Seelisches Zentrum und äußere Peripherie. Indem er immer mehr seelisch-geistig in sich selbst eindringt, kommt er zum Zentrum. In diesem Zentrum muß er aufnehmen diejenigen Impulse, die ich Ihnen als historische charakteri­siert habe. Da wird er nach Geistigerem und immer Geistigerem stre­ben, wenn er die geschichtliche Wirklichkeit kennenlernen will. Dafür wird er aber auch einen Sinn bekommen, an der Peripherie nach dem entgegengesetzten Pol zu streben. Er wird einen Sinn bekommen für dasjenige, was nach der Peripherie dringt, sein Leibliches. Muß die Ge­schichte den Weg finden, den ich vorgezeichnet habe durch die Sym­ptomatologie nach dem Inneren zu, so muß die Medizin zum Beispiel und die Hygiene und das Sanitätswesen den Weg finden zur Sympto­matologie nach außen. Geradesowenig, wie die neuere Geschichte an die Wirklichkeiten dringt, so wenig dringt die neuere Medizin, das neuere Sanitätswesen, die neuere Hygiene zu den Symptomen nach außen durch. Und ich habe es immer wieder betont: Der einzelne kann dem einzelnen nicht helfen, und wenn er noch so gründlich die Dinge durchschaute, weil es sich darum handelt, daß heute gerade diese Dinge in den Händen derjenigen sind, die nach der falschen Richtung hin ziehen. Es muß wirklich in die Verantwortung derjenigen gegeben werden, die nach der richtigen Richtung hin ziehen. Gewiß, die äuße­ren Tatsachen sind ebenso wahr, wie wahr ist, nun ja, daß schließlich Jakob I. so oder so ausgesehen hat, wie ich Ihnen das charakterisiert habe; so sind natürlich auch die äußeren Tatsachen wahr, daß die oder jene Bazillenart etwas zu tun hat, sagen wir, mit der Grippe, die jetzt so verbreitet ist. Aber wenn es wahr ist, daß zum Beispiel für die Ver­breitung einer gewissen epidemischen Krankheit die Ratten Krank­heitsträger sind - ich will jetzt nur den Gedanken nehmen -, so kann man doch nicht sagen, daß von den Ratten diese Krankheit kommt, sondern man hat sich immer vorgestellt, daß die Ratten diese Krank­heit verbreiten. An sich haben natürlich die Bazillen mit alledem, was

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die Krankheit ist, in Wirklichkeit nichts zu tun. Dasjenige, um was es sich bei solchen Dingen handelt, das ist, daß geradeso, wie wir es hinter den Symptomen der Geschichte mit geistig-seelischen Ereignissen zu tun haben, so haben wir es hinter den Symptomen der äußeren Körper­lichkeit mit kosmologischen Ereignissen zu tun bei einer solchen Er­scheinung. Bei anderen natürlich ist wieder anderes der Fall, nicht wahr. Was besonders wichtig ist in einem solchen Falle, ist der rhyth­mische Gang der kosmischen Ereignisse. Der muß studiert werden. Es muß gefragt werden: In welcher kosmischen Konstellation lebten wir, als in den achtziger Jahren die heutige Grippe in der milderen Form der Influenza auftrat? In welcher Konstellation kosmischer Natur leben wir jetzt? Wie vollzieht sich der kosmische Rhythmus, da die damalige Influenza in der etwas härteren Form der Grippe auftritt? -So wie Rhythmus gesucht werden muß hinter der historischen Sym­ptomenreihe, so muß ein gewisser Rhythmus gesucht werden hinter dem Auftreten gewisser epidemischer Krankheiten.

Es gibt Gegenden der Erde, Sie brauchen nur einen Papierfetzen an­zuzünden und von der Erde kommen alle möglichen Dämpfe herauf; es sind die Solfatare-Gegenden in Italien. Das beweist Ihnen, daß Sie etwas über der Erde vollziehen können, und die Erde sendet Ihnen im Zusammenhang der Naturwirkungen diese Dinge herauf. Ja, halten Sie es für unmöglich, daß an der Sonne etwas geschieht - da doch die Sonnenstrahlen jeden Tag zur Erde fallen -, was eine Bedeutung hat für dasjenige, was aus der Erde aufsteigt und mit dem Leben des Men­schen im Zusammenhange steht, und daß das wiederum sich verschie­den konfiguriert, je nach den verschiedenen Gegenden der Erde? Glau­ben Sie denn, daß man wirklich über diese Dinge etwas erkennen wird, bevor man sich herbeiläßt, durch eine geistig-seelische Erkenntnis zu einer richtigen Kosmologie überzugehen? Gewiß, man hat es als eine Narrheit aufgefaßt - in dieser Weise ist es eine Narrheit -, daß die Leute gesagt haben: Mit den Sonnenfieckenperioden hängt die Neigung der Menschen zu Kriegen zusammen. - Aber es gibt einen Punkt, wo selbst das nicht mehr eine reine Narrheit ist, wo das Auftreten gewisser pathologischer Impulse im Temperamentenleben selbst zusammenhängt mit solchen kosmologischen Erscheinungen wie den rhythmisch auftretenden

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Sonnenfleckenperioden. Und wenn dann diese kleine Gesell­schaft, diese winzigen Herrschaften - Bazillen, Ratten -, dasjenige, was einen kosmologischen Zusammenhang hat, wirklich von einem Men­schen zum anderen tragen, dann ist das nur etwas Sekundäres, das leicht bewiesen werden kann, das selbstverständlich dadurch ein großes Publikum findet; aber die Hauptsache ist es nicht. Und vor allen Din­gen, hinter die Hauptsache kommt man nicht, wenn man nicht den Willen hat, wirklich auch die Peripheriesymptome zu studieren.

Daher glaube ich nicht, daß die Menschen vernünftigere Anschau­ungen über die Geschichte bekommen werden, wenn sie nicht geschicht­liche Symptomatologie mit dem Hintergrunde der übersinnlichen Er­kenntnis, wie es so notwendig ist für die moderne Menschheit, treiben, sondern ich muß sagen: Die Menschen werden auch dadurch erst auf dem Gebiete des Sanitätswesens, der Hygiene, der Medizin zu etwas kommen, wenn sie auf diesem Gebiete nunmehr eine kosmologische, nicht eine historische, aber eine kosmologische Symptomatologie trei­ben. Denn dasjenige, was auf der Erde als Krankheiten lebt, das wird uns vom Himmel heruntergeschickt. - Nur muß man natürlich dann nicht in dem Vorurteil leben, in dem die moderne Menschheit lebt. Diese moderne Menschheit hat es sich sehr bequem gemacht: Ein Gott lebt überall. - Nun ja, dann ist sie nur nicht in der Lage, diese moderne Menschheit, indem sie den Gott in der Geschichte anerkennt, auch alle möglichen retardierenden und schädlichen Vorgänge in der Geschichte zu erklären. Und wenn solche Jahre eintreten wie die letzten vier, dann wird diese Sache mit dem Gott in der Geschichte, mit dem Einheits­gott in der Geschichte, wirklich recht, recht stark sengerig, denn dann bekommt dieser Gott in der Geschichte einen sonderbaren Trieb nach Vermehrung, und ein jeder verteidigt dann auf seinem Terrain seinen Gott in der Geschichte, ärgert den anderen damit. Und erst, wenn man zur Kosmologie übergehen soll und zugleich bei dem bequemen Ein­heitsgotte bleibt, dann schickt dieser Gott die Krankheiten! Aber wenn man zu der Trinität au fzustei gen weiß: Gott, Luzifer, Ahriman, wenn man diese Trinität weiß in dem Übersinnlichen hinter den historischen Betrachtungen, hinter den historischen Symptomen, wenn man diese Trinität weiß draußen im kosmischen Weltall, dann hat man nicht

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notig, auf den guten Gott sich zu berufen, wenn man sagt: Die Krank­heiten sendet uns der Himmel, indem er mit der Erde zusammen-wirkt, - so wie ich nur durch ein Blatt Papier auf einem Schwefelboden Schwefeldämpfe in die Höhe bringe. Erst dann aber kann mit der Wahrheit geholfen werden, wenn die Menschen die Wahrheit aner­kennen im Zeitalter der Bewußtseinsseele. Daher kommt alles doch auf das eine an: die Wahrheit zu suchen.

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VIERTER VORTRAG Dornach, 25. Oktober 1918

Bevor ich zu anderem übergehe, muß ich noch sprechen von gewissen umfassenderen Gedanken, die sich ergeben aus dem, was wir über die neuzeitliche menschliche Geschichtsentwickelung betrachtet haben. Wir haben versucht, diese neuzeitliche menschliche Geschichtsentwickelung ins Auge zu fassen vom Gesichtspunkte einer Symptomatologie, das heißt, wir haben entschieden den Versuch unternommen, dasjenige, was man gewöhnlich historische Tatsachen nennt, nicht als das zu be­trachten, was das Wesentliche in der geschichtlichen Wirklichkeit ist, sondern diese historischen Tatsachen so hinzustellen, daß sie bildhafte Offenbarungen desjenigen darstellen, was eigentlich hinter ihnen als die wahre Wirklichkeit liegt. Diese wahre Wirklichkeit ist damit wenig­stens auf dem Gebiete des geschichtlichen Werdens der Menschheit her­ausgehoben aus dem, was bloß äußerlich in der sinnenfälligen Welt wahrgenommen werden kann. Denn das, was äußerlich in der sinnenfälligen Welt wahrgenommen werden kann, das sind eben die soge­nannnten historischen Tatsachen. Und erkennt man die sogenannten historischen Tatsachen nicht als die wahre Wirklichkeit an, sondern sucht in ihnen als in Symptomen von der wahren Wirklichkeit Offen­barungen eines hinter ihnen Stehenden, dann kommt man ganz selbst­verständlich zu einem übersinnlichen Elemente.

Es ist im ganzen gerade bei der Betrachtung der Geschichte vielleicht nicht so leicht, vom Übersinnlichen in seinem wahren Charakter zu sprechen, weil viele glauben, wenn sie irgendwelche Gedanken oder Ideen in der Geschichte finden, oder einfach wenn sie geschichtliche Er­eignisse notifizieren, dann hätten sie schon etwas Übersinnliches. Wir müssen uns ganz klar sein darüber, daß wir zum Übersinnlichen über­haupt nicht rechnen können, was uns, sei es für die Sinne, sei es für den Verstand, sei es für das Empfindungsvermögen, innerhalb der sinnen-fälligen Welt entgegentritt. Daher muß uns alles, was eigentlich im gewöhnlichen Sinne als Geschichte erzählt wird, zum Sinnenfälligen gehören. Man wird natürlich, wenn man so historisch Symptomatologie

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treibt, die Symptome nicht immer gleichwertig nehmen dürfen, sondern man wird aus der Betrachtung selbst erkennen, daß das eine Symptom von ganz besonderer Wichtigkeit ist, um hinter die Ereig­nisse auf die Wirklichkeit zu kommen; andere Symptome sind vielleicht ganz bedeutungslos, wenn man den Weg einschlagen will in die wahre übersinnliche Wirklichkeit.

Nun, ich möchte, nachdem ich Ihnen eine größere Anzahl von mehr oder weniger wichtigen Symptomen aus jenem Zeiträume aufgezählt habe, der seit dem Eintritt der Menschheit in die Bewußtseinsseelen-kultur verflossen ist, jetzt versuchen, Ihnen nach und nach einiges zu charakterisieren von dem dahinterstehenden Übersinnlichen. Einiges haben wir ja schon charakterisiert. Denn natürlich, ein wesentlicher Grundzug, der im Übersinnlichen pulsiert, ist ja das Eintreten der Menschheit in die Bewußtseinsseelenkultur selbst, das heißt das An­eignen der Organe für die Entwickelung der Bewußtseinsseele. Das ist das Wesentliche. Aber wir haben schon neulich erkannt, daß ge­wissermaßen der ändere Pol, die Ergänzung zu diesem innerlichen Erarbeiten der Bewußtseinsseele, sein muß die Hinneigung zu einer Offenbarung aus der geistig-übersinnlichen Welt heraus. Diese Ge­sinnung muß die Menschen durchdringen, daß sie fortan nicht werden weiterkommen können, ohne der neuen Art von Offenbarung der über­sinnlichen Welt entgegenzugehen.

Diese zwei Pole der Menschheitsentwickelung müssen wir zunächst sehen. Sie sind bis zu einem gewissen Grade schon heraufgekommen in den Jahrhunderten seit 1413, seit die Menschheit in das Bewußtseins-zeitalter eingetreten ist. Sie werden sich als zwei mächtige Impulse weiterentwickeln müssen, werden in den verschiedenen Epochen bis ins vierte Jahrtausend die verschiedensten Formen annehmen, werden über die Menschen die männigfaltigsten Schicksale bringen. Das alles wird sich nach und nach für die einzelnen Menschenseelen eben ent­hüllen. Aber gerade mit dem Hinblick auf die beiden Impulse werden wir dann belehrt darüber, wie Wesentliches verlaufen ist seit diesem 15. Jahrhundert. Und wir können sagen: Man ist heute schon imstande, darauf aufmerksam zu machen, wie Wesentliches verlaufen ist. Sehen Sie, im 18. Jahrhundert zum Beispiel, auch im Beginne des 19. Jahrhunderts,

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wäre es noch nicht möglich gewesen, strikte aus äußeren Er­scheinungen auf die Wirksamkeit der beiden genannten Impulse hinzu­deuten. Sie waren noch nicht lange genug wirksam, um sich intensiv genug zu zeigen. Sie sind nun intensiv genug wirksam gewesen, um sich auch schon in den äußerlichen Erscheinungen zu zeigen.

Eine wesentliche Tatsache, die heute schon signifikant hervortritt, wollen wir zunächst einmal vor unsere Seele hinstellen. Man kann sagen: Wenn frühere Erscheinungen nur für den mehr oder weniger Eingeweihten das sichtbar machte, was ich jetzt meine - die russische Revolution in ihrer letzten Phase, namentlich vom Oktober 1917 bis zu den sogenannten Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk, diese ungeheuer interessante Entwickelung, die ja übersichtlich ist, weil sie nur durch wenige Monate läuft, sie hat für denjenigen, der nun wirk­lich ernsthaftig aus den geschichtlichen Symptomen lernen will - denn auch diese Entwickelung ist selbstverständlich nur ein geschichtliches Symptom -, eine ungeheuer große Bedeutung. Alles das, was da ge­schehen ist, ist ja zuletzt zusammengeflossen aus den Impulsen, von denen wir als den tieferen Impulsen der neuzeitlichen Entwickelung gesprochen haben. Man kann sagen, es handelt sich gerade bei dieser Revolution um neue Ideen. Denn um neue Ideen kann es sich heute nur handeln, wo man von wirklicher Entwickelung der Menschheit spricht. Alles andere unterliegt, wie wir später noch hören werden und neulich schon andeuteten, gewissermaßen den Todessymptomen. Um das Wirksammachen neuer Ideen handelt es sich. Diese neuen Ideen - Sie werden das ja entnehmen können aus den mancherlei Aus­führungen, die ich gerade über dieses Thema im Laufe von jetzt schon Jahrzehnten gemacht habe - müssen in die ganze breite Bevölkerung der osteuropäischen Bauernschaft einfließen können. Selbstverständ­lich hat man es da mit einem seelisch wesentlich passiven Elemente zu tun, aber mit einem Elemente, das aufnahmefähig ist gerade für Mo­dernstes, aus dem einfachen Grunde, weil, wie Sie ja wissen, in diesem Volkselemente der Keim liegt zur Entwickelung des Geistselbstes. Während die andere Bevölkerung der Erde im wesentlichen den Impuls zur Entwickelung der Bewußtseinsseele in sich trägt, trägt die breite Masse der russischen Bevölkerung, mit einigen Anhängseln noch, den

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Keim in sich für die Entwickelung des Geistselbstes im sechsten nach-atlantischen Kulturzeitraum. Das bedingt natürlich ganz besondere Verhältnisse. Aber für dasjenige, was wir jetzt betrachten wollen, ist es weiter nichts als eben signifikant.

Nun, nicht wahr, die Idee, die mehr oder weniger richtig, oder mehr oder weniger unrichtig, oder ganz unrichtig, aber als moderne Idee, als Idee von noch nicht Dagewesenem einfließen sollte in diese breite Masse der Bevölkerung, konnte nur kommen von denjenigen, die Ge­legenheit haben im Leben, Ideen aufzunehmen, von führenden Klassen.

Nachdem der Zarismus gestürzt war, sah man zuerst aufkommen ein Element, das im wesentlichen zusammenhängt mit einer völlig unfruchtbaren Klasse, mit der Großbourgeoisie - weiter westlich nennt man sie Schwerindustrie und so weiter -, mit einer völlig unfruchtbaren Klasse. Das konnte nur eine Episode sein. Das war ja selbstverständ­lich, daß das nur eine Episode sein konnte. Von der braucht man eigent­lich im Grunde wirklich nicht zu reden, denn dasjenige, was aus dieser Klasse hervorgeht, das hat ja selbstverständlich, möchte ich sagen, keine Ideen, es kann keine haben, als Klasse selbstverständlich. Ich rede nie, wenn ich von diesen Dingen spreche, von den einzelnen menschlichen Persönlichkeiten oder Individuen.

Nun waren, nach links stehend, zunächst diejenigen Elemente, die aufgestiegen waren aus dem Bürgertum, mehr oder weniger vermischt mit arbeitenden Elementen. Es war die führende Bevölkerung der so­genannten Soziälrevolutionäre, zu denen sich auch die Menschewiki nach und nach geschlagen haben. Es sind diejenigen Menschen, die im wesentlichen, rein äußerlich nach ihrer Zahl gerechnet, sehr leicht eine führende Rolle hätten spielen können innerhalb der weiteren Entwicke­lung der russischen Revolution. Sie wissen, es ist nicht so gekommen. Es sind die radikalen, nach links stehenden Elemente an die Führung gekommen. Und als sie an die Führung gekommen waren, da waren die Sozialrevolutionäre' die Menschewiki und ihre Gesinnungsgenos-sen im Westen, selbstverständlich davon überzeugt, daß die ganze Herrlichkeit nur acht Tage dauern werde, dann werde alles kaputt gehen. Nun, es dauert jetzt schon länger als acht Tage, und Sie können ganz sicher überzeugt sein, meine lieben Freunde: Wenn manche Propheten

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schlechte Propheten sind - diejenigen Menschen, die heute historische Vorgänge prophezeien aus den alten Weltanschauungen gewisser Mittelkiassen heraus, sind ganz gewiß die schlechtesten Pro­pheten! - Nun, was liegt da eigentlich zugrunde? Physikalisch ge­sprochen möchte ich sagen: Dieses Problem der russischen Revolution vom Oktober, durch die nächsten Monate hindurch und bis heute, ist kein Druckproblem' physikalisch gesprochen, sondern ein Saugproblem. Und das ist wichtig, daß man das wirklich den historischen Problemen entnehmen kann, daß es sich nicht um ein Druckproblem, sondern um ein Saugproblem handelt. Was meint man mit einem Saugproblem? Sie wissen ja (es wird gezeichnet), wenn man hier den Rezipienten einer Luftpumpe hat, die Luft herausgesaugt und im Rezipienten einen luft­leeren Raum geschaffen hat und öffnet den Stöpsel, so strömt pfeifend die Luft ein. Sie strömt ein, nicht weil die Luft dort hineinwill durch sich selber, sondern weil ein leerer Raum geschaffen ist. In diesen luft­leeren Raum strömt die Luft ein. Sie pfeift hinein, wo ein luftleerer Raum ist.

So war es auch mit Bezug auf diejenigen Elemente, die gewisser­maßen in der Mitte standen zwischen der Bauernschaft und den Sozial-revolutionären, den Menschewiki und eben den weiter nach links stehenden, den radikalen Elementen, den Bolschewiki. Was ist denn eigentlich da geschehen? Nun, was geschehen ist, war das, daß die so­zialrevolutionären Menschewiki absolut ideenlos waren. Sie waren in der überwiegenden Mehrzahl, aber sie waren absolut ideenlos; sie hatten gar nichts zu sagen, was geschehen soll mit der Menschheit gegen die Zukunft hin. Sie hatten zwar allerlei ethische und sonstige Sentimentalitäten im Kopfe, aber mit ethischen Sentimentalitäten, wie ich Ihnen öfter auseinandergesetzt habe, kann man nicht die wirk­lichen Impulse, welche die Menschheit weiter treiben können, finden. So ist ein luftleerer Raum, das heißt ideenleerer Raum entstanden, und da pfiff selbstverständlich dasjenige, was weiter nach links radikal steht, hinein. Man darf nicht glauben, daß es gewissermaßen durch ihr eigenes Wesen den radikalsten sozialistischen Elementen in Rußland, die wenig mit Rußland selbst zu tun haben, vorgezeichnet war, da besonders Fuß zu fassen. Sie hätten es nie gekonnt, wenn die Sozialrevolutionäre

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und andere mit ihnen Verbundene - es gibt ja die ver­schiedensten Gruppen - irgendwelche Ideen gehabt hätten, um Füh­rende zu werden. Allerdings können Sie fragen: Welche Ideen hätten sie denn haben sollen? - Und da kann nur derjenige eine fruchtbringende Antwort heute finden, der nicht mehr erschrickt und auch nicht mehr feige wird, wenn man ihm sagt: Es gibt für diese Schichten keine an-deren fruchtbaren Ideen als diejenigen, welche aus den geisteswissen­schaftlichen Ergebnissen kommen. Es gibt keine andere Hilfe.

Aber das Wesentliche ist schließlich - gewiß, die Leute sind mehr oder weniger radikal geworden und werden es heute verleugnen, daß sie aus dem alten Bürgertum hervorgegangen sind, viele wenigstens, aber sie sind es doch -, das Wesentlichste ist, daß diejenige Schichte der Bevöl­kerung, aus welcher diese Leute, die den Raum luftleer, das heißt ideen-leer gemacht haben, bis jetzt, im Zeitalter der Bewußtseinsseelenent­wickelung, eben absolut nicht dazu zu bringen wär, irgendwelche Ideen zu haben. Dies ist nun natürlich nicht bloß in Rußland der Fall, son­dern diese russische Revolution in einer letzten, vorläufig letzten Phase kann es eben nur für den, der die Sache studieren will, mit ganz beson­derer Deutlichkeit zeigen: Sie sehen Tag für Tag, wie diese Leute, die den Raum luftleer machen, zurückgedrängt werden, und wie die an­deren hineinpfeifen, das heißt, sich an ihre Stelle setzen. Aber diese Erscheinung, sie ist heute über die ganze Welt verbreitet. Sie ist durch­aus über die ganze Welt heute verbreitet. Denn das ist das Wesentliche, daß diejenige Schichte der Bevölkerung, die gewissermaßen heute zwi­schen rechts und links steht, sich seit langer Zeit ablehnend verhalten hat, wenn es sich darum handelte, eine fruchtbare Weltanschauung irgendwie anzustreben. Eine fruchtbare Weltanschauung kann in unse­rem Zeitalter der Bewußtseinsseelenentwickelung nicht anders sein als eine solche, die auch Impulse gibt für das Zusammenleben der Menschen.

Ja, das war es, was von allem Anfange an unsere geisteswissenschaft­liche Bewegung durchpulste: nicht sollte sie nur irgendeine sektiererische Bewegung sein, sondern angestrebt wurde, daß sie wirklich mit dem Impulse unserer Zeit, mit all dem, was der Menschheit in unserer Zeit nach allen Richtungen hin wichtig und wesentlich ist, rechnet. Das

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wurde immer mehr angestrebt. Das ist allerdings dasjenige, was man heute am schwersten den Menschen zum Verständnis bringen kann, aus dem einfachen Grunde, weil ja doch immer wieder und wiederum -selbstverständlich nicht bei allen, sondern bei vielen - die Gesinnung durchschlägt, daß sie auch in dem, was sie Anthroposophie nennen, doch nichts anderes haben wollen als so ein bißchen bessere Sonntag­nächmittägspredigt für dasjenige, was man so zu seiner privat-person­lichen Erbäuung braucht, was man aber fernhält von all den ernst­haften Angelegenheiten, die man abmacht im Parlament, im Bundesrat oder in der oder jener Körperschaft, oder auch nur am Biertisch. Daß wirklich alles Leben durchdrungen werden muß mit Ideen, die nur aus dem Geisteswissenschaftlichen heraus geholt werden können, das ist es, was eben eingesehen werden muß.

Der Interesselosigkeit dieser Schichte der Bevölkerung stand und steht auch noch heute das rege Interesse des Proletariats entgegen. Dieses Proletariat hat natürlich, einfach durch die geschichtliche Ent­wickelung der neueren Zeit, nicht die Möglichkeit, über das bloß Sinnenfällige hinauszudringen. So kennt es nur sinnenfällige Impulse und will nur sinnenfällige Impulse in die Menschheitsentwickelung einführen. Aber während dasjenige, was die bürgerliche Bevölkerung, wenn wir so sagen dürfen, oftmals ihre Weltanschauung nennt, nur Worte, Phrasen oftmals sind - meistens sind, weil sie eigentlich nicht gehegt sind vom unmittelbaren Leben der Gegenwart, sondern weil sie heraufgebrächt, überkommen sind aus älteren Zeiten, während die bürgerliche Bevölkerung in der Phrase lebt, lebt das Proletariat, weil es in einem wirklich neuen wirtschaftlichen Impuls drinnensteht, in Realitäten, aber nur in Realitäten sinnenfälliger Natur.

Hier haben wir einen bedeutsamen Angelpunkt. Sehen Sie, das Leben der Menschheit hat sich schon seit wenigen Jahrhunderten ganz wesentlich geändert. Seit wenigen Jahrhunderten sind wir innerhalb dieses Zeitalters der Bewußtseinsseele ins Maschinenzeitalter eingetre­ten. Die bürgerliche Bevölkerung und was über ihr ist wurde wenig berührt in ihren Lebensverhältnissen von diesem Eintritt ins Ma­schinenzeitalter. Denn was die bürgerliche Bevölkerung an besonders großen neuen Impulsen in der letzten Zeit aufgenommen hat, das liegt

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ja schon vor dem eigentlichen Maschinenzeitalter - Einführung des Kaffees und so weiter für den Kaffeeklatsch -, und dasjenige, was die bürgerliche Bevölkerung an neuen Bankusancen und dergleichen ge­bracht hat, das ist so wenig angemessen den neuzeitlichen Impulsen wie nur irgend denkbar. Es ist eigentlich nichts anderes als eine Kompli­kation der ururältesten Usancen, die man im kaufmännischen Leben gehabt hat.

Diejenige Kaste oder Klasse der Menschen dagegen, die wirklich von einem neuzeitlichen Impulse äußerlich im sinnenfälligen Leben unmittelbar ergriffen ist, die gewissermaßen durch die neuzeitlichen Impulse selber erst geschaffen ist, das ist das neuzeitliche Proletariat. Seit der Erfindung der Spinnmaschine und des mechanischen Webstuhls im 18. Jahrhundert ist die gesamte Volkswirtschaft der Menschheit um­gewandelt, und es ist im wesentlichen erst durch diese Impulse des mechanischen Webstuhls und der Spinnmaschine das moderne Prole­tariat entstanden. Das ist also ein Geschöpf der neuen Zeit, und das ist das Wesentliche. Der Bürger ist kein Geschöpf der neuen Zeit, aber der Proletarier ist ein Geschöpf der neuen Zeit. Denn dasjenige, was früher vorhanden war und verglichen werden konnte mit dem Prole­tariat der neuen Zeit, es war nicht ein Proletariat, es war irgendein Mitglied der alten patriarchalischen Ordnung, und die ist grundver­schieden von dem, was die Ordnung im Maschinenzeitalter ist. Aber damit war der Proletarier eben auch hineingestellt in dasjenige, was ganz von der lebendigen Natur herausgerissen ist: in das rein Mecha­nische. Er war ganz auf das sinnenfällige Tun gestellt, aber er durstete nach einer Weltanschauung, und er versuchte die ganze Welt sich so zu konstruieren, wie das konstruiert war, in dem er mit seinem Leib und mit seiner Seele drinnenstand. Denn die Menschen sehen schließlich im Weltengebäude dasjenige zuerst, in dem sie selber drinnenstehen. Nicht wahr, der Theologe und das Militär, sie gehören zusammen, wie ich Ihnen neulich angedeutet habe. Der Theologe und das Militär, sie sehen in vieler Beziehung im Weltengebäude Kampf, Kampf der guten und der bösen Mächte und so weiter, ohne weiter auf die Dinge einzugehen. Der Jurist und der Beamte - sie gehören wieder zusammen - und der Metaphysiker, sie sehen im Weltengebäude eine Realisierung abstrakter

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Ideen. Und kein Wunder, der moderne Proletarier sieht im Welten­gebäude eine große Maschine, in die er selbst hineingestellt ist. Und so will er auch die soziale Ordnung gestalten als eine große Maschine.

Aber es war doch eben ein gewaltiger Unterschied und ist heute noch ein gewaltiger Unterschied zum Beispiel zwischen dem modernen Proletarier und dem modernen Bürger, dem modernen Bourgeois­Leben. Von dem versinkenden Stande braucht man ja nicht zu reden. Es ist doch ein beträchtlicher Unterschied, daß der moderne Böurgeois eben gar kein Interesse an irgendwelchen tiefergehenden Weltanschau­ungsfragen hat, während der Proletarier ein brennendes Interesse für Weltanschauungsfragen hat. Nicht wahr, der moderne Bourgeois dis­kutiert allerdings in zahlreichen Versammlungen, diskutiert mit Wor­ten zumeist. Der Proletarier diskutiert über dasjenige, in dem er leben­dig drinnensteht, über dasjenige, was täglich die Maschinenkultur erzeugt. Man hat sogleich, wenn man heute aus einer bürgerlichen Versammlung in eine proletarische Versammlung geht, folgendes Ge­fühl: In der bürgerlichen Versammlung, da wird diskutiert, wie schön es wäre, wenn die Menschen Frieden hielten, wenn sie alle Pazifisten wären zum Beispiel, oder wie schön irgend etwas anderes wäre. Aber das alles ist Dialektik von Worten zumeist, allerdings mit etwas Sen­timentalität durchspickt, aber nicht ergriffen von dem Impuls, wirklich ins Weltengebäude hineinzuschauen, dasjenige, was man will, aus den Geheimnissen des Weltengebäudes heraus zu realisieren. Gehen Sie dann in die proletarische Versammlung, so merken Sie: Die Leute reden von Wirklichkeiten, wenn das auch die Wirklichkeiten des physi­schen Planes sind. Die Leute kennen Geschichte, das heißt, ihre Ge­schichte; sie kennen genau die Geschichte, an den Fingern können sie es herzählen, von der Erfindung des mechanischen Webstuhles und der Spinnmaschine an. Das wird jedem eingebläut, was da angefangen hat, was sich da entwickelt hat, wie das Proletariat zu dem geworden ist, was es heute ist. Wie das geworden ist, das weiß jeder am Schnür­chen, der nur einigermaßen nicht stumpfsinnig ist, sondern teilnimmt am Leben - und das sind ja nur wenige, es ist wenig Stumpfsinn eigent­lich gerade in dieser Klasse von Bevölkerung.

Man könnte viele, viele charakteristische Momente aufzählen für die

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Stumpfheit gegenüber Weltanschauungsfragen bei der heutigen Mittel­schichtsbevölkerung. Man braucht sich nur daran zu erinnern, wie sich die Leute verhalten, wenn einmal ein Dichter - derjenige, der nicht ein Dichter ist, darf es schon gar nicht tun, denn dann wird er ein Phan­tast genannt oder dergleichen -, wenn irgendein Dichter Gestalten aus der übersinnlichen Welt meinetwegen auf die Bühne bringt oder sonst­wo hinbringt. Da lassen es sich die Leute so halb und halb gefallen, weil sie nicht daran zu glauben brauchen, weil sie kein Hauch der Wirklichkeit änweht, weil sie sich sagen können: Es ist bloß Dich­tung! - Dieses ist so geworden im Lauf der Entwickelung des Bewußt­seinsseelenzeitalters. So ist es, möchte ich sagen, die Sache räumlich be­trachtet, daß sich herausgebildet hat eine Menschenklasse, die, wenn sie sich nicht besinnt, Gefahr läuft, immer mehr und mehr vollständig in die Phrase hineinzulaufen. Aber man kann dieselbe Sache auch zeitlich betrachten, und auf gewisse wichtige Zeitpunkte habe ich ja wiederholt hingewiesen von den verschiedensten Gesichtspunkten aus.

Sehen Sie, von diesem Zeitraum des Bewußtseinszeitalters, der 1413 approximativ begonnen hat, war in den vierziger Jahren des 19. Jahr­hunderts, ungefähr um das Jahr 1840 oder 45 herum, das erste Fünftel abgelaufen. Das wär ein wichtiger Zeitpunkt, diese vierziger Jahre, denn in diesem Zeitpunkte wär gewissermaßen vorgesehen durch die die Weltenentwickelung impulsierenden Mächte eine Art von bedeut­samer Krisis. Außen, im äußeren Leben, kam diese Krisis im wesent­lichen dadurch zum Vorschein, daß die sogenannten liberalen Ideen der Neuzeit gerade in diesen Jahren ihre Blüte entwickelten. In den vierziger Jahren hätte es den Anschein, als ob auch in die äußere politi­sche Welt der zivilisierten Menschheit der Impuls des Bewußtseins-zeitalters in Form von politischen Anschauungen hineinstürmen könnte. Zwei Dinge fielen zusammen in diesen vierziger Jahren. Das Prole­tariat war noch nicht vollständig seiner historischen Grundlage ent­bunden, es existierte noch nicht mit vollem Selbstbewußtsein. Das Proletariat war erst in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts reif, bewußt einzutreten in die geschichtliche Entwickelung. Was vorher lag, ist nicht im modernen Sinne des Wortes proletarisches Bewußtsein. Die soziale Frage war natürlich früher da. Aber nicht einmal, daß die

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soziale Frage da ist, haben die Leute der Mittelschichte bemerkt. Ein österreichischer Minister, der eine große Berühmtheit erlangt hat, hat ja den berühmten Ausspruch noch Ende der sechziger Jahre getan: Die soziale Frage hört bei Bodenbach auf. - Bodenbach liegt, wie Sie viel­leicht wissen, an der Grenze zwischen Sachsen und Böhmen. Das ist ein berühmter Ausspruch eines bürgerlichen Ministers!

Das proletarische Bewußtsein war also in den vierziger Jahren noch nicht da. Träger der politischen Zivilisation der damaligen Zeit war im wesentlichen das Bürgertum, war im wesentlichen die Mittelschichte, von der ich eben gesprochen habe. Nun war das Eigentümliche der Ideen, die dazumal in den vierziger Jahren hätten politisch werden können, ihre ganz intensive Abstraktheit. Sie alle kennen ja, ich hoffe, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, was alles an - man nennt es revolutionären Ideen, aber es war wirklich nur liberal -, was dazumal in den vierziger Jahren an liberalen Ideen in die Menschheit einge­strömt ist und sich 1848 entladen hat. Sie kennen das und wissen ja wohl auch, daß Träger dieser Ideen das Bürgertum war, das ich Ihnen eben charakterisiert habe. Aber alle diese Ideen, die dazumal lebten, die so eindringen wollten in die geschichtliche Entwickelung der Mensch­heit, waren restlos intensiv abstrakte Ideen. Sie waren die ällerabstrak­testen Ideen, manchmal bloße Worthülsen. Aber das schadete nichts, denn im Zeitalter der Bewußtseinsseele mußte man durch die Abstrakt­heit durch. Man mußte die leitenden Ideen der Menschheit einmal in dieser Absträktheit fassen.

Nun, der einzelne Mensch lernt nicht an einem Tag schreiben, nicht an einem Tag lesen, das wissen Sie, nicht wahr, von sich und anderen. Die Menschheit braucht auch eine gewisse Zeit, wenn sie mit irgend etwas eine Entwickelung durchmachen soll, sie braucht immer eine ge­wisse Zeit. Es war - wir werden auf diese Dinge noch genauer ein­gehen - der Menschheit Zeit gelassen bis zum Ende der siebziger Jahre. Wenn Sie 1845 nehmen, 33 Jahre dazurechnen, dann bekommen Sie 1878; da erreichen sie ungefähr dasjenige Jahr, bis zu welchem der Menschheit Zeit gelassen war, sich hineinzufinden in die Realität der Ideen der vierziger Jahre. Das ist in der historischen Entwickelung der neuzeitlichen Menschheit etwas außerordentlich Wichtiges, daß man

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diese Jahrzehnte ins Auge zu fassen vermag, die da liegen zwischen den vierziger und den siebziger Jahren. Denn über diese Jahrzehnte muß sich der heutige Mensch völlig klarwerden. Er muß sich klar­werden darüber, daß in diesen Jahrzehnten, in den vierziger Jahren, begonnen hat, in abstrakter Form in die Menschenentwickelung einzu-fließen das, was man liberale Ideen nennt, und daß der Menschheit Zeit gelassen war bis zum Ende der siebziger Jahre, um diese Ideen zu begreifen, diese Ideen an die Wirklichkeiten anzuhängen.

Träger dieser Ideen war das Bourgeoistum. Aber das hat den An­schluß versäumt. Es liegt etwas ungeheuer Tragisches über der Ent­wickelung dieses 19. Jahrhunderts. Es ist wirklich für denjenigen, der in den vierziger Jahren manchen hervorragenden Menschen - über die ganze zivilisierte Welt waren solche ausgebreitet - aus dem Bürger-stände reden hörte über das, was der Menschheit gebracht werden sollte auf allen Gebieten, in diesen vierziger, noch Anfang der fünf­ziger Jahre manchmal etwas wie von einem kommenden Völkerfrüh­ling. Aber aus den Eigenschaften heraus, die ich Ihnen charakterisiert habe für die Mittelschichte, wurde der Anschluß versäumt. Als die siebziger Jahre zu Ende gingen, hatte der Bürgerstand die liberalen Ideen nicht begriffen. Es wurde von dieser Klasse, von den vierziger bis in die siebziger Jahre, dieses Zeitalter verschlafen. Und die Folge davon ist etwas, auf das man schon hinschauen muß. Denn die Dinge müssen sich ja in auf- und absteigenden Wellen bewegen, und eine ge­deihliche Entwickelung der Menschheit in die Zukunft kann nur statt­finden, wenn man rückhaltlos auf dasjenige sieht, was sich da in der jüngsten Vergangenheit abgespielt hat. Man kann nur aufwachen im Zeitalter der Bewußtseinsseele, wenn man weiß, daß man vorher ge­schlafen hat. Wenn man nicht weiß, wann und wie lange und daß man geschlafen hat, so wird man eben nicht aufwachen, sondern wird wei­terschlafen.

Als das Bürgertum beim Erscheinen des Erzengels Michael als Zeit­geist Ende der siebziger Jahre nicht begriffen hatte den Impuls der liberalen Ideen auf politischem Gebiete, da zeigte es sich, daß jene Mächte, die ich ja auch charakterisiert habe, die mit diesem Zeiträume in die Menschheit sich hineinmischten, zunächst Finsternis verbreiteten

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über diese Ideen. Und das können sie wiederum sehr deutlich studieren, wenn Sie nur wirklich wollen. Wie anders haben sich die Menschen die Gestaltung des politischen Lebens in den vierziger Jahren gedacht, als es am Ende des 19. Jahrhunderts über die ganze zivilisierte Welt ge­kommen ist! Es gibt keinen größeren Gegensatz als die allerdings ab­strakten, aber in ihrer Abstraktheit lichtvollen Ideen der Jahre von 1840 bis 1848, und das, was man im 19.Jahrhundert auf den ver­schiedensten Gebieten der Erde «hohe Menschheitsideale» genannt hat, was man hohe Menschheitsideale genannt hat noch bis in unsere Tage herein, bis alles in die Katastrophe hineingerutscht ist von diesen hohen Menschheitsidealen.

Also das ist es, was man als zeitliche Ergänzung zu dem Räumlichen hinzufügen muß, daß von den vierziger Jahren bis zu Ende der sieb­ziger Jahre in den produktivsten und fruchtbarsten Zeiträumen für die bürgerliche Bevölkerung eine Art Schlafzustand vorhanden war. Nachher war es gewissermaßen zu spät. Denn nachher ist nichts mehr zu erreichen auf demjenigen Wege, auf dem das in dem genannten Zeiträume erreichbar gewesen wäre. Nachher ist nur durch völliges Erwachen im geisteswissenschaftlichen Erleben etwas zu erreichen. So hängen die Dinge historisch in der neueren Geschichte zusammen.

In diesem Zeiträume, von den vierziger bis in die siebziger Jahre, da waren die Ideen, wenn auch abstrakt, in einer ganz bestimmten Weise so geartet, daß sie hintendierten nach dem aktiven Geltenlassen des einen Menschen neben dem anderen. Und wäre - als Hypothese sei das angenommen - dasjenige, was in diesen Ideen lag, zur Verwirk­lichung gekommen, dann würde man schon sehen, daß der Anfang - es wäre ja auch nur der Anfang, aber es wäre eben damit ein Anfang da zu diesem toleranten, aktiven toleranten Geltenlassen des einen Men­schen neben dem anderen, was der heutigen Zeit insbesondere mit Bezug auf die Ideen und Empfindungen ganz und gar fehlt. Und so muß gerade im sozialen Leben aus dem Spirituellen heraus eine viel tiefer greifende, eine viel intensivere Idee den Menschen eigen werden. Ich will zunächst, ich möchte sagen, rein äußerlich historisch, zukunfts-historisch diese Idee vor Sie hinstellen, um sie Ihnen dann weiter zu begründen.

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Dasjenige, was der Menschheit einzig und allein Heil bringen kann gegen die Zukunft hin - ich meine der Menschheit, also dem sozialen Zusammenleben -, muß sein ein ehrliches Interesse des einen Menschen an dem anderen. Dasjenige, was dem Bewußtseinszeitalter besonders eigen ist, ist Absonderung des einen Menschen vom andern. Das bedingt ja die Individualität, das bedingt die Persönlichkeit, daß sich auch innerlich ein Mensch von dem ändern absondert. Aber diese Absonde­rung muß einen Gegenpol haben, und dieser Gegenpol muß in dem Heranzüchten eines regen Interesses von Mensch zu Mensch bestehen.

Dieses, was ich jetzt meine als Hinzufügung eines regen Interesses von Mensch zu Mensch, das muß immer bewußter und bewußter im Zeitalter der Bewußtseinsseele an die Hand genommen werden. Alles Eigen-Interesse von Mensch zu Mensch muß immer mehr und mehr ins Bewußtsein heräufgehoben werden. Sie finden unter den, ich möchte sägen, elementärsten Impulsen, die angegeben werden in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», den Impuls verzeichnet, der, wenn er für das soziale Leben praktisch wird, gerade nach Erhöhung des Interesses für den Menschen hinzielt. Sie finden ja überall angegeben die sogenannte Positivität, die Entwicke­lung einer Gesinnung der Positivität. Die meisten Menschen der Gegen­wart werden geradezu mit ihrer Seele umkehren müssen von ihren We­gen, wenn sie diese Positivität entwickeln wollen, denn die meisten Men­schen der Gegenwart haben heute noch nicht einmal einen Begriff von dieser Positivität. Sie stehen von Mensch zu Mensch so, daß sie, wenn sie an dem anderen Menschen etwas bemerken, das ihnen nur nicht paßt -ich will gar nicht sägen, das sie tiefer betrachten, sondern das ihnen von obenher betrachtet, ganz äußerlich betrachtet, nicht paßt -, so fangen sie an äbzuurteilen, aber ohne Interesse dafür zu entwickeln, abzuurteilen. Es ist im höchsten Grade äntisozial - vielleicht klingt es paradox, aber richtig ist es doch - für die zukünftige Menschheitsent­wickelung, solche Eigenschaften an sich zu haben, in unmittelbarer Sympathie und Antipathie an den anderen Menschen heranzugehen. Dagegen wird es die schönste, bedeutendste soziale Eigenschaft für die Zukunftsentwickelung sein, wenn man gerade ein naturwissenschaft­liches, objektives Interesse für Fehler anderer Menschen entwickelt,

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wenn einen die Fehler anderer Menschen viel mehr interessieren, als daß man sie versucht zu kritisieren. Denn nach und nach, in diesen drei letzten Epochen, die noch folgen, der fünften, sechsten und siebenten Kulturepoche, da wird sich der eine Mensch ganz besonders immer mehr und mehr mit den Fehlern des andern Menschen liebevoll zu befassen haben. Im griechischen Zeitalter stand über dem berühmten Apollotempel das «Erkenne dich selbst». Das war dazumal im eminen­testen Sinne noch zu erreichen, die Selbsterkenntnis, durch Hinein­brüten in die eigene Seele. Das wird immer unmöglicher und unmög­licher. Man lernt sich heute kaum noch irgendwie erheblich kennen durch das Hineinbrüten in sich selbst. Weil die Menschen nur in sich selbst hineinbrüten, deshalb kennen sie sich im Grunde genommen so wenig, und weil sie so wenig hinschauen auf andere Menschen, nament­lich auf das, was sie Fehler der anderen Menschen nennen.

Eine rein naturwissenschaftliche Tatsache kann uns aufmerksam machen, ich möchte sagen, beweisend aufmerksam machen, daß diese Sache so ist. Sehen Sie, der Naturforscher tut heute zweierlei - ich habe das vielleicht schon erwähnt, aber es ist außerordentlich wichtig -, wenn er auf die Geheimnisse der menschlichen, der tierischen, der pflanzlichen Natur kommen will. Das erste ist, er experimentiert, so wie er in der unorganischen, in der leblosen Natur experimentiert, so auch in der organischen Natur. Nun, durch das Experiment entfernt man sich von der lebendigen Natur, und derjenige, der mit wahrem Erkenntnissinn verfolgen kann, was das Experiment der Welt gibt, der weiß, daß es den Tod allein gibt. Das Experiment gibt nur den Tod, und dasjenige, was einem die heutige Wissenschaft aus der Ex­perimentierkunst, selbst aus einer so feinen Experimentierkunst bieten kann, wie sie zum Beispiel Oskar Hertwig entwickelt, das ist nur der Tod der Sache. Sie können durch das Experimentieren nicht erklären, wie irgendein Lebewesen empfangen und geboren wird, sondern Sie können nur den Tod erklären durch das Experimentieren, und so wer­den Sie nie etwas erfahren über die Geheimnisse des Lebens durch Experimentierkunst. Das ist die eine Seite.

Aber es gibt heute etwas, was allerdings mit sehr unzulänglichen Mitteln arbeitet, was erst ganz, ganz im Anfange ist, was aber geeignet

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ist, sehr große Aufschlüsse über die menschliche Natur zu geben: das ist die Betrachtung des pathologischen Menschen. Die Betrachtung eines nach irgendeiner Richtung hin nicht ganz, wie man im Philiströsen sagt, normalen Menschen, die bringt in uns das Gefühl hervor: Mit diesem Menschen kannst du eins werden, in diesen Menschen kannst du dich erkennend vertiefen; du kommst weiter, wenn du dich in ihn vertiefst. - Also durch das Experimentieren wird man von der Wirk­lichkeit weggetrieben; durch das Betrachten desjenigen, was man heute pathologisch nennt, was Goethe so schön die Mißbildungen nannte, wird man gerade hingebracht in die Wirklichkeit. Aber man muß sich einen Sinn aneignen für diese Betrachtung. Man darf nicht abgestoßen wer­den von solcher Betrachtung. Man muß wirklich sich sagen: Gerade das Tragische kann zuweilen, ohne daß man es je wünschen darf, unendlich aufklärend sein für die tiefsten Geheimnisse des Lebens. - Was das Gehirn bedeutet für das Seelenleben, wird man nur dadurch erfahren, daß man immer mehr und mehr bekannt werden wird mit kranken Gehirnen. Das ist die Schule des Interesses für den anderen Menschen. Ich möchte sagen: Es kommt die Welt mit den groben Mitteln des Kränkseins, um unser Interesse zu fesseln. Aber das Interesse am an­deren Menschen ist es überhaupt, was die Menschheit sozial vorwärts bringen kann in der nächsten Zeit, während die Menschheit sozial zurückgebracht wird durch das Gegenteil der Positivität, durch das von obenherein Enthusiasmiert- oder Abgestoßensein von dem anderen Menschen. Diese Dinge hängen aber alle mit dem ganzen Geheimnis des Bewußtseinszeitalters zusammen.

In jedem solchen Zeitalter wird historisch innerhalb der Mensch­heit, ich möchte sagen, etwas ganz Bestimmtes entwickelt, und was da entwickelt wird, das spielt dann in der währen geschichtlichen Ent­wickelung eine große Rolle. Erinnern Sie sich an die Worte, die ich am Ende der letzten Betrachtungsstunde hier ausgesprochen habe. Ich sagte: Die Menschen müssen sich entschließen, immer mehr und mehr auch in der äußeren geschichtlichen Wirklichkeit Geburt und Tod sehen zu können, - Geburt durch die Befruchtung mit der neuen geistigen Offenbarung, Tod durch alles dasjenige, was man schafft. Tod durch alles dasjenige, was man schafft! Denn das ist das Wesentliche im Bewußtseinszeitalter,

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daß man auf dem physischen Plane nicht anders schaffen kann als mit dem Bewußtsein: Was man schafft, geht zugrunde. Der Tod ist beigemischt demjenigen, was man schafft. Gerade die wich­tigsten Dinge der neueren Zeit in bezug auf den physischen Plan sind todbringende Institutionen. Und der Fehler liegt nicht darinnen, daß man das Todbringende schafft, sondern daß man sich nicht zum Be­wußtsein bringen will, daß es todbringend ist.

Heute noch, nach dem ersten Fünftel des Bewußtseinszeitalters, da sagen die Menschen, der Mensch wird geboren und stirbt; und nicht wahr, sie vermeiden es, weil sie es als unsinnig ansehen, zu sagen: Ja, wozu wird der Mensch geboren, wenn er nun doch stirbt? Es ist ja ganz unsinnig, wenn er geboren wird! Man braucht ihn ja nicht zu gebären, da man doch weiß, daß er stirbt! - Nun, das sagen die Men­schen nicht, nicht wahr, weil sie auf diesem Gebiete der äußeren Natur unter dem Zwang der belehrenden Natur Geburt und Tod gelten las­sen. Auf dem Gebiete des geschichtlichen Lebens sind die Menschen noch nicht so sehr weit, auch da Geburt und Tod gelten zu lassen, son­dern da soll alles, was geboren ist, absolut gut sein und fortbestehen können in alle Ewigkeit. Der Sinn muß sich im Bewußtseinszeitalter ausbilden, daß im äußeren historischen Geschehen Geburt und Tod lebt, und daß, wenn man irgend etwas gebiert, sei es ein Kinderspiel-zeug oder sei es ein Weltreich, man es gebiert mit dem Bewußtsein, daß es auch einmal tot werden muß. Und wenn man es nicht mit dem Be­wußtsein gebiert, daß es einmal tot werden muß, so macht man etwas Unsinniges; man macht dasselbe, als was man machen würde, wenn man glaubt, man würde einen kleinen Sprößling gebären können, der auf eine irdische Ewigkeit Anspruch hätte.

Dies muß aber in den Inhalt der menschlichen Seele hineinziehen im Zeitalter der Bewußtseinsseele. Im griechisch-lateinischen Zeitraum brauchte man das noch nicht in der Seele zu haben, denn da machte sich das geschichtliche Leben von selbst in Geburt und Tod. Es entstanden die Dinge und sie vergingen von selbst. Im Zeitalter der Bewußtseins-seele muß der Mensch es sein, der Geburt und Tod hineinwebt in sein soziales Leben. Das ist es, was hineinverwoben werden muß in das soziale Leben: Geburt und Tod. Und der Mensch kann in diesem Zeitalter

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der Bewußtseinsseele den Sinn dafür erwerben, Geburt und Tod ins soziale Wesen hineinzuweben, aus dem Grunde, weil unter ganz bestimmten Verhältnissen in der griechisch-lateinischen Kulturepoche dieses in seine menschliche Wesenheit hineinversetzt worden ist.

Der wichtigste Zeitpunkt der persönlichen Entwickelung eines Men­schen der mittleren griechisch-lateinischen Zeit war ja etwa der Anfang seiner dreißiger Jahre. Da war der Zeitpunkt, wo gewissermaßen zwei Kräfte, die in jedem Menschen wirksam sind, sich trafen. Nicht wahr, der Mensch wird geboren und stirbt. Aber die Kräfte, die in den Sym­ptomen der Geburt wirken, die wirken die ganze Zeit von der Geburt bis zum Tode im Menschen; sie treten nur besonders charakteristisch durch die Geburt hervor. Die Geburt ist nur ein bedeutendes Symptom, und die andern Symptome, wo dieselben Kräfte wirken durch das ganze physische Leben hindurch, die sind weniger bedeutend. Ebenso beginnen die Kräfte des Todes gleich bei der Geburt zu wirken; wenn der Mensch stirbt, treten sie nur besonders anschaulich hervor. Immer sind diese zwei Arten von Kräften vorhanden in einer Art von Gleich­gewicht, können wir sagen: Geburt-Kräfte und Todes-Kräfte. Und am meisten hielten sie sich das Gleichgewicht im griechisch-lateinischen Zeitalter so im Anfang der dreißiger Jahre; so daß der Mensch bis zum Anfang der dreißiger Jahre das Gemüt entwickelte und hinterher durch sich selbst den Verstand, denn vorher konnte er den Verstand nur dadurch bekommen, daß er erweckt wurde im Unterricht, durch Erziehung und so weiter. Und daher sprechen wir im griechisch-latei-nischen Zeitalter von der Gemüts- und Verstandesseele, weil das so zusammenstieß, bis in die dreißiger Jahre: Gemüt, nachher Verstand. Aber jetzt, im Zeitalter der Bewußtseinsseele, ist es nicht so. Jetzt reißt die Geschichte ab vor der Mitte des menschlichen Lebens. Die meisten Menschen, die Ihnen jetzt entgegentreten, namentlich in der Mittel­schichte der Menschheit, werden nicht älter als kaum 27 Jahre; dann trotten sie fort mit dem, was sie gelernt haben und so weiter. Sie können es an einem äußerlichen Elemente sehr leicht sehen, was ich jetzt meine. Denken Sie nur, wie wenige Menschen es gibt, die heute nach dem 27. Jahre auf irgendeinem Gebiete noch wesentlich anders werden, als höchstens, daß sie physisch älter werden, daß sie grau

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werden, daß sie tatterig werden - nein, das darf man nicht sagen - und ähnliches, nicht wahr; aber der Mensch will bis zum 27. Jahre im wesentlichen heute abgeschlossen sein. Denken Sie einmal: Wenn heute ein Mensch bis zum 27. Jahre etwas Ordentliches gelernt hat - nehmen wir jetzt einen Menschen der sogenannten intelligenten oder intellek­tuellen Bevölkerung -, dann will er doch auch etwas werden; denn hat er etwas gelernt, dann will er das sein übriges Leben anwenden. Denken Sie, wenn Sie heute einem intelligenten Durchschnittsmenschen zumuten würden, so ein Faust zu werden, das heißt, nicht nur eine Fakultät, sondern vier Fakultäten wirklich hintereinander zu studieren bis zum 50. Jahre! Ich meine ja nicht, daß er gerade an die Universität gehen soll, vielleicht gibt es bessere Mittel als die vier Fakultäten. Weiter studieren heute, nicht wahr, fortlernen, ein verwandlungs­fähiger Mensch bleiben, das findet man außerordentlich selten. Bei den Griechen war es noch viel häufiger - wenigstens in dem Teil der Bevölkerung, den man den intellektuellen nennt - aus dem Grunde, weil der Faden nicht abriß im Anfang der dreißiger Jahre; da waren die Kräfte, die von der Geburt herkamen, sehr regsam. Und dann fingen die Kräfte, die nach dem Tode hingingen, an, sich mit jenen zu begeg­nen; da war ein Gleichgewicht da in der Mitte. Jetzt reißt die Ge­schichte ab; mit siebenundzwanzig wollen die meisten Menschen «ge­machte Menschen» sein, wie man sagt! Und am Ende der dreißiger Jahre würde man anknüpfen können an die Jugend und weiterlernen von der Jugend aus, wenn man nur wollte! Nun möchte ich aber wis­sen, wie viele Menschen heute wollen, wie viele Menschen das Notwen­digste ergreifen wollen, was für die Zukunft der Erdenmenschheit dastehen wird: das immerwährende Lernen, das immerwährende In-Bewegung-Bleiben. Und das wird nicht zu erreichen sein ohne das eben geschilderte Interesse von Mensch zu Mensch. Liebevoll hinblicken können auf die Menschen, sich interessieren für die Eigenart der Men­schen, das ist dasjenige, was die Menschheit ergreifen muß. Und gerade weil es die Menschheit ergreifen muß, deshalb ist es im Rückschlag so wenig in der heutigen Gegenwart schon vorhanden. Es beleuchtet die­ses, was ich jetzt gesagt habe, eine wichtige Tatsache der inneren Seelen-entwickelung. Gewissermaßen reißt der Faden, der Geburt und Tod

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verbindet, so zwischen dem 26., 27. Jahre und dem 37. oder 38. Jahre Da ist ein Jahrzehnt in der Menschenentwickelung, wo die Kräfte von Geburt und Tod nicht recht zusammenwollen. Die Verfassung, die der Mensch braucht, und die er dadurch, daß diese Kräfte zusammenkamen, im griechisch-lateinischen Zeitalter noch haben konnte, die muß er sich im Zeitalter der Bewußtseinsseele dadurch entwickeln, daß er im äuße­ren historischen Leben Geburt und Tod betrachten kann. Kurz, unsere Betrachtung des äußerlichen Lebens muß eine solche werden, daß wir kühn, ohne Feigheit auf unsere Umgebung hinschauen können so, daß wir uns sagen: Wachsen und Welken, das ist dasjenige, was in allem Leben bewußt bewirkt werden muß. Soziales kann nicht absolut für ein Ewiges gebaut werden. Wer für das Soziale baut, muß den Mut haben, immer weiter und weiter Neues zu bauen, nicht stehen zu blei­ben, weil dasjenige, was gebaut ist, alt wird, welk wird, absterben muß; weil Neues gebaut werden muß.

Nun, so könnte man sagen: In charakteristischer Weise lebte Geburt und Tod gerade im vierten nachatlantischen Zeitalter, im Zeitalter der Gemüts- und Verstandesseele in dem Menschen drinnen. Er brauchte es noch nicht äußerlich zu sehen. Jetzt, im Zeitalter der Bewußtseinsseele, muß er es äußerlich sehen. Dafür muß er in seinem Innern wiederum ein anderes entwickeln. Das ist sehr wichtig, daß er ein anderes wie­derum entwickelt.

Sehen Sie, man kann sagen, wenn man den Menschen schematisch so betrachtet (siehe Zeichnung): Viertes griechisch-lateinisches Zeit­alter, fünftes Zeitalter - Geburt und Tod erblickte der Mensch bewußt in diesem vierten Zeitalter, wenn er ins Innere seines Menschen hin­einschaute; jetzt muß er Geburt und Tod äußerlich im geschichtlichen Leben erblicken und von da aus es auch im Innern suchen. Daher ist es so unendlich wichtig, daß in diesem Zeitalter der Bewußtseinsseele der Mensch sich über Geburt und Tod im wahren Sinne, das heißt im Sinne der wiederholten Erdenleben, aufklärt, sonst wird er nie dazu kom­men, im historischen Werden Verständnis für Geburt und Tod zu er­werben.

Aber geradeso, wie Geburt und Tod von innen nach außen gegangen sind im menschlichen Anschauen, so muß der Mensch wiederum etwas

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entwickeln in seinem Innern im fünften nachatlantischen Zeitraum, was im sechsten Zeitalter, das also im vierten Jahrtausend beginnt, wiederum nach außen gehen wird. Und das ist das Böse. Das Böse wird im Innern des Menschen entwickelt im fünften nachatlantischen Zeit­raum, muß nach außen strahlen und im Äußeren erlebt werden im sechsten Zeitraume so wie Geburt und Tod im fünften Zeitraume. Das Böse soll innerlich in den Menschen sich entwickeln.

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Denken Sie einmal, was das für eine unangenehme Wahrheit ist! Man wird vielleicht sagen: Man kann es ja noch hinnehmen, was im vierten nachatlantischen Zeitraum das Wichtige ist, daß der Mensch ganz bekannt wird innerlich mit Geburt und Tod, dann aber kosmisch Geburt und Tod erfaßt, so wie ich es Ihnen dargestellt habe in der Conceptio immaculata und in der Auferstehung, im Mysterium von Golgatha. Deshalb steht vor der Menschheit des vierten nachatlantischen Zeitraums Geburt und Tod des Christus Jesus, weil Geburt und Tod das ganz besonders Wichtige war im vierten nachatlantischen Zeitraum.

Jetzt, wo der Christus wiederum im Ätherischen erscheinen soll, wo wiederum eine Art Mysterium von Golgatha erlebt werden soll, jetzt wird das Böse eine ähnliche Bedeutung haben wie Geburt und Tod für den vierten nachatlantischen Zeitraum. Im vierten nachatlantischen Zeitraum entwickelte der Christus Jesus seinen Impuls für die Erdenmenschheit aus dem Tode heraus. Und man darf sagen: Aus dem er­folgten Tode heraus wurde das, was in die Menschheit einfloß. - So wird aus dem Bösen heraus auf eine sonderbare, paradoxe Art die Menschheit des fünften nachatlantischen Zeitraums zu der Erneuerung

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des Mysteriums von Golgatha geführt. Durch das Erleben des Bösen wird zustandegebracht, daß der Christus wieder erscheinen kann, wie er durch den Tod im vierten nachatlantischen Zeitraum erschienen ist.

Dazu, um dies einzusehen, müssen wir - wir haben ja da und dort schon einiges aufflackern lassen von dem Mysterium des Bösen - müs­sen wir nun über das Mysterium des Bösen im Zusammenhange mit dem Mysterium von Golgatha ein wenig sprechen. Das wird nun das nächste Historische sein, daß wir über den Zusammenhang des Myste­riums des Bösen mit dem Mysterium von Golgatha sprechen.

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FÜNFTER VORTRAG Dornach, 26. Oktober 1918

Selbst innerhalb der Grenzen, die gegenwärtig noeh geboten sind, wenn man über solche Dinge spricht, kann man dasjenige, was von dem Mysterium des Bösen handelt in der fünften nachatlantischen Kultur-periode, der Periode der Bewußtseinsseele, in der wir leben, eigentlich nicht ohne tiefe Bewegung besprechen. Denn es wird damit etwas berührt, was zu den tiefsten Geheimnissen dieser fünften nachatlantischen Periode gehört, was, wenn es besprochen wird, heute noch auf sehr wenig entwickelte menschliche Fähigkeiten des Verständnisses gerade für solche Dinge stößt. Die Empfindungsmöglichkeiten, welche die heu­tige Menschheit für solche Dinge hat, sind noch wenig entwickelt. Dennoch muß man sagen, daß gewisse Hindeutungen auf das Myste­rium des Bösen und das andere, das damit zusammenhängt, das Mysterium des Todes, in allen sogenannten Geheimgesellschaften der neueren Zeit immer wieder und wiederum bildhaft versucht worden sind. Aber diese bildhaften Darstellungen, zum Beispiel auch in den sogenannten maurerischen Gemeinschaften, sie wurden ja insbesondere in den letzten Jahrzehnten seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhun­derts in einer recht wenig ernsten Weise gepflogen, oder aber sie wur­den in einer solchen Art gepflogen, wie ich es vor jetzt fast zwei Jahren hier mit Bezug auf gewichtige Ereignisse der Gegenwart angedeutet habe.

Die damaligen Andeutungen machte ich auch nicht ohne tiefergehen­den Beweggrund, denn wer von diesen Dingen Kenntnis hat, der weiß, welche Untiefen menschlichen Wesens man mit diesen Dingen eigentlich berührt. Allein es hat ja vieles gezeigt, wie wenig im Grunde genommen heute schon Wille zum Verständnis solcher Dinge vorhan­den ist. Der Wille zum Verständnis, er wird ja gewiß kommen, und es muß dafür gesorgt werden, daß er komme. Es muß auf jedem Wege, der möglich erscheint, dafür gesorgt werden, daß dieser Wille kommt. Man muß, wenn man über diese Dinge spricht, manchmal den Schein hervorrufen, als ob man eine Art Kritik der Gegenwart nach der

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einen oder nach der anderen Richtung hin geben wolle. Auch dasjenige, was ich gestern zum Beispiel vorgebracht habe über die Konfiguration der Weltanschauungsbestrebungen innerhalb des Bürgertums, seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts namentlich, aber im Grunde ge­nommen schon seit langer Zeit, das kann ja auch, wenn man es trivial auffassen will, wie eine Kritik aufgefaßt werden. Aber alles das, was hier vorgebracht wird, ist nicht so gemeint, ist nicht wie eine Kritik gemeint, sondern ist gesagt zur Charakteristik, ist dazu gesagt, daß man einsieht, welche Kräfte und Impulse gewaltet haben. Von einem gewissen Gesichtspunkte aus betrachtet haben ja diese Impulse not­wendigerweise gewaltet. Man könnte auch beweisen, daß es notwendig war, daß das Bürgertum der zivilisierten Welt die Jahrzehnte von den vierziger Jahren bis zu dem Ende der siebziger Jahre verschlafen hat; man könnte diesen Schlaf als eine welthistorische Notwendigkeit dar­tun. Aber dessen ungeachtet müßte die Erkenntnis dieses Schlafes, die­ses Kulturschlafes, dennoch in positiver Weise wirken, das heißt, heute gewisse Erkenntnis- und Willensimpulse auslösen, die wirken sollen gegen die Zukunft hin.

Zwei Mysterien - wie gesagt, ich kann diese Dinge natürlich nur innerhalb gewisser Grenzen besprechen -, zwei Mysterien sind von ganz besonderer Bedeutung für die Entwickelung der Menschheit im Zeitraum der Bewußtseinsseele, in dem wir drinnenstehen seit dem Beginne des 15. Jahrhunderts. Es ist das Mysterium des Todes und das Mysterium des Bösen. Dieses Mysterium des Todes, das für die jetzige Zeit eben mit dem Mysterium des Bösen von einer gewissen Seite her zusammenhängt, das führt zunächst zum Aufwerfen der bedeutungs­vollen Frage: Wie steht es überhaupt mit dem Tode in bezug auf die menschliche Entwickelung?

Ich habe neulich erst wiederum wiederholt: Das, was sich gegen­wärtig Wissenschaft nennt, macht es sich bequem in solchen Dingen. Tod ist Aufhören eines Lebens für die meisten Wissenschafter. Von diesem Punkte aus ist der Tod anzuschauen bei der Pflanze, beim Tiere, beim Menschen. - Geisteswissenschaft hat es nicht so bequem, alles über einen Leisten zu schlagen. Denn sonst könnte man den Tod auch auf­fassen als Ende einer Taschenuhr, den Tod der Taschenuhr. Der Tod

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für den Menschen ist eben etwas ganz anderes als der sogenannte Tod anderer Wesen. Kennenlernen kann man nun dasjenige, was das Phä­nomen des Todes ist, nur dann, wenn man es gewissermaßen auf dem Hintergrunde jener Kräfte auffaßt, die im Weltenall tätig sind, und die über den Menschen, indem sie auch den Menschen ergreifen, den phy­sischen Tod bringen. Es walten im Weltenall gewisse Kräfte, gewisse Impulse; wären sie nicht vorhanden, so könnte der Mensch nicht ster­ben. Diese Kräfte walten im Weltenall, der Mensch gehört zum Welten-all; sie durchwalten auch den Menschen, und indem sie im Menschen tätig sind, bringen sie ihm den Tod. Nun muß man sich fragen: Diese Kräfte, die im Weltenall tätig sind, was bewirken sie außer dem, daß sie den Menschen den Tod bringen? - Es wäre ganz falsch, wenn man etwa denken würde, diese Kräfte, die dem Menschen den Tod bringen, die seien im Weltenall dazu da, daß sie den Menschen sterben machen, daß sie ihm den Tod bringen. Das ist nicht der Fall. Daß diese Kräfte den Menschen den Tod bringen, ist gewissermaßen nur eine Neben­wirkung, wirklich nur eine Nebenwirkung. Nicht wahr, es wird kei­nem Menschen einfallen, zu sagen: Die Aufgabe der Lokomotive bei der Eisenbahn bestehe darin, nach und nach die Schienen kaputt zu machen. - Trotzdem tut das die Lokomotive, daß sie nach und nach die Schienen kaputt macht, und die Lokomotive kann nicht anders als die Schienen kaputt machen. Aber das ist jedenfalls nicht ihre Auf­gabe; ihre Aufgabe ist etwas anderes. Und wenn einer definieren würde: Eine Lokomotive ist eine Maschine, welche die Aufgabe hat, die Schienen kaputt zu machen -, der würde natürlich einen Unsinn reden, trotzdem man nicht bestreiten kann, daß das Zerstören der Schienen durchaus mit dem Wesen der Lokomotive zusammenhängt. Ebensowenig denkt derjenige etwas Richtiges, der etwa sagen würde, die Kräfte im Weltenall, die den Menschen den Tod bringen, seien dazu da, um den Menschen den Tod zu bringen. Dieses ist nur eine Neben­wirkung, daß sie den Menschen den Tod bringen. Sie bewirken dies neben ihrer eigentlichen Aufgabe. Welches aber ist diese eigentliche Aufgabe der den Menschen den Tod bringenden Kräfte? Diese Auf­gabe der den Menschen den Tod bringenden Kräfte ist gerade die, den Menschen zu begaben mit der vollen Fähigkeit der Bewußtseinsseele.

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Sie sehen, wie innig das Mysterium des Todes gerade mit der Entwicke­lung des fünften nachatlantischen Zeitraums zusammenhängt, wie be­deutsam es ist, daß in diesem fünften nachatlantischen Zeitraum all­gemein das Mysterium des Todes enthüllt werde. Denn es sind eben die Kräfte, die in ihrer Nebenwirkung dem Menschen den Tod bringen, die eigentlich dazu bestimmt sind, dem Menschen einzupflanzen, ein­zuimpfen in seinen Werdegang gerade die Fähigkeit, ich sage die Fähig­keit, nicht die Bewußtseinsseele, sondern die Fähigkeit der Bewußt­seinsseele.

Das führt Sie nicht nur zur Erfassung des Todesmysteriums, sondern es führt Sie auch dahin, in wichtigen Dingen exakt zu denken. Das heutige Denken ist in vieler Beziehung - das ist wieder keine Kritik, sondern eine Charakteristik -, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, aber er ist treffend, eben einfach schlampig. Das heutige Denken insbesondere in der landläufigen Wissenschaft ist fast durchweg so, wie wenn man sagen würde, die Lokomotive hat die Aufgabe, die Schienen kaputt zu machen. Denn, was in der heutigen Wissenschaft meistens gesagt wird über das eine oder das andere, das ist von dieser Qualität. Es ist von der Qualität, mit der man eben nicht auskommen wird, wenn man einen der Menschheit heilsamen Zustand für die Zu­kunft herbeiführen will. Und der kann ja im Zeitalter der Bewußt­seinsseele nur in voller Bewußtheit herbeigeführt werden.

Man muß es immer wieder betonen, daß dies eine tiefe Zeitwahrheit ist. Man hört es ja immer wieder und wieder, daß da oder dort Leute auftauchen, welche aus einer scheinbar tiefbegründeten Weisheit heraus die einen oder die anderen sozialwirtschaftlichen Vorschläge machen, immer aus dem Bewußtsein heraus, daß man heute noch sozialwirt­schaftliche Vorschläge machen kann ohne die Zuhilfenahme der Geistes­wissenschaft. Nur derjenige denkt heute zeitgemäß, der da weiß, daß alles, was versucht wird zu sagen über irgendeine soziale Konfigura­tion der Menschheit gegen die Zukunft hin, ohne die Grundlage der Geisteswissenschaft Quacksalberei ist. Nur der, der dieses voll erfaßt, der denkt zeitgemäß. Wer heute noch hört auf allerlei Professoren-weisheiten aus der Sozial-Ökonomie, die auf dem Boden einer geist­losen Wissenschaft stehen, der verschläft seine Zeit.

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Diese Kräfte, von denen man sprechen muß als den Kräften des To­des, sie haben das menschliche Leibeswesen schon früher erfaßt. Wie, das können Sie aus meiner «Geheimwissenschaft» entnehmen. In das seelische Wesen haben sie sich da erst hineingefunden. Der Mensch muß für den Rest der Erdenentwickelung diese Kräfte des Todes in sein eigenes Wesen aufnehmen, und sie werden im Verlauf des gegen­wärtigen Zeitraumes in ihm so wirken, daß er die Fähigkeit der Be­wußtseinsseele in sich zum vollen Ausdruck, zur vollen Offenbarung bringt.

Indem ich so gefragt habe und so gesprochen habe über das Myste­rium des Todes, das heißt über die Kräfte, die im Weltenall wirksam sind als den Menschen den Tod bringende Kräfte, kann ich auch in einer gleichen methodischen Weise hindeuten auf die Kräfte des Bösen. Auch diese Kräfte des Bösen, sie sind nicht solche, von denen man sagen kann, sie bewirken innerhalb der menschlichen Ordnung die bösen Handlungen. Das ist wiederum nur eine Nebenwirkung. Wenn es die Kräfte des Todes nicht gäbe im Weltenall, so würde der Mensch die Bewußtseinsseele nicht entwickeln können, er würde nicht entgegen­nehmen können in seiner weiteren Erdenentwickelung, so wie er sie entgegennehmen soll, die Kräfte des Geistselbstes, des Lebensgeistes und des Geistesmenschen. Der Mensch muß durch die Bewußtseinsseele gehen, wenn er in seiner Art die Kräfte des Geistselbstes, des Lebens-geistes, des Geistesmenschen aufnehmen will. Dazu muß er die Kräfte des Todes im Laufe des fünften nachatlantischen Zeitraums, also bis in die Mitte des vierten Jahrtausends hinein, vollständig mit seinem eigenen Wesen verbinden. Das kann er. Aber er kann nicht in der gleichen Weise die Kräfte des Bösen mit seinem eigenen Wesen verbinden. Die Kräfte des Bösen sind im Weltenall, im Kosmos so geartet, daß der Mensch sie in seiner Entwickelung erst während der Jupiterperiode so aufnehmen kann, wie er jetzt die Kräfte des Todes aufnimmt. Man kann also sagen: Mit einer geringeren Intensität, bloß einen Teil seines Wesens ergreifend, wirken die Kräfte des Bösen auf den Menschen. -Will man eindringen in das Wesen dieser Kräfte des Bösen, dann darf man nicht auf die äußeren Folgen dieser Kräfte sehen, sondern dann muß man das Wesen des Bösen da aufsuchen, wo es in seiner eigenen

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Wesenheit vorhanden ist, wo es so wirkt, wie es wirken muß, weil die Kräfte, die als das Böse im Weltenall figurieren, auch in den Men­schen hereinspielen. Und da beginnt eben das, was man nur mit einer tiefen Bewegung sagen kann, was man nur sagen kann, wenn man zugleich die Voraussetzung erhebt, daß diese Dinge wirklich mit dem allertiefsten Ernste aufgenommen werden. Wenn man das Böse im Menschen suchen will, so muß man es suchen nicht in den bösen Hand­lungen, die innerhalb der menschlichen Gesellschaft vollzogen werden, sondern man muß es suchen in den bösen Neigungen, in den Neigun­gen zum Bösen. Man muß zunächst ganz abstrahieren, ganz absehen von den Folgen dieser Neigungen, die bei dem einen Menschen mehr oder weniger eintreten, man muß den Blick hinrichten auf die bösen Neigungen. Und dann kann man fragen: Bei welchen Menschen wirken die bösen Neigungen innerhalb der fünften nachatlantischen Periode, in der wir drinnen stehen, jene Neigungen, die, wenn sie in ihrer Neben­wirkung zum Ausdrucke kommen, eben in den bösen Handlungen so anschaulich sich darleben, bei welchen Menschen wirken die bösen Neigungen?

Ja, die Antwort darauf bekommt man, wenn man versucht, über die sogenannte Schwelle des Hüters zu gehen und das menschliche We­sen wirklich kennenzulernen. Da ergibt sich die Antwort auf diese Frage. Und die Antwort lautet: Bei allen Menschen liegen im Unter­bewußtsein seit dem Beginne der fünften nachatlantischen Periode die bösen Neigungen, die Neigungen zum Bösen. - Ja, gerade darinnen besteht das Eintreten des Menschen in die fünfte nachatlantische Pe­riode, in die neuzeitliche Kulturperiode, daß er in sich aufnimmt die Neigungen zum Bösen. Radikal, aber sehr richtig gesprochen kann fol­gendes zum Ausdrucke gebracht werden: Derjenige, der die Schwelle zur geistigen Welt überschreitet, der macht die folgende Erfahrung:

Es gibt kein Verbrechen in der Welt, zu dem nicht jeder Mensch in seinem Unterbewußtsein, insofern er ein Angehöriger der fünften nach-atlantischen Periode ist, die Neigung hat. Die Neigung hat; ob in dem einen oder in dem anderen Fall die Neigung zum Bösen äußerlich zu einer bösen Handlung führt, das hängt von ganz anderen Verhält­nissen ab als von dieser Neigung. Sie sehen, bequeme Wahrheiten hat

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man nicht zu sagen, wenn man heute eben ungeschminkt der Mensch­heit die Wahrheit sagen muß.

Um so mehr taucht dann die Frage auf: Ja, was wollen diese Kräfte, die im Menschen die bösen Neigungen bewirken, was wollen diese Kräfte denn eigentlich im Weltenall, indem sie zunächst in die mensch­liche Wesenheit hineinträufeln, indem sie in die menschliche Wesenheit hineinfließen? Was wollen diese Kräfte? - Sie sind wahrhaftig im Wel­tenall nicht dazu da, um böse Handlungen in der menschlichen Gesell­schaft herbeizuführen. Diese führen jene Kräfte aus solchen Gründen herbei, die wir noch besprechen wollen. Sie sind, ebensowenig wie die Kräfte des Todes dazu da sind, den Menschen nur sterben zu machen, im Weltenall nicht vorhanden, diese Kräfte des Bösen, um den Men­schen zu verbrecherischen Handlungen zu führen, sondern sie sind im Weltenall dazu vorhanden, um, wenn der Mensch aufgerufen ist zur Bewußtseinsseele, in ihm die Neigung hervorzurufen, das geistige Leben so zu empfangen, wie wir es gestern zum Beispiel und schon das vorige Mal charakterisiert haben.

Im Weltenall walten diese Kräfte des Bösen. Der Mensch muß sie aufnehmen. Indem er sie aufnimmt, pflanzt er in sich den Keim, das spirituelle Leben überhaupt mit der Bewußtseinsseele zu erleben. Sie sind also wahrhaftig nicht da, diese Kräfte, die durch die menschliche soziale Ordnung verkehrt werden, sie sind wahrhaftig nicht da, um böse Handlungen hervorzurufen, sondern sie sind gerade dazu da, da­mit der Mensch auf der Stufe der Bewußtseinsseele zum geistigen Leben durchbrechen kann. Würde der Mensch nicht aufnehmen jene Neigun­gen zum Bösen, von denen ich eben gesprochen habe, so würde der Mensch nicht dazu kommen, aus seiner Bewußtseinsseele heraus den Impuls zu haben, den Geist, der von jetzt ab befruchten muß alles übrige Kulturelle, wenn es nicht tot sein will, den Geist aus dem Weltenall entgegenzunehmen. Und wir tun am besten, wenn wir zu­nächst einmal hinsehen auf das, was werden soll aus jenen Kräften, die uns in ihrer Karikatur entgegentreten in den bösen Handlungen der Menschen; wenn wir uns fragen, was unter dem Einfluß dieser Kräfte, die zu gleicher Zeit die Kräfte für die bösen Neigungen sind, in der Entwickelung der Menschheit geschehen soll.

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Sehen Sie, wenn man von diesen Dingen spricht, dann muß man sehr nahe an den Nerv der Menschheitsentwickelung herangehen. Alle diese Dinge hängen ja zu gleicher Zeit mit den Verhänguissen zusam­men, die in der Gegenwart die Menschheit getroffen haben. Denn die Verhängnisse, die in der Gegenwart die Menschheit getroffen haben und noch treffen werden, die sind ja nur ein Wetterleuchten für ganz andere Dinge, die über die Menschheit kommen sollen; ein Wetter-leuchten, das heute oftmals das Gegenteil von dem zeigt, was da kom­men soll. Nicht zum Pessimismus ist aus allen diesen Dingen heraus ein Anlaß, wohl aber zum tatkräftigen Impulse, zum Aufwachen. Nicht zum Pessimismus, sondern zum Aufwachen ist Anlaß vorhanden. Alle diese Dinge werden nicht gesagt, um Pessimismus zu erzeugen, sondern um Aufwachen zu bewirken.

Wenn wir von einer konkreten Erscheinung ausgehen, dann kom­men wir vielleicht am besten zu unserem Ziel. Sehen Sie, ich habe schon gestern gesagt: Ein wesentlicher Impuls in der Entwickelung der Menschheit im Zeitalter der Bewußtseinsseele muß das Wachsen des Interesses von Mensch zu Mensch in der gestern geschilderten Weise sein. Das Interesse, das der eine Mensch an dem andern nimmt, das muß immer größer und größer werden. Dieses Interesse muß wachsen für den Rest der Erdenentwickelung, und es muß wachsen namentlich auf vier Gebieten, kann man sagen. Das erste Gebiet ist, daß der Mensch, indem er sich gegen die Zukunft hin entwickelt, in einer immer anderen und anderen Weise seine Mitmenschen sehen wird. Heute ist der Mensch, trotzdem er schon etwas mehr als ein Fünftel des Zeit­alters der Bewußtseinsseele durchgemacht hat, noch wenig geneigt, seinen Mitmenschen so zu sehen, wie er ihn sehen lernen muß im Laufe des Zeitalters der Bewußtseinsseele, bis in das vierte Jahrtausend her­ein. Die Menschen sehen einander heute noch so, daß sie über das Aller­wichtigste hinwegschauen, daß sie eigentlich keinen Blick für den an­deren Menschen haben. In dieser Beziehung haben die Menschen noch nicht voll ausgenützt, was in den Seelen bisher durch die verschiedenen Inkarnationen heranerzogen ist durch die Kunst. An der Entwickelung der Kunst kann ja viel gelernt werden, und ich habe da oder dort manche Andeutung gemacht über dieses Lernen von der Entwickelung

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der Kunst. Es ist ja nicht zu leugnen, wenn man einigermaßen Sympto­matologie treibt, wie ich es gefordert habe gerade in diesen Vorträgen, daß das künstlerische Schaffen und Genießen fast auf allen Zweigen des Künstlerischen in einem Verfall ist. Und was alles versucht worden ist gerade in den letzten Jahrzehnten auf künstlerischem Gebiete, muß jedem Empfindenden klar und deutlich zeigen, daß das Künstlerische als solches in einer Verfallsperiode drinnen ist. Das Wichtigste, was von dem Künstlerischen sich weiter fortpflanzen soll in die Entwicke­lung der Menschheit hinein, das ist dasjenige, was die Menschen an 1 Erziehung für gewisse Auffassungsweisen der Zukunft aus dem Künst­lerischen haben können.

Sehen Sie, alle Kunst hat etwas in sich - natürlich verästelt sich jeder Kulturzweig in der verschiedensten Weise und er hat dann alle möglichen Nebenwirkungen -, aber alle Kunst hat etwas in sich, was geeignet ist, zu tieferer, konkreterer Menschenerkenntnis zu führen. Wer sich wirklich vertieft in die künstlerischen Formen, die zum Bei­spiel die Malerei, die Plastik schaffen, oder in das Wesen der inneren Bewegungen, die durch Musik und Dichtung pulsieren, wer sich da hin­ein vertieft, wer Kunst wirklich innerlich erlebt - das tun oftmals die Künstler selber nicht in der heutigen Zeit -,wer Kunst wirklich innerlich erlebt, der durchdringt sich mit etwas, was ihn befähigt, den Menschen nach einer gewissen Richtung, nach der Richtung der menschlichen Bildnatur aufzufassen. Denn das wird es sein, was in diesem Zeitalter der Bewußtseinsseele über die Menschheit kommen muß: den Menschen bildhaft auffassen zu können. Sie haben schon einiges gehört über die Elemente zu diesem bildhaften Auffassen. Sieht man hin auf den Men­schen und sieht sein Haupt, so weist es einen zurück in die Vergangen­heit. Wie der Traum aufgefaßt wird als eine Reminiszenz des äußeren sinnenfälligen Lebens und dadurch seine Signatur erhält, so wird für den, der die Dinge der Wirklichkeit durchschaut, alles äußere Sinnen-fällige wiederum Bild eines Geistigen. Das geistige Urbild des Men­schen müssen wir durchschauen lernen durch seine Bildnatur. Durch­sichtig gewissermaßen wird gegen die Zukunft hin der Mensch dem Menschen werden. Wie das Haupt geformt ist, wie der Mensch geht, wird mit anderem innerem Anteil und mit anderem innerem Interesse

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geschaut werden, als es heute noch in den menschlichen Neigungen liegt. Denn man wird den Menschen nur dann seinem Ich nach glauben kennenzulernen, wenn man eine solche Auffassung von seiner Bild­natur hat, wenn man mit dem Grundgefühl vor den Menschen hin­treten kann, daß sich dasjenige, was die äußeren physischen Augen vom Menschen sehen, zu des Menschen wahrer geistig-übersinnlicher Wirklichkeit verhält wie das Bild, das auf die Leinwand gemalt ist, zu der Wirklichkeit, die es wiedergibt. Dieses Grundgefühl muß sich ausbilden. Man muß dem Menschen nicht so entgegentreten - das muß man lernen -, daß man in ihm nur empfindet den Zusammenhang von Knochen, Muskeln, Blut und so weiter, sondern man muß den Menschen empfinden lernen als das Bild seines ewigen, geistig-über­sinnlichen Wesens. Da geht der Mensch an uns vorüber, und wir wür­den nicht glauben ihn zu erkennen, wenn dasjenige, was an uns vor-übergeht, in uns nicht den Hinblick auferweckte auf das, was er als ein ewiger, übersinnlich-geistiger Mensch ist. So wird man den Men­schen sehen. Und man wird den Menschen so sehen können. Denn dasjenige, was man so sehen wird an dem Menschen, wenn man die menschlichen Formen und die menschlichen Bewegungen und alles, was damit zusammenhängt, als Bild des Ewigen erfassen wird, das wird einem warm oder kalt machen, das wird einem mit innerer Wärme oder mit innerer Kälte nach und nach erfüllen müssen, und man wird durch die Welt wandeln, indem man die Menschen sehr intim kennenlernt. Der eine wird einem warm, der andere wird einem kalt machen. Am schlimmsten werden die Leute daran sein, die einem weder warm noch kalt machen. Man wird ein innerliches Erlebnis haben im Wärme-äther, der einen durchdringt im Ätherleib. Das wird der Reflex sein des gesteigerten Interesses, das von Mensch zu Mensch entwickelt wer­den muß.

Ein zweites muß noch paradoxere Empfindungen in dem Menschen der Gegenwart hervorrufen, der ganz und gar keine Neigung hat, solche Dinge schon aufzunehmen, aber vielleicht wird sich gerade aus dieser Antipathie in nicht gar zu ferner Zeit die Sympathie für das Richtige stark entwickeln. Ein zweites ist: Die Menschen werden sich ganz anders verstehen. Vor allen Dingen werden die beiden Jahrtausende,

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die noch verfließen werden bis zum Ende dieses fünften nach-atlantischen Zeitraums dazu dienen. Allerdings werden die beiden Jahrtausende nicht ausreichen, es wird das, was ich jetzt sage, etwas länger dauern, es wird sich noch hineinerstrecken in den sechsten nach-atlantischen Zeitraum; aber es wird sich dann zu jener Ich-Erkenntnis, von der ich eben gesprochen habe, noch eine besondere Fähigkeit ent­wickeln: am Menschen zu spüren, zu erfassen, indem wir ihm entgegen­treten, seine Beziehung zu der dritten Hierarchie, seine Beziehung zu den Angeloi, Archangeloi und Archai. Und dies wird sich dadurch ent­wickeln, daß man immer mehr und mehr erkennen wird, wie die Menschheit in einer anderen Weise, als das gegenwärtig der Fall ist, sich zur Sprache verhalten wird. Die Sprachentwickelung hat ja ihren Höhepunkt bereits überschritten. Das konnten Sie aus dem entnehmen, was ich gerade in den Vorträgen dieses Herbstes Ihnen vorgebracht habe. Die Sprachentwickelung hat ihren Höhepunkt überschritten. Die Sprache ist in Wirklichkeit schon etwas Abstraktes geworden. Und es geht gegenwärtig nur eine Welle tiefster Unwahrhaftigkeit über die ganze Erde hin, indem Ordnungen in der Menschheit angestrebt wer­den, die irgend etwas zu tun haben sollen mit den Sprachen der Völ­ker, denn die Menschen haben nicht mehr das Verhältnis zur Sprache, das durch die Sprache hindurch auf den Menschen sieht, das durch die Sprache hindurchsieht auf das Wesen des Menschen.

Ich habe dasjenige, was so ein Ansatz sein kann, um zum Verständ­nis dieser Sache zu kommen, bei verschiedenen Anlässen aus einem Beispiel heraus angeführt. Ich habe es auch neulich im öffentlichen Vortrag in Zürich wiederum angeführt, weil es gut ist, diese Dinge heute auch schon vor ein öffentliches Publikum zu bringen. Aber hier habe ich ja schon darauf aufmerksam gemacht, wie überraschend es ist, wenn man Aufsätze über Geschichtsmethode von Herman Grimm, der so ganz in deutsch-mitteleuropäischer Bildung im 19. Jahrhundert drinnenstand, vergleicht mit Aufsätzen über Geschichtsmethode von Woodrow Wilson. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß ich dieses Experiment sehr gewissenhaft durchgeführt habe, und daß die Mög­lichkeit vorhanden ist, daß man gewisse Sätze von Woodrow Wilson einfach herübernimmt und in Aufsätze von Herman Grimm hineinstellt,

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denn sie smd fast gleichlautend mit Sätzen in Aufsätzen von Herman Grimm. Und wiederum könnte man ganze Sätze über Ge­schichtsmethodologie von Herman Grimm hinübersetzen in dasjenige, was über Geschichtsmethodologie Woodrow Wilson gesprochen und dann hat drucken lassen. Und dennoch, es ist ein radikaler Unterschied zwischen beiden. Das merkt man, wenn man liest nicht dem Inhalte nach, denn der Inhalt als solcher, wortwörtlich genommen, wird im­mer weniger bedeutend sein für die Menschheit, insofern sie sich der Zukunft entgegenentwickelt. Bei Herman Grimm ist alles, selbst das­jenige, mit dem man nicht einverstanden sein kann, unmittelbar von ihm erkämpft, Satz für Satz, Stufe für Stufe erkämpft, bei Woodrow Wilson wie von seinem eigenen inneren Dämon, von dem er in seinem Unterbewußtsein besessen ist, herauf eingegeben in sein Bewußtsein. Auf diesen Ursprung kommt es an, auf die Entstehung unmittelbar an der Oberfläche des Bewußtseins in dem einen Fall, und auf die Eingebungen eines Dämons aus dem Unterbewußtsein herauf in das Be­wußtsein in dem anderen Fall. So daß man sagen muß: Dasjenige, was von Wilsons Seite kommt, ist aus einer gewissen Besessenheit heraus.

Diese Erkenntnis, ich führe sie als Beispiel an, um Ihnen zu zeigen, daß es heute nicht mehr ankommt auf das wortwörtliche Überein­stimmen. Ich empfinde es immer mit ungeheurer Wehmut, wenn mir Freunde unserer Sache von diesem oder jenem Pastor oder diesem oder jenem Professor Dinge bringen und sagen: Das klingt ja ganz anthroposophisch. - Sehen Sie einmal nach, wie anthroposophisch das klingt! In dem Kulturzeitalter, in dem wir heute stehen, kann selbst ein Professor, der politisiert, auch an einer wichtigen Stelle Dinge schreiben, die natürlich wortwörtlich übereinstimmen mit dem, was der Wirklichkeitserkenntnis der Zeit gemäß ist. Aber auf das Wort-wörtliche kommt es nicht an, sondern darauf kommt es an, in welcher Region der Menschenseele die Dinge entspringen. Es kommt darauf an, durch die Sprache hindurchzusehen auf die Region, in der die Dinge entspringen. Alles, was hier gesagt wird, wird nicht bloß gesagt, um bestimmte Sätze zu formulieren, sondern auf das Wie kommt es an; darauf kommt es an, daß es durchströmt ist von jener Kraft, die unmittelbar aus dem Geiste heraus genommen ist. Und wer ein wortwörtliches

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Übereinstimmen nimmt, ohne zu fühlen, wie die Dinge aus dem Geistquell heraus sind und wie sie durchdrungen sind von diesem Geistquell dadurch, daß sie in den ganzen Zusammenhang der anthroposophischen Weltanschauung hineingestellt sind, wer auf dieses Wie nicht achten kann, der verkennt, was hier gemeint ist, wenn er die wortwörtliche Angabe mit jeder beliebigen äußeren Weisheit heute irgendwie identifizieren will.

Es ist ja natürlich nicht gerade bequem, auf solche Beispiele hinzu­weisen, weil eben die menschlichen Neigungen heute vielfach nach dem Gegenteil gehen. Allein es ist ja schon einmal eine Verpflichtung, da, wo man im Ernste spricht, wo man durch das Sprechen nicht nur eine Art Beruhigungsmittel, eine Art gutes Kulturschlafmittel hervor­rufen will, da ist es schon notwendig, daß man nicht zurückschreckt' auch solche Beispiele zu wählen, die heute so vielen Menschen unan­genehm sind. Denn die Menschen, die im Ernste sprechen, sollten sich heute auch anhören können' was es im Grunde genommen für die Welt bedeutet, wenn sie nicht darauf achten, daß die Welt das Schick­sal treffen soll, von einem schwachsinnigen amerikanischen Professor ihre Ordnung herrichten zu lassen! Bequem ist es ja heute nicht, über die Dinge der Wirklichkeit zu sprechen, weil manchen Leuten oftmals eben das Gegenteil bequem und angenehm ist. Man spricht ja ohnedies nur über die Dinge der Wirklichkeit auf denjenigen Gebieten, auf denen es unbedingt notwendig ist und auf denen es den Menschen schon recht naheliegt, wenigstens naheliegen sollte, die Dinge zu hören.

Durch die Sprache durchsehen, sage ich, das ist es, was über die Menschheit kommen muß. Da werden sich die Menschen aneignen müssen, in der Sprache die Gebärde zu erfassen. Und dieses Zeitalter wird nicht zu Ende gehen - das letzte wird ja allerdings in den nächsten Zeitraum hinüber dauern -, aber das dritte Jahrtausend wird nicht vorübergehen können, ohne daß die Menschen darauf kommen wer­den, nicht so dem Menschen zuzuhören, wenn einer zum andern spricht, wie sie jetzt zuhören; sondern sie werden in der Sprache den Ausdruck dargestellt finden für die Abhängigkeit des Menschen von der dritten Hierarchie, von Angeloi' Archangeloi und Archai, für dasjenige, durch das der Mensch ins Übersinnlich-Geistige hineinragt.

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Das wird dazu führen, daß durch die Sprache hindurch die Seele des Menschen gehört wird. Das gibt natürlich ein ganz anderes soziales Zusammenleben, wenn durch die Sprache hindurch die Seele des Men­schen gehört wird. Und gerade von dem, was die Kräfte des Bösen, des sogenannten Bösen sind, muß viel so umgewandelt werden, daß hingehorcht werden kann auf das, was der Mensch spricht und daß durch die Sprache seine Seele gehört wird. Dann wird den Menschen überkommen, wenn aus der Sprache die Seele gehört wird, ein eigen­tümliches Farbengefühl, und in diesem Farbengefühl der Sprache wer­den sich die Menschen international verstehen lernen. Der eine Laut wird ganz selbstverständlich dieselbe Empfindung hervorrufen wie der Anblick der blauen Farbe oder einer blauen Fläche, der andere Laut wird dieselbe Empfindung hervorrufen wie der Anblick einer roten Farbe. Dasjenige, was man sonst nur als Wärme empfindet, wenn man den Menschen anschaut, wird gewissermaßen Farbe, wenn man dem Menschen zuhört. Und man wird intim miterleben müssen, was auf den Flügeln der Laute von Menschenmund zu Menschenohr tönt. Das kommt an die Menschheit heran.

Das dritte ist, daß die Menschen die Gefühlsäußerungen, die Gefühls­konfigurationen der anderen Menschen auch intim in sich erleben wer­den. Es wird viel durch das Sprechen dabei bewirkt werden. Aber nicht allein durch das Sprechen, sondern wenn ein Mensch dem andern entgegentreten wird, wird er in sich erleben die Gefühlskonfiguration des andern in seinem eigenen Atem. Das Atmen wird sich gegen die Zukunft der Erdenentwickelung hin in der Zeit, von der ich spreche, nach dem Gefühlsleben des anderen Menschen richten, dem wir gegen­überstehen. Der eine wird uns zu schnellerem, der andere zu lang­samerem Atmen veranlassen, und wir werden fühlen, je nachdem wir schneller oder langsamer atmen, mit einem wie gearteten Menschen wir es zu tun haben. Denken Sie, wie sich die soziale Gemeinschaft zusammengliedern will, wie intim das menschliche Zusammenleben werden will! Diese Dinge werden allerdings noch länger dauern; daß dieses Atmen sich eingliedern wird in die Menschenseele, wird über den ganzen sechsten Zeitraum hinübergehen, noch in den siebenten hinein. Und im siebenten Zeitraum wird ein Stückchen von dem erreicht

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werden, was nun das vierte ist. Das ist: Die Menschen werden, indem sie wollend einer Menschheitsgemeinschaft angehören, einander

- verzeihen Sie das harte Wort - verdauen müssen. Indem wir mit dem einen oder mit dem anderen Menschen das eine oder das andere werden wollen müssen oder wollen wollen, werden wir ähnliche innere Erlebnisse haben, wie wir sie heute erst primitiv haben, wenn wir die eine oder die andere Speise essen. Die Menschen werden einander ver­dauen müssen auf dem Gebiete des Wollens. Die Menschen werden einander atmen müssen auf dem Gebiete des Fühlens. Die Menschen e\ werden einander farbig empfinden müssen auf dem Gebiete des Ver­stehens durch die Sprache. Die Menschen werden einander als Ich ken­nenlernen, indem sie sich wirklich anschauen lernen.

Aber alle diese Kräfte werden mehr innerlich-seelisch sein. Denn daß sie sich voll ausbilden, diese Kräfte, dazu wird die Jupiter-, Venus-und Vulkanperiode da sein. Andeutungen von all dem, seelisch-geistige Andeutungen von all dem fordert aber schon die Erdenentwickelung von den Menschen. Und die gegenwärtige Zeit mit ihrer merkwürdigen katastrophalen Entwickelung ist ein Sträuben der Menschheit gegen dasjenige, was mit solchen Dingen kommen soll, wie ich sie jetzt be­sprochen habe. Die Menschheit bäumt sich auf, indem in der Zukunft überwunden werden soll alles soziale Sonderbestreben, bäumt sich heute dagegen auf, gerade indem der billige Grundsatz über die ganze Welt hin geschleudert wird, die Menschen sollen sich nach Nationen gruppieren. Was heute geschieht, das ist ein Aufbäumen gegen den gottgewollten Gang der Menschheitsentwickelung, das ist ein Sich-Zerren zum Gegenteil desjenigen, was doch kommen muß. In diese Dinge muß man hineinschauen, wenn man eine Grundlage gewinnen will für das sogenannte Mysterium des Bösen. Denn das Böse ist viel­fach eine Nebenwirkung desjenigen, was in die Entwickelung der Menschheit hineingreifen muß. Eine Lokomotive, welche, wenn sie ziemlich weithin fahren soll, auf schlechte Schienen kommt, zerstört die Schienen, kommt selber zunächst nicht weiter. Die Menschheit ist in ihrer Entwickelung zu solchen Zielen hin, wie ich es Ihnen geschil­dert habe, und die Aufgabe des Bewußtseinszeitalters ist es, so etwas zu erkennen, daß die Menschheit bewußt solchen Zielen entgegenstreben

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muß. Allein es sind vorläufig recht schlechte Schienen gelegt, und es wird auch noch ziemlich lange dauern, bis bessere Schienen da sein werden, denn man schickt sich vielfach an, die schlechten Schienen durch keineswegs bessere zu ersetzen.

Aber wie Sie sehen, Geisteswissenschaft geht auf etwas ganz anderes hin als auf einen Pessimismus. Geisteswissenschaft geht dahin, für den Menschen wirklich erkennbar zu machen, auf welchem Entwickelungs-wege er eigentlich ist. Aber Geisteswissenschaft erfordert schon einmal, daß man gewisse, heute landläufige Neigungen wenigstens für gewisse Feieraugenblicke des Lebens auch ablegen könne. Daß es so schwierig ist für die Menschen, diese Dinge abzulegen, daß jeder doch gleich wiederum in den Trödel zurückfällt, das macht es außerordentlich schwierig heute, ohne Zurückhaltung über diese Dinge zu reden. Denn man berührt da, und es liegt das in der Natur der Gegenwart, lauter Dinge, mit Bezug auf welche die Menschheit sich heute in Abgründe stürzen will, und man muß fortwährend zum Aufwachen gemahnen.

Ja, mancherlei kann eben nur innerhalb gewisser Grenzen bespro­chen werden. Das bedingt natürlich, daß manches ganz unterlassen wird, oder vielleicht vertagt wird, selbstverständlich. Denn nehmen Sie das Allernächstliegende, und nehmen Sie mir es nicht übel, wenn ich es in der folgenden Weise ausspreche. Es ist mir nahegelegt worden vor acht Tagen, auch etwas über die Symptomatologie der Schweizer Geschichte zu sagen. Ich habe mir während dieser acht Tage die Sache ganz reiflich überlegt, habe sie nach allen Seiten erwogen. Aber würde ich vom 15. Jahrhundert bis jetzt schweizerische Geschichtssympto­matologie als Nichtschweizer hier vor Schweizern entwickeln, ich käme doch heute noch in eine ganz sonderbare Lage. Lassen Sie mich das von einer anderen Seite einmal erläutern. Denken Sie bloß, nun, ich will sagen, im Juli dieses Jahres hätte irgendein Mensch in Deutschland oder gar in Österreich die Ereignisse und Persönlichkeiten und Im­pulse so dargestellt, wie es die Menschen jetzt machen, denken Sie, wie ihm das bekommen wäre, und wie es ihm erst bekommen wäre, wenn er, sagen wir, vor fünf Jahren oder gar fünfzehn oder dreißig Jahren zum Beispiel in Österreich die Verhältnisse von heute hingestellt hätte! So weiß ich, daß ich recht sehr anstoßen würde, wenn ich hier über

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die Schweiz so sprechen würde, wie man in der Schweiz nach zwanzig Jahren über schweizerische Geschichte sprechen wird. Denn heute würde man auch hier verlangen - man kann ja das nicht anders, deshalb sage ich: Nehmen Sie mir das nicht übel, daß ich das so ausspreche -, man kann ja nicht anders, dem nach, was heute so tief in den Seelen sitzt, als nicht hören wollen auf dasjenige, was vom Standpunkt der Zu­kunft gesagt werden muß. Es ist für vieles doch gültig, daß die Leute -wir gehören ja schließlich alle zu den Leuten, nicht wahr - auf vielen Gebieten, besonders auf ihnen recht naheliegenden Gebieten, nicht die Wahrheit hören wollen, sondern Schlafpulver empfangen wollen. Und ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß ich schon anstoßen würde, wenn ich nicht ein Schlafpulver geben würde auf dem Gebiete, das man mir nahegelegt hat. Nach mancherlei, was ich gerade eben mit zuziehen mußte zu meinen Erwägungen, finde ich es als mir recht sehr nahegelegt, diese Dinge vorläufig auf sich beruhen zu lassen. Denn Ur­teile, die jetzt gefällt werden, und mit denen man einigermaßen diffe­rieren würde, die legen es einem schon nahe, wenn man heute gewisse Dinge darstellen will, es so zu machen, wie ich es gestern gemacht habe. Hier in der Schweiz ist es verhältnismäßig harmlos, es kann schon meinetwillen sogar noch als eine bessere Sonntagnachmittagspredigt aufgefaßt werden, wenn man auf die russische Revolution exempli­fiziert, und wenn man da darstellt das Verhältnis des mittleren Bürger­tums zur breiten Masse und der weiter links stehenden, radikalen Ele­mente. Wenn man darauf exemplifiziert, nun, so wird es hier verhält­nismäßig wie eine etwas bessere Sonntagnachmittagspredigt aufge­faßt werden. Das geht also. Und man kann sich dann der, ich will nicht sagen Illusion, sondern der angenehmen Erwartung hingeben, daß es doch in einige Seelen wirklich hineingeht und mehr bewirkt, als was sonst Sonntagnachmittagspredigten bewirken; obwohl ja viel­fach die Erfahrung im Laufe der letzten Jahre auch das Gegenteil in bezug auf wichtige Sachen gezeigt hat. Aber auf das unmittelbar Nahe­liegende zu exemplifizieren, das ist etwas, was eben nicht gerade die Aufgabe sein kann desjenigen, der als Nichtschweizer zu Schweizern sprechen und eine Geschichtsbetrachtung geben würde. Auch als ich eine allgemeine Geschichtsbetrachtung der neueren Zeit gab - ich habe

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sie ja auch in einem öffentlichen Vortrage in Zürich gegeben -, habe ich mich natürlich, obwohl ich nicht zurückgehalten habe, die radikal­sten Konsequenzen, die zu ziehen notwendig sind, wirklich auch an­zugeben, doch innerhalb gewisser Grenzen halten müssen. Denn nicht wahr, es ist ja heute für die meisten Menschen einmal außerordentlich bequem, Woodrow Wilson für einen großen Mann, für einen Welt­beglücker zu halten. Und wenn man demgegenüber die Wahrheit sagen muß, so wirkt diese Wahrheit als etwas Unbequemes, und derjenige, der sie ausspricht, wird als ein Störenfried empfunden. Das ist aber immer so gegangen mit jenen Wahrheiten, die aus dem Quell des über­sinnlichen Lebens heraus geschöpft werden mußten. Nur leben wir eben im Zeitalter der Bewußtseinsseele, und da ist es notwendig, daß gewisse Wahrheiten an die Menschen herangebracht werden sollen.

Es handelt sich wahrhaftig nicht darum, daß man heute immer wie-der und wiederum das außerordentlich Billige wiederholt, die Leute seien nicht zugänglich. Das ist gar keine Frage, die wir uns stellen sollen, ob die Leute zugänglich seien oder nicht, sondern ob wir das Nötige tun, um wirklich die entsprechenden Wahrheiten, wenn wir dazu Gelegenheit haben, an die Menschen heranzubringen. Und das Nächste ist, daß wir uns über die Aufnahmefähigkeit der Menschheit gegenüber den Wahrheiten keinen Illusionen hingeben, daß wir uns wahrhaftig klar sind darüber, daß die Menschen gerade heute wenig aufnahmefähig sind für dasjenige, was ihnen am allernötigsten ist; geradeso wie sie sich heute versteifen, die Welt so zu ordnen, wie sie gar nicht geordnet werden kann, wenn die Menschheit ihrem entspre­chenden, in unserem Zeitalter liegenden Entwickelungsimpuls nach­geht. Man muß ja auf diesem Gebiete allerdings die herbsten Erfah­rungen machen. Aber man macht sie und nimmt sie auf, nicht mit Grollen, sondern man nimmt sie so auf, daß man von ihnen lernt, wie man es für das eine oder für das andere eben machen soll.

Ich werde auf diese Dinge noch genauer zu sprechen kommen. Sehen Sie, es wäre zum Beispiel außerordentlich schön gewesen, wenn man in Mitteleuropa nur einige Menschen gefunden hätte, die aus gewissen maurerischen Impulsen heraus erkannt hätten, welche Tragweite so etwas hat wie dasjenige, was ich ja auch Ihnen hier entwickelt habe

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vor zwei Jahren in bezug auf gewisse Geheimgesellschaften, die in der Welt existieren. Da aber traf man, selbstverständlich, möchte ich sagen, nur taube Ohren. Denn nichts Unfruchtbareres gab es, als die Stellung der Maurerei innerhalb Mitteleuropas in den letzten Jahrzehnten. Das zeigte sich schon daran, daß immer wieder und wieder betont wurde, daß man auf Widerstand stößt, wenn man sich dagegen wehrt, daß dasjenige, was anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft gibt, irgendwie amalgamiert werde mit mitteleuropäischem Maurertum. Da­gegen trat ein Oberschwätzer auf, der allerlei törichtes, dummes Zeug zusammenschwätzte über Symbolik und dergleichen, der sogenannte Nietzsche-Forscher auch, Horneffer; das wurde in weitesten Kreisen mit einem großen Ernste aufgenommen. Der tiefere Grund von alle­dem liegt ja allerdings darinnen, daß gewisse Anforderungen an die Menschen gestellt werden, wenn sie sich in anthroposophisch orien­tierte Geisteswissenschaft hineinfinden wollen, und daß dies nicht so leicht geht. Sehen Sie, es gibt heute Agitatoren für eine Erneuerung des Geistes, die den Menschen begreiflich machen, sie brauchten sich nur so hinzulegen auf einen Diwan und sich sich selbst zu überlassen; dann wird das höhere Ich und der Gott, und was weiß ich noch alles, im Menschen lebendig, und man braucht nicht so furchtbare Begriffe zu überwinden, wie diese anthroposophisch orientierte Geisteswissen­schaft. Man braucht nur auf sich selber hinzuhorchen und dann sich selber gehenzulassen, dann tritt dieses höhere mystische Ich auf und man fühlt und erfährt den Gott in sich selber.

Ich habe Staatsmänner kennengelernt, die allerdings lieber auf solche Gott-Männer hören, die ihnen also empfehlen, das Ich zu suchen auf bequemere Weise, als auf anthroposophisch orientierte Geisteswissen­schaft hören zu wollen. Ein Freund sagte mir jüngst, einer von diesen Gott-Bringern hätte ihm, als er noch sein Anhänger war, gesagt: Ach, Sie glauben gar nicht, wie dumm ich bin! - Dennoch, derselbe Mann, der dieses Bekenntnis: Sie glauben gar nicht wie dumm ich bin -, abge­legt hat, um dadurch anzuzeigen, daß man keine Gescheitheit braucht, um heute den Menschen die Urquellen der Weisheit zu bringen, der­selbe Mann findet ein breites Publikum oben und unten, allüberall. Denn man hört solche Menschen lieber als diejenigen, die unbequemerweise

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von allem Möglichen reden, wenn sie den Menschen zum Er­fassen der Aufgabe der Bewußtseinsseele bringen wollen, die von einem vierfachen Entwickelungsgang reden, oder gar, daß die Men­schen einander erwärmen sollen, einander färben sollen, einander at­men sollen, einander ganz verdauen sollen. Und um zu so etwas vorzu­dringen, ist es notig eine ganze Reihe von Büchern in sich aufzunehmen

- unbequeme Sache, höchst unbequeme Sache! Aber daß man es als eine unbequeme Sache empfindet, das ist eben zusammenhängend mit dem Impulse unserer katastrophalen Zeit, mit dem Unglück unserer Zeit. Aber auch das ruft nicht zu einem Pessimismus auf, sondern ruft auf zur Kraft, zur Umsetzung der Erkenntnis in Tat. Und das ist es, was nicht oft genug wiederholt werden kann.

Ich überlasse es jedem, nachdem ich gestern die harmlose Exempli­fizierung von dem Saug- und Druckproblem gegeben habe, ein wenig nachzudenken, ob dieses Saug- und Druckproblem nicht doch vielleicht sehr wichtig ist sich zu überlegen. Es könnte sonst sein, daß die Leute sagen: Nun ja, in Rußland hat das Bürgertum den Anschluß an das Bauerntum nicht gefunden, aber wir haben es gut, bei uns werden sich Bürger und Bauern zusammentun, dann wird es schon gehen mit dem Sozialismus. - Man bedenkt gar nicht, daß das natürlich zahlreiche Leute auch in Rußland gesagt haben, und daß es daran gerade liegt, daß sie es dort gesagt haben.

Nun, wir werden morgen weiter davon sprechen.

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SECHSTER VORTRAG Dornach, 27. Oktober 1918

Ich habe Ihnen aus den verschiedensten Gesichtspunkten heraus über dasjenige gesprochen, was Impuls ist oder Impulse sind innerhalb des fünften nachatlantischen Kulturzeitraums. Sie ahnen - denn selbstver­ständlich konnte ich bisher nur einiges von diesen Impulsen Ihnen hier vor das Seelenauge führen - daß es viele solche Impulse gibt, die man versuchen kann aufzugreifen, um gewissermaßen die Entwickelungs-strömung der Menschheit in unserem Zeitalter zu erfassen. Ich habe dann vor, von den Impulsen, die seit dem 15. Jahrhundert innerhalb der zivilisierten Welt wirkten, in den nächsten drei Vorträgen noch insbesondere herauszugreifen die religiösen Impulse, so daß ich ver­suchen werde, eine Art Religionsgeschichte hier vor Ihnen zu ent­wickeln.

Heute möchte ich episodisch etwas besprechen, was vielleicht der eine oder der andere unnötig finden könnte, das mir aber doch nahe-liegt zu besprechen aus dem Grunde, weil es für das persönliche Dabei­sein bei den Impulsen des gegenwärtigen Entwickelungszeitraumes der Menschheit doch auch von der einen oder anderen Seite her eine Wich­tigkeit haben könnte. Ich möchte ausgehen von der Tatsache, daß sich mir persönlich in einem gewissen Zeitpunkte die Notwendigkeit er­gab, die Impulse der Gegenwart zu ergreifen in den Ausführungen, die ich gegeben habe in meiner «Philosophie der Freiheit».

Sie wissen vielleicht, daß diese «Philosophie der Freiheit» vor fünf­undzwanzig Jahren, also vor einem Vierteljahrhundert, erschienen ist, und daß sie jetzt eben ihre zweite Auflage erfahren hat. Die «Philo­sophie der Freiheit» schrieb ich, im Vollbewußtsein, aus der Zeit her­aus zu schreiben, im Beginne der neunziger Jahre des vorigen Jahr­hunderts. Wer damals die Art Vorrede gelesen hat, die ich geschrieben habe, wird fühlen, wie dieses Bestreben, aus dem Impulse der Zeit her­aus zu schreiben, dazumal durch meine Seele zog. Ich habe diese Vor­rede als zweiten Anhang diesmal ganz an den Schluß gesetzt. Selbst­verständlich, wenn ein Buch nach einem Vierteljahrhundert wiedererscheint,

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so sind mancherlei andere Bedingungen eingetreten; aber ich wollte aus gewissen Gründen auch gar nichts unterdrücken von dem, was in der ersten Auflage dieses Buches gestanden hat.

Ich schrieb dazumal gewissermaßen als Devise meiner «Philosophie der Freiheit»: «Nur die Wahrheit kann uns Sicherheit bringen im Ent­wickeln unserer individuellen Kräfte. Wer von Zweifeln gequält ist, dessen Kräfte sind gelähmt. In einer Welt, die ihm rätselhaft ist, kann er kein Ziel seines Schaffens finden.» Diese Schrift «soll nicht Weg zur Wahrheit führen, aber sie soll von dem­jenigen erzählen, den einer eingeschlagen hat, dem es um Wahrheit zu tun ist.»

Ich war, als ich daranging, diese «Philosophie der Freiheit» zu schreiben, die in ihren Grundzügen aber schon seit einigen Jahren in meinem Kopfe fertig war, kurze Zeit in Weimar, das heißt, die Zeit zwischen meiner Ankunft in Weimar und dem Niederschreiben der «Philosophie der Freiheit» war noch eine kurze, im ganzen war ich ja sieben Jahre in Weimar. Ich war eigentlich schon mit den Ideen dieser «Philosophie der Freiheit» nach Weimar hingegangen. Wer da will, kann, ich möchte sagen, das ganze Programm dieser «Philosophie der Freiheit» in dem letzten Kapitel meiner kleinen Schrift «Wahrheit und Wissenschaft» finden, die ja auch meine Dissertation war. Aber in der Dissertation fehlte - selbstverständlich ließ ich es da für die Dissertation weg - dieses letzte Kapitel, welches das Programm der «Philosophie der Freiheit» enthält.

Im Grunde genommen hatte sich mir die Idee zur «Philosophie der Freiheit» gebildet beim Durchgehen, das ich ja seit langen Jahren zu pflegen hatte, durch die Goethesche Weltanschauung. Dieses Durch­gehen der Goetheschen Weltanschauung und meine Publikationen auf dem Gebiete der Goetheschen Weltanschauung führten ja auch dazu, daß ich dann nach Weimar gerufen wurde zur Herausgabe und Mit­arbeit an der großen Goethe-Ausgabe, die vom Ende der achtziger Jahre an inauguriert worden war durch das Goethe-Archiv in Weimar, das die Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar eingerichtet hatte.

Dasjenige, was man in Weimar dazumal erleben konnte - verzeihen Sie, wenn ich einige Nuancen persönlicher Art heute gebe, denn ich

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möchte eben, wie gesagt, die persönliche Anteilnahme an den Impulsen des fünften nachatlantischen Zeitraums charakterisieren - war so, daß eigentlich gerade dazumal in den neunziger Jahren des vorigen Jahr­hunderts in Weimar wie durcheinanderzogen die guten Traditionen einer reifen, bedeutungsvollen, inhaltsvollen Kultur, die sich anschloß an dasjenige, was ich Goetheanismus nennen möchte, und in dieses traditionelle Goetheanische hinein spielte dazumal in Weimar das­jenige, was übernommen worden war aus der Liszt-Zeit. Es war dazu­mal auch schon hineinspielend - da Weimar ja immer durch seine Kunstakademie Kunststadt geblieben ist - dasjenige, was geeignet ge­wesen wäre, wenn es nicht überströmt worden wäre von etwas ande­rem, wichtige Anregungen weitgehendster Art zu geben. Denn das Alte kann ja nur dann in gedeihlicher Weise sich fortentwickeln, wenn das Neue hineinströmt und es befruchtet. So daß neben dem Goethe­anismus, der ja allerdings ein wenig mumienhaft im Goethe-Archiv sich verkörperte, das schadete aber nichts, man konnte ihn beleben, und ich habe ihn nur immer lebendig aufgefaßt, ein modernes Leben auf künstlerischem Gebiete sich entwickelte. Die Maler, die dort lebten, sie hatten alle gewisse Impulse neuester Art. Denjenigen, denen ich nahetrat, war allen anzumerken, welch tiefgehenden Einfluß ein neuer künstlerischer Impuls hatte, wie er zum Beispiel in dem Grafen Leopold von Kalckreuth lebte, der dazumal eine allerdings allzu kurze Zeit gerade das künstlerische Leben von Weimar in einer außerordentlichen Weise befruchtet hat. Es war im Weimarischen Theater auch noch das­jenige vorhanden, was ausgezeichnete, gute alte Traditionen waren. Wenn auch da oder dort das Philistertum hineinmurkste, es waren doch gute alte Traditionen da. Es war dasjenige, was man schon nen­nen kann eine Art Milieu, in dem gewissermaßen ein Zusammenströ­men von allem Möglichen sich abspielte.

Dazu kam dann eben gerade das Leben durch das Goethe-Archiv, das später erweitert wurde zu dem Goethe- und Schiller-Archiv. Dieses Leben im Goethe-Archiv war ein solches, daß trotz aller philologischen Unterlagen, die ja dem Geiste der Zeit nach, und namentlich dem Schererschen Geiste nach, der Arbeit im Goethe-Archiv zugrunde lag, daß trotz dieser philologischen Grundlage sich doch ein gewisses reges

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Hineinleben in bessere Impulse der neueren Zeit geltend machen ließ, vor allen Dingen dadurch, daß gewissermaßen durch das Goethe-Archiv alles strömte an internationaler Gelehrsamkeit. Und wenn auch unter den internationalen Gelehrten, die da kamen von Rußland, von Norwegen, von Holland, von Italien, von England, von Frank­reich, von Amerika, manches war, was ihnen gewissermaßen schon als das Üble des gegenwärtigen Zeitalters an den Rockschößen anhaftete, so war doch auch immer die Möglichkeit vorhanden, das Abfärben des Besseren gerade an diesem internationalen Gelehrtenpublikum innerhalb Weimars namentlich in jener Zeit, den neunziger Jahren, zu erleben. Man konnte alles mögliche erleben, von jenem amerikanischen Professor, der eine eingehende, sehr interessante Studie über den «Faust» bei uns machte, an den ich mich noch lebhaft erinnere, wie er da saß auf dem Fußboden, die beiden Beine übereinander verschränkt, auf dem Fußboden, weil er das bequemer fand, so neben dem Bücher­regal zu sitzen und alles gleich herausfischen zu können' ohne erst zum Stuhl gehen zu müssen, von diesem Professor bis zum Beispiel zu dem polternden Treitschke, den ich einmal bei einem Mittagsmahl traf und der - man mußte ihm ja alles auf Zettel schreiben, weil er nicht hörte -von mir zu wissen verlangte, woher ich käme. Und als ich ihm ant­wortete, daß ich aus Österreich käme, sagte er darauf gleich, in seiner Art charakterisierend - man weiß, wie man Treitschkes Art zu neh­men hat -: Nun, aus Österreich kommen entweder sehr gescheite Leute oder Schufte! - Man hatte nun die Wahl, entweder zu dem einen oder zu dem andern sich zu rechnen. Aber ich könnte Ihnen unendliche Variationen dieses Themas des Hereinspielens des Internationalen in das Weimarische Getriebe hier vorerzählen.

Manches lernte man auch dadurch recht genau kennen, daß ja auch Leute kamen, die bloß mehr oder weniger eben anschauen wollten, was sich erhalten hat, was geblieben war aus der Goethe-Zeit. Es kamen auch andere Leute, bei denen man ein reges Interesse hatte namentlich für die Art und Weise, wie sie dem Goetheanismus nähertreten wollten und so weiter. Man braucht nur zu erwähnen, daß in Weimar ja auch Richard Strauß seine Anfänge durchgemacht hat, die er dann so sehr verschlimm-bessert hat. Aber dazumal gehörte er tatsächlich zu denjenigen

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Elementen, bei denen man das musikalische Streben der neue­ren Zeit in der, ich möchte sagen, anmutigsten Weise kennenlernen konnte. Denn Richard Strauß war in seiner Jugend ein reger Geist, und ich gedenke noch mit vieler Liebe an jene Zeit, als Richard Strauß immer wieder und wieder kam und einen der anregenden Sätze auf­gefangen hatte, die in den Gesprächen Goethes mit seinen Zeitgenossen zu finden sind. Die Gespräche Goethes mit seinen Zeitgenossen sind von Woldemar Freiherr von Biedermann herausgegeben. Da sind wirk­lich Goldkörner von Weisheit zu finden. Das alles, um Ihnen das Milieu des damaligen Weimar, insofern ich Anteil nehmen konnte, zu charak­terisieren.

Immerzu kam wiederum eine vornehme Gestalt, bewahrend die Tradition der allerbesten Zeit, ganz abgesehen von allem Fürstlichen, in das Goethe- und Schiller-Archiv, der damalige Großherzog von Weimar, Karl Alexander, der nur als Mensch genommen zu werden brauchte, um ihn lieb zu haben, um ihn zu schätzen. Er war ja auch etwas von einer lebendigen Tradition, denn er war 1818 geboren, hatte also noch vierzehn Jahre hindurch in Weimar die Jugend-, die Knaben-zeiten gemeinschaftlich mit Goethe verlebt. Es war etwas von einem außerordentlichen inneren Charme gerade in dieser Persönlichkeit. Und außerdem konnte man einen wirklich unbegrenzten Respekt gewinnen vor der Art und Weise, wie diese Oranierin, die Großherzogin Sophie von Sachsen, den Goethe-Nachlaß pflegte, wie sie sich widmete allen Einzelheiten, die eingerichtet wurden, um den Goethe-Nachlaß wirk­lich zu pflegen. Daß später an die Spitze der Goethe-Gesellschaft ein gewesener Finanzminister gerufen worden ist, das lag ganz gewiß nicht in den Intentionen, die dazumal in Weimar walteten, und ich glaube, daß eine ganz große Anzahl von Nichtphilistern, die schon dazumal auch mit dem verbunden waren, was man Goetheanismus nennt, es ebenso, im Spaße selbstverständlich, ganz freudig begrüßen würden, daß vielleicht doch etwas Symptomatisches in dem Vornamen jenes gewesenen Finanzministers liegt, der jetzt Präsident der Goethe-Gesell­schaft wurde. Er heißt nämlich mit seinem Vornamen Kreuzwendedich.

Nun, recht stark hineingestellt in dieses Milieu, verfaßte ich meine «Philosophie der Freiheit», diese «Philosophie der Freiheit», von der

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ich allerdings glaube, daß sie einen notwendigen Impuls der Gegen­wart erfaßte. Ich rede das nicht aus persönlicher Albernheit, sondern um zu charakterisieren, was ich eigentlich wollte, und was ich auch heute noch wollen muß mit dieser «Philosophie der Freiheit». Ich schrieb diese «Philosophie der Freiheit», um auf der einen Seite die Idee der Freiheit, den Impuls der Freiheit, der im wesentlichen der Impuls des fünften nachatlantischen Zeitalters sein muß - er muß sich herausentwickeln aus den mancherlei anderen versplitterten Impulsen, rein vor die Menschheit hinzustellen. Dazu war ein Doppeltes not­wendig. Erstens war notwendig, den Impuls der Freiheit stark zu ver­ankern in dem, was man wissenschaftliche Begründung einer solchen Sache nennen kann. Daher ist der erste Teil meiner «Philosophie der Freiheit» derjenige, welchen ich überschrieben habe «Wissenschaft der Freiheit». Selbstverständlich war dieser Teil «Wissenschaft der Frei­heit» für viele etwas Abstoßendes, etwas Unbequemes, denn nun sollte man sich zu dem Impuls der Freiheit hinbequemen in der Art, daß man ihn solid verankert fühlen soll in streng wissenschaftlichen Be­trachtungen, die allerdings auf der Freiheit des Gedankens fußten, die nicht verankert waren in demjenigen, was oftmals heute als naturwissenschaftlicher Monismus sich geltend macht. Es hat vielleicht dieser Abschnitt « Wissenschaft der Freiheit» einen kampfartigen Charakter. Der ist zu erklären aus der ganzen Geistesstimmung der damaligen Zeit heraus. Auseinanderzusetzen hatte ich mich mit der Philosophie des 19. Jahrhunderts, mit dem, was die Philosophie des 19. Jahrhun­derts über die Welt gedacht hatte. Denn ich wollte den Freiheitsbegriff als Weltbegriff entwickeln, wollte zeigen, daß nur derjenige die Frei­heit verstehen kann und sie auch nur in der richtigen Weise erfühlen kann, der einen Sinn dafür hat, daß im menschlichen Inneren sich nicht etwas abspielt, was nur irdisch ist, sondern daß der große kosmische Weltprozeß hindurchflutet durch das menschliche Innere und aufgefaßt werden kann im menschlichen Inneren. Und nur, wenn dieser große kosmische Weltprozeß im menschlichen Inneren aufgefangen wird, wenn er im menschlichen Inneren durchlebt wird, dann ist es möglich, durch eine Erfassung des menschlichen Innersten als etwas Kosmischem zu einer Philosophie der Freiheit zu kommen. Zu einer Philosophie der

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Freiheit kann derjenige nicht kommen, welcher nach der Anleitung der modernen naturwissenschaftlichen Erziehung sein Denken bloß am Gängelbande der äußeren Sinnenfälligkeit hinführen will. Das ist ge­rade das Tragische in unserer Zeit, daß die Menschen überall auf unsern Hochschulen dazu erzogen werden, ihr Denken am Gängel­bande der äußeren Sinnlichkeit zu führen. Dadurch sind wir in ein Zeitalter hineingeraten, welches mehr oder weniger hilflos ist in allen ethischen, sozialen und politischen Fragen. Denn nimmermehr wird dasjenige Denken, das sich nur am Gängelbande der äußeren Sinnlich­keit führen läßt, in der Lage sein, sich innerlich so zu befreien, daß es zu den Intuitionen aufsteigt, zu denen es aufsteigen muß, wenn dieses Denken sich betätigen will innerhalb der Sphäre des menschlichen Han­delns. Daher ist der Impuls der Freiheit geradezu ausgeschaltet wor­den durch dieses am Gängelbande geführte Denken.

Das war das erste, was natürlich den Zeitgenossen unbequem war an meiner «Philosophie der Freiheit», daß sie sich hätten bequemen müssen, nun wirklich zunächst sich durchzuringen in einem sich selbst in Zucht nehmenden Denken zu einer Wissenschaft von der Freiheit.

Der zweite größere Abschnitt handelt dann von der Wirklichkeit der Freiheit. Da kam es mir darauf an zu zeigen, wie die Freiheit im äußeren Leben sich ausgestalten muß, wie die Freiheit wirklicher Im­puls des menschlichen Handelns, des sozialen Lebens werden kann. Da handelte es sich mir darum zu zeigen, wie der Mensch aufsteigen kann dazu, sich in seinem Handeln wirklich als freier Geist zu fühlen. Und diejenigen Dinge, die ich dazumal schrieb, sie sind, wie ich meine, etwas, was gerade heute, fünfundzwanzig Jahre hinterher, sehr wohl von den Seelen aufgefaßt werden könnte gegenüber dem, was in der äußeren Welt uns entgegentritt.

Das, was ich niedergeschrieben hatte, war zunächst ein ethischer Individualismus. Das heißt, ich hatte zu zeigen, daß der Mensch nim­mermehr frei werden könne, wenn nicht sein Handeln entspringe aus jenen Ideen, die in den Intuitionen der einzelnen menschlichen Indi­vidualität wurzeln. So daß dieser ethische Individualismus als letztes ethisches Entwickelungsziel des Menschen nur anerkannte den soge­nannten freien Geist, der sich herausarbeitet sowohl aus dem Zwang

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der Naturgesetze wie auch aus dem Zwang von allen konventionellen sogenannten Sittengesetzen, der auf dem Vertrauen fußt, daß der Mensch im Zeitalter, in dem das Böse so anrückt in seinen Neigungen, wie ich das gestern charakterisiert habe, in der Lage ist, wenn er sich zu Intui­tionen erhebt, umzuwandeln die bösen Neigungen in dasjenige, was gerade für die Bewußtseinsseele das Gute, das wirklich Menschen­würdige werden soll. So schrieb ich dazumal:

«Erst die hierdurch gewonnenen Gesetze verhalten sich zum mensch­lichen Handeln so wie die Naturgesetze zu einer besonderen Erschei­nung. Sie sind aber durchaus nicht identisch mit den Antrieben, die wir unserem Handeln zugrunde legen. Will man erfassen, wodurch eine Handlung des Menschen dessen sittlichem Wollen entspringt, so muß man zunächst auf das Verhältnis dieses Wollens zu der Hand­lung sehen.»

In mir entsprang eine Idee des freien menschlichen Zusammenlebens, wie ich es Ihnen von einem anderen Gesichtspunkte aus gerade in diesen Tagen hier charakterisiert habe, des freien menschlichen Zusam­menlebens, wo nicht nur der einzelne für sich auf seine Freiheit pocht, sondern wo durch das gegenseitige Verständnis der Menschen im sozia­len Leben die Freiheit als Impuls dieses Lebens auch realisiert werden könnte. So schrieb ich dazumal rückhaltlos:

«Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständ­nisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime der freien Menschen. Sie kennen kein anderes Sollen als dasjenige, mit dem sich ihr Wollen in intuitiven Einklang versetzt; wie sie in einem besonderen Falle wollen werden, das wird ihnen ihr Ideenvermögen sagen.»

Ich hatte selbstverständlich mit diesem ethischen Individualismus den ganzen Kantianismus dazumal wider mich, denn meine kleine Schrift «Wahrheit und Wissenschaft» beginnt in der Vorrede mit dem Satze: Wir müssen über Kant hinaus. - Ich wollte dazumal den Goetheanismuß, der aber der Goetheanismuß vom Ende des 19. Jahrhunderts war, durch die sogenannten Intellektuellen, durch diejenigen, die sich die Intellektuellsten nennen, an das Zeitalter heranbringen. Daß ich damit nicht besondere Erfahrungen gemacht habe, das kann Ihnen ja mein Aufsatz, den ich jüngst im «Reich» geschrieben habe, besonders

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meine Beziehungen zu Eduard von Hartmann, zeigen. Aber wie muß­ten auch diese Zeitgenossen, die nach und nach in das volle Philisterjum hineinzusegeln die Absicht hatten, sich abgestoßen fühlen von einem Satze, der jetzt auf Seite 176 der «Philosophie der Freiheit» steht:

«Wenn Kant von der Pflicht sagt: Pflicht! du erhabener, großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fas­sest, sondern Unterwerfung verlangst, der du ein Gesetz aufstellst. . , vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich im geheimen ihm entgegenwirken, so erwidert der Mensch aus dem Bewußtsein des freien Geistes: Freiheit! du freundlicher, menschlicher Name, der du alles sittlich Beliebte, was mein Menschentum am meisten würdigt, in dir fassest, und mich zu niemandes Diener machst, der du nicht bloß ein Gesetz aufstellst, sondern abwartest, was meine sittliche Liebe selbst als Gesetz erkennen wird, weil sie jedem nur aufgezwungenen Gesetze gegenüber sich unfrei fühlt. »

So im Empirischen die Freiheit zu suchen, die zugleich auf einer solid wissenschaftlichen Grundlage auferbaut sein sollte, das war eigentlich das Bestreben, welches der «Philisophie der Freiheit» zugrunde lag. Freiheit ist dasjenige, was als Wort einzig und allein einen unmittel­baren Wahrheitsklang in unserer Zeit haben kann. Wenn man Freiheit so verstehen würde, wie es dazumal gemeint war, so würde ein ganz anderer Ton hineinkommen in all das, was heute über die Weltordnung über den Erdball hin gesprochen wird. Heute redet man von allen möglichen anderen Sachen. Wir reden von Rechtsfrieden, von Gewaltfrieden und so weiter. Alle diese Dinge sind Schlagworte, weil weder Recht noch Gewalt mit ihren ursprünglichen Bedeutungen noch zusammenhängen. Recht ist heute ein vollständig verworrener Begriff. Freiheit allein wäre dasjenige, welches, wenn es die Zeitgenossen an­genommen hätten, diese Zeitgenossen zu elementaren Impulsen, zur Auffassung der Wirklichkeit hätte bringen können. Würde man statt von den Schlagworten Rechtsfriede, Gewaltfriede einigermaßen auch reden können von Freiheitsfriede, dann würde das Wort durch die Welt rollen, welches in diesem Zeitalter der Bewußtseinsseele einige Sicherheit in die Seelen hineinbringen könnte. Selbstverständlich ist auch dieses zweite größere Kapitel in gewisser Beziehung ein Kampf-Kapitel

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geworden, denn es mußte alles abgewehrt werden, was aus der philiströsen Welt heraus, aus dem billigen Schablonentum heraus, aus der Anbeterei aller möglichen Autoritäten sich gegen diese Auffassung des freien Geistes wenden konnte.

Trotzdem sich nun einzelne Menschen fanden, die gespürt haben, welcher Wind eigentlich durch die «Philosophie der Freiheit» weht, ist es außerordentlich schwierig gewesen und eigentlich gar nicht ge­gangen, irgendwie die Zeitgenossen für das gestimmt zu finden, was in der «Philosophie der Freiheit» geschrieben war. Zwar schrieb dazumal, aber das sind eben vereinzelte Vögel geblieben, ein Mann in der «Frank­furter Zeitung» von diesem Buche: Klar und wahr, das sei die Devise, die man diesem Buche auf die erste Seite schreiben könnte. Aber die Zeitgenossen verstanden wenig von dieser Klarheit und Wahrheit.

Nun fiel dieses Buch - und das hat gar nicht auf seinen Inhalt, wohl aber auf die Tendenz gewirkt, daß der Glaube hätte bestehen können, doch bei einigen Zeitgenossen Verständnis zu finden - hinein in die Zeit, als gerade, man kann schon sagen, durch die ganze zivilisierte Welt dazumal die Nietzsche-Welle ging. Und zwar war dies, was ich jetzt meine, die erste Nietzsche-Welle, jene erste Nietzsche-Welle' wo man verstand, wie durch Nietzsches oftmals gewiß krank wirkenden Geist große, bedeutsame Zeitimpulse hindurch wallten. Und man konnte hoffen, bevor es Leuten wie dem Grafen Keßler oder ähnlichen, auch Nietzsches Schwester im Verein mit solchen Menschen wie etwa dem Berliner Kurt Breysig oder dem schwätzenden Horneffer gelungen ist, das Bild zu verzerren, daß durch die Vorbereitung, welche ein gewisses Publikum durch Nietzsche gefunden hatte, auch solche Frei­heitsideen einigermaßen sich einleben könnten. Allerdings konnte man das nur so lange hoffen, bis durch die angeführten Leute Nietzsche in das moderne Dekadententum, man könnte sagen, in das literarische Gigeritum, Snobtum - ich weiß nicht, wie ich, um verstanden zu wer­den, den Ausdruck wählen soll - hineingesegelt worden ist.

Dann hatte ich ja, nachdem die «Philosophie der Freiheit» geschrie­ben war, zunächst zu studieren, wie sich da oder dort das weiter ent­wickelte. Ich meine nicht die Ideen der «Philosophie der Freiheit», denn ich wußte sehr gut, daß in der ersten Zeit sehr wenige Exemplare des

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Buches verkauft worden sind, sondern ich meine diejenigen Impulse, aus denen herausgegriffen waren die Ideen der «Philosophie der Frei­heit». Ich hatte das zunächst noch eine Anzahl von Jahren von Wei­mar aus zu studieren, was aber einen guten Gesichtspunkt schon abgab.

Ein Publikum, auf das vielleicht viele als auf ein bängliches zurück­schauen, ein Publikum fand ja die «Philosophie der Freiheit». Sie war erst kurze Zeit erschienen da fand sich gewissermaßen eine Art von bis zu einer gewissen Grenze gehender Zustimmung zur «Philosophie der Freiheit» innerhalb derjenigen Kreise, welche am besten vielleicht charakterisiert sind durch die beiden Namen des Amerikaners ßen­jamin Tucker und des schottischen Deutschen oder deutschen Schotten John Henry Mackay. Es war dies in dem nun immer mehr und mehr hereinbrechenden Philisterium selbstverständlich nicht gerade ein Emp­fehlungsschein' weil diese Leute zu den radikalsten Erstrebern einer auf freie Geistigkeit aufgebauten sozialen Ordnung gehörten, und weil man, wenn man gewissermaßen protegiert wurde von diesen Leuten, wie es ja eine Zeitlang der «Philosophie der Freiheit» geschah, sich dadurch höchstens das Anrecht erwarb, daß nicht nur die «Philo­sophie der Freiheit», sondern auch andere meiner später erscheinenden Schriften zum Beispiel nach Rußland von der Zensur nie durchgelassen worden sind. Das «Magazin für Literatur», das ich später, nach Jahren herausgegeben habe, ist aus diesem Grunde auf seinen meisten Spalten schwarz angestrichen nach Rußland gewandert, und so weiter. Nur war diese Bewegung, um die es sich da handelte und die man durch Namen wie Benjamin Tucker und John Henry Mackay charakteri­sieren kann, allmählich, ich möchte sagen, versandet in dem herauf-kommenden Philisterium des Zeitalters. Und im Grunde genommen war auch die Zeit dem Verständnisse der «Philosophie der Freiheit» nicht besonders günstig Ich konnte ruhig diese «Philosophie der Frei­heit» vorläufig liegen lassen. Jetzt scheint mir aber allerdings die Zeit gekommen zu sein, wo diese «Philosophie der Freiheit» wenigstens wieder da sein muß, wo von den verschiedensten Seiten doch vielleicht die Seelen kommen werden, die Fragen stellen, welche in der Richtung dieser «Philosophie der Freiheit» liegen.

Gewiß, Sie können sagen, es wäre immerhin möglich gewesen die

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ganzen Jahre her, die «Philosophie der Freiheit» neu aufzulegen. Ich zweifle ja auch nicht daran, daß man im Laufe der Jahre viele Auf­lagen hätte absetzen können. Aber es wäre eben dabei geblieben, daß die «Philosophie der Freiheit» verkauft worden wäre. Und darum handelt es sich mir bei meinen wichtigsten Büchern wahrlich nicht, daß sie in so und so viel Exemplaren durch die Welt wandeln, sondern darum handelt es sich mir, daß sie verstanden und in ihrem eigent­lichen inneren Impuls aufgenommen werden.

Dann, im Jahre 1897, kam ich von Weimar nach Berlin. Ich trat aus jenem Milieu heraus, von dem aus ich gewissermaßen von außen die Entwickelung der Zeit zu verfolgen hatte. Ich kam nach Berlin. Ich hatte, als Neumann-Hofer das «Magazin» aufgegeben hatte, es er­worben, um eine Tribüne zu haben, Ideen, welche ich für wirklich im wahren Sinne des Wortes zeitgemäß halte, vor der Welt vertreten zu können. Allerdings, schon als bald nach meinem Eintreten in das «Magazin» mein Briefwechsel mit John Henry Mackay erschien, tanzte das frühere Philisterium, aus dem die Abonnenten des «Magazin» be-standen, durchaus nicht freudig, und ich bekam von allen Seiten die Vorwürfe: Ja, was macht denn der Steiner eigentlich aus diesem alten «Magazin», was soll das werden? - Die ganze Berliner Professoren-schaft, die dazumal, soweit sie für Philologisches oder für Literatur interessiert war, noch das «Magazin» abonniert hatte - es war im Jahre 1832, also schon in Goethes Sterbejahr begründet worden, was unter anderm auch einer der Gründe war, warum die Professorenwelt es abonniert hatte -, diese Professorenwelt bestellte nun bald nach und nach das «Magazin» ab. Und ich hatte auch bei der Herausgabe des «Magazin» eben durchaus das Talent, die Leute vor den Kopf zu stoßen, nicht das Zeitalter, aber die Leute vor den Kopf zu stoßen.

Ich möchte nur an eine kleine Episode dabei erinnern. Unter den­jenigen Männern innerhalb der zeitgenössischen Geisteskultur, die sich am allerintensivsten einsetzten für dasjenige, was ich auf dem Gebiete des Goetheanismus geleistet hatte, befand sich ein Professor an einer Universität. Ich erzähle nur eine Tatsache. Diejenigen, die mich kennen, werden es mir nicht als eine Albernheit auslegen, wenn ich Ihnen sage, daß mir jener Professor im «Russischen Hof» in Weimar einmal gesagt

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hat: Ach, gegenüber dem, was Sie über Goethe geschrieben haben, ver­blaßt doch alles, was wir irgendwie Unbedeutendes in Anknüpfung an Goethe sagen können. - Ich erzähle eine Tatsache, und ich sehe nicht ein, warum unter den Verhältnissen, wie sie geworden sind, man just solche Dinge verschweigen soll. Denn schließlich bleibt ja doch auch der zweite Teil des Goetheschen Ausspruchs wahr - der erste Teil ist ja nicht von Goethe -: Eitel Eigenlob stinkt, aber wie fremder ungerech­ter Tadel duftet, darüber unterrichten sich die Leute eben seltener.

Nun, jener selbige Literaturprofessor, der mir dieses gesagt hatte, war auch Abonnent des «Magazin». Sie wissen ja, welche weltgeschicht­lichen Fragen dazumal der Dreyfus-Prozeß aufgewirbelt hat. Ich hatte im «Magazin» nicht nur über den Dreyfus-Prozeß selber eine Mit­teilung gemacht, die eigentlich nur von mir gemacht werden konnte, sondern ich war auch mit aller Energie eingetreten für die berühmte Rede, welche dazumal als «J'accuse-Rede» Émile Zola für Dreyfus gehalten hat. Ich bekam darauf von jenem Literaturprofessor, der mir früher manches Anbeterische in allerlei Briefen geschrieben hat, es auch hat drucken lassen, ich könnte es heute noch zeigen, auf einer Post­karte die Nachricht: Hierdurch bestelle ich das «Magazin für Lite­ratur» ein für allemal ab, da ich ein Organ, das für den sein Vaterland verratenden Judensöldling Émile Zola eintritt, nicht in meiner Biblio­thek dulden mag. - Das ist nur eine solche Episode, die ich, ich darf schon sagen in diesem Falle, ins Hundertfache vermehren könnte. Es würde sich manches Charakteristische ergeben, wenn ich Ihnen er­zählen würde, in welche Kenntnis erweckenden Zusammenhänge mich dann die Redaktion des «Magazin für Literatur» gebracht hat. Sie brachte mich ja auch in Zusammenhang mit alledem, was jung auf-strebte im modernen Kunst- und Literatentum. Nun ja, auch das ist ein Kapitel, ich möchte sagen, das sich anschließt an die Geschichte der «Philosophie der Freiheit».

Ich war nach Berlin gekommen, vielleicht naiverweise, um zu beob­achten, wie durch solch eine Tribüne wie das «Magazin» sich Zukunfts­ideen einleben könnten bei einigen Menschen, wenigstens solange die materiellen Mittel vorhielten, die das «Magazin» zur Verfügung hatte, und solange das alte Ansehen, das ich allerdings gründlich untergrub,

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vorhielt. Aber ich konnte ja naiverweise zusehen, wie sich solche Ideen unter derjenigen Bevölkerung ausbreiteten, die sich ihre Weltanschau­ung auf den die Menschen so sehr vergründlichenden Bierphilister Wil­helm Bölsche und ähnliche Helden aufbaute. Das alles waren außer­ordentlich interessante Studien, die man machen konnte und die nach den verschiedensten Richtungen hin mancherlei Aufschlüsse gaben über dasjenige, was in der Zeit steckt und nicht steckt.

Durch meine Freundschaft mit Otto Erich Hartleben kam ich dann eigentlich mit allen oder wenigstens mit einer großen Zahl der jung aufstrebenden Literaten, die zum großen Teil jetzt schon wieder ab­gewirtschaftet haben, gerade in der damaligen Zeit zusammen. Ob ich nun in diese Gesellschaft hineinpaßte oder nicht, das habe ich nicht zu entscheiden. Eines der Mitglieder dieser Gesellschaft hat jüngst einen Artikel in der «Vossischen Zeitung» geschrieben, worin er mit einer gewissen Pedanterie zu beweisen versucht, daß ich allerdings in diese Gesellschaft nicht hineingepaßt hätte und mich ausgenommen hätte wie ein «freischweifender unbesoldeter Gottesgelehrter» innerhalb von Leuten, die eben allerdings nicht freischweifende unbesoldete Gottes-gelehrte waren, aber die wenigstens junge Literaten waren.

Vielleicht interessiert Sie auch das als eine Episode, wie ich gerade zu der wirklich eine Zeitlang anhänglichen Freundschaft Otto Erich Hartlebens gekommen bin. Es war noch während meiner Weimarer Zeit. Er kam zwar immer nach Weimar zu den Goethe-Versamm-lungen, die er aber regelmäßig verschlief, denn er hatte es zu seiner Lebensgewohnheit gemacht, erst um zwei Uhr nachmittags aufzu­stehen, und um zehn Uhr fingen die Goethe-Versammlungen an. Wenn die Goethe-Versammlungen aus waren, besuchte ich ihn und traf ihn dann regelmäßig noch im Bette. Dann saßen wir aber abends noch zuweilen zusammen. Und seine besondere Anhänglichkeit, die dauerte, bis die ja viel Staub aufwirbelnde, sich um mich herumspinnende Nietzsche-Affäre auch diesen Otto Erich Hartleben von mir wegbrachte. Wir saßen zusammen, und ich weiß, wie er Freundschaftsfunken fing, als ich dazumal mitten im Gespräch epigrammatisch die Worte hin-warf: Schopenhauer ist eben ein borniertes Genie gewesen. - Das gefiel Otto Erich Hartleben. Es gefiel ihm an demselben Abend, als ich noch

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manches andere sprach, so daß der später bekannt gewordene Max Martersteig über meine Reden aufsprang und sagte: Reizen Sie mich nicht, reizen Sie mich nicht!

Nun ja, an einem der Abende, die dazumal im Kreise des hoffnungs­vollen Otto Erich Hartleben und des hoffnungsvollen Max Martersteig und anderer Leute zugebracht worden waren, entstand ja auch die erste Serenissimus-Anekdote' von der ja alle Serenissimus-Anekdoten ihren Ausgangspunkt genommen haben. Ich möchte dieses nicht un­erwähnt lassen, es gehört ganz gewißlich zu dem Milieu der «Philo­sophie der Freiheit», denn die Stimmung der «Philosophie der Frei­heit» lag doch wenigstens über dem Kreise, in dem ich verkehrte, und ich weiß heute noch, welche Anregung - wenigstens hat er es so ge­sagt - Max Halbe gerade von der «Philosophie der Freiheit» emp­fangen hat. Also diese Leute haben sie schon gelesen, und es ist manches aus der «Philosophie der Freiheit» an Impulsen eingeflossen in man­ches, was immerhin in der Welt weht. Diese Ur-Serenissimus-Anek­dote, von der dann alle anderen Serenissimus-Anekdoten Kinder sind, ist also durchaus nicht hervorgegangen aus einer Stimmung, um, sagen wir, sich bloß lustig zu machen über irgendeine Persönlichkeit, sondern sie ist hervorgegangen aus jener Stimmung, die auch verknüpft sein muß mit dem, was der Impuls der «Philosophie der Freiheit» ist: mit einer gewissen humoristischen Lebensauffassung, oder, wie ich oftmals sage, mit einer gewissen unsentimentalen Lebensauffassung, die ins­besondere dann notwendig ist, wenn man sich auf den Standpunkt des intensivsten geistigen Lebens stellt. Diese Ur-Anekdote, sie ist ja diese.

Serenissimus besucht das Zuchthaus seines Landes, und er will sich einen Sträfling vorführen lassen, worauf ihm ein Sträfling wirklich vorgeführt wird. Er stellt dann eine Reihe von Fragen an diesen Sträf­ling: Wie lange halten Sie sich hier auf? - Bin schon zwanzig Jahre hier. - Schöne Zeit das, schöne Zeit, zwanzig Jahre, schöne Zeit das! Was hat Sie denn veranlaßt, mein Lieber, hier Ihren Aufenthaltsort zu nehmen? - Ich habe meine Mutter ermordet. - Ach so, so! Merk­würdig, höchst merkwürdig, Ihre Frau Mutter haben Sie ermordet? Merkwürdig, höchst merkwürdig! Ja, sagen Sie mir, mein Lieber, wie lange gedenken Sie sich noch hier aufzuhalten? - Bin lebenslänglich

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verurteilt. - Merkwürdig! Schöne Zeit das! Schöne Zeit! Na, ich will Ihre kostbare Zeit nicht weiter mit Fragen in Anspruch nehmen. Mein lieber Direktor, diesem Manne werden die letzten zehn Jahre seiner Strafe in Gnaden erlassen.

Nun, das war die Ur-Anekdote. Sie war durchaus nicht hervor­gegangen aus einer niederträchtigen Stimmung, sondern sie war her­vorgegangen aus einem Humoristisch-Nehmen desjenigen, was, wenn es not tut, durchaus auch in allen seinen ethischen Werten genommen werden konnte und so weiter. Ich bin überzeugt davon, daß, wenn es je hätte vorkommen können, daß die Persönlichkeit, auf die, vielleicht mit Unrecht, diese Anekdote vielfach gemünzt wurde, diese Anekdote selber gelesen hätte, sie herzlichst darüber gelacht hätte.

Dann konnte ich, wie gesagt, in Berlin beobachten, sehen, wie in dem Kreise, den ich Ihnen eben angegeben habe, versucht wurde, etwas von der neuen Zeit heraufzuführen. Aber es spielte ja schließlich in alles ein wenig Bölsche hinein, und ich meine damit natürlich nicht den in Friedrichshagen wohnhaften dicken Bölsche allein, sondern ich meine die ganze Bölscherei' die ja in der Philisterwelt unserer Zeit eine außer­ordentlich breite Rolle spielt. Schon die ganze saftige Art der Dar­stellungen des Bölsche ist ja für unsere Zeitgenossen so ganz besonders geeignet. Nicht wahr, wer Bölsches Aufsätze liest, muß alle Augen­blick irgend etwas von Exkrementen oder dergleichen in die Hand nehmen. So ist sein Stil: Man nehme nur ja recht das und das in die Hand -, und es sind nicht immer bloß Quallen, die man in die Hand zu nehmen hat, wozu er einen einladet, daß man es in die Hand neh­men soll, sondern es ist wahrhaftig noch manches andere, was man da in die Hand zu nehmen hat. Aber diese Bölscherei ist so recht ein Leckerbraten für das in dieser Zeit heraufkommende Philisterium ge­worden.

Es war ja nicht gerade eine richtige Art, das «Magazin» zu lancieren, was ich eines Tags in einer Nummer des «Magazins» tat. Der Max Halbe hatte eben seinen «Eroberer» aufführen lassen, der sicherlich das Stück mit dem besten Halbe-Wollen ist, das aber deshalb grandios durchgefallen ist in Berlin, und ich habe eine Kritik geschrieben, über die Max Halbe in heller Verzweiflung war, denn ich habe alle Berliner

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Zeitungen durchgenommen und einem nach dem anderen der Berliner Theaterkritiker das Nötige gesagt über ihren Verstand. Es war nicht gerade die richtige Art, das «Magazin» zu lancieren. Und so, nicht wahr, wurde das eine schöne Studienzeit. Man konnte wiederum in vieles von einem anderen Gesichtspunkte aus hineinschauen als von Weimar aus. Immer stand bei mir im Hintergrunde die Frage: Wie könnte die Zeit so etwas aufnehmen, wie es die Ideen der «Philosophie der Freiheit» sind? - Man wird schon, wenn man will, durch alles das, was ich in dem «Magazin für Literatur» geschrieben habe, den Geist der «Philosophie der Freiheit» wehen sehen. Doch das «Magazin für Literatur» wurde nicht in das moderne Philistertum hineinlanciert. Ich aber wurde selbstverständlich unter diesen verschiedenen Einflüs­sen nach und nach durch das moderne Philistertum herauslanciert.

Da bot sich gerade Gelegenheit, eine andere Tribüne zu finden ange­sichts der großen Fragen, welche um die Jahrhundertwende alle Welt bewegten und mit denen ich ja schon in so innige Beziehungen getreten war durch John Henry Mackay, durch Tucker, der von Amerika nach Berlin gekommen war und mit dem sehr interessante Abende zugebracht worden waren. Es bot sich mir die Gelegenheit, eine andere Tribüne zu finden. Es war die Tribüne der sozialistischen Arbeiterschaft. Und ich habe Jahre hindurch den Unterricht auf den verschiedensten Ge-bieten geleitet in der Berliner Arbeiterbildungsschule, von da ausgehend dann in allen möglichen Vereinigungen der sozialistischen Arbeiter­schaft Vorträge gehalten, da ich nach und nach aufgefordert worden bin, nicht nur diese Vorträge zu halten, sondern mit den Leuten auch Redeübungen zu treiben. Die Leute waren ja nicht nur darauf aus, das­jenige klar kennenzulernen, was ich Ihnen in diesen Tagen ausein­andergesetzt habe, sondern sie waren immer darauf aus, wirklich auch reden zu können, das vertreten zu können, was sie als das Richtige glaubten vertreten zu müssen. Da gab es selbstverständlich über alle möglichen Gebiete die eingehendsten Diskussionen in allen möglichen Kreisen. Es war wiederum ein anderer Gesichtspunkt, die Weltent­wickelung der neueren Zeit kennenzulernen.

Nun, gerade innerhalb dieser Kreise konnte man interessant finden, wie eines nicht hineinspielen durfte, und das ist dasjenige, was für die

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heutige Zeit und ihr richtiges Verständnis von so unendlicher Wichtig­keit ist. Ja, ich konnte von allem möglichen sprechen - denn wenn man sachlich spricht, kann man heute, ganz abgesehen von Standpunkten der proletarischen Bevölkerung, von allem möglichen sprechen -, just nicht von Freiheit. Von Freiheit zu sprechen, das erschien als das außer­ordentlich Gefährliche. Ich hatte nur einen einzigen Anhänger, der immer aufstand, wenn ich meine Freiheitstiraden, wie sie selbstver­ständlich die anderen nannten, gehalten hatte und der hierbei an mei­ner Seite stand. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Es war der Pole Siegfried Nacht, der immer an meine Seite getreten ist, wenn es sich darum handelte, gerade die Freiheit gegenüber dem Sozialismus mit seinem absolut unfreien Programm zu betrachten.

Wer die heutige Zeit betrachtet mit alledem, was heraufzieht, der wird finden, daß in dem, was heraufzieht, gerade dasjenige fehlt, was die «Philosophie der Freiheit» will. Die «Philosophie der Freiheit» begründet in einer freien, geistigen Denkerarbeit eine zwar mit der Naturwissenschaft völlig im Einklang stehende, aber über die Natur­wissenschaft eben frei hinausgehende Wissenschaft von der Freiheit. Dieser Teil, der macht es möglich, daß wirklich freie Geister sich inner­halb der heutigen sozialen Ordnung ausbilden könnten. Denn würde die Freiheit bloß als Wirklichkeit der Freiheit ergriffen ohne die solide Grundlage der Wissenschaft von der Freiheit, so würde im Zeitalter, in dem sich das Böse so einnistet, wie ich es gestern charakterisiert habe, die Freiheit notwendigerweise nicht führen müssen zu freien Geistern, sondern zu zuchtlosen Geistern. Einzig und allein in der strengen inneren Zucht, welche in dem nicht am Gängelbande der Sinne leben­den Denken gefunden werden kann, in wirklich denkerischer Wissen­schaft ist dasjenige zu finden, was für das gegenwärtige Zeitalter, das die Freiheit realisieren muß, eben notwendig ist.

Aber was dem, was sich als radikale Partei herauferhebt, was schon seine Impulse geltend machen wird auch gegen die ihre Zeit gründlich mißverstehenden Nationalisten aller Schattierungen, was diesem Sozia­lismus fehlt, das ist die Möglichkeit, zu einer Wissenschaft der Freiheit zu kommen. Denn wenn es eine für die Gegenwart wichtige Wahrheit gibt, so ist es die: Von dem Vorurteil des alten Adels, des alten Bürgertums,

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der alten militaristischen Ordnungen hat sich der Sozialismus frei gemacht. Dagegen ist er um so mehr verfallen dem Glauben an die unfehlbare materialistische Wissenschaft, an den Positivismus, wie er heute gelehrt wird. Dieser Positivismus, von dem ich Ihnen zeigen konnte, daß er nichts anderes ist als die Fortsetzung des Beschlusses vom achten ökumenischen Konzil von Konstantinopel, 869, dieser Positivismus ist dasjenige, welches wie ein unfehlbarer abstrakter Papst gerade die radikalsten Parteien bis zum Bolschewismus hin mit eisernen Fangklammern umgibt und sie hindert, irgendwie ins Reich der Freiheit hereinzukommen.

Das ist auch der Grund, warum, auch wenn er noch so sehr sich geltend machen wird, dieser Sozialismus, der nicht begründet ist in der Entwickelung der Menschheit, nichts anderes kann, als vielleicht lange Zeit die Welt erschüttern, aber niemals kann er sie erobern. Dies ist auch der Grund, warum er nicht selber die Schuld hat an dem, was er schon verschuldet hat, sondern warum die anderen die Schuld haben, jene, die ihn nicht zu einem Druckproblem, wie ich gezeigt habe, son­dern zu einem Saugproblem werden ließen, werden lassen wollen.

Gerade diese Unmöglichkeit, aus der Umklammerung der positivisti­schen Wissenschaft, der materialistischen Wissenschaft loszukommen, das ist das Charakteristische der modernen Arbeiterbewegung von dem Standpunkte aus, der seinen Gesichtspunkt bei der Entwickelung der Menschheit sucht und nicht bei den, seien es veralteten Ideen des Bür­gertums, oder seien es oftmals neue Ideen genannte sozialen Ideen, oder dem Wilsonismus und so weiter.

Nun, ich habe öfter erwähnt, daß es ja sehr gut ginge, in die Arbeiter­schaft geistiges Leben hineinzubringen. Aber die Führerschaft der Ar­beiterschaft will das nicht haben, was nicht auf marxistischem Boden gewachsen ist. Und so wurde ich ja auch da nach und nach herauslanciert. Ich lancierte Geist, versuchte es, es gelang auch bis zu einem gewissen Grade, aber mich lancierte man nach und nach heraus. Als ich das ein­mal geltend machte in einer Versammlung, wo alle meine Schüler waren, die nach Hunderten zählten, und nur vier Leute waren, die von der Parteileitung gegen mich hineingeschickt waren, aber die doch be­wirkten, daß ich natürlich nicht bleiben konnte - ich höre noch lebhaft,

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wie ich sagte: Nun, wenn man schon will, daß der Sozialismus irgend­wie etwas zu tun habe mit der Entwickelung nach der Zukunft hin, so muß er doch die Freiheit des Lehrens, die freien Ideen gelten lassen -, da rief einer der abgeschickten Trabanten der Parteileitung: Es kann sich innerhalb unserer Partei und deren Schulen nicht handeln um Frei­heit, sondern um einen vernünftigen Zwang. - Solche Dinge charak­terisieren, ich möchte sagen, tief symptomatisch dasjenige, was pulst und west in unserer Zeit.

Man muß die Zeit auch an ihren bedeutungsvollen Symptomen er-Fassen. Man soll ja nicht glauben, daß das moderne Proletariat nicht nach geistiger Nahrung drängt. Es drängt furchtbar und intensiv dar­nach. Aber die Nahrung, die geboten wird, sie ist zum Teil diejenige, auf die ohnedies das moderne Proletariat schwört, nämlich die posi­tivistische Wissenschaft, die materialistische Wissenschaft, oder zum Teil ist es unverdauliches Zeug, das den Leuten eben Steine statt Brot gibt.

Sie sehen, die «Philosophie der Freiheit» mußte sich auch da stoßen, weil gerade ihr Fundamentalimpuis, der Freiheitsimpuis, keinen Platz hat in dieser modernsten Bewegung.

Dann, noch ehe dieses gewissermaßen zu Ende gegangen war, kam das andere. Ich wurde aufgefordert, in der Berliner «Theosophischen Gesellschaft» einen Vortrag zu halten, der dann dazu führte, daß ich einen ganzen Winter hindurch Vorträge zu halten hatte. Ich habe das erzählt in der Vorrede zu meiner «Mystik im Aufgange des neuzeit­lichen Geisteslebens». Und das Ganze brachte dann das von verschie­denen Seiten her Ihnen ja erzählte Verhältnis zur sogenannten theo­sophischen Bewegung. Es muß immer wieder betont werden, weil das immer wieder verkannt wird, daß ich niemals irgendwie gesucht habe Anschluß an die «Theosophische Gesellschaft». So albern es klingt: die «Theosophische Gesellschaft» hat Anschluß an mich gesucht. Und als mein Buch «Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens» erschienen ist, wurde es nicht nur in vielen Kapiteln für die «Theo­sophical Society» in England übersetzt, sondern Bertram Keightley und George Mead, die dazumal eine hohe Stellung einnahmen in der «Theosophical Society»' sagten mir: Da steht eigentlich alles das schon

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drin, und zwar in einer richtigen Weise, was wir zu verarbeiten haben. - Ich hatte dazumal überhaupt noch nichts von den Büchern der «Theosophical Society» gelesen, und las es dann - ich hatte immer einen kleinen Horror davor - mehr oder weniger «amtlich».

Aber es handelte sich darum, gewissermaßen den Zuschnitt, den Impuls auch da aus dem Wirken und Wesen und Weben der Zeit her­aus zu ergreifen. Man hatte mich aufgefordert einzutreten. Ich konnte mit Fug und Recht eintreten, folgend meinem Karma' weil ich viel­leicht eine Tribüne finden konnte, um das, was ich zu sagen hatte, vor­zubringen. Allerdings, man mußte viel Plackereien übernehmen. Ich möchte wiederum einiges nur symptomatologisch andeuten. So zum Beispiel versuchte ich, als ich das erstemal teilnahm an einem Kongreß der «Theosophical Society» in London, einen gewissen Gesichtspunkt hineinzubringen. Ich hielt eine ganz kurze Rede. Es war in der Zeit, als eben die Entente cordiale geschlossen worden war, und als alles unter dem Eindrucke der eben abgeschlossenen Entente cordiale stand. Ich hatte versucht zu charakterisieren, daß es sich in der Bewegung, die die «Theosophical Society» darstellen will, nicht darum handeln kann, von irgendeinem Zentrum aus irgend etwas als theosophische Weisheit zu verbreiten, sondern daß es sich lediglich darum handeln kann, daß das, was die neuere Zeit von allen Seiten der Welt heraufbringt, gewis­sermaßen an einer gemeinsamen Stätte eine Art Vereinigungspunkt hat. Und ich hatte dazumal geschlossen mit den Worten: Wenn wir auf den Geist bauen, wenn wir geistige Gemeinschaft in wirklich konkreter, positiver Weise suchen, so daß der Geist, der da und dort erzeugt wird, nach einem gemeinsamen Zentrum der «Theosophical Society» ge-tragen wird, dann bauen wir eine andere Entente cordiale.

Von dieser anderen Entente cordiale sprach ich dazumal in London. Es war meine erste Rede, die ich in der «Theosophical Society» ge­halten habe, und ganz in aller Absicht sprach ich von dieser anderen Entente cordiale. Mrs. Besant fand ja, wie sie sich ausdrückte - sie fügte immer zu all den Dingen, die gesprochen wurden, solche obrig­keitlichen Schwänze hinzu -, daß der «german speaker» elegant ge­sprochen hatte. Aber die Sympathien waren durchaus nicht auf meiner Seite, sondern es war dasjenige, was ich sagte, eben so, daß es ertrank

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in der Flut von Redensarten und von Worten, während das, was die Leute wollten, doch mehr bei dem Buddhistengigerl Jinaradjadasa war. Und auch das nahm ich dazumal symptomatologisch: Nachdem ich von etwas doch weithistorisch Wichtigem, der anderen Entente cor­diale, gesprochen hatte, setzte ich mich wieder nieder, und von seinem etwas erhöhten Platze wankte, trippelte herab - ich muß sagen trip­pelte, um die Sache ganz genau zu bezeichnen -, sein Spazierstöckchen auf den Boden stampfend, das Buddhistengigerl Jinaradjadasa, welches die Sympathien hatte, während vielleicht bei mir dazumal einiger Wortschwall hängenblieb.

Ich habe vom Anfange an betont - Sie brauchen nur meine «Theo-sophie» in die Hand zu nehmen, lesen Sie die Vorrede -, daß dasjenige, was da kommen wird auf theosophischem Gebiete, in der Linie laufen wird, welche durch die «Philosophie der Freiheit» eröffnet worden ist. Ich habe vielleicht es manchem schwierig gemacht, die geradlinige Fort-setzung zu finden zwischen den Impulsen, die in der «Philosophie der Freiheit» lagen und demjenigen, was ich später geschrieben habe und was so genommen worden ist, daß sich die Leute doch außerordentlich schwer bequemt haben, gerade und wahr das zu nehmen, was ich zu sprechen versuchte, was ich drucken zu lassen versuchte Man mußte Plackereien auf sich nehmen. Man wurde ja keineswegs innerhalb der Gesellschaft, in die man sich nicht selbst hineingestellt hatte, die einen in sich hineingestellt hatte, nach dem genommen, was man gab, sondern nach Schlagworten, nach Schablonen. Und das dauerte ja ziemlich lange, bis, wenigstens in einer Art von Kreis, man nicht mehr bloß nach Schablonen, nach Schlagworten genommen wurde. Im Grunde genom­men war es ziemlich gleichgültig, w as ich selber sagte, war es ziemlich gleichgültig, was ich selber drucken ließ. Gewiß, die Leute lasen es, aber daß man etwas liest, das besagt ja noch nicht, daß man etwas auf­genommen hat. Die Leute lasen es; es erlebte sogar Auflagen, immer wieder und wiederum neue Auflagen. Die Leute lasen es, aber das­jenige, wonach sie es beurteilten, war nicht das, was aus meinem Munde kam, was in meinen Büchern stand, sondern es war das, was sich der eine ausgebildet hatte als das Mystische, der andere als das Theosophi­sche, der dritte als das, der vierte als das, und in einen Nebel von Anschauungen,

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die sich die Leute selber zusammenbrauten, kam dann das­jenige, was als Urteil in der Welt figurierte. Es war keineswegs außer­ordentlich reizvoll und ideal, danach die «Philosophie der Freiheit» wieder auflegen zu lassen. Diese «Philosophie der Freiheit» wollte herausgeschrieben sein - wenn sie auch natürlich nur einseitig und nur unvollkommen, manchmal ungeschickt darstellt einen kleinen Impuls aus dem fünften nachatlantischen Zeitraum -, sie wollte herausgeschrie-ben sein aus dem, was das Wesentliche, das Bedeutungsvolle, das eigent­lich Wirksame in dieser fünften nachatlantischen Kulturperiode ist.

So möchte ich jetzt, wo nach einem Vierteljahrhundert diese «Philo­sophie der Freiheit» wieder erscheint, eben betont haben, daß sie erst hervorgegangen ist aus einem intensiven Miterleben mit der Zeit, wirk­lich aus einem Hineinschauen in die Zeit, aus dem Versuch zu erlau­schen, was die Zeit an Impulsen braucht. Und jetzt, nachdem diese Katastrophe über die Menschheit gekommen ist, nach fünfundzwanzig Jahren, sehe ich, daß - man möge mir das zur Albernheit auslegen -dieses Buch ein wahrhaft im wahrsten Sinne des Wortes zeitgemäßes ist, allerdings in jenem absonderlichen Sinne zeitgemäß, daß die Zeit­genossen alles dasjenige nicht haben und oftmals nichts davon wissen wollen, was in diesem Buche steht.

Würde man verstehen, was mit diesem Buche gewollt war für die Grundlegung des ethischen Individualismus, für die Grundlegung eines sozialen und eines politischen Lebens, würde man richtig verstanden haben, was mit diesem Buche gemeint war, dann würde man wissen: Es gibt Mittel und Wege, die Menschheitsentwickelung heute in frucht­bare Bahnen zu leiten, andere Mittel und Wege, als es der falscheste wäre, den man nur einschlagen könnte: bloß zu schimpfen über die radikalen Parteien, bloß zu schimpfen und Anekdoten zu erzählen über den Bolschewismus - Es wäre traurig, wenn das Bürgertum nicht darüber hinauskäme, sich nur dafür zu interessieren, was die Bolsche­wiken da und dort gemacht haben, wie sie sich gegen diese und jene Leute benehmen; denn das trifft nichts in Wirklichkeit. Dasjenige, um was es sich handelt, ist, daß man wirklich studiert, welche in einem gewissen Sinne berechtigte Forderungen sich da von einer Seite erheben. Und kann man eine Weltanschauung und eine Lebensauffassung finden,

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welche zu sagen wagen darf: Dasjenige, was ihr wollt mit euren unvollkommenen Mitteln, erlangt ihr, wenn ihr den Weg, der hier ver­zeichnet wird, geht, und noch vieles andere -, wenn man wagen darf, das zu sagen - und ich bin überzeugt davon, daß, wenn man durch­drungen ist von der «Philosophie der Freiheit», man das sagen darf -, dann würde sich ein Licht finden. Dazu ist das Einleben einer wirk­lichen Weltanschauung der Freiheit aber dringend notwendig. Dazu ist notwendig, daß man den ethischen Individualismus in seiner Wur­zel zu erfassen vermag, wie er sich aufbaut auf der Einsicht, daß der Mensch den geistigen Intuitionen des Weltengeschehens gegenüber­steht, daß der Mensch, indem er in sich erfaßt nicht den Hegelschen Gedanken, sondern das freie Denken, tatsächlich, wie ich es einmal populär auszudrücken versuchte in meiner kleinen Schrift «Grund­linien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung», mit dem in Zusammenhang steht, was man nennen kann das Durchpul­sieren der kosmischen Impulse durch das menschliche Innere.

Von da aus aber allein ist der Freiheitsimpuls zu fassen, von da aus aber allein ist es möglich, an eine Regeneration derjenigen Impulse heranzutreten, die jetzt alle in Sackgassen enden. Der Tag, der da bringen wird die Einsicht, was es für ein Wortgepränge ist, wenn man diskutiert über solche Begriffe, die nur noch Worthülsen sind, wie Recht, Gewalt und so weiter, der Tag, der die Einsicht bringen wird, daß man es da mit Worthülsen zu tun hat, und der die Einsicht bringen wird, daß die durch geistige Erlebnisse erfaßte Idee der Freiheit allein zur Wirklichkeit führen kann, der Tag allein wird eine neue Morgen­röte über die Menschheit heraufbringen können. Dazu muß über­wunden werden der Bequemlichkeitssinn, der jetzt tief eingewurzelt ist in den Menschen. Gewöhnen müssen sich die Menschen, nicht herum-zureden, wie es heute in der landläufigen Wissenschaft geschieht, über alles mögliche Soziale, über alle möglichen Quacksalbereien zur Ver­besserung der sozialen, der politischen Ordnung, gewöhnen müssen sich die Menschen, zu verankern dasjenige, was sie auf diesem Felde suchen, in einer gediegenen, soliden geisteswissenschaftlichen Welt­anschauung. Der Freiheitsgedanke muß in einer Wissenschaft der Frei­heit verankert sein.

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Daß man der durchbölschten Bourgeoisie nicht leicht das beibringen kann, wohl aber dem Proletariat, das hat sich mir manchmal gezeigt Unter anderem auch, als ich in Spandau einmal aus den Reihen der dort versammelten Arbeiter, zunächst um ein paar Worte zu sagen, was aber dann eine fünf Viertelstunden lange Rede geworden ist, nachdem Rosa Luxemburg - sie ist ja hinlänglich bekannt - ihre große Rede gehalten hatte, vor einer Arbeiterschaft, die aber nicht nur eine Ar­beiterschaft war, sondern die Weib und Kind mitgebracht hatte, Wickel- und kleine Kinder, die geschrien hatten, Hunde und alles mög­liche war im Saal - als ich hinterher, nachdem die Rosa Luxemburg ihre Rede über «die Wissenschaft und die Arbeiter» gehalten hatte, gerade daran anknüpfte, daß ein wirkliches Fundament schon daläge:

das wäre, Wissenschaft geistig zu erfassen, das heißt, aus dem Geiste heraus nach einer neuen Lebensgestaltung zu suchen, da fand ich mit solchen Dingen immer einige Zustimmung. Aber es riß eben bis heute alles ab an der Indolenz derjenigen, welche Wissenschaft treiben und von denen ja die Arbeiter schließlich auch die Wissenschaft haben, an der Indolenz der Naturforscher, der Ärzte, der Juristen, der Philo­sophen, der Philologen und so weiter. Wir hatten alle möglichen Leute erlebt; wir haben erlebt den Hertzka mit seinem Freiland, wir haben Michael Flürscheim erlebt, wir hatten manchen anderen erlebt, der große soziale Ideen verwirklichen wollte, alle scheiterten an dem, woran gescheitert werden muß: daß diese Ideen nicht aufgebaut sind auf einer geisteswissenschaftlichen Grundlage, auf der Grundlage eines freien wissenschaftlichen Denkens, sondern eines am Gängelbande der äußeren sinnenfälligen Welt sich korrumpierenden Denkens, wie das Denken der modernen positivistischen Wissenschaft ist. Der Tag, der brechen wird mit jener Verleugnung des Geistes, die der modernen positivistischen Wissenschaft eignet, der Tag, an dem man erkennen wird, daß gebaut werden muß auf dem von der Sinnlichkeit emanzi­pierten Denken und den Untersuchungen der geistigen Welt, an Stelle alles desjenigen, was auf ethischem, sozialem und politischem Gebiete als sogenannte Wissenschaft aufgerufen wird, der Tag wird wirklich die Morgenröte einer neuen Menschheit sein. Der Tag wird die Morgen­röte einer neuen Menschheit sein, der solche Worte, wie ich sie höchst

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unvollkommen heute zu prägen versuchte, nicht mehr finden wird als die Worte eines Predigers in der Wüste, sondern als die Worte, die den Weg finden zu den Herzen, zu den Seelen der Zeitgenossen. Alles mögliche' sogar Woodrow Wilson hören sich die Leute an, und noch viel mehr tun sie, als ihn anhören; aber dasjenige, was herausgeholt ist aus dem Geiste der Entwickelung der Menschheit, das findet schwer Zugang zu den Herzen und zu den Seelen der Menschen. Das aber muß den Zugang finden! Ergreifen muß es die Herzen und die Seelen der Menschen, was durch die Welt gehen würde, wenn Freiheit ver­standen würde, Freiheit verstanden aber nicht aus zuchtlosem Geiste, sondern aus freiem, aus solidest denkendem Geiste. Wenn verstanden würde, was Freiheit und ihre Ordnung in der Welt bedeuten würde, dann würde in das Dunkel Licht hineinkommen, das heute vielfach angestrebt wird.

Das wollte ich auch einmal gerade im Anschluß an historische Ideen zu Ihnen sprechen. Die Zeit ist um. Ich hätte noch vieles andere auf dem Herzen, darüber kann ein andermal gesprochen werden. Wenn ich es ein wenig durchsetzt habe mit allerlei symptomatischen persön­lichen Dingen aus der Zeit, die ich in dieser Inkarnation selbst durch-lebt habe, so nehmen Sie mir das nicht übel, denn ich wollte Ihnen dadurch zeigen, daß es stets mein Bestreben war, die Dinge, die auch persönlich an mich herantreten, nicht persönlich zu nehmen, sondern selbst als Symptome, die dasjenige offenbaren, was die Zeit und der Zeitgeist von uns wollen.

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SIEBENTER VORTRAG Dornach, 1. November 1918

Ich möchte in diesen Tagen durch die anzustellenden Betrachtungen zweierlei vor Ihre Seele hinstellen. Das eine und das andere werden scheinbar wenig zusammenhängen, doch werden Sie, wenn wir zum Schluß unserer Betrachtungen gekommen sind, bemerken, daß zwi­schen dem einen und dem anderen doch ein recht innerlicher Zusam­menhang besteht. Ich möchte nämlich, wie ich ja schon gesagt habe, einiges in diesen Betrachtungen vorbringen, was Gesichtspunkte, sym­ptomatische Anhaltspunkte gibt über die Religionsentwickelung der bis jetzt verflossenen Zeit in der fünften nachatlantischen Periode. Aber ich möchte auf der anderen Seite ein wenig vor Ihre Seele führen, in­wieferne gerade jene Art geistigen Lebens, das wir pflegen wollen, im Zusammenhange stehen kann mit einer Anstalt, die den Namen Goetheanum führen kann.

Ich denke mir, daß es in der Gegenwart vor allen Dingen eine ge­wisse Bedeutung hat, was man in einem solchen Falle beschließt. Wir stehen ja gegenwärtig in einem Entwickelungspunkte der Menschheit, wo die Zukunft gewissermaßen alles mögliche bringen kann und wo es darauf ankommt, auch einer ungewissen Zukunft recht mutig ins Auge schauen zu können, aber wo es auch darauf ankommt, aus dem Nerv der Zeit heraus zu solchen Entschließungen zu kommen, denen man eine gewisse Bedeutung beimißt. Die äußerliche Veranlassung zur Auf­stellung des Namens Goetheanum scheint mir ja doch die zu sein, daß ich vor einiger Zeit in öffentlichen Vorträgen gesagt habe, daß ich meiner Privatmeinung nach das Haus, in dem die Geistesrichtung ge­pflegt werden soll, die ich meine, am liebsten Goetheanum nennen möchte. Es ist ja auch schon im vorigen Jahre über diese Namengebung debattiert worden, und dieses Jahr haben sich einige unserer Freunde entschlossen, nun dafür einzutreten, daß dieser Name Goetheanum gewählt wird. Ich sagte schon neulich: Es gibt für mich eine ganze Anzahl von Gründen - aber die lassen sich nicht so ohne weiteres in Worte kleiden; sie werden aber vielleicht doch zutage treten können, wenn

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ich heute davon ausgehe, eine Basis zu schaffen durch ähnliche Betrach­tungen, wie ich sie das letzte Mal hier vor Ihnen angestellt habe, eine Basis zu schaffen für die religionsgeschichtlichen Betrachtungen, die wir dann in diesen Tagen anstellen wollen.

Sie wissen ja - und ich würde eben Persönliches nicht berühren, wenn es nicht insbesondere heute mit Sachlichem und auch mit unseren Angelegenheiten bezüglich des Goetheanums zusammenhinge -, Sie wissen ja, daß meine hauptsächlichste erste öffentliche literarische Tä­tigkeit mit dem Namen Goethe verknüpft ist, und Sie wissen ja wohl auch, daß diese erste öffentliche literarische Tätigkeit sich entwickelte innerhalb eines Territoriums, auf dem ja heute selbst schon für die­jenigen, die durchaus nicht sehen wollen, die durchaus schlafen wollen, die gewaltigen katastrophalen Ereignisse zu sehen sind, wahrzuneh­men sind. Und auch dasjenige, was ich denken muß vom Gesichts­punkte geisteswissenschaftlicher Weltbetrachtung aus im Zusammenhange mit Goethe, ist für mich ebenso wie das, was ich neulich mit Bezug auf die «Philosophie der Freiheit» gesagt habe, gewiß auf der einen Seite eine persönliche Angelegenheit, auf der anderen Seite aber ist dieses Persönliche durchaus verknüpft mit der Entwickelung der Ereignisse in den letzten Jahrzehnten. Nicht, wirklich nicht ohne einen inneren Zusammenhang mit der Entstehung auf der einen Seite meiner «Philosophie der Freiheit», auf der anderen Seite meiner Goethe-Schriften, ist eben doch die Tatsache, daß ich bis zum Ende der acht­ziger Jahre des 19. Jahrhunderts in Österreich gelebt habe und dann nach Deutschland, zunächst nach Weimar, später nach Berlin gekom­men bin. Es ist natürlich in einem äußeren Zusammenhange, aber die Besprechung eines solchen äußeren Zusammenhanges führt nach und nach, wenn man die Symptome richtig ins Auge faßt, auch sach­gemäß in das Innere. Sie werden ja schon bemerkt haben, gerade aus den historischen Skizzen, die ich Ihnen gegeben habe, wie ich dasjenige, was ich geschichtliche Symptomatologie nenne, im Leben anwenden muß, wie ich die Geschichte sowohl wie das einzelne Menschenleben aus den Symptomen und ihren Offenbarungen heraus begreifen muß, weil sich von da aus alles zurückführen läßt auf das wirkliche innere Geschehen. Aber man muß wirklich auch den Willen

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haben, von den äußeren Tatsachen zu dem inneren Geschehen über­zugehen.

Sehen Sie, viele Menschen in der Gegenwart möchten übersinnlich schauen lernen; aber der Weg dazu, der ist dann schwieriger, und den möchten die meisten Menschen vermeiden. Daher ist es auch in der Gegenwart noch vielfach so, daß sich für manche Menschen, die über­sinnlich schauen können, das äußere Leben ganz getrennt abspielt von ihrem übersinnlichen Schauen. Allerdings, wenn diese Trennung der Fall ist, dann kann das übersinnliche Schauen auch nicht sehr viel wert sein, kann kaum über die persönlichsten Momente hinauskommen. Unsere Zeit ist eine Zeit des Überganges. Gewiß ist jede Zeit eine Zeit des Überganges, es kommt nur darauf an, einzusehen, was übergeht. Aber es geht Wichtiges über; es geht über dasjenige, was gerade den Menschen im Innersten berührt, was für den Menschen im Innersten wichtig ist. Wenn man wachend verfolgt, was das sogenannte gebildete Publikum in den letzten Jahrzehnten über die ganze zivilisierte Welt hin eigentlich getrieben hat, so kommt man, wie ich schon angedeutet habe, zu einem recht traurigen Bilde einer im Schlafe befindlichen Menschheit. Das soll keine Kritik, auch kein Impuls zum Pessimismus sein, sondern ein Impuls zur Einpflanzung solcher Kräfte, welche den Menschen befähigen, wenigstens zunächst dasjenige zu erreichen, was ja doch das wichtigste ist, vorläufig das wichtigste ist: Einsicht zu be­kommen, richtige Einsicht. Die Gegenwart muß über manche Illusion hinwegkommen, muß zu Einsichten kommen.

Fragen Sie zunächst nicht: Was soll ich tun, oder was soll der oder jener tun? - Das alles sind heute in gewisser Beziehung deplacierte Fragen für die meisten Menschen zunächst. Dagegen ist eine wichtige Frage die: Wie bekomme ich Einsicht in die gegenwärtigen Verhält­nisse? - Wird genügend Einsicht da sein, dann wird schon das Rich­tige geschehen. Dann entwickelt sich ganz gewiß dasjenige, was sich entwickeln soll, wenn sich die richtige Einsicht entwickelt. Aber es muß eben mit vielem gebrochen werden. Es muß vor allen Dingen an die Menschen die Einsicht herankommen, daß die äußeren Ereignisse wirk­lich nichts anderes sind als Symptome für einen inneren, im übersinn­lichen Felde liegenden Gang der Entwickelung, in dem nicht nur das

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geschichtliche Leben drinnensteht, sondern in dem wir, jeder einzelne, drinnenstehen mit unserem gesamten menschlichen Sein.

Ich will Ihnen ein Beispiel sagen, von dem ich ausgehen will: Wir haben hier öfters von dem Dichter Robert Hamerling gesprochen. Die Gegenwart ist sehr stolz darauf, daß sie das sogenannte Kausalgesetz, das Ursachengesetz, auf alle möglichen Dinge anwenden kann. Diese Anwendung des Ursachengesetzes auf alle möglichen Dinge gehört geradezu zu den verhängnisvollsten Illusionen der Gegenwart. Wer Hamerlings Leben kennt, der weiß, welche große Bedeutung für Ha­merlings ganze Seelenentwickelung der Umstand hatte, daß er, nach­dem er kurze Zeit in Graz «supplierender Lehrer» gewesen war, wie man s so nennt - das ist so eine Art Provisorium, bevor man angestellt wird als Gymnasiallehrer -, nachdem er in Graz an einem Gymnasium gewesen war, nach Triest versetzt wurde, von wo aus er mehrere Ur­laube nehmen konnte, um nach Venedig zu kommen. Wer nun das Leben der zehn Jahre ins Auge faßt, die Hamerling da im Süden an der Adria verbracht hat, zum Teil in seiner Stellung als Gymnasial­lehrer in Triest, zum Teil während seiner Besuche in Venedig, der sieht, wie in dieser Hamerling-Seele erstens ein glühender Enthusiasmus war für alles, was ihm der Süden darbieten konnte, wie er aber auch für seine ganze spätere Dichtung Lebensfähigkeit, seelische Lebensfähig­keit gesogen hat aus dem, was er da erfahren hat. Der ganze Hamer­ling, wie er konkret sich darlebt, müßte ein anderer sein, wenn er nicht die betreffenden zehn Jahre gerade in Triest, und mit den Urlauben in Venedig, verbracht hätte.

Nun denken wir, es schreibt so ein richtiger spießiger Bourgeois-Professor eine Biographie Robert Hamerlings und wollte die Frage beantworten, wie der innere Zusammenhang ist, daß der Robert Ha­merling gerade im rechten Augenblicke seines Lebens nach Triest ver­setzt wurde, daß er, der gar keine Mittel hatte, der ganz darauf an­gewiesen war, den Gehalt durch seine Stellung zu bekommen, im richtigen Augenblicke nach Triest versetzt worden ist. Ich will Ihnen erzählen, wie das gekommen ist äußerlich. Also Robert Hamerling war damals provisorischer Gymnasiallehrer - Supplent, wie man das in Österreich nennt - an dem Gymnasium in Graz. Solche supplierenden

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Lehrer sehnen sich häufig nach einer sogenannten definitiven An­stellung. Dazu muß man, da man es mit Behörden zu tun hat, alle möglichen Gesuche einreichen, «halbbrüchig» geschrieben, Zeugnisse beilegen, und so weiter. Das wird dann der nächsthöchsten Behörde gegeben, nicht wahr, die hat es hinzuleiten zu den übergeordneten Be­hörden und so weiter, ich will diesen Gang nicht weiter auseinander­setzen. Der Direktor jenes Gymnasiums in Graz, an dem Robert Hamerling supplierender Lehrer war, war damals der brave Kalten­brunner. Robert Hamerling hörte: In Budapest gibt es eine Vakanz, da gibt es eine Gymnasiallehrerstelle. - Dazumal war der Dualismus Österreich-Ungarn noch nicht vorhanden, sondern es war noch so, daß die Gymnasiallehrer von Graz nach Budapest, von Budapest nach Graz versetzt werden konnten. Er machte sein Gesuch um diese Gymnasial­lehrerstelle in Budapest, schrieb es schön und übergab es mit sämt­lichen Zeugnissen dem braven Direktor Kaltenbrunner. Nun, der brave Kaltenbrunner legte es ins Fach hinein und vergaß es, vergaß die Ge­schichte, und das, was geschah, war, daß in Budapest von anderer Seite her die Stelle besetzt worden ist. Hamerling kriegte die Stelle nicht, aber just, weil der brave Kaltenbrunner vergessen hat, das Gesuch zu der höheren Behörde hinaufzuleiten, die es dann, wenn sie es nicht vergessen hätte, zu der nächsthöheren, diese wieder zu der nächst­höheren und so weiter geleitet hätte, bis es dann zum Minister gekom­men wäre, dann wiederum herunter, nicht wahr, und so fort. Kurz und gut, es bekam ein anderer die Budapester Stelle, und Robert Hamer­ling verbrachte die zehn Jahre, um die es sich für ihn als wichtige Jahre handelte, nicht in Budapest, sondern in Triest, weil sich später in Triest eine Stelle fand, die ihm dann zugeteilt wurde, weil selbstverständlich ein zweites Mal der brave Kaltenbrunner das Gesuch Hamerlings nicht wiederum verbummelt hat, nicht wahr!

Also äußerlich betrachtet ist an dem wichtigsten Ereignis in Hamer­lings Entwickelungsgange die Bummelei des braven Kaltenbrunners schuld, sonst würde Hamerling in Budapest versauert sein! Damit ist gar nichts gegen Budapest gesagt, selbstverständlich, aber Hamerling wäre ganz gewiß dort versauert und hätte nicht zu dem kommen kön­nen, was gerade seinem Herzen und seiner Seele ganz besonders angemessen

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war. Und ein richtiger, wahrer Biograph würde nun erzählen können, wie es kam, daß Robert Hamerling von Graz nach Triest gekommen ist, indem der Kaltenbrunner sein Gesuch um die Stelle in Budapest einfach verbummelt hat.

Nun, es ist das ein eklatanter Fall, aber solche Fälle gibt es un­zählige, ganz ungezählte im Leben. Und derjenige, der das Leben nur am Faden der äußeren Ereignisse prüfen will, der findet eben, selbst wenn er glaubt, Ursachenzusammenhänge konstatieren zu können, kaum Ursachen, die tiefer zusammenhangen mit ihren Wirkungen, als die Bummelei des braven Kaltenbrunner mit der geistigen Entwicke­lung des Robert Hamerling. Das ist nur so eine Bemerkung, die ich mache, um Sie darauf aufmerksam zu machen, daß es in der Tat not­wendig ist, dringend notwendig ist, daß gerade der Grundsatz in die Seele der Menschen übergeht, das äußere Leben nicht anders zu nehmen in seinem Verlaufe denn als Symptom, das das Innere offenbaren soll.

Ich habe das letzte Mal davon gesprochen, wie von den vierziger bis siebziger Jahren gewissermaßen die kritische Zeit für die Bourgeoisie war, wie diese kritische Zeit von der Bourgeoisie verschlafen worden ist, und wie dann die Unlieilsjahrzehnte kamen seit dem Ende der sieb­ziger Jahre, die eben die heutigen Zustände herbeigeführt haben. Ich selbst habe den ersten Teil dieser Jahrzehnte in Österreich verbracht. In Österreich war man gerade im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, wenn man Anteil nehmen wollte an der geistigen Kultur, in einer sehr bemerkenswerten Lage. Es ist natürlich für mich naheliegend, die Sache gerade von dem Gesichtspunkte aus zu beleuchten, in dem ein heran­wachsender Mensch gewesen ist innerhalb der österreichischen Ent­wickelung, der Deutscher ist seiner Abstammung und Blutzusammen­gehörigkeit nach. Man ist wirklich innerhalb des österreichischen Terri­toriums in ganz anderer Weise ein Deutscher, als man etwa ein Deut­scher ist im Gebiete des sogenannten Deutschen Reiches, oder als man gar ein Deutscher ist im Gebiete der Schweiz. Natürlich, im Laufe des Lebens muß man ja sogar sich bestreben, alles zu verstehen, und man kann auch alles verstehen, man kann sich in alles einleben. Aber wenn man zum Beispiel in Frage ziehen würde, was empfunden wird von einem österreichischen Deutschen mit Bezug auf die soziale Struktur, in

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der er drinnen lebt, und würde sich dann fragen: Ja, kann, ohne daß er es sich erst aneignet, ein solcher österreichisch Deutscher zum Bei­spiel überhaupt irgendein Verständnis haben für jenes eigentümliche Staatsbewußtsein, das in der Schweiz vorhanden ist? - so muß man diese Frage im entschiedensten Maße verneinen. Der österreichisch Deutsche wuchs auf in einem Milieu, das ihm, wenn er sich nicht darum künstlich bemühte, durchaus als etwas für ihn Unverständliches das­jenige erscheinen läßt, was zum Beispiel beim Schweizer eine Art von unbeugsamen Staatsbewußtseins ist. Dafür kann der österreichisch Deutsche nicht das geringste Verständnis aufbringen, wenn er es sich nicht künstlich aneignet.

Auf diese Differenzierung innerhalb der Menschheit nimmt man ja kaum Rücksicht. Und Rücksicht nehmen muß man darauf, wenn man zum Verständnis der schwierigen Probleme kommen will, die in der nächsten Zukunft, ja schon heute, der Menschheit gerade in bezug auf solche Dinge bevorstehen. Für mich war es gewissermaßen, ich möchte sagen, symptomatisch bezeichnend, daß ich gerade in meinen Entwicke­lungsjahren eigentlich aufwuchs innerhalb eines Milieus, in dem mich selbst die signifikantesten Dinge im Grunde genommen nichts an­gingen. Das war für mich das Bezeichnendste, daß mich die signifikan­testen Dinge nichts angingen. Aber ich würde es gar nicht erwähnen, wenn es nicht eigentlich das bedeutsamste Erlebnis des richtigen Deutsch-Österreichers überhaupt wäre. Sehen Sie, bei dem einen drückt es sich so, bei dem andern anders aus. Ich lebte ja gewissermaßen recht universell österreichisch-deutsch: von meinem neunten bis achtzehnten Jahre hatte ich jeden Tag zweimal über die Grenze zu gehen, welche die Leitha zwischen Österreich und Ungarn bildet, denn ich hatte zu wohnen in Ungarn und war auf der Schule in Österreich. Ich wohnte in Neudörfl und ging zur Schule in Wiener-Neustadt. Man hatte eine Stunde zu gehen oder eine Viertelstunde zu fahren - Schnellzüge gab es ja auf jener Strecke noch nicht, ich glaube, auch heute noch nicht -, man mußte immer die österreichisch-ungarische Grenze passieren. Man lernte dabei aber auch jene zwei Gesichter kennen, welche die beiden Hälften desjenigen haben, was man im Ausland «Österreich» genannt hat. Denn im Inlande hatte man es ja früher nicht so einfach wie jetzt.

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Jetzt ist die Sache ja natürlich, man kann nicht sagen einfacher, es wird wahrhaftig nicht einfacher sein, aber anders. Bis jetzt war es eben so, daß man zu unterscheiden hatte zwei österreichische Reichshälften:

eine Hälfte hieß offiziell nicht Österreich, sondern sie hieß «die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder». Das war die offizielle Bezeichnung für diejenige Hälfte, die diesseits der Leitha liegt, ein­schließlich Galiziens, Böhmens, Schlesiens, Mährens, Ober- und Nieder­österreich, Salzburg, Tirol, Steiermark, Krain, Kärnten, Istrien und Dalmatien. Dann das zweite Gebiet, das waren die Länder der hei­ligen Stephanskrone; das ist dasjenige, was man im Auslande Ungarn nannte. Zu Ungarn gehörte dann auch Kroatien und Slawonien. Dann gab es noch seit den achtziger Jahren ein gemeinsames, aber bis zum Jahre 1909 nur okkupiertes, erst später annektiertes Gebiet, Bosnien und die Herzegowina, die beiden Reichshälften gemeinsam waren.

Nun, auf jenem Boden, auf dem ich wohnte, gab es selbst unter den signifikantesten Dingen, sagte ich, eigentlich nur solche, die mich in jenen Jahren, von meinem neunten bis achtzehnten Jahre, nichts Rech­tes angingen. Das erste, was da als signifikant mir entgegentrat, war Frohsdorf, ein Schloß, in dem der Gral von Chambord wohnte, aus der Bourbonschen Familie, der 1871 den mißlungenen Versuch gemacht hat, unter dem Namen Heinrich V. französischer König zu werden. Sonst hatte er ja auch noch manche andere Eigentümlichkeiten. Er war ein Urklerikaler. Aber an ihm und allem, was zu ihm gehörte, konnte man eine untergehende, verfallende Welt sehen und gewissermaßen die Symptome einer verfallenden Welt in sich aufnehmen. Es war mancherlei, was man da sah, aber es ging einen nichts an. Und man bekam eben den Eindruck: Da ist etwas, was die Welt einmal riesig wichtig genommen hat, was heute noch viele Menschen riesig wichtig nehmen, was aber eigentlich eine Bagatelle ist, was eigentlich gar nichts Besonderes heißt.

Das zweite war eine Art Jesuitenkloster. Eigentlich ein richtiges Jesuitenkloster, aber man nannte diese Mönche Liguorianer, es ist eine Abart der Jesuiten. Dieses Kloster war in der Nähe von Frohsdorf. Man sah die Mönche spazierengehen, man hörte von den Bestrebun­gen der Jesuiten, hörte dies oder jenes, aber es ging einen auch nichts

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an. Und man bekam wiederum den Eindruck: Was hat denn das alles eigentlich jetzt noch zu tun mit derjenigen Evolution der Menschheit, die der Zukunft entgegengeht? - An den schwarzen Mönchen bekam man den Eindruck, daß das eigentlich ganz herausfällt aus den wirk­lichen Kräften, die der Menschenzukunft entgegenführen.

Das dritte war eine Freimaurerloge an demselben Orte, in dem ich war, über die der Pfarrer fürchterlich schimpfte, aber die mich natürlich auch nichts anging, denn man durfte ja nicht hinein, nicht wahr. Der Hauswart ließ mich zwar einmal hineinschauen, aber ganz im geheimen. Aber am nächsten Sonntag konnte ich gleich wiederum vom Pfarrer die vernichtendste Rede darüber hören. Kurz, auch das war etwas, was einen nichts anging.

Ich war also gut vorbereitet, als ich dann mehr zum Bewußtsein kam, die Dinge auf mich wirken zu lassen, die einen eigentlich nichts angehen. Innerhalb meiner eigenen Entwickelung - und das ist ja das­jenige, was mich dann zum Goetheanismus, so wie ich ihn auffasse, eigentlich geführt hat - halte ich es für sehr bedeutsam und durch mein Karma gut inszeniert, möchte ich sagen, daß, während mein innerstes Interesse für die geistige Welt ganz früh da war, auch mein Leben ganz früh in der geistigen Welt verlief, ich nicht hingedrängt wurde durch die äußeren Verhältnisse zu dem, was Gymnasialstudium ist. Alles dasjenige, was man sich durch das Gymnasialstudium an­eignet, eignete ich mir ja erst später durch eigenes Lernen an. Das Gym­nasium in Österreich ist eigentlich damals nicht schlecht gewesen. Es ist nur seit den siebziger Jahren immer schlechter und schlechter gewor­den und es nähert sich jetzt schon seit Jahren in bedenklicher Weise den Gymnasialeinrichtungen anderer, benachbarter Staaten, aber dazu­mal war es nicht besonders schlecht. Aber dennoch würde ich mir heute nicht gratulieren können, wenn ich dazumäl etwa auf das Gymnasium in Wiener-Neustadt geschickt worden wäre. Ich bin auf die Realschule geschickt worden, und damit kam ich hinein in das, was vorbereitete zu einem modernen Denken, was vor allen Dingen vorbereitete, einen inneren Zusammenhang zu bekommen mit naturwissenschaftlicher Ge­sinnung. Dieses Zusammengehen mit naturwissenschaftlicher Gesin­nung, das war namentlich dadurch möglich, daß gerade die einzelnen

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besseren Lehrer der österreichischen Realschule, die dazumal im wirk­lich modernsten Sinne eingerichtet wurde, daß die besten Lehrer - es waren immer ihrer wenige - eigentlich diejenigen waren, die irgend­wie mit dem modernen naturwissenschaftlichen Denken zusammen­hingen.

Bei uns in Wiener-Neustadt war es nicht einmal durchweg so. In den unteren Klassen - und in den österreichischen Realschulen hatte man nur in den unteren vier Klassen einen Religionsunterricht - hatten wir einen Religionslehrer, der ein sehr gemütlicher Mann war, der uns durchaus nicht zu irgendwelchen Frömmlingen zu erziehen ge­eignet war. Er war katholischer Priester, und daß er uns nicht gerade zu Frömmlingen zu erziehen geeignet war, dafür sorgte schon die Tat­sache, daß drei kleine Buben - von denen die ganze Welt sagte, daß sie seine Söhne sind - jedesmal, wenn er unsere Anstalt verließ, ihn abholten. Aber ich schätze den Mann heute noch außerordentlich wegen all desjenigen, was er in der Klasse gesagt hat außerhalb des eigent­lichen Religionsunterrichtes. Den erteilte er in der Weise, daß er einen aufrief und einen ein paar Seiten aus dem Buche lesen ließ, und dann bekam man das auf; man wußte nicht, was drinnensteht, man sagte es auf, bekam dann eine ausgezeichnete Note. Aber man verschlief selbstverständlich die Sache, die darinnenstand. Was er außerhalb der Klasse sagte, war manchmal ein schönes, weckendes Wort, war vor allen Dingen sehr gemütvoll und nett.

Nun, man hatte ja in einer solchen Anstalt aufeinanderfolgend die verschiedensten Lehrer. Alles das ist von symptomatischer Bedeutung. Wir hatten zwei Karmeliter, von denen der eine uns Französisch, der andere Englisch beibringen sollte. Der für Englisch besonders konnte vor allen Dingen kaum irgendwie ein englisches Wort, nun, jedenfalls nicht einen Satz sprechen. In der Naturgeschichte hatten wir einen Mann, der verstand wirklich von Gott und der Welt gar nichts. Aber wir hatten ausgezeichnete Leute auf dem Gebiete der Mathematik , Physik, Chemie, vor allen Dingen auf dem Gebiete der darstellenden Geometrie. Und das gab eben dieses Zusammenwachsen mit innerlich naturwissenschaftlichem Denken. Damit war eigentlich für mich das Element, der Impuls gegeben, der mit dem Zukunftsstreben der

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Menschheit in der Gegenwart denn doch ganz wesentlich zusammen­hängt.

Kam man dann, nachdem man so sich durchgewunden hatte durch solch eine Anstalt, ins Universitäts-, ins Hochschulleben hinein, dann mußte man sich ja auch, wenn man nicht schläfrig war, für das öffent­liche Leben interessieren, für dasjenige, was sich abspielt im öffent­lichen Leben. Nun handelt es sich darum, daß der österreichisch Deutsche in einer wesentlich anderen Art hineinkommt in die zu er­lebende Erkenntnis des deutschen Wesens, als was man den sogenann­ten Reichsdeutschen nennt. Denn für diejenigen Dinge, die sich, ich möchte sagen, als Staatsdinge abgespielt haben in Österreich, konnte man ja ein gewisses äußerliches Interesse haben, aber einen rechten inneren Zusammenhang kaum, wenn man Interesse hatte für den Ent­wickelungsgang der Menschheit. Dagegen konnte man verwiesen wer­den, wie es ja auch bei mir der Fall war, auf dasjenige, was heraus-gewachsen ist aus der deutschen Kultur am Ende des 18. und am Beginne des 19. Jahrhunderts, und was ich doch in gewissem Sinne Goetheanismus nennen möchte. Das lernt man als österreichisch Deut­scher anders kennen als der Reichsdeutsche. Und man darf nicht ver­gessen, daß, wenn man mit einer modernen Bildung ins Naturwissen­schaftliche hineingewachsen ist, man zu gleicher Zeit herauswächst aus einem gewissen unnatürlichen Milieu, welches sich über den ganzen Westen Österreichs ausgebreitet hat im Laufe der letzten Zeiten. Man wächst heraus aus dem, was in einer äußerlichen Weise die Menschen Westösterreichs ergriffen hat - die zum Teil, ich nehme mich selbst­verständlich davon aus, außerordentlich nette Leute sind -, was die Leute Westösterreichs nicht innerlich ergreift: es ist der Katholizismus, der klerikale Katholizismus.

Dieser klerikale Katholizismus in der Form, wie er in Westösterreich lebt, ist ja im wesentlichen ein Produkt der sogenannten Gegenrefor­mation. Es ist das Produkt jener Politik, welche man doch nur bezeich­nen kann als die Habsburgische Hausmachtpolitik. Protestantische Ideen und Impulse haben sich ja auch in Österreich ziemlich stark ausgebrei­tet, allein die Zeiten des Dreißigjährigen Krieges und alles, was damit zusammenhängt, haben es den Habsburgern möglich gemacht, eine

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Gegenreformation in Szene zu setzen und tatsächlich - bitte, ich nehme mich wieder aus - über das durchaus in seiner Anlage außerordentlich intelligente österreichisch-deutsche Volk diese furchtbare Finsternis auszubreiten, welche ausgebreitet werden muß, wenn man den Katho­lizismus gerade in derjenigen Form irgendwie verbreitet, in der er da herrschend wurde durch die Gegenreformation. Dadurch kommt ein furchtbar äußerliches Verhältnis zu allem Religiosen in den Menschen hinein. Am glücklichsten sind noch diejenigen, welche sich bewußt wer­den dieses äußerlichen Verhältnisses zum Religiösen. Diejenigen, die sich dessen nicht bewußt werden, die da meinen, daß ihr Glaube, ihre Religiosität aufrichtig und ehrlich sei, die stecken in einer ungeheuren Lebensillusion, in einer furchtbaren Lebenslüge sogar, ohne daß sie es wissen, denn diese Lebenslüge zersetzt das seelische Innere.

Allerdings, mit naturwissenschaftlichem Impuls kann man kein Ver­hältnis gewinnen zu alledem, was da als ein fürchterlicher seelischer Brei sich dann durch die Seele verbreitet. Aber man konnte immer bemerken, wie aus diesem Brei heraus einzelne Individualitäten, sich abhebend, sich entwickeln. Diese einzelnen Individualitäten, die, sich abhebend, sich entwickeln, die werden dann gerade in einer gewissen Weise hineingetrieben in dasjenige, was Blüte war des mitteleuro­päischen Geisteslebens Ende des i 8.,Beginn des 19. Jahrhunderts. Sie ler­nen gewissermaßen dasjenige kennen, was in die moderne Menschheit hineingekommen ist, von Lessing angefangen, durch Herder, Goethe, durch die deutschen Romantiker und so weiter, und was in seinem weiteren Umfange doch als Goetheanismus bezeichnet werden kann.

Es ist in diesen Jahrzehnten das Bedeutsame gerade für den nach Geist strebenden Deutsch-Österreicher gewesen, daß er, gewissermaßen herausgehoben aus der Volksgemeinschaft, in der Lessing, Goethe, Herder und so weiter, gestanden haben, über die Grenze hinüber in ein ganz fremdes Milieu hineinversetzt, da das lebendige Anschauen Goethes, Schillers, Lessings, Herders, und so weiter bekam. Man be­kam alles andere nicht mit, man bekam gewissermaßen nur dasjenige, was dort herausgewachsen war, und man bekam es als einzelne Seele. Denn man hatte wiederum wirklich um sich herum diejenigen Dinge, die einen nichts angehen.

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So lebte man zusammen mit etwas, das man nach und nach eigentlich als sein eigenes Wesen fühlte, das aber herausgerissen war aus seinem Entstehungsboden und das man selber in der Seele trug innerhalb, ich möchte sagen, einer Gemeinschaft, die lauter Dinge enthielt, die einen nichts angingen. Denn es waren ja Anomalien, wenn man in jener Zeit Goethe-Ideen im Kopfe hatte und dann die Welt ringsherum begeistert war - aber die Worte der Begeisterung gingen auf Stelzen und hatten nichts von aufrichtigem und ehrlichem Ringen - für Dinge wie, nun, 1ch könnte auch etwas anderes nennen, aber sagen wir für das Buch des damaligen österreichischen Kronprinzen Rudolf, das heißt, seine Trabanten haben es geschrieben: «Österreich in Wort und Bild.» Man hatte kein Verhältnis zu solchem Zeug. Man gehörte zwar äußerlich dazu, aber man hatte kein Verhältnis zu solchem Zeug. Man trug das­jenige, was wirklich aus mitteleuropäischem Wesen erwachsen war und was ich dann im weiteren Sinne als Goetheanismus bezeichnen möchte, in seiner Seele.

Dieser Goetheanismus - und ich rechne dazu alles dasjenige, was sich dazumal an die Namen Schiller, Lessing, Herder und so weiter noch knüpft, auch an die deutschen Philosophen -, alles das steht ja in einer merkwürdigen Isolierung in der Welt überhaupt da. Diese Isolierung, in der es in der Welt dasteht, die ist außerordentlich be­zeichnend für die ganze Entwickelung der neueren Menschheit. Denn diese Isolierung, die veranlaßt denjenigen, der nun mit Ernst an diesen Goetheanismus herangehen will, ein wenig nachdenklich, nachsinnend zu werden.

Sehen Sie, wenn man zurückgeht, kann man sich fragen: Was ist eigentlich in die Welt gebracht worden von Lessing bis zu den deut­schen Romantikern, über Goethe hinaus, ungefähr bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, und wie hängt das, was da in die Welt gebracht worden ist, zusammen mit der vorgängigen geschichtlichen Entwicke­lung? - Nun wird nicht zu leugnen sein, daß innig zusammenhängt mit mitteleuropäischer geschichtlicher Entwickelung die Enstehung des Evangelischen aus dem Katholischen. Nicht wahr, wir sehen auf der einen Seite, wie sich innerhalb Mitteleuropas, zum Beispiel im Deut­schen Reich - für Österreich habe ich ja dieselben Erscheinungen schon

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besprochen - dasjenige erhalten hat, was ich hier charakterisiert habe als den römisch-katholischen Universalimpuls, der in Österreich so äußerlich, wie ich es charakterisiert habe, in Deutschland noch inner­licher, viele Seelen eben gefangen hält. Denn es ist ein großer Unter­schied zwischen einem österreichischen Katholiken und auch nur einem bayrischen Katholiken, wenn man wirklich auf solche Unterschiede hinschauen kann. Davon ist also vieles geblieben, was in weite, zurück-gelegene Jahrhunderte geht. Dann hat hineingeschlagen in diese katho­liche Kultur die evangelische Kultur, sagen wir die Luther-Kultur, die in der Schweiz die andere Form des Zwinglianismus und Calvinismus und so weiter angenommen hat. Nun sind vom Luthertum wiederum viele, viele Menschen innerhalb des sogenannten deutschen Volkes, namentlich des reichsdeutschen Volkes abhängig. Wenn man aber die Frage aufwirft: Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Goethe­anismus und zwischen dem Luthertum? - dann bekommt man die merkwürdige Antwort, daß da eigentlich gar kein Zusammenhang besteht. Gewiß, äußerlich hat sich Goethe auch mit Luther beschäftigt, sich auch mit dem Katholizismus äußerlich beschäftigt. Aber wenn man frägt nach dem inneren Seelenfermente in Goethe, so kann man nur sagen: Es gab für ihn nichts Gleichgültigeres in seiner ganzen Ent­wickelung als katholisch oder protestantisch sein. - Wie gesagt, in seiner Umgebung lebt es, doch hängt es nicht im entferntesten mit ihm zu­sammen. Man kann sogar zu diesem Aperçu ein anderes hinzufügen. Herder war Pastor, sogar Superintendent in Weimar. Wer seine Schrif­ten liest, kann auch von Herder sagen, der selbstverständlich als Pastor äußerlich von Luther viel inne hatte und wußte, daß seine Gesinnung, daß sein Denken nicht im allerentferntesten mit dem Luthertum irgendwie zusammenhängt, daß er ganz herausgewachsen ist aus dem Luthertum. So hat man in alledem, was zum Goetheanismus gehört -ich rechne da alles dies dazu -, auch in dieser Beziehung ein völlig Isoliertes. Und wenn man nach der Natur, nach der Wesenheit dieses Isolierten frägt, so bekommt man eigentlich zur Auskunft, daß es her­auskristallisiert ist aus allen möglichen Impulsen gerade des fünften nachatlantischen Zeitalters. Luther hat einen Einfluß gleich Null auf Goethe, auf Goethe aber hatte Einfluß Linné, hatte Einfluß Spinoza,

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hatte Einfluß Shakespeare. Und wenn man nach Einflüssen bei Goethe eben fragen will: nach Goethes eigenem Bekenntnis haben diese drei Persönlichkeiten den allergrößten Einfluß auf seine Seelenentwicke­lung genommen.

So hebt sich der Goetheanismus als isolierte Erscheinung heraus. Und das ist, was macht, daß wiederum dieser Goetheanismus wirklich dem ausgesetzt war, was man als Unmöglichkeit bezeichnen kann, populär zu werden. Denn nicht wahr, die alten Erscheinungen blei­ben; in den breiten Massen wurde nicht einmal der Versuch gemacht, Lessingsche, Schillersche, Goethesche Ideen irgendwie gangbar zu ma­chen, geschweige denn etwa Gefühle und Empfindungen dieser Persön­lichkeiten gangbar zu machen. Dagegen lebten wie antediluvianisch fort auf der einen Seite veralteter Katholizismus, auf der anderen Seite veralteter Lutherismus. Und es ist ja eine bedeutsame, eine signi­fikante Erscheinung, daß dasjenige, was die Leute geistig treiben inner-halb jener Kulturströmung, der ein Goethe angehört hat, die einen Goethe hervorgebracht hat mit jenen Kanzeireden zusammenhängt, die die protestantischen Pfarrer halten. Es gibt unter ihnen auch einige, die zu der modernen Bildung ein Verhältmis haben, aber das hilft ihnen nicht für ihre Kanzelreden. Dasjenige, was heute da als geistige Nahrung dargeboten wird, das ist wirklich so, daß man sagen muß:

es ist antediluvianisch, es hängt überhaupt nicht im geringsten zusammen mit demjenigen, was die Zeit irgendwie fordert , was der Zeit irgendwie Kraft geben könnte. Es hängt aber allerdings zusammen mit einer gewissen anderen Seite unserer Geisteskultur, mit jener an­deren Seite unserer Geisteskultur, welche macht, daß das geistige Leben eines großen Teiles der Menschheit der Gegenwart überhaupt außer­halb der Wirklichkeit verläuft Und dies ist vielleicht das bedeutsamste Zeichen des modernen Bourgeois-Philisteriums, daß das geistige Leben dieses Bourgeois-Phlisteriums außerhalb dieser Wirklichkeit verläuft, daß alles Gerede dieses Bourg . Philist i eigentlich außerhalb der Wirklichkeit steht.

Daher sind ja auch nur solche Erscheinungen möglich, die man ge­wöhnlich gar nicht beachtet die aber als Symptome tief, tief bezeich­nend sind. Sehen Sie, Sie können die Literatur der Kriegsphilister seit

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Jahrzehnten lesen, und Sie werden innerhalb dieser Literatur immer wieder und wiederum Kant zitiert finden. In den letzten Wochen haben sich zahlreiche dieser Kriegsphilister in Friedensphilister ver­wandelt, da es vom Krieg zum Frieden herübergeht. Das will ja nichts Besonderes besagen, wesentlich ist, daß sie Philister geblieben sind, denn selbstverständlich ist der Stresemann von heute kein anderer, als der Stresemann von vor sechs Wochen. Heute ist es natürlich wieder-um üblich, Kant als den Mann der Friedensphilister zu zitieren. Das ist außerhalb der Wirklichkeit. Die Leute haben kein Verhältnis zu dem, wovon sie vorgeben, daß sie geistig gespeist werden.

Das ist etwas, was zum Charakteristischesten in der Gegenwart ge­hört. Und so konnte eben die bemerkenswerte Tatsache auftreten, daß eine ganz gewaltige geistige Welle, die mit dem Goetheanismus auf­geworfen war, eigentlich vollständig unverstanden geblieben ist. Das ist der Schmerz, der heute einen befallen kann gegenüber den kata­strophalen Ereignissen der Gegenwart, der Schmerz kann einen be­fallen: Was soll denn werden mit dieser Welle, die eine der allerwich­tigsten im fünften nachatlantischen Zeitraum gewesen ist, was soll unter der gegenwärtigen Weltstimmung aus dieser Welle werden?

Demgegenüber kann man sagen: Es hat eine gewisse Wichtigkeit, wenn man sich entschließt, dasjenige, was zu tun haben will gerade mit den wichtigsten Impulsen des fünften nachatlantischen Zeitraums, Goetheanum zu nennen, ganz gleichgültig, was über diese Anstalt Goetheanum auch kommen mag. - Nicht darum handelt es sich, daß diese Anstalt so und so lange Jahre den Namen Goetheanum trägt, sondern daß einmal der Gedanke da war, den Namen Goetheanum gerade in der schwierigsten Zeit zu gebrauchen.

Gerade durch die Tatsache, die ich Ihnen angeführt habe, kann für einen gewissermaßen der Goetheanismus in seiner Isoliertheit etwas ganz Besonderes werden, konnte es werden, wenn man in der angege­benen Zeit in Österreich, wo einen so viel nichts anging, gelebt hat. Denn hätten ihn die Leute als etwas aufgefaßt, was sie etwas angeht, dann wäre die heutige Zeit nicht gekommen, dann wären diese kata­strophalen Ereignisse nicht eingetreten. Man möchte sagen: Dieses und vieles andere machte Deutsch-Österreich in einzelnen Individualitäten

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- denn die breiten Massen stehen eben unter dem furchtbaren Druck des Katholizismus der Gegenreformation -, aber es machte einzelne Individualitäten fähig, den Goetheanismus mit ihrer Seele in inniger Weise zu vereinigen. Ich selber - ich habe es öfter erwähnt - lernte einen solchen Österreicher kennen in Karl Julius Schröer, der in Öster­reich wirkte; aber ich möchte sagen, so wie er wirkte, auf jedem Ge­biete, auf dem er wirkte, war es der Goethe-Impuls, von dem aus er wirkte. Die Geschichte wird einmal zusammenstellen, was solche Leute wie Karl Julius Schröer gedacht haben über die politischen Notwendig­keiten von Österreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, solche Leute, die keines Menschen Ohr gefunden haben, die aber in einer gewissen Weise gewußt haben, wodurch das «Heute» zu ver-meiden gewesen wäre, das dann eben doch kommen mußte, weil sie niemandes Ohr gefunden haben.

Kam man dann ins Deutsche Reich, ja, da vor allen Dingen hatte man dann den Eindruck, daß wenn man mit Goethe zusammengewach­sen war, man eigentlich nirgends ein offenes Herz für solches Zusam­mengewachsensein fand. Ich kam im Herbst 1890 nach Weimar, und ich habe Ihnen neulich die schönen Seiten von Weimar geschildert; aber für dasjenige, was ich dazumal - ich hatte ja meine erste wichtige Goethe-publikation bereits hinter mir - für Goethe in meiner Seele trug, fand ich eigentlich, weil es das Geistige an Goethe war, recht, recht wenig Verständnis, Herzensverständnis da vor. Es war da ein ganz anderes Leben im Äußerlichen und auch im Inneren des Äußeren

- oder im Äußerlichen des Inneren, wenn Sie das lieber sagen wollen -als irgend etwas, was zusammenhängt mit den Goethe-Impulsen. Diese Goethe-Impulse sind eigentlich in den allerweitesten Kreisen vollstän­dig unbekannt, unbekannt insbesondere aber, total unbekannt bei den Professoren der Literaturgeschichte, die an den Universitäten über Goethe, Lessing, Herder und dergleichen Vorträge halten, unbekannt bei all den Philistern, die die schrecklichen Goethe-Biographien inner­halb der deutschen Literatur verbrochen haben. Ich konnte mich nur trösten über all das Schauerzeug, welches geschrieben worden ist, ge­druckt worden ist über Goethe durch die Publikationen Schröers und durch das schöne Buch von Her man Grimm, das mir verhältnismäßig

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sehr frühzeitig in die Hände gekommen ist. Aber Herman Grimm zum Beispiel wird ja durchaus von den Universitätsleuten nicht ernst ge­nommen. Sie sagen, er sei ein Spaziergänger auf dem Gebiet des Gei­steslebens, kein ernster Forscher.

Karl Julius Schröer ernst zu nehmen, dazu hat sich natürlich ein richtiger Universitätsgelehrter niemals aufgeschwungen; der wird ja immer nur so als Bagatelle behandelt. Ja, dieses Kapitel könnte ich in sehr mannigfaltiger Weise ausmalen. Aber man darf ja nicht ver­gessen bei alledem, daß in das Literatentum mit all seinen verschie­denen Verzweigungen, selbst in die Verzweigungen hinein, die man -mit Respekt zu vermelden - die journalistischen nennen kann, eben seine Ströme sendet, das in den letzten Jahrzehnten versumpfende Bürgertum, das vollständig in Schlaf versunkene Bürgertum, das keine Beziehungen hat, wenn es geistiges Leben treibt, zu dem wirklichen Inhalt dieses Geisteslebens. Von solchen Voraussetzungen aus kann man natürlich nicht irgendwie an den Goetheanismus herankommen. Denn Goethe selber ist im besten, im wahrsten Sinne des Wortes der modernste Geist des fünften nachatlantischen Zeitraums.

Bedenken Sie nur, was in diesem Goethe eigentlich alles als beson­ders charakteristische Eigentümlichkeit ist. Erstens, seine gesamte Welt­anschauung - die in die geistige Höhe noch höher hinaufgeführt wer­den kann, als sie Goethe selbst führen konnte - ruht auf solidem naturwissenschaftlichem Boden. Es gibt keine solide Weltanschauung in der Gegenwart, die nicht auf naturwissenschaftlichen Boden ruhen könnte. Daher ist so viel Naturwissenschaftliches in dem Buche, mit dem ich 1897 meine damaligen Goethe-Studien abgeschlossen habe, und das jetzt in neuer Auflage wiederum erschienen ist aus ähnlichen Grün­den, wie die Neuauflage der «Philosophie der Freiheit» erschienen ist. Das Philisterium hat damals gesagt - damals wurden meine Bücher noch rezensiert -: Der nennt das «GoethesWeltanschauung»; er müßte eigent­lich sagen «Goethes Naturanschauung». - Nun ja, daß das, was wirklich Goethes Weltanschauung ist, nur so dargestellt werden kann, daß die solide Grundlage der Goetheschen Naturanschauung geboten wird, das sahen natürlich diejenigen nicht ein, welche maskierte Goethe-Forscher oder dergleichen waren, Literarhistoriker oder Philosophen oder so etwas.

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Ein zweites Charakteristisches für Goethe, was ihn wiederum zu dem modernsten Geiste der fünften nachatlantischen Zeit macht, ist, wie sich in seiner Seelenverfassung jener eigentümliche innere Geistes-weg gestaltet, der von der intuitiven Naturanschauung zur Kunst hin­führt. Es gehört zu den allerinteressantesten Problemen der Goethe-Betrachtung, diesen Zusammenhang von Naturanschauung und künst­lerischer Betätigung, künstlerischem Schaffen und künstlerischer Phan­tasie eben in Goethes Seele zu verfolgen. Nicht auf Hunderte, sondern auf Tausende von Fragen, die aber nicht pedantische theoretische Fra­gen sind, sondern die lebensvolle Fragen sind, kommt man, wenn man diesen ganz eigenartigen, merkwürdigen Weg betrachtet, der sich bei Goethe immer abspielt, wenn er die Natur künstlerisch, aber darum nicht weniger ihrer Wirklichkeit nach betrachtet, und wenn er in der Kunst so wirkt, daß man, um sein eigenes Wort zu gebrauchen, in seiner Kunst etwas verspürt wie eine auf höherer Stufe erfolgende Fortsetzung des göttlichen Naturschaffens selber.

Ein drittes, was für Goethes Weltanschauung so charakteristisch ist, das ist, wie Goethe den Menschen hineinstellt in das ganze Weltenall, wie er in dem Menschen die Blüte, die Frucht des ganzen übrigen Weltenalls sieht, wie er immerdar bemüht ist, ihn nicht isoliert zu betrachten, sondern ihn so zu betrachten, daß der Mensch dasteht und gewissermaßen durch ihn durchwirkt die ganze Geistigkeit, die der Natur zugrunde liegt, und der Mensch mit seiner Seele den Schauplatz abgibt, auf dem sich der Geist der Natur selber anschaut. Aber mit diesen also abstrakt ausgesprochenen Gedanken hängt unendlich vieles zusammen, wenn es im Konkreten verfolgt wird. Und all dies ist ja im Grunde genommen erst die solide Grundlage, auf der dann auf­gebaut werden kann das, was zu den höchsten Höhen übersinnlicher, geistiger Betrachtung gerade in der heutigen Zeit führen kann. Wenn man heute darauf aufmerksam macht, daß die Welt versäumt hat, sich mit Goethe zu befassen - das hat sie -, daß die Welt versäumt hat, irgendwie eine Beziehung zum Goetheanismus zu gewinnen, ja, dann geschieht das wahrhaftig nicht, um diese Welt auszuzanken, um diese Welt abzukanzeln oder abzukritisieren, sondern nur, um dazu auf­zufordern, ein solches Verhältnis zum Goetheanismus zu gewinnen.

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Denn dieser Goetheanismus, fortgesetzt, bedeutet eben ein Hinein-kommen in anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft. Und ohne anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft kommt die Welt aus der heutigen katastrophalen Lage nicht heraus. Man kann in ge­wisser Weise am sichersten anfangen, wenn man in die Geisteswissen­schaft hineinkommen will, indem man mit Goethe anfängt.

Das alles hängt mit etwas anderem noch zusammen. Ich habe Sie vorhin darauf aufmerksam gemacht, daß eigentlich dieses breite Gei­stesleben, das auf den Kanzeln sich entwickelt, das für viele Menschen dann eine Lebenslüge wird, der sie sich gar nicht bewußt sind, eben antediluvianisch ist. Ebenso antediluvianisch ist ja im Grunde die Universitätsgelehrsamkeit aller Fakultäten. Nun wird das aber zur Anomalie, zur historischen Anomalie, auf einem Gebiete, wo es einen Goetheanismus daneben gibt. Denn ein weiteres Eigentümliches in Goethes Persönlichkeit ist die ungeheure Universalität, die so weit geht, daß ja gewiß Goethe auf den verschiedensten Gebieten nur schwache Saatkörner ausgestreut hat; die können aber überall aus­gebildet werden, und die sind, indem sie ausgebildet werden, etwas so Großes, enthalten die Keime zu etwas so Großem in sich, daß es das große Moderne ist, von dem aber die Menschheit nichts wissen will, dem gegenüber in seiner Verfassung, in seiner Gesinnung, wie es dasteht, das Antediluvianische die moderne Universitätsbildung ist. Diese moderne Universitätsbildung ist alter Zopf, wenn sie auch dies oder jenes Neuentdeckte und so weiter in sich aufnimmt. Aber daneben gibt es ein nicht beachtetes wirkliches Geistesleben: Goetheanismus. Goethe ist in gewisser Beziehung die Universitas litterarum, die ge­heime Universitas, und der widerrechtliche Fürst auf dem Gebiete des Geisteslebens ist die Universitätsbildung der Gegenwart. Aber alles Äußere, was Sie erleben, was zu der gegenwärtigen Weltkatastrophe geführt hat, alles dies Äußere ist ja schließlich ein äußeres Resultat dessen, was an den Universitäten gelehrt wird. Da reden die Men­schen heute über das oder jenes in der Politik, über diese oder jene Persönlichkeiten, da reden die Menschen darüber, daß der Sozialismus aufgetreten ist, da reden die Menschen über gute und schlechte Seiten der Kunst, da reden die Menschen über den Bolschewismus und so

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weiter, da fürchten sich die Menschen, daß das oder jenes herauf-komme, da sehen die Menschen an dem einen oder andern Platz den oder jenen stehen, da gibt es Menschen, die vor sechs Wochen das Gegenteil von dem gesagt haben, was sie heute sagen. Alles das gibt es. Woher fließt alles das? Doch schließlich von den Bildungsstätten der Gegenwart! Alles Übrige ist im Grunde genommen sekundäres und sekundärstes Gerede, was nicht aufmerksam darauf wird, daß die Axt an die Wurzel der sogenannten modernen Bildung selbst gelegt werden muß. Was wird es denn nützen, wenn noch so viel da oder dort sogenannte gescheite Ideen entwickelt werden, wenn man nicht einsieht, wo eigentlich der Bruch gemacht werden muß?

Ich habe vorhin davon gesprochen, daß mich selber gewisse Dinge nichts angegangen sind. Ich kann Ihnen noch etwas verraten, was mich nichts angegangen ist. Als ich von der Realschule an die Hochschule kam, da hörte ich verschiedene Dinge, ließ mich in verschiedene Dinge inskribieren. Es waren laute Dinge die mich nichts angingen, denn nirgends konnte man den Impuls desjenigen verspüren, was wirklich zusammenhängt mit der Evolution unseres Zeitalters. Und ohne albern werden zu wollen - ich habe ja neulich erzählt, wie ich überall ¾er­auslanciert worden bin -, darf ich sagen, daß ich vor allen Dingen eine gewisse Sympathie hatte für jene Universitas, die der Goetheanismus ist, dadurch daß Goethe im Grunde genommen, indem er durch die Universitätsbildung ging, auch durch etwas ging, was ihn nichts an-ging in Wirklichkeit. Goethe hat sich blutwenig befaßt in Leipzig, in der damaligen Universität im damaligen königlichen Sachsenlande, mit dem, was er da hören konnte, und er hat sich später wiederum in Straßburg blutwenig befaßt mit dem, was er da hören konnte. Und dennoch, alles das, selbst das Künstlerischeste des Künstlerischen bei Goethe ruht auf solidem Boden sogar strengster Naturanschauungi Goethe ist wider alles Universitätswesen in die modernsten Impulse auch des Erkennens hineingewachsen. Das ist dasjenige, was man, wenn man von Goetheanismus spricht, nicht aus den Auge verlieren darf. Das ist dasjenige was ich in meinen Goethe-Studien und auch in meinem Buche «Goethes Weltanschauung» gerne den Menschen zum Bewußtsein gebracht hätte. Den wirklichen Goethe hätte ich gerne den

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Menschen zum Bewußtsein gebracht. Nur - es war das Zeitalter nicht dazu da. Es fehlte sozusagen in ganz erheblichem Maße der Resonanz-boden. Daß Ansätze dazu da waren, das habe ich neulich erwähnt; sie waren doch in Weimar gegeben, der Boden war in Weimar gewis­sermaßen dazu gegeben. Aber auf diesen Boden stellte sich nichts Rechtes, und diejenigen, die darauf gestellt waren, lancierten die an­deren weg, die auf diesem Boden hätten stehen können. Wäre die neuere Zeit ein wenig von Goetheanismus durchdrungen, sie würde mit Sehnsucht Geisteswissenschaft aufnehmen, denn der Goetheanis­mus bereitet den Boden für die Aufnahme der Geisteswissenschaft vor. Dann aber würde wiederum dieser Goetheanismus zur Methode für eine wirkliche Gesundung der Menschen der Gegenwart. Ja, man muß nicht oberflächlich das Leben der gegenwärtigen Zeit betrachten!

Als ich gestern den Vortrag gehalten hatte in Basel, da mußte ich doch denken: Dasjenige, was da zu sagen wäre, ist eigentlich so, daß es heute keinen ehrlichen Wissenschafter geben könnte, der, wenn er sich darauf einläßt, die Sache nicht zugibt. - Wenn er sich darauf ein­läßt! Was die Sache zurückhält, sind ja nicht logische Gründe, sondern ist jene Brutalität, welche als Brutalität auch auf allen Gebieten der zivilisierten Welt die gegenwärtige Katastrophe herbeigeführt hat. Tief symbolisch selbstverständlich bleibt immer eine solche Tatsache, daß es eine Goethe-Gesellschaft gibt, welche vor einigen Jahren nichts Besseres zu tun hatte, als einen gewesenen, abgewirtschafteten Finanz­minister zum Präsidenten zu machen, so richtig ein Symptom für das Außenstehen der Menschen gegenüber dem, was sie glauben, zu ver­ehren. Dieser Finanzminister, der, wie ich neulich schon sagte, viel­leicht auch symptomatisch den Vornamen hat «Kreuzwendedich», die­ser Finanzminister glaubt ja selbstverständlich in der Lebenslüge, in der er drinnensteht, daß er Goethe verehrt, weil er ja keine Ahnung haben kann, aus der gegenwärtigen Bildung heraus keine Ahnung haben kann, wie fern, wie - man könnte kosmische Entfernungen, Sternenweiten oder so irgend etwas zu Hilfe nehmen, wenn man die Pernigkeit auch nur irgendwie ausmessen würde, in welcher dieser Prä­sident der Goethe-Gesellschaft selbst zu dem Allerelementarsten des Goetheanismus steht.

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Dieses Zeitalter war natürlich nicht dazu da, um irgendwie in das Innere des Goetheanismus hineinzuführen. Denn der Goetheanismus ist nichts Nationales, der Goetheanismus ist nichts Deutsches. Gespeist ist, wie ich Ihnen gezeigt habe, dieser Goetheanismus von Spinoza, nun, der war ja schließlich kein Deutscher, von Shakespeare - war ja schließlich kein Deutscher; von Linné - war ja schließlich kein Deut­scher. Und Goethe selbst sagt es, daß diese drei Persönlichkeiten von allen Persönlichkeiten auf ihn den größten Einfluß gehabt haben, und er irrt sich darin gewiß nicht. Wer Goethe kennt, weiß, wie gerecht­fertigt dies ist. Aber Goethe ist dagewesen - Goetheanismus könnte da sein! Goetheanismus könnte walten in allem menschlichen Denken, könnte walten im religiösen Leben, könnte walten in jedem wissen­schaftlichen Zweige, könnte walten in sozialen Ausgestaltungen des menschlichen Zusammenlebens, Goetheanismus konnte walten im poli­tischen Leben, überall könnte der Goetheanismus walten. Und die Welt hört sich heute die Schwätzer an, Eucken oder Bergson, wie sie auf den verschiedensten Gebieten heißen. Ich will schon gar nicht von irgend­welchen politischen Schwätzern sprechen, denn auf diesem Gebiete ist ja in der heutigen Zeit das Eigenschaftswort mit dem Hauptwort fast identisch geworden.

Gegen die Fremdheit des heutigen Geistesgetriebes gegenüber der Wirklichkeit ist schließlich das, was hier gewollt worden ist, was ja in der Zukunft so stark gehaßt werden wird, daß natürlich seine Fertig­stellung selbstverständlich sehr problematisch ist, besonders in dem gegenwärtigen Zeitpunkte, demgegenüber ist dasjenige, was hier ge­wollt worden ist, ein lebendiger Protest. Und dieser Protest kann nicht schöner ausgedrückt werden, als wenn man sagt: Das, was hier gewollt worden ist, ist ein Goetheanum. - Es ist gewissermaßen ein Bekennt­nis zu den wichtigsten Eigenschaften und auch zu den wichtigsten For­derungen der Gegenwart, wenn hier von einem Goetheanum gespro­chen wird. Und dieses Goetheanum ist wenigstens gewollt worden inmitten des gegenwärtigen Philisteriums - will sagen, der gegenwär­tigen zivilisierten Welt -, sollte herausragen aus dieser gegenwärtigen sogenannten zivilisierten Welt.

Selbstverständlich, wenn es nach dem Herzen vieler Zeitgenossen

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ginge, würde man vielleicht sagen, es wäre gescheiter gewesen, «Wil­sonianum» zu sagen, denn das ist ja die Flagge der gegenwärtigen Zeit. Das ist ja dasjenige, dem sich gegenwärtig die Welt beugen will und wahrscheinlich auch beugen wird.

Nun, es mag manchem sonderbar erscheinen, wenn heute einer kommt und sagt: Die einzige Hilfe gegen den Wilsonismus ist der Goetheanismus. - Dann kommen diejenigen Menschen, die das besser wissen wollen und sagen: Das ist ein Ideologe, der so spricht! - Nun, wer sind denn jene Menschen, die dieses Wort prägen: Das ist ein weltenfremder Mensch - wer sind sie denn? Diese weltenverwandten Menschen sind es, welche die heutige Weltordnung herbeigeführt ha­ben, welche die heutige Weltordnung herbeigeschaffen haben; die sind es, welche sich besonders praktisch immer gedünkt haben, die sind es, welche sich selbstverständlich auflehnen gegen das, was aus den Zu­sammenhängen gerade tiefster Wirklichkeit heraus gesprochen werden muß: Die Welt wird krank werden am Wilsonismus, die Welt wird auf allen Gebieten des Lebens ein Heilmittel brauchen, und das wird der Goetheanismus sein!

Und wenn ich mit einer persönlichen Bemerkung abschließen darf zu dieser Interpretation meines Goethe-Buches, «Goethes Weltanschau­ung», das jetzt auch in einer zweiten Auflage erschienen ist: Durch eine merkwürdige Verkettung der Umstände ist dieses Buch noch nicht da, nämlich, man ist ja immer noch, nicht wahr, insbesondere in der Gegenwart, ein bißchen zu Konzessionen bereit. Praktische Menschen haben uns vor einiger Zeit den Vorschlag gemacht, vor Monaten schon, man solle direkt von der Druckerei diese Bücher «Philosophie der Frei­heit» und «Goethes Weltanschauung» hierher schicken, damit sie nicht erst den Umweg nach Berlin machen und so lange brauchen, bis sie hier sind. Und man meint doch, die Praktiker, die kennen sich aus in diesen Dingen. Nun, die «Philosophie der Freiheit» wurde als von den Praktikern abgesendet gemeldet, kam aber Wochen und Wochen und Wochen nicht hier an. Von Berlin konnten die Leute schon längst Exemplare bekommen; hier war keines zu haben, weil irgendwo unter­wegs von den Praktikern die Sache besorgt worden war, weil wir «unpraktischen» Leute nicht eingreifen sollten in die Sache. Aber was

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war mit der «Philosophie der Freiheit» geschehen? Da war nämlich das Folgende passiert: Die Sendung war von den Praktikern der Firma aufgegeben worden, und es war mitgeteilt worden, daß sie es schicken sollen nach Dornach bei Basel. Aber diese Firma, der betreffende Herr, der es gemacht hat, der hat sich gesagt: Dornach bei Basel, das ist im Elsaß - denn da gibt es auch ein Dornach, und das ist ja auch in der Nähe von Basel -, und da braucht man keine Auslandsmarken drauf­zukleben, da können wir deutsche Inlandspostmarken draufkleben. -Nun, so ging denn durch praktische Anordnungen die ganze Sendung nach Dornach im Elsaß, wo man natürlich nicht wußte, was damit an­fangen. Die Sache mußte durch die unpraktischen Menschen reklamiert werden, und endlich, nach langen Umwegen, nachdem sich der Prak­tiker dazu bequemt hatte, einzusehen, daß Dornach bei Basel nicht Dornach im Elsaß ist, kam die «Philosophie der Freiheit» hier an. Ob nun «Goethes Weltanschauung» von irgendeinem Praktiker statt von Stuttgart nach Dornach bei Basel nach dem Nordkap herumgeschickt worden ist, um vielleicht um die Erde herum in Dornach einzutreffen, das weiß ich nicht. Aber jedenfalls, das sollte nur solch ein Beispiel sein, das wir zunächst unmittelbar am eigenen Leibe erlebt haben über den Anteil der Praktiker am Leben, an der wirklichen Lebenspraxis.

Das also ist, was ich zunächst persönlich als Versuch machen konnte auf dem Gebiete, das mir nahelag - nahelag mehr durch die Verhält­nisse als durch meine Neigungen -, der Zeit wirklich zu dienen. Und ich glaube schon einmal, wenn ich betrachte, was mich mit meinen ver­schiedenen Büchern aus dem Impulse der Zeit heraus verbindet, daß diese Bücher wirklich der Zeit auf den verschiedensten Gebieten dienen. Daher haben sie mich auch gelehrt, wieviel in diesen letzten Jahrzehn­ten gegen die Zeit eigentlich wirklich getrieben und unternommen worden ist. Die Leute mögen in ihrer Brutalität noch so sehr glauben, daß irgend etwas eben sich durchdrücken läßt: es läßt sich nichts in Wahrheit durchdrücken, was gegen die Impulse der Zeit ist. Es läßt sich manches, was mit dem Impulse der Zeit ist, zurückhalten! Nun, wenn es zurückgehalten wird, es wird später seinen Weg finden, wenn auch vielleicht unter ganz anderen Namen und in ganz anderem Zu­sammenhange. Aber ich glaube doch, diese Bücher haben neben manchem

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anderen vielleicht doch auch dieses, daß man an ihnen sehen kann, wie man aus der Beobachtung der Zeit heraus seiner Zeit selber dienen kann. Man kann aber mit allem, mit der kleinsten, mit der ele­mentarsten Tätigkeit kann man der Zeit dienen. Man muß nur den Mut haben, zum Goetheanismus überzugehen, der sich wie eine Uni­versitas liberarum scientiarum hinstellt neben das, was heute alle Men­schen anbeten, die radikalsten Sozialisten am allermeisten: die ante­diluvianische Universität.

Es könnte sehr leicht scheinen, als ob diese Dinge persönlich gemeint seien; daher zögere ich auch immer, solche Dinge auszusprechen. Wenn man natürlich dem billigen Einwand ausgesetzt ist: Aha, der ist nicht Universitätsprofessor geworden, also schimpft er über die Universi-täten - nun ja, diesen billigen Einwand muß man sich schon gefallen lassen, wenn man eben notwendig hat, darauf hinzuweisen, daß das eigentliche Übel der Zeit nicht diejenigen treffen, die von irgendeinem politischen, irgendeinem spezialwissenschaftlichen, irgendeinem natio­nalökonomischen, irgendeinem religiösen oder sonstigen Gesichtspunkte das oder jenes vorbringen. Den eigentlichen Gesichtspunkt, der in Betracht kommt, den treffen allein diejenigen, die hinweisen auf das allerschlimmste Infallibilitätsdogma, auf jenes Infallibilitätsdogma, das durch eine verhängnisvolle Übereinstimmung der Menschheit dazu geführt hat, daß alles unterstellt ist dem, was gegenwärtig die Mensch­heit führt: das, was gegenwärtig offizielle wissenschaftliche Stätten sind , in denen so viel Unkraut - selbstverständlich neben ein paar guten Pflänzchen - gedeiht. Ich werde durchaus nicht, geradesowenig wie ich, wenn ich über Staaten oder Nationen spreche, niemals den ein­zelnen meine, so niemals den einzelnen Universitätslehrer oder der­gleichen meinen. Das können ausgezeichnete Leute sein; darauf kommt es nicht an: es kommt auf das Wesen der Einrichtung an.

Und wie schlimm dieses Wesen ist, das zeigt sich heute schon dar­innen, daß diejenigen Schulen, die angefangen haben, ein wenig aus dem Natürlichen selbst heraus sich zu entwickeln, die technischen Hoch-schulen, nun auch schon universitäre Allüren annehmen und damit eigentlich schon einen großen Schritt in die Versumpfung hinein ge­macht haben.

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Betrachten Sie solche Auseinandersetzungen, wie ich sie heute wieder gemacht habe, wie eine Art von Episode in unseren anthroposophischen Besprechungen. Aber ich denke, die gegenwärtige Zeit ist eine so sehr unsere Gedanken und unsere Empfindungen nach dieser Richtung her­ausfordernde, daß ja solche Betrachtungen bei uns angestellt werden sollten. Sie müssen insbesondere deshalb von uns angestellt werden, weil sie ja leider nirgend anderswo angestellt werden.

Ja, recht weit, weit entfernt vom Goetheanismus, der wahrhaftig nicht im Goethe-Studium besteht und nicht im Verfolgen der Goethe­schen Werke allein, weit entfernt vom Goetheanismus ist noch unsere Gegenwart. Furchtbar nötig, auf allen Gebieten des Lebens, sich diesem Goetheanismus zu nähern, hat es diese unsere Gegenwart. Es scheint ideologisch und nicht praktisch zu sein, wenn man dieses sagt, aber es ist das Aller-allerpraktischeste in der Gegenwart. Man wird es zu ganz anderem bringen als zu dem einzigen, zu dem es in der Gegenwart noch das Bourgeoistum doch bringt: zu rationieren, wenn man die ver­schiedenen Zweige des Lebens auf den Boden des Goetheanismus stellt. Und Geisteswissenschaft, die wird schon derjenige finden, der auf dem Boden des Goetheanismus steht. Das ist etwas, was man heute mit flammender Schrift in die Herzen der Menschen hineingießen möchte.

Es ist dies von mir versucht worden in der verschiedensten Weise seit Jahrzehnten. Aber vieles von dem, was aus dem Herzblut heraus geredet worden ist, um der Zeit zu dienen, ist von der Zeit als erbau­liche Sonntagnachmittagspredigt genommen worden. Denn im Grunde genommen haben die Leute, die so gern den Kulturschlaf schlafen, auch nichts anderes gewollt wie Sonntagnachmittagspredigten, nicht wahr? Das wäre der Menschheit so notwendig, daß man das konkret für die Zeit Erforderliche, Notwendige sucht! Und das müßte man vor allen Dingen in seine Einsicht hereinzubringen suchen, denn auf die Einsicht kommt es heute vor allen Dingen an. Es ist doch wiederum trivial, wenn man heute in dieser ungeheueren Verwirrung, die bald noch größer sein wird, frägt: Was soll der einzelne tun? - Vor allen Dingen nötig ist es, sich um Einsicht zu bekümmern, damit die Infallibilität namentlich auf dem Gebiete, das ich gerade heute gemeint habe, in ein richtiges Fahrwasser gebracht wird.

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Und dieses Bücheichen «Goethes Weltanschauung» ist vorzugsweise dazu geschrieben, um zu zeigen, daß es zwei Strömungen in der Ge­genwart auf dem Gebiete alles Erkennens gibt: eine in der Dekadenz lebende Strömung, die alle anbeten, und eine, die die fruchtbarsten Keime für die Zukunft enthält, und die alle meiden. Mancherlei schlechte Erfahrungen haben die Menschen gemacht in den letzten Jahrzehnten, gewiß viele durch eigene Schuld. Aber darauf sollten die Menschen kommen, daß sie mit denen, auf die sie am stolzesten sind, ihre Schulmeister, doch im Grunde genommen die schlechtesten Er­fahrungen schon gemacht haben und noch viel schlechtere machen wer­den. Zunächst scheint aber die Menschheit nötig zu haben, erst durch die Erfahrungen durchzugehen' die sie mit dem Weltenschulmeister zu machen hat, denn die Welt hat es dazu gebracht, nun endlich einen Schulmeister als Weltenordner hinzustellen! Zu denjenigen Schwätzern, die überall aus universitärem Zeug heraus die Welt beschwätzt haben, tritt nun auch noch derjenige, der die ganze Welt ordnen soll aus uni­versitärem Geschwätze heraus.

Nicht um zum Pessimismus, sondern um zu denjenigen Impulsen anzuregen, die den Goetheanismus dem Wilsonismus gegenüberstellen, sind diese Worte gesprochen. Auch nicht aus irgend etwas Nationalem heraus, denn Goethe ist selber wahrhaftig kein nationaler Geist, son­dern ein recht sehr internationaler. Die Welt sollte davor behütet wer­den, sich den Schaden anzutun, an die Stelle des Goetheanismus den Wilsonismus zu setzen.

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ACHTER VORTRAG Dornach, 2. November 1918

Wir haben jetzt von den verschiedensten Gesichtspunkten her versucht, einiges Licht zu werfen auf die besonderen Eigentümlichkeiten der Zeitepoche, welche wir eben charakterisieren müssen als den fünften nachatlantischen Zeitraum, der mit dem Beginne des 15. Jahrhunderts seinen Anfang genommen hat, in dem wir jetzt drinnen stehen, und der in der Mitte des vierten Jahrtausends sein Ende finden wird. Nun ist in unserer gegenwärtigen Zeit sehr vieles in den symptomatischen Geschehnissen der Geschichte, das innig zusammenhängt mit den Ge­schehnissen im Beginne dieses Zeitraumes. Aus Gründen, die, wenn wir noch länger Zeit haben, in den folgenden Vorträgen herauskommen werden, und die in der Entwickelung der ganzen Menschheit liegen, kann man diesen fünften nachatlantischen Zeitraum im wesentlichen in Fünftel teilen, und wir stehen in einem besonders wichtigen Punkte, wo die Wende des ersten und des zweiten Fünftels dieses Zeitraumes zur Entscheidung kommen muß.

Indem ich Ihnen eine Art Überblick gewissermaßen vor das geistige Auge führen will über die religionsgeschichtlichen Impulse, insoferne sie symptomatisch sind in diesem fünften nachatlantischen Zeitraume, werde ich genötigt sein, mancherlei, was ich gerade bei dieser Betrach­tung sage, hindeutend, andeutend zu sagen. Denn sobald man im Ernste eingeht auf die Evolution der religiösen Impulse der Menschheit, in dem Augenblicke werden die Wirklichkeiten, die man dabei im Auge haben muß, so schwierig gegenüber dem Ausdrucke, der einem zur Verfügung stehen kann in der menschlichen Sprache, daß eben nur eine annäherungsweise, andeutungsweise Aussprache über die Dinge mög­lich ist. Daher werden Sie mancherlei von dem, was ich heute und mor­gen sagen werde, so zu nehmen haben, daß Sie wirklich versuchen, auch hinter den Worten und in den Worten noch mancherlei zu sehen, nicht aus dem Grunde, weil ich Geheimniskrämerei treiben will, son­dern aus dem Grunde, weil die Sprache zu ohnmächtig ist, um die Viel­gestaltigkeit der Impulse der Wirklichkeit tatsächlich zum Ausdrucke

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zu bringen. Vor allen Dingen aber muß ich Sie heute darauf aufmerk­sam machen, daß derjenige, der solche Dinge geisteswissenschaftlich betrachtet, sich schon einmal darauf einlassen muß, wirklich zu den­ken. Das Denken hat sich ja die heutige Menschheit mehr oder weniger abgewöhnt. Ich meine natürlich nicht jenes Denken, welches den Hoch­mut begründet der heutigen sogenannten Wissenschaft, sondern ich meine jenes Denken, das auf genaue Wirklichkeitsunterscheidungen einzugehen vermag. Ich muß, um das betrachten zu können, was uns jetzt zu betrachten obliegen wird, Sie vor allen Dingen aufmerksam darauf machen, daß ich zwei Strömungen innerhalb der Menschheits-entwickelung Ihnen vorgeführt habe. Ich weiß nicht, ob alle diejenigen, die hier sitzen, so genau auf meine Satzprägungen im Laufe der Zeit während dieser Betrachtungen werden hingehorcht haben, daß sie das schon bemerkt haben, was ich aber heute besonders herausheben will, damit in den folgenden Betrachtungen kein Mißverständnis entsteht.

Ich habe zunächst eines hervorgehoben mit Bezug auf die Evolution, auf die Entwickelung der nachatlantischen Menschheit. Ich habe auf­merksam gemacht, daß die Menschheit der nachatlantischen Zeit, wenn man so sagen darf, immer jünger und jünger wird. Das heißt, daß in der ersten Epoche dieser nachatlantischen Zeit, in der sogenannten urindischen Zeit, die Menschen körperlich entwickelungsfähig geblieben sind bis in die fünfziger Jahre hinauf, daß sie also Entwickelungsstadien durchgemacht haben bis in die fünfziger Jahre, dann bis in ein weniger hohes Alter in der urpersischen Zeit, wieder bis in ein weniger hohes Alter in der ägyptisch-chaldäischen Zeit. Dann, in der griechisch-latei-nischen Zeit, kam die Menschheit an in einer Epoche, in welcher sie nur entwickelungsfähig war bis zu den Jahren vom 28. bis 35. Jahre. Und jetzt stehen wir in der Epoche, in der die Menschheit entwickelungs-fähig bleiben wird bis zum 27. bis 28. Lebensjahr; jetzt eben - ich habe das öfter hervorgehoben - stehen wir darinnen in der Zeit, wo die Menschen durch das, was ihnen die Welt gibt, nur entwickelungsfähig bleiben bis zum 27. Lebensjahre. Dasjenige, was ihnen eine weitere Ent­wickelung geben kann, müssen sie sich aus den spirituellen Impulsen herausholen. Dann wird eine Menschheit kommen, die gar nur ent­wickelungsfähig bleiben wird bis in das Lebensalter von 14 bis 21 Jahren.

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Es wird dann der sechste nachatlantische Zeitraum sein. Und so wird es weiter gehen. Die Menschheit wird, indem sie älter wird, in diesem Sinne immer jünger und jünger werden. Das ist die eine Evo­lution der Menschheit.

Nun ist besonders ins Auge zu fassen - wie gesagt, ich weiß nicht, ob Sie alle das bemerkt haben -, daß diese Evolution , die ich jetzt aus­einandergesetzt habe, die ganze Menschheit betrifft. Die Menschheit also macht diese Evolution durch. So daß wir sagen können: Mit Bezug auf diese - ich will sie die erste Evolution nennen -, mit Bezug auf diese erste Evolution steht die Menschheit in einer Phase darinnen, die zwischen dem 28. und 21.Jahre liegt. Das sind aber die Jahre, in denen die Empfindungsseele besonders zur Entwickelung kommt. Also wir stehen heute in einer Entwickelungsepoche drinnen, in der die ganze Menschheit die Empfindungsseele besonders zur Entwickelung bringt. Das ist die eine Evolution.

Nun habe ich Ihnen aber auch von einer anderen Evolution erzählt. Diese andere Evolution besteht darinnen, daß in der ersten nachatlan-tischen Epoche, in der urindischen, die Menschheit durchgemacht hat diejenige Zeit, in welcher der einzelne Mensch sich entwickelte durch den Ätherleib durch. In der zweiten nachatlantischen Zeit, in der ur­persischen, entwickelte sich der einzelne Mensch durch den Empfin­dungsleib durch, in der ägyptisch-chaldäischen Zeit der einzelne Mensch durch die Empfindungsseele durch, in der griechisch-lateinischen Zeit der einzelne Mensch durch die Verstandes- oder Gemütsseele, und im jetzigen Zeitraume der einzelne Mensch durch die Bewußtseinsseele. Das ist also die zweite Evolution. Während eine Evolution läuft, die die ganze Menschheit betrifft, läuft die andere Evolution einher, welche den einzelnen Menschen in der ganzen Menschheit betrifft. Der einzelne Mensch, wenn ich wieder unseren Zeitraum in Betracht ziehe, der Ein­zelmensch in der Menschheit bringt die Bewußtseinsseele zur Ent­wickelung.

Die dritte Evolutionsströmung, die in Betracht kommen würde, das ist jene, die ich auch öfter erwähnt habe, welche die einzelnen Volks-elemente über die Erde hin in Entwickelung zeigt. Mit Bezug darauf habe ich Ihnen ausgeführt, wie das einzelne Volk, wie zum Beispiel das

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italienische Volk, sich so entwickelt, daß, was durch das Volk kommt, gerade besonders die Empfindungsseele anregt, das französische Volk so sich entwickelt, daß besonders die Verstandes- oder Gemütsseele an­geregt wird, die englischsprechenden Völker dasjenige, was besonders die Bewußtseinsseele anregt, und so weiter. Das ist die dritte Evolution. Sie sehen, das geht durcheinander, da kann ich nicht für unseren beson­deren Zeitraum einen einzelnen Satz herausheben.

Erste Evolution: Die ganze Menschheit bringt die Empfindungs-seele zur Entwickelung.

Zweite Evolution: Der einzelne Mensch in der Menschheit bringt die Bewußtseinsseele zur Entwickelung.

Dritte Evolution: die der Völker.

Diese drei Evolutionen aber, die kreuzen sich in jedem Menschen, die greifen in die Seele eines jeden Menschen ein. Ja, meine lieben Freunde, einfach ist die Weltenordnung wahrhaftig nicht! Wenn Sie wollen, daß für Sie die Weltenordnung sich in den allereinfachsten Gedanken ausdrückt, dann müssen Sie entweder Professor oder spani­scher König werden. Denn man braucht nur zu erinnern an jene Sage von dem spanischen König, der da meinte, als man ihm eine viel weni­ger komplizierte Weltenordnung auseinandersetzte als diejenige ist, die hier in Betracht kommt: wenn Gott es ihm überlassen hätte, die Welt einzurichten, so würde er sie so kompliziert nicht eingerichtet haben, sondern viel einfacher. Und gewisse Lehrbücher oder auch son­stige populäre Erkenntnisbücher haben immer wieder und wiederum das Prinzip verfolgt: Oh, die Wahrheit muß einfach sein! - Dieses Prinzip wird selbstverständlich nicht verfolgt aus irgendeiner Wirk­lichkeitsgrundlage heraus, sondern einzig und allein aus der Grund­lage der Bequemlichkeit, ich könnte auch sagen, der allgemeinen mensch­lichen Faulheit heraus. Mit einem bloßen Schematismus, unter dem sich alles registrieren läßt, ist der Wirklichkeit gegenüber wahrhaftig nichts getan. Und jene glatten, ich könnte auch sagen, aalglatten Be­griffe, welche man heute besonders liebt bei dem Betrieb der offiziellen Wissenschaften, die sind, ich könnte wiederum sagen, Lichtjahre weit entfernt - um diese astronomische Bezeichnung zu gebrauchen - von der wahren Wirklichkeit.

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Das aber, was da eingreift in die Voll-Evolution der Menschheit als Teil-Evolution, das muß man bedenken, wenn man verstehen will, was eigentlich alles hereinspielt in die Menschenseelen dieses fünften nachatlantischen Zeitraums. Denn langsam und allmählich spielt es herein. Und wir werden, wenn wir einen Blick werfen wollen auf die religiöse Evolution dieses Zeitraumes, nötig haben, diese dreifache Evolution der Menschheit immer gewissermaßen im Hintergrunde zu halten. Es ist ja in der Tat so, daß um jenen Zeitpunkt herum, in dem der fünfte nachatlantische Zeitraum seinen Anfang nimmt, nicht nur vieles andere, sondern auch das religiöse Leben der zivilisierten Mensch­heit in eine tiefgehende, viele Wogen aufwerfende Bewegung kommt, in eine Bewegung, die heute keineswegs abgeschlossen ist, die aber ver­standen werden muß in ihren Tiefen, wenn die Menschen wirklich zum Gebrauch der Bewußtseinsseele kommen wollen. Denn nur da­durch, daß die Menschen, wie ich gestern gesagt habe, zur Einsicht kom­men desjenigen, was geschieht, werden sie fähig werden, an der wei­teren Evolution dieser Menschheit auf der Erde wirklich teilzunehmen.

Um den Beginn des 15 i Jahrhunderts herum rumoren eigentlich wirk­lich die religiösen Impulse der zivilisierten Menschheit. Wir wollen sie zunächst über Europa hin betrachten, denn sehen wir sie über Europa hin, wird sich uns ein Bild, ich möchte sagen, des ganzen Erdenrundes ergeben. Das, was da rumorte, es hat sich eigentlich lange vorbereitet; es hat sich mehr oder weniger vorbereitet schon seit dem 10. Jahrhun­derte, sogar schon seit dem 9. Jahrhundert des europäischen und vor­derasiatischen Geisteslebens. Und diese Vorbereitung, sie geschah da­durch, daß in einer ganz besonderen Weise die Nachwirkung des Christus-Impulses innerhalb der zivilisierten Welt sich abspielte. Wir wissen ja, dieser Christus-Impuls ist etwas Fortwirkendes in der Zeit. Aber mit dem abstrakten Satze, dieser Christus-Impuls sei etwas Fort­wirkendes, ist eigentlich sehr, sehr wenig gesagt. Man muß auch durch­schauen, in welcher Weise sich dieser Christus-Impuls differenziert, in welcher Weise er sich in seinen Differenzierungen dann in der verschie­densten Art modifiziert, besser gesagt, metamorphosiert.

Betrachtet man, wie dasjenige, was dazumal im Beginne des 15.Jahr-hunderts anfing in Bewegung zu geraten, was heute tief, tief nachwirkt

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in den Menschen - vielfach unbewußt, ohne daß sie eine Ahnung davon haben -, wie das zusammenhängt mit dem gegenwartigen Katastro­phalen der Ereignisse, so drückt es sich dadurch aus, daß vom 9., 10. Jahrhundert an auf einem Gebiete der zivilisierten Welt die Mög-lichkeit geschaffen wurde, daß das eigentliche Christus-Volk entstand, jenes Volk, welches gewissermaßen die besondere innere Volksbefähi­gung empfing, die Christus-Offenbarung in die künftigen Jahrhunderte hineinzutragen. Man redet ganz im ureigentlichsten Sinne, wenn man für diese Zeit davon spricht, daß als Vorbereitung späterer Zeiten ein Volk durch die Weltereignisse besonders geeignet gemacht worden ist, das Christus-Volk zu werden.

Das geschah dadurch, daß schon im 9. Jahrhunderte dasjenige, was als Christus-Impuls fortwirkte, sich in Europa gewissermaßen diffe­renzierte, und jene Differenzierung des Christus-Impulses sich dadurch darstellt, daß Seelen sich geeignet erweisen, den Christus-Impuls in seiner Offenbarung unmittelbar in sich einfließen zu lassen, und daß dieser Teil, diese Differenzierung des Christus-Impulses nach dem Osten Europas abgeschoben worden ist. Was dazumal unter dem Pa­triarchen Photius, unter dem Papst Nikolaus 1. geleistet worden ist, das war ein Zurückschieben des Christus-Impulses in seiner besonderen Intensität nach dem europäischen Osten hin.

Sie wissen, das hat ja dann zu der berühmten Streitigkeit geführt, ob man den Heiligen Geist ausgehend denken soll vom Vater und vom Sohn, oder sich das anders zu denken hat. Doch auf dogmatische Strei­tigkeiten will ich nicht eingehen; auf dasjenige will ich eingehen, was eine fortdauernde Wirksamkeit hat. Und so ist diejenige Differen­zierung gekommen, diejenige Metamorphose des Christus-Impulses, welche sich eben dadurch charakterisiert, daß die Angehörigen dieses Gebietes, des europäischen Ostens, ihre Seelen offen hielten für das fortdauernde Einfließen des Christus-Impulses, für die immerwäh­rende, fortdauernde Gegenwart des Christus-Hauches. Es kam eben dazu, daß diese besondere Metamorphose nach dem Osten abgeschoben wurde und das russische Volk im weitesten Sinne des Wortes innerhalb der europäischen Zivilisation dadurch zu dem Christus-Volk gewor­den ist.

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Dies zu wissen, ist ganz besonders wichtig in der heutigen Zeit. Sagen Sie ja nicht, daß eine solche Wahrheit gegenüber den heutigen Ereig­nissen sich merkwürdig ausnimmt. Sie würden, indem Sie so etwas sagten, nur verkennen das Allergrundsätzlichste der spirituellen Weis­heit: daß oftmals die äußeren Ereignisse geradezu in paradoxer Weise der inneren Wahrheit der Vorgänge widersprechen. Es kommt gar nicht darauf an, ob da oder dort in der Welt die äußeren Ereignisse der inneren Wahrheit der Vorgänge widersprechen; darauf kommt es an, daß man auch einsehe, welches die inneren Vorgänge, die eigentlichen geistigen Wirklichkeiten sind. Diese eigentlichen geistigen Wirklich­keiten sind so, daß, wenn wir uns hier das Gebiet von Europa denken, nach dem Osten hinüber eine solche Welle (es wird gezeichnet, Pfeil) sich schon seit dem 9. Jahrhundert ergießt, welche dazu geführt hat, daß da das Christus-Volk entstand.

Was meint man nun eigentlich damit, wenn man davon spricht, daß da das Christus-Volk entstand? Damit meint man - Sie können das ja alles dann mit der äußeren Geschichte in ihren Symptomen nach­prüfen, Sie werden schon sehen, wenn Sie die inneren Vorgänge und nicht die äußeren, oftmals gerade der Wirklichkeit widersprechenden Tatsachen ins Auge fassen, daß das vollständig stimmt; ich habe mich ja in der Einleitung des heutigen Vortrages darüber ausgesprochen, was ich vor das Seelenauge stellen will -, man meint damit, daß da ein Territorium geschaffen worden ist in diesem Osten von Europa, auf welchem immerzu Menschen lebten, welche mit dem Christus-Impuls unmittelbar zusammenhängen, solche Menschen, in deren Seelen in einer gewissen Weise der Christus-Impuls fortwährend hereinträufelt. Der Christus bleibt fortwährend gegenwärtig als eine das Denken dieses Volkes, das Fühlen dieses Volkes durchsetzende innere Aura.

Man kann vielleicht keinen stärkeren äußeren Beweis, der aber unmittelbar ein Beweis ist, finden für dieses, was ich eben jetzt gesagt habe, als eine solche Persönlichkeit wie Solowjew, den größten Philo­sophen des russischen Volkes in neuerer Zeit. Lesen Sie ihn und fühlen Sie, wie trotz all der Eigenschaften, die ich ja von anderen Gesichts­punkten her bei Solowjew besprochen habe, in ihn unmittelbar alles einfließt, was man Christus-Inspiration nennen könnte; wie dieses so

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stark in seiner Seele wirkt, was Christus-Inspiration ist, daß er sich das ganze Gefüge auch des äußeren sozialen Lebens des Menschen so angeordnet denkt, daß Christus der König ist, der unsichtbare Christus der König ist der menschlichen sozialen Gemeinschaft; daß alles durch­christet ist, daß jede einzelne Handlung, die der Mensch vollführt, eigentlich dadurch getan wird, daß der Chrstus-Impuls bis in die Muskeln herein sich betätigt. Der reinste, der schönste Repräsentant des Christus-Volkes ist der Philosoph Solowjew.

Von daher floß diese ganze russische Evolution bis zum heutigen Tage, bis zur heutigen Stunde. Und gerade wenn man das weiß, daß das russische Volk das Christus-Volk ist, dann wird man, wie wir spa­ter sehen werden, auch die heutige Evolution bis zu der gegenwärtigen Gestalt verstehen können. Das ist die eine Metamorphose, die das Christus-Volk vorbereitet hat, der Christus-Impuls in der einen Diffe­renzierung.

In einer zweiten Differenzierung bildete sich der Christus-Impuls so aus, daß Rom, welches die eigentliche, fortdauernd wirkende Chri­stus-Metamorphose nach dem Osten abgeschoben hatte, umgestaltete die Geist-Herrschaft des Christus zur weltlichen Herrschaft der Kirche. Rom verfuhr so, daß es dekretierte: Alles das, was mit dem Christus zusammenhängt, alles das ist Sache einer einmaligen Offenbarung im Beginne unseres Zeitraums gewesen - einer einmaligen Offenbarung, und der Kirche ist diese Offenbarung übergeben, die Kirche hat diese Offenbarung äußerlich fortzutragen. - Mit dem aber wurde zu gleicher Zeit die Offenbarung des Christus zu einer weltlichen Machtfrage, wurde einbezogen von der Kirchenverwaltung, der Kirchenherrschaft. Das ist wichtig ins Auge zu fassen. Dadurch wurde nichts Geringeres erzeugt, als daß ein Stück aus dem Christus-Impuls herausgebrochen wurde. Der vollständige Christus-Impuls ist ja bei dem Christus-Volk, welches ihn so fortpflanzt, daß der Christus-Impuls tatsächlich in un­mittelbarer Gegenwart fortwirkt. Die römische Kirche hat ausgebro­chen dieses Fortwirken, hat den Christus-Impuls konzentriert auf den Beginn unserer Zeitrechnung und alles spätere auf die Tradition oder die Schriftüberlieferung gelegt, so daß das nun fortgehen soll, ver­waltet von der Kirche.

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Dadurch wurde in einer gewissen Weise bei denjenigen Völkern, auf welche die römische Kirche ihren Einfluß ausdehnte, der Christus­Impuls heruntergeleitet von den spirituellen Höhen, in denen er doch immer im Osten geblieben ist , und übergeführt in politische Machi nationen, in jene Konfundierung von Politik und Kirche, die ich Ihnen von anderen Gesichtspunkten schon als charakteristisch für das Mittel­alter dargestellt habe. In Rußland war die Konfundierung, trotzdem der Zar Papst der russischen Kirche genannt worden ist, wie wir später sehen werden, doch in Wahrheit nicht vorhanden, nur äußerlich in den Scheintatsachen vorhanden. Da verbirgt sich gerade ein bedeutungs­volles Geheimnis der europäischen Entwickelung. Die wirkliche Kon-fundierung von realen Machtfragen und kirchlichen Verwaltungs-fragen, die fand von Rom aus statt.

Diese Konfundierung von politischen Machtfragen und kirchlichen Verwaltungsfragen für den Christus-Impuls war zu einer gewissen Kri­sis gekommen durch innere Wirklichkeitsgründe der geschichtlichen Evo­lution gerade um den Zeitpunkt des Beginnes der fünften nachatlan-tischen Zeit herum. Wir wissen ja aus dem, was wir in diesen Tagen betrachtet haben, daß dieser fünfte nachatlantische Zeitraum eben der Zeitraum der Bewußtseinsseele ist, daß da die Persönlichkeit sich be­sonders geltend macht, daß die Persönlichkeit sich auf sich selbst stellen will. Dadurch ist es besonders schwierig, als die Morgendämmerung dieses Sich-auf-sich-selbst-Stellen der Persönlichkeit da war, zurecht­zukommen mit der Frage der Persönlichkeit des Christus Jesus selber. Das Mittelalter hatte bis zum 15. Jahrhundert hindurch seine Dogmen über die Verbindung des Göttlich-Geistigen in dem Christus mit dem Menschlich-Physischen. Diese Dogmen hatten natürlich verschiedene Formen angenommen. Aber so tiefgehende Wogen innerer Seelen-kämpfe waren eigentlich gerade früher nicht da mit Bezug auf diese Frage; sie kamen in jenen Gegenden auf, in denen der römische Katho­lizismus sich bis dahin ausgebreitet hatte, als die Persönlichkeit in sich selbst sich erfassen wollte und daher auch Erklärung fordern wollte über das, was die Persönlichkeit des Christus Jesus ist. Und im Grunde genommen drehte sich um diese Frage der ganze Streit schon des Hus, des Wiclif, der Streit des Luther, des Zwingli, des Calvin, der Streit,

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den dann geführt haben die Wiedertäufer, den geführt haben zum Bei­spiel Kaspar Schwenckfeld, Sebastian Franck und viele andere; dieser Streit ging immer darum, Aufklärung haben zu wollen, wie die gött­lich-geistige Natur des Christus mit der weltlich-menschlichen Natur des Jesus im Zusammenhange steht. Um diese Frage drehte es sich. Das wirbelte natürlich vieles auf. Das wirbelte viele Zweifel auf gegen­über derjenigen Evolutionsströmung, in der abgestumpft war der immer fortwirkende Christus-Impuls, so abgestumpft war, daß er nur da sein sollte am Beginne unserer Zeitrechnung, und daß er dann nur fortgepflanzt werden sollte durch die Kirchenverwaltung. So daß man sagen kann: Alles dasjenige, was von Rom aus beeinflußt worden ist, das wurde zum Kirchenvolk, Kirchen, Sekten und so weiter wurden begründet, die eine gewisse Bedeutung haben.

Sagen Sie nicht: In Rußland wurden auch Sekten begründet. - Ge­rade mit solchen Begriffen verdirbt man sich alle Wirklichkeitsbetrach­tung, wenn man ein Wort anwendet da und dort für dasjenige, was auf einem Gebiete etwas ganz anderes ist als auf dem anderen Gebiete. Wer das russische Sektenwesen studiert, wird finden, daß es in Wahr­heit nicht die geringste Ähnlichkeit hat mit demjenigen, was das Sek­tenvolk in all den Gebieten war, auf welche die römisch-katholische Kirche einmal einen Einfluß gehabt hat. Nicht darauf kommt es an, ob die Dinge gleich zu benennen sind, sondern darauf kommt es an, was in ihnen als Wirklichkeitsfaktor pulsiert.

Auflehnung aus den Gründen, die ich schon angeführt habe, und auch aus dem Grunde, den ich jetzt wiederum angeführt habe, gegen die einheitliche, mit unterbewußten Suggestionen wirkende römisch-katholische Kirche, zeichnet gerade das Leben und Streben der Men­schen aus um den Beginn des 15. Jahrhunderts herum.

Und wiederum als Gegenstoß gegen dieses Anstürmen der Persön­lichkeit sehen wir etwas anderes: Wir sehen, wie dem Romanismus der Kirche zu Hilfe kommt dasjenige, was Jesuitismus wurde, der in seiner Urbedeutung, wenn auch heute alles - verzeihen Sie den harten Ausdruck - verquatscht wird und von Jesuitismus überall gesprochen wird, eben nur innerhalb des römisch-katholischen Kirchenwesens mög­lich ist. Denn worauf beruht er? Der Jesuitismus beruht im wesentlichen

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auf folgendem: Wenn bei dem eigentlichen Christus-Volk jene Offen­barung des Christus-Impulses, ich möchte sagen, in der übersinnlichen Wolke drinnenbleibt, nicht herunterdringt in die physisch-sinnliche Welt - Solowjew will gewissermaßen das weltliche Reich in das Got­tesreich hinaufheben, aber er will nicht heruntertragen das Gottesreich in das weltliche Reich -, so beruht der Jesuitismus gerade darauf, daß das Gottesreich in das weltliche Reich heruntergetragen werde und in den Seelen Impulse so angeschlagen werden, daß innerhalb des physi­schen Planes das Gottesreich wirke, wie die Gesetze dieses physischen Planes sind. Also der Jesuitismus strebt ein weltliches Herrschaftsreich an und will es so einrichten, daß es erscheint wie ein Königreich - aber ein weltliches Königreich - des Christus. Das will er vor allen Dingen dadurch erreichen, daß er seine Angehörigen, die Angehörigen des Jesuitenordens selber, so präpariert, als ob sie eine Heeres-, eine Sol­datengemeinschaft wären. Der einzelne Jesuit fühlt sich als ein geistiger Soldat, und er fühlt Christus nicht als den geistigen Christus, der mit geistigen Mitteln die Welt beeinflußt, sondern er fühlt und soll in sei­nen Gedanken, in seinen Empfindungen alles so richten, daß er den Christus wie einen weltlichen König fühlt, daß er dem Christus dient, wie man einem weltlichen König dient, daß er so dient, wie ein Soldat seinem Generalissimus dient. Die Kircheneinrichtungen werden natür­lich dadurch, daß man es mit Geistigem zu tun hat, andere als im welt­lichen Militarismus, aber es soll eben in die geistige Ordnung eine streng militärische Ordnung hineinkommen. Alles soll so angeordnet werden, daß der echte Christ ein Soldat des Generalissimus Jesus ist. Dies ist ja im wesentlichen - wenn wir heute eine Sache, die ich einst­mals in Karlsruhe schon auseinandergesetzt habe, von einem anderen Gesichtspunkte charakterisieren wollen - der Zweck jener Übungen, die jeder Jesuit macht, um in sich jene ungeheure Kraft heranzubilden, die gerade im Jesuitenorden durch lange Zeit gelegen hat und die in ihren Dekadenzerscheinungen schon nachwirken wird in jener Zeit des Chaos, in die wir eintreten. Den Jesuiten selber zunächst zu einem Soldaten zu machen für den Generalissimus Jesus Christus, das be­zwecken alle die Meditationen, die Ignatius von Loyola vorgeschrieben hat, und die getreulich gerade von Jesuiten beobachtet werden.

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Ich will einige Proben dafür geben. Nehmen Sie zum Beispiel einmal unter den geistlichen Übungen, die der Jesuit zu pflegen hat, durch die er sich seine Kraft erwirbt, diejenige der zweiten Woche, die für ihn immer damit zu beginnen hat, daß er in einer Einleitungsbetrachtung in Imaginationen sich vorführt das Reich Christi. Aber er hat sich dieses Reich Christi so zu denken, daß Christus vorne als oberster Feldherr anführt seine Legionen, welche die Welt zu erobern haben. Darauf folgt ein vorbereitendes Gebet. Dann die erste Vorübung.

«1. Sie besteht in einer anschaulichen Vorstellung des Ortes; hier soll ich mit den Augen der Einbildungskraft schauen die Synagogen, die Städte und Flecken, die Christus unser Herr predigend durchzog.»

Das alles muß im vollen Bilde vorgestellt werden, so daß der Zög­ling, der Schüler die Situation und alle einzelnen Vorstellungen dar-innen hat wie etwas, was er sinnlich gegenwärtig hat.

«2. Ich bitte um die Gnade, die ich begehre. Hier soll ich unsern Herrn um die Gnade anflehen, daß ich nicht taub sei für seinen Ruf, sondern bereit und beflissen, seinen heiligsten Willen zu erfüllen.»

Dann der andere Teil, die eigentliche Übung. Das, was ich bis jetzt angeführt habe, waren Vorübungen. Der erste Teil umfaßt wieder einige Punkte. Die Seele wird sehr sorgfältig präpariert.

«Punkt ii Ich stelle mir einen irdischen König vor Augen, von Gott unserem Herrn selbst auserwählt, dem alle Fürsten und alle Christen Ehrfurcht und Gehorsam erweisen.»

Das alles muß er aber so unmittelbar in der Einbildungskraft vor sich haben wie eine sinnliche Vorstellung, mit derselben Stärke.

«2. Ich habe acht, wie dieser König alle die Seinigen anredet und also spricht: »

Das stärkt dann den Willen, indem sinnliche Bilder unmittelbar in diesen Willen hineingehen, ihn durchglühen, ihn durchgeistigen.

«3. Ich erwäge, was die guten Untertanen einem so edelmütigen und

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so leutseligen König antworten müssen, und folglich auch, wie sehr jemand, der die Aufforderung eines solchen Königs nicht annehmen sollte, verdienen würde, von der ganzen Welt getadelt und als schlech­ter Soldat angesehen zu werden.»

Das muß er sich also ganz fest klarmachen: wenn er nicht ein ordent­licher Soldat, Kriegsmann dieses Generalissimus ist, so muß er als ein entarteter Mensch in der ganzen Welt angesehen werden.

Nun kommt der zweite Teil der zweiten Woche.

«Der zweite Teil dieser Übung besteht in der Anwendung des vorhin erwähnten Gleichnisses vom irdischen König auf Christus unsern Herrn gemäß den drei angeführten Punkten.

Punkt 1. Wenn wir schon eine derartige Aufforderung des irdischen Königs an seine Untertanen für beachtenswert ansehen, um wieviel mehr ist es dann der Betrachtung würdig, Christus unsern Herrn, den ewigen König, zu sehen und vor ihm die gesamte Welt, wie er diese insgesamt und jeden einzelnen im besondern beruft und spricht:

2. Ich erwäge, wie alle, die Urteil und Vernunft haben, sich gänzlich zu jenen Mühen anbieten werden.

3. Jene, die von Verlangen beseelt sind, eine noch größere Hingabe zu bekunden und sich in jeglichem Dienste ihres ewigen Königs und allerhöchsten Herrn auszuzeichnen, werden nicht nur sich ganz zu jenen Mühen anbieten, sondern auch gegen ihre eigene Sinnlichkeit und gegen ihre Liebe zum Fleische und zur Welt angehen und so An-erbieten von höherem Werte und größerem Gewicht darbringen, in­dem sie sprechen:

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Unbilden, jeglicher Schmach und jeglicher Armut, der wirklichen so-wohl wie der geistlichen, wenn deine heiligste Majestät mich zu sol­chem Leben und Stande erwählen und aufnehmen will.>

Diese Übung finde zweimal am Tage statt, nämlich morgens nach dem Aufstehen und eine Stunde vor dem Mittag- oder vor dem Abendessen.

Für die zweite Woche und die folgenden ist es sehr förderlich, zu­weilen aus den Büchern der Nachfolge Christi oder der Evangelien und der Leben der Heiligen zu lesen»

- zu lesen mit solchen Betrachtungen, die aus der Imagination her­aus den Willen besonders schulen. Man muß wissen, wie der Wille wird, wenn diese Imaginationen in ihn hineinwirken, dieser soldatische Wille im Geiste, der den Christus Jesus eben zum Generalissimus macht! Er spricht vom «himmlischen Hofe, dem gedient wird in allen Formen der Unterwürfigkeit und Untertänigkeit». Verbunden mit sol­chen Übungen ist wiederum etwas, was ungeheuer stark wirkt, wenn es in immerwährender Wiederholung in den Willen hineingegossen wird. Denn Jesuitenschulung ist vor allen Dingen Willensschulung. Es wird empfohlen, die eben dargelegte Betrachtung in den folgenden Wochen als eine grundlegende täglich zu wiederholen, womöglich in derselben Form, vor der «Wahlbetrachtung» des Tages, der «Beschau­ung». Nehmen wir zum Beispiel den vierten Tag. Da haben wir «das Vorbereitungsgebet wie gewöhnlich», dann eine erste Vorübung.

«1. Sie bietet den geschichtlichen Vorgang, hier: wie Christus alle unter seine Fahne ruft und sammeln will, und Luzifer dagegen unter die seinige.»

Man muß sich genau die Fahne vorstellen. Und man hat sich zwei Heere vorzustellen, welche die zwei Fahnen vorantragen, die Luzifer-Fahne und die Christus-Fahne.

«2. Anschauliche Vorstellung des Ortes; hier schaue man eine Ebene der gesamten Gegend von Jerusalem, wo als höchster einziger Ober-feldherr der Guten Christus unser Herr steht; eine andere Ebene aber in der Gegend von Babylon, wo als Haupt der Feinde Luzifer auftritt.»

Nun stehen die beiden Heere einander gegenüber, die Fahne Luzi­fers und die Fahne Christi.

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«3. Ich bitte um das, was ich begehre, und zwar werde ich hier bitten um Erkenntnis der Trugwerke des bösen Anführers und um Hilfe, damit ich mich davor bewahre, sowie um Erkenntnis des wahren Le­bens, das der höchste und wahre Heerführer zeigt, und um die Gnade, ihn nachzuahmen.»

Nun kommt der erste Teil der eigentlichen Übung, die Fahne Luzi­fers. Der Übende richtet also den geistigen Blick der Imagination hin auf das Heer, welches unter der Fahne Luzifers ist.

«Punkt 1. Ich stelle mir vor, ich sähe den Anführer aller Feinde in jener großen Ebene von Babylon gleichsam auf einem hohen Stuhle von Feuer und Rauch sitzen in schreckenerregender und furchtbarer Gestalt.

2. Man betrachte, wie er unzählige böse Geister zusammenruft und wie er sie aussprengt, die einen in diese Stadt und die andern in eine andere und so über die ganze Welt hin, ohne irgend ein Land, einen Stand oder irgend einen Menschen im einzelnen zu übergehen.»

Also dieses Aussenden muß im einzelnen und konkret vorgestellt werden.

«3. Man betrachte die Ansprache, die er an sie hält und wie er sie auffordert, Netze und Ketten auszuwerfen, und zwar sollen sie die Menschen zuerst versuchen durch die Begierde nach Reichtümern, wie er es selbst bei den meisten zu tun pflegt, auf daß sie desto leichter zur eitlen Ehre der Welt und dann zu einem unbändigen Hochmut ge­langen.

Demnach ergeben sich als erste Stufe die Reichtümer, als zweite die Ehre, als dritte der Hochmut, und von diesen drei Stufen aus verführt Luzifer zu allen übrigen Lastern.»

Zweiter Teil: Die Fahne Christi.

«In ähnlicher Weise soll man sich auf der entgegengesetzten Seite den höchsten und wahren Heerführer vorstellen, der da ist Christus unser Herr.

Punkt 1. Man betrachte, wie Christus unser Herr auf einer großen Ebene jener Umgegend von Jerusalem an einem einfachen Platze Stel­lung nimmt, schön und liebenswürdig.

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2. Man betrachte, wie der Herr der ganzen Welt so viele Personen auserwählt, Apostel, Jünger und so weiter, und sie über die ganze Welt hin entsendet, auf daß sie den Samen seiner heiligen Lehre unter den Menschen aller Stände und in allen Lebenslagen ausstreuen.

3. Man betrachte die Ansprache, die Christus unser Herr an alle seine Diener und Freunde hält, die er zu solchem Unternehmen aus-sendet; wie er ihnen empfiehlt, sie möchten allen zu helfen suchen, indem sie dieselben zuerst zur größten geistlichen Armut bewegen und, wenn seine göttliche Majestät sich darin gefiele und sie dazu auser­wählen wollte, nicht minder auch zur wirklichen Armut; zweitens zum Verlangen nach Schmähungen und Verachtung, weil aus diesen beiden Dingen, der Armut und Verachtung, die Demut hervorgeht.

Es gibt demnach drei Stufen, erstens die Armut gegen den Reichtum, zweitens Schmach und Verachtung gegen die weltliche Ehre, drittens die Demut gegen den Hochmut; und von diesen drei Stufen aus sollen die Gesandten Christi die Menschen zu allen übrigen Tugenden an-leiten.»

In dieser Art werden die Übungen gepflogen. Worauf es ankommt, ist das, was ich Ihnen gesagt habe, eigentlich ein weltliches Reich, das eben als weltliches Reich organisiert sein soll, aber so vorgestellt sein soll, daß es der Heerbann des Christus Jesus ist. Dieses Jesuitentum ist eben nur die konsequenteste, beste, außerordentlich gut organi­sierte Ausprägung desjenigen, was ich als zweite Strömung angegeben habe: des Impulses des Kirchenvolkes. Im wesentlichen wird man fin­den: Der Impuls des Kirchenvolkes besteht also darinnen, daß hin­untergetragen werden soll die einmalige Offenbarung, die zu Jerusa­lem geschehen ist, in ein weltliches Reich. Denn die ganzen Übungen laufen darauf hinaus, daß zur Fahne Christi als Soldat zuletzt sich selber wählt derjenige, der die Übungen macht, daß der sich fühlt als einen richtigen Soldaten Christi. Das war ja auch der Sinn, welcher durch eine Offenbarung besonderer Art sich dem Ignatius von Loyola erschlossen hat, der ja zunächst alle möglichen Taten als Soldat getan hat, dann nach seiner Verwundung auf dem Krankenbette durch Meditationen in einer solchen Weise geführt wurde - ich will nicht sagen von welcher Macht -, daß sich in seiner Seele alles das, was früher

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als soldatischer Impuls in ihm lebte, umgestaltete zu dem Impuls des Christus-Soldaten, des Jesus-Soldaten. Es ist eines der interessantesten Phänomene der Weltgeschichte, daß ein ausgeprägt tapferer Soldat verwundet wird und durch Meditationen das, was er als Soldat war, umgeprägt erhält in den geistlichen Soldaten.

Da wo der Christus-Impuls so wirkte, daß ihm abgestumpft war das fortdauernde Wirken, welches er innerhalb des Christus-Volkes selbst hatte, ist es selbstverständlich, daß dieses die äußerste Ausprägung des Christus-Impulses sein mußte. Man kann sich nun fragen: Gibt es nicht auch eine andere, die gegenteilige Ausprägung desjenigen, was im Jesuitismus da ist? - Dann müßte etwas entstehen auf dem Terri­torium, welches durchsetzt ist von dem Kirchenvolk. Es müßte sich aus diesen verschiedenen Reaktionen des Luthertums, des Zwinglianismus, Calvinismus, Schwenckfeldismus, der Wiedertäufer und so weiter, aus diesem Chaos, das ja doch atomisiert wird, etwas ergeben, was nicht nur in der Linie des Jesuitismus läuft - denn, nicht wahr, Jesuitismus ist die äußerste Ausprägung, es läuft vieles in seiner Linie -, es müßte sich etwas ergeben, was dem Jesuitismus vollständig entgegengesetzt ist, was gewissermaßen, geradeso wie der Jesuitismus immer tiefer und tiefer in die Kirchenvolkheit hinein will, heraus will aus dieser Kir­chenvolkheit. Der Jesuitismus will den Christus-Impuls umgestalten zu einer rein weltlichen Herrschaft, will gewissermaßen den Erden-staat begründen, jenen Erdenstaat, der aber zugleich der Jesuitenstaat ist und der so regiert wird, wie regiert werden kann, wenn man sich zum Soldaten des Generalissimus Christus gemacht hat. Was wäre das Entgegengesetzte?

Das Entgegengesetzte wäre, wenn man nicht das, was oben ist, her­unterträgt, sondern wenn man versucht, immerzu das, was hier unten ist, hinaufzuheben in die geistige Welt. Beim eigentlichen Christus-Volk ist es wie eine Naturanlage da; bei Solowjew kam es, wenn auch oft stammelnd, zum Ausdruck. Innerhalb des Gebietes des eigentlichen Kirchenvolkes gibt es nun etwas, was diametral entgegengesetzt ist dem Jesuitismus, was unmittelbar in äußeren Herrschaftsverhält-nissen, in äußerem Zusammenhange gar nichts haben will von dem Spirituellen, was will, daß der Christus-Impuls immer in die Seelen

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hereinwirkt, und nur auf dem Umwege durch die Seelen in der äuße­ren Welt wirkt. Solch ein Impuls würde zwar - weil in der Zeit man­ches sich so einstellen würde - auftreten innerhalb des Kirchenvolkes; aber er würde immerzu die Evolution so führen wollen, daß das, was spiritueller Christus-Impuls ist, nur in die Seelen hereinwirkt, ge­wissermaßen esoterisch bleibt, wenn auch im besten, edelsten Sinne esoterisch bleibt. Während der Jesuitismus alles in ein weltliches König­reich umwandeln will, würde diese Weltenströmung alles weltliche Königreich immer nur betrachten als etwas, was zur Not da sein muß auf dem äußeren physischen Plane, was aber die Menschen vereinigt, damit sie in ihren Seelen sich hinaufheben können in die höheren Wel­ten. Dieser diametrale Gegensatz, dieses, was sich zum Jesuitismus polarisch entgegengesetzt verhält, ist nun Goetheanismus.

Goetheanismus will das genaue Gegenteil von dem, was Jesuitismus will, und Sie verstehen wiederum von einem anderen Gesichtspunkte aus den Goetheanismus, wenn Sie ihn in dieser polarischen Gegensätz­lichkeit zu dem Jesuitismus betrachten. Daher die ewige Feindschaft, welche der Jesuitismus geschworen hat und immer mehr schwören wird dem Goetheanismus. Die können nicht miteinander sein. Das eine weiß vom andern gut Bescheid. Der Jesuitismus weiß gut Bescheid bei Goethe: der Jesuitenpater Baumgartner hat das beste Buch über Goethe geschrieben - selbstverständlich vom jesuitischen Standpunkte aus. Was die verschiedenen deutschen Professoren oder der Engländer Lewes über Goethe geschrieben haben, das sind alles die reinsten Stüm­pereien gegenüber dem, was der Jesuitenpater Baumgartner in seinen drei Bänden über Goethe geschrieben hat, denn der weiß, warum er schreibt! Es schärft der Blick des Gegners alles dasjenige, was er bei Goethe sieht. Er schreibt auch nicht wie ein deutscher Professor mit mittlerem Bourgeoisverstand, oder gar wie der Engländer Lewes, der einen Menschen schildert, der allerdings 1749 in Frankfurt geboren ist, dieselben Dinge durchgemacht haben soll, die Goethe durchgemacht hat, der aber nicht Goethe ist. Sondern der Jesuit Baumgartner, der schildert mit all dem, was sich in seinen Willen hinein ergossen hat von seinen Meditationen aus. Und so schließt sich in diesem einen Punkt schon etwas, was in die Zukunft hineinspielen soll, der Goetheanismus,

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mit etwas zusammen, was sich auch unmittelbar an den Zeitpunkt an­geschlossen hat, der mit dem 15. Jahrhundert beginnt, der mit der Reformation zum Jesuitismus heraufführt.

Das dritte werde ich dann morgen schildern.

Ich habe Ihnen heute also das Christus-Volk und das Kirchenvolk geschildert und das dritte, was da hineinspielt, und dann die Wechsel­wirkung davon, um zu einem inneren Einblick in die neuzeitliche Reli­gionsentwickelung ihren Symptomen nach zu kommen, das werde ich dann morgen schildern.

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NEUNTER VORTRAG Dornach, 3. November 1918

Wir wollen anknüpfen an die Betraditungen, die wir gestern gepflogen haben. Wir haben im wesentlidien darauf hingewiesen, wie durch Tat­sadien, die idi ja erwähnt habe, das sogenannte Christus-Volk nadi dem Osten gewissermaßen hingesdioben worden ist, und wie sidi aus anderen Tatsadien heraus ergeben hat, daß aus Europas Mitte, weit übrigens nadi Westen hinüber, das eigentlidie Kirdienvolk, man könnte audi sagen, die Kirdienvölker sidi entwickelt haben. Idi habe dann darauf hingewiesen, wie mit dieser Grundtatsadie zusammenhingen die versdiiedenen Kämpfe, die sidi entwickelt haben gerade um die Wende zu dem fünften nadiatlantisdien Zeitraum hin, unmittelbar danach. Ich habe aber auch darauf hingewiesen, wie innerhalb des­jenigen Gebietes, in dem sich die eigentlichen Kirchenvölker ausgebildet haben, dadurdi, daß der Christus-Impuls gewissermaßen nidit fort­wirkend, sondern in der Zeit gehalten worden ist, durch Tradition und Schriftüberlieferung fortgepflanzt werden sollte, die Zusammenkoppelung, die Konfundierung gekommen ist zwischen dem Christen­tum und dem politisch-staatlich organisierten römischen Papsttum, der päpstlichen Kirche; wie dann sich hineingestellt haben einzelne andere Kirchen in diese Papstkirche. Man kann sagen, daß die anderen Kir­chen, die sich hineingestellt haben, gewiß große Unterschiede von dem Papstkirchentum aufweisen, daß sie aber auch wiederum vieles ge­meinsam haben mit diesem Papstkirchentum, jedenfalls doch Dinge, die uns jetzt in diesem Zusammenhang interessieren. Diese Dinge, die sind so, daß sie uns selbst die protestantische Staatskirche näher dem römi­schen Katholizismus, der römisch-katholischen Kirche wenigstens er­scheinen lassen, als etwa der orthodox-katholische Kirchenstaat, die russische sogenannte Staatskirche, bei der aber das Staatskirchentum nie das Wesentliche war, sondern die Art und Weise, wie durch das russische Volk der Christus-Impuls, fortwährend sich betätigend, sich geltend machte. Ich habe Ihnen dann gezeigt, wie durch dieses Her­unterholen des Christus-Impulses in die rein weltlichen Angelegenheiten,

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in die Angelegenheiten der sinnenfälligen Wirklichkeit, im Ex­trem herausgekommen ist die jesuitische Konstitution. Und ich habe Ihnen dann gezeigt, wie als das Gegenteil der jesuitischen Konstitution dasjenige auftritt, was man den Goetheanismus nennen kann.

Dieser Goetheanismus, sagte ich Ihnen, er versucht die gegenteilige Bewegung hervorzurufen, die etwas ähnlich ist dem russischen Christen­tum, nämlich: hinaufzuheben dasjenige, was hier auf dem physischen Plane ist, in die geistigen Welten. So daß sich trotz aller Verhältnisse auf dem physischen Plane hier die Seele mit den Impulsen verbindet, die in der geistigen Welt selber gehalten werden, die nicht, so wie inner­halb des Jesuitismus, unmittelbar in die sinnenfällige Wirklichkeit her­untergetragen werden, sondern nur durch die Seele heruntergetragen werden. Goethe hat sich seiner ganzen Art nach wenig oft über seine intimsten Gedanken in diesen Angelegenheiten ausgesprochen. Aber wenn man ihn nach dieser Richtung kennenlernen will, ihn selbst, dann darf man immer wiederum auf jene Stelle im «Wilhelm Meister» ver­weisen, auf die ich schon in anderem Zusammenhange hingewiesen habe, jene Stelle, wo Wilhelm Meister in das Schloß eines vornehmen Mannes kommt und ihm unter anderen Dingen auch die Bildergalerie gezeigt wird. Die Sache ist so eingerichtet, daß eigentlich diese Bilder-galerie darstellt die Welthistorie, und im Grunde genommen innerhalb der Weltgeschichte, der Welthistorie darstellt die religiöse Entwicke­lung der Menschheit. Also Goethe will eigentlich darstellen - es ist dichterische Darstellung einer großen Idee -, wie Wilhelm Meister durch eine Bildergalerie geführt wird, in welcher gezeigt wird der reli­giöse Entwickelungsgang der Menschheit. Wilhelm Meister wird durch den Führer bis zu einem gewissen Punkte gebracht: da war die Ge­schichte gegangen bis zu der Zerstörung Jerusalems, und es vermißte dann Wilhelm Meister, was er dem Führer bemerklich machte, die Darstellung des Lebens, wie er sagt, des göttlichen Mannes, der in Palästina unmittelbar vor der Zerstörung Jerusalems gewirkt hat. Da wurde Wilhelm Meister in ein abgesondertes zweites Gemach geführt, in dem dann gezeigt werden konnte, was im ersten Gemach nicht ge­zeigt wird. Im ersten Gemach war die Entwickelung der Menschheit durch die Religionen hindurch bis zu der Zerstörung Jerusalems gezeigt.

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Es war also ausgelassen das ganze Leben, wie es dort heißt, des göttlichen Mannes, des Christus Jesus. Im zweiten Gemach wird ihm gezeigt das Leben des Christus Jesus bis zum Abendmahl. Und nun wird ihm auseinandergesetzt: Ja, sieh einmal, alle die verschiedenen Religionsimpulse bis zu der Zerstörung Jerusalems, welche du im ersten Gemach gesehen hast, die gehen den Menschen an, insofern der Mensch ein Mitglied des Volkes ist, zu dem er gehört. Das ist Volksreligion gewesen, ethnische Religion. Dasjenige aber, was du im zweiten Ge­mach gesehen hast, das geht den einzelnen an, das spricht zum einzel­nen Menschen. Das ist gewissermaßen des Einzelmenschen Privatsache. Das kann man nicht anders als an die Individualität des einzelnen Menschen heranbringen. Das kann nicht Volksreligion sein, das spricht zum Menschen überhaupt.

Dann vermißte Wilhelm Meister noch die Geschichte des Christus Jesus vom Abendmahl bis zum Tode und über den Tod hinaus. Da wurde er in ein drittes, ganz geheimes Gemach geführt, wo ihm auch dieses gezeigt wurde. Aber zu gleicher Zeit wurde ihm bemerklich ge­macht, daß dies eine so intime Angelegenheit sei, daß man eigentlich kein Recht habe, das so darzustellen, wie es gewöhnlich profaniert dar­gestellt wird für die äußere Welt. Das müsse zum Allerinnersten des Menschen sprechen.

Nun kann man mit Recht bemerken: Was zu Goethes Zeiten noch so ist, daß man die eigentliche Leidensgeschichte des Christus Jesus nicht äußerlich darstellen sollte, es gilt heute nicht mehr. Wir sind seit jener Zeit durch manche andere Entwickelungsphase gegangen. Aber ich möchte sagen: Die ganze Gesinnung Goethes mit Bezug auf diese Sache geht aus dem eben Angeführten hervor. - Er zeigt ganz klar, dieser Goethe, daß er dasjenige, was Christus-Impuls ist, in das In­timste der Seele hereintragen will, daß er es nicht verquicken will mit demjenigen, was äußerlich volksmäßig ist, jedenfalls nicht verquicken will mit der äußeren Struktur, die sich auf dem physischen Plane voll­zieht, sondern daß er ein unmittelbares Verhältnis suchen will zwischen der einzelnen individuellen Menschenseele und dem Christus-Impuls. Goethe tendiert darauf hin, ein spirituelles Verhältnis zwischen der einzelnen Menschenseele und dem Christus-Impuls zu suchen. Das ist

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von einer großen Bedeutung für das Verständnis nicht nur Goethes, sondern auch des Goetheanismus. Denn wenn man so sprechen kann, wie ich in diesen Tagen zu Ihnen gesprochen habe: daß Goethe und der ganze Goetheanismus gegenüber der äußeren Kultur eigentlich iso­liert dasteht, so kann man nicht dasselbe sagen mit Bezug auf die fort­schreitende Evolution, wenn man die intimeren religiösen Fortschritte der zivilisierten Menschheit ins Auge faßt. Da stellt Goethe doch in einer gewissen Beziehung auch für seine Person dar die Fortsetzung von etwas anderem. Aber wir werden das erst verstehen, wie Goethe in einer gewissen Beziehung kontrastiert ist mit all dem, was sonst im mitteleuropäischen Kirchentum auftritt, wenn wir nun ins Auge fassen einen dritten Impuls.

Ein solcher dritter Impuls liegt mehr nach Westen zu. Also Christus-Volk, Kirchenvolk, und nun ein dritter Impuls, der auch die Völker in einer gewissen Weise eben impulsiert - man kann nicht gut sagen inspiriert, aber impulsiert. Das ist so, meine lieben Freunde. Man muß sagen: Wie eigentlich dasjenige zustandegekommen ist, was dann in seiner äußersten Konsequenz als Jesuitismus, als dieser Heerbann des Generalissimus Jesus Christus zutage getreten ist, das hat eine tiefe Begründung im ganzen Wesen der zivilisierten Welt. Man kann dieses Wesen nicht verstehen, wenn man nicht auf etwas blickt, was weiter zurückliegt in der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit, aber dann nachgewirkt hat. Sie wissen ja wohl aus der äußeren Ge­schichte und Religionsgeschichte, daß ursprünglich unter den verschie­denen Formen, in denen das Christentum seinen Siegeszug, wenn ich so sagen darf, gemacht hat vom Osten nach dem Westen, diejenigen des Arianismus und des Athanasianismus waren. Jene Völker, die als gotische, auch langobardische, sogar als fränkische Völker, zunächst in der verschiedensten Weise an dem teilgenommen haben, was man mit Unrecht, aber doch eben die Völkerwanderung nennt, diese Völker waren ursprünglich Arianer.

Nun, der dogmatische Unterschied zwischen den Arianern und den Bekennern des Glaubens des Athanasius wird Sie heute ja wenig inter­essieren, aber er hat eine gewisse Rolle gespielt und man muß doch auf ihn zurückgehen. Der dogmatische Unterschied ist eben dieser, daß aus

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einer bestimmten Weltanschauungsrichtung heraus Arius entgegenge­treten ist in Antiochia im besonderen dem Athanasius. Und zwar war Athanasius der Anschauung, daß der Christus ein Gott ist wie der Vater-Gott, daß es also den Vater-Gott gäbe und vollständig gleicher Natur und Wesenheit mit dem Vater-Gott der Christus-Gott sei, von Ewigkeit mit ihm gleicher Natur und Wesenheit. Diese Anschau­ung ist dann übergegangen in den römischen Katholizismus, denn der römische Katholizismus bekennt sich heute noch zu dem Glauben des Athanasius. So daß also zu sagen ist mit Bezug auf den römischen Katholizismus, daß dem zugrunde liegt der Glaube, daß der Sohn ewig und gleicher Natur und Wesenheit mit dem Vater ist.

Arius trat dieser Anschauung entgegen. Arius war der Meinung, daß man nur sagen könne, es gäbe einen überragenden Gott, den Vater-Gott, und der Sohn-Gott, also der Christus, sei von dem Vater zwar vor der Zeit, aber doch eben geschaffen. Also er sei nicht gleicher Natur und Wesenheit, sondern etwas, was sich aus dem Vater-Gott erst ent­wickelt hat, was sich entwickelt hat aus dem Vater-Gott als etwas, das der Menschheit näher steht als der Vater-Gott, als etwas, das gewisser­maßen die Vermittlung bildet zwischen dem in Höhen schwebenden Vater-Gotte, der zunächst für die menschlichen Erkenntniskräfte nicht zu erreichen ist, und dem, was der Mensch in sich selber findet.

Ja, so sonderbar das klingt, das scheint zunächst ein dogmatischer Unterschied zu sein. Es ist ein dogmatischer Unterschied nur für den heutigen Menschen, es war kein bloßer dogmatischer Unterschied in den ersten Jahrhunderten der christlichen Entwickelung. Denn das aria­nische Christentum, das ganz fußte, ganz gebaut war auf der Grund­lage, die ich Ihnen eben jetzt auseinandergesetzt habe, von dem Ver­hältnis des Sohnes zum Vater, dieses arianische Christentum leuchtete instinktiv als etwas Selbstverständliches den Menschen ein, die ich genannt habe, den gotischen, den langobardischen, all den Völkern, die ja zunächst die römische Herrschaft ablösten nach dem Untergange und beim Untergange des römischen Reiches. Sie waren instinktiv Arianer. Sie wissen ja, daß Ulflla die Bibel übersetzt hat; seine Über-setzung zeigt klar, daß er selber Arianer war. Die Goten noch, die Langobarden und so weiter, als sie nach Italien gekommen waren, sie

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waren Arianer, und erst als Chlodwig zum Christentum gekommen ist, traten die Franken zum Christentum über. Sie nahmen in einer gewissen Beziehung äußerlich - was ihnen innerlich nicht lag, denn sie waren innerlich früher auch Arianer gewesen -, das Glaubensbekennt­nis des Athanasius an. Und als dann das Christentum namentlich unter jene Flagge gekommen ist, deren hauptsächlicher Träger Karl der Große war, da wurde alles zum Glaubensbekenntnis des Athanasius gebracht und damit die Hinüberleitung besorgt zu der römischen Papstkirche. Und ein großer Teil der ursprünglichen Völker, Barbaren­völker, Goten, Langobarden und so weiter, ging ja unter; dasjenige, was nicht volksmäßig unterging, wurde dann durch die Athanasianer vertrieben, ausgerottet. Der eigentliche Arianismus lebte sektenmäßig weiter fort, aber er verschwand in unmittelbarer Wirksamkeit als Volksreligion.

Nun muß man doch die Frage aufwerfen - zwei Fragen muß man eigentlich aufwerfen. Erstens: Was ist denn das eigentlich, dieser Aria­nismus, gegenüber dem Glaubensbekenntnis des Athanasius? - Und die zweite Frage ist diese: Warum ist er denn innerhalb der euro­päischen Entwickelung verschwunden, dieser Arianismus, wenigstens für dasjenige, was äußerlich sichtbar in den geschichtlichen Symptomen ist? - Das ist eine außerordentlich interessante Entwickelung. Da kann man nur sagen, auf die Frage, was ist eigentlich der Arianismus? - : er ist gewissermaßen der letzte Ausläufer, die letzte Ranke derjenigen Weltanschauungen, die, wenn sie hinaufblicken wollten zum Gött­lichen, noch versuchten, einen Zusammenhang zu finden zwischen der äußeren sinnenfälligen Welt und dem Spirituell-Göttlichen, die noch ein Bedürfnis hatten, wirklich das Sinnenfällige nach oben anzuknüp­fen an das Spirituell-Göttliche. Man kann sagen: Im Arianismus lebt in etwas abstrakterer Form noch derselbe Impuls - aber nur als Im­puls, nicht als Sakramentalismus und nicht als Kultus -, der im russi­schen Christus-Impuls lebt. Diese Art des Christus-Impulses, die mußte eben gerade aus dem Grunde zurückgeschoben werden, weil sie nicht für die Völker Europas war. Und sie wurde auch ausgerottet von denen, die Athanasianer wurden, aus dem Grunde, weil sie für die Völker Europas nicht war.

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Wenn man diesen Dingen nähertreten will, muß man schon einmal Rücksicht nehmen auf die ursprünglichen Seelenverfassungen der euro­päischen Bevölkerungsteile. Sehen Sie, diese ursprüngliche Seelenver­fassung derjenigen Bevölkerungsteile, die das römische Reich abgelöst haben, die, wie man sagt - was nicht wahr ist, aber ich kann jetzt nicht die Geschichte rektifizieren -, ins römische Reich eingetreten sind und so weiter, also von denen man nur weiß, daß sie eben das römische Reich abgelöst haben, diese Seelenverfassung der sogenannten germa­nischen Völker ruht eigentlich ursprünglich auf einem anderen Grunde. Sie kommen von den verschiedensten Seiten her, diese Völker, und vermischen sich mit einer anderen ursprünglichen Bevölkerung Euro­pas, mit einer gewissen Bevölkerung, welche man nicht unrichtig be­nennt, wenn man sie keltische Bevölkerung nennt. Diese keltische Be­völkerung ist ja da und dort in gewissen Volksteilen heute noch in Resten vorhanden. Heute, wo man alles volksmäßig konservieren will, geht man ja auch darauf aus, das Keltische, wo man es antrifft oder wenigstens anzutreffen sich einbildet, zu konservieren in irgendeiner Weise. Aber man stellt sich das Volksmäßige in Europa nur dann richtig vor, wenn man sich eine Urkultur Europas denkt, die keltisch ist und in die sich dann hineinwenden, hineinentwickeln die anderen Kulturen, germanische, romanische, angelsächsische Kultur und so weiter.

Nun, in seiner Ureigenart hat sich das Keltische am längsten erhalten auf den britischen Inseln, namentlich in Wales. Da hat es auch seine Eigentümlichkeit am längsten bewahrt. Und geradeso wie eine gewisse Art der religiösen Empfindung, möchte ich sagen, nach Osten hinüber abgeschoben worden ist, daß das russische Volk zum Christus-Volk wurde, so geschah es durch gewisse Tatsachen, die Sie in jedem Ge­schichtsbuch ja nachlesen können, wenigstens in manchen Geschichts-büchern, daß ein gewisser Impuls im Westen, der namentlich von den britischen Inseln ausging, als eine Nachwirkung sich darstellt des alten Keltentums. Nun, diese Nachwirkung des alten Keltentums, die ist es, welche im Westen letzten Endes ebenso die Struktur des religiösen Lebens angegeben hat, wie diejenigen Dinge, die ich für den Osten und für Mitteleuropa angegeben habe.

Man muß, wenn man diese Dinge einsehen will, darauf Rücksicht

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nehmen: Was waren eigentlich die Kelten für ein Volk? - Sie differen­zierten sich in vieler Richtung, aber sie hatten einen gewissen gemein­samen Zug. Und dieser gemeinsame Zug war der, daß sie in ihrem Seelenleben wenig Interesse hatten für den Zusammenhang zwischen Natur und Menschheit. Sie stellten den Menschen in einer gewissen Weise isoliert von der Natur vor ihre Seele hin. Sie interessierten sich für alles Menschliche, aber nicht, wie der Mensch nun vereinigt ist mit der Natur, wie der Mensch zusammen ist mit der Natur. Während man zum Beispiel im Orient, wo der volle Gegensatz sich entwickelt hat gegenüber dem Keltentum, den Zusammenhang des Menschen mit der ganzen Welt, also auch mit der Natur, durch und durch immer fühlt, den Menschen gewissermaßen herauskommen fühlt aus der Na­tur, wie ich das bei Goethe auch dargestellt habe, hatte der Kelte wenig Sinn für den Zusammenhang der menschlichen Natur mit der übrigen, mit der kosmischen Natur. Dagegen hatte er einen gewissen starken Sinn für das Zusammenleben in der sozialen Gemeinschaft, aber so, daß alles dieses Zusammenleben bei den alten Kelten darauf gestellt war, daß Befehlende und Beherrschte da waren, daß Führer und Geführte da waren. Das ist das Wesentliche, das antidemokratische, das aristo­kratische Element. Das ist etwas, was eigentlich zurückgeht für Europa bis auf die alte Keltenzeit. Und organisiertes aristokratisches Element, das ist da das Wesentliche, organisiertes aristokratisches Element.

Nun gibt es, ich möchte sagen, eine gewisse Blüte dieses aristokrati­schen keltischen Königstum-Elementes. Der König, der der Führer ist, der um sich herum organisiert seine Hilfsführer und so weiter, das wächst aus dem Keltentum heraus. Und gewissermaßen als der letzte solcher Führer, der in seinen eigenen Intentionen noch auf die ur­sprünglichen Impulse baute, als der letzte gilt dann der König Artus mit seiner Tafelrunde in Wales, mit seinen zwölf Rittern, von denen erzählt wird - was ja natürlich nicht buchstäblich genommen werden darf -, daß sie Ungeheuer zu erlegen, Dämonen zu besiegen hatten. All das weist noch hin auf die Zeit alten Zusammenlebens mit der geistigen Welt.

Die ganze Art und Weise, wie man sich die Artus-Sage gebildet hat, alles das, was sich legendarisch um den König Artus herumgruppiert

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hat, das zeigt, wie das Keltenelement auch in dieser seiner Fortsetzung lebte in dem Königtum. Und von dieser Seite aus gab es Verständnis für das Befehlsmäßige, das Anordnende, das Organisierende des Kö­nigselementes.

Nun geschah folgender Vorgang: Der Christus, welcher der Christus des Ulfila, der Christus der Goten war, der intensiv gefühlt wurde im Sinne des Arianismus, der war ein Christus für alle Menschen; für Menschen, die sich in einer gewissen Beziehung gleich fühlten, für Men­schen, die nicht aristokratische und aristokratisierende Unterschiede machen. Er war zugleich eine Nachwirkung, eine letzte Nachwirkung desjenigen, was man im Oriente gefühlt hat als Zusammenwirkung dessen, was der Mensch auf der Erde mit dem ganzen Kosmos und auch mit der Natur erlebt. Die Natur war gewissermaßen herausgeworfen aus jener Konstitution, welche in der sozialen Einrichtung des kelti­schen Königtums lebte.

Diese zwei Dinge - in den Einzelheiten kann ich das nicht erörtern, aber im Prinzipe - kamen in Europa zunächst zusammen und trafen sich mit einem dritten. Sie stießen so zusammen, daß zunächst der Arianismus vordrang; aber weil er noch eine Nachwirkung war des­jenigen, was Natur und Mensch zusammenkoppelt, verstanden ihn jene nicht, die unter den rein keltischen Impulsen standen auch in der Fortsetzung der germanischen, der fränkischen Völker und so weiter; sie verstanden ihn nicht, sie verstanden nur dasjenige, was in ihrer Königsstruktur war. Und daher entstand zunächst der Drang, der noch nachwirkte in der altsächsischen Evangelien-Dichtung «Heliand»: den Christus selber umzudeuten in einen Heerkönig, in einen königlichen Anführer, in einen Fürsten, der seine Mannen hat. Aus Unverstand gegenüber dem, was vom Orient noch herüberkam, und aus der Sucht, das, was man verehren soll, als König zu verehren, als weltlichen König zu gleicher Zeit, entstand diese Umdeutung des Christus in der Form des Heerkönigs.

Nun kam ein Drittes dazu. Das kam vom Süden, das kam aus dem römischen Reich. Das römische Reich, das war ja schon früher infiziert von diesem, man könnte es vielleicht heute nennen staatsmäßigen Ele­mente. Das römische Reich - es war kein Staat, es war ein Reich, aber

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man versteht sich vielleicht heute besser, wenn man sagt «staatsähn­liches Gebilde» -, dieses römische Reich, es ist ja in gewisser Beziehung sehr ähnlich - nur eben so verschieden, wie die verschiedenen Territo­rien geographisch auseinanderliegen, verschiedene Bedingungen die so­ziale Struktur erzeugen -, es ist, nur aus anderen Grundlagen hervor­gehend, doch gewissermaßen recht ähnlich dem, was aus der Königs­Organisation hervorging. Es hat ja dann hingedrängt zur Kaiser­Organisation aus der Republik heraus, ist aber eben ein Reich ähnlich dem, was im Keltentum, nur mit germanischer Färbung dann, aus den verschiedenen Königstümern herausgewachsen ist.

Nun konnte dasjenige, was vom Süden aus dem romanischen Reich als die Denkweise, die Empfindungsweise gegenüber dem sozialen Le­ben heraufkam - weil es eben eine äußerlich auf dem physischen Plane befindliche Struktur ins Auge faßte -, sich niemals wirklich innerlich mit irgend etwas verbinden, was noch als alter instinktiver Impuls aus dem Oriente herüberkam, wie der Arianismus. Das brauchte etwas -verzeihen Sie das paradoxe Wort -, was unverständlich ist, was man dekretiert. Wie überhaupt im Königtum oder im Kaisertum dekretiert wird, so wurde auch im Papsttum dekretiert. Was Arius gelehrt hat, das läßt sich an den Menschen heranbringen, indem man an gewisse Gefühle appelliert, die ja am besten in den Völkern waren, von denen ich gesprochen habe; verwandte Seiten davon sind schließlich in allen Menschen. Dasjenige, was im Athanasianischen Glaubensbekenntnis liegt, das spricht zu dem menschlichen Verständnis-Empfinden recht wenig; das muß man dekretieren, wenn man es einfügen will der Volksgemeinschaft, das muß man zum Gesetze machen. Wie man welt­liche Gesetze macht, so muß man auch das Athanasianische Glaubens­bekenntnis zum Gesetze machen. So ist es ja auch geworden. Das völlig Unverständliche, Sonderbare von der Gleichheit des Sohnes mit dem Vater, die beide von Ewigkeit her, beide gleich Gott sind und so weiter, das wurde ja auch später so aufgefaßt, daß man sagte, zu verstehen brauche man es nicht, man müsse es glauben. Es ist eben etwas, das sich dekretieren läßt. Der Athanasianische Glaube ließ sich dekretieren. Und er ließ sich - indem er ausgesprochen, indem er unmittelbar an­gewiesen war auf das Dekretieren - auch einführen in eine politische

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Kirchenorganisation. Der Arianismus sprach zum einzelnen Menschen, zum individuellen Menschen. Der ließ sich nicht einfügen in eine Kir­chenorganisation. Der Arianismus ließ sich nicht dekretieren. Aber auf das Dekretieren kam es an aus jenen Unterlagen heraus, von denen ich Ihnen gesprochen habe.

So wuchs dasjenige, was aus dem Süden heraufkam, aus dem Atha­nasianismus, mit der Tendenz zu dekretieren, zusammen mit dem In­stinkt nach einer Organisation, an deren Spitze ein Führer mit zwölf Unterführern stand -, was dahin tendierte.

Für Mitteleuropa hat sich das ineinandergeschoben. Für das britische Westeuropa und später auch für Amerika blieb aber ein gewisser Rest der alten Gesinnung, wie sie in dem Fürstentume, in dem aristokra­tischen Elemente war, in dem, was das Gesellschaftliche organisiert, das Geistige hineinzieht in das Gesellschaftliche. Daß das Geistige hin-einbezogen gedacht wurde im Gesellschaftlichen, das sehen Sie ja dann an der Artus-Sage, indem erzählt wird, daß die Ritter der Artus-Tafel­runde Ungeheuer zu besiegen, Dämonen zu bekriegen hatten und so weiter. Das Geistige also spielte da hinein, spielte so hinein, daß man das nur pflegen kann, wenn man nicht dekretiert, sondern wenn man es zur Natur macht, wenn man es organisiert. Und so kam es, daß, währenddem durch Mitteleuropa das Kirchenvolk sich entwickelte, gegen Westen hin, namentlich gegen die englischsprechende Bevölke­rung hin dasjenige entstand, was man nun nennen kann, um eine dritte Benennung für diesen Strom zu haben, das Logenvolk, oder die Logen-völker, wo ein gewisser Zug dazu ursprünglich vorhanden war, Gesell­schaften zu bilden, in den Gesellschaften zu erzeugen die Gesinnung der Organisation. Die Organisation hat letzten Endes nur einen Wert, wenn sie durch geistige Mittel gemacht wird, ohne daß der andere sie bemerkt; sonst muß man eben dekretieren. Dekretiert wurde in Mit­teleuropa; logenmäßige Herrschaft wurde mehr in dem versucht, was sich dann als Fortsetzung des Keltentums in der englischsprechenden Bevölkerung ausbildete. So daß das Logenvolk oder die Logenvölker entstanden, die im wesentlichen eigentlich in sich bemerkbar dasjenige haben, was nicht die ganze Menschheit organisiert, sondern gesell­schaftsmäßig zusammenfaßt, ordensmäßig zusammenfaßt. Das ordensmäßige

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Zusammenfassen liegt in dieser Fortsetzung desjenigen, was sich an die Artus-Sage anknüpft. Es ist so, daß im weltgeschichtlichen Leben immer die Dinge sich ineinanderschieben. Niemals kann man eine Entwickelung verstehen, wenn man nur sich vorstellt, daß das Folgende aus dem Vorhergehenden auf geradlinigem Wege entsteht. Die Dinge schieben sich in der Entwickelung ineinander. Und so ist es eine merkwürdige Tatsache, daß in bezug auf die menschliche Vor­stellungsart, in bezug auf alles dasjenige, was wirkt in der mensch­lichen Seele, dieses Logenprinzip - das ja dann in den Freimaurern seine affenartige Karikatur erzeugt hat -, dieses Logenartige nun wie­derum innerlich verwandt ist mit dem Jesuitismus. So daß, wie feind­lich auch, wie spinnefeind, wenn ich mich des trivialen Ausdrucks be­dienen darf, der Jesuitismus diesem Logentum ist - das wissen Sie ja, es da doch, in bezug auf die Form des Vorstellens, eine ungeheure Ähnlichkeit gibt. Und in Ignatius von Loyola hat ganz gewiß zu dem, was er gewirkt hat, was er als Großartiges geschaffen hat, ein kelti­sches Blutelement mitgewirkt, das in seinen Adern floß.

Nun sehen Sie: Im Osten ist das Christus-Volk entstanden; das hat den fortlaufenden Christus-Impuls. Für den östlichen Menschen ist es ganz selbstverständlich, indem er lebt, daß in seine Seele fortwäh­rend etwas einfließt, was der Christus-Impuls ist. Für das Kirchenvolk der mittleren Länder hat sich das abgestumpft oder abgelähmt, indem der Christus-Impuls an den Anfang unserer Zeitrechnung verlegt wor­den ist und später an ihn angeschlossen wurde Dekretierung, staatliche Dekretierung und traditionelle und prinzipiengemäße Fortpflanzung. Im Westen, im Logensystem, wurde der Christus-Impuls überhaupt fraglich, zunächst ganz fraglich; da wurde er noch weiter abgelähmt. Und so entwickelte sich dann aus den Vorstellungsformen, die ur­sprünglich wirklich auf diesen Logenimpuls zurückgehen, der aus dem Keltentum kommt, der der letzte Nachzügler des Keltentums ist, das heraus, was man die moderne Aufklärung nennt mit dem Deismus. Und es ist außerordentlich interessant zu verfolgen, wie himmelgroß der Unterschied ist zwischen der Art und Weise, wie sich ein Angehö­riger eines mitteleuropäischen Kirchenvolkes zu dem Christus-Impuls verhält, und ein Angehöriger des britischen Reiches. Aber ich bitte Sie,

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das nicht nach dem einzelnen Menschen zu nehmen, denn natürlich hat sich der Kirchenimpuls auch nach England ausgebreitet, und die Dinge muß man nehmen, wie sie in Wahrheit sind: man muß diejenigen Menschen nehmen, die zusammenhängen mit dem, was ich jetzt als Logenimpuls geschildert habe, was aber namentlich auch in das staat­liche Leben hinein im ganzen Westen gegangen ist. Aus diesem hat sich ein anderes Verhältnis zu Christus herausentwickelt.

Sie können fragen: Wie steht der Angehörige des Christus-Volkes zu Christus? - Nun, er weiß: Wenn ich mich richtig in meiner Seele erlebe, so finde ich den Christus-Impuls - denn er ist da drinnen, er wirkt immerfort da drinnen. Der Angehörige des Kirchenvolkes, der sagt etwa wie Augustinus, der in seiner Reifezeit auf diese Frage:

Wie finde ich den Christus? - gesagt hat: So wie die Kirche mir den Christus darbietet. Die Kirche sagt mir, wer der Christus ist. Von der Kirche kann ich es lernen, denn die Kirche hat aufbewahrt durch ihre Tradition, was im Anfange über den Christus gesagt war. - Derjenige, der Angehöriger des Logenvolkes ist - und es sind wirklich die Ange­hörigen des Logenvolkes -, der frägt in einer ganz anderen Weise nach dem Christus, weder wie das Kirchenvolk noch wie das Christus-Volk, sondern er sagt: Ja, die Weltgeschichte spricht von einem Christus, der einmal da war. Ist es vernünftig, einen solchen Christus anzunehmen? Wie rechtfertigt sich der Einfluß des Christus in der Weltgeschichte vor der Vernunft? - Das ist ja im wesentlichen die Christologie der Aufklärung, der Aufklärung, die da verlangt für den Christus, daß er sich vor der Vernunft rechtfertige.

Nun muß man, um das, was da in Betracht kommt, zu verstehen, sich klar sein, daß man jederzeit, ohne den Christus-Impuls zu haben, zu Gott kommen kann. Man braucht bloß irgend etwas nicht richtig zu haben - der Atheist ist ja ein Mensch, der irgend etwas auch physisch Krankes an sich hat -; aber man kann auf dem Wege der Spekulation, auf dem Wege der Mystik, was immer, zu dem Gotte kommen, dazu kommen, daß man einen Gott in der Welt annimmt. Das ist denn auch das Urdeistische, der Aufklärungsglaube. Dazu kommt man zunächst auf geradem Wege: zu dem Aufklärungsglauben, daß ein Gott ist.

Nun aber handelt es sich darum bei denjenigen, die sich aus dem

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Logenvolk heraus entwickelt haben: vernünftig zu finden, neben dem allgemeinen Gott auch den Christus anzunehmen. Da kann man ver­schiedene Persönlichkeiten wählen, die charakteristisch sind für diese Dinge. Ich habe gewählt den im Jahre 1648, gerade im Jahre des West­fälischen Friedens verstorbenen Herbert Cherbury. Er versuchte, dazu zu kommen, den Christus-Impuls vernünftig zu finden. Ein richtiger Angehöriger zum Beispiel des russischen Volkes kann sich überhaupt nichts dabei denken, den Christus-Impuls vernünftig zu finden. Das ist für ihn ungefähr so, wie wenn einer von ihm verlangen würde, er soll die Anwesenheit des Kopfes auf den beiden Schultern vernünftig finden. Man hat den Kopf, so hat man den Christus-Impuls. Aber so verschieden ist dasjenige, was durch Leute wie Cherbury verlangt wird, daß da gefragt wird: Ist es vernünftig, neben dem Gott, zu dem also das aufgeklärte Nachdenken führt, auch einen Christus anzunehmen? Man muß ja erst die Menschen studieren, vernünftigerweise, um eigent­lich das alles berechtigt zu finden.

Nun können Sie sagen: Das macht doch aber natürlich nicht jeder Angehörige dieses Logenvolkes! - Selbstverständlich macht das nicht jeder Angehörige des Logenvolkes. In ausgesprochenen Begriffen ma­chen es die Philosophen; die anderen Leute denken ja nicht so viel, aber in ihren Instinkten, in ihren Empfindungen, in den unterbewuß­ten Schlüssen machen es schon alle Leute, die in irgendeiner Weise im Zusammenhange stehen mit dem Impulse des Logenvolkes. Der Mann, von dem ich hier rede, der sagte sich zunächst: Betrachten wir alle ein­zelnen Religionen, was sie Gemeinsames haben. - Das ist nun über­haupt so ein Trick der Aufklärung. Weil man selber nicht zum Geisti­gen, wenigstens insoferne es den Christus-Impuls betrifft, kommen will, sondern nur zu einem abstrakten Gotte des Deismus, so frägt man: Ist es dem Menschen natürlich, das oder jenes aufzufinden? - Da suchte zunächst Cherbury, der viel gereist war, sich zu unterrichten über das, was die verschiedenen Religionen Gemeinsames haben. Er fand da sehr vieles Gemeinsame. Dann aber versuchte er das, was er da als Gemeinsames der Religionen gefunden hatte, in fünf Sätze zusam­menzufassen. Diese fünf Sätze, wir müssen sie besonders ins Auge fassen, denn es ist recht wichtig.

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Der erste Satz ist: Es ist ein Gott. - Weil instinktiv die verschie­denen Völker der verschiedensten Religionen darauf kommen, einen Gott anzunehmen, findet er es im Sinne der Natur, anzunehmen: Es ist ein Gott.

Zweitens: Der Gott verlangt Verehrung. - Wiederum ein gemein­samer Zug der Religionen.

Drittens: Diese Verehrung muß in Tugend und Frömmigkeit be­stehen.

Viertens: Sünden müssen bereut und gesühnt werden.

Fünftens: Es gibt eine belohnende und bestrafende Gerechtigkeit im Jenseits.

Sie sehen, da ist nichts drinnen von irgendeinem Christus-Impuls. Es ist aber zu gleicher Zeit in diesen fünf Sätzen alles dasjenige drin­nen, wozu man gelangt, wenn man nur auf das baut, worauf man da eben aus dem religiösen Impuls, aus dem Logenimpulse heraus bauen wollte. Diese Anschauungsform, die bildete sich immer weiter aus als Aufklärung. Wir finden dann in Hobbes, Locke, in anderen, daß sie versuchten, immer wieder den Versuch machten, sich zu sagen: Ja, aber von Jesus Christus gibt es eine Überlieferung. Ist es nun vernünftig, einen solchen Jesus Christus anzunehmen? - Und schließlich bequemen sie sich dazu, in der Tat zu sagen: Wenn man ins Auge faßt, was in den Evangelien steht, was von dem Christus Jesus überliefert ist, so stimmt es überein mit dem, was im Grunde genommen als Hauptsätze alle Religionen gemeinsam haben. Daher macht es den Eindruck, als ob der Christus eben zusammenfassen wollte, was alle Religionen gemeinsam haben, als ob also da gewesen ist eine gotterfüllte - das kann man sich nun mehr oder weniger vorstellen - Persönlichkeit, welche gelehrt hat das Beste aus allen Religionen. - Das fand man zuletzt vernünftig. Und einzelne Leute, zum Beispiel Tindal, der 1657 bis 1733 gelebt hat, er hat ein Buch geschrieben: «Das Christentum so alt als die Schöpfung.» Dieses Buch «Das Christentum so alt als die Schöpfung», das ist gewissermaßen sehr wichtig, um das Wesen der Aufklärung, das ja dann verflacht worden ist durch den Voltairismus und so weiter, kennenzulernen. Es kam Tindal darauf an zu zeigen, daß immer im Grunde genommen alle Menschen, die besseren Menschen

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immer Christen waren, daß der Christus eben nur das Beste der Religionen zusammengefaßt hat.

Sie sehen schon: Der Christus wird da heruntergeholt und zum Lehrer gemacht. Der Christus wird Lehrer, ob Sie ihn nun Messias nennen oder Meister oder wie Sie wollen: er wird Lehrer. Der Christus wird Lehrer. Es kommt nicht auf die Tatsache des Christus so sehr an, sondern darauf, daß er dasteht, und daß er einen gewissen Religions­inhalt lehrt, der das Teuerste, das Gemeinsame an Religionsinhalt der übrigen Menschheit ist.

Das, was da von mir gezeigt wurde, kann selbstverständlich die verschiedensten Nuancen annehmen, aber es bleibt die Grundfärbung:

der Christus ist Lehrer. Und nun können wir, wenn wir die charakte­ristischen Typen - die natürlich in der mannigfaltigsten Weise dann abgeschwächt werden - des Christus-Volkes, des Kirchenvolkes und des Logenvolkes ins Auge fassen, wenn wir das Wirkliche hinter dem oft sehr, sehr Scheinbaren suchen, dann können wir für das Christus­Volk sagen: Christus ist der Geist, hat also im Grunde genommen nichts zu tun mit irgendwelchen Einrichtungen auf dem physischen Plane. Es ist nur das Mysterium vorhanden, daß er einmal in einer menschlichen Gestalt vorhanden war. - Für das Kirchenvolk: Christus ist der König. Das kann mehr oder weniger nuanciert werden: Christus ist der König. - Das lebt zwar auch im Logenvolk weiter, aber indem es sich weiterentwickelt, indem es etwas aus sich heraustreibt: Christus ist der Lehrer.

Sehen Sie, diese Nuancierung durch das europäische Bewußtsein hin-durch muß man ins Auge fassen, denn diese Nuancierung lebt tief, tief nicht etwa nur in einzelnen Menschen, sondern sie lebt tief, tief in demjenigen, was sich in Europa überhaupt im fünften nachatlanti­schen Zeitraum seelisch entwickelt hat, und auch in vielem, was sich sozial entwickelt hat. Es sind die hauptsächlichsten Nuancen des Chri­stus-Impulses. Man könnte noch viel über diese Dinge reden, aber ich kann Ihnen ja heute zunächst nur eine Skizze geben wegen der Kürze der Zeit.

Nun können wir, wenn wir hinsehen auf die gestrigen drei Formen der Evolution der Menschheit, uns erstens sagen: Die ganze Menschheit

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entwickelt sich so, daß sie jetzt in der Empfindungsseele lebt, 28. bis 21. Jahr. Jeder einzelne Mensch als Individuum entwickelt sich so, daß jetzt die Menschheit in der fünften nachatlantischen Zeit die Be­wußtseinsseele zum Ausdrucke bringt. Und dann ist noch eine dritte Evolution innerhalb der Volksseelen, von der ich Ihnen gestern gesagt habe. Nun, im Zusammenhang mit den Volksseelen entwickeln sich gerade die eben geschilderten Dinge. Sie haben auf der einen Seite die historischen Tatsachen, die aber wirken, und auf der anderen Seite die Volksseelen mit ihren Religionsnuancen. Dieses Zusammenwirken macht, daß das Christus-Volk mit dem Impuls: Christus ist der Geist, daß das Kirchenvolk mit dem Impuls: Christus ist der König, und daß die Logenvölker mit dem Impuls: Christus ist der Lehrer sich entwik­keln. Das hängt von der Volksnuancierung ab. Das ist die dritte Evolution.

Nun schlägt in der wirklichen äußeren Entwickelung immer das eine in das andere hinein. Natürlich, in der Wirklichkeit wirkt das eine auf das andere, durch die anderen; es schlägt immer das eine in das andere hinein. Nicht wahr, wenn Sie mich zum Beispiel jetzt fragen:

Wer gehört ins Logenvolk hinein, wer gehört diesem Aufklärungs­Deismus an? - ja, da ist es merkwürdigerweise so gekommen, daß ein reinster Typ dieses Aufklärungs-Deismus der Harnack in Berlin ist! Der ist ein viel reinerer Typ als irgendeiner, den man jenseits des Kanals finden kann. Das mischt sich alles durcheinander im modernen Leben. Aber will man die Dinge verstehen, will man sie in ihren Ur­sprüngen verfolgen, dann darf man eben nicht bei Ä ußerlichkeiten stehenbleiben, sondern dann muß man sich klar sein darüber, daß es so zusammenhängt, daß die dritte Evolutionsströmung, die sich mit dem Volkstümlichen zusammenkoppelt, eben hineingeht in das, was ich Ihnen jetzt hier dargestellt habe. Aber es ist immer vorhanden, weil ja die anderen Evolutionsströmungen auch da sind, die Reaktion, das Anstürmen der Bewußtseinsseele gegen dieses Volksmäßige. Und das tritt in den verschiedensten Punkten zutage. Das stürmt, ich möchte sagen, von diesem oder jenem Zentrum auf. Und ein solches Aufstür­men, das ist auch der Goetheanismus, der eigentlich mit all dem, was ich jetzt geschildert habe, nichts zu tun hat, und doch wiederum mit

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allem sehr viel zu tun hat, von der einen oder von der anderen Seite betrachtet. Denn es entwickelt sich früh als eine Parallelströmung zu dem, was ich Ihnen als Artus-Strömung geschildert habe, die Grals-Strömung; die Grals-Strömung, die der genaue Gegensatz der Artus-Strömung ist. Die Grals-Strömung entwickelt sich so, daß derjenige, der den Tempel des Gral besuchen will, unzugängliche Wege zu gehen hat, sechzig Meilen lang, daß der Tempel ganz im Verborgenen liegt, daß man dort überhaupt nichts erfährt, wenn man nicht frägt. Kurz, diese ganze Grals-Stimmung ist die des Verbindung-Herstellens zwi­schen dem Intimsten der menschlichen Seele, wo die Bewußtseinsseele erwacht, mit den spirituellen Welten. Es ist, wenn ich so sagen darf, auf künstliche Weise angestrebt das Hinauflenken der sinnenfälligen Welt in die spirituelle Welt, das auf instinktive Weise im Christus-Volk angestrebt ist.

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Wollen wir daher in Form einer Zeichnung dieses merkwürdige Ineinanderwirken der europäischen Religionsimpulse verfolgen, so können wir sagen: Wir haben einen Impuls, es ist derjenige, der in­stinktiv, heute noch keimhaft und unausgebildet, in dem Christus-Volk lebt (siehe Zeichnung, rot). Da kommen dann die Geister, wenn sie Philosophen werden wie Solowjew, dazu, diesen Christus-Impuls als etwas Selbstverständliches zu nehmen.

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Mitteleuropa ist durch seine ethnographischen und durch seine ethni­schen Verhältnisse nicht dazu angelegt, das so zu nehmen; da muß es auf künstliche Weise gemacht werden. Da ist es dann so, daß in der Grals-Strömung nach Europa hereinwirkt dasjenige, was man, ich möchte sagen, wie eine Beugung des Wirbels (siehe Zeichnung, rot un­ten), als Grals-Strömung hereinwirkend haben kann. Das strahlt über­all nach Europa hin, aber es muß dann eben Grais-Strömung sein, ist deshalb auch nicht volksmäßig beschränkt. In dieser Grals-Stimmung, wenn auch sehr stark in den untersten Kräften seines Bewußtseins, lebte Goethe. Suchen Sie sich diese Grals-Stimmung auf; Sie werden sie überall finden. Da steht er in gewisser Beziehung nicht isoliert da; dadurch schließt er sich an Vorhergehendes an. Mit Luther, mit der deutschen Mystik, mit alledem, was da vorangegangen war, hat er nichts zu tun. Das wirkt mehr oder weniger auf ihn so, daß es ihn bildet, daß es ihn zum Weltmenschen macht. Dasjenige, was ihn dazu führt, drei Stufen zu unterscheiden - die Stufe der volksmäßigen Religion, die Stufe der Religion der Weisen, die dem Einzelnen vor­geführt wird im zweiten Gemach, die intimste Religion, die nur in­tim, im dritten Gemach, zu der Seele spricht und die Mysterien von Tod und Auferstehung enthält - das, was ihn dazu führt in dieser Weise hinaufzuheben, nicht jesuitisch herunterzuführen, sondern hin-aufzuheben das in der Sinnenwelt wirksame Religiöse in die spirituel­len Höhen: das ist die Grals-Stimmung. Und Grals-Stimmung, so para­dox das besonders heute klingt, ist im Russizismus, Grals-Stimmung ist durchaus im Russizismus. Und auf dieser im Russizismus vorhandenen unbesieglichen Grals-Stimmung beruht eben jene Zukunft des Russen­tums für die sechste nachatlantische Zeit, von der ich so oft habe zu sprechen gehabt.

Das ist es, was man jetzt ins Auge fassen muß, wenn man die eine Seite betrachtet. Und fassen wir die andere Seite ins Auge, so haben wir da alles das, was weder den Christus-Impuls so nimmt, nun, wie im Osten, gewissermaßen wie eine Invasion, noch nimmt als etwas, was ein durch Tradition und Schrift in Fortpflanzung Lebendes ist, sondern ihn als das Vernünftige nimmt. Das ist dasjenige, was sich innerhalb des Logentums und namentlich innerhalb aller seiner Verzweigungen,

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seiner Fortsetzungen zeigt. Ich will es mit einer anderen Farbe bezeichnen (grün). Das ist dasjenige, was sich dann verpolitisiert im Westen, was der äußerste Ausläufer ist des Artustums, desjenigen, was im König Artus verkörpert ist. Und ebenso wie der Christus­Impuls des Russizismus sich im Gralstum fortsetzt und, ich möchte sagen, in alle guten strebsamen Menschen des Westens einstrahlt, so setzt sich auch jenes andere fort und strömt in alle Menschen hinein, innerhalb des Kirchenvolkes, und bekommt die Färbung des Jesuitis­mus. Wenn auch der Jesuitismus, wie gesagt, dem spinnefeind ist, dar­auf kommt es nicht an; etwas kann gerade spinnefeind sein dem, was eben jene Vorstellungsform gibt. Es ist geschehen, es ist historisch, daß die Jesuiten nicht nur sich in alle Logen eingeschlichen haben, daß hochgraduierte Jesuiten im Zusammenhange stehen mit Hodigraduier­ten der Logen, sondern es ist auch so, daß beide, wenn auch bei ver­schiedenen Völkern, aus dem selben wurzeln, wenn sich auch das eine zum Papsttum, das andere zur Freiheit, zur Vernünftigkeit, zur Auf­klärung entwickelt hat. Das gibt Ihnen nun eine Art Bild von dem, was ich nennen kann das Wirken der Bewußtseinsseelen-Evolution. Denn indem ich Ihnen früher geschildert habe die drei Stufen vom Osten nach dem Westen, war das auf Volkstümliches, auf Ethnisches begründet. Daß es ineinanderwirkend solche Formen annimmt, daß es im Westen zur Aufklärung wurde, das ist dadurch bewirkt, daß die Evolutionsströmung der Bewußtseinsseele im einzelnen Menschen, im Individuum lebt.

Dann aber haben wir eine dritte Strömung. Das ist diejenige, welche der ganzen Menschheit eigen ist, vermöge welcher die ganze Mensch­heit in ihrem Entwickelungsalter ist, indem sie immer jünger und jünger wird, und jetzt in dem Zeitalter der Empfindungsseele ist, vom 28. bis zum 21. Jahre. Das geht durch die ganze Menschheit. Wenn wir die erste Strömung, die ethnische, schildern, wo Volksreligionen entstehen:

Christus-Religion, Kirchenreligion, Logenreligion, dann stehen wir auf dem Standpunkt der volkstümlichen Entwickelung, die ich gewöhn­lich so einteile: italienische Völker = Empfindungsseele, französische = Verstandes- oder Gemütsseele und so weiter. Wenn wir dasjenige schildern, was als Bewußtseinsseele in jedem einzelnen Menschen seit

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dem fünften nachatlantischen Zeitraum sich entwickelt, so haben wir da vorzugsweise dasjenige, was in dieser Weise ins Religiöse einströmt. Aber von da aus geht dann auch das Zusammenwirken mit dem an­deren, mit dem, was Evolution in allen Menschen ist: Empfindungs-seelen-Evolution, die ja parallel läuft und viel unbewußter ist als die Bewußtseinsseelen-Evolution.

Studieren Sie, wie solch ein Mensch wie Goethe, wenn auch vielfach durch Impulse im Unterbewußten, aber doch sehr bewußt sich seine religiöse Richtung gibt, so kommen Sie auf das Walten der Bewußt­seinsseele. Doch daneben waltet in der modernen Menschheit ein an­deres Element, welches sehr stark in Instinkten, in unterbewußten Im­pulsen durch diese moderne Menschheit wirkt, aber innig verknüpft ist mit der Empfindungsseelen-Entwickelung, und das ist dasjenige, was man nennen muß die Entwickelung zum Sozialismus hin, die jetzt im Beginne ihres Verlaufes ist, und die in einer gewissen Weise ihren Abschluß finden wird von der Seite, wie ich es erzählt habe. Gewiß, die Anstöße werden immer gegeben, wie ich schon gesagt habe, von der Bewußtseinsseele aus; aber daß der Sozialismus die Mission des fünften nachatlantischen Zeitraums ist und bis zum vierten Jahrtausend hin zu einem Abschlusse kommen wird, das rührt für die ganze Mensch­heit gewissermaßen davon her, daß sie im Empfindungsseelen-Zeitalter lebt vom 28. bis 21. Jahre. Das liegt da drinnen. Der Sozialismus ist nicht etwas, was eine Parteirichtung ist, obwohl es innerhalb der sozia-len Körperschaften viele Parteien gibt, aber das sind Parteien inner­halb der sozialen Strömung. Der Sozialismus ist nicht eine Parteisache als solche, sondern der Sozialismus ist etwas, was sich ganz notwendig nach und nach im fünften nachatlantischen Zeitraum in der Mensch­heit ausbildet. So daß, wenn dieser fünfte nachatlantische Zeitraum abgeschlossen sein wird, im wesentlichen, soweit sie für die zivilisierte Welt in Betracht kommen, in den Menschen die Instinkte für den Sozia­lismus vorhanden sein werden.

Nun können Sie sich denken: Das alles, was ich Ihnen gesagt habe, wirkt zusammen in diesem fünften nachatlantischen Zeitraum. Da wirken alle die Dinge zusammen, die ich geschildert habe. Da wirkt aber auch noch das, was im wesentlichen in unterbewußten Tiefen ist:

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die Tendenz, bis ins vierte Jahrtausend hinein die richtige sozialistische Gestaltung der ganzen Erdenwelt zu finden. Man braucht sich von einem tieferen Gesichtspunkte aus wahrhaftig nicht zu wundern, daß der Sozialismus alle möglichen Blasen aufwirft, die auch sehr schlimm sein können, wenn man bedenkt, wie er aus unterbewußten Tiefen her­auf seine Impulse hat; wenn man bedenkt, wie das alles brodelt und kraftet und der Zeitpunkt noch weit, weit entfernt ist von derjenigen Epoche, wo es in sein richtiges Fahrwasser kommen wird. Aber es rumort, und zwar jetzt nicht einmal in den menschlichen Seelen, son­dern es rumort in den menschlichen Naturen, in den menschlichen Tem­peramenten vor allen Dingen. Und für dasjenige, was in menschlichen Temperamenten rumort, für das findet man Theorien. Diese Theorien -wenn sie nicht Ausdrücke sind, so wie wir es in der Geisteswissenschaft haben, für dasjenige, was in den Tiefen der Wirklichkeit vorhanden ist -, diese Theorien, ob es Bakuninismus, Marxismus, Lassallismus ist, was weiß ich, das ist ganz einerlei, das sind alles Masken, Verbrämun­gen, alles Dinge, die sich der Mensch oberflächlich über die Wirklich­keit zieht. Die Wirklichkeiten sieht man doch erst, wenn man so tief hineinschaut in die Menschheitsentwickelung, wie wir es durch diese Betrachtungen zu tun versuchen.

Und auch dasjenige, was jetzt äußerlich geschieht, das sind ja nur tumultuarische Vorbereitungen zu dem, was schließlich in allen - und zwar jetzt wirklich, man kann sagen, eben nicht Seelen, sondern in den Temperamenten lauert. Sie alle sind sozialistisch. Sie wissen es oftmals nicht, wie stark Sie sozialistisch sind, weil es im Temperamente, ganz im Unterbewußten lauert. Aber nur dadurch, daß man so etwas weiß, kommt man hinaus über jenes nebulose, lächerliche Suchen nach Selbsterkenntnis, die hineinschaut in das menschliche Innere und da, ich will es nicht schildern, was man da für ein wesenloses Caput mor­tuum, für ein Abstraktum findet. Der Mensch ist ein kompliziertes Wesen. Man lernt ihn nur kennen, wenn man die ganze Welt kennen-lernt. Das ist es, was dabei berücksichtigt werden muß.

Betrachten Sie einmal von diesem Gesichtspunkte aus die Welt, die Menschheit, wie sie sich im fünften nachatlantischen Zeitraum heran-entwickelt hat. Sagen Sie sich nun selbst: Da haben wir im Osten das

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Christus-Volk mit dem wesentlichsten Impuls: Christus ist Geist. -Es lebt in der Natur dieses Volkes, daß dasjenige, was nur als Vor­läufer hat geschehen können durch die andere europäische Bildung, wie mit instinktiver, mit elementarer Gewalt, mit historischer Not­wendigkeit durch den Russizismus in die Welt kommt. Es ist dem russischen Volke als Volk diese Mission übertragen, das Gralswesen als religiöses System bis zum sechsten nachatlantischen Zeitraum so auszubilden, daß es dann ein Kulturferment der ganzen Erde werden kann. Kein Wunder, wenn sich dieser Impuls kreuzt mit den anderen Impulsen, die vorhanden sind, daß die anderen Impulse sonderbare Formen annehmen.

Welches sind die anderen Impulse? Nun: Der Christus ist König, Christus ist Lehrer. Ja, bis zu dem «der Christus ist Lehrer» kann man kaum gehen, denn das versteht eigentlich das russische Gemüt, wie ich schon sagte, doch eigentlich nicht, was das heißen soll, daß man das Christentum lehren kann, daß man das nicht erlebt als etwas, was in der eigenen Seele ist. Aber «Christus ist König» - so ist doch das Russentum mit dem «Christus ist König» zusammengewachsen. Und da sehen wir das Zusammenstoßen desjenigen, was am allerwenig­sten jemals in der Welt zusammengehört hat: das Zusammenstoßen mit dem Zarismus, die östliche Karikatur des Prinzips, irdische Herrschaft einzuführen auf dem Gebiete des Religionswesens. «Christus ist König»

- und der Zar ist sein Stellvertreter: diese Zusammenkoppelung dieses Westlichen, das im Zarismus sich ausspricht, mit dem, was gar nichts damit zu tun hat, mit dem, was durch die russische Volksseele im russi­schen Gemüte lebt!

In der äußeren physischen Wirklichkeit ist eben gerade das Charak­teristische, daß diejenigen Dinge, die oftmals innerlich am wenigsten miteinander zu tun haben, sich äußerlich aneinander abreiben müssen. Fremdest waren von jeher Zarismus und Russentum, gehörten nicht zusammen. Wer das russische Wesen versteht, namentlich religiös, der wird daher die Einstellung auf die Ausscheidung des Zarismus immer als etwas Selbstverständliches für den wirklichen nötigen Zeitpunkt haben finden müssen. Aber bedenken Sie, daß dieses «Christus ist der Geist» Innerlichstes ist, daß es zusammenhängt mit der edelsten Kul­tur

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der Bewußtseinsseele, und nun zusammenstößt, während der Sozia­lismus rumort, mit dem, was in der Empfindungsseele lebt, so wie ich es dargestellt habe. Kein Wunder, daß die Ausbreitung des Sozialismus in diesem östlichen Teile von Europa Formen annimmt, die überhaupt unbegreiflich sind, ein unorganisches Ineinanderspielen der Bewußt­seinsseelenkultur und der Empfindungsseelenkultur.

Vieles, was in der äußeren Wirklichkeit geschieht, es wird Ihnen klar und verständlich sein, wenn Sie diese innerlichen Zusammenhänge ins Auge fassen. Und notwendig ist es schon einmal für die gegen­wärtige Menschheit und für ihre Entwickelung in die Zukunft hinein, daß die Menschheit nicht aus Bequemlichkeit und Faulheit vorbeigeht an dem, was ja zu ihrem Wesen gehört: Verständnis zu haben dafür, in welchen Zusammenhängen wir jetzt drinnen stehen. Man hat es nicht verstanden, hat es nicht verstehen wollen. Dadurch ist das europäische, jetzt mit dem amerikanischen verknüpfte Chaos gekommen, die furcht­bare Katastrophe. Nicht eher wird man aus der Katastrophe heraus­kommen, bis die Menschen sich geneigt zeigen werden, so sich zu ver­stehen wie sie sind, aber eben wie sie sind innerhalb der gegenwärtigen Zeitenentwickelung, innerhalb der gegenwärtigen Zeitepoche. Das ist es, was man einsehen muß.

Daher ist es mir so wichtig, daß man einsieht, wie das, was ich mir denke als anthroposophische Bewegung, wirklich angeknüpft werden soll an die Erkenntnis der großen Evolutionsimpulse der Menschheit, angeknüpft werden soll an dasjenige, was die Zeit unmittelbar jetzt von den Menschen fordert. Natürlich ist es dann ein großer Schmerz, wenn man sieht, wie wenig eigentlich die Gegenwart geneigt ist, an­throposophische Weltanschauung gerade von dieser Seite her zu be­greifen und ins Auge zu fassen.

Sie werden aus dem, was ich gesagt habe, einsehen, wie das, was als Sozialismus heraufsteigt - durch allgemeine Gesichtspunkte möchte ich nun ergänzen, was ich in der vorigen Woche in Anknüpfung an die «Philosophie der Freiheit» gesagt habe -, eine in der Menschennatur ganz allgemein begründete, immer weiter und weiter greifende Er­scheinung in der Menschheit ist. Die heutigen Reaktionen, die dagegen stattfinden, sind für den, der die Dinge durchschaut, einfach furchtbar.

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Für den, der die Dinge durchschaut, ist es klar, daß, wenn es auch noch so tumultuarisch, noch so im Rumoren darinnen sich geltend macht, was Sozialismus ist über die ganze Erde hin, dieses internationale Element, daß das dasjenige ist, was zukunftsträchtig ist, und daß das, was jetzt auftritt, die Konstituierung von allen möglichen National-, Natiön­chen-Staaten, dasjenige ist, was der Menschheitsevolution entgegen-arbeitet. Es ist ein furchtbares Entgegenstemmen gegen den Sinn der Entwickelung des fünften nachatlantischen Zeitraums, was in den Wor­ten liegt: Jeder einzelnen Nation einen Staat. - Wo das enden soll, weiß man ja ohnedies natürlich gar nicht, aber es wird halt gesagt; nun, es wird halt gesagt! Das ist zu gleicher Zeit ganz durchtränkt von dem, was in den Artus-Impuls zurückführt: ganz durchtränkt von Organi­sationsprinzipien. Der Gegensatz dazu ist die Grals-Bestrebung, die so innig verwandt ist mit den Goetheschen Prinzipien, wie ich sie Ihnen dargestellt habe, diese Grals-Bestrebung, die überall auf das Indivi­duelle, im Ethischen, im Wissenschaftlichen überall auf das Individuelle hintendiert, die vor allen Dingen das Individuum in seiner Entwicke­lung ins Auge fassen will, nicht Gruppen, die heute keine Bedeutung mehr haben und die durch das internationale sozialistische Element aus der Welt geschafft werden müssen, weil da die Richtung der Ent­wickelung liegt.

Auch aus diesem Grunde ist es, daß man sagen muß: Im Goetheanis­mus, im Goetheanismus mit all seinem Individualismus - wie ich den Individualismus hervorgeholt habe aus der Goetheschen Weltanschau­ung, sehen Sie in meinen ersten Goethe-Schriften, Sie können es auch bemerken in meinem Buche «Goethes Weltanschauung», diesen Indi­vidualismus, der schon einmal eine naturgemäße Folge des Goethe­anismus ist -, in diesem Individualismus, der nur in einer Philosophie der Freiheit gipfeln kann, da liegt dasjenige, was notwendigerweise hinzielen muß zu dem, was als Sozialismus sich bildet, so daß man in einem gewissen Sinne zwei Pole anerkennen kann, auf der einen Seite den Individualismus, auf der andern Seite den Sozialismus, nach denen die Menschheit hintendiert im fünften nachatlantischen Zeitraum. Aber diese Dinge müssen richtig verstanden werden. Und das richtige Verste­hen, das ist notwendig damit verbunden, daß man sich einen Einblick

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verschafft, was zum Sozialismus hinzukommen muß, wenn er wirk­lich in der Richtung der Menschheitsevolution laufen soll. Die heutigen Sozialisten haben ja noch keine Ahnung, was notwendigerweise mit dem wahren, erst im vierten Jahrtausende einen gewissen Abschluß bekommenden Sozialismus zusammenhängt, zusammenhängen muß, wenn er in seiner Entwickelung richtig geht. Da handelt es sich vor allen Dingen darum, daß dieser Sozialismus sich zusammenentwickeln muß mit einer richtigen Empfindung über das Wesen des ganzen Men­schen, des leiblichen, des seelischen, des geistigen Menschen. Die Nuan­cen, die werden schon die einzelnen ethnischen Religionsimpulse dazu-bringen, die werden schon ihre Beiträge liefern, daß verstanden wird der Mensch nach dieser dreifachen Gliederung, nach Leib, Seele und Geist. Der Orient mit dem Russischen wird dafür sorgen, daß der Geist begriffen wird. Der Westen wird dafür sorgen, daß der Leib begriffen wird. Die Mitte wird dafür sorgen, daß die Seele begriffen wird. Aber das alles geht natürlich durcheinander. Das darf nicht schematisiert und nicht kategorisiert werden, aber in all das hinein muß sich eben erst entwickeln das wirkliche Prinzip, der wirkliche Im­puls des Sozialismus.

Was ist dieser Sozialismus? Der wirkliche Impuls des Sozialismus besteht nämlich darinnen, daß die Menschen es, so wie ich es neulich einmal geschildert habe, wirklich dazu bringen, in der äußeren sozialen Struktur die Brüderlichkeit zu verwirklichen im weitesten Sinne des Wortes. Die wirkliche Brüderlichkeit hat nichts zu tun mit Gleichheit, selbstverständlich. Denn nehmen Sie schon in der Familie Brüderlich­keit an: wenn der eine Bruder sieben Jahre alt ist, der andere erst geboren ist, so kann man natürlich nicht von Gleichheit sprechen. Brü­derlichkeit wird erst verstanden werden müssen. Aber das ist auch alles, was auf dem physischen Plan zu verwirklichen ist: an Stelle der heutigen Staatssysteme Organisationen über die ganze Erde hin, die durchtränkt sind von Brüderlichkeit. Dagegen muß aus der äußer­lichen Organisation, aus der Staatsorganisation und aus allen staats­ähnlichen Organisationen heraus alles Kirchliche und alles Religiöse. Das muß seelische Angelegenheit werden. Das muß in völlig freiem Nebeneinanderleben der Seelen sich entwickeln. Parallel mit der Entwickelung

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des Sozialismus muß absoluteste Gedankenfreiheit in bezug auf alle religiösen Dinge gehen.

Das hat ja der bisherige Sozialismus in Form der Sozialdemokratie, nun, nur so hervorgeschmissen, daß man schon sagen kann: «Religion ist Privatsache.» - Aber das hält er ungefähr so ein, wie der wütende Stier die Brüderlichkeit einhält, wenn er auf irgend jemand losgeht. Da ist natürlich nicht das geringste Verständnis dafür, denn der Sozia­lismus in seiner heutigen Gestalt ist selber Religion; er wird in ganz sektenmäßiger Weise betrieben und tritt mit ungeheurer Intoleranz auf. Also parallel diesem Sozialismus muß gehen eine wirkliche Blüte des religiösen Lebens, das darauf gebaut ist, daß das religiöse Leben der Menschheit eine freie Angelegenheit der miteinander auf der Erde wirksamen Seelen ist.

Nun denken Sie einmal, wie unendlich viel dadurch entgegengear­beitet worden ist der Evolution. Es muß immer zuerst entgegen­gearbeitet werden, damit dann wieder eine Zeitlang im Sinne der Evolution gearbeitet werden kann; dann kommt wiederum der Gegen-schlag, und so weiter. Das habe ich Ihnen ja bei den allgemeinen Ge­schichtsprinzipien erörtert, daß alles da ist, damit es wiederum stirbt. Denken Sie nur, wie gegengearbeitet worden ist diesem Parallelgehen der Gedankenfreiheit auf dem Gebiete der Religion und des äußer­lichen brüderlichen sozialen Lebens, das sich, wenn man schon vom Staate spricht, nur innerhalb der Staatsgemeinschaft ausbilden kann! Innerhalb der Staatsorganisation darf das religiöse Leben überhaupt gar keine Rolle spielen, sondern nur innerhalb der als Seelen zusam­menlebenden Menschen in völligster Unabhängigkeit von irgendeiner Organisation, wenn Sozialismus herrschen soll. Was ist dagegen ge­sündigt worden! «Christus ist der Geist» - daneben diese furchtbare Kirchenorganisation des Zarismus! «Christus ist der König» - absolute Zusammenkoppelung von Papsttum mit religiösen Überzeugungen! Und nicht nur, daß die Kirche, die römisch-katholische Kirche selber sich konstituiert hat als politisches Reich, sie hat auch den Weg ge­funden, namentlich in den letzten Jahrhunderten mit dem Umwege über den Jesuitismus, in die anderen Reiche sich einzuschleichen und die mitzuorganisieren, die mitzudurditränken. Oder denken Sie, wie

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hat sich schließlich das Luthertum entwickelt? Gewiß, Luther ging her­vor aus jenem Impulse - so habe ich ihn auch einmal dargestellt -, und er ist so recht ein Geist, der mit dem einen Gesicht nach dem vierten, mit dem anderen Gesicht nach dem fünften Zeitraum weist und inso­fern einen zeitgemäßen Impuls hat. Er tritt auf, aber was geschieht dann? Dann koppelt sich dasjenige, was Luther auf religiösem Gebiete gewollt hat, mit den Fürsteninteressen der einzelnen deutschen Höfe zusammen. Ein Fürst wird Synodale, Episkop, und so weiter; also auch da zusammengekoppelt dasjenige, was niemals zusammengekoppelt werden darf. Oder Durditränkung des die äußere Staatsorganisation durchsetzenden Staatsprinzips mit dem katholischen religiösen Prin­zip, wie es in Österreich war, in dem jetzt zugrunde gehenden Öster-reich, worauf das ganze Unglück Österreichs im Grunde genommen doch zurückgeht. Unter anderen Ägiden, namentlich unter der Ägide des Goetheanismus, würde es möglich gewesen sein, in Österreich sehr gut Ordnung zu schaffen.

Das ist auf der einen Seite. Auf der anderen Seite im Westen in der englischsprechenden Bevölkerung überall Durchdringung von Logen­tum mit Fürstentum. Das ist gerade das Charakteristische, daß die staatliche Organisation im Westen überhaupt nicht zu verstehen ist -und Frankreich und Italien sind ja ganz infiziert davon -, ohne daß man da die Durchsetzung mit dem Logentum ebenso ins Auge faßt, wie man in Mitteleuropa die Durchsetzung mit dem Jesuitismus oder mit anderem ins Auge fassen muß. Also gegen dasjenige, was notwendig parallelgehen muß dem Sozialismus, ist furchtbar gesündigt worden, und das muß ins Auge gefaßt werden.

Ein Weiteres, was mit der Entwickelung nach dem Sozialismus parallel gehen muß, ist auf dem Gebiete des geistigen Lebens die Emanzipation alles Strebens nach dem Geiste unabhängig von der Staatsorganisation. Die absolute Aufhebung aller Kasernierung der Wissenschaft und dessen, was mit Wissenschaft zusammenhängt. Das ist das Notwendige. Jene über die Welt zerstreuten Kasernen der Wis­senschaft, die man Universitäten nennt, das sind Dinge, welche am allermeisten entgegenstreben dem, was sich im fünften nachatlantischen Zeitraum entwickeln will. Denn so wie Freiheit herein muß auf religiösem

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Gebiete, so muß auf dem Gebiete der Erkenntnis die Möglichkeit entstehen, daß ein vollständig gleiches Zusammengehen entsteht, daß jeder seinen Anteil haben kann an der Fortentwickelung der Mensch­heit. Nicht im geringsten dürfen, wenn die sozialistische Bewegung gesund sich entwickeln will, Privilegien, Patente, Monopole auf irgend­einem Zweig der Erkenntnis liegen. Da wir heute noch sehr weit ent­fernt sind von dem, was ich eigentlich meine, so ist es wohl nicht nötig, daß ich nach irgendeiner Seite Ihnen zeige, wie es möglich ist, die Kaser­nierung der Wissenschaft aufzuheben, und wie es möglich ist, jeden Menschen zu seinem Anteil an der Evolution nach dieser Richtung zu bringen. Denn das wird zusammenhängen mit tiefgreifenden Impulsen, die im Erziehungswesen, ja in dem ganzen Verhältnis von Mensch zu Mensch sich entwickeln werden. Aber so wird es sein, daß alle Mono­pole, Privilegien, Patente, die sich auf den Besitz geistiger Erkenntnisse beziehen, schwinden werden, und nur die Möglichkeit vorhanden sein wird, daß der Mensch den Inhalt des geistigen Lebens nach allen Rich­tungen hin, auf allen Gebieten so geltend machen kann, wie er in ihm liegt, wie stark er in ihm liegt, wie stark er in ihm zum Ausdrucke kommt. In einer Zeit, in der man immer mehr und mehr dahin strebt, solche Dinge wie die Medizin zum Beispiel zu monopolisieren durch die Universitätsleute, in der man auch auf den verschiedensten anderen Gebieten alles, alles durchorganisieren will, in einer solchen Zeit hat man es ja nicht nötig, über Einzelheiten der geistigen Gleichheit zu sprechen, - denn wir sind ja natürlich noch sehr weit davon entfernt, und die meisten von uns haben genügend Zeit, zu warten bis zu ihrer nächsten Inkarnation, wenn sie ein vollständiges Verständnis anstreben dessen, was mit Bezug auf diesen dritten Punkt zu sagen ist. Aber natürlich, Anfänge könnten überall gebildet werden.

So ist es nur möglich, wenn man, Anteil nehmend an der modernen Menschheit und an unserer Zeit, im Kopfe hat, welche Impulse walten, wenn man namentlich diesen Sozialismus, der da waltet, ins Auge fassen und ihn zusammenhalten kann mit dem, was parallel gehen muß: Freiheit des religiösen Denkens, Gleichheit auf dem Gebiete der Erkenntnis. Die Erkenntnis muß für die Menschen so gleich werden, wie nach dem Sprichworte der Tod alle gleich macht, denn sie führt in

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der Zukunft eben in die übersinnliche Welt hinein, in die der Tod auch hinein führt. Sowenig man nämlich den Tod monopolisieren und paten­tieren kann, so wenig kann man in der Wirklichkeit die Erkenntnis monopolisieren und patentieren. Und wenn man es doch tut, erzeugt man eben nicht Träger der Erkenntnis, sondern diejenigen, die eben das geworden sind, was heutige sogenannte Träger der Erkenntnis sind. Es betrifft ja natürlich nirgendwo wiederum den einzelnen, ge­radesowenig wie das andere den einzelnen betrifft, sondern es betrifft dasjenige, was ja für die Zeit bedeutsam ist: die Gestaltung, die soziale Gestaltung der Zeit. Unsere Zeit insbesondere, die das allmählich in die Dekadenz kommende Bourgeoistum darlebte, die hat ja gezeigt, wie heute immer unwirksamer und unwirksamer ein Aufbäumen wird gegen dasjenige, was eigentlich gegen die Evolution geht. Das Papst­tum geht ganz entschieden gegen die Evolution. Als der Altkatholizis­mus sich in den siebziger Jahren dagegen aufgebäumt hat, nach der Aufstellung des Infallibilitätsdogmas, dieser Krönung des päpstlichen Monarchismus, da wurde es ihm ja schwer und wird ihm bis heute schwer gemacht, während er gute Dienste leisten könnte gerade in bezug auf dieses Aufbäumen gegen den päpstlichen Monarchismus.

Wenn Sie rückblicken auf dasjenige, was ich gesagt habe, dann wer­den Sie doch finden, daß gegenwärtig hier außen auf dem physischen Plane etwas ist, was eigentlich in die Seelen hineingehört und in den Geistesmenschen hineingehört, während auf dem äußeren physischen Plane eigentlich die Brüderlichkeit heraus will, die in sich abgeschlos­sene Brüderlichkeit heraus will. Es hat sich auf dem physischen Plane dasjenige geltend gemacht, hat ihn organisiert, diesen physischen Plan, was auf den physischen Plan unmittelbar nicht gehört. Natürlich ge­hört es auf den physischen Plan, insofern die Menschen auf dem physi­schen Plane stehen und es in den Seelen lebt, aber es gehört nicht hinein dadurch, daß man auf dem physischen Plane die Leute organisiert. Auf dem physischen Plane müssen zum Beispiel die Religionen absolut nur Seelengemeinschaften sein können, nicht äußerlich organisiert sein, müssen die Schulen als solche ganz anders organisiert sein; vor allen Dingen dürfen nicht Staatsschulen sein und so weiter. Das alles muß aus der Freiheit des Gedankens, aus der Individualität des menschlichen

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Wesens herausgehen können. Dadurch, daß sich in der Wirklich­keit die Dinge ineinanderschieben, dadurch kann so etwas kommen, wie zum Beispiel, daß heute der Sozialismus vielfach das Gegenteil dessen ist, was ich Ihnen heute als sein Prinzip dargestellt habe. Er ist tyran­nisch, er ist machtlüstern, er ist dasjenige, was am liebsten alles andere auch in die Hand nehmen möchte. Innerlich ist er in Wirklichkeit die Bekämpfung des widerrechtlichen Fürsten dieser Welt, denn der wider-rechtliche Fürst dieser Welt tritt dann auf, wenn man den Christus­Jmpuls oder das Geistige äußerlich nach Staatsprinzipien organisiert, wenn man die äußere Organisation nicht bei der bloßen sozialen Brü­derlichkeit läßt.

Sie sehen, man tippt gar sehr an Dinge, die heute der Menschheit noch unbequem sind, wenn man an wichtigste, wesentlichste Fragen der Gegenwart tippt. Es ist aber notwendig, daß solche Dinge ein­gesehen werden, daß solche Dinge erkenntnismäßig durchdrungen werden. Denn nur dadurch, daß man solche Dinge seiner Einsicht ein­verleibt, nur dadurch kann man herauskommen aus der gegenwär­tigen Katastrophe. Das muß ich immer wieder und wiederum wieder­holen. Nur dadurch wird es möglich sein, mitzuarbeiten an der wirk­lichen Evolution der Menschheit, daß man sich bekannt macht mit den Impulsen, die auf die Weise, wie wir es ja betrachtet haben, gefunden werden können.

Als ich meine «Philosophie der Freiheit» hier vor acht Tagen be­sprochen habe, da habe ich versucht, Ihnen darzustellen, wie ich mit meinem Wirken eigentlich es dahin gebracht habe, überall heraus-lanciert zu werden. Sie erinnern sich wohl noch an dieses Heraus­lancieren auf den verschiedensten Gebieten. Ja, ich darf wohl sagen:

Auch mit dem Goetheanismus darf ich mich von den verschiedensten Seiten her als herauslanciert betrachten, da, wo ich versucht habe in den letzten schweren Jahren, die Menschheit auf ihn hinzuweisen. Goethe­anismus ist ja nun wirklich nicht, daß etwas über Goethe gesagt wird, sondern Goetheanismus kann es auch sein, wenn man sich die Frage aufwirft: Was geschieht am besten irgendwo an irgendeiner Stelle der Welt, jetzt, wo alle Völker der Welt miteinander raufen? - Aber auch da fühlte ich mich überall herauslanciert. Das sage ich nicht aus Pessimismus,

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denn dazu kenne ich die Konstitution des Karma viel zu gut. Das sage ich auch nicht, weil ich nicht morgen doch dasselbe machen würde, was ich gestern gemacht habe, wenn sich mir die Gelegenheit dazu bieten würde. Aber ich muß es sagen, weil es notwendig ist, manches zur Kenntnis der Menschheit zu bringen, weil die Menschheit nur dadurch, daß sie in die Wirklichkeit hineinschaut, dazu kommen kann, ihrerseits selbst die Impulse zu finden, die dem gegenwärtigen Zeitalter angemessen sind.

Muß es denn durchaus sein, daß die Menschen gar nicht dazu kom­men können, durch das Regemachen desjenigen, was in ihren Herzen und ihren innersten Seelen sitzt, den Weg zu finden zum Lichte? Muß es denn auf dem Wege des äußeren Zwanges sein? Muß es denn auf dem Wege geschehen, daß erst alles zusammenbricht, damit die Men­schen anfangen zu denken? Soll man nicht diese Frage doch jeden Tag, jeden Tag aufs neue aufwerfen? Nicht verlange ich, daß der einzelne dies oder jenes tut, denn ich weiß sehr gut, wie wenig man in der Gegenwart tun kann. Aber was notwendig ist, ist Einsicht zu haben, nicht immer dieses falsche Urteil und dieses Nichtbemühen zu haben, in die Dinge hineinzuschauen, wie sie ihrer Wirklichkeit nach sind.

Einen merkwürdigen Eindruck hat mir eine Bemerkung gemacht, die ich heute morgen lesen konnte. Ich las in der «Frankfurter Zei­tung», also in einer deutschen Zeitung, die Betrachtung eines Mannes, den ich vor achtzehn, zwanzig Jahren gut gekannt habe, mit dem ich viele einzelne Dinge besprochen habe. Ich las in der «Frankfurter Zeitung» ein Feuilleton von ihm. Ich habe ihn seit sechzehn, achtzehn Jahren nicht mehr gesehen. Er ist Dichter und Dramatiker, seine Stücke sind aufgeführt worden. Paul Ernst heißt er; ich habe ihn seinerzeit einmal sehr gut kennengelernt. Heute las ich einen kleinen Artikel von ihm über den sittlichen Mut, darinnen einen Satz - ja, es ist ja sehr schön, wenn einer heute einen solchen Satz schreibt, aber man muß immer wieder und wiederum fragen: Muß denn erst so etwas herein­brechen, wie es jetzt hereingebrochen ist, damit solch ein Satz möglich geworden ist? - Da schreibt ein Urdeutscher, ein sehr gebildeter Deut­scher: Man hat immer bei uns behauptet, man hasse die Deutschen. Ich möchte wissen, sagte er, wer in aller Welt den deutschen Geist wirklich

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gehaßt hat? Ja doch, da erinnert er sich: In den letzten Jahren haben den deutschen Geist die Deutschen am allermeisten gehaßt!

Und vor allen Dingen, ein wirklicher innerer Haß ist schon vor­handen in bezug auf den Goetheanismus. Aber das sage ich nicht, um nach irgendeiner Seite hin eine Kritik zu üben, und schon gar nicht, um nach irgendeiner Seite hin - das sind Sie alle von mir nicht ge­wöhnt - etwas Schönes zu sagen, um etwa dem Wilson Konzessionen zu machen. Aber es macht einen wehmütigen Eindruck, wenn die Dinge nur unter Zwang kommen, während sie wahrhaft heilsam doch nur sein können, wenn sie aus dem freien Menschen heraus kommen. Denn es ist auch heute schon notwendig, daß aus den freien Gedanken heraus diejenigen Dinge kommen, die Gegenstand der Freiheit sein mussen. Immer muß ich es aber betonen: Nicht um Pessimismus zu erregen, sage ich diese Dinge, sondern um zu Ihren Seelen, zu Ihren Herzen zu sprechen, damit Sie wiederum zu anderen Seelen, zu anderen Herzen sprechen und versuchen, Einsicht zu erwecken, damit Urteil entsteht. Denn dasjenige, was am meisten ins Schlimme gekommen ist in der letzten Zeit, das ist ja das Urteil, das sich so trüben läßt über die ganze Welt hin unter der Anbetung von Autorität. Wie ist die Welt heute froh - man möchte sagen, über den ganzen Erdkreis hin -, daß sie einen Schulmeister als einen Götzen anbeten kann; wie ist die Welt darüber froh, daß sie nicht selbst zu denken braucht! Das ist keine nationale Tugend oder Untugend, das ist etwas, was jetzt in der Welt liegt und was bekämpft werden muß dadurch, daß der Mensch ver­sucht, sich die Unterlage zu einem Urteil zu geben. Aber man kommt nicht zu einem Urteil, wenn man sich bloß - verzeihen Sie den harten Ausdruck - auf seine Hinterbeine stellt und unter allen Umständen Urteile, Urteile fällt. Man braucht den Willen, einzudringen in die Wirklichkeit. Diejenigen Menschen, die heute oft die führenden Men­schen sind, ich habe in anderem Zusammenhange hier gesagt: Es ist die Auslese der Schlechtesten, durch die besonderen Verhältnisse der letz­ten Zeit herbeigeführt. - Dies muß man durchschauen. Es kommt gar nicht darauf an, sich an Schlagworte: Demokratie, Sozialismus und so weiter zu klammern, sondern darauf kommt es an, daß man die Wirk­lichkeiten hinter den Worten schaut.

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Das ist es, was einem schon einmal über die Seele und auch über die Lippen kommt in der Gegenwart, wo man so deutlich sieht, daß die wenigen, die sich heute aufgerüttelt fühlen, es auch nur unter Zwang tun, durch den Zwang es dazu kommen lassen. Das ist es, was einem sagt: Auf das Urteil, auf die Einsicht kommt es an. - Einsicht bekommt man aber in die Völkerentwickelung nur, wenn man diese tieferen Zusammenhänge ins Auge faßt. Da muß man aber den Mut haben, sich zu sagen: All diejenige Wissenschaft über Völker und all dasjenige, was mitspricht in der sozialen Organisation, ohne diese Dinge zu wissen, ist inkompetent. - Diesen Mut muß man aufbringen, und über diesen Mut, den man haben muß, habe ich eben auch einmal gern sprechen wollen. Ich habe heute lange genug gesprochen, aber es schien mir wich­tig, einmal tiefere europäische Impulse in unmittelbarem Zusammen-hange mit Impulsen der Gegenwart zu zeigen.

Sie wissen ja, daß man jetzt sozusagen von heute auf morgen nicht weiß, wie lange man noch an einem Orte ist, daß man heute zwangs-mäßig hierhin oder dorthin geschoben werden kann. Doch wie die Sachen auch kommen werden - vielleicht sprechen wir noch sehr lange hier miteinander, vielleicht kurze Zeit -, aber jedenfalls, wenn ich auch noch so bald abreisen sollte, der letzte Vortrag, den ich hier halte, ist der heutige nicht. Ich werde es einrichten, daß ich von diesem Orte hier noch zu Ihnen sprechen kann.

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HINWEISE

Hinweise auf Bände der Gesamtausgabe, bei denen kein Erscheinungsjahr

angegeben ist, betreffen vorgesehene Bände.

zu Seite

9 in der vorigen Woche: über «Das Geschichtsleben der Menschheit>, Dornadi

1941.

in meinem öffentlichen Vortrage in Zürich am 17. Oktober 1918, «Die Ge-schichte der Neuzeit im Lichte der geisteswissenschaftlichen Forschung>. In der Gesamtausgabe im Bande «Anthroposophische und akademische Wissen­schaften> als achter der in Zürich im Herbst 1917 und 1918 gehaltenen öffent­lichen Vorträge.

14 der Papst nach Avignon versetzt wird: Philipp der Schöne brachte es dahin, daß die Kardinäle einen französischen Bischof als Clemens V. zum Papste wählten und daß dieser 1309 seinen Sitz zu Avignon aufschlug.

der Tempelherren-Orden: gegründet 1119 in Akkon. Philipp IV., genannt der

Schöne, 1285-1314, ließ die Templer im Oktober 1307 verhaften und Papst

Clemens V. hob 1312 den Orden auf. Der letzte Großmeister, Jakob von

Molay, wurde 1314 in Paris verbrannt.

17 Henry Thomas Buckle, 1 822-62, englischer Kulturhistoriker. «History of civilisation in England», 1857-61.

Friedrich Ratzel, 1844-1904, Geograph und Völkerkundler. «Anthropogeogra­phie> 1882-91, «Völkerkunde> 1886-88.

18 die Jun gfrau von Orléans: Jeanne d'Arc, 1412-31.

19 Ernst von Wildenbruch, 1845-1909, Verfasser nationalhistorischer Dramen.

20 Ottokar II. Przemysl, 1253-78 König von Böhmen, erwarb Österreich und

Steiermark und erbte Kärnten und Krain. Er fiel auf dem Marchfelde im

Kampf gegen König Rudolf von Habsburg, der ihn dreimal vergebens zur

Huldigung aufgefordert hatte.

die Habsburgische Macht: die Grafen von Habsburg, seit Rudolf 1., 1273 bis 1308, deutsche Könige. Unter Karl V., Kaiser von 1519-56, Höhepunkt der Habsburgischen Macht durch das österreichisch-spanische Weltreich.

21 aus langdauernden Bürgerkriegen: der Kampf der Roten Rose, Haus Lan­caster, und der Weißen Rose, Haus York.

24 Johann Hus, 1369-1415, lernte die Schriften Wiclifs kennen und predigte gegen die Mißstände der Kirche. Die Heilige Schrift erschien ihm als einzige Quelle des Glaubens. Von Papst Johannes XXIII. 1412 mit dem großen Bann

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belegt. In der 15. allgemeinen Sitzung des Konzils von Konstanz, zu dem er sich mit dem Geleitsbriefe des Königs Sigmund eingefunden hatte, von den Vätern zum Feuertode verurteilt, erlitt er auf dem Scheiterhaufen den qual­vollen Flammentod.

24 Girolamo Savonarola, 1452-98, italienischer Reformator, Prior des Domini­kanerklosters San Marco zu Florenz, griff das Papsttum und den heidnisch gearteten Humanismus an. Von Papst Alexander VI. in den Bann getan und dann als Kirchenfeind und Ketzer zum Tode verurteilt, wurde er stranguliert und dann verbrannt.

Martin Luther, 1483-1546, deutscher Reformator, von Leo X. in den Bann getan.

Johannes Calvin, 1509-64, Reformator in Genf. Der Calvinismus breitete sich vor allem in Frankreich, den Niederlanden und den angelsächsischen Ländern aus.

26 Karl der Kühne, Herzog von Burgund 1467-77, bei Grandson und Murten

1476 von den Schweizern geschlagen, fiel bei Nancy.

27 John Wielif, um 1325-84, englischer Reformator, Professor der Universität Ozford, griff das ganze System der mittelalterlichen Kirche scharf an, über­setzte die Bibel ins Englische.

Philipp II., 1527-98, Sohn Karls V., seit 1556 König. Unter ihm brach 1566 der Aufstand der Niederlande aus. 1588 die Vernichtung der Armada, die England niederwerfen sollte, das Philipp vom Papste als Lehen der Kirche zugesprochen erhalten hatte.

28 Martinitz und Slawata, zwei kaiserliche Statthalter zu Prag; Fabricius der Geheimschreiber.

31 Napoleon I. Bonaparte, 1769-1821, seit 1804 Kaiser. Napoleon hatte im Hafen von Boulogne eine riesige Transportflotte angesammelt, die eine Armee von 200 000 Mann nach England bringen sollte. Diese «große Armee» war 1805 auf dem Festland im dritten Koalitionskrieg gegen Rußland und Öster­reich siegreich, die vereinigte französisch-spanische Flotte aber wurde beim Vorgebirge Trafalgar von Nelson vernichtend geschlagen.

Kampf um die Herrschaft in Amerika: Im Krieg von 1754-63 verlor Frank­reich an England und Spanien seine Besitzungen in Amerika. Im Kriege von 1773-83 machten sich die Vereinigten Staaten von England unabhängig.

34 Jakob 1., 1566-1625, Sohn der Maria Stuart, König von Schottland, ab 1603 auch König von England.

37 Stephan I., der Heilige, 997-1038 erster König von Ungarn. Papst Silvester II. verlieh ihm die Königskrone, die «Stephanskrone», und den Titel «apostoli­scher König».

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39 Ludwig XIV., 1638-1715, 1643 König, ab 1661 Selbstregent, «le roi soleil». die Französische Revolution: 1789.

hei einer anderen Gelegenheit: im Vortrag vom 2. Oktober 1916, in «Goethe und die Krisis des neunzehnten Jahrhunderts», Dornach 1933. In der Ge­samtausgabe im Bande «Innere Entwickelungsimpulse der Menschheit. Der Sinn des geschichtlichen Werdens».

41 ich habe es schon einmal aufgezählt: im Vortrag vom 11. Januar 1918, an­knüpfend an ein Wort Friedrich Schlegels, in «Alte Mythen und ihre Bedeu­tung», Dornach 1937. In der Gesamtausgabe im Bande «Mysterienwahr­heiten und Weihnachtsimpulse - Alte Mythen und ihre Bedeutung».

42 Novalis' Seele in früheren Verkörperungen: von Rudolf Steiner oft dargestellt, zum Beispiel im Vortrag vom 2. Mai 1912 in «Der irdische und der kosmische Mensch», Dornach 1932.

44 von einer anderen Seite her charakterisiert: in den Vorträgen vom 25. Sep­tember und 2. Oktober 1916, in «Innere Entwickelungsimpulse der Menschheit. Der Sinn des geschichtlichen Werdens», Dornach 1933. Siehe auch Hinweis zu Seite 39.

46 Entwickelung in sieben Zeiträumen: siehe «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit», Abschnitt III. Gesamtausgabe Dornach 1960.

47 Johannes Kepler, 1571-1630, einer der Begründer der neuen Astronomie.

Ich bringe herbei: wörtlich, in der Übertragung durch Max Caspar in «Johan­nes Kepler», Stuttgart: «Ich habe die goldenen Gefäße der Ägypter geraubt, um meinem Gott daraus eine heilige Hülle einzurichten, weitab von den Grenzen Agyptens.»

49 Richard Cobden, 1804-65, Vorkämpfer des Manchestertums, Führer der Gegner des Getreidezolls.

John Bright, 1811-89, englischer Staatsmann, nach 1843 Haupt der Man­chesterbewegung, des extremen wirtschaftlichen Liberalismus mit der Forderung nach freiem Handel und freier Konkurrenz, alle Eingriffe des Staates in die Wirtschaft verwerfend.

50 Ferdinand Lassalle, 1825-64, deutscher Gelehrter, Sozialist und Agitator, Be­gründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins.

Friedrich Engels, 1820-95, Mitverfasser des Kommunistischen Manifests.

Karl Marx, 1818-83, Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus. Haupt­werk «Das Kapital».

51 Gotthold Ephraim Lessing, 1729-81.

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53 Friedrich Schiller, 1756-1805.

57 das Programm dieses Proletariats: das Komsnunistische Manifest von 1848, verfaßt von Karl Marx und Friedrich Engels.

65 Jean Jacques Rousseau, 1712-78.

71 sacro egoismo: der Ausdruck stammt von Antonio Salandra, italienischer Ministerpräsident 1914-16.

Giuseppe Garibaldi, 1807-82, kämpfte seit 1856 für die Einigung Italiens. Ich habe Ihnen gesagt: im ersten Vortrag, siehe Seite 21 f.

Konstantin Petrowitsch Pohjedonoszew, geb. 1821, Orthodoxer, zentralisti­scher Alt-Moskowite und dem Panslawismus zugeneigt, Erzieher der Groß-fürsten, hatte auf Zar Alexander III., der 1881-94 regierte, maßgebenden Einfluß. Von 1880-1905 war er Oberprokureur (Leiter) der heiligen Synode.

73 Friedrich Jakob Soret, 1795-1865, Übersetzer der botanischen Schriften Goe­thes ins Französische. Erzieher des Erbprinzen Karl Alexander in Weimar. Das Gespräch mit Goethe fand am 2. August 1830 statt. Siehe Flodoard Frhr. von Biedermann, «Goethes Gespräche».

Baron Georges Cuvier, 1769-1832, Zoologe und Anatom.

Etienne Geoffroy Saint-Hilaire, 1772-1844, Zoologe. Er schrieb u. a. «Sur le principe de l'unité de composition organique», 1828.

76 Bibel und Weisheit: u. a. in Hamburg am 5. Dezember 1908; Dornach 1943.

85 Friedensverhandlungen: Friedensschluß am 3. März 1918.

86 Menschewiki: rechter Flügel der Sozialdemokraten in Rußland, im Gegensatz zu der Mehrheitspartei der Bolschewiken, den Anhängern des extremen Kom­munismus, die 1917 an die Macht gelangte.

90 der Theologe und das Militär gehören zusammen: Siehe Vortrag vom 6. Sep­tember 1918, in «Das Geschichtsleben der Menschheit» 1, Dornach 1941.

94 beim Erscheinen des Erzengels Michael als Zeitgeist: siehe die Vorträge vom

Oktober 1917 «Der Sturz der Geister der Finsternis», Dornach 1935. In der

Gesamtausgabe «Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt - Der

Sturz der Geister der Finsternis».

daß jene Mächte: die Geister der Finsternis. Siehe den vorigen Hinweis.

97 Oskar Hertwig, 1849-1922. «Das Werden der Organismen>, Jena 1916.

103 wie ich es Ihnen dargestellt habe: im Vortrag vom 11. Oktober 1918, in «Das Geschichtsleben der Menschheit» III, Dornach 1941, und vom 26. Dezember 1917, in «Mysterienwahrheiten und Weihnachtsimpulse», Dornach 1935.

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104 von dem Mysterium des Bösen: siehe die Vorträge vom 3. und 4. November

1917 und 28. September 1918, in «Das Faust-Problem. Die romantische und die klassische Walpurgisnacht», Gesamtausgabe 1956; und die Vorträge vom 11. bis 13. Oktober 1918, in «Das Geschichtsleben der Menschheit» III, Dor-nach 1941; ferner den Vortrag vom 24. September 1916, in «Innere Entwicke-lungsimpulse der Menschheit. Der Sinn des geschichtlichen Werdens», Dornach

1933.

105 vor jetzt fast zwei Jahren: siehe die Vorträge vom 15. und 30. Oktober 1916

in «Goethe und die Krisis des neunzehnten Jahrhunderts», Dornach 1933;

und die Vorträge vom 18., 19. und 26. November 1916, in «Das Karma des

Berufes in Anknüpfung an Goethes Leben», Dornach 1933.

115 in den Vorträgen dieses Herbstes: siehe die Vorträge vom 31. August bis

2. September 1918, in «Die Wissenschaft vom Werden des Menschen. Das Walten der kosmischen Vernunft im Sprachentstehen», Dornach 1940.

bei verschiedenen Anlässen: zum Beispiel im öffentlichen Vortrag vom 14. März 1918, Berlin, «Das geschichtliche Leben der Menschheit und seine Rätsel», und im Vortrag vom 30. März 1918, in «Anthroposophische Lebensgaben», Zyklus 49, Berlin 1922, in der Gesamtausgabe im Bande «Erdensterben und Weltenleben», und in dem im Hinweis zu Seite 9 genannten Vortrag.

Herman Grimm und Woodrow Wilson: siehe den Vortrag vom 17. August 1918, in «Die Wissenschaft vom Werden des Menschen» 1, Dornach 1940.

Herman Grimm, 1828-1901, Kunsthistoriker.

Woodrow Wilson, 1856-1924, der von 1912-20 Präsident der USA war.

121 eine allgemeine Geschichtsbetrachtung: Vortrag in Zürich vom 17. Oktober

1918; siehe den entsprechenden Hinweis zu Seite 9.

123 vor zwei Jahren: siehe den Hinweis zu Seite 105.

Ernst Horneffer, geb. 1871, Nachfolger von Dr. Fritz Kögel als Herausgeber im Nietzsche-Archiv.

126 meine Dissertation: «Die Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichtes Wissenschaftslehre. Prolegomena zur Verständigung des philosophierenden Bewußtseins mit sich selbst.» Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock vorgelegt. 1891.

Sophie Luise, Großherzogin von Sachsen-Weimar, 1824-97, Gemahlin des

Großherzogs Karl Alexander, 1818-1901. Durch das Testament des Enkels

Goethes, Walter von Goethe, gestorben 1885, war die Großherzogin zur Erbin

des Goetheschen Familienarchivs bestimmt worden.

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127 Goetheanismus: Rudolf Steiner brauchte diesen Ausdruck schon 1884 in dem Aufsatz «Ein freier Blick in die Gegenwart», in «Methodische Grundlagen der Anthroposophie» 1884-1901, Gesamtausgabe Dornach 1961.

Franz Liszt, 1811-86, wirkte von 1848-61 als Hofkapellmeister in Weimar. Durch Liszt wurde Weimar zu einem Zentrum der musikalischen Welt.

Graf Leopold von Kalckreuth, 1855-1928, Landschafts- und Bildnismaler. Er war von 1885-90 Professor an der Kunstschule in Weimar.

Wilhelm Scherer, 1841-86, Germanist, Literarhistoriker. Er suchte in der literarhistorischen Philologie die damaligen naturwissenschaftlichen Methoden nachzubilden. Siehe Rudolf Steiner, «Mein Lebensgang», Kapitel XIV.

128 von jenem amerikanischen Professor: Thomas Calvin, Professor of Germanic Languages and Literatures an der Universität von Michigan.

Heinrich von Treitschke, 1834-96, Historiker.

Richard Strauß, 1864-1949. Er war von 1889-95 Hofkapellmeister in Weimar. In diese Zeit fällt die Komposition von Don Juan 1889, Macbeth, Till Eulen-spiegel 1890, Tod und Verklärung 1891.

129 Woldemar Freiherr von Biedermann, 1817-1903. Er gab von 1889-96 «Goe­thes Gespräche» in zehn Bänden heraus.

Großherzog Karl Alexander von Sachsen-Weimar, 1818-1901.

Georg Kreuzwendedich Freiherr von Rheinbaben, 1855-1921, 1901-09 preu­ßischer Finanzminister, 1913-21 Präsident der Goethe-Gesellschaft.

132 «Erst die hierdurch gewonnenen Gesetze»: aus dem IX. Kapitel, «Die Idee der Freiheit».

«Leben in der Liebe zum Handeln>: ebenda.

Wir müssen über Kant hinaus: wörtlich: «Die Philosophie der Gegenwart leidet an einem ungesunden Kant-Glauben. Die vorliegende Schrift soll ein Beitrag zu seiner Überwindung sein.»

mein Aufsatz: «Die Geisteswissenschaft als Anthroposophie und die zeitge­nössische Erkenntnistheorie. Persönlich-Unpersönliches.» Der Aufsatz erschien im Juli 1917 in der Vierteljahresschrift «Das Reich», in München heraus­gegeben von Alexander Freiherr von Bernus. Rudolf Steiner hatte seine «Philosophie der Freiheit» 1894 Eduard von Hartmann zugesandt und von ihm mit eingetragenen Bemerkungen und Einwendungen zurückerhalten. Rudolf Steiner bespricht sie in seinem Aufsatz.

133 Eduard von Hartmann, 1842-1906. «Philosophie des Unbewußten» 1869.

der jetzt auf Seite 176 steht: in der 12. Auflage Gesamtausgabe Dornach 1962 auf Seite 170.

238

134 Friedrich Nietzsche, 1844-1900, seit 1889 krank.

Harry Graf Kessier, 1868-1937.

Elisabeth Förster-Nietzsche, 1846-1935.

Kurt Breysig, 1866-1940, Geschichtsphilosoph.

135 Benjamin R. Tucker, gab von 1881 an in Amerika eine Zeitschrift «Liberty. The Pioneer Organ of Anarchism» heraus im Sinne eines individualistischen Anarchismus.

John Henry Mackay, 1864-1933, mit Rudolf Steiner befreundet, bedeutender Kenner und Herausgeber Max Stirners. Er vertrat, im Gegensatz zum kom­munistischen Anarchismus, einen «individualistischen Anarchismus>. Sein Roman «Die Anarchisten» 1891 ist im Sinne dieser Lebensauffassung geschrieben. Rudolf Steiner erwähnt Tucker und Mackay in «Der Individualismus in der Philosophie», in «Methodische Grundlagen der Anthroposophie>, Gesamt­ausgabe 1961, und Mackay ausführlich in «Gesammelte Aufsätze zur Kultur­geschichte 1887-1901» und «Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1886-1902», Gesamtausgabe.

«Das Magazin für Literatur.: 1832 begründet von Joseph Lehmann. Heraus­gegeben von Otto Neumann-Hofer. Vom i. Juli 1897 bis 6. Oktober 1900 war Rudolf Steiner Herausgeber und Redakteur. Siehe «Mein Lebensgang», Kapitel XXIV.

136 Otto Neumann-Hofer, 1857-1941, Schriftsteller, 1891-97 Herausgeber des «Magazin für Literatur», 1898-1904 Direktor des Lessing-Theaters in Berlin.

137 Eitel Eigenlob stinkt: wörtlich: «Man sagt: . Das mag sein; was aber fremder und ungerechter Tadel für einen Geruch habe, dafür hat das Publikum keine Nase.» Goethe, «Sprüche in Prosa».

der Dreyfus-Prozeß: siehe dazu Rudolf Steiner, «Gesammelte Aufsätze zur Kulturgeschichte 1887-1901».

Alfred Dreyfus, 1859-1935, jüdischer Offizier im französischen Generalstab. 1894 wegen angeblichen Landesverrats unschuldig verurteilt, 1906 frei­gesprochen.

ich hatte im «Magazin»: in der Nummer vom 11. Dezember 1897, «Die In­stinkte der Franzosen», in «Gesammelte Aufsätze zur Kulturgeschichte 1887 bis 1901», Gesamtausgabe.

sondern ich war auch eingetreten: in der Nummer vom 19. Februar 1898, «Emile Zola an die Jugend», und in den weiteren Aufsätzen «Zolas Schwur und die Wahrheit über Dreyfus», «Literatenklugheit und Teufelsinsel», «Drey­fus-Briefe», in «Gesammelte Aufsätze zur Kulturgeschichte 1887-1901», Ge­samtausgabe.

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138 Wilhelm Bölsche, 1861-1939, Verfasser zahlreicher populär-naturwissenschaft­licher Schriften wie «Das Liebesleben in der Natur», «Vom Bazillus zum Affenmenschen», und so weiter.

Otto Erich Hartleben, 1864-1905, Schriftsteller. Siehe «Mein Lebensgang», Kapitel XXIV.

Artikel in der «Vossischen Zeitung»: von Walter Harlan, «Der letzte Stadt­bahnzug. Eine Erinnerung an Otto Erich Hartleben».

Nietzsche-Affäre: der Konflikt mit Frau Elisabeth Förster-Nietzsche. Siehe

Rudolf Steiner, «Mein Lebensgang», Kapitel XVIII, und die Aufsätze Rudolf

Steiners im «Magazin für Literatur», 1900, sowie in «Die Gesellschaft», 1900,

Heft 4, und in «Die Zukunft», 1900, Nr.33, in «Gesammelte Aufsätze zur

Kulturgeschichte 1887-1901», Gesamtausgabe.

139 Max Martersteig, 1853-1926, Theaterleiter und Schauspieler, Verfasser von «Das deutsche Theater im 19. Jahrhundert, eine kulturgeschichtliche Darstel­lung», Leipzig 1904.

Serenissimus: Großherzog Karl Alexander von Sachsen-Weimar, 1818-1901. Max Halbe, 1865-1944, Danziger Dichter. Drama «Jugend», u. a.

140 Max Halbe, «Der Eroberer», Tragödie, Berlin 1899. Die Besprechung Rudolf Steiners in «Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889-1900», Gesamtaus­gabe Dornach 1960.

141 Berliner Arbeiterbildungsschule: siehe «Mein Lebensgang», Kapitel XXVIII, und Johanna MückelAlwin Alfred Rudolph, «Erinnerungen an Rudolf Stei­ner und seine Wirksamkeit an der Arbeiter-Bildungsschule in Berlin 1899 bis 1904>, Basel 1955.

142 Siegfried Nacht, Pseudonym für Arnold Roller. Eine Schrift von ihm, «Der Generalstreik und die soziale Revolution» erschien 1902 in deutscher Sprache in London.

Wissenschaft von der Freiheit: der erste Teil der «Philosophie der Freiheit» ist überschrieben «Wissenschaft der Freiheit», der zweite «Die Wirklichkeit der Freiheit».

143 die Fortsetzung des Beschlusses: das achte ökumenische Konzil von Konstan­tinopel 869 dekretierte unter Papst Hadrian II. gegen Photius, daß der Mensch eine vernünftige und erkennende Seele habe, unam animam rationabilem et intellectualem, so daß von einem besonderen Geistprinzip im Menschen nicht mehr gesprochen werden durfte. Das Geistige wurde fortan nur mehr als Eigenschaft der Seele angesehen.

wie ich gezeigt habe: im Vortrag vom 25. Oktober 1918, siehe Seite 87.

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144 in der Berliner «Theosophischen Gesellschaft»: siehe «Mein Lebtusgang», Kapitel XXX. Der erste Vortrag, am 22. September 1900, war über Nietzsche, der zweite> am 29. September 1900, über «Goethes geheime Offenbarung». Die darauffolgenden 27 Vorträge im Winter 1900/1901 faßte Rudolf Steiner zum Buche «Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens» zu­sammen. Über alle diese Vorgänge spricht Rudolf Steiner ausführlich im Vor­trag vom 11. Oktober 1915, in «Die okkulte Bewegung im 19. Jahrhundert und ihre Beziehung zur Weltkultur», Dornach 1939, und in «Die Geschichte und die Bedingungen der anthroposophischen Bewegung im Verhältnis zur Anthroposophischen Gesellschaft», acht Vorträge, 10.-17. Juni 1923, Gesamt­ausgabe Dornach 1959.

Bertram Keightley, 1860-1949. Er war 1901 Generalsekretär der Indischen Sektion der «Theosophischen Gesellschaft» in Benares, zeitweilig auch General­sekretär der Europäischen Sektion mit Sitz in London.

G. R. S. Mead, 1863-1933, Verfasser von «Fragmente eines verschollenen

Glaubens. Kurzgefaßte Skizzen über die Gnostiker, besonders während der

ersten zwei Jahrhunderte», ins Deutsche übersetzt von A. v. Ulrich, Berlin

1902. Mead ist später aus der «Theosophischen Gesellschaft» ausgetreten im

Zusammenhang mit dem Ausschluß der Deutschen Sektion 1913.

145 Ich hielt eine ganz kurze Rede: am S. Juli 1902, über die Aufgaben der Lan­dessektionen, besonders der Deutschen Sektion.

die Entente cordiale: zwischen England und Frankreich, vertraglich festgelegt

1904.

Annie Besant, 1847-1933, wurde nach dem Tode des Präsident-Gründers H. S. Oleott 1907 Präsidentin der «Theosophischen Gesellschaft».

146 C. Jinarajadasa, geboren 1875, wurde 1953 Präsident der «Theosophischen Gesellschaft».

149 Rosa Luxemburg, geb. 1870, 1919 erschossen, sozialistische Politikerin, mit Karl Liebknecht 1919 Führerin des Spartakistenaufstandes.

Theodor Hertzka, 1845-1924, Nationalökonom, war Schriftleiter der «Neuen Freien Presse» in Wien, schrieb «Freiland! ein soziales Zukunftsbild», 1890.

Michael Flürscheim> 1844-1912, Bodenreformer.

151 in öffentlichen Vorträgen: erstmals in Basel am 18. Oktober 1917: «Ich möchte diese Weltanschauung (die Anthroposophie) ... nach den Quellen, aus denen sse für mich selber stammt, am liebsten Goetheanismus nennen, 50 wie ich den Bau in Dornach draußen, der dieser Weltanschauung gewidmet ist, am lieb­sten Goetheanum nennen würde.»

154 Robert Hamerling, 1830-89, österreichischer Schriftsteller.

241

158 Henri, Herzog von Bordeaux, Graf von Chambord, 1820-1883, letzter männ­licher Sproß des Hauses Bourbon und Erbe der Ansprüche desselben auf den Thron von Frankreich; von Jesuiten erzogen. Nach Napoleons III. Sturz er­ließ er ein Manifest, worin er erklärte, daß Frankreich nur unter dem weißen Lilienbanner gedeihen könne. Er starb zu Frohsdorf.

Liguorianer: Der Stifter der Ordenskongregation der Liguorianer oder Re­demptoristen ist Alfonso Maria de Liguori, 1696-1787, der diese «Genossen­schaft des Heiligsten Erlösers - del S. Redentore - zum Dienste der ärmsten und verlassensten Seelen» 1732 stiftete als Verein von Missionspriestern, be­sonders zur Belehrung des unwissenden Landvolkes.

159 Goetheanismus: siehe den Hinweis zu Seite 127.

164 Johann Gottfried von Herder, 1744-1803.

Karl von Linné, 1707-78, schwedischer Naturforscher.

Baruch Spinoza, 1632-77.

165 William Shakespeare, 1564-1616.

nach Goethes eigenem Bekenntnis: in «Geschichte meines botanischen Stu­diums», 1817, 1831: «...vorläufig aber will ich bekennen, daß nach Shake­speare und Spinoza auf mich die größte Wirkung von Linné ausgegangen, und zwar gerade durch den Widerstreit, zu welchem er mich aufforderte.»

166 Gustav Stresemann, 1878-1929, Politiker, gründete 1918 die Deutsche Volks-partei.

167 Karl Julius Schröer, 1825-1900, Dichter, Mundartforscher und Literarhisto­riker, geboren in Preßburg. 1849-52 Professor an der Universität zu Pest, 1852-61 Professor an der Oberrealschule in Preßburg, darauf Direktor der Wiener Evangelischen Schulen, von 1867-95 Professor an der Technischen Hochschule in Wien. «Gedichte», «Geschichte der deutschen Literatur für Schule und Haus» 1853, «Deutsche Weihnachtsspiele aus Ungarn» 1858, «Die deutsche Dichtung des 19. Jahrhunderts» 1875, «Goethes äußere Erscheinung» 1877, «Goethes Faust», mit Einleitung und Erklärung, 2 Bände, 2. Auflage

1886 f., «Goethe und die Liebe» 1884, «Goethes Dramen», 6Bände, inKürsch­ners «Deutscher National-Literatur>, «Darstellung der deutschen Mundarten des ungrischen Berglandes» 1864, «Wörterbuch der Mundart von Gottschee» 1870, «Die Deutschen in Österreich und ihre Bedeutung» 1879, «Unterrichts­fragen» 1873, u. a. m. Rudolf Steiner hat ihm eine ausführliche Würdigung zuteil werden lassen in «Vom Menschenrätsel» im Kapitel «Bilder aus dem Gedankenleben Österreichs».

das schöne Buch von Herman Grimm: «Goethe», 1876. Es enthält die 25 Vor­lesungen, die Herman Grimm über Goethe und seine Zeit an der Universität Berlin 1874 und 1875 gehalten hat.

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169 um sein eigenes Wort zu gebrauchen: im Buch über Winckelmann.

172 den Vortrag in Basel: am 31. Oktober 1918, «Die Rechtfertigung der über-sinnlichen Erkenntnis durch die Naturwissenschaft».

einen gewesenen Finanzminister: siehe den Hinweis zu Seite 129. 173 Rudolf Eucken, 1846-1929, neuidealistischer Philosoph.

Henri Bergson, 1859-1941, französischer Philosoph. 178 mit dem Weltenschulmeister: Woodrow Wilson.

184 Nikolaus I., Papst von 858-867, sprach 863 über Photius, der seit 857 Pa­trsarch von Konstantinopel war, Bann und Absetzung aus und veranlaßte dadurch die Trennung der griechisch-morgenländischen von der römisch-abendländischen Kirche.

185 Wladimir Solowjew, 1853-1900, russischer Philosoph.

187 Johann Hus: siehe Hinweise zu Seite 24.

John Wielif: siehe Hinweise zu Seite 27.

Martin Luther: siehe Hinweis zu Seite 24.

Ulrich Zwingli, 1484-1531, Schweizer Reformator, seit 1519 in Zürich, Abend­mahlsstreit mit Luther in Marburg 1529; fiel bei Kappel.

Johannes Calvin: siehe Hinweis xu Seite 24.

188 die Wiedertäufer: religiöse Bewegung in der Reformationszeit mit Erwach­senentaufe.

Kaspar von Schwenckfeld, 1489-1561, evangelischer Mystiker und Sektierer. Sebastian Franck, 1499-1543, Mystiker; «Unsichtbare Kirche des Geistes».

189 in Karlsruhe: in den elf Vorträgen «Von Jesus zu Christus» vom 4.-14. Ok­tober 1911, Gesamtausgabe Dornach 1958.

Ignatius von Loyola, um 1491-1556, eigentlich Iòigo López de Reealde, stif­tete 1543 die Gesellschaft Jesu, deren erster General er war.

190 unter den geistlichen Übungen: siehe das «Exerzitienbuch des hl. Ingatius von Loyola», erklärt und in Betrachtungen vorgelegt von Moritz Meschler S. J. Herausgegeben von Walter Sierp S. J. Erster Teil, Text und Erklärung des Exerzitienbuches.

195 bei Solowjew: siehe die Übersetzungen von Solowjews Werken von Harry Köhler, Stuttgart 1922.

196 Alexander Baum gartner S.J., «Goethe, sein Leben und seine Werke», Freiburg i. Br. 1885-86.

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196 George Henry Lewes, 1817-78, «Life of Goethe», London 1855, deutsch von Frese, 15. Auflage von Geiger, Stuttgart 1886.

199 in anderem Zusammenhange: im Vortrag vom 27. Dezember 1914, «Weib­nachtsfeier. Der kosmische Christus und die Geburt der Christus-Erkenntnis in uns. Goethes , Dornach 1935. Wird in der Ge­samtausgabe erscheinen in «Okkultes Lesen und Hören».

202 Arjus, Presbyter aus Alexandria, starb 336 zu Konstantinopel. Am längsten erhielt sich der Arianismus unter den Germanen, denen er durch Ulfilas, den Apostel der Westgoten, gebracht worden war.

Athanasius, um 300-373, der «Vater der Orthodoxie», Kirchenvater zu Alexandria.

Ulfilas, Wulfila, «Wölflein», 310-383, der Bischof der Goten.

203 Chlodwig (Ludwig) I., 466-511, begründete 486 das fränkische Reich durch seinen Sieg bei Soissons über Syagrius, trat 496 zum Christentum über und besiegte die Alemannen, 507 die Westgoten.

Karl der Große, 742-814, seit 768 König der Franken, unterwarf die Sachsen, Langobarden und Bayern, erneuerte 800 das Römische Kaisertum.

206 Heliand> altsächsische Form für Heiland. Diese Evangelien-Harmonie ist in

alliterierenden Versen abgefaßt, zwischen 825 und 835, vielleicht auf Geheiß

Ludwigs des Frommen. Siehe Rudolf Steiner, «Der Baldur-Mythos und das

Karfreitag-Mysterium», zwei Vorträge vom 2. und 3. April 1915, Dornach

1930. Die Vorträge werden in der Gesamtausgabe in «Geisteswissenschaft als

Welt-Pfingstgabe» enthalten sein.

211 Edward Herbert, Lord Herbert of Cherbury, 1581-1648, der Begründer des englischen Deismus. Er schrieb u. a. «De veritate, prout distinguitur a reve­latione, a verisimili, a possibili et a falso». Ohne einer übernatürlichen Offen­barung zu bedürfen - obgleich es daneben auch eine geoffenbarte Religion geben könne -, leitet er aus den allgemeinen Aussprüchen der Vernunft die natürliche Religion ab. Seine Nachfolger waren die englischen Deisten und Naturalisten: Charles Blount, Clarke, selbst Locke und Toland.

212 Thomas Hobbes, 1588-1679, englischer Philosoph und Publizist.

John Locke, 1632-1704, englischer Philosoph. Er verfaßte auch eine Abhand­lung über die Vernunftmäßigkeit des Christentums: «The reasonableness of Christianity», 1695.

Matthew Tindal, 1657-1733, englischer Deist. Er faßte die Heilige Schrift als Urkunde der natürlichen Religion auf, so daß ihm die Kirche eine Staats-einrichtung war. Seine Schrift «Christianity as old as the ereation or the gospel a republication of the religion of nature», London 1730, ist eine der Hauptschriften des Deismus.

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214 Adolf von Harnack, 1851-1930, evangelischer liberaler Kirchenhistoriker. «Wesen des Christentums», 1900.

219 Michael Alexander Bakunin, 1814-76, russischer Revolutionär. Infolge seiner radikalen anarchistischen Richtung überwarf er sich mit Engels und Marx. Er ist einer der Begründer des Nihilismus.

Karl Marx: siehe Hinweise zu Seite 50.

Ferdinand Lassalle: siehe Hinweise zu Seite 50.

225 Luther ist so recht ein Geist: siehe die Vorträge vom 11. und 18. September

1917 in «Das Karma des Materialismus», Zyklus 47, Berlin 1922, in der

Gesamtausgabe in «Menschliche und menschheitliche Entwickelungswahrheiten

- Das Karma des Materialismus».

227 der Altkatholizismus: Altkatholiken nennen sich diejenigen Katholiken in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die sich dem Dogma von der Un­fehlbarkeit (Infallibilität) des Papstes, das auf dern Vatikanischen Konzil am 18. Juli 1870 unter Pius IX. proklamiert worden war, nicht unterworfen haben. Begründet 1870 von Ignaz von Döllinger, katholischer Theologe und Historiker.

229 Paul Ernst, 1866-1933, neuklassizistischer Dichter.

230 einen Schulmeister: Woodrow Wilson, der 1918 als Friedensprogramm die Vierzehn Punkte aufstellte.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.