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Glauben: er selber kann abstrahieren und hat daher abstrakte Begriffe, sein Hund aber abstrahiert nicht und so weiter. Und dennoch ist es nicht so. Dieser Hund, der neben uns geht, lebt geradeso in den ab­strakten Begriffen wie wir. Ja, er lebt sogar intensiver darinnen als wir. Er braucht sie auch gar nicht zu erwerben, sondern er lebt vom Anfange an intensiv darinnen. Aber die äußere Anschauung hat er nicht so, die gibt ihm ein ganz anderes Bild. Sie brauchen nur auf­merksam zu sein auf gewisse Beobachtungen, die man im Leben machen kann. Allerdings, man nimmt die Dinge nicht immer ernst genug. Ich könnte Ihnen eine ganze Anzahl von Beispielen anführen, aus denen Ihnen hervorgehen würde, wie der Mensch rein instinktiv in dieser Richtung verkehrt denkt. Zum Beispiel ging ich einmal, es war in Zürich, glaube ich, von einem Vortrag, der in einem Zweig-abend gehalten worden war, auf die Straße. Da wartete ein Kutscher, und das Pferd wollte nicht recht gehen, machte Miene, ein bißchen zu scheuen. Da sagte der Kutscher: Das fürchtet sich vor seinem Schatten. - Er sah natürlich den Schatten des Pferdes, den die Laterne auf die Wand warf, und deshalb setzte er voraus, daß das Pferd ganz genau ebenso diesen Schatten sehe wie er. Er hatte natürlich keine Ahnung davon, was, wenn ich sagen darf, in der Seele des Pferdes und was in seiner Seele vorgeht. Er sieht den Schatten des Pferdes, aber das Pferd hat ein lebendiges Gefühl vom Sein in jenem Raumteil des Ätherleibes, wo sich der Schatten bildet. Das ist ein ganz anderer Vorgang, in bezug auf die innere Anschauung ein ganz anderer Vor­gang.
Glauben: er selber kann abstrahieren und hat daher abstrakte Begriffe, sein Hund aber abstrahiert nicht und so weiter. Und dennoch ist es nicht so. Dieser Hund, der neben uns geht, lebt geradeso in den ab­strakten Begriffen wie wir. Ja, er lebt sogar intensiver darinnen als wir. Er braucht sie auch gar nicht zu erwerben, sondern er lebt vom Anfange an intensiv darinnen. Aber die äußere Anschauung hat er nicht so, die gibt ihm ein ganz anderes Bild. Sie brauchen nur auf­merksam zu sein auf gewisse Beobachtungen, die man im Leben machen kann. Allerdings, man nimmt die Dinge nicht immer ernst genug. Ich könnte Ihnen eine ganze Anzahl von Beispielen anführen, aus denen Ihnen hervorgehen würde, wie der Mensch rein instinktiv in dieser Richtung verkehrt denkt. Zum Beispiel ging ich einmal, es war in Zürich, glaube ich, von einem Vortrag, der in einem Zweig-abend gehalten worden war, auf die Straße. Da wartete ein Kutscher, und das Pferd wollte nicht recht gehen, machte Miene, ein bißchen zu scheuen. Da sagte der Kutscher: Das fürchtet sich vor seinem Schatten. - Er sah natürlich den Schatten des Pferdes, den die Laterne auf die Wand warf, und deshalb setzte er voraus, daß das Pferd ganz genau ebenso diesen Schatten sehe wie er. Er hatte natürlich keine Ahnung davon, was, wenn ich sagen darf, in der Seele des Pferdes und was in seiner Seele vorgeht. Er sieht den Schatten des Pferdes, aber das Pferd hat ein lebendiges Gefühl vom Sein in jenem Raumteil des Ätherleibes, wo sich der Schatten bildet. Das ist ein ganz anderer Vorgang, in bezug auf die innere Anschauung ein ganz anderer Vor­gang.


Da haben Sie das Aufeinanderprallen der bisherigen Denkweise bis in die elementarsten, instinktivsten Anschauungen naiver Menschen hinein mit dem, was geisteswissenschaftlich neu in die Menschen hin­einkommen muß. Sie werden allerdings erst mit allem Ernste würdi­gen müssen, was hier eigentlich zugrunde liegt. Denn mit Bezug auf solche Dinge unterscheidet sich der ärgste Materialismus eines Vogt oder Moleschott oder G/zfford oder Spencer und so weiter viel weniger von dem hergebrachten Bekenntnisbegriffe der einzelnen Konfessionen, als sich dasjenige unterscheidet, was als eine neue Denkweise der Geisteswissenschaft zugrunde liegend von diesen Bekenntnissen
Da haben Sie das Aufeinanderprallen der bisherigen Denkweise bis in die elementarsten, instinktivsten Anschauungen naiver Menschen hinein mit dem, was geisteswissenschaftlich neu in die Menschen hin­einkommen muß. Sie werden allerdings erst mit allem Ernste würdi­gen müssen, was hier eigentlich zugrunde liegt. Denn mit Bezug auf solche Dinge unterscheidet sich der ärgste Materialismus eines Vogt oder Moleschott oder Clfford oder Spencer und so weiter viel weniger von dem hergebrachten Bekenntnisbegriffe der einzelnen Konfessionen, als sich dasjenige unterscheidet, was als eine neue Denkweise der Geisteswissenschaft zugrunde liegend von diesen Bekenntnissen


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sich unterscheiden muß. Denn eigentlich denken gewisse Materiali­sten doch heute: Der Mensch unterscheidet sich nicht sehr vom Tiere. - Sie haben auch einmal etwas davon läuten gehört, wenn auch nicht die Glocken zusammenschlagen vernommen, daß der Mensch sich abstrakte Begriffe machen kann, die doch etwas anderes sind als die gewöhnlichen bloß sinnlichen Vorstellungen; aber sie sagen sich: Abstrakte Begriffe, das ist vielleicht doch nicht so etwas Wichtiges, so etwas Wesentliches, also im Grunde genommen unterscheidet sich der Mensch nicht von dem Tiere. - Der gesamte Materialismus der Gegenwart ist eigentlich eine Schöpfung der Kirchenbekenntnisse. Das muß man nur wirklich ganz ernsthaftig ins Auge fassen, dann wird man sehen, daß eine Erneuerung der Vorstellungsart der Men­schenseelen hier in Betracht kommt, wenn man nicht dabei stehen­bleiben will: Nun wiederum zurück zu den alten Vorstellungen, dann wird es schon gut gehen!
sich unterscheiden muß. Denn eigentlich denken gewisse Materiali­sten doch heute: Der Mensch unterscheidet sich nicht sehr vom Tiere. - Sie haben auch einmal etwas davon läuten gehört, wenn auch nicht die Glocken zusammenschlagen vernommen, daß der Mensch sich abstrakte Begriffe machen kann, die doch etwas anderes sind als die gewöhnlichen bloß sinnlichen Vorstellungen; aber sie sagen sich: Abstrakte Begriffe, das ist vielleicht doch nicht so etwas Wichtiges, so etwas Wesentliches, also im Grunde genommen unterscheidet sich der Mensch nicht von dem Tiere. - Der gesamte Materialismus der Gegenwart ist eigentlich eine Schöpfung der Kirchenbekenntnisse. Das muß man nur wirklich ganz ernsthaftig ins Auge fassen, dann wird man sehen, daß eine Erneuerung der Vorstellungsart der Men­schenseelen hier in Betracht kommt, wenn man nicht dabei stehen­bleiben will: Nun wiederum zurück zu den alten Vorstellungen, dann wird es schon gut gehen!


Man kann aber nicht etwa sagen, daß die Menschen es einfach unterlassen könnten, sich nun zu wirklichem Geistesleben hinzuwenden, und es auch so weitergehen könnte! Nein, diejenigen haben schon recht, die da sagen, .... . daß ein furchtbares Schicksal der wei­ßen Menschheit winkt, scheint mir unter allen Umständen gewiß, es sei denn, daß eine Periode supremer Weisheitsherrschaft sehr bald die der Leidenschaft und Wahnvorstellungen ablöst». Nur sollten solche Leute auch einsehen, daß zu den Wahnvorstellungen der größte Teil der wissenschaftlichen Vorstellungen über die Welt heute gehört. Das sollte eben durchaus eingesehen werden. Die Menschheit ist in ihrer Entwickelungsströmung an dem Punkt angekommen, den wir oft­mals dadurch charakterisieren, daß wir sagen: Seit dem 15. Jahrhun­dert ist die Menschheit im Zeitalter der Bewußtseinsseele. Und diese Entwickelung der Bewußtseinsseele findet so statt, wie ich es eben öfter charakterisiert habe. Sehen wir einmal auf ein sehr wichtiges Charakteristikon mit Bezug auf die Entwickelung der Bewußtseinsseele hin.
Man kann aber nicht etwa sagen, daß die Menschen es einfach unterlassen könnten, sich nun zu wirklichem Geistesleben hinzuwenden, und es auch so weitergehen könnte! Nein, diejenigen haben schon recht, die da sagen, «... daß ein furchtbares Schicksal der wei­ßen Menschheit winkt, scheint mir unter allen Umständen gewiß, es sei denn, daß eine Periode supremer Weisheitsherrschaft sehr bald die der Leidenschaft und Wahnvorstellungen ablöst». Nur sollten solche Leute auch einsehen, daß zu den Wahnvorstellungen der größte Teil der wissenschaftlichen Vorstellungen über die Welt heute gehört. Das sollte eben durchaus eingesehen werden. Die Menschheit ist in ihrer Entwickelungsströmung an dem Punkt angekommen, den wir oft­mals dadurch charakterisieren, daß wir sagen: Seit dem 15. Jahrhun­dert ist die Menschheit im Zeitalter der Bewußtseinsseele. Und diese Entwickelung der Bewußtseinsseele findet so statt, wie ich es eben öfter charakterisiert habe. Sehen wir einmal auf ein sehr wichtiges Charakteristikon mit Bezug auf die Entwickelung der Bewußtseinsseele hin.


Ich habe Ihnen schon das letzte Mal angedeutet: Alles was der Geistesforscher erkennt, das heißt ins Bewußtsein heraufhebt gerade von solchen Dingen, die in der Entwickelung der Menschheit liegen,
Ich habe Ihnen schon das letzte Mal angedeutet: Alles was der Geistesforscher erkennt, das heißt ins Bewußtsein heraufhebt gerade von solchen Dingen, die in der Entwickelung der Menschheit liegen,

Aktuelle Version vom 27. Januar 2024, 14:33 Uhr

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Der Goetheanismus
ein Umwandlungsimpuls und
Auferstehungsgedanke

Menschenwissenschaft und Sozialwissenschaft

Zwölf Vorträge,
gehalten in Dornach zwischen dem
3. Januar und 2. Februar 1919

GA 188

1967

Inhaltsverzeichnis


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ERSTER VORTRAG Dornach, 3. Januar 1919

Wie oft mußten wir eigentlich hier betonen, daß die geisteswissen­schaftlichen Wahrheiten, wenn sie ausgesprochen werden, nach der einen oder andern Richtung hin leicht mißzuverstehen sind. Und ich habe Ihnen ja auch von den verschiedensten Gründen gesprochen, aus denen es sicher leicht ist, diese geisteswissenschaftlichen Anschauungen und Erkenntnisse zu mißkennen, mißzuverstehen. Es ist immer wieder und wiederum zu sagen, daß es natürlich ungemein leicht ist, wenn man wenig Gelegenheit gehabt hat, sich in Spirituelles zu ver­tiefen, da oder dort zu finden, daß die Dinge, die geisteswissenschaft­lich zutage treten, nicht voll begründet sind oder dergleichen. Es ist auch ungemein leicht zu sagen: Woher weiß denn der oder jener, wel­cher geisteswissenschaftlich etwas mitteilt, woher weiß er das? - wenn man nicht darauf eingehen will, das zu durchschauen, was er selbst oftmals darüber vorgebracht hat, von woher er diese Dinge weiß, und man lediglich das Urteil sich bildet nach dem, was man selber weiß. Das ist ja nicht schwer zu sagen: Woher kann der das wissen? Ich weiß es doch nicht! - und dann souverän zu erklären: Dasjenige, was ich nicht weiß, das weiß auch kein anderer, da kann ein anderer höch­stens doch nur noch glauben! - Aber ein solches Urteil kommt nur dadurch zustande, daß man sich eben gar nicht darauf einläßt, auf die Quellen einzugehen, aus denen insbesondere in der heutigen Zeit geisteswissenschaftliche Erkenntnisse geschöpft werden müssen.

Zu den auf diese Art zustande gekommenen Mißverständnissen kann nun auch gehören, daß man glaubt, die Geisteswissenschaft wolle in Bausch und Bogen ein Verdammungs-, ein Vernichtungsurteil aus­sprechen über das ganze Streben der Zeit, insofern dieses Streben von Persönlichkeiten ausgeht, die außerhalb der Geisteswissenschaft ste­hen. Aber auch da liegt nur ein Mißverständnis vor. Gerade der Gei­steswissenschafter, der ernst und würdig den heutigen Weitzustand ins Auge faßt, wird wohl eingehen auf die Gemütslage, auf die Seelen-stimmung der Zeitgenossen und wird sich die Frage vorlegen: Was

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geht in den Seelen der ernsten Zeitgenossen der Gegenwart vor, in der Richtung, in der eine Besserung manches Verbesserungswürdigen oder Verbesserungsnotwendigen eben gesucht werden muß? - Was aber hier vor allen Dingen als eine besonders in der Gegenwart außer­ordentlich markante Tatsache ins Auge gefaßt werden muß, das ist, daß gerade abgelehnt wird, manchmal von den strebendsten Zeit­genossen abgelehnt wird das konkrete Eingehen auf das Wissen von der geistigen Welt, auf die Erkenntnis von der geistigen Welt, die als eine Wirklichkeit vor den Menschen treten kann und nicht bloß als etwas, was man durch eine Summe von Begriffen erschließt. Die mei­sten Menschen möchten eben heute mit ihren Erfahrungen nur in der Sinneswelt stehenbleiben und eine geistige Welt höchstens zugeben als durch Begriffe, durch Ideen erschließbar. Sie möchten sich nicht anschließen an eine Forschung, welche von Mitteln spricht, in die geistige Welt erlebnisgemäß wirklich einzudringen. Dieses Ablehnen der wirklichen Geistigkeit, das ist allerdings ein charakteristischer Zug unserer Zeit; das ist ein Zug unserer Zeit, den insbesondere wir, die wir versuchen, uns auf den Boden der Geisteswissenschaft zu stellen, berücksichtigen müssen. Sonst bleiben wir doch außerhalb dieser Geisteswissenschaft stehen, uns nur auf sie einlassend als wie auf et­was, was neben andern Dingen, die in der Gegenwart zutage treten, doch auch berücksichtigt werden sollte.

Ich habe vor kurzem hier, dadurch, daß ich Ihnen die Gedanken Walther Rathenaus vorführte, gezeigt, daß der Geisteswissenschafter schon in der Lage ist, innerhalb der Grenzen, in welcher gegenwartige Gedankenrichtungen zu würdigen sind, diese Gedankenrichtungen auch wirklich zu würdigen. Aber auffällig ist eben doch diese Zu­rückweisung des wirklichen geistigen Einschiages, der in unserer Zeit kommen soll. Dieses Ablehnen kann man ja auf Schritt und Tritt er­fahren, wenn man aufmerksam ist auf das, was die Leute heute den­ken. Gewiß, es ist vor viele Menschen in der Gegenwart das Erschüt­ternde der gegenwärtigen Welteniage getreten; es gibt Menschen, die den ganzen Ernst der gegenwärtigen Zeit zu würdigen verstehen und auch schon seit einiger Zeit zu würdigen verstanden haben. Auch da bitte ich Sie, sich durchaus nicht der Hochnäsigkeit mancher Anthroposophen

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zu befleißigen und zu meinen, daß Anthroposophie als sol­che schon eine Anweisung gibt, besser den Ernst der Zeit zu würdigen, als ihn Leute würdigen, die außerhalb der anthroposophischen Be­wegung stehen. Denn man möchte auch, daß innerhalb dieser anthro­posophischen Bewegung gar mancher mehr in seinem Gemüte berührt würde von dem Entscheidenden in unserer gegenwärtigen Weltenlage. Man findet nur allzuhäufig gerade innerhalb unserer Reihen Menschen, die heute, trotz des Ernstes der Zeit, nicht auf diesen Ernst hinblicken mögen und lieber sich mit ihrer eigenen werten Persön­lichkeit beschäftigen, statt einiges Interesse für die großen Fragen in sich zu erregen, die durch die Menschheit pulsieren.

Ich will bei der heutigen Betrachtung von einem Beispiel ausgehen, das mir, man kann sagen zufällig - wenn man das Wort nicht mißversteht, und wir brauchen es nicht mißzuverstehen - in die Hände ge­kommen ist; ein Aufsatz, der allerdings insofern heute veraltet ist, als er geschrieben wurde, während der sogenannte Krieg noch in vollem Gange war. Also der Aufsatz ist heute veraltet. Er ist auch sonst nicht gerade eindringlich, da er die meisten Dinge, die er bespricht, sehr einseitig behandelt. Allein er rührt doch her von einem Menschen - das sieht man nach der ganzen Haltung, nach der ganzen Schreibweise -, der sich die ernstesten Gedanken darüber macht, was nun eigentlich geschehen soll, was die Welt von den Ereignissen zu erwar­ten hat. Er stellt dar, dieser Aufsatz, wie sich die Westmächte, die Mittelmächte, die Ostmächte allmählich verhalten haben innerhalb der Katastrophe der letzten Jahre. Er stellt die großen Gefahren, wenn auch einseitig, aber doch immerhin dar, die aus dieser Katastrophe heraus heute lauern und in die Zukunft hineiniauern werden. Der Verfasser hat einen gewissen Weltblick. Er betrachtet die Welt nicht nur vom Gesichtspunkt der Landesgrenzen; auch das soll ja unter den heutigen Menschen noch vorkommen, daß sie die Welt nur vom Ge­sichtspunkt ihrer Landesgrenzen betrachten, und wenn sie sich dann beruhigen können, daß innerhalb ihres Landes das oder jenes noch nicht stattfindet, dann sind sie unbesorgt. Der Verfasser dieses Auf­satzes sieht immerhin nicht nur den Umkreis des Kirchturmes, son­dern er sieht doch etwas von der Weltperspektive. Und seine Gedanken

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zusammenfassend, kommt er zu einem sehr merkwürdigen Satze. Er sagt: « Daß ein furchtbares Schicksal der weißen Menschheit winkt, dies scheint mir unter allen Umständen gewiß, es sei denn, daß eine Periode supremer Weisheitsherrschaft sehr bald die der Leidenschaft und Wahnvorstellungen ablöst. Wir leben in der Tat seit lange schon in der Periode, die mit der Völkerwanderungszeit viel Ähnlichkeit hat. Das Tempo wird durch den Weltkrieg ungeheuer beschleunigt. Was den damals von außen in altes Kulturland einwandernden Ger­manenstämmen entspricht, sind die beträchtlichen, aufsteigenden un­teren Volksschichten, die sowohl dem Blut wie dem Kulturerbe nach von den bisher herrschenden sehr verschieden sind. Daß diese Völker­wanderung» - es ist in der Tat viel besser, von einer Völkerwanderung als von einem Kriege zu sprechen - «überhaupt stattfindet, ist gut in­sofern, als sie Verbreitung bedingt, eine Verbreitung der Kulturbasis und eine Hebung vom Gesamtniveau. Sehr gefährlich aber ist es, wenn sie zu schnell verläuft. Und diese Gefahr wird vergrößert, je länger der Weltkrieg dauert.»

Der Aufsatz ist heute veraltet. Die Gefahr ist nicht weniger groß geworden, aber da er alle Argumente aus dem noch vorhandenen Kriegswüten ableitet, so sind seine Argumente veraltet. Uns aber muß hier insbesondere der erste Satz interessieren, den ich vorgelesen habe: «Daß ein furchtbares Schicksal der weißen Menschheit winkt, scheint mir unter allen Umständen gewiß, es sei denn, daß eine Periode supre­mer Weisheitsherrschaft sehr bald die der Leidenschaft und Wahnvorstellungen ablöst.» - Denn das ist in der Tat als abstrakte Wahrheit unbedingt richtig. Und wenn jemand es einmal ausspricht, daß die einzige Rettung der Menschheit in dem Sich-Hinwenden zu einer supremen Weisheitsherrschafr liegt, und nicht zu irgendwelchen an­dern politischen oder sozialen Quacksalbereien, dann müssen wir eine solche Tatsache, eine solche Gedankenrichtung anerkennen. Aber wir dürfen dabei eben durchaus nicht vergessen, daß gerade solche Men­schen, von denen wir zugeben müssen, daß sie in allen Tiefen ihres Wesens ergriffen sind von dem Ernst der Zeitlage, daß gerade solche Menschen, wenn es sich nun darum handelt, zu sagen, worin denn die Weisheitsvorstellungen bestehen, die die alten Wahnvorstellungen ablösen

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sollen, daß sie dann doch gleich wieder zurückfallen auf irgendwelche, zu schönen Worten gewordene alte Wahnvorstellungen. Denn das ist gerade die Tragik, das ist das furchtbare Schlcksal unse­rer Zeit, daß die Menschen zwar aufmerksam darauf werden: Es ist notwendig, zum Geiste sich hinzuwenden -, daß sie aber immer Furcht und Angst überkommt, wenn sie sich zum Geiste hinwenden sollen; daß sie dann gleich wieder bereit sind, nach den alten Wahn­vorstellungen zu greifen, die die Menschheit hineingetrieben haben in das gegenwärtige furchtbare Schicksal. Wir brauchen ja nur das Beispiel einer sehr verbreiteten Vorstellungstichtung zu nehmen.

Glauben Sie, wenn Sie einen richtiggehenden, sagen wir trivial, Vertreter des römisch-katholischen Kirchenbekenntnisses fragen, ob er geneigt sein würde zu glauben, daß die alten Vorstellungen in die katastrophale Zeit hineingeführt haben, daß sie von neuen abgelöst werden müssen, glauben Sie, daß er wirklich geneigt sein würde, an die Notwendigkeit einer Erneuerung derjenigen Vorstellungen zu glauben, welche die Menschheit nicht retten haben können vor dieser furchtbaren Katastrophe? Nein, er würde sagen: Wenn die Menschen nur wiederum richtig römisch-katholisch werden, dann werden sie schon glücklich werden. - Und er wird gar nicht auf den Einfall kom­men, sich zu sagen, daß sie doch tausendneunhundert Jahre hindurch Zeit gehabt haben, römisch-katholisch zu sein und dennoch in die Katastrophe hineingekommen sind; daß also zum mindesten die Katastrophe lehren muß, daß man neue Impulse braucht. Das ist nur ein Beispiel für viele. Es ist überhaupt notwendig, gerade mit Bezug auf diesen Punkt rückhaltlos die Zusammenhänge, die da bestehen, vor Augen zu führen.

Es ist heute leicht, selbst für einen als echt geltenden Anhänger die­ser oder jener Kirche, zu sagen: Der Haeckelismus oder der Materia­lismus, das ist eine Teufelssache, das muß mit Stumpf und Stiel aus­gerottet werden. - Das ist das Gegenteil von dem, was die Menschen in eine heilsame Seelenverfassung hineinführen kann. Ja, man kann wohl so sprechen, aber wenn man bei dieser Aussage bleibt und nicht die Zusammenhänge untersucht, die dabei in Betracht kommen, dann wird man unmöglich zu etwas kommen können, was der Gegenwart

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und noch weniger der nächsten Zukunft heilsam sein kann. Denn wenn Sie irgendeine materialistisch gefärbte Weltanschauungsemp­findung aufnehmen und sich fragen: Woher kommt sie historisch? - dann werden Sie, wenn Sie wirklich Einsicht gewinnen wollen, gar nicht umhin können, sich zuletzt doch zu sagen: sie kommt ja im Grunde gerade aus der Art, das Christentum zu vertreten, wie dieses Christentum tausendneunhundert Jahre lang von den verschiedenen Konfessionen vertreten worden ist. Der Tiefersehende weiß, daß Haeckelismus ohne das vorangehende Christentum der Kirche gar nicht möglich gewesen wäre. Es gibt Leute, die sind auf dem Stand­punkt der Kirche zurückgeblieben, sagen wir, wie sie im Mittelalter war; die vertreten heute noch immer die Gedanken, die die Kirche im Mittelalter gehabt hat. Andere haben diese Gedanken weitergebil­det. Und diejenigen, die sie weitergebildet haben, unter denen ist zum Beispiel Ernst Haeckel. Er ist ein gerader Abkömmling der durch die verschiedenen Kirchen jahrhundertelang gepflogenen Vorstellun­gen. Das ist nicht außerhalb der Kirche entstanden, das ist im tieferen Sinne durchaus innerhalb der Kirchenlehren entstandene Wahrheit. Allerdings, richtig die Zusammenhänge erkennen wird man erst dann, wenn man sich ein wenig befruchtet mit geisteswissenschaftlichen Ein­sichten, um diese Dinge ins Auge zu fassen.

Ich will Ihnen daher heute - obwohl vielleicht einzelne von Ihnen sagen werden, die Sache ist zu schwer, aber es darf uns nichts zu schwer sein, man soll Einsicht gewinnen -, ich möchte Jhnen heute zunächst einmal einen Punkt besonders auseinandersetzen.

Wenn Sie heute philosophisch angehauchte Schriften gut geschul­ter, zum Beispiel katholischer Gelehrter lesen, da werden Sie überall mit Bezug auf einen gewissen Punkt eine ganz bestimmte Anschauung ausgebildet finden. Und man kann sagen: Sie finden diese Anschau­ung ausgebildet bei den allerbesten dieser katholisch geschulten Ge­lehrten. - Ich möchte dabei gleich bemerken, daß ich durchaus nicht geneigt bin, die formale Schulung des katholischen Klerus zum Bei­spiel zu unterschätzen. Ich kenne sehr gut - ich habe das auch aus­gesprochen in meinem Buch «Vom Menschenrätsel» - die bessere Schulung, die gerade manche katholischen Theologen haben, wenn

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sie philosophisch schreiben, gegenüber den Schreibereien der nicht durch die katholische Theologie gegangenen philosophischen Gelehr­ten zum Beispiel. In dieser Beziehung, muß man sagen, ist die gelehrte Literatur, die theologische Literatur der protestantischen, der refor­mierten Geistlichen weit zurück hinter der guten philosophischen Schulung der katholischen Theologen. Diese Leute haben durch ihre strenge Schulung eine gewisse Fähigkeit, ihre Begriffe wirklich pla­stisch auszubilden; sie haben - was zum Beispiel Menschen, die heute berühmt sind in der nichtkatholischen philosophischen Literatur, nicht einmal als Ahnung haben - eine gewisse Fähigkeit, einzusehen, was ein Begriff ist, was eine Idee ist und dergleichen, kurz, diese Leute haben eine gewisse Schulung. Man braucht nicht einmal ein Buch von Haeckel zu nehmen, man kann ein Buch von Eucken nehmen, um diese Begriffspurzelei festzustellen, diese schreckliche, bloß feuilleto­nistische Herumrederei über die wichtigsten Begriffe, oder man kann zum Beispiel ein Buch von Bergson nehmen, wo man immer das Ge­fühl hat: der fängt die Begriffe ab, ohne mit ihnen hantieren zu kön­nen, wie der bekannte Chinese, der sich umdrehen will und immer seinen Zopf abfängt. Dieses absolute Taumeln in der Begriffswelt, das bei diesen ungeschulten Leuten der Fall ist, das werden Sie nicht fin­den, wenn Sie sich einlassen auf die vom katholischen Kierus aus­gehende philosophische Literatur, so daß in dieser Beziehung zum Beispiel ein Buch wie die dreibändige «Geschichte des Idealismus» von Otto Wilimaun, einem waschechten Katholiken, der auf jeder Seite seinen Katholizismus zur Schau trägt, weit höher steht als das meiste, was von nichtkatholischer Seite gerade heute auf philosophi­schem Gebiete geschrieben wird. Das alles kann man durchaus wis­sen und dennoch den Standpunkt einnehmen, den man eben als Gei­steswissenschafter einnehmen muß. Inferiorität des Geistes mag auf diesem Gebiete anders entscheiden, mag zum Beispiel der Meinung sein: weil da gute Schulung ist, so ist sie überhaupt mehr wert. Nun, das mag sein; aber man kann durchaus sich auch der Objektivität be­fleißen, wenn man genötigt ist, einen bestimmten Gesichtspunkt im Leben einzunehmen.

Ein Punkt wird Ihnen in dieser gut geschulten katholischen philosophischen

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Literatur immer entgegentreten, ein Punkt, der auch un­gemein viel Blendendes für den heutigen Denker hat; das ist der, der immer in Betracht kommt, wenn die Leute zu sprechen kommen auf den Unterschied des Menschen vom Tiere. Nicht wahr, die gewöhn­lichen Haeckel-Leser und Haeckel-Bekenner, die werden ja immer darauf ausgehen, den Unterschied des Menschen vom Tier möglichst zu verwischen, möglichst den Glauben zu erwecken, daß der Mensch im ganzen nur ein gewissermaßen höher ausgebildetes Tier ist. Das tun die katholischen Gelehrten nicht, sondern sie heben immer etwas hervor, was ihnen als radikaler Unterschied erscheint zwischen dem Menschen und dem Tiere. Sie heben hervor, daß das Tier bei der gewöhnlichen Anschauung bleibt, die es gewinnt von dem Gegen­stand, den es jetzt beriecht, von dem nächsten Gegenstand, den es dann beriecht oder beschaut und so weiter; daß das Tier gewisser­maßen immer nur in einzelnen individuellen Vorstellungen bleibt, während der Mensch die Fähigkeit hat, abgezogene, abstrakte Be­griffe sich zu bilden, die Dinge zusammenzufassen. Das ist in der Tat ein radikaler Unterschied, weil der Mensch, wenn man die Sache so auffaßt, dadurch sich wirklich radikal vom Tier unterscheidet. Das Tier, das nur die Einzelheiten ins Auge faßt, kann nicht in sich die Geistigkeit ausbilden, weil ja die abstrakten Begriffe in der Geistigkeit leben müssen. Und dadurch muß man dazukommen, anzuerkennen, daß im Menschen diese besondere Seele lebt, die eben die abstrakten Begriffe bildet, während das Tier mit seiner besonderen Art des Innenlebens diese abstrakten Begriffe nicht bilden kann.

Wer auf diesen Punkt hin die entsprechenden katholischen Ausein­andersetzungen ins Auge faßt, der sagt sich: Das ist etwas ungeheuer Bedeutsames, daß durch gute philosophische Schulung auf diesen ent­scheidenden, radikal entscheidenden Punkt in dem Unterschied zwi­schen Mensch und Tier richtig hingewiesen werden kann. Die Men­schen würdigen in der Gegenwart gar nicht die Tragweite einer sol­chen Sache. Als zum Beispiel der Rummel dazumal losgegangen war, den Drews veranstaltet hat, diese Auseinandersetzung, ob Jesus gelebt hat oder nicht, als damals in Berlin eine große Versammlung abgehal­ten worden ist, wo alle möglichen und unmöglichen Leute geredet

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haben über das Problem: Hat Jesus gelebt? - da hat auch der katho­lische Theologe Wasmann darüber gesprochen, und er konnte natür­lich nur Dinge sagen, die die andern als sehr rückständig betrachtet haben. Aber trotzdem dazumal eigentlich die Korvphäen, namentlich der Berliner protestantischen Theologie, geredet haben, so sind mir im Grunde genommen in den damaligen Reden doch als wirklich auf einem etwas besseren Niveau - nicht auf dem Gegenwartsniveau, aber einem etwas besseren Niveau - zwei Aussprüche beziehungsweise die Unterlagen dieser Aussprüche erschienen. Das eine war eine Ausfüh­rung, die ein - ich will damit gar nichts Schlimmes sagen, sondern eigentlich den Mann loben - gelehrter Bummler allerersten Ranges dazumal losgelassen hat. Ich glaube ihn nicht besser loben zu können, als indem ich ihn einen gelehrten Bummler allerersten Ranges nenne. Der Mann hätte nämlich durch seinen Scharfsinn und durch seine eigenartigen Kenntnisse auf den verschiedensten Gebieten, durch ein großes Wissen viel leisten können. Schon damals, als ich mit ihm ver­kehrte - das ist achtzehn, neunzehn Jahre her -, hatte er schon seit fünfzehn Jahren, glaube ich, an einer Revision der Logik geschrieben, und ich glaube, er muß auch seither noch daran schreiben, denn diese Revision der Logik ist mir mittlerweile nicht zu Gesicht gekommen. Er hat dazumal schon gesagt, was ganz richtig ist: die Menschen seien eigentlich ganz fürchterlich in der Gegenwart, sie seien nämlich dann ganz fürchterlich, wenn sie zu denken anfangen, denn man brauche nur zwei, drei Sätze, sei es in einem wissenschaftlichen oder in einem unwissenschaftlichen Gespräch heute zu hören, um zu beobachten, wie gleich die furchtbarste Unlogik einsetzt. Das, meinte er, was die Menschen beobachten müßten, damit sie nicht in die graus­lichsten Wahnvorstellungen kommen, die heute gang und gäbe sind, das ließe sich auf eine Quartseite aufschreiben, man brauche nur diese Quartseite wirklich zu berücksichtigen. Ich weiß ja nicht, ob er diese Quartseite als Revision der Logik zustande bringen will; wie gesagt, dazumal waren es schon fünfzehn Jahre, seither sind noch achtzehn, neunzehn Jahre verflossen, ich weiß nicht, wie weit er jetzt ist mit die­ser Revision der Logik. Aber ich will ihn also loben, indem ich ihn einen geistreichen, geistvollen Bummelanten nenne, weil ich damit

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andeuten will, daß er, wenn er nicht ein geistreicher Bummelant wäre, furchtbar viel leisten könnte. Der hat dazumal etwas sehr Schönes gesagt, er hat nämlich gesagt: Ja, die katholische Kirche mußte eines Tages hören, daß die Kometen, die ja aus Kern und Schwanz beste­hen, Himmeiskörper wie die andern sind und nach Gesetzen sich be­wegen, wie die andern IIimmelskörper auch. Als nun gar nicht mehr geleugnet werden konnte, nach den Dingen, die da einmal vorlagen, daß die Kometen auch solche Himmelskörper seien wie die andern, da entschloß sich die katholische Kirche zuzugeben, daß man auf die Kometen auch die übrigen Himmelsbahngesetze anwende; aber sie gab es zunächst nur mit Bezug auf den Kern, noch nicht mit Bezug auf den Schwanz zu. - Nun, er wollte damit symbolisch nur ausdrük­ken, daß die katholische Kirche in der Regel nur geneigt ist, das Not­wendigste zuzugeben, wie sie ja 1827 erst die kopernikanische Welt­anschauung für ihre Bekenner erlaubt hat; daß sie aber selbst dann, wenn sie das Notwendigste zugeben muß, wenigstens noch den Schwanz von der Sache zurückbehäit! Das ist eine Bemerkung, von der ich fand, daß sie eigentlich ganz gut die Situation charakterisierte.

Die andere Bemerkung aber, die war getan eben gerade von dem katholischen Ameisenforscher Wasmann - er ist ein ausgezeichneter Ameisenforscher, aber er ist auch ein gut geschulter Philosoph -, der da sagte: Eigentlich, meine Herren, können Sie mich ja gar nicht verstehen, denn in Wirklichkeit wissen Sie alle nicht, wie man philosophisch denkt; derjenige, der philosophisch denkt, der redet eben nicht so wie Sie! - Und in der Tat, er hatte damit recht, es ist ganz zweifellos, daß er damit den Nagel auf den Kopf traf. Nun gibt es gerade eine kleine, nette Schrift von Wasmann über den Unterschied zwischen Mensch und Tier, welche scharf hervorhebt, was ich jetzt eben an­gedeutet habe: diese Fähigkeit der Menschen, wirklich in abstrakten Begriffen zu denken, die das Tier eben nicht haben soll. Das ist etwas, was außerordentlich blendend ist, weil es ja nach einer gewissen Rich­tung hin überzeugend ist für den, der sich nur in seinem Denken so weit geschult hat, daß er die ganze Tragkraft einer solchen Behauptung ins Auge fassen kann.

Aber nun sehen wir die Sache einmal geisteswissenschaftlich an, da

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wird Ihnen erst die ganze Geschichte in ihrer Bedeutung vor Augen treten. Wenn wir geisteswissenschaftlich ausgehen von den Anschau­ungen, von den Erfahrungen, die man darüber gewinnen kann in der spirituellen Welt, dann begreift man auf der einen Seite, daß ohne die geisteswissenschaftlichen Betrachtungen diese blendende Behauptung zustande kommen kann, von der ich eben gesprochen habe, daß sie auch eigentlich für jeden, der nicht Geisteswissenschafter werden will, gelten muß, gerade wenn er gut philosophisch geschult ist; das sieht man auf der einen Seite ein. Auf der andern Seite sieht man aber fol­gendes, man sieht es einfach, indem man die Dinge in der Welt be­trachtet: Wenn man mit geisteswissenschaftlichen Voraussetzungen den Menschen mit dem Tiere vergleicht, dann zeigt sich, daß der Mensch zwar den Dingen der Welt gegenübertritt in einzelnen Be­obachtungen und sich dann abstrakte Begriffe bildet durch allerlei Denkoperationen, in denen er zusammenfaßt, was er vereinzelt sieht. Man kann auch zugeben, daß das Tier diese Abstraktion nicht hat, daß das Tier diese Tätigkeit der Abstraktion nicht ausübt. Aber das Kuriose ist, daß die abstrakten Begriffe dem Tiere nicht fehlen, daß das Tier mit seiner Seele gerade in den allerabstraktesten Begriffen lebt, die wir Menschen uns mühevoll bilden, und daß das Tier die einzelne Anschauung nicht so hat wie wir. Was wir voraushaben, ist gerade, daß wir einen viel freieren Gebrauch der Sinne, eine ganz bestimmte Art von Zusammenwirken von Sinnen und inneren Emo­tionen und Willensimpulsen haben. Das haben wir vor dem Tier vor­aus. Aber die Sicherheit des Instinktes, welche die Tiere haben, die beruht gerade darauf, daß das Tier von vornherein mit solchen ab­strakten Begriffen lebt, die wir uns erst bilden müssen. Worin wir uns von dem Tier unterscheiden, das ist, daß sich unsere Sinne emanzipie­ren und freier werden im Gebrauch nach der Außenwelt zu, und daß wir auch in unsere Sinne den Willen hineingießen können, den das Tier nicht hineingießen kann. Aber das, was wir Menschen nicht haben, sondern uns erst erwerben müssen, die abstrakten Begriffe, die hat gerade das Tier, so sonderbar es einem erscheinen mag. Gewiß, es hat jedes Tier nur ein bestimmtes Gebiet, aber auf diesem Gebiete hat das Tier solche abstrakten Begriffe, so sonderbar es einem erscheinen

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mag. Der Mensch ist darauf angewiesen, einen, zwei, drei Hunde zu sehen; er bildet sich daraus den abstrakten Begriff «Hund». Das Tier hat auf diesem Gebiete, und zwar ganz genau, denselben abstrakten Begriff «Hund», den wir haben, es braucht sich ihn nicht zu bilden. Wir müssen uns ihn erst bilden, das Tier braucht das nicht. Aber das Tier hat nicht die Fähigkeit, den einen Hund von dem andern genau zu unterscheiden, genau zu individualisieren durch die Sinneswahrnehmungen.

Wenn wir uns nicht die Fähigkeit erwerben, durch Geisteswissen­schaft auf den wahren Tatbestand der Wirklichkeit einzugehen, so täuschen wir uns in einer gewissen Beziehung über das Allerwesent­lichste. Wir glauben, weil wir Menschen die Fähigkeit entwickeln müssen, abstrakte Begriffe zu bilden, so unterscheiden wir uns durch die abstrakten Begriffe vom Tiere, das diese Fähigkeit nicht besitzt. Aber das Tier braucht diese Fähigkeit gar nicht, weil es die abstrakten Begriffe von vornherein hat. Das Tier hat eine ganz andere Art von Sinnesanschauung als wir Menschen. Gerade die äußere Sinnesanschauung ist ganz verschieden.

In dieser Beziehung ist sogar eine sehr tief eingreifende Umwand­lung in den menschlichen Vorstellungen notwendig. Denn über aller­lei naturwissenschaftliche Begriffe, die heute schon populär geworden sind, haben sich ja die Menschen unterrichtet. Entweder haben sie sie in einer gewissen Schule, durch direkten Unterricht lernen können, oder sie haben sich unterrichtet durch jenes Abwaschwasser - ich wollte sagen durch jene Zeitungslektüre -, womit heute die naturwissenschaftlichen Vorstellungen in alle Welt hinausströmen. Aber die Menschen sind beherrscht von diesen naturwissenschaftlichen Vorstellungen. Mit Bezug auf das, was ich Ihnen eben angedeutet habe, da sind die Menschen ganz tief beherrscht von einem, fast könnte man sagen, instinktiven Hang zu glauben, daß das Tier wirk­lich in der Umgebung dasselbe sieht wie der Mensch. Wenn er mit seinem Hunde spazieren geht, so hat er den instinktiven Glauben, daß der Hund die Welt so sieht, wie er sie sieht, daß er ebenso das Gras farbig, den Weizen gefärbt, die Steine gefärbt sieht, wie er selber. Und dann hat er, wenn er einigermaßen denken kann, auch noch den

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Glauben: er selber kann abstrahieren und hat daher abstrakte Begriffe, sein Hund aber abstrahiert nicht und so weiter. Und dennoch ist es nicht so. Dieser Hund, der neben uns geht, lebt geradeso in den ab­strakten Begriffen wie wir. Ja, er lebt sogar intensiver darinnen als wir. Er braucht sie auch gar nicht zu erwerben, sondern er lebt vom Anfange an intensiv darinnen. Aber die äußere Anschauung hat er nicht so, die gibt ihm ein ganz anderes Bild. Sie brauchen nur auf­merksam zu sein auf gewisse Beobachtungen, die man im Leben machen kann. Allerdings, man nimmt die Dinge nicht immer ernst genug. Ich könnte Ihnen eine ganze Anzahl von Beispielen anführen, aus denen Ihnen hervorgehen würde, wie der Mensch rein instinktiv in dieser Richtung verkehrt denkt. Zum Beispiel ging ich einmal, es war in Zürich, glaube ich, von einem Vortrag, der in einem Zweig-abend gehalten worden war, auf die Straße. Da wartete ein Kutscher, und das Pferd wollte nicht recht gehen, machte Miene, ein bißchen zu scheuen. Da sagte der Kutscher: Das fürchtet sich vor seinem Schatten. - Er sah natürlich den Schatten des Pferdes, den die Laterne auf die Wand warf, und deshalb setzte er voraus, daß das Pferd ganz genau ebenso diesen Schatten sehe wie er. Er hatte natürlich keine Ahnung davon, was, wenn ich sagen darf, in der Seele des Pferdes und was in seiner Seele vorgeht. Er sieht den Schatten des Pferdes, aber das Pferd hat ein lebendiges Gefühl vom Sein in jenem Raumteil des Ätherleibes, wo sich der Schatten bildet. Das ist ein ganz anderer Vorgang, in bezug auf die innere Anschauung ein ganz anderer Vor­gang.

Da haben Sie das Aufeinanderprallen der bisherigen Denkweise bis in die elementarsten, instinktivsten Anschauungen naiver Menschen hinein mit dem, was geisteswissenschaftlich neu in die Menschen hin­einkommen muß. Sie werden allerdings erst mit allem Ernste würdi­gen müssen, was hier eigentlich zugrunde liegt. Denn mit Bezug auf solche Dinge unterscheidet sich der ärgste Materialismus eines Vogt oder Moleschott oder Clfford oder Spencer und so weiter viel weniger von dem hergebrachten Bekenntnisbegriffe der einzelnen Konfessionen, als sich dasjenige unterscheidet, was als eine neue Denkweise der Geisteswissenschaft zugrunde liegend von diesen Bekenntnissen

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sich unterscheiden muß. Denn eigentlich denken gewisse Materiali­sten doch heute: Der Mensch unterscheidet sich nicht sehr vom Tiere. - Sie haben auch einmal etwas davon läuten gehört, wenn auch nicht die Glocken zusammenschlagen vernommen, daß der Mensch sich abstrakte Begriffe machen kann, die doch etwas anderes sind als die gewöhnlichen bloß sinnlichen Vorstellungen; aber sie sagen sich: Abstrakte Begriffe, das ist vielleicht doch nicht so etwas Wichtiges, so etwas Wesentliches, also im Grunde genommen unterscheidet sich der Mensch nicht von dem Tiere. - Der gesamte Materialismus der Gegenwart ist eigentlich eine Schöpfung der Kirchenbekenntnisse. Das muß man nur wirklich ganz ernsthaftig ins Auge fassen, dann wird man sehen, daß eine Erneuerung der Vorstellungsart der Men­schenseelen hier in Betracht kommt, wenn man nicht dabei stehen­bleiben will: Nun wiederum zurück zu den alten Vorstellungen, dann wird es schon gut gehen!

Man kann aber nicht etwa sagen, daß die Menschen es einfach unterlassen könnten, sich nun zu wirklichem Geistesleben hinzuwenden, und es auch so weitergehen könnte! Nein, diejenigen haben schon recht, die da sagen, «... daß ein furchtbares Schicksal der wei­ßen Menschheit winkt, scheint mir unter allen Umständen gewiß, es sei denn, daß eine Periode supremer Weisheitsherrschaft sehr bald die der Leidenschaft und Wahnvorstellungen ablöst». Nur sollten solche Leute auch einsehen, daß zu den Wahnvorstellungen der größte Teil der wissenschaftlichen Vorstellungen über die Welt heute gehört. Das sollte eben durchaus eingesehen werden. Die Menschheit ist in ihrer Entwickelungsströmung an dem Punkt angekommen, den wir oft­mals dadurch charakterisieren, daß wir sagen: Seit dem 15. Jahrhun­dert ist die Menschheit im Zeitalter der Bewußtseinsseele. Und diese Entwickelung der Bewußtseinsseele findet so statt, wie ich es eben öfter charakterisiert habe. Sehen wir einmal auf ein sehr wichtiges Charakteristikon mit Bezug auf die Entwickelung der Bewußtseinsseele hin.

Ich habe Ihnen schon das letzte Mal angedeutet: Alles was der Geistesforscher erkennt, das heißt ins Bewußtsein heraufhebt gerade von solchen Dingen, die in der Entwickelung der Menschheit liegen,

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das geht, auch wenn es nicht erkannt wird, bei den Menschen im Unterbewußtsein vor sich. Die Menschheit geht einmal, indem sie nach der Zukunft hin sich entwickelt, durch gewisse Erfahrungen hindurch. Sie geht unbewußt durch diese Erfahrungen hindurch, wenn sie es nicht vorzieht, sie ins Bewußtsein heraufzubringen, was eben im Zeitalter der Bewußtseinsseelenentwickelung geschehen sollte. Aber gerade in diesem Zeitalter der Bewußtseinsseelenentwik­kelung wird heute noch manches, was an den Menschen im Unter­bewußtsein herantritt, zurückgestoßen.

Unter anderem tritt mehr und mehr ein gewisser Teil desjenigen Erlebnisses an den Menschen heran, das man nennen kann die Be­gegnung mit dem «Hüter der Schwelle». Gewiß, will man wirklich in die geistige Welt vollbewußt eintreten, Imaginationen, Inspirationen, Intuitionen entwickeln, so muß man in viel höherem Maße mit reich­licheren Erfahrungen, mit ganz andern Erfahrungen noch eintreten in das Gebiet der übersinnlichen Welt. Man muß gründlicher - wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf - beim Hüter der Schwelle vorbeischreiten, als die ganze Menschheit im Laufe des Zeitalters der Be­wußtseinsseele dies tun muß. Aber in einem gewissen Grade muß der Mensch einfach bis zum Ende der Bewußtseinsseelenentwickelung an dem Hüter der Schwelle vorbeigeschritten sein. Er kann nun die Be­quemlichkeit haben, dieses Vorbeischreiten ganz im Unterbewußtsein zu lassen. Daß dies aber nicht geschehe, dazu ist gerade Geisteswis­senschaft da. Sie soll darauf aufmerksam machen, daß das eben jetzt zu den Geschehnissen gehört, die sich in der Menschheitsentwicke­lung vollziehen. Und derjenige, der heute die Leute abhält von Gei­steswissenschaft, will eigentlich nichts Geringeres, als die Menschen zwingen, nicht bewußt, sondern unbewußt am Hüter der Schwelle vorbeizukommen, der eben einfach in diesem Zeitalter in den Hori­zont der Menschen hereintritt.

Mit andern Worten: die Menschheit muß in den 2160 Jahren, welche das Zeitalter der Bewußtseinsseelenentwickelung dauert, von 1413 an ungefähr, in irgendeiner Inkarnation an dem Hüter der Schwelle vor­beikommen und teilweise die Erlebnisse, die man bei dem Hüter der Schwelle haben kann, erleben. Der Mensch kann sich von materialistisch

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gesinnten Menschen zwingen lassen, unbewußt vorbeizugehen; oder er kann in Freiheit ergreifen den Entschluß, auf Geisteswissen­schaft aufmerksam zu sein und, sei es durch Selbstschau, sei es durch den gesunden Menschenverstand, etwas über dieses Vorbeigehen an dem Hüter der Schwelle zu vernehmen. Und bei diesem Vorbeigehen an dem Hütet der Schwelle wird eben das vernommen, was den Men­schen befähigt, sich richtige, zutreffende Vorstellungen zu bilden über die konkrete übersinnliche Welt, Vorstellungen zunächst, welche in der Lage sind, vor allen Dingen das Vorstellen selbst, das Denken, in eine gewisse freie, unbefangene, wirklichkeitsfreundliche Richtung zu bringen.

Das habe ich ja oftmals als die größte Errungenschaft der Geisteswissenschaft bezeichnet, daß das Denken wirklichkeitsfreundllcher wird, daß es wirklich eingehen kann auf die Impulse, die in dem Ge­schehen liegen, und nicht bloß in abstrahierter Weise wie die Natur­wissenschaft äußerlich etwas über die Vorgänge weiß. Gewisse Dinge der geistigen Welt zu wissen, das ist es, was den Menschen notwendig wird. Dadurch muß der Mensch in die Lage versetzt werden, seine Stellung in der Welt vom Gesichtspunkte eines geistigen Horizontes aus beurteilen zu lernen, während er heute seine Stellung in der Welt nur vom Standpunkte des sinnlichen Horizontes aus zu beurteilen ver­mag. Sie beurteilen schon etwas neu und richtig, wenn Sie zum Bei­spiel einen solchen Gedanken fruchtbar in sich machen, daß die Tiere nicht etwa keine abstrakten Vorstellungen haben, sondern daß sie gerade in den abstraktesten Vorstellungen leben, und daß der Mensch sich vom Tier unterscheidet durch eine gewisse Ausbildung seiner Sinne, die sich emanzipieren von dem engen Zusammenhang mit dem Körperleben. Dadurch kommen Sie eigentlich erst zu zutreffenden Vorstellungen über den Unterschied des Menschen von dem Tier. Äußerlich drückt sich das so aus, daß die Organisation der Sinne bei den Tieren in einem sehr ausgesprochenen Lebenszusammenhang steht mit der gesamten Organisation des Leibes. Die Organisation des Leibes erstreckt sich beim Tier sehr bedeutsam noch in den Sinn hin­ein.

Nehmen Sie das Auge. Es ist den Naturwissenschaftern durchaus

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bekannt, daß Augen niederer Tiere Organe in sich haben, zum Bei­spiel den Fächer oder den Schwertfortsatz, welche bluterfüllt sind, welche lebendig einen Zusammenhang zwischen dem Augeninneren und der ganzen Organisation herstellen, während das menschliche Auge diese Organisation nicht hat, sondern viel selbständiger ist. Die­ses Selbständigerwerden der Sinne, dieses Emanzipieren der Sinne von der Gesamtorganisation, das ist etwas, was erst beim Menschen eintritt. Dadurch aber ist beim Menschen die ganze Welt der Sinne viel mehr im Zusammenhang mit dem Willen als beim Tier. Ich habe das einmal morphologisch anders ausgedrückt. Ich habe Sie von einem andern Gesichtspunkte aus auf dieselbe Sache aufmerksam gemacht, indem ich sagte: Wenn Sie den dreigliedrigen Organismus nehmen, Extremitätenorgane, Brust, Kopf, so ist das, wenn ich schematisch zeichne, beim Tier so: dies der Kopforganismus (es wird gezeichnet), dies der Brustorganismus, dies der Extremitätenorganismus. Der Kopf steht unmittelbar über der Erde. Die Erde ist unter dem Kopf-Organismus - natürlich apptoximativ, aber dem Wesen nach - bei allen Tieren. Das Rückgrat steht senkrecht auf der Erdachse oder dem Erd­radius. Beim Menschen ist es so, daß sein Kopf auf seinem eigenen Brustorganismus und Extremitätenorganismus steht. Beim Menschen ist der Brustorganismus so unter dem Hauptesorganismus, wie beim Tier die Erde unter dem Hauptesorganismus ist. Der Mensch steht mit dem Kopf auf seiner eigenen Erde. Dadurch ist beim Tiere eine Auseinanderhaltung vorhanden zwischen dem Willensorganismus, namentlich dem Extremitätenorganismus, den rückwärtigen Extremi­täten und dem Haupte. Beim Menschen ist unmittelbar der Wille, der Willensorganismus in den Kopforganismus eingeschaltet und das Ganze im Erdradius. Dadurch werden die Sinne gewissermaßen durchflossen von dem Willen, und das ist das Charakteristische beim Men­schen. Dadurch unterscheidet er sich in Wirklichkeit von dem Tiere, daß die Sinne von dem Willen durchflossen werden. Beim Tiere wer­den die Sinne nicht vom Willen, sondern von einem tieferen Elemente durchflossen; daher auch der innigere Zusammenhang der Organisa­tion der Sinne mit dem Gesamtorganismus. Der Mensch lebt viel mehr in der Außenwelt, das Tier lebt viel mehr in seiner eigenen inneren

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Welt. Indem der Mensch sich seiner sinnlichen Werkzeuge be­dient, lebt er viel mehr in der Außenwelt.

Nun bedenken Sie, jetzt leben wir im Zeitalter der Bewußtseins­seele. Was bedeutet das? Das bedeutet, wie ich Ihnen jetzt einige Male ausgeführt habe, daß wir gerade vorrücken dazu, daß im Bewußtsein nur die Spiegelung, nur Spiegelbilder vorhanden sind, da das Zeit­alter der Bewußtseinsseele auch das Zeitalter des Intellektualismus ist. Das Abstraktionsvermögen so rein als eine Kunst auszubilden, das tut man eigentlich erst im Zeitalter des Intellektualismus. In diesem Zeit­alter des Intellektualismus und Materialismus, da bildete man die ab­straktesten Begriffe aus.

Nun können wir uns zwei Leute denken; der eine ist ein gut ge­schulter Philosoph, so gut geschult, wie es katholische Theologen sind. Dieser eine müßte eigentlich von seinem Gesichtspunkte aus etwas sagen, was er aber nicht sagen wird, weil er die Bescherung sieht, daß aus der jahrhundertealten Entwickelung des Christentums sich der Materialismus herausentwickelt hat, und das ist ihm unan­genehm. Aber er müßte eigentlich sagen: Dieser Mensch im Zeitalter der Bewußtseinsseele kann am besten abstrakte Begriffe bilden, er hat sich also am meisten über das Tier erhoben.

Es kann aber auch der Geisteswissenschafter kommen und sagen: In diesem Zeitalter der Bewußtseinsseelenentwickelung ist das Cha­rakteristische für den Menschen gerade das, daß er die Fähigkeit, ab­strakte Begriffe auszubilden, ganz besonders stark entwickeln kann. - Wohin kommt er dadurch? Er kommt gerade dadurch in die Tierheit zurück. Und das erklärt ungeheuer vieles. Das erklärt Ihnen, warum auch der Hang des Menschen, sich möglichst dem Tiere zu nähern, gerade dadurch entsteht, daß man in die Abstraktionen der Begriffe hineinkommt. Das erklärt Ihnen aber auch etwas, was vielfach in der Lebenspraxis und Lebensführung heute auftritt. Die Wissenschaften werden immer abstrakter und abstrakter, und im sozialen Leben kommt der Mensch immer mehr dazu, so leben zu wollen, wie eigent­lich das liebe Vieh lebt, nämlich nur für die alleralltäglichsten Hunger- und sonstigen Bedürfnisse zu sorgen. Den inneren Zusammenhang zwischen Abstraktionsvermögen und Tierheit, den zeigt die Geisteswissenschaft

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auf. Diesen inneren Zusammenhang, den macht der Mensch unter allen Umständen als Erlebnis im Zeitalter der Bewußt­seinsseelenentwickelung durch. Wird er gehindert in der vorher cha­rakterisierten Weise, so macht er ihn unbewußt durch. Es machen zahlreiche Menschen das durch, was in den Tiefen ihrer Seelen ihnen sagt: Du wirst ja dem Tiere immer ähnlicher; gerade indem du vor­wärtskommst, wirst du immer mehr dem Tiere ähnlich. - Das ist der Schreck, den die Menschen bekommen vor dem Vorschreiten auf der Bahn. Das ist es auch, was die Menschen veranlaßt, so gerne bei alten Begriffen konservativ zu verweilen.

Darf das sein? Darf dieses unbewußte Sichtbarwerden der Tierheit am Hüter der Schwelle die Menschen abhalten vom Vorwärtsschrei­ten? Nein, das darf nicht geschehen; aber ein anderes muß eintreten. Indem man zurückschreitet im scheinbaren Vorwärtsschreiten, muß das Zurückschreiten so geschehen, daß es nicht, wie es unbedingt sein würde, wenn man nur das Abstraktionsvermögen ausbilden würde, einfach stattfindet so hin und her: da würde man bei früheren Stufen der Menschheitsentwickelung ankommen, ja, man käme über­haupt bei der Vertierung an. Nein, zurückgeschritten muß werden, aber so, hin und her (es wird gezeichnet), daß eine Erhöhung statt­findet, und diese Erhöhung muß in das Geistige hineinführen.

Dasjenige, was wir verlieren, indem wir in die Abstraktion hineinschreiten, das müssen wir dadurch paralysieren, daß wir unsere ab­strakten Spiegelbilder mit Geistigem ausfüllen, daß wir das Geistige aufnehmen in die Abstraktion hinein. Dadurch kommen wir vor­wärts. Der Mensch ist vor dem Hüter der Schwelle, sei es bewußt oder unbewußt, vor die furchtbare Entscheidung gestellt: entweder durch die abstrakten Begriffe nur «tierischer als das Tier» zu werden und «in jeden Quark seine Nase zu begraben», um mit Goethes «Faust »zu sprechen, oder aber in dem Augenblicke, wo er in die Abstraktion eintritt, in diese abstrakten Begriffe dasjenige hineinzugießen, was aus geistigen Welten herausströmt, so wie wir das in diesen Tagen cha­rakterisiert haben. Dann beginnt der Mensch seine Stellung innerhalb der Welt erst richtig zu würdigen, denn dann faßt er sich auf als in der Entwickelung begriffen, dann weiß er, warum ihm in einem bestimmten

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Punkte dieser Entwickelung die Gefahr droht, herunterzusinken in die Tierheit gerade durch die Abstraktionen. Als der Mensch auf der Tierstufe stand in primitiven Kulturperioden, da unterschied er sich durch seine Sinne von den Tieren, nicht durch seine abstrakten Begriffe. Die abstrakten Begriffe hatten die Tiere besser. Er kann diese abstrakten Begriffe erst heute zur Not entwickeln. Die Tiere haben sie viel besser. Ich habe es einmal ausgeführt durch ein anderes Beispiel, indem ich Ihnen sagte: Wie lang ist es denn her, daß in der geschicht­lichen Entwickelung der Mensch versucht hat, Papier zu machen? Die Wespe macht ihr Nest aus Papier, die kann es seit Jahrmillionen! Und sehen Sie sich an, was aber in wirkendem, waltendem Verstand an Kiugheit, an Intellektualität, an Abstraktionsvermögen durch die Tiere zutage tritt, wenn auch durch die verschiedenen Tiere in ein­seitiger Weise. Man nennt es törichterweise Instinkt. Aber wenn man die Sache durchschaut, so weiß man: Die weitaus wenigsten Menschen sind heute mit dem, was sie an Abstraktionsvermögen haben, so weit, daß sie etwa über die Einseitigkeiten der heutigen Tierklassen mit dem, was sie aus ihrem Abstraktionsvermögen bereiten, hinaus wären. Vor diese wichtige Entscheidung also ist der Mensch gestellt: ent­weder zur Tierheit zurückzukehren in sehr starkem Maße, tierischer als jedes Tier zu sein, um den mephistophelischen Ausdruck im «Faust» zu gebrauchen - Ahriman-Mephistopheles möchte ja das im Menschen, mit dem Menschen erreichen -, oder aber das Spirituelle aufzunehmen.

Es ist schon eine gewisse Intensität des Vorstellens notwendig, wenn man heute wissen will, was eigentlich im Werdegang der Zeit, in den zeitlichen Notwendigkeiten den Menschen vorgezeichnet ist. Da muß man schon sehr, sehr tief hineinschürfen in das Weltenwer­den, da muß man es auch nicht scheuen, sich durch geisteswissen­schaftliche Begriffe vorzubereiten für die schwierigeren und die Wirk­lichkeit tragenden Begriffe. Denn natürlich, wenn einer so etwas, wie ich es heute gesagt habe, das erste Mal hört, wird er sagen: Das ist ja die reine Verrücktheit! - Das ist begreiflich. Aber man könnte sich auch vorstellen, daß jemand sehr vieles von dem, was die «Geschei­ten» seit Jahren gemacht haben, als eine große Verrücktheit ansieht,

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und er könnte sehr große Mehrheiten für verrückt halten; dann aber könnte er auch begreiflich finden, warum diese sehr großen Mehr­heiten ihn, als einen Abweichenden, für verrückt halten. Denn in einer Gesellschaft von Verrückten wird gewöhnlich nicht der Ver­rückte, sondern der Gescheite für verrückt gehalten.

Der Mensch lernt dadurch aber überhaupt befruchten sein ganzes Anschauen der Welt. Und er lernt gerade das befruchten, was ihn in Wirklichkeit vom Tiere schon immer unterschieden hat. Es ist ja der Mensch im Grunde genommen recht unaufmerksam auf seine eigenen Fähigkeiten, und er wird immer unaufmerksamer werden, wenn er im Zeitalter der Bewußtseinsseele nur die Intellektualität ausbildet. Wenn man zurückgeht in frühere Zeiten, findet man bei sinnreichen Menschen noch sehr häufig, daß sie auch einen gewissen Sinn hatten für die Umgebung. Wenn man die Vorstellungen nimmt, die sich frühere Menschen über gewisse Tiere zum Beispiel bildeten, so sind diese oft sinnreich. Die Vorstellungen der heutigen Zoologiebücher sind manchmal vom Standpunkte der Abstraktionsbildung aus ja ganz brav und recht anerkennenswert, aber sinnreich sind sie nicht. Vor allen Dingen möchte ich Sie einmal fragen, ob unter den Vorstellun­gen, die Sie heute in der Schule aufnehmen, wirklich solche sind, die Sie sinnvoll hereinführen können, sagen wir in das Leben der Tiere? Sehen denn heute die Menschen noch, hinschauend über eine große Anzahl von Tieren, den ängstlichen Blick, mit dem ganze Scharen, ganze Gruppen von Tieren in die Welt schauen, den furchtsamen, ängstlichen Blick? Oh, wir werden ihn wieder sehen lernen, wenn wir durch das Abstraktionsvermögen nur so weit gekommen sind, daß es uns zum Hüter der Schwelle getrieben hat, daß wir wiederum Mit­gefühl entwickeln können mit dem Tiere! Nicht jenes Mitgefühl, das heute oftmals künstlich anerzogen wird, sondern das einem elemen­taren inneren Erleben entspricht. Man kann sagen: Über die gesamten höheren Tiere, die gesamten warmblütigen Tiere, breitet sich aus ein eigentümliches Ängstlichsein, ein ängstliches Hineinschauen in die Welt. Ich ging einmal mit einem Manne, der akademisch gebildet war, und wir sahen von einem gewissen Punkte des Weges aus Rehe, Hirsche, die vor allem möglichen davonliefen. Da sagte dieser Mann

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zu mir: Da muß doch dem irgendwie zugrunde liegen, daß in alten Zeiten die Menschen die Tiere gequält haben, geschossen haben oder dergleichen, und dadurch haben sich die Tierseelen gewöhnt, sich vor dem Menschen zu fürchten. - Aber die Tiere fürchten sich ja auch vor anderem, nicht bloß vor dem Menschen.

Also man versucht zu erforschen, warum sich gewisse Tiere fürch­ten. Das braucht man nicht zu erforschen. Das Fürchten ist nämlich eine ganz generelle, allgemeine Eigenschaft der Tiere. Wenn sich manche Tiere nicht fürchten, so beruht das gerade auf Abrichten und Gewöhnen in irgendeiner Weise. Das Fürchten ist dem Tiere ganz eigen aus dem Grunde, weil das Tier in hohem Maße die Fähigkeit der Abstraktion hat, die abstrakten Begriffe. In denen lebt das Tier. Die Welt, die Sie sich erwerben, wenn Sie lange studieren, wenn Sie lange abstrahiert haben, das ist die Welt, in der das Tier lebt; und die Welt, in welcher der Mensch hier auf der Erde durch seine Sinne lebt, die ist dem Tier, trotzdem das Tier Sinne hat, viel unbekannter als dem Menschen, und vor dem Unbekannten fürchtet man sich. Das ist durchaus einer tiefen Wahrheit entsprechend. Das Tier sieht ängstlich in die Welt. Das hat eine gewisse Tragweite. Ich habe es neulich aus­gesprochen in einem Aufsatz, den ich über das Ahrimanische und Luziferische im Menschenieben im letzten Hefte der Zeitschrift « Das Reich» geschrieben habe: Die Menschen fürchten sich vor dem geisti­gen Leben. - Wie kommt es denn, daß sie so in Furcht hineinkom­men? Es kommt davon her, daß sie jetzt an den Hüter der Schwelle heran müssen im Unterbewußtsein. Da stehen sie vor dieser Ent­scheidung, von der ich gesprochen habe. Da kommen sie dem Tiere näher. Das Tier hat Furcht. Durch die Furchtregion gehen die Tiere durch. So sind die Zusammenhänge. Und der Furchtzustand wird immer größer und größer werden, wenn die Menschen sich nicht ernstlich bemühen werden, diejenige Welt, die an sie herantreten muß, die spirituelle Welt, wirklich kennenzulernen, wirklich in sich aufzu­nehmen.

Es gibt nur noch einige ganz wenige Menschen in der neueren Zeit, bei denen sich durch die allgemeinen Wahnvorstellungen etwas von früheren, atavistischen Weltwirklichkeitsvorstellungen durchgestoßen

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hat. Wenn man das Tier im ganzen Zusammenhang mit der Natur­entwickelung betrachtet, wenn man sich seine Organisation dann an­sieht im ganzen Zusammenhang mit der Naturordnung, was ist denn eigentlich mit dem Tiere? Als die alte Mondenentwickelung vorhan­den war, da war in bezug auf die äußere Organisation noch keine Differenzierung eingetreten zwischen den höheren Tieren und dem heutigen Menschen. Die ist erst ein Ergebnis der Erdenentwickelung. Der Mensch hat die normale Erdenentwickelung mitgemacht, das Tier nicht. Das Tier ist gleichsam in der Mondenentwickelung vertrocknet. Es stimmt nicht zusammen seine Organisation mit der Erdenentwickelung. Wer das durchschaut - es haben es in der neueren Zeit eben wenige instinktiv durchschaut, Hegel unter anderem -, der beantwor­tet sich die Frage: Was ist denn eigentlich das Tier in bezug auf seine Organisationsform? - damit, daß er sagt: Die Natur wird krank, und die Krankheit der Natur ist das Tier, namentlich das höhere Tier. - In der tierischen Organisation waltet die Krankheit der Natur, die Krankheit der ganzen Erde. Das Krankwerden der Erde, das kranke Zutücksinken in die alte Mondenentwickelung ist die höhere Tier­heit; nicht so sehr die niederen Tiere, aber die höhere Tierheit. Das aber ist auch etwas, was dem Menschen in dem entscheidenden Augen­blicke unbewußt entgegentritt, wenn er an dem Hüter der Schwelle vorbeikommt, falls er es nicht bewußt will.

Und wenn Sie das, was ich Ihnen jetzt gesagt habe, zusammenhalten damit, wie ich Ihnen die Verteilung der Begegnungen mit dem Hüter der Schwelle in ihrer Differenzierung über den amerikanischen Westen, über die europäische Mitte, über den Osten vor einiger Zeit vor­getragen habe, wenn Sie das zusammenhalten, dann werden Sie sehen, wie man sich orientieren kann über das, was auf der Erde in der Menschheit geschieht, wenn man sich nur auf diese Dinge einläßt. Und läßt man sich auf diese Dinge ein, dann begreift man, daß der Mensch wirklich dazu kommen würde, endlich einmal anders zu den­ken über sich und auch über das Verhältnis zu seinen Mitmenschen. Die Frage sollten alle ernsteren Leute in der Gegenwart doch auf­werfen, die Frage, die sich an einen solchen Satz anschließen kann wie der erwähnte: «Daß ein furchtbares Schicksal der weißen Menschheit

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winkt, dies scheint mir unter allen Umständen gewiß, es sei denn, daß eine Periode supremer Weisheitsherrschaft sehr bald die der Leidenschaft und Wahnvorstellungen ablöst.» Wo diese Weisheitsvorstellungen zu finden sind, wie sie zu bekommen sind, darauf möchte nämlich die Geisteswissenschaft Antwort geben. Damit möchte sie aber auf die allerwichtigsten Fragen der Gegenwart Ant­wort geben. Und wenn jemand kommt, der so gründlich das, was der Gegenwart notwendig ist, empfindet, wie solch ein Mann, so kann man ihm sagen: Wenn du nicht weiter fürchten willst, daß der weißen Menschheit ein furchtbares Schicksal winkt, dann lasse dich ein auf eine geisteswissenschaftliche Betrachtung der Welt und ihrer Er­scheinungen!

Davon wolien wir dann morgen weiter reden.

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ZWEITER VORTRAG Dornach, 4. Januar 1919

Es ist vielleicht bedeutungsvoll, gerade anläßlich solcher Betrachtun­gen, wie wir sie nun pflegen, zurückzuschauen auf manches, was in früheren Zeiten mit dieser oder jener geistigen Strömung zusammenhing. Denn Sie haben ja gesehen: es handelt sich darum, daß die gei­stigen Ereignisse, die der physischen Welt zugrunde liegen, in der Gegenwart es selbst notwendig machen, daß der Mensch gewisser­maßen zu einer Neueinstellung komme mit Bezug auf die ganze Auf­fassung seines Verhältnisses zur Welt und zu der übrigen Menschheit. Wir haben ja schon gestern in dieser Beziehung auf manches hinge­wiesen, haben darauf hingewiesen, wie manches neu verstanden wer­den muß, was, scheinbar gut begründet, von da oder dort in das Geistesleben der Menschheit hereinleuchtet. Sie müssen sich ja klar darüber sein, daß, wenn mit Impulsen, die in solcher Art begründet sind, ernst gemacht wird, sich dann - so wie heute nun einmal der Verlauf des Lebens ist - gegen diesen Ernst und gegen diese Impulse überhaupt der Widerstand erhebt, der Widerstand des Hasses, der Widerstand des Neides, der Widerstand der Furcht, der aus der Klein­lichkeit der Menschen kommt, und so weiter. Nur das gründliche Verständnis der Dinge kann über die vielen Hindernisse hinweg­helfen, denen der Bekenner eines solchen geistigen Umschwunges ausgesetzt ist. Denn dieses gründliche Verständnis ist ja geeignet, der Seele auch Stärke zu geben, so daß diese Seele manchem ge­wachsen ist, was gerade gegen die ernstesten Bestrebungen im Weltengetriebe immer sich geltend gemacht hat. Und so wollen wir denn heute das gestern Gesagte durch manches andere noch ergänzen.

Ich habe gestern darauf hingewiesen, wie man durchaus - gerade wenn man auf geisteswissenschaftlichem Boden steht - objektiv sein kann gegen alle andern Geistesströmungen, wie man durchaus andere Geistesströmungen nicht zu verkennen braucht. Von diesem Ge­sichtspunkte aus habe ich gesagt, daß mit Bezug auf gewisse Punkte

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die Vertreter des katholischen Klerus bei manchen gegenwärtigen außerkirchlichen philosophischen, theologischen Auseinandersetzun­gen durch ihre Schulung den Nichtkatholiken überlegen sind. Gerade jetzt leben wir in einer Zeit, in der jeder, der mit Weltanschauungs-fragen ernst machen will, sich mit solchen Dingen auseinandersetzen sollte. Sowohl die Weltanschauungsströmungen wie auch die sozialen Strömungen der Gegenwart fordern dieses. Die Versuchungen, die gerade von gut geschulter Seite ausgehen, könnten nämlich zuweilen groß werden, und es könnte das, was da vorgebracht wird, dann nicht durchschaut werden, nicht erkannt werden in seiner eigentlichen Be­deutungslosigkeit gegenüber den größeren Forderungen der Gegen­wart, wenn man sich nicht auf eine ganz gründliche Betrachtung ein­läßt. Die Versuchungen, den Einwendungen gut geschulter Gegner geisteswissenschaftlicher Bestrebungen zu verfallen, sie sind in der Tat nicht gering in der Gegenwart. Allerdings, wenn die Menschen genügend Unterscheidungsvermögen hätten, wenn sie sich bestreben würden, einzugehen auf die Tatsache der Begründetheit, der breiten Begründetheit dieser Geisteswissenschaft, so würden sie solchen Ver­suchungen wenig ausgesetzt sein. Aber solches Unterscheidungsver-mögen ist ja nur selten. Was als Geisteswissenschaft sich in die Welten-strömung einfügen will, so wie wir das auffassen, das erklärt ja man­cherlei Angriffe, und erklärt auch Angriffe gerade von dem Gesichts­punkt des katholischen Bekenntnisses zum Beispiel. Aber notwendig ist es schon, sich mit solchen Dingen zu befassen aus dem Grunde, weil in dem Chaos, das hereinbrechen wird, und das leider die Men­schen viel zu wenig würdigen, viel zu wenig beachten, weil in diesem Chaos auch mancherlei, was von katholischen Bekenntnisinhalten aus­geht, verwirrend stehen wird.

Nun möchte ich Sie heute bekanntmachen mit der Richtung des Urteiles, das so ein richtiger katholischer Bekenner gegen das eine oder andere in der Geisteswissenschaft schon vorbringen kann, wenn er voraussetzen kann, daß er unverständige Leser oder Zuhörer findet. Einer der gebräuchlichsten Einwände gegen die hier gemeinte Geistes­wissenschaft ist ja der, daß sie Pantheismus sei. Einer der Hauptein-wände, die zum Beispiel gemacht wurden in den Aufsätzen des

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Jesuiten Zimmermann in den «Stimmen der Zeit», ist der, daß diese Geisteswissenschaft Pantheismus sei.

Sie wissen, ich habe über diesen Punkt öfter gesprochen; Sie wis­sen, wie ich charakterisiert habe, daß gerade der banale Pantheismus, der so viele Kreise in der Gegenwart beherrscht, im Ernste nur über­wunden werden kann durch das Eintreten in die konkrete geistige Welt, von der die Geisteswissenschaft spricht. Natürlich ist es auf sol­cher Seite, von der die genannten Einwände kommen, nicht beab­sichtigt, der wirklichen Wahrheit auf den Grund zu gehen, vielmehr ist es ihr Bestreben, mit Berechnung alles dessen, was als Vorurteile innerhalb einer gewissen Bekenntnisanhängerschaft lebt, solche Dinge vorzubringen, die eine gewisse Suggestions- und hypnotisierende Wirkung haben. Pantheismus wäre ja die Anschauung, daß in alledem, was sich als Natur ausbreitet, was sich überhaupt als Erscheinungswelt ausbreitet, das Göttliche lebe, daß gewissermaßen die Natur selber als eine unmittelbare Offenbarung des Göttlichen anzusehen sei. Gerade gegen diesen verwaschenen Pantheismus, der nur immer davon spricht, es breite sich die Erscheinungswelt aus und hinter ihr sei Geist, Geist, Geist, habe ich mich immer gewandt. Ich habe immer darauf aufmerksam gemacht, wie dies das gleiche ist, wie wenn je­mand auf dem physischen Plan nicht eingehen wollte darauf, daß da Tulpen und Rosen und Lilien sind, sondern nur Pflanzen, Pflanzen, Pflanzen! - Geisteswissenschaft geht eben auf die einzelnen konkreten geistigen Wesenheiten ein, spricht nicht in pantheistischer Weise im allgemeinen vom Geiste. Ein anderes Charakteristikon des Pantheis­mus ist dieses, daß man sagt: Der Pantheismus will die äußere Natur­welt nicht trennen von dem Göttlich-Geistigen, er will beide mitein­ander vermischen. - Nun, man muß schon Jesuit sein, um sich den An­schein zu geben, daß man den Glauben hat, da, wo so gesprochen wird von der konkreten Stellung der in sich selber individualisierten, in sich selber persönlich und überpersönlich bestehenden Wesenheiten der höheren Hierarchien, könne von einer Vermischung dieser gan­zen Welt der Hierarchien mit der äußeren Natur die Rede sein. Wer wirklich denken kann, wird mit dem Vorwurf des Pantheismus gegen-über einer solchen Charakteristik der Hierarchienwelt und ihrer einzelnen

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Wesenheiten gegenüber der Natur überhaupt nichts anfangen können.

Bleibt noch das einzige, was nun in jenen Aufsätzen in den «Stim­men der Zeit» besonders hervorgehoben wird, daß davon gesprochen wird - was in der katholischen Kirche als häretisch gelten soll - inner­halb meiner Geisteswissenschaft, daß in der Seele des Menschen das Göttliche lebt, daß die Seele des Menschen selber ein Tropfen in dem Meere des Göttlichen ist. Solche und ähnliche Aussprüche werden da zusammengestellt, und die werden hingesteilt als Ketzereien inner­halb des katholischen Bekenntnisses.

Also es wird darauf hingewiesen, wie die Lehre, daß in der Seele unmittelbar ein Göttliches leben soll, ketzerisch und zu verdammen sei. Ein vernünftiger Mensch könnte gewiß sagen: Es ist nicht not­wendig, daß du mich erst aufmerksam machst auf solche Torheiten. -Aber darauf kommt es nicht an; darum handelt es sich nicht. Sondern es muß sich darum handeln, daß diese Dinge eine reale Rolle spielen in der Welt, daß diese Dinge da, wo man täuschen will, eine ganz gewal­tige Rolle spielen werden, und daß man schon aufmerksam sein muß auf diese Dinge. Sie hängen aber mit noch anderem zusammen. Und nun wollen wir einmal absehen von dem oder jenem wirklich gemachten Angriffe, sondern wir wollen uns einmal vor die Seele führen, wie jemand, im Jesuitismus lebend, der entweder stumpf gemacht ist in bezug auf das eigene Nachdenken, oder der bewußt darinnen lebt -das heißt, der also weiß, daß er für sich selber ja über die Dinge nicht nachzudenken braucht, sondern daß er nur im Sinne des offiziell an­erkannten Bekenntnisses die Gläubigen zu beurteilen hat, sei es so oder so, und führen wir uns einmal vor Augen, wie die Auseinander­setzungen eines solchen Menschen gegenüber dem geisteswissen­schaftlichen Wege selbst beschaffen sein können. Ich sage Ihnen da also nichts anderes, als - die Durchschnittsmeinung möchte ich nicht sagen, weil Meinung da nicht richtig am Platze ist - die Durchschnitts­aussage eines offiziellen Vertreters der römisch-katholischen Kirche gegenüber dem Wege der Geisteswissenschaft, wie er von einem Be-kenner von heute gegangen wird.

Der würde etwa sagen: Ja, auf solchem Wege, wie er von der Geisteswissenschaft

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zur Erringung der übersinnlichen Einsichten an­empfohlen wird, auf solchem Wege darf der katholische Christ nicht gehen. Denn alle Kirchenväter und Kirchenlehrer - so wird der jetzige Kleriker etwa sagen - verdammen einen solchen Weg. Ein solcher Weg führt ja dazu, daß der Mensch in sich besondere Fähigkeiten hervorrufen soll, um in die übersinnliche Welt hinaufzukommen. Das aber ist ketzerisch, das darf überhaupt nicht angestrebt werden. Alles, was angestrebt werden darf von einem rechtgläubigen Katholiken, ist das, was die Kirchenlehrer als die « rechtmäßige Beschauung» gelten lassen. Diese rechtmäßige Beschauung, die läßt ja der gegenwärtige römisch abgestempelte Kleriker gelten. Was versteht er darunter?

Sie werden sich einen Begriff machen können von dem, was er dar­unter versteht, wenn Sie unterscheiden zwischen zweierlei Gaben, die im Sinne der rechtgläubigen katholischen Kirche der Mensch, der gläubige Katholik haben kann. Die eine von den Gaben sind die so­genannten Gratiae gratis datae, die übernatürlichen Gnadengaben, könnte man sagen, die Charismen. Die andern Gaben sind diejenigen, welche man nennen kann die allgemein-menschlichen Gaben. Die außerordentlichen Gaben, die Charismen, sind als eine besondere Gnadengabe außerordentlichen Menschen verliehen, dürfen aber auch nicht angestrebt werden, so befiehlt die Kirche. Als Beispiel würde etwa angeführt werden die Jungfrau von Orléans. Dagegen darf an-gestrebt werden eine gewisse Erhöhung des allgemeinen Seelen­lebens, die aber den Menschen nicht zu außerordentlichen Fähigkei­ten bringt, sondern nur zu einer Steigerung der allgemeinen mensch­lichen Fähigkeiten. Eine solche Steigerung der allgemeinen mensch­lichen Fähigkeiten bewirkt jedoch, daß jeder Mensch - so sagt die heutige römisch-katholische Kirche - in die Lage kommen kann, von dem Heiligen Geiste durchdrungen zu werden.

Also sagen wir so: Der gewöhnliche Sterbliche denkt etwas, oder fühlt etwas, oder tut etwas. Er ist nach dem Gebote der Kirche, nach dem Gebote des Staates verpflichtet, diese Dinge so und so zu tun; er kann sich bemühen mit seinem gewöhnlichen sterblichen Nach­denken seine Handiung kirchengemäß, staatsgemäß - das heißt ja dann im Sinne der Kirche gottesgemäß - auszuüben. Aber er kann

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auch bemerken, wenn er sonst ordentlich ist als katholischer Christ, daß der Heillge Geist öfter eingreift in sein Handeln, Denken, Fühlen, und daß er dann gewisse Tugenden, die ihm sonst Schwierigkeiten machen, leichter ausführt, weil der Heilige Geist in ihm wirkt. Das darf aber nicht etwa so angestrebt werden, als wollte der Mensch über den gewöhnlichen Status des menschlichen Strebens hinausgehen und besondere Fähigkeiten entwickeln, um in die übersinnliche Welt ein­zudringen. Alles solches Streben ist verwerflich.

Nun, damit habe ich Ihnen charakterisiert, was ein richtig abge­stempelter römisch-katholischer Kleriker einwenden würde gegen das­jenige, was zum Beispiel in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höhe­ren Welten?» steht. Er würde sagen: Da sind besondere Fähigkeiten angestrebt, die ihn in den Stand setzen sollen, sich mit der geistigen Welt in einer gewissen Weise zu vereinigen. Das darf er aber nicht. Er darf nur rein passiv sich verhalten, bis er bemerkt, daß in sein Gemüt herein die Impulse des Heiligen Geistes kommen und nicht eine qua­litative Änderung seines Verhaltens bewirken, sondern nur eine Stei­gerung, gewissermaßen eine Erleichterung im Tugendhaftsein, eine Erleichterung in den andern Fähigkeiten, die der Mensch auf dem äußeren physischen Plane ausübt.

Das können Sie heute nicht nur gegen unsere Geisteswissenschaft, sondern Sie können das lesen gegen alle Bestrebungen, die daraufhin-auslaufen, daß der Mensch anstreben will, aus sich heraus einen sol­chen Menschen zu erzeugen, der eine geistige Welt um sich herum ebenso erblickt, wie der physische Mensch mit seinen physischen Sin­nen eine physische Welt um sich herum erblickt. Das ist auch allen denjenigen geläufig, die da glauben, auf dem ganz festen Boden des von Rom aus diktierten christlichen Glaubens zu stehen. Und im weitesten Umkreise wird derjenige heute als ein Ketzer angesehen, der anders über diese Dinge denkt, als ich es Ihnen eben charakteri­siert habe. Man muß sich, wenn man so etwas bespricht, immer klar­machen, daß diese Dinge eine reale Rolle spielen in der Welt, daß diese Dinge auf Millionen von Menschen heute noch immer einen ungeheuren Einfluß haben. Man muß nicht so egoistisch sein, zu mei­nen, weil man selbst mit diesen Dingen glaubt fertig zu sein - aber

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auch nur glaubt fertig zu sein -, brauche man sich nicht darum zu kümmern. Das gerade ist der große Schaden der Gegenwart, nament­lich auch mit Bezug auf die soziale Bewegung, daß die Menschen so egoistisch sind, daß sie nur immer auf die Bedürfnisse der eigenen Seele sehen und nicht hinblicken wollen auf das, was Mensch mit Mensch verbindet, auf das, was durch Millionen und Millionen von Menschen als treibender Impuls geht, und was dann, wenn es zur rechten Zeit hervorbricht, dies oder jenes überfluten kann, was in dieser oder jener Form so auftritt, wie jetzt eben die Dinge auftreten in der Welt. Es ist heute notwendig, auch über die Quellen dieser Dinge und über die notwendige Stellung zu diesen Dingen sich auf­zuklären.

Nun berufen sich in der Regel die in Rom abgestempelten Kleriker auf die Kirchenlehrer. Sie gehen zurück auf die Kircheniehrer frühe­rer Jahrhunderte und leiten aus deren Aussagen das ab, wovon sie glauben, daß es übereinstimme mit dem, was ich Ihnen eben charakte­risiert habe. Nun kann ich Ihnen ja natürlich nicht stundenlange Vor­lesungen halten über die Lehre der Kirchenlehrer, aber ich möchte Sie doch auf einiges in dieser Richtung aufmerksam machen, nament­lich darauf, welche Stellung der Mensch des Bewußtseinszeitalters, das mit dem 15. Jahrhundert begonnen hat, zu diesen Dingen ein­nehmen kann.

Erstens also müssen wir ins Auge fassen, daß der Weg in die gei­stige Welt, wie ihn die Geisteswissenschaft meint, für ketzerisch ge­halten wird. Das sagen die heute rechtmäßig römisch abgestempelten Kleriker. Zweitens müssen wir beachten, daß der Vorwurf erhoben wird, Geisteswissenschaft spreche davon, daß der Mensch des Gött­lichen teilhaftig werden könne in seiner eigenen Seele, und das sei ketzerisch, wie wiederum die in Rom abgestempelten Kleriker des Katholizismus heute sagen.

Wollen wir einmal genauer ansehen, was ein äußerlich - aber nicht innerlich, wie wir gleich nachher sehen werden - sehr anerkannter Kirchenlehrer, äußerlich sehr auch von Rom anerkannter Kirchen-lehrer, über so etwas sagt, wie die Beschauung, von der ich Ihnen ja einiges Charakteristische vorhin angeführt habe. Johannes vom Kreuz

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spricht zum Beispiel über dasjenige, was Beschauung werden soll für den rechtmäßigen, christlich-katholischen Gläubigen, der durch diese Beschauung über den bloßen, allgemeinen Kirchenglauben hinaus­kommen soll zu einer Art höherer Anschauung von dem Göttlichen, das die Welt durchpulst. Das erlaubt auch heute die katholische Kir­che, daß durch Beschauung der Mensch hinausgelangt über das, was nur allgemeiner Glaube ist. Aber sie verbietet, daß der Mensch hin­ausgelange zu übersinnlichen Fähigkeiten, Fähigkeiten, die in die übersinnliche Welt so hineinführen, wie die äußeren Sinne in die Sin­nenwelt hineinführen. Nun sagt der heilige Johannes vom Kreuz: Die Zeit ist gekommen - er meint die Zeit der Beschauung -, wo das Nachdenken und die Betrachtung, welche die Seele vorher mit ihren eigenen Kräften vornahm, nachgerade aufhören und sich die Seele der vormaligen Genüsse und fühlbaren Freuden beraubt sieht.

Also diesen Zustand gibt der heilige Johannes vom Kreuz zu, daß man schweigen läßt das gewöhnliche Nachdenken, wodurch man sich auseinandersetzt mit den Dingen des physischen Planes, die man durch die Sinne wahrnimmt und durch den Verstand begreift; daß man sich enthält also der gewöhnlichen Betrachtung, welche die Seele mit ihren eigenen Kräften vornimmt, daß auch die Genüsse, welche die Seele in solchen Betrachtungen und in solchem Verhältnis zur äußeren Natur hat, aufhören. Das gibt er zu.

Zu einem Zustand der Dürre und Trockenheit verurteilt - sagt er dann weiter -, kann die Seele nicht mehr Erwägungen mit ihrem Ver­stande anstellen. - Also indem man die Sinne verschließt, indem man den Verstand stillstehen läßt - das fordert er als Herbeiführung zur Beschauung -, kommt man mit der Seele in eine Art Dürre und Trok­kenheit. Dadurch kommt man eben zu jener Teilhaftigkeit mit dem göttlichen Wesen, die der heilige Johannes vom Kreuz für erlaubt hält. Also wenn die Seele nicht mehr Erwägungen mit ihrem Ver­stande anstellt, noch auch eine sinnliche Stütze findet, da bereichern sich nicht mehr die Sinne; den Nutzen hat der Geist, ohne daß er etwas von den Sinnen empfängt. Daraus ergibt sich, daß in diesem Zustande Gott der Haupthandelnde ist.

Also fassen Sie die Sache genau auf. Der heilige Johannes vom

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Kreuz sagt: Der Mensch kann das Nachdenken einstellen, die Auf­nahme von äußeren Wahrnehmungen durch die Sinne auch einstellen, die Seele kann passiv werden, die Seele tut von sich selbst aus nichts mehr. Dadurch wird Gott in der Seele der Haupthandelnde. Er selber unterweist die Seele und gibt ihr eine angemessene Erkenntnis mit. Er schenkt ihr in der Beschauung ganz geistige Güter, die Erkenntnis und Liebe Gottes zumal, ohne daß die Seele sich im Nachdenken übt oder andere Übungen vornimmt, die sie nicht mehr wie vordem ver­richten kann.

Nehmen Sie diese Worte eines auch heute in Rom als rechtmäßig anerkannten Kirchenvaters, des sogar heilig gesprochenen Johannes vom Kreuz, nehmen Sie diese Worte und stellen Sie sie gegenüber dem Vorwurf des Pantheismus, der gerade neulich gegen Geistes­wissenschaft erhoben worden ist, weil Geisteswissenschaft davon spreche, daß zum Beispiel das Seelenleben sich wie ein Tropfen ver­halte im Meere der Göttlichkeit, also selbst göttlichen Wesens sei, was nach den heute predigenden und gläubigen Klerikern ketzerisch ist. Aber der heilige Johannes vom Kreuz beschreibt die Möglichkeit, zu einem passiven Zustand der Seele zu kommen, wo das Nachdenken und das Sinnenwahrnehmen ausgeschlossen ist, und wo Gott in der Seele der Haupthandelnde ist, wo Gott, nach den Worten des Johan­nes vom Kreuz, der Seele in der Beschauung ganz geistige Güter schenkt, wo er selber die Seele unterweist und ihr eine eingegossene Erkenntnis mitteilt.

Nun frage ich Sie: Was sollen diese Worte für einen Sinn haben, wenn man jetzt behauptet, daß die menschliche Seele niemals in einen realen Zusammenhang mit dem göttlichen Wesen gebracht werden soll? Was soll es für einen Sinn haben, wenn Johannes vom Kreuz sagt: Gott ist in der Seele der Haupthandelnde - und es doch ketze­tisch sein soll, davon zu sprechen, daß des Menschen Seele mit Gott in einen unmittelbaren wissentlichen Zusammenhang gebracht werden soll? - Wenn man sagt, die Seele verhalte sich zu dem Gesamt-Göttlich-Geistigen wie der Tropfen im Meere, der gleicher Wesenheit ist mit dem gesamten Meereswasser, eben ein Tropfen aus dem Meere ist - dürfte das als unerlaubter Pantheismus aufgefaßt werden, wenn

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Wahrheit waltete, wenn doch gleichzeitig anerkannt wird, daß ein rechtmäßiger Kirchenvater, der heillge Johannes vom Kreuz, die Möglichkeit zugibt, daß Gott der Haupthandelnde in der mensch­lichen Seele wird! Dieses Faktum müssen Sie sich vor die Seele rük­ken, um zu erkennen, wie weit heute Wahrheit in den offiziellen Strö­mungen waltet: daß man sich gleichzeitig beruft auf solche Lehrer wie den heiligen Johannes vom Kreuz, der ja wahrhaftig mit noch viel deutlicheren Worten, nämlich um populär zu den Menschen zu spre­chen, einen «Pantheismus» lehrt - wenn man das Pantheismus nen­nen will - als die Geisteswissenschaft. Aber diese hält man für ketze­risch, und was tut man? Man läßt den heiligen Johannes vom Kreuz als maßgebenden Kirchenvater gelten, und betrügt die Leute, indem man ihnen sagt: Der Pantheismus ist nicht erlaubt. - Das heißt aber doch: Niemand darf behaupten, es sei ketzerisch, wenn man sagt, Gott sei in der Seele unmittelbar anwesend, so daß die menschliche Seele das wissen kann.

Nein, heute sollen die Leute nicht gedankenlos sein; sie dürfen nicht gedankenlos sein, wenn nicht noch größeres Unglück über die Menschheit hereinbrechen soll. Heute sollen sich die Menschen bewußt vorhalten können, daß eine solche Entstellung der Wahrheit offiziell durch die Welt geleitet werden kann.

Und ein anderer Ausspruch des heiligen Johannes vom Kreuz ist:

Die inneren Güter, die diese schweigende Beschauung der Seele ein-drückt, ihr selbst unbewußt, sind unschätzbar. Kurz, sie sind nichts anderes als die überaus geheimnisvollen und ungemein zarten Salbun­gen des Heiligen Geistes, der, da er Gott ist, als Gott handelt: Der Heilige Geist handelt als Gott in der Seele unmittelbar - sagt der heilige Johannes vom Kreuz; das ist katholisch gewesen zur Zeit des Johannes vom Kreuz, das heißt, vor dem Beginn des Bewußtseins-zeitalters - und wirkt und überflutet insgeheim die Seele mit Reich­tümern und Gaben und Gnaden in einem Maß, daß es nicht zu be­schreiben ist. - In der Beschauung - das ist ein anderer Ausspruch des heiligen Johannes vom Kreuz - ist man empfangend. - Und ein ande­rer Satz des heiligen Johannes ist der folgende: In der Beschauung ist es Gott, der da wirkt - in der Seele drinnen nämlich.

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Und nun frage ich Sie: Was soll es nun heißen, wenn irgendeiner von denjenigen, die heute über die Ketzerei schreiben, sagt, es sei ketzerisch, zu behaupten, Gott sei wesenseins mit der menschlichen Seele!

So liegen eben die Dinge. Aber so schläfrig sind die Menschen, daß sie heute gar nicht darauf achten, wie gewirtschaftet wird mit der Wahrheit. Daß eine so furchtbare Katastrophe in die Welt herein­gekommen ist, beruht aber letzten Endes doch darauf, daß man sich so wenig um dasjenige kümmert, was als Wahrheit durch die Welt ge­leitet wird. Darauf beruht es auch, daß die Wahrheit so gehaßt werden kann, wie sie heute noch immer von gewissen Leuten gehaßt wird.

Insbesondere bemüht sich heute der in Rom abgestempelte Kleriker immer wieder und wiederum zu betonen, daß kein Unterschied herr­schen sollte zwischen den gewöhnlichen Fähigkeiten, wie sie der Gläu­bige im Glauben entwickelt, und jener Steigerung des Glaubens, die in der Beschauung zum Ausdrucke kommt. Es soll kein Unterschied bestehen oder höchstens ein Gradunterschied, denn wenn ein wirk­licher Unterschied angestrebt werde, so sei das ketzerisch. Der heilige Johannes vom Kreuz sagt aber: Der Unterschied besteht darin, daß man beim Glauben nur dunkel sieht, in der seelischen Anschauung ihn - er meint Gott - aber unverhüllt schaut. - Das war dazumal katholisch, als der heilige Johannes vom Kreuz vor der Entstehung des Zeitalters der Bewußtseinsseele die Dinge niedergeschrieben hat. Aber was heute von diesen Dingen als Katholizismus herrscht, das ist der Schatten von dem, das ist nicht mehr das Licht. Eigentlich sehr schön für die damalige Zeit beschreibt Johannes vom Kreuz den mystischen Erkenntnisweg, den Weg ins tbersinnliche hinein, indem er sagt: Die enge Pforte, das ist die Nacht der Sinne. Um durch sie hindurchzugehen, muß die Seele sich von sich selbst frei machen und losschälen. - Für die damalige Zeit ist das so gesprochen, wie man heute nicht von Rom aus, aber in der Geisteswissenschaft spricht. Die Geisteswissenschaft ist die wirkliche Fortsetzung solcher edler Be­strebungen in die geistige Welt hinaus, wie sie bei Johannes vom Kreuz auftreten. Nur ist sie die Fortsetzung eben für die heutige Zeit. Sie rechnet mit dem Fortschritt der Menschheit.

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Die enge Pforte ist die Nacht der Sinne. Um durch sie hindurch­zugehen, muß die Seele sich von sich selbst frei machen und los-schälen. Und indem sie alsdann den Glauben, der mit den Sinnen nichts zu schaffen hat, sich zum Führer nimmt, wandelt sie auf dem engen Weg der zweiten Nacht zu der Nacht der Geister. Und sehr schön beschreibt der heilige Johannes vom Kreuz diese Vereinigung mit dem Göttlich-Geistigen: Die Vereinigung vollzieht sich, wenn die zwei Willen, jener der Seele nämlich und der göttliche Wille, gleich­förmig werden.

Man kann nicht deutlicher ausdrücken, daß ein göttlicher Wille da ist, der durch die Welt waltet, und ein Eigenwille der Seele, und beide ineinander aufgehen in der Beschauung. Das soli aber heute ketzerisch sein. Die Wahrheit würde man ehrlich vertreten, wenn man sagen würde: Der heilige Johannes vom Kreuz ist heute kein Heiliger mehr, sondern er ist ein Ketzer. - Das würde, wenn er seine Behauptungen aufrechterhalten wollte, der römische Kleriker verpflichtet sein zu sagen.

Also der heilige Johannes vom Kreuz sagt: Die Vereinigung voll-zieht sich, wenn die zwei Willen, jener der Seele nämlich und der gött­liche Wille, gleichförmig werden -, das heißt, wenn in dem einen nichts ist, was dem andern widerstrebt. Nun aber, auf dem Gebiete der rechtmäßigen römisch-katholischen Klerikerschaft ist man sehr darauf aus, den bloßen sogenannten Gläubigen und auch den niede­ren Klerikern den Weg zur eigenen Erkenntnis zu versperren. Daher weist man heute, obwohl man eigentlich solche Leute wie den Johan­nes vom Kreuz verleugnet, doch immer wieder und wiederum auf solche Menschen hin, wie Johannes vom Kreuz. Man weist darauf hin, daß Johannes vom Kreuz ja nur dann erlaubt hätte, daß man sich der Beschauung zuwendet, wenn den Menschen drei Zeichen dazu auffordern.

Das erste Zeichen, durch das die Seele sich aufgefordert fühlen könnte, sich der Beschauung, also der mystischen Beschauung zuzu­wenden, das wäre die Unfähigkeit, zu betrachten und sich der Ein­bildungskraft zu bedienen, der Widerwille gegen die äußere Betrach­tung. Also wenn die Seele Widerwillen empfindet gegen die Aufnahme

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der Sinneswahrnehmung und gegen das Nachdenken, so ist der Zeit­punkt gekommen, wo sie sich passiv hingeben darf dem Willen Gottes .

Das zweite Zeichen wäre die Wahrnehmung, daß man keine Lust mehr hat, die Einbildungskraft der Sinne mit besonderen äußeren und inneren Eindrücken zu beschäftigen. Also das erste, daß man müde geworden ist, das zweite, daß man keine Lust mehr hat. Das dritte innere Zeichen wäre die Empfindung der innersten Freude, die die Seele hat mit dem Alleinsein - also nicht mit dem Sinneswahrneh­men und Nachdenken - und mit der bloßen Aufmerksamkeit auf das Göttliche.

Nun, Sie werden nicht mit Verständnis lesen können, was in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» steht, wenn Sie nicht, allerdings abgestimmt auf unsere Zeit, sich sagen werden: Mit jenen drei Zeichen kann ich erst recht vollständig ein­verstanden sein. - Es ist gar nichts einzuwenden gegen diese drei Zei­chen. Man muß ihnen nur Verständnis im Sinne der unmittelbaren Gegenwart entgegenbringen. Betrachten wir einmal diese drei Zei­chen, die also der heilige Johannes vom Kreuz als diejenigen Zeichen betrachtet, auf die hin die Seele sich der mystischen Beschauung zu-wenden darf, also sich hinwenden darf zum Wege in die geistige, übersinnliche Welt hinein.

Das erste Zeichen wäre Unfähigkeit, zu betrachten und sich der Einbildungskraft zu bedienen, ein Widerwille gegen die Betrachtung. Wir müssen bedenken, diese Worte sind geschrieben in der Zeit, als das Bewußtseinszeitalter noch nicht angebrochen war. Nun bricht das Bewußtseinszeitalter über die Menschheit herein, nun kommen die Betrachtungen des Menschen über die Natur, so wie sie die neuere Naturwissenschaft darbietet. Man muß doch wirklich rechnen mit der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit. Man muß damit rech­nen, daß der heilige Johannes vom Kreuz nicht Menschen um sich hatte, die durchzogen und durchtränkt waren von denjenigen Vor­stellungen, die heute aus der Naturwissenschaft überall hinträufeln. Der heillge Johannes vom Kreuz hatte nur Menschen um sich, die gläubig in die katholische Kirche gingen, die ihre Weltanschauung von dem Glauben empfingen, der gepredigt wurde von den Kanzeln

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der katholischen Kirche. Zu denen mußte man anders sprechen als zu Menschen des 20. Jahrhunderts, welche durchtränkt sind von natur-wissenschaftlichen Anschauungen. Was heißt denn das eigentlich: durchtränkt von naturwissenschaftlichen Anschauungen? Alle Men­schen sind es heute, ob sie es zugeben oder nicht, bis zum letzten Bauern in die letzte Hütte hinein, wenn er nicht gerade ein Analpha­bet ist; und selbst Analphabeten sind heute schon in ihren Denk­formen von naturwissenschaftlichen Vorstellungen durchdrungen. Wer aber heute die Welt anschaut, wie man sie nach dem Sinn der heutigen Welt anschauen muß, der muß - weil die naturwissenschaft­lichen Vorstellungen ihm nur über das Tote berichten - zu der Ein­sicht kommen, wenn er ein lebendiges Erkenntnisbedürfnis hat, daß diese naturwissenschaftlichen Betrachtungen ihn unfähig machen, bei ihnen stehenzubleiben. Es tritt genau das ein, was der heilige Johan­nes vom Kreuz im ersten Zeichen beschreibt. Durch die naturwissen­schaftliche Vorstellungsart selbst ist dieses Zeichen erfüllt. Dazumal, als er schrieb, war es bei einigen erfüllt, heute ist es bei allen erfüllt, die überhaupt anfangen zu denken. Diesen Unterschied muß man in Betracht ziehen. Würde der heilige Johannes vom Kreuz heute schrei­ben, dann würde er sagen: Gewiß, dazumal mußte denjenigen Men­schen, die sich unfähig fühlten, äußerlich die Dinge zu betrachten und die Einbildungskraft in Bewegung zu setzen, die mystische Beschau­ung empfohlen werden. Heute sind alle, die nur den unfruchtbaren naturwissenschaftlichen Vorstellungen hingegeben sind, in einem be­stimmten Zeitpunkt unfähig, diesen Vörstellungen sich hinzugeben, namentlich dann, wenn sie Sehnsucht haben in ihrer Seele, überhaupt einen Weg zum Göttlich-Geistigen zu finden. Der heilige Johannes vom Kreuz sprach zu einigen wenigen Kandidaten; heute sind die Kandidaten alle denkenden Menschen. Das bedeutet gerade den Fort­schritt der Menschheit. Also es wird gerade heute das erfüllt, was der heilige Johannes vom Kreuz von dem Zeichen dann als erfüllt an­nimmt, wenn der im naturwissenschaftlichen Zeitalter lebende Mensch nun gerade jenen Drang fühlt.

Das zweite ist die Wahrnehmung, daß man keine Lust mehr hat, die Einbildungskraft der Sinne mit besonderen äußeren oder inneren

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Einbildungen zu beschäftigen. In dem Augenblicke, wo die Natur­wissenschaft nicht anders kann, als dem Menschen nur eine Betrach­tung geben, eine Anschauung darüber, wie er sich aus der Tierheit herauf entwickelt hat, da entsteht doch wahrhaftig in der Seele die Wahrnehmung, daß man keine Lust mehr hat, bloß das zu betrach­ten, was in der äußeren Welt die Sinne offenbaren! Die offenbaren eben, daß der Mensch von der Tierheit abstammt; da hat man keine Lust mehr. Da wendet man sich dann, weil die Zeit eingetreten ist -dazumal nur für einige, jetzt für alle denkenden Menschen -, gerade im Sinne des Johannes vom Kreuz zu dem, was Entwickelungs­anschauung ist, nämlich zu dem Weg in die geistige Welt hinein.

Das dritte ist das Erleben der Freude in der Empfindung, im Inner­sten der Seele, im Alleinsein in der Aufmerksamkeit auf Gott. Nun, diese innigste Freude wird ganz gewiß jeder empfinden, der in diesem naturwissenschaftlichen Zeitalter nur diejenigen Begriffe aufgenom­men hat, welche die Naturwissenschaft ihm bietet, sobald er den Weg finden kann in die übersinnliche Welt hinein.

Wiederum stehen wir vor der Tatsache, vor der bedeutsamen Tat­sache, daß gerade neuere Geisteswissenschaft so recht das erfüllt, was für seine Zeit in seinem Sinne solch ein Mensch wie Johannes vom Kreuz forderte. Nur schreitet der Strom der Entwickelung weiter, und heute nimmt sich die Erfüllung anders aus, als sie sich dazumal ausgenommen hat. Es kommt etwas anderes noch dazu. Wer heute hineinschaut mit ehrlichem Wahrheitssinn in die Menschheitsentwik­kelung, der sagt sich: Weil wir eingetreten sind in das naturwissen­schaftliche Zeitalter, muß der Sinn für übersinnliche Erkenntnis in den Menschen wachgehalten werden. Es werden einfach solche For­derungen wie die des Johannes vom Kreuz erfüllt, wenn der Mensch heute den Weg betritt, der vorgezeichnet wird zum Beispiel in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Betritt er aber heute diesen Weg, dann offenbart sich ihm nicht das, was sich in jener Zeit geoffenbart hat, als der heilige Johannes vom Kreuz geschrieben hat, sondern es offenbart sich dem Menschen das, was heute im Wege der Menschenentwickelung liegt. Und da kann man dann nicht mehr so sprechen, wie bloß im Sinne des positivistischen Christentums der

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heilige Johannes vom Kreuz gesprochen hat. Denn es liegt die ernste Tatsache vor, auf die wir gestern und schon öfter hingewiesen haben: daß heute der Mensch entweder unbewußt oder bewußt in einer ge­wissen Beziehung an dem Hüter der Schwelle vorbeikommt. Da lernt er erkennen, wie er nicht nur von einem Einheitsgotte, sondern wie er von den göttlichen Hierarchien sprechen muß. Da lernt er erken­nen, wie er das Ahrimanische und Luziferische kontrastieren muß mit den göttlichen Hierarchien. Aber wie die katholische Kirche bis zum Jahre 1827 die Menschen abhalten wollte, an den Kopernikanismus zu glauben, so will sie heute die Menschen abhalten, in die wirklich von der Zeit notwendig geforderten übersinnlichen Erkenntnisse ein­zutreten. Warum? Weil sie nicht will, daß die Menschen aufmerksam werden auf das, was aus geistigen Höhen in die Menschheitsentwicke­lung hineinströmen will.

Gewiß, es mag auch einige geben und es gibt einige, die in gewis­sem Sinne ehrlich das Folgende sagen: Der Mensch ist ja heute wirk­lich nicht vorbereitet, mit seiner Seele unmittelbar dem entgegenzu­treten, was aus der geistigen Welt hereinkommt; das gereicht ihm nur zum Unheil. Er kann dann, wenn er vor den Hüter der Schwelle hin-tritt, Täuschung nicht von Wirklichkeit unterscheiden. Also machen wir ihm möglichst graulich davor, selber sich auf den Weg des Geisti­gen zu begeben, damit er nicht gefährdet werde. - Es mag solche Leute geben, sie rechnen nicht mit den Notwendigkeiten der Zeit, sie rechnen mit einer eingeschränkten, bornierten Vorstellung, aber sie können vielleicht ehrlich sein. Aber die Mehrzahl derer, die solche Dinge sagen wie, daß man sich nicht auf den Weg der übersinnlichen Erkenntnisse heute begeben dürfe, die meinen die Dinge nicht so. Von den verschiedensten Seiten wird aus einem gewissen Angstgefühl gegen die Wahrheit das Hereinfluten dieser Wahrheit zurückgehalten. Dieses Angstgefühl, das haben weithin ausgedehnte Kirchenbekennt­nisse in ihren offiziellen Vertretern; das haben aber auch gewisse maurerische und ähnliche Gesellschaften. Ich habe von einem andern Gesichtspunkte schon darauf aufmerksam gemacht. Auch da gibt es innerhalb dieser Gesellschaften einige Leute, die ja von ihrem Ge­sichtspunkte aus ehrlich sind; aber die Kraft, mit der sie den Fortschritt

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der Menschheit aufhalten, die ist furchtbar stark. Da liegt näm­lich das Folgende vor. Da sind Leute, besonders in den Hochgrad­orden, die sagen: Der Mensch ist in der Regel nicht recht reif dafür, daß ihm die geistige Welt unmittelbar vorgeführt wird, daher halte man ihn von dem unmittelbaren Eintritt in die geistige Welt zurück. Man lasse ihn nicht eintreten, man lasse ihn nur herankommen an die Ausübung der in gewissen alten Rituallen vorgeschriebenen Zeremo­nien. Man verweise ihn an allerlei Symbole, die ihn nicht unmittelbar in die geistige Welt einführen, nur symbollsch die Sache vorführen, aber auch da womöglich an Symbole, die ein recht großes Alter haben. - Ich habe Ihnen ja gesagt, daß in dieser Beziehung gewisse maurerische Orden, nun sagen wir, es im Gegensatze mit dem Lieb­lingsimpuls der meisten Damen halten. Die meisten Damen sind näm­lich gerne jung, die meisten maurerischen Gesellschaften sind gerne so alt wie möglich! Da weist man möglichst auf ein uraltes Ritual hin oder auf uralte Traditionen. Nicht immer, obwohl sehr häufig, ist das unwahrhaft gemeint; aber es ist manchmal schon ehrlich gemeint, wenn man sagt: Die Rituallen, die uralt sind, können, wenn sie heute vor den Menschen vollzogen werden, sie nicht mehr gefährden, denn sie sind abgebraucht, sie sind erstarrt, sie sind nur noch die Schatten dessen, was sie gewesen sind. Und außerdem haben ja die Menschen­seelen so lange mit diesen Ritualien gelebt beziehungsweise mit den Symbolen und mit dem, was sie darstellen; sie haben sich daran ge­wöhnt: sie werden nicht mehr schockiert von dem Eindruck einer unmittelbar erlebten Wahrheit. Mache man die Leute mit recht Altem bekannt, was nur noch seinem Schatten nach vorhanden ist, dann werden sie weniger gefährdet.

Alle diese Dinge mögen ja vertreten werden, aber sie müssen ab­fallen vor der Notwendigkeit, die heute durch die Zeitenwende geht. Das Unheil, das kommen würde, wenn der Mensch die hereinbre­chende geistige Flutwelle zurückstoßen würde, das würde größer sein als alles übrige Unheil. Die wirkliche Pflicht gegenüber allen Geistern der Welt, die mit der Menschheitsentwickelung zusammenhängen, ist die, den Menschen bekanntzumachen mit dem, was doch heute sich unbedingt im Unterbewußten, einfach durch die heutigen Weitgesetze,

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in der Seele eines jeden Menschen vollzieht. Im Zeitalter der Bewußt­seinsseele das hetaufzurufen ins Bewußtsein, das ist eine Notwendig­keit. Und auch mit Bezug auf das, was heute so gewaltig als soziale Forderungen auftritt, ist es notwendig, daß man heute kennenlernt, was eigentlich in den Menschenseelen vorhanden ist. Denn äußerlich wird das Dasein immer maskenhafter, immer bloß phänomenaler. Es ist durchaus die Möglichkeit vorhanden, daß man heute in seiner Seele so erlebt, daß man vorbeigeht an dem Hüter der Schwelle, aber durch den Materialismus der Zeit das Bewußtsein davon zurück-drängt. Aber was man zurückdrängt, was nicht bewußt wird, das ist doch deshalb nicht etwa nicht da; es ist trotzdem da. Irgendein Mensch geht hindurch durch den Hüter der Schwelle - aber durch die Zeitbildung drängt er das zurück. Das, als was es sich dann darstellt, das kann etwas ganz anderes sein. Es können die Taten Lenins sein, es können die Taten irgendeines Spartakusmenschen sein. Darauf muß man aufmerksam sein in der Gegenwart, daß wir in dem Zeitalter angekommen sind, wo durch die Täuschungsimpulse des Materialis­mus in einer die Menschheit in schlimmster Weise gefährdenden Art Durchgänge durch gewisse geistige Impulse sich äußerlich maskieren können.

Ernst ist die Zeit. Aber allem Ernst wird wirklich Rechnung ge­tragen, wenn man bloß den ehrlichen Willen hat, mit seinem gesunden Menschenverstand auf die Interpretation dessen einzugehen, was durch eine wirkliche Geisteswissenschaft herausgeholt werden kann aus der geistigen Welt. Davon wollen wir dann morgen weiter sprechen.

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DRITTER VORTRAG Dornach, 5. Januar 1919

Sie werden aus den gestrigen Betrachtungen ersehen haben, wie leicht der ganze Entwickelungsgang der Menschheit mißzuverstehen ist, und wie er insbesondere von vielen Seiten in der Gegenwart mißver-standen wird zum Schaden sowohl der gegenwärtigen Erkenntnis wie auch zum Schaden des gegenwärtigen sozialen Strebens der Mensch­heit. Wir wollen heute einmal einige Ergebnisse der Geisteswissen­schaft vor unsere Seele führen, die solcher Art sind, daß sie, ich möchte sagen, von der andern Seite hineinleuchten können in Dinge, die rätselhaft sind, wenn man sich auf die Vorstellungen beschränkt, die sich die Gegenwart von ihnen macht. Ich habe Ihnen gesagt, daß der Mensch mit der Gegenwart nur dann zurechtkommen wird, wenn er sich entschließt, durch ein Hingehen zum Geisteswege sich wirklich neu zu orientieren, sowohl in bezug auf sein Verhältnis zur äußeren Natur, da die alten Orientierungsmittel nicht mehr ausreichen, wie auch mit Bezug auf das Verhältnis von Mensch zu Mensch, da auch da die alten Orientierungsmittel nicht mehr ausreichen, um einzu­sehen, welche Impulse für die gegenwärtige soziale Struktur der Menschheit nötig sind. Man muß sich ja, will man in diesen Dingen zurechtkommen, ganz ernstlich vor die Seele rücken, daß so, wie der Mensch heute im Erdendasein zwischen Geburt und Tod hinein-gestellt ist in die Welt, er nur die äußere Offenbarung der eigentlichen Wesenheit sieht, wie er auch eigentlich nur zu der äußeren Offen-barung seines Mitmenschen in ein Verhältnis tritt.

Das Leben gestaltet sich für die verschiedenen Epochen der Menschheitsentwickelung verschieden, und wir bemühen uns, diese Dinge gerade mit Bezug auf den gegenwärtigen Menschen wirklich zu studieren. Denn in der gegenwärtigen Zeitepoche entscheidet sich für den Erdenmenschen sehr viel. Bis ins 15. Jahrhundert, und, man könnte sagen, weil die Dinge nicht gleich auf einen Schlag vorüber­gehen, bis in die Gegenwart herein stand der Mensch eigentlich noch immer mehr oder weniger unter der Erbschaft alter Begriffe, alter

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Impulse. Dieser fünfte nachatlantische Zeitraum ist ja in einer gewis­sen Beziehung mit Bezug auf die menschliche Entwickelung etwas Außerordentliches. Denn nicht wahr, Sie wissen: Wenn man die ge­samte Erdenentwickelung nimmt, so gliedert sie sich in sieben auf­einanderfolgende große Epochen, von denen die vierte die atlantische war, die jetzige fünfte die nachatlantische ist; dann würde die sechste, dann die siebente kommen. In der atlantischen Periode liegt gewisser­maßen eine Art Entscheidung. Denn bis dahin war ja das gesamte Erdendasein eine Wiederholung vom früheren Saturn-, Sonnen-, Mondendasein. In der atlantischen Periode liegt eine Art Entschei­dung, aber eben nur ein Anfang einer Entscheidung. Nur vorbereitet haben sich da die Dinge, die sich eigentlich erst ausbilden sollen in der folgenden Erdenentwickelung. So daß der Mensch bis zur atlantischen Zeit eigentlich nur dasjenige war, was er als Saturn-, Sonnen- und Mondenmensch in andern Formen schon war. In der atlantischen Zeit aber war er nur in Andeutung dasjenige, was er als eigentlicher Erden-mensch werden soll. Dann geht es weiter, und jetzt sind wir in der fünften nachatlantischen Periode. In der nachatlantischen Periode, durch die urindische, urpersische Entwickelung und so weiter traten schon immer bestimmtere und bestimmtere Verhältnisse au£ Aber die griechisch-lateinische Zeit, die vierte nachatlantische Periode, liefert wiederum doch nur eine Art Wiederholung, wenn auch in anderer Form, dessen, was in der Atlantis auf einem andern Daseinsniveau schon vorhanden war. Erst jetzt in der fünften nachatlantischen Periode, in einer Zeit, die seit dem 15. Jahrhundert begonnen hat, steht der Mensch gewissermaßen so in seiner Gesamtentwickelung drinnen, daß so recht merkbare, in seinem Wesen merkbare neue Im­pulse auftreten. Sie waren früher nicht so merkbar; jetzt treten sie in seinem Wesen merkbar auf, und noch immer haben sie sich nur an­gedeutet. Die furchtbaren katastrophalen Ereignisse in unserer Zeit, von denen man schon sagen kann, daß sie die Menschheit ganz kolos­sal erschüttern werden, sie sind der Ausdruck dafür, daß sich neue Verhältnisse in die Menschheitsentwickelung hereinbegeben. Und ich habe Ihnen ja angedeutet, wie diese neuen Verhältnisse von einer ge­wissen Seite her dadurch zu charakterisieren sind, daß man darauf

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hinweist, wie man deutlich wahrnimmt ein Hereirifluten einer geisti­gen Welle, herrührend gewissermaßen von einem Aufsteigen in der Entwickelung der Geister der Persönlichkeit.

Nun bemerkt man, wenn man geisteswissenschaftlich gerade diese eigentümliche Seelenverfassung ins Auge faßt, in welcher der Mensch der Gegenwart hier auf der Erde ist, man bemerkt gegenwärtig also in geisteswissenschaftlicher Anschauung recht stark, wie der Mensch sich eigentlich der Offenbarungen des Naturseins sowohl wie des Seins seiner Mitmenschen nur dann bewußt ist, wenn er wahrnimmt, oder wenn er äußerlich wollend tätig ist und nichts weiß von den wirklichen Wesenheiten, in die er eben doch in einer gewissen Weise hineinwachsen muß im Laufe seiner Entwickelung, und in die er hin­eingewachsen sein wird, wenn die Entwickelung weitergegangen sein wird. Der Mensch ist ja, wie Sie wissen, in der Welt so drinnenste­hend, daß er, wenn man grob charakterisiert, die umliegende Welt wahrnimmt im Mineralreich, im Pflanzenreich, im Tierreich und in seinem eigenen Reich, im Menschenreich. Das ist dasjenige, was sicht­bar um den Menschen herum ist. Und im sichtbaren Menschenreich spielt sich ja auch ab dasjenige, was aus dem Wollen hervorgeht und was in der sozialen Struktur eine gewisse Ordnung finden soll.

Nun, es haben die Menschen vielfach nachgedacht - aber mit einem ungenügenden Denken nachgedacht -, wie der Mensch zu seiner Um­gebung steht. Man hat die Ergebnisse dieses Nachdenkens in ver­schiedenen Erkenntnistheorien verarbeitet. Aber es kann bei diesen Erkenntnistheorien nicht sehr viel herauskommen. Und dasjenige, was heute schulmäßig in diesen Erkenntnistheorien den jungen Leu­ten, die dann philosophisch zu der Welt sprechen sollen, gelehrt wird, das ist wirklich recht ungenügendes Zeug. Denn eine wahre Einsicht in das, was sich da eigentlich in der Menschenumgebung offenbart, gewinnt man ja doch nur, wenn man die Sache geisteswissenschaft­lich betrachtet. Auf der einen Seite kann der Mensch hinblicken auf das mineralische und auf das Pflanzenreich, auf der andern Seite auf das Tierreich und das menschliche Reich selbst. Beides, sowohl Mine­ralreich und Pflanzenreich wie Menschenreich und Tierreich, enthüllt sich ihm so, daß er, wenn er jetzt im theoretischen Sinne ehrlich ist,

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in der Enthüllung, in der Offenbarung Widersprüche bemerkt. Er kann nicht zurechtkommen mit der Art, wie sich ihm auf der einen Seite das Mineralreich, das Pflanzenreich, auf der andern Seite das Tierreich und Menschenreich offenbart. Und wenn die Menschen glauben zurechtzukommen, so rührt das nur von einer gewissen Stumpfheit her. Sie wollen nicht auf alle die Zweifel, welche heraus-sprühen aus der Beobachtung der Naturreiche, eingehen, weil sie zu bequem sind dazu. Nun aber, wenn man etwas vordringt in der Er­kenntnis, wenn man sich etwas schult in der Richtung, die angegeben ist in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», dann ver­wandelt sich in einer gewissen Beziehung sowohl der Anblick des Mineral- und Pflanzenreiches wie auch der Einblick in das Verhältnis zu Tier- und Menschenreich. Die Menschen haben unbewußt heute schon in hohem Grade eine eben nicht zum Bewußtsein kommende Empfindung von dieser Verwandlung. Aber es bleibt eben unbewußt, so wie ich gesagt habe, daß unbewußt heute der Mensch in der ganz natürlichen Entwickelung vor den Hüter der Schwelle hintritt. Es ist eigentlich immer eine gewisse Furcht vor der Wahrheit, welche die Menschen unbewußt abhält, nun wirklich so vorzudringen, daß sie zu dieser Verwandlung kommen. Ich rede in Imaginationen, in Imagina­tionen, die in Worte umgesetzt sind. Man kann die Dinge nicht anders wirklich treffend charakterisieren. Denn wenn man in sich lebendig macht dasjenige, was man lebendig machen kann, indem man auf sich das anwendet, was in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» beschrieben ist, so wird man, mit dieser verwandelten Er­kenntniskraft hinblickend auf das Mineral- und Pflanzenreich, immer etwas empfinden wie Furcht. Nicht wahr, Sie müssen nicht erschau­ern, nicht eine Gänsehaut bekommen bei der Charakteristik dieser Verhältnisse. Die Menschen gehen ihnen aus dem Wege, weil sie Furcht haben: daraus müssen Sie schon verstehen, daß natürlich, wenn man solche Verhältnisse schildert, es auch so ist, daß man eine gewisse Gänsehaut bekommen kann; deshalb haben ja eben die Leute gerade Furcht. Es ist immer etwas bei der vorgerückten Erkenntnis, wenn man das Mineralreich und Pflanzenreich dann ins Auge faßt, wie Leichengeruch, den man empfindet, ein Leichengeruch, der einem

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wie in einem lebendigen Gefühl das charakterisiert, was im Mineral-und Pflanzenreich lebt. Dagegen, wenn man das Tier- und das Men­schenreich in der verwandelten Erkenntnis anschaut, dann hat man immer eine Empfindung, die man so charakterisieren kann, daß man sagen möchte: Eigentlich - nicht wahr, Sie verzeihen mir, daß ich diese Imagination in Worte umsetze - bleiben doch die Menschen, auch die vorgerücktesten, solange sie in diesem physischen Leibe wei­len, gegenüber dem, was in ihnen in Wirklichkeit steckt, immer Kin­der, richtige Kinder. Es ist einfach wahr, daß im Menschen viel mehr steckt, als er herausentwickeln kann, herausoffenbaren kann aus sei­nem Wesen zwischen Geburt und Tod.

Sie sehen daraus, weil man ja in dieser übersinnlichen Erkenntnis vom Schein allmählich immer mehr zu der wahren Wirklichkeit auf­steigt, daß - indem man diese Welt außen, so wie sie ist, ansieht, be­trachtet -, man es eigentlich nur mit einem Schein zu tun hat. Denn der Leichengeruch, von dem ich Ihnen gesprochen habe, und die Kinderei der Menschen - verzeihen Sie - verhüllen sich. Der Leichen­geruch findet, wenn ich so sagen darf an unserem physischen Men­schen eine zu stumpfe Nase, die ätherische Nase ist nicht genügend ausgebildet. Und die Kinderei der Menschen, die läßt uns nicht recht zum Geständnis kommen, daß sie da ist, weil wir als Menschen schon einmal zu eingebildet sind dazu. Aber so ist doch die Sache. Und in-dem man dies, was ich eben jetzt charakterisiert habe, auseinander-hält, weist man ja zu gleicher Zeit darauf hin, daß im Menschen viel mehr steckt, als betätigt werden kann. Man kann sich dann die Frage aufwerfen: Ja, in Mineralien, in Pflanzen nimmt der Mensch keine Wirklichkeiten wahr; in Tieren, und nicht einmal in seinem eigenen Menschenwesen, nimmt er auch nicht Wirklichkeiten wahr. Worauf ist denn eigentlich dann der Mensch eingestellt hier auf der Erde? -Er ist nämlich merkwürdigerweise eingestellt auf Wesen, die weder dem mineralischen und Pflanzenreich, noch dem Tier- und Menschen-reich angehören, sondern die zwischendrinnen liegen. Auf eine Art Pflanzentiere oder Tierpflanzen ist er eingestellt. Wenn es Wesen geben würde hier auf der Erde, die weder Pflanzen noch Tiere sind, sondern die bloße Pflanzennatur haben in bezug auf ihre innere Organisation,

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aber die gehen könnten, Wesen, welche nicht Muskel und Blut hätten, sondern welche in ihrer Anatomie so waren wie die Pflan­zen, die nur solche Zellen hätten und solche Gewebe wie die Pflanzen, die sich aber willkürlich bewegen könnten wie die Tiere, oder wenn auf unserer Erde Tiere herumwandeln würden, die eben, wenn sie sterben, so etwas hinterlassen wie eine Pflanzenleiche: dann würde für solche Wesen der Mensch in seiner ganzen Seelenverfassung wirk­lich eingestellt sein. Die würde er, solche Wesen würde der Mensch eigentlich hier in seinem Erdendasein fassen können. Aber das Merk­würdige ist wiederum: Diese Wesen können ihrerseits nicht im Erden-dasein sein, diese Wesen sind nur in andern Welten zu finden. Sie sind ihrerseits so, daß sie im Erdendasein nicht gedeihen könnten. Also man kann sagen: Dem Menschen fehlt eigentlich dasjenige Er­kenntnisvermögen - und das ist in der Gegenwart besonders sicht­bar -, welches ihn befähigt, unmittelbar einzudringen in das Wesen von Mineralien und Pflanzen und auch von Tieren und Menschen. Und die Wesen, die er wohl unmittelbar wahrnehmen würde ihrer ganzen Konstitution nach, die können wieder sich nicht auf der Erde aufhalten. So merkwürdig steht der Mensch mit Bezug auf sein Ver­hältnis zu der umgebenden Natur.

Aber auch zu sich selbst steht der Mensch hier auf der Erde in einem merkwürdigen Verhältnisse. Der Mensch ist auf der einen Seite ein vorstellendes Wesen. Wenn er aber das Vorstellungsvermögen betätigt, dann verliert er im Vorstellen seine eigene Wesenheit. Und diese eigene Wesenheit, die im Vorstellen nicht zutage treten kann, die hat er eigentlich nur dadurch, daß etwas, der Wille, aus dem Un­bewußten herauf wirkt. Würde der Wille nicht heraufwirken, würden wir nicht den Willen in uns verspüren, die ganze Welt käme uns ge­spenstig vor, wenn wir sie nur vorstellen könnten. Wir würden eine gespenstige Welt vor uns haben, so wie ungefähr die Welt der natur-wissenschaftlichen Begriffe ist; die wäre dann wirklich unsere Welt. Denken Sie sich, wenn die Welt so ausschauen würde, wie die Natur-wissenschafter oder Zoologen es beschreiben, denken Sie, wenn nichts anderes da wäre, als was in Büchern über Botanik und Mineralogie steht - die wirklichen Pflanzen und Gesteine enthalten ja viel mehr,

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als was in den Büchern steht, aber denken Sie sich, Sie würden geführt in eine Welt, wie sie in den Büchern beschrieben ist, wo nicht mehr da wäre, als was in den Büchern beschrieben ist: es wäre nur eine Gespensterwelt, eine richtige Gespensterwelt. Nur dadurch ist diese Welt keine Gespensterwelt, daß immer der Wille mitspricht. Wenn Sie fliegen könnten, nicht mit einem Apparat, sondern selbst fliegen, das heißt, wenn Sie keinen Boden unter den Füßen brauchten, könnten Sie sich also frei bewegen ohne Boden, dann würden Sie nahe daran kommen, die Welt so gespenstig wahrzunehmen. Sie würde Ihnen, wenn Sie nur im wachen Zustande mit den Augen die Welt verfolgen würden, sehr gespenstig schon erscheinen, nicht so stark, wie der Naturforscher sie beschreibt, aber sie würde Ihnen da schon sehr ge­spenstig erscheinen. Sie haben ein solides Gefühl von dem Welten-dasein nur dadurch, daß Sie mit den Füßen auf dem Boden stehen-Und dieses Drücken mit Ihren Füßen auf den Boden, das gibt Ihnen das Gefühl, das mit dem Willen verwandt, das nur eine Abschwä­chung des Willens ist, daß Sie nicht bloß in einer Gespensterwelt sind, sondern in einer soliden Welt. Wenn Sie dieses Gefühl nicht hätten, sondern nur sehen würden, dann würde Ihnen die Welt sehr gespen­stig vorkommen. Was im Unterbewußten sich abspielt, das sagen Sie sich nämlich nicht. Im Unterbewußten spielt sich stets das ab, daß eigentlich der Mensch sich sagt, im Unterbewußten sagt er es sich: Ja, eigentlich schaut die Welt wie ein Gespenst aus! Aber wenn die Welt so wäre, wie sie mir meine Augen zeigen, da könnte ich nicht fest stehen, da müßte ich untersinken. Und ich sinke doch nicht unter, also ist die Welt nicht so, wie sie mir meine Augen zeigen. - Dieser Schluß wird im Unbewußten fortwährend gemacht. So kompliziert ist das ganz gewöhnliche, alltäglichste Verhältnis zur Welt. Es ist immer ein unbewußter Schluß, der in gewisser Beziehung aus dem Willen stammt. Also beim bloßen Vorstellen fehlt uns eigentlich - wenn ich mich jetzt gelehrt, das heißt, pedantisch ausdrücken will - das Subjekt, das fällt heraus. Daß wir ein Subjekt haben, uns mit der Welt zusammen-fühlen, kommt aus dem Willen.

Und wiederum, wenn wir wollen, wenn wir den Willen entwickeln, da fehlt uns eigentlich das Objekt. Das Objekt, das kommt uns gar

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nicht ordentlich solid zum Bewußtsein. Wenn ich einfach dieses Büchelchen hier von der linken Seite zur rechten Seite herüberheben will und es auch wirklich tue - ja, das eigentliche Objekt des Wol­lens, das kommt nicht zum Bewußtsein. Sie sehen den Weg, den das Büchelchen macht, die Vorstellung, die gespenstet so hinein in das Wollen, aber das eigentliche Objekt des Wollens kommt nicht zum Bewußtsein. So daß der Mensch sowohl, indem er vorstellend ist, wie auch, indem er wollend ist - das ist wiederum grotesk ausgesprochen, weil man eine Imagination in Worte kleiden muß -, daß der Mensch eigentlich sowohl als Vorstellender wie als Wollender, verzeihen Sie, ein Krüppel ist. Er stellt gespenstig vor und will eigentlich unvoll­ständig. Was der Mensch wirklich ist, das ist eigentlich weder in der Vorstellung noch im Willen ganz drinnen, das ist wiederum in der Mitte drinnen zwischen dem Vorstellen und dem Willen. Aber da ist die Sache so, daß uns das nicht zum Bewußtsein kommen kann im gewöhnlichen Leben. Geradeso wie in die äußere Natur das Pflanzen-tier nicht eintreten kann, so kann dem Menschen nicht zum Bewußt­sein kommen, was er eigentlich ist. Deshalb habe ich Ihnen von einem andern Gesichtspunkte diese Tatsache öfter ausgesprochen, indem ich Ihnen sagte: Das eigentliche Ich nimmt der Mensch wahr wie ein Loch in den Ereignissen des Lebens. Nicht wahr, man muß sich dar­über nur klar sein, daß man Löcher auch wahrnehmen kann. Vom Schlafen weiß der Mensch nichts, er wacht, schläft, wacht, schläft, wacht, schläft; aber indem er sein Leben überblickt, da stellt sich ihm das ausgesparte Bewußtsein, das Bewußtseinsloch in den Lebenslauf hinein, und er sieht gerade so, wie wenn er eine Fläche hat, die weiß ist und die schwarze Löcher hat, wo er eigentlich nichts sieht, so sieht er die Bewußtseinslöcher des Schlafes. Aber so ist es mit unserem Ich auch in unserem Wachleben. Unser Ich wird nicht in Wahrheit ins Bewußtsein hereingehoben, sondern im Bewußtsein ist von diesem Ich nur ein Loch, und die Wahrnehmung dieses Loches macht uns darauf aufmerksam, daß wir eben das wirkliche Ich haben.

Diese Dinge, die dem heutigen groben Menschen noch wie eine Spintisiererei erscheinen, sie müssen allmählich ein elementares Bewußtsein

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der Menschen werden. Denn man kann nicht in der Zukunft auf solche Glaubensvorstellungen das Leben gründen, wie man es in vergangenen Zeiten hat gründen können, weil noch die Reste und die Nachwirkungen atavistischen Hellsehens vorhanden waren. In der Zukunft wird man auf deutlich durchschaubare Grundlagen das Leben stellen müssen. Zu den alltäglichen Vorstellungen wird das gehören müssen, daß man auf das Mineral- und Pflanzenreich so hinschaut, wie Goethe hingeschaut hat, der nur das Phänomen angesehen hat, der nicht geglaubt hat, daß in dem Phänomen etwas anderes als höchstens die Grundphänomene, die Urphänomene sich offenbaren, aber daß die Phänomene nicht in Gedanken ausdrückbare Naturgesetze offenbaren. Nach Naturgesetzen hat Goethe nie geforscht, das wäre ihm sehr phantastisch erschienen. Die Phänomene hat er verfolgen wollen, denn es zeigt uns die äußere Welt im mineralischen und Pflanzen-reiche nichts als die Wahrnehmungen, die Erscheinungen. So muß der Mensch hinschauen auf die äußere Welt, daß er sich bewußt ist: Ich sehe im Mineral- und Pflanzenreich eigentlich nur die Außenseite; und wenn ich dem Tier- und Menschenreiche gegenüberstehe, sehe ich eigentlich auch nur etwas, was wie ein Embryo des ganzen Wesens ist. - Das muß auch so sein. Sehen Sie, im Mineral- und Pflanzen-reiche sind ja in Wirklichkeit vorhanden Wesen, die sich nur nach einer gewissen Seite hin enthüllen, wenn der Mensch sie anschaut, weil sie, ich möchte sagen, sich nicht anders enthüllen können. Denn im Mineral- und Pflanzenreiche lebt etwas, was man vollständig nur er­kennt, wenn man - nun verstehen Sie mich recht - zurückblickt auf diejenige Welt, aus der man herausgekommen ist, als man durch die Geburt dieses physische Dasein angetreten hat. Könnten Sie mit jenem Bewußtsein, das über die Geburt nach rückwärts hinausgeht, gedächtnismäßig behaftet bleiben nach der Geburt, könnten Sie also das Geborenwerden als ein solches Ereignis in Ihrem Leben betrach­ten, wie etwa, sagen wir, den Übergang vom fünfzehnten zu dem sechzehnten Jahre, würde nicht nach rückwärts der Faden des Be­wußtseins abreißen, weil das Bewußtsein ganz andersartig war vor der Geburt beziehungsweise vor der Empfängnis, so würden Sie ohne weiteres eine ganz andere Ansicht über das Mineral- und Pflanzenreich

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bekommen, als Sie nur dadurch bekommen, daß Sie sie an­schauen vom Standpunkte des Lebens zwischen Geburt und Tod. Denn Sie würden sich dann folgendes sagen: Ich bin herausgetreten aus dem geistigen Reich durch die Geburt. Ich bin hier in dieses phy­sische Reich eingetreten. Warum habe ich denn das getan? Warum bin ich denn da nicht drinnen geblieben in dem geistigen Reiche? Warum hat es mich denn überhaupt auf die Erde heruntergelockt? -Denn man kann von einem solchen Locken sprechen. Da könnten Sie dann sagen, wenn Sie sich erinnern könnten: Es hat mich auf die Erde heruntergelockt aus dem Grunde, weil plötzlich im Laufe meiner Ent­wickelung zwischen Tod und neuer Geburt ich in eine Sphäre hinein-kam, wo es so aussah, als ob gewisse Wesen herausgeflohen wären, als ob sie eigentlich drinnen sein sollten, fehlten und nicht drinnen sind. - Wenn ich mich grob ausdrücken darf: In der letzten Zeit vor der Geburt erlebt man in der geistigen Welt auf Schritt und Tritt, daß einem da Wesen fehlen, die eigentlich hergehören und die nicht da sind. Es zeigt alles: diese Wesen fehlen. Und tritt man jetzt durch die Geburt, so sind in den Mineralien und in den Pflanzen diese Wesen da, aber wie Verbannte, wie wenn diese Wesen verbannt wären aus der Welt, in der man drinnen war, und wie wenn sie nicht vollständig gedeihen könnten, halb sterben würden und daher den Leichengeruch bilden, halb sterben würden in der Welt, in die man eingetreten ist. Man sehnt sich vor der Geburt nach der Bekanntschaft mit gewissen Verbannten. Man weiß nur: Da sind verbannte Wesen, aber wo sind die? Da geht man in die physische Welt heraus und nimmt sie wahr, aber, ich möchte sagen, einbalsamiert, mumifiziert. Denn in der Welt, in die man eingetreten ist, können sie nicht anders sein als einbalsa­miert, als mumifiziert, vertrocknet. Das ist die vollständig richtige Empfindung, wenn man der Mineral- und pflanzlichen Welt so gegen­übertritt, daß man in ihr die Wesen sieht, die verbannt sind aus der geistigen Welt, aus der Sphäre, in der man gerade war, bevor man in das physische Leben eintreten mußte.

Und wenn man auf Tiere und Menschen hinschaut und ihre Kin­derei sieht, dann kommt man darauf, wenn man einen Blick auf die tiefere Wesenheit entwickeln kann, daß diese Tiere und Menschen, so

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wie sie einmal in der Welt hier sind, in der wir zwischen Geburt und Tod leben, nie fertig werden, nie eigentlich ihr ganzes, durch ihr Innenwesen bedingtes Leben zum Abschluß bringen. Wer Tiere rich­tig anschaut, wer sie anschauen kann mit vollständiger innerer leben­diger Erkenntniskraft, der weiß zwar, daß die Tiere nicht unsterb­lich sind, aber er weiß auch, daß die Tiere die ganze Tragik dieser Nichtunsterblichkeit in ihren Gruppenseelen durchmachen. Die Grup­penseelen sind ja hinausdauernd über das individuelle Leben des Tie­res; aber dasjenige, was hier auf der Erde ist von den Tieren, das ist, wie ich schon neulich sagte, eigentlich krank, das ist so, daß es ver­dirbt, weil es in eine andere Welt gehört und in diese Welt hinein ver­bannt ist. Und der Mensch seiner äußeren physischen Gestalt nach ist auch in diese Welt hinein verbannt; daher bleibt er verkrüppelt, bleibt ein Kind. Der Mensch bleibt ein Kind. Das Tier ist überhaupt in sei­nem Wesen seiner physischen Gestalt nach vertrocknet, denn das, was zu Tier und Mensch gehört, das findet man, wenn man durch den Tod geht und in die geistige Welt unmittelbar eintritt, die man nun nach dem Tode betrachtet. Denn eigentlich beschreibt man einen Kreis in dem Leben zwischen Tod und neuer Geburt. Das, was einem ver­borgen bleibt hier vom Tier- und Pflanzenreich, weswegen man wahr­nimmt, daß Tiere und Menschen Verbannte sind aus der geistigen Welt - der Mensch der äußeren physischen Gestalt nach -, das nimmt man zunächst wahr, indem man durch die Pforte des Todes eintritt in die geistige Welt. Da macht man eine Entwickelung durch, und man kommt dazu, daß einem immer mehr und mehr nach dieser Welten-mitternacht, die ich in dem Mysteriendrama beschrieben habe, klar wird: Da fehlt etwas, und was da fehlt, das ist gewissermaßen davon­gelaufen aus der geistigen Welt. Dem läuft man nach durch die Ge­burt und findet es dann im mineralischen und Pflanzenreich auf der physischen Erde. Über das Mineral- und pflanzliche Reich ist man eigentlich nicht erstaunt, wenn man durch die Geburt ins Dasein tritt, denn man hat es erwartet. Daß man auch hier auf der physischen Erde Tiere findet und den Menschen mit einer äußeren Gestalt, die nur vollkommener ist, aber an das Tier erinnert, das ist etwas, was einen einigermaßen erstaunt, nachdem man geboren worden ist mit der Bewußtseinsveranlagung.

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Man fängt aber an, es zu begreifen, wenn man weiß: Mit dieser äußeren Gestalt der Tiere und Menschen ist ja ein Anfang gegeben, der erst weiterwächst in der Welt, in die man ein­tritt durch die Todespforte.

Man könnte sagen: Für die abstrakten und vollständig ausgedörrten Glaubensvorstellungen, die noch geblieben sind - früher waren ja diese Vorstellungen viel lebendiger und gaben dem Menschen wirk­lich etwas - in unser Bewußtseinszeitalter herein, für die steht zu un­vermittelt dasjenige, was die Menschen hier in der physischen Welt wahrnehmen, und dasjenige, was sie sich vorstellen sollen, daß es der Welt zugrunde liegt, welche der Mensch durchlebt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Das, was der Mensch durchlebt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, bleibt deshalb heute den Menschen so zweifelhaft und kann so leicht von dem grob materialistischen Geiste geleugnet werden, weil ja der Mensch, indem er in das Zeit­alter der Bewußtseinsseele, das heißt, ins intellektuelle Zeitalter ein­getreten ist, dadurch nur in Spiegelbildern im Bewußtsein lebt, wie ich ausgeführt habe. Er kann also auch nur in Spiegelbildern leben, wenn er über die Wahrnehmungen hinausgeht, in die ihm, wie ich Ihnen angedeutet habe, im Aufstehen der Füße der Wille hineinspielt. Aber wenn kein Wille hineinspielt - und ins unsterbliche Leben nach dem Tode spielt ja kein Wille hinein - und der Mensch nur angewie­sen ist, in den Spiegelbildern des Vorstellens das vor seine Seele zu rücken, was die Welt ist zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, dann wird ihm diese Welt zweifelhaft, nicht nur gespenstig, sondern zweifelhaft. Ja man kann sogar folgendes sagen: Wenn sich die Men­schen darauf versteifen würden, nur Naturwissenschaft gelten zu las­sen, nur die gespenstige Welt sich vor Augen zu rücken, welche die Naturwissenschaft gibt, so haben sie eigentlich recht, das Leben zwi­schen dem Tod und einer neuen Geburt, überhaupt das Leben nach dem Durchgang durch die Todespforte zu leugnen. Denn was die Naturwissenschaft gibt, sind ja nur Bilder, ist ja gespenstig. Und das hört auch auf, indem der Mensch durch die Todespforte tritt. Die Naturwissenschaft kann nichts enthalten von dem, was der Mensch erlebt in dem Reiche nach dem Tode und vor der Geburt. Denn sehen

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Sie: In den Mineralogiebüchern und in den Botanikbüchern und in allem, was damit zusammenhängt, Physiologie, Geologie und so wei­ter, in all den Vorstellungen, die Sie überhaupt aufnehmen können über Pflanzen und Mineralien, da können Sie ja nur etwas aufnehmen über Wesen, die hier hinein verbannt sind in die physische Welt. Und wiederum in den Tieren und in den Menschenkörpern können Sie auch nur etwas wahrnehmen, was hier hinein verbannt ist - auch in den Zoologiebüchern und Anthropologiebüchern -, und damit setzt sich ja im Grunde, wenn man das im weitesten Sinne denkt, alles Wis­sen zusammen: Sie können nur dasjenige wahrnehmen, was hier in der Verbannung lebt. Aber wenn Sie bedenken, daß vor der Geburt Ihnen die Wesen gerade fehlen - also da sind sie ja nicht -, die Sie hier erleben nach der Geburt, daß in Tieren und Menschen dasjenige erlebt wird, was hier nicht vorhanden ist, so werden Sie begreifen, daß in das gewöhnliche naturwissenschaftliche Vorstellungsleben gar nichts von dem unsterblichen Leben hereingehen kann, daß die Natur­wissenschaft von sich aus ganz recht hat, wenn sie sich um das un­sterbliche Leben gewissermaßen nicht kümmert, weil sie in Bildern lebt. Und daher ist es so, daß in dem Zeitalter seit dem 15. Jahrhun­dert, in dem die naturwissenschaftlichen Vorstellungen alle Kreise beherrschen, der Mensch auf der einen Seite gewissermaßen die robuste, rohe Natur hat, die ihm eigentlich allein als Wirklichkeit gilt, und auf der andern Seite ein Reich, das er nur mit den abgeschwächten Spiegelbildern des Zeitalters der Bewußtseinsseele erreichen will, wo es ihm eigentlich so vorkommt, wie wenn er sich sagt: Nun, indem ich darauf komme, daß das nur Spiegelbilder sind, die ich da denke -und im Unterbewußtsein kommt er darauf, denn dann wird er ein Zweifler an der Unsterblichkeit -, dann wäre ich, wenn ich glaubte, daß diese Spiegelbilder und auch mein eigenes Spiegelbild nach meinem Tode noch da seien, ebenso dumm, wie wenn ich glaubte, daß mir aus dem Spiegel an der Wand die Menschen ent­gegenkommen, daß sie nicht bloß sich spiegelten, sondern mir entgegenkämen.

Es liegt einfach im Charakter dieses Zeitalters der Entwickelung der Bewußtseinsseele, daß dem Menschen, wenn er nicht aufrücken

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will zu einer geistigen Erfassung der Welt, immer mehr und mehr der Zusammenhang schwindet mit der Welt, in die er eintritt, wenn er durch die Todespforte tritt. Und es schwindet ihm aus der Vor­stellung, es schwindet ihm aus dem bewußten Leben, aber es schwin­det ihm nicht aus der Sehnsucht. Und selbst die schlimmsten Unsterb­lichkeitsleugner haben in ihren Untergründen in der Willenssphäre, aus der ja die Sehnsucht stammt, sie haben Sehnsucht, von der Welt etwas zu erfahren, in die der Mensch durch die Todespforte eintritt, aus der er herausgetreten ist, indem er durch die Geburtspforte ge­gangen ist. Sehnsucht haben sie. An dieser Sehnsucht ist sogar die Gegenwart krank. Und die mancherlei Krankheiten der Gegenwart drücken sich aus, weil diese Sehnsucht in den Menschen waltet und der Mensch keine bewußten Vorstellungen für diese Sehnsucht finden kann. Wenn etwas in unserer Willenssphäre lebt, was der Mensch mit der Vorstellung nicht bewältigen kann - man muß da wiederum sehr radikale Begriffe entwickeln, wenn man über diese Dinge redet -, dann fängt er an zu toben. Das ist das Wesen des Tobens, der Tob­sucht, daß etwas in der Willenssphäre lebt, was der Mensch nicht mit seinem Vorstellungsvermögen umfassen kann. Und wenn die Men­schen sich nicht dazu bequemen werden, einzugehen auf die Erfas­sung der geistigen Welt, um durch das Erfassen der geistigen Welten dasjenige zu umfassen, was in der Willenssphäre sich schon heraus-gestaltet, dann wird die Toberei in der Welt immer größer und größer werden, die Toberei, die sich heute als das nächste Stadium nach dem nicht eintretenden, aber von den Menschen immer erhofften Friedens­schluß eben für die Menschen einstellt. Das ist nicht etwas, worüber man reden kann wie in einem Kegelklub, wo man nach den gewöhn­lichen philiströsen Vorstellungen meint, da oder dort über das oder jenes Abhilfe schaffen zu können, indem man sich verständigt, nein, das ist etwas, was mit dem tiefsten Wesen der menschlichen Entwicke­lung zusammenhängt. Der Mensch kann sich nicht dagegen sträuben, daß dasjenige in ihm sich entwickelt, was in seine Willenssphäre ein­tritt. Darüber hat er keine Macht. Er kann nur sich dazu entschließen, bewußt in die Geistessphäre so einzudringen, daß er das verstehen lernt, was in seine Willenssphäre eindringt. Dadurch wird an Stelle

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der Toberei geordnetes Menschenzusammenieben sich entwickeln können in der Zukunft.

Sie sehen, es ist keine Angelegenheit, die den Menschen nur sub­jektiv angeht, daß der Mensch sich hinwende zur geistigen Welt, die sich offenbaren will durch eine besondere Welle des Geschehens in unserer Zeit, sondern es ist eine objektive Notwendigkeit, daß der Mensch sich der geistigen Welt zuwendet im Zeitalter der Bewußt­seinsseele. Denn Veränderungen sind eben eingetreten in der Mensch­heitsentwickelung.

Bis zu dem Zeitpunkt, in dem sich abgespielt hat im Erdenleben das Mysterium von Golgatha, kam alles das, was der Mensch brauchte, um in der Welt hier einigermaßen sicher zu stehen, eben aus dem Schlafe. Man hat anders geschlafen, wenn das auch die heutigen Phy­siologen nicht zugeben, vor dem Mysterium von Golgatha, als man jetzt schläft. Solche prophetischen Naturen, denen sich in Träumen so Großartiges geoffenbart hat wie den hebräischen Propheten, die gibt es daher auch in dieser Form nicht mehr; denn den Seinen gibt es der Herr heute nicht mehr im Schlafe. Er hat es ihnen gegeben. Das ist eben der große Übergang in der Entwickelung. Und nicht nur den prophetischen Naturen wurden die Bilder der Zukunft gegeben, son­dern die Gedanken wurden den Menschen noch bis in die griechische Zeit hinein aus dem Schlaf heraus gegeben. Wenn man aufwachte, brachte man sich die Gedanken mit. Es war der menschliche Organis­mus noch so konstruiert, daß man sich die Gedanken mitbrachte. Das hat noch eine Weile nachgewirkt, obschon die Sache so war, daß die Menschen eigentlich schon im 15. Jahrhundert kopflos geworden sind - verzeihen Sie! -, das heißt: Der Kopf war nicht mehr recht zu brauchen, der Kopf konnte nicht mehr aus dem Schlaf heraus die Gedanken mitbringen.

Es ist schon ein Resultat der Geisteswissenschaft, zu erkennen, daß unser Kopf seit dem 15. Jahrhundert ein recht viel weniger brauch­bares Werkzeug geworden ist, viel vertrockneter ist, als er vorher war. Aber so recht bemerklich macht sich das erst in der Gegenwart, und es wird sich immer mehr bemerklich machen, wenn nicht ein Er­satz geschaffen wird, so daß das Ausgedünstete des Kopfes wiederum

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von der geistigen Welt her ersetzt wird. Denn bis in unsere Zeit, bis in das 19. Jahrhundert herein, da war noch immer die andere Natur, die Brustnatur des Menschen gewöhnt an das, was der Kopf aus dem Schlafe heraus noch während der griechisch-lateinischen Zeit bekam. Die Brustnatur war daran gewöhnt, und da haben die Menschen noch die nachwirkenden Impulse in ihre Kopflosigkeit herein gehabt. Sie war noch daran gewöhnt; ich möchte sagen, die Geste des Gedankens, den Schatten des Gedankens hatten die Menschen noch. Aber auch dieser Schatten wird vergehen, die Menschen werden gar keine Ge­danken haben, wenn sie sich nur ihrem Kopfe überlassen wollen. Und so ist es ja auch, und es zeigt sich darin, daß die Menschen nicht den­ken wollen. Immer weniger wollen sie denken. Sie möchten auf der einen Seite sich von der Natur die Gedanken diktieren lassen, am liebsten bloß experimentieren und sich vom Experiment sagen lassen, was sie denken sollen. Selber denken möchten die Menschen nicht. Dazu haben sie auch gar kein rechtes Vertrauen, denn was sie aus­denken, das, meinen sie, ist ja doch keine Wirklichkeit. Es ist ja auch, wenn man die bloßen Gedanken nimmt, keine Wirklichkeit. Aber man kann gewahr werden: Das Denken, nicht die Gedanken, das muß aktiv werden. Dieses Aktivwerden des Denkens, das kommt von dem Hereinspielen der geistigen Welt. Und Sie können heute, wenn Sie wirklich anfangen, aktiv zu denken, gar nicht anders, als die geistige Welt in sich hereinspielen zu lassen. Sonst denken Sie nicht, sonst denken Sie so wenig, wie die Naturforscher heute denken, die sich am liebsten vom Experiment oder der Naturforschung alles diktieren las­sen möchten, oder so wenig, wie heute die sozialen Forscher denken, die eigentlich, weil sie nicht aktiv sein wollen, weil sie nicht wirklich soziale Impulse erfassen, welche nur in der Aktivität erfaßt werden können, mit dem arbeiten, was historisch erforscht werden kann, was Vererbung ist. Denken Sie doch nur einmal, wie die Menschen darauf verfallen sind, weil sie nicht mehr selbst die Impulse haben, durch welche die soziale Struktur geschaffen werden kann, zurückzuschauen in die Zeit, wo noch Gedanken sich gebildet haben. Die Menschen sehen nur von einem falschen Gesichtswinkel aus die Sache an. Rousseau war es, der den Menschen den Naturzustand vorgemacht

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hatte, weil er es spürte: aus der Gegenwart kann man nichts gewin­nen, wenn man nicht aktiv wird im Sinn der Erkenntnis höherer Wel­ten. Und der moderne Sozialismus, der ergeht sich am liebsten dar­innen, Urzustände der Menschheit zu studieren - das ist ja dasjenige, worein sich besonders die Sozialisten vertiefen -, primitive Zustände zu studieren, zu studieren an allerwildesten Urvölkern und primitiv­sten Völkern, um zu verstehen, wie die Menschen in der sozialen Zusammenfassung sein sollen. Wer mit diesen Sachen bekannt ist, der weiß das. Überall eine gewisse Furcht vor dem, was so notwendig hereindringt als die erste Morgenröte des Zusammen­hangs mit der geistigen Welt, eine gewisse Furcht vor dem aktiven Denken.

Daher versteht man so schwer dasjenige, was auf aktives Denken Anspruch macht, wie zum Beispiel meine «Philosophie der Freiheit». Da sind die Gedanken anders, als die heut üblichen Gedanken sind. Und beim Lesen dieses Buches hören die Menschen manchmal sehr bald auf zu lesen, aus dem einfachen Grunde: sie möchten es lesen wie ein anderes Buch. Aber, nicht wahr, die andern Bücher, die man heute besonders gern hat, nun, die liest man, setzt sich hin auf die Chaise­longue, legt etwas den Rücken zurück, dann wird man möglichst passiv und läßt so die Gedankenbilder vorbeigehen. Manche Men­schen betreiben ja das Lesen schließlich überhaupt nur noch so. Be­trügen Sie sich nicht, indem Sie glauben, daß sie die Zeitungen oft­mals anders lesen, diese Menschen - nicht wahr, die Anwesenden sind immer ausgenommen, selbstverständlich -, es mischen sich nur manch­mal Emotionen hinein, Sorgen hinein; aber auch die Zeitungen, die so sensationell aufgenommen werden, die werden auch so gelesen, daß die Bilder so vorbeihuschen. Ja, so läßt sich so etwas, wie es ver­sucht worden ist darzustellen in der «Philosophie der Freiheit», nicht lesen. Da muß man sich immerfort einen Ruck geben, damit diese Gedanken einen nicht einschläfern. Denn darauf ist nicht gerechnet, daß man auf der Chaiselongue bloß sitzt. Man kann ja sitzen, selbst­verständlich, kann sogar den Rücken zurücklehnen, aber man muß dann versuchen, aus dem ganzen Menschen, gerade dadurch, daß man die äußere Leiblichkeit in Ruhe gebracht hat, das innere geistigseelische

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Wesen in Bewegung zu setzen, so daß das ganze Denken in Bewegung kommt. Anders geht es nicht vorwärts, sonst schläft man ein. Es schlafen auch viele dabei ein, und das sind nicht einmal die unehrlichsten. Die unehrlichsten sind diejenigen, welche die «Philo­sophie der Freiheit» lesen wie ein anderes Buch und dann glauben, daß sie wirklich die Gedanken verfolgt haben. Sie haben sie nicht ver­folgt, sondern sie haben sie nur so übersetzt wie Worthülsen; sie lesen nur so die Worte und nehmen nicht heraus, was eigentlich aus den Worten erst folgt, wie wenn man am Feuerstein den Stahl schlägt. Das ist schon dasjenige, was beansprucht werden muß von dem, was in der Gegenwart und in der nächsten Zukunft in die Menschheits­entwickelung eingreifrn muß, denn dadurch wird die Menschheit all­mählich in gesunder Art sich in die geistige Welt hinauf erheben. An dem aktiven Denken wird sich entzünden die innere Verwandtschaft des Menschen mit der geistigen Welt, und dann wird der Mensch immer weiter hinaufkommen. Er kann ja heute schon sehr weit kom­men, wenn er solche Dinge beobachtet, wie sie in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» beschrieben sind. Aber auch da ist hinlänglich darauf hingedeutet, daß es doch notwendig ist, daß das kohärente, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, das zusam­menhängende Denken, wo niemals der Gedankenfaden abreißt, son­dern alles am Gedankenfaden verfolgt wird, vorzugsweise entwickelt werde.

Aus alten Zeiten mischt sich in diese heute noch mehr oder weniger unklar und unbewußt gebliebene Sehnsucht, mit dem bewußten Den­ken aufzurücken in die Sphäre, wo die Geister sind - was man kann -, es mischt sich erst recht hinein ein müdes Verharrenwollen beim in­kohärenten Denken. Ich habe schon neulich darauf aufmerksam ge­macht: Es ist den Menschen unbequem, immer fortschreiten zu sol­len mit dem bewußten Denken von Schritt zu Schritt. Sie möchten lieber durch ein mehr unbewußtes, nicht mit den Gedanken zu ver­folgendes Gebiet gehen, und dann erst wiederum den nächsten Schritt machen, nicht wahr? Es ist nicht so, daß man Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist und die, wie Sie wissen, in gesunder Weise rechnet mit dem steten Verfolgen der Gedanken, nicht verstehen

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kann, wenn man die Gedanken wirklich rege macht; sondern es wün­schen die Menschen nur, sie anders zu verstehen, als man sie verstehen muß. Statt eines steten Verfolgens des Gedankens wünschen die Men­schen, daß der Gedankenfaden immer abreißt. Wenn Sie sich ver­tiefen in das, was Ihnen die Geisteswissenschaft gibt, dann können Sie, wenn Sie sich nur wirklich energisch vertiefen - haben Sie Geduld, das kann im heutigen Zeitalter nur in Andeutungen noch vorhanden sein -, schon heute, indem Sie die Kraft der Gedanken entwickeln, um mit den Gedanken Saturn, Sonne und Mond zu verfolgen, wie sie in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» beschrieben sind, diese Entwickelung bis da herein verfolgen, wo der Mensch dasteht in der Welt, und bis in Ihr eigenes Leben dringen, und mit dem also inten­siver gemachten Gedanken Ihr eigenes Leben durchdringen. Dann kommen Sie zu gewissen, wenn auch anders aussehenden, als man es haben wollte, aber durchaus in dem Zusammenhange, in der Kohärenz des Denkens liegenden Vorstellungen, die Sie aufklären über Ihr Wesen, über die Art, wie Sie sind, über Ihren Charakter. Sie können närlllich, indem Sie wirklich lebendig machen, was über Saturn, Sonne und Mond und dann über die Erdenentwickelung gesagt ist, und das anwenden auf sich als einzelnen Menschen, fortschreiten bis zu Ihrem eigenen Wesen, nur müssen Sie mit dem Gedanken fortgehen zu Ihrer Selbstanschauung, nicht den Gedanken abreißen lassen, sondern ko­härent den Gedanken lassen, ihn zusammenhängen lassen. Das, was der Mensch heute auf diese Weise rechtmäßig beginnt, klärt ihn bis zu dem Grade, bis zu dem er aufgeklärt sein soll, über sein eigenes, persönliches Wesen auf. In diese Sehnsucht, die aber beim Menschen mehr oder weniger unbewußt noch vorhanden ist, mischt sich etwas anderes hinein mit dem Abreißen des Gedankenfadens, so etwas Er­rechnetes. Der Mensch möchte über sein Wesen Aufklärung gewin­nen. Was tut er? Er nimmt eine alte, antiquierte Wissenschaft, die durchaus in bezug auf ihre Ehrwürdigkeit nicht herabgesetzt werden soll, selbstverständlich, aber die einer Erklärung bedarf, wenn sie in das neue Zeitalter hereingestellt werden soll, und rechnet, wobei er alle Augenblicke den Gedankenfaden abreißen läßt, Sternkonstella­tionen aus; nachher kann der Gedankenfaden abreißen, und rein

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äußerlich, ohne Denken soll sich entwickeln dieses Wesen des Men­schen, so wie er dasteht auf der Erde.

Sehen Sie: Die römisch-katholische Kirche, wie ich gestern dar­gestellt habe, verleugnet dasjenige, was heute das Allernotwendigste ist; aber gerade wenn man so etwas nimmt wie die Beschreibung der inneren Beschauung des Johannes vom Kreuz, so kann dieses erfüllt werden, wenn man heute im Sinne der Entwickelung lebt, entspre­chend «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Was in diesem Buche enthalten ist, das ist - gerade für die heutige Zeit - die Befolgung desjenigen, was ein Mensch wie der heilige Johannes vom Kreuz will, während die katholische Kirche das ableugnet und heute noch immer die alte Art des Johannes vom Kreuz auch auf den heu­tigen Menschen angewendet wissen will, wie es auch manche Men­schen tun. Sie wollen nicht, weil sie zu bequem sind, jenes aktive Leben im Geiste, das schon auf einer sehr stark wirkenden Stufe vor­handen ist, wenn man solche Vorstellungen aufnimmt, wie sie in der Geisteswissenschaft gegeben werden. Sie wollen das in gebräuchliche-ren Gedanken bis in die unmittelbare Gegenwart herein fortsetzen, wollen lieber beim alten bleiben, damit ihnen herausspringe aus den Ungedanken dasjenige, was sie aufklären soll über ihren gegenwär­tigen Menschen. Selbstverständlich ist über das also Ehrwürdige kein absprechendes Urteil gefällt; aber hingewiesen werden muß von allen Seiten darauf, daß man dasjenige nicht verleugnen darf, was in den geistigen Notwendigkeiten der gegenwärtigen Menschheitsentwicke­lung, die in das Zeitalter der Bewußtseinsseele eintritt, eben gelegen ist. Darum handelt es sich, daß man wirklich versteht, was heute von dem Menschen gewollt wird in der Weltenentwickelung. Ich glaube, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf - es ist ja nur facon de parler -, daß aus dem rechten Empfinden gerade desjenigen, was die Menschen heute unbequem finden und nicht wollen, immer mehr und mehr sich die bessere Stellung zur Geisteswissenschaft ergeben wird, und erst, wenn sich diese bessere Stellung zur Geisteswissen­schaft ergibt, dann wird diese auch das soziale Leben befruchten. Dann wird der Mensch über das Menschenleben sich aufklären kön­nen, weil er dann nur die starken Gedanken hat, um sich über das

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Menschenieben aufzuklären. Denn bei dieser Aufklärung über das Menschenleben, da leidet der gegenwärtige Mensch an einem sehr mißlichen Umstande. Ob Sie Leninist oder Trotzkist oder ob Sie Marxist sind, oder ob Sie sonst irgendwie denken, die soziale Struktur des Menschen in der richtigen Weise auszuformen: in alldem lebt ein mißlicher Umstand, der nicht durchschaut wird, auch praktisch nicht durchschaut wird, wenn man nicht von Geisteswissenschaft sich be­fruchten läßt. Nicht wahr, der Mensch ist ja nun einmal ins Zeitalter der Bewußtseinsseele eingetreten. Er muß bewußt entwickeln das­jenige, was als soziale Struktur sich erhebt. Anders geht es gar nicht. Er muß bewußt drinnenstehen in der Welt; es ist einmal notwendig, daß der Mensch bewußt drinnensteht. Nur soll er auch das Verhältnis von Mensch zu Mensch, das Leben in der Sozietät, das soziale Leben bewußt auffassen. Daran hindert ihn nämlich ein mißlicher Umstand. Das Fatale ist, daß der Mensch immer nur einen Menschen vorstellen kann. Genau ebenso, wie nicht zwei Menschen - physische Menschen, meine ich -, wie nicht zwei Dinge - physische Dinge meine ich jetzt wiederum - gleichzeitig an einem Ort sein können, was das Gesetz der Undurchdringlichkeit ausmacht, so können im menschlichen Be­wußtsein nicht gleichzeitig zwei Menschen sein, gleichzeitig zwei Menschen wirklich real vorgestellt werden. Das ist sehr wichtig, daß man das berücksichtigt. Aber man kann nicht mit dem andern Men­schen leben, ohne daß man ihn vorstellt, und man kann auch kein Wissen über das soziale Zusammenleben ausbilden, ohne daß man den andern Menschen vorstellt. Aber heute ist es so, daß der Mensch, weil er immer nur einen Menschen vorstellen kann, es gewöhnlich vorzieht, nur sich vorzustellen, seinen Menschen vorzustellen. Und das soziale Denken begnügt sich auch damit, ein Zusammenleben zu fordern, wo immer nur der Mensch selbst von sich vorgestellt wird. Der Mensch kommt nicht los von der Vorstellung seines Selbstes; er redet sich oft ein, davon loszukommen, aber er kommt in Wirklich­keit heute noch nicht leicht davon los. Nur wenn er sich bemüht, die Zumutungen zu erfüllen, die durch die Geisteswissenschaft gestellt sind, dann gewinnt er allmählich die Möglichkeit, von sich etwas loszukommen. Denn Geisteswissenschaft setzt solche Gedanken in die

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Welt, die sehr weite Perspektiven erreichen. Dadurch kommt der Mensch in die Gewohnheit hinein, von sich loszukommen. Wie der Mensch heute, wenn er Spiritist wird, noch egoistischer wird, als er früher schon war, so wird er selbstloser, wenn er auf dem andern Wege, auf dem Wege der Geisteswissenschaft in die geistige Welt ein­dringen will. Daher ist Geisteswissenschaft nicht bloß die Überliefe­rung einer Wissenschaft, sondern ist tatsächlich dasjenige, was für die Erziehung der gegenwärtigen Menschheit zum sozialen Leben un­bedingt notwendig ist. Daher wird auch kein Heil entstehen, wenn man nicht in diesem Punkt anfängt, wenn man nicht wirklich daran denkt: bei dem Vorstellen muß angefangen werden. Man kann nicht sozial reformieren, wenn man nicht beim Schulwesen anfängt, beim Unterricht der Menschen anfängt. Und versäumt man dieses, so ver­säumt man die Möglichkeit, daß die Menschen Begriffe aufnehmen, welche ihre Sehnsuchten umfassen. Und sie werden immer tobsüch­tiger werden, die Menschen, wenn ich mich radikal ausdrücken will.

Also so ist der innere Zusammenhang. Man möchte nur, daß gerade dieser innere Zusammenhang überschaut würde. Man möchte, daß vor allen Dingen dieser innere Zusammenhang gefühlt werde von jedem, welcher an die Geisteswissenschaft herantritt und in ihr bis zu dem einen oder bis zu dem andern Punkt leben möchte. Das ist etwas, was überlegt sein will von jedem, der es mit der Geisteswissenschaft und mit der geisteswissenschaftlichen Bewegung ernst nehmen will. Es läßt sich nicht gut übersehen, es läßt sich nicht gut außer acht las­sen, daß, wenn man zur Geisteswissenschaft in eine Beziehung tritt, von der Geisteswissenschaft in gewissem Sinne die Anforderung an das Menschengemüt ja gestellt wird, die Interessen über die engen persönlichen Interessen hinaus zu erweitern. Es ist wirklich so, daß, indem von Geisteswissenschaft gesprochen wird, man einfach von Dingen spricht, welche notwendig machen, wenn man sich in ein richtiges Verhältnis zu ihnen setzen will, daß der Mensch sich von seinen engsten Interessen loslöst. Er soll nur keine Angst bekommen, daß er deshalb ein unpraktischer Mensch wird; er wird ein viel prak­tischerer. Dasjenige, in das sich die Menschen nach und nach hineingebracht

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haben dadurch, daß sie so ungeistig geworden sind, das ist ja nur der Glaube, daß sie praktisch sind. In Wirklichkeit sind ja die Praktiker heute furchtbar unpraktische Leute. Und die Praktiker haben ja eigentlich diese Katastrophe der Menschheit herbeigeführt. Und darinnen liegt schon etwas ungeheuer Wichtiges, daß man eigent­lich immer voraussetzen muß, wenn man recht verstehen will das Geisteswissenschaftliche: Loslösen muß man sich von seinen engsten Interessen. Man muß etwas loskommen von seiner unmittelbaren Persönlichkeit, denn es tut nicht gut, wenn man in die geisteswissen­schaftliche Bewegung die engen persönlichen Interessen hereinträgt. Das bewirkt gerade immer irgendeinen Unfug in dem Verhältnis, durch das man zur Geisteswissenschaft in Beziehung tritt. Darinnen liegt ja natürlich auch dasjenige, was heute die geisteswissenschaft­liche Bewegung noch schwierig macht. Manchmal haben die Men­schen theoretisch und abstrakt den guten Willen, in die Geisteswissen­schaft hineinzugehen mit ihrem eigenen Denken und Fühien und ihrem Wollen, aber sie bringen doch nicht ganz die Kraft auf, nun wirklich in die Losgelöstheit einzutreten, die doch schon einmal ge­fordert werden muß, um richtig zu verstehen, was vom Standpunkt der Geisteswissenschaft aus gesprochen wird. Also eine Art von Gei­steszustand, der nicht ohne weiteres in der heutigen Welt vorhanden ist, sondern wovon vielfach das Gegenteil in der heutigen Welt vor­handen ist, der wird gefordert, wenn geisteswissenschaftliche Be­wegung heilsam sein soll. Denn dadurch unterscheidet sich das ehr­liche Vorbringen geisteswissenschaftlicher Erkenntnisse von allem andern, was in der Gegenwart auftritt, daß dieses ehrliche Vorbringen geisteswissenschaftlicher Erkenntnisse ja auch keine persönliche An­gelegenheit ist, nicht das Vorbringen einer persönlichen Meinung. Würde ich die Ansicht haben müssen, daß ich nur persönliche Mei­nungen vortrage, daß ich nicht dasjenige vortrage, was sich eben heute offenbart, was gerade der Menschheit notwendig ist, so würde ich lieber schweigen. Denn persönliche Meinungen und persönliche Aspirationen geltend zu machen in einer geisteswissenschaftlichen Be­wegung, das ist eigentlich etwas Unerlaubtes. Das sollte nicht statt­finden. Gerechtfertigt ist eine solche Bewegung, wie sie hier angestrebt

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wird, nur dann, wenn vorliegt der Wille, nur das vorzubringen, was sich aus der geistigen Welt heraus beobachten läßt.

Nicht wahr, wenn Sie erzählen, wie irgendeine Stadt ausschaut, so können Sie ja unter Umständen interessant oder langweilig erzählen, aber wie die Stadt ausschaut, hängt doch nicht von Ihnen ab. Sie er­zählen Objektives. So wenig muß, was Sie selbst wollen, was Sie selbst meinen, in der Geisteswissenschaft zum Ausdruck kommen. Es muß das geistig Beobachtete in der Geisteswissenschaft nach den heu­tigen Anforderungen wirken. Wer selbst nur Persönliches eigentlich wollen kann, der kann das, was in einer geisteswissenschaftlichen Be­wegung walten soll, eigentlich deshalb doch nur mangelhaft verste­hen. Er verwechselt immer dasjenige, was in einer geisteswissenschaft­lichen Bewegung, wie sie hier gemeint ist, walten soll, mit etwas anderem, was so recht erst wiederum aus der Persönlichkeit genom­men ist. Wie viele kommen an die Geisteswissenschaft heran und möchten gerade dasjenige, was ihnen paßt als ihre Meinung, durch die Geisteswissenschaft gerechtfertigt haben. Mit jenem offenen Sinn, der notwendig ist für das Empfangen der Geisteswissenschaft, ist man nicht immer ausgerüstet. Man ist viel mehr oftmals an die Geistes­wissenschaft herankommend mit etwas ganz anderem als diesem offe­nen Sinn. Man hätte gern, wenn dies oder jenes wahr wäre und man dann auf irgendeine Weise - indem man zugibt, der geisteswissen­schaftliche Forscher kann über die Wahrheit etwas wissen - sich ein­redet: Das, was man selber meine, das sage er. Dann ist einem das angenehm. Aber man muß diesen feinen Unterschied bemerken; es ist ein feiner Unterschied, aber es ist ein ungeheuer weithin strahlender Unterschied, ein weithin bedeutsamer Unterschied, ob man nun wirk­lich die Mitteilungen aus der geistigen Welt aufnehmen will, oder ob man eigentlich nur bestätigt haben will, was einem selbst als Meinung gefällt. Und man wird nur in sorgfältigster Selbsterforschung, in ge­wissenhafter Selbsterforschung den Unterschied finden. Den Unter­schied bemerkt mancher nicht, der zur Geisteswissenschaft heran­kommt; aber dieser Unterschied muß bemerkt werden. Und bemerkt man diesen Unterschied, dann wird man schon gewahr werden, daß durch eine geisteswissenschaftliche Bewegung etwas von einem neuen

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Lebensstrom, der vorher nicht da war, gehen muß. Es kann wirklich nicht so sein, daß eine geisteswissenschaftliche Bewegung nur ein sanfter Windaug ist, der dem entgegenkommt, der die Philisterhaftig­keit seines bisherigen Daseins dieser Geisteswissenschaft entgegen­bringt und nun glaubt, dasjenige, was er so gern für wahr erkennen würde aus dieser Philisterhaftigkeit heraus, bekräftigt zu sehen durch diese Geisteswissenschaft.

Geht man in diesem Punkte ernst und gewissenhaft vor, will man nicht bloß das bestätigt haben, was man eigentlich selber meint, dann wird man sich auch auseinandersetzen mit mancherlei Dingen, die gerade in einer geisteswissenschaftlichen Bewegung als, ich möchte sagen, neue Dinge auftreten müssen, und die zum Schaden werden müssen, wenn man sie nicht beachtet. In einer solchen im Anfange begriffenen Bewegung, wie es die geisteswissenschaftllche Bewegung ist, kann manches zum Schaden gereichen, was in alten, vertrockneten Bewegungen, die nichts mehr nützen, oder wenig nützen, nicht so sehr zum Schaden gereichen kann. In solche Feinheiten müßte man sich eigentlich einlassen. Mit dem Bestreben, seine eigenen Meinun­gen, seine eigenen Aspirationen nur bekräftigt zu sehen von der gei­steswissenschaftlichen Offenbarung her, hängt es dann zusammen, daß man eigentlich ein merkwürdiges Retuschieren entfaltet mit Bezug auf dasjenige, was auftritt, ganz naturgemäß auftritt innerhalb einer gei­steswissenschaftlichen Bewegung. Man muß in der geisteswissen­schaftlichen Bewegung darauf aufmerksam sein, daß Erscheinungen mit Menschen nicht so genommen werden können wie in einem Kegelklub oder sonst irgendwo, wo sich die Menschen in ihrer gan­zen Breite, die sie durch die Außenwelt bekommen haben, wo sie nichts Neues zu bekommen brauchen, enthüllen können. Man muß schon ernst machen damit, daß man nicht durch seine eigenen Vor­stellungen die Intentionen der Geistesforschung bezeugen soll, son­dern man muß da wirklich sich bereit machen, die Dinge aufzuneh­men. Man soll sich doch vorstellen, daß da etwas hereinfließen will in die Welt, das immer weiter und weiter sich ausbreiten soll, so daß man alles, was man aufnimmt, eigentlich mit dem Bewußtsein auf­nehmen sollte: Man wird manche Zusammenhänge, die man jetzt

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noch nicht überschaut, erst später überschauen. - Diesen guten Wil­len, gewissermaßen immer alles als Vorbereitung aufzunehmen, wird ja derjenige ganz gewiß nicht haben, der persönliche Aspirationen in den geisteswissenschaftlichen Betrieb hineinträgt, denn der will so schnell wie möglich mit den Dingen frrtig werden und biegt die Dinge nach seinen gewöhnlichen Meinungen um. Er biegt nicht seine Mei­nungen nach der Geisteswissenschaft um, sondern er biegt die geistes-wissenschaftlichen Erkenntnisse nach seinen Meinungen um. Und so stellt sich oftmals besonders so etwas heraus, wie das ist, was ich in der folgenden Art charakterisieren möchte.

Nicht wahr, der Geisteswissenschafter muß ja die Welt in einer gewissen Weise beurteilen, die Welt der Natur und auch die Welt der Menschen. Darinnen besteht ja die geisteswissenschaftliche Erzie­hung, daß man sich und seine Umwelt und sein Verhältnis zur Umwelt neu beurteilen lernt, daß man etwas tiefer hineinschauen lernt in die Welt. Nun kommt es sehr häufig vor, wenn es sich darum handelt, daß, sagen wir, das Verhältnis von drei Menschen wirkt, gesagt wird: Ja, der Geisteswissenschafter B beurteilt den Menschen A in einer bestimmten Weise. - Und sehen Sie, sobald man nur ein wenig die Sphäre überschreitet, die die gewöhnliche Philistersphäre ist, die ja heute häufig ist, dann können sich immer zwei Standpunkte geltend machen mit Bezug auf eine solche Urteilsbildung von Mensch zu Mensch. Der eine Standpunkt ist der Standpunkt der Vernünftigkeit, der zweite Standpunkt ist der Standpunkt des Mitgefühles. So daß der B den A beurteilen kann, und je nachdem eine innere Notwendig­keit vorliegt, kann der B dem A gegenüber bald einmal irgend etwas tun aus reinem Mitgefühl. Paßt es dann dem C, die Sache abzulehnen, weil er nicht weiter darüber nachdenkt, weil er nicht voraussetzt: da könnte eine Notwendigkeit vorliegen des reinen Mitgefühles, dann urteilt der aus reiner Vernünftigkeit und sagt: Wie kann man so etwas machen! - Oder aber es spricht diese innere Notwendigkeit so, daß man nun einmal nicht das Mitgefühl, sondern aus gewissen Gründen, die vorliegen, die Vernünftigkeit walten läßt. Ja, wenn es dem andern besser paßt, so läßt er jetzt das Mitgefühl sprechen, und nun verurteilt er und sagt: Was ist der B für ein nichtmitfühlender Mensch! Was ist das

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für ein liebloser Mensch, was ist das für ein trockener Vernunft-mensch! Der beurteilt das nur von dem Standpunkt der Vernünftig­keit aus! - Und so können die stärksten Verkennungen entstehen gerade bei demjenigen, der sich bemüht, den inneren Nerv des Da­seins zu ergreifen, wo er manchmal etwas aus dem Vernünftigen, manchmal gerade etwas aus Mitgefühl tun muß. Wenn es dem andern dann paßt, so beurteilt er das, was aus Vernunft geschehen ist, nach dem Gesichtswinkel des Mitgefühls, das, was aus Mitgefühl gesche­hen ist, nach dem Gesichtswinkel der Vernunft, und er kann immer verurteilen oder loben, je nachdem er will. Zum Richtigen kommt man nicht auf diesem Wege, zum Richtigen kommt man nur, wenn man sich erst frägt: Ich muß den Fall mir anschauen, ich muß an­schauen, aus welchem Grunde hier Mitgefühl oder Vernünftiges ge­waltet hat. - Dadurch entstehen die kleinen Mißverständnisse des Lebens, die sich oftmals zu den furchtbarsten Verheerungen inner­halb des menschlichen Zusammenlebens auswachsen, und über die uns gerade hinwegtragen soll dasjenige, was die geisteswissenschaft­liche Erziehung in uns macht. Denn das Leben ist so, daß es sich dualistisch äußert, und weil es sich dualistisch äußert, kann man immer, je nachdem es einem paßt, irgendeinen Fall beurteilen. Das wird aber ganz wenig in Betracht gezogen, und das wird vor allen Dingen nicht in Betracht gezogen gegenüber der geisteswissenschaft­lichen Lehre selber. Die muß auch aus gewissen Intentionen in die Welt gesetzt werden. Je nachdem es einem paßt, kann man den einen oder den andern Standpunkt im einzelnen Fall wählen, wenn man nicht eingeht auf dasjenige, was aus tieferen Gründen heraus der Gei­stesforscher tun muß. Er kann oftmals mißverstanden werden. Und wenn man nicht eingeht auf dasjenige, was er tun muß aus innerer Verpflichtung gegenüber den Tatsachen, dann kann man alles miß-verstehen, denn die Welt äußert sich einmal dualistisch.

Man kann zum Beispiel in folgenden Fehler verfallen: Man kann gerade, wenn man so recht darauf aus ist, das zu wollen, das bestätigt zu haben, was einem paßt, in den schlimmsten Autoritätsglauben ver­fallen. Gerade auf dem Gebiete, auf dem auch Geisteswissenschaft tatig sein will, die nur den Menschen zum ganz freien, auf sich selbst

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stehenden Wesen machen will, kann natürlich der Autoritätsglaube sich geltend machen, tut es auch im weitesten Umfange sehr häufig. Aber der andere Pol des Autoritätsglaubens ist der Autoritätshaß. Und im Grunde genommen ist ein Mensch, der nicht durch Eingehen auf die Tatsachen, die geoffenbart werden aus der geistigen Welt, sich zur Geisteswissenschaft hingedrängt fühlt, sondern der von der Auto­rität getragen diese Wahrheiten haben will und der an Autorität glau­ben will, weil das bequemer ist, als auf die Dinge einzugehen, er ist so, daß er furchtbar leicht überspringen kann vom Autoritätsglauben, der immer eine bestimmte Art von Autoritätsliebe hat, zum Autori­tätshaß. Und solche Erscheinungen, wie sie gerade in unserer Bewe­gung aufgetreten sind, dieses Überspringen von blinder Autoritäts­anbetung, die manchmal mit einer gewissen Schamlosigkeit sogar ein­gestanden wird in dem Momente, wo man dann zum Haß übergegan­gen ist, dieses Übergehen von blinder Autoritätsanbetung zum Haß, das ist schon etwas, was innerlich als eine Gefahr vorliegt. Das ist sehr wichtig, daß man diese Zusammenhänge ins Auge faßt, denn diese Zusammenhänge sind es, welche ungeheuer schwierig machen, eine geisteswissenschaftliche Bewegung heute in einer gedeihlichen Weise zu gestalten. Sie muß in gedeihlicher Weise um des Heiles der Mensch­heit willen gestaltet werden.

Ich habe in meinem Leben eine ganze Anzahl von Menschen ge­funden, die geistige Menschen waren, die ehrlich gesucht haben nach einem Weg in die Geisteswissenschaft hinein, in, nun eben, so oder so geartete Geisteswissenschaft hinein, die auch in einer gewissen Weise vorgerückt waren in ihrer Entwickelung. Ein gewisser Typus daraus waren Enttäuschte, solche, die in irgendeiner von den jetzigen spirituellen Bewegungen enttäuscht worden waren, und die einem dann da oder dort begegnet sind. Wie viele sind von der Blavatsky-Bewegung, der Besant-Bewegung, andern Bewegungen heute ent­täuscht! Die charakteristische Erscheinung ist nicht die, daß so kuriose Umschläge stattfinden, wie sie gerade bei uns in der anthropo­sophischen Bewegung stattfinden, sondern daß man da Leute findet, die in einer gewissen Weise geistig fortgeschritten sind; nach längeren Zeiten findet man sie wiederum, aber sie sagen: Sie haben total unrecht!

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- Das ist nicht selten, daß man solche Menschen trifft. Die Geistigkeit ist heute überhaupt nicht sehr häufig, aber solche Men­schen gibt es schon, die einem nach einiger Zeit sagen: Sie haben eigentlich unrecht, denn sehen Sie, daß man die Dinge, die Sie da in der Geisteswissenschaft verkünden, öffentlich verkündigt vor den Menschen, das hat doch gar keinen Sinn! Die Menschen sind doch nicht geneigt, sie anzunehmen, sie sind doch gar nicht reif dazu. Es hat nur einen Sinn, in sich selber das auszubilden und einsam damit zu bleiben. - Solche Menschen habe ich viel gefunden, die das sagen! Und es ist geradezu ein Charakteristikon des geistig wirklich fort­geschrittenen Menschen, daß es ihm gar nicht mehr einfällt, zu seinen Mitmenschen darüber zu sprechen, sondern er behält die Sache bei sich. Dieser Menschen gibt es gar nicht so wenige in der Welt. Ich habe mit diesen Menschen nie einverstanden sein können nach dem, was ich von der geistigen Welt erkenne, aus einem gewissen inneren Grund. Diese Menschen wirken ja nützlich im geistigen Zusammen­hang, aber es werden diese Menschen zu Einsiedlern, wenn sie auch manchmal ganz in gesellschaftlichem Zusammenhange bleiben. Man kann ja Einsiedler werden, nicht wahr, trotzdem man Lackstiefel trägt und ein Hotelleben führt. Man sieht dann also dieses zweifache Men­schenleben, das eine Anzahl von Menschen führen; sie sind sogar moderne Hotelmenschen, haben Lackstiefel und meinetwillen sogar Zylinderhut, aber führen dieses äußere Leben, um sich zu maskieren, um sich innerlich zu verbergen, haben ihr innerliches Geistesleben, das sie ihren Mitmenschen nicht mitteilen wollen. Das erscheint einem als ein Tun, das nicht richtig ist, das ein Versündigen gegen die Menschheit ist. Denn es ist ja richtig: Solche Menschen wirken schon im geistigen Leben, es geht in die geistige Strömung hinein, was sie erleben; der Mensch ist ja nicht bloß ein abgeschlossenes Wesen, also was er erlebt, hat in der geistigen Welt einen Wert und seine Bedeu­tung - aber es spielt da immer die Zeitfrage eine Rolle. Solche Men­schen, die gegenwärtig so leben wie manche, die ich kennengelernt habe, auf solche Weise, die wirken schon etwas in der geistigen Welt, aber das kommt erst zur Reife nach langer Zeit, in späteren Zeit-epochen der Menschheit. Dann kann aber und würde ganz gewiß,

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wenn es nur solche immer gäbe, die ja als Eremiten ihr geistiges Sein entwickeln und nicht lehren wollen dasjenige, was sie wissen aus der geistigen Welt, was sie in sich entwickelt haben, dann würde die äußere Menschheit in der Zeit, wo die Früchte dieser Leute reif wer­den, schon so verfallen sein, daß sie es nicht mehr aufnehmen könnte. Die Erdenentwickelung würde gefährdet sein, es würde der Anschluß versäumt werden. Wir leben eben in der heutigen Zeit so, daß diese gewissen geistigen Wahrheiten, von denen wir sprechen, unbedingt der Menschheit mitgeteilt werden müssen. Es geht nicht mit der Ge­sinnung, die zum Beispiel ein Bekannter von mir äußerte, der in ge­wissem Sinne ein geistig fortgeschrittener Mensch war. Er kam nach Berlin. Ich sagte zu ihm, ob er nicht von mir einen Vortrag hören wolle, nur um zu sehen, wie da die Bewegung getrieben wird - es ist jetzt schon lange her -, da sagte er: Nein, einen Vortrag halten und zu den Leuten zu sprechen, das hat doch keinen Zweck! Uns auf ein Stündchen zusammenzusetzen und so ein bißchen zu reden, das ist mir sehr angenehm, aber geistige Dinge möglichst aus dem Spiele lassen; die muß jeder mit sich selber abmachen! - So einen Höflichkeits­besuch sich gegenseitig machen, von Alltäglichkeiten reden, das ist das beste gerade bei dieser Art geistig strebsamer Menschen. Und diese Gesinnung findet sich sehr häufig. Es wäre behaglicher, solch einer Gesinnung gemäß nachzuleben. Und behaglich ist es gerade nicht in der Gegenwart, vor die Menschheit hinzutreten und das­jenige, was man mitzuteilen als eine Verpflichtung empfindet, mit­zuteilen. Aber das sollte bei einer geisteswissenschaftlichen Bewegung durchaus berücksichtigt werden, daß aus einer inneren Notwendigkeit heraus gewirkt wird, daß es nicht eine Wahl ist, sondern die Einhal­tung einer Verpflichtung, was so geschieht.

Ich habe diese Worte am Schluß der heutigen Betrachtungen an­gebracht, weil ich immer wieder die Gelegenheit ergreifen möchte, auf das aufmerksam zu machen, was notwendig ist, wenn man ernst machen will, so wie ernst gemacht werden sollte mit einer geistes-wissenschaftlichen Bewegung in der Gegenwart. Denn dasjenige, was sonst aus einer solchen geisteswissenschaftlichen Bewegung gemacht werden kann, wenn persönliche Aspirationen, persönlicher Ehrgeiz

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hereingetragen werden, das kann zu schweren Schäden führen, muß zu schweren Schäden führen. Es hat ja außerdem noch die Schatten­seite, daß derjenige, der selbst nur meint, Persönliches durch die Gei­steswissenschaft bestätigt zu finden, gar nicht unterscheiden kann, ob der andere die Sache nun auch bloß aus persönlichen Ambitionen treibt. Dadurch kommen dann die allerschlimmsten Verhängnisse.

Nun, ich wollte auf solche Dinge hinweisen. Wir sprechen dann am nächsten Freitag wiederum weiter.

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VIERTER VORTRAG Dornach, 10. Januar 1919

Als gesprochen worden ist von dem, was die Menschen der Gegen­wart abhält, sich zur Anerkennung der geistigen Welt zu finden, wie sie durch anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft gemeint sein muß, so ist hingewiesen worden auf zwei Dinge in der mensch­lichen Seelenverfassung, die diese Abhaltung in der menschlichen Seele bewirken. Das ist auf die Mutlosigkeit, Kraftlosigkeit gegen­über der Anerkennung des Geistes, und auf die Interesselosigkeit gegenüber der wirklichen Gestalt des geistigen Lebens. Nun möchte ich gerade heute auf diese Dinge von einem Gesichtspunkte aus ein­gehen, von dem aus ich bisher noch weniger auf sie hingewiesen habe. Wenn solche Dinge besprochen werden, so muß immer berücksich­tigt werden, daß der gewöhnliche, gesunde Menschenverstand - ich habe es oft gesagt - ausreicht, um alle Dinge der Geisteswissenschaft zu verstehen, um alle Dinge der Geisteswissenschaft vorurteilslos in sich aufzunehmen. Man hat, wenn ich so sagen darf, in unserer Gegen­wart durch diese Tatsache, daß der richtig angewandte gesunde Men­schenverstand ausreicht, um die Dinge der geistigen Welt zu ver­stehen, in einem gewissen Sinne durch dieses bloße Verstehen, durch das vorurteilslose Aufnehmen alles dasjenige, was der untersuchende Geisteswissenschafter selbst von der geistigen Welt hat. Und man hat, wenn man nur den Mut und das Interesse hat, diese Dinge durch den gesunden Menschenverstand aufzunehmen, dann selbst die Möglich­keit, langsam und allmählich, je nachdem es das eigene Karma ge­stattet, in diese geistige Welt aufzusteigen. Das ist schon heute not­wendig und wird immer mehr allen Menschen ,notwendig sein, die geistige Welt einfach im gesunden Menschenverstande so verstehen zu lernen, wie von der geistigen Welt in der Geisteswissenschaft ge­sprochen wird. Wie weit der Mensch sich reif machen kann, selbst in die geistige Welt hineinzuschauen, das ist eine ganz andere Frage, das ist eine Frage, welche auch nur abgemacht werden kann in jedem ein­zelnen intimsten Seeleninneren, und die auch jeder in diesem Seeleninneren

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richtig abmachen wird, wenn er einfach durch den gesunden, nicht durch naturwissenschaftliche oder andere Dinge beeinträchtig­ten Menschenverstand die Dinge der geistigen Welt zu verstehen sucht.

Nun handelt es sich vor allen Dingen darum: Warum vermeiden es so viele Menschen, diesen gesunden Menschenverstand heute so wal­ten zu lassen, daß er dasjenige verstehen kann, oder bereit ist, es auf­zunehmen, was aus der Geisteswissenschaft kommt? Nun, über diese Frage kann man sich etwas unterrichten, wenn man hört, wie es eigent­lich mit den Dingen und Wesen der geistigen Welt aussieht, wenn der Geistesforscher in diese Welt eintritt. Ältere Zeiten haben ihre Ein­geweihten über vieles anders sprechen lassen in bezug auf die geistige Welt, als heute gesprochen werden muß. Aber es gibt selbstverständ­lich auch vieles, was in älteren Zeiten ähnlich gesagt werden konnte, wie es heute noch gesagt werden kann. So namentlich ist immer in einer Weise, die heute noch richtig ist, ausgesprochen worden, was eigentlich geschieht, wenn ein Mensch in einem seelisch unreifen Zu­stande in die geistige Welt eintreten will. Heute kann ja das so ge­schehen, daß der Mensch sich sagt: Ach was, gesunder Menschen­verstand! - Den muß man aber mindestens anstrengen, wenn man die geistige Welt erfassen will! Diese Anstrengung lieben die Menschen nicht; sie lieben es mehr, auf Autoritätsglauben hin das oder jenes an­zuerkennen. Gesunden Menschenverstand lieben heute die Menschen wirklich viel weniger, als sie glauben, und da möchten sie gewisser-maßen diesen Gebrauch des gesunden Menschenverstandes umgehen und möchten, was ihnen leichter dünkt, wenn auch vielleicht das Ur­teil unbewußt gefällt wird, durch allerlei Brüten, das sie dann Medi­tation nennen und dergleichen, in die geistige Welt direkt eindringen. Gerade das ist sehr verbreitet, daß man eigentlich in die geistige Welt eindringen möchte mit Umgehung des gesunden Menschenverstan­des. Da haben aber schon ältere in diese Dinge Eingeweihte das Rich­tige gesagt und wiederholen es heute immer wiederum. Wenn jemand unreif in seiner ganzen Seelenverfassung eindringen will in die geistige Welt, dann kommt es nur allzuleicht vor, daß er nach einiger Zeit seinen ganzen Versuch scheitern läßt; so ungefähr scheitern läßt, daß

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ihm ein Gefühl zurückbleibt, welches ähnlich ist dem, wenn man eine heißglühende Kohle anfaßt und in dem Zwischenzustand ist, sich zu verbrennen oder abzulassen. Diese Empfindung ist eine solche, die sehr häufig auftritt bei Meditanten. Sie versuchen nicht, in demselben Maße ihren gesunden Menschenverstand walten zu lassen wie den Eifer bei den sogenannten Übungen, die ja an sich selbstverständlich sehr berechtigt sind. Aber es ist immer betont worden: Der gesunde Menschenverstand darf nicht ausgeschlossen werden, und er muß aktiv, emsig angewendet werden. Wenn man versucht, eine Zeitlang so zu üben, daß man den gesunden Menschenverstand ausschließt, namentlich auch eine gewisse moralische Selbstzucht ausschließt, die man sich eben noch nicht erworben hat, dann tritt eben dieses Eigen­tümliche ein, daß man das Ganze so empfindet, wie wenn man mit den Fingern glühende Kohlen berührt, oder vielmehr nicht ganz be­rührt, sondern zurückzuckt. So zucken die Menschen vor der geisti­gen Welt zurück. Wie gesagt, es ist das immer betont worden. Es ist betont worden, weil es eine Erfahrung ist, die unzählige Lehrer der Geisteswissenschaft in früheren Zeiten, als sie atavistisch betrieben worden ist, gemacht haben, eine Erfahrung, die auch in der Gegen­wart sehr vielfach gemacht werden kann. Es wird das betont, aber wir müssen heute einmal darauf sehen, was der Grund ist, warum diese Empfindung des Anrührens und Zurückzuckens wie vor glü­hender Kohle eigentlich eintritt.

Nun können wir, wenn wir Verständnis suchen für diese Tatsache, uns an eine Grundwahrheit unserer Geisteswissenschaft erinnern, die uns völlig geläufig ist, nämlich daran, wie wir uns als Menschen ver­halten, wenn wir unser volles Leben, das zwischen Wachen und Schla­fen wechselt, ins Auge fassen. Wenn wir die alten Ausdrücke bei­behalten, so können wir sagen, daß wir, während wir schlafen, den physischen Leib und den ätherischen Leib im Bette liegen lassen und mit dem Ich und dem astralischen Leib in der Welt, die uns sonst um­gibt, ausgeflossen sind, wenn ich mich so ausdrücken dar£ Wir sind dann nicht in dem Gehäuse unseres Leibes, wenn wir schlafen, wir sind in der Welt ringsumher ausgegossen. Unser Bewußtsein als das eines Menschen ist dann, wenn wir schlafen, so gering. Wenn der

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Schlafzustand nicht durch Träume unterbrochen wird, was eine ge­wisse Erhöhung der Intensität des Bewußtseins bedeutet, sondern wenn wir den traumlosen Schlaf ins Auge fassen, dann ist unser Be­wußtsein so gering, daß wir nicht die unendlich bedeutsame Summe von Erlebnissen gewahr werden, die wir durchmachen, wenn wir in dem Zustande zwischen Einschlafen und Aufwachen sind. Nun ist gerade das, was wir wirklich ins Auge fassen sollen, nicht das abstrakte Wort: Im Schlafe sind wir im Ich und im astralischen Leib außer dem physischen Leibe -, sondern das sollen wir ins Auge fassen, daß unser Leben ein ungeheuer reiches ist zwischen dem Einschlafen und dem Aufwachen. Wir wissen es nur nicht, weil unser Bewußtsein dann geschwächt ist, weil unser Schlafbewußtsein noch nicht so stark ist wie dasjenige Bewußtsein, das wir mit dem Werkzeuge des physischen Leibes verbinden können. In der Tat, ein ungeheuer intensives Er­leben findet statt vom Ich und vom astralischen Leib innerhalb der Welt, in der wir sonst auch drinnen sind, ein intensives Erleben. Nur wird der Mensch durch seinen gewöhnlichen Erdenzustand behütet davor, dieses Leben unmittelbar wahrzunehmen, dieses Leben, das man entfaltet, indem man sich, wenn ich mich so ausdrücken darf, als Ich und astralischer Leib hindurchzwängt durch dieselben Dinge zu­nächst, in denen wir auch dann sind, wenn wir im Wachzustande uns unseres physischen Leibes und seiner Werkzeuge bedienen. Das Leben im Schlafzustand ist ein ungeheuer reiches. Aber dieses Leben hört nicht auf, wenn wir aufwachen und in unseren physischen Leib und Ätherleib untertauchen. Wir sind auch dann durch unser Ich und durch unseren astralischen Leib mit unserer Umwelt verbunden in einer Weise, von der das gewöhnliche Bewußtsein keine Ahnung hat. Nur wird es eben nicht bemerkt. Man kann nun dieses Verhältnis gerade genauer ins Auge fassen. Man kann sich fragen: Wie ist denn das nun eigentlich, was da als Verhältnis unseres Seelisch-Geistigen zu unserem Physisch-Leiblichen sich ergibt?

Es wäre für unseren gegenwärtigen Erlehniszustand eine sehr schlimme Sache, wenn wir immerfort - was wir gar nicht tun, aber wenn wir es täten, müßten wir es immerfort tun, wir könnten gar nicht anders - wahrnehmen müßten, was wir schlafend mit den Dingen

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draußen im Raum und in der Zeit erleben. Unser Leib nämlich hat eine gewisse Eigentümlichkeit gegenüber diesen Erlebnissen. Er schwächt, so kann man sagen, diese Erlebnisse ab. Alles das, was wir eigentlich in Wahrheit erleben mit unserer Umwelt, das schwächt unser Leib ab, und wir nehmen nur die Abschwächung unseres Lei­bes wahr, nicht unsere wirklichen Erlebnisse. Unsere wirklichen Er­lebnisse verhalten sich zu dem, was wir durch unseren Leib von unse­rer Umgebung wahrnehmen - und das ist ein sehr, sehr treffendes Bild, weil es eigentlich nicht bloß ein Bild ist, sondern einer okkulten Wirklichkeit entspricht -, unser Leib oder die Erlebnisse unseres Lei­bes verhalten sich zu unseren wirklichen Erlebnissen, wie sich das Sonnenlicht, das auf den Stein scheint und vom Stein so zurück­kommt, so daß wir den Stein sehen können, zu dem wirklichen Son­nenlichte verhält, das uns oben von der Sonne entgegenschaut. Sehen Sie auf den Stein, auf den das Sonnenlicht fällt: Sie können den Stein anschauen, das reflektierte, das zurückgeworfene Licht können Sie mit Ihren Augen vertragen. Wenden Sie sich vom Stein zur Sonne und schauen starr in die Sonne, werden Sie geblendet. So ist es un­gefähr mit dem Verhältnis unserer wirklichen Erlebnisse gegenüber unserer Umwelt zu dem, was wir durch die Werkzeuge unseres Leibes erleben. Das, was wir wirklich mit der Umgebung erleben, hat die Stärke des Sonnenlichtes, und dasjenige, was wir durch die Werk-zeuge des Leibes erleben, hat von dieser Stärke bloß jene Abschwä­chung, welche das abgeschwächte Licht, das uns irgendein Gegen­stand zurückwirft, von der Stärke des Sonnenlichtes hat. Wir sind Sonnenwesen in unserem innersten Menschen; aber wir können es jetzt noch nicht ertragen, Sonnenwesen zu sein. Daher müssen wir, so wie wir mit unseren äußeren physischen Augen sehen müssen auf das abgeschwächte Sonnenlicht, weil uns das direkte Sonnenlicht blen­det, unsere Umgebung wahrnehmen durch das abgeschwächte Erleb­nis unseres Leibes und seiner Werkzeuge, weil wir nicht unmittelbar uns entgegenstellen können dem, was wir wirklich von unserer Um­gebung erleben. Wir sind tatsächlich so als Menschen, wie wenn wir geblendet wären vom Sonnenstrahl, und das, was wir von uns und von der Welt wissen, ist nicht unseres Wesens, ist nicht, als wenn es

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unmittelbar erlebt würde im strömenden Sonnenstrahl, sondern ist so wie das Licht, das uns zurückgeworfen wird von den Gegenständen und das unsere Augen nicht mehr blendet. Daraus können Sie aber entnehmen, daß wenn Sie nun aufwachen in der Welt, die das ge­wöhnliche Bewußtsein nicht ertragen kann, Sie das Gefühl haben, wie wenn Sie im Sonnenstrahl drinnen wären, wie wenn Sie wirklich mit dem Sonnenstrahl leben würden. Und in der wirklichen Erfahrung, im wirklichen Erlebnis ist es sogar der sehr konzentrierte Sonnenstrahl.

Da haben Sie die Tatsache für dasjenige, was oftmals gesagt wird, daß die Leute wie heißglühende Kohlen das geisteswissenschaftliche Erlebnis wegwerfen. Sie kommen in eine Region des Erlebens hinein, in der so erlebt wird, wie das seelische Erlebnis ist, wenn Sie sich physisch den Finger verbrennen: da zucken Sie zunächst zurück, wol­len ihn nicht verbrennen. Sie dürfen nur das, was ich sage, natürlich nicht umkehren: Niemand kann dadurch, daß er sich physisch den Finger verbrennt, zum geistigen Erlebnisse kommen. Deshalb sagte ich - in der Geisteswissenschaft muß immer genau gesprochen wer­den -, wie das seelische Erlebnis, wenn man sich den Finger verbrennt.

Tatsächlich ist es so, daß der Eintritt in die geistige Welt zunächst durchaus nicht dasjenige ist, was im Menschen eitel Seligkeit bewirkt, sondern dieser Eintritt in die geistige Welt ist ein solcher, daß er - es gibt natürlich viele andere solche Erlebnisse - erkauft werden muß mit jener inneren, man könnte schon sagen Unseligkeit, welche man erlebt, wenn man sich zum Beispiel durch Feuer verbrennt. Geistig erlebt man zunächst genau dasselbe mit den Dingen und Wesenheiten und Vorgängen der geistigen Welt, wie wenn man sich zum Beispiel verbrennt. Die wirklichen Erfahrungen der geistigen Welt müssen durch solche leidvollen Erlebnisse erworben werden. Dasjenige, was von diesen Erfahrungen der geistigen Welt Seligkeit bereitet, was Befriedigung dem Leben gibt, das ist der Gedankennachglanz. Das kann derjenige, der durch Mitteilung diese Erlebnisse bekommt und durch den gesunden Menschenverstand sie auffaßt, ebenso haben wie derjenige, der eintritt in die geistige Welt. Nur müssen natürlich ein­zelne Menschen in die geistige Welt eintreten, sonst würde niemals irgend etwas erfahren werden können von der geistigen Welt.

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Diese Tatsache, die ich angeführt habe, die muß berücksichtigt werden. Es ist im Grunde genommen nicht so schwierig, schon aus äußeren Tatsachen das zu entnehmen, was ich jetzt auseinandergesetzt habe. Sie werden überall finden, da wo im Ernste, nicht scharlatan-haft, von der geistigen Welt gesprochen wird, daß immer gesprochen wird von dem Durchgang nicht durch freudige, sondern durch leid-volle Erlebnisse. Und Sie wissen, wie oft ich es besprochen habe, daß derjenige, der sich ein wenig wirkliche Erkenntnisse der geistigen Welt im Leben erworben hat, auf die Schmerzen seines Lebens, auf das Leid seines Lebens nicht unwirsch zurückblickt. Denn ein solcher sagt sich: Die Freuden, die erhebenden Momente des Lebens nehme ich gewiß als eine göttliche Gabe dankbar hin und juble über mein Schicksal, daß mir solche freudvolle, erhebende Momente zuteil ge­worden sind; aber meine Erkenntnisse habe ich von meinen Schmer­zen, meine Erkenntnisse habe ich von meinen Leiden. - Das wird jeder sagen, der wirkliche Erkenntnisse der geistigen Welt erworben hat. Hier auf der physischen Erde lassen sich Erkenntnisse der geisti­gen Welt nicht anders als auf diese Weise erwerben.

Und nun können Sie es verstehen, warum die Leute zurückzucken vor dem Verständnisse der geistigen Welt, totzdem dieses Verständ­nis mit dem gesunden Menschenverstand zu erwerben ist. Man zuckt ja gewöhnlich nur vor dem nicht zurück im Verstehen, vor dem man auch nicht zurückzuckt im äußeren Leben. Nun wären Sie natürlich höchst unvernünftig und närrisch, wenn Sie sich willkürlich die Fin­ger verbrennen wollten, um einmal auch zu wissen, wie das ist. Und wiederum, wenn Sie sich die Finger verbrennen, so geben Sie so wenig auf das seelische Erlebnis dabei acht, daß Sie auch da nicht eine eigentliche Erfahrung erwerben, wie es ist, wenn man sich die Finger verbrennt. Ja es gibt sogar eine psychologische Tatsache, welche richtig nur aufgefaßt wird, wenn man sie in dem Lichte sieht, das aus diesen Erkenntnissen fließt. Sie werden vielleicht schon be­merkt haben - ich spreche das nicht zu einem einzelnen von Ihnen, denn jedem einzelnen mute ich das natürlich nicht zu, sondern ich glaube selbstverständlich nur, daß er von diesen Dingen gehört hat -, aber Sie werden es von andern gehört und an andern gemerkt haben,

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daß sie, wenn sie sich die Finger verbrennen, schreien. Nun, warum schreien manche Menschen, wenn sie sich die Finger verbrennen? Aus dem einfachen Grunde, weil man durch dieses Schreien das seelische Erlebnis dabei übertönt. Die Menschen schreien und jam­mern überhaupt bei Schmerzen, um sie sich zu erleichtern. Und so können sie auch nicht den vollen Inhalt des Schmerzes im vollen Be­wußtsein dann erleben, wenn sie schreien; das ist wirklich ein Über­tönen des Leides, die Äußerung des Leides. Kurz, der Mensch hat im gewöhnlichen Leben nicht viel Erfahrung über diejenigen Dinge, die in der geistigen Welt erfahren werden. Dennoch liegt das vor, daß man durch den gesunden Menschenverstand die Dinge begreifen kann, weil sie überall Analogien haben in der äußeren physischen Welt, in der wir unsere Erfahrungen machen. Unverständlich sind die Dinge des geistigen Lebens eben durchaus nicht, aber man muß sich dazu entschließen, gewisse Seeleneigenschaften zu steigern, zum Bei­spiel den Mut. Man muß einfach den Mut haben, den man gewöhnlich nicht hat, wenn man etwas tut, wovor man zurückzuckt, weil es weh tut. Diesen Mut muß man haben, denn in die geistige WeJt einzudrin­gen, tut immer weh. Also man muß gewisse Seelenkräfte steigern. Das ist notwendig, das wollen aber sehr viele Menschen in der Gegen­wart nicht, Seeleneigenschaften steigern in der systematischen Weise, wie es angegeben ist zum Beispiel in meinem Buch «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Würden sie sie steigern, dann würde auch in ihrem Begriffsvermögen, in ihrem gesunden Menschen­verstand leicht walten dasjenige, was notwendig ist, um durch diesen gesunden Menschenverstand die Erlebnisse des Fingers in der geisti­gen Welt, das in diesem Sinne nun, wie ich es geschildert habe, ein leidvolles ist, zu verstehen. Wir leben einmal in einer Epoche, in der eine solche Steigerung der menschlichen Seelenverfassung notwendig ist, weil sonst die Menschheit ihr Erdenziel nicht erreichen kann, weil sonst Katastrophe über Katastrophe eintreten müßte und endlich das Chaos kommen würde.

Nun habe ich aber, indem ich diese Dinge erörtert habe, gerade in dieser Zeit, in der es ganz besonders notwendig ist, ein anderes stark betont. Das ist, daß man mit jener Abschwächung der Seelenverfassung,

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die nun schon einmal vorhanden ist beim gegenwärtigen Men­schen, vorzüglicher Naturforscher im gegenwärtigen Sinne des Wor­tes sein kann, und man kann auch mit diesem Verstande, der nicht der gesunde Menschenverstand ist, sondern der durch naturwissen­schaftliche Autorität hochgetragene Menschenverstand ist, dasjenige, was die Außenseite unserer physischen Umgebung ist, gerade gut verstehen; man kann es nicht innerlich geistig verstehen, aber man kann die Außenseite gerade gut verstehen. Was man aber nicht kann mit den Begriffen, welche die Naturwissenschaft gibt, nicht kann mit dem, was gerade an Aufwendung des Denkens die heutige Mensch­heit gewöhnt ist, das ist: Ordnung bringen in die nach und nach chaotisch werdende soziale Struktur des menschlichen Zusammen­lebens. Mit andern Worten: Die sozialen Forderungen der Gegenwart und der nächsten Zukunft, sie werden niemals lösbar sein durch das­jenige, was das Denken über die Natur und Naturerscheinungen ge­nannt werden kann. Gerade in diesem Punkte müssen unsere Zeit­genossen noch ungeheuer viel lernen. Gerade in diesem Punkte gehen einmal unsere Zeitgenossen nicht mit dem, was Geisteswissenschaft aus dem innersten Verständnis des Wesens unserer Welt heraus sagen muß. Geisteswissenschaft muß ja trotz aller Einwände, die immer mehr und mehr heute gemacht werden, gerade in diesem Punkte sagen: Wie auch herumgepfuscht und herumgedoktert wird auf dem Gebiete der sozialen Fragen, all dieses Herumpfuschen und Herum­doktern wird zu nichts führen, ja im Gegenteil, es wird zu noch grö­ßerer sozialer Verwirrung führen, als es in einzelnen Gebieten des Erdendaseins schon da ist, wenn nicht anerkannt wird, daß die Ein­sichten in die sozialen Fragen nur aus der geistigen Erfassung des Weltendaseins kommen können. Die sozialen Fragen müssen geistes-wissenschaftlich gelöst werden. Alles übrige ist auf diesen Gebieten Dilettantismus.

Da müssen wir, um von einem gewissen Gesichtspunkte aus über die Dinge zu sprechen, uns an das andere wenden. Was die Menschen gegenwärtig so sehr abhält, an das Geisteswissenschaftliche heran­zudringen, das ist die Interesselosigkeit gegenüber dem geistigen Leben. Diese Interesselosigkeit gegenüber dem geistigen Leben haben

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ja fast alle Naturforscher der Gegenwart. Sie sind gleichgültig gegen­über dem geistigen Leben. Sie negieten es oder bringen in Gesetze, was sie mit den physischen Sinnen beobachten, was sich durch das Mikroskop oder Teleskop beobachten läßt; aber sie haben kein Inter­esse an dem, was jeder Blick, jeder wirkliche Blick in die Natur ver­rät: daß hinter den Naturerscheinungen und Naturtatsachen Geistiges waltet. Aber insbesondere ist diese Interesselosigkeit gegenüber dem Geiste heute vorhanden bei denen, die in den sozialen Fragen herum-pfuschen und herumdoktern wollen. Und da liegt noch ein besonde­rer Grund vor.

Aus mancherlei Dingen, die ich in der letzten Zeit besprochen habe, werden Sie entnehmen können, daß wir in einem ganz besonderen inneren Seelenleben sind, wenn wir als Mensch dem Menschen gegen­überstehen. Ich habe es radikal ausgedrückt, in welcher Seelenverfas­sung wir da sind, wenn wir als Mensch dem Menschen gegenüber­stehen. Ich habe Ihnen gesagt: Eigentlich hat das einander Gegenüber­stehen von Mensch zu Mensch auf uns immer etwas Einschläferndes. Wir schlafen mit Bezug auf die innersten Eigentümlichkeiten unseres Menschenwesens eigentlich ein durch die Gegenwart des andern Menschen. Daß wir durch unser äußeres Verhalten über dieses Ein­schlafen getäuscht werden, das ist nicht zu verwundern. Denn gewiß, wir sehen mit Augen den andern Menschen, wir reichen ihm so­gar die Hand und betasten ihn, aber das hindert doch nicht, daß unser tieferes menschliches Wesen durch den andern Menschen eingeschiä­fert wird. So wie wir abends mit Bezug auf die äußere Natur ein­schlafen, so schläft etwas in uns ein durch die Gegenwart des andern Menschen. Aber wenn es einschläft, hört es deshalb nicht auf, wirk­sam zu sein. Und so finden immerfort Wirkungen von Mensch zu Mensch statt im sozialen Leben, über die die Menschen gerade da-durch, daß sie mit Menschen zusammen sind, kein klares Bewußtsein haben können. Gerade das Wichtigste im sozialen Leben entgeht den Menschen in bezug auf das gewöhnliche Bewußtsein, weil für dieses Wichtigste im sozialen Leben eigentlich gerade das Vorstellungsver­mögen eingeschläfert wird und der Mensch instinktiv handelt. Kein Wunder, daß im sozialen Leben heute, wo im Bildvorstellen der Intellekt

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am leichtesten einzuschläfern ist, die wüstesten Instinkte wal­ten und sogar als wüsteste Instinkte für ganz berechtigt erklärt wer­den, weil das klare Denken über diese Dinge einfach durch das Zu­sammensein von Mensch und Mensch eingeschläfert wird. Aber in dem Augenblicke, wo der Mensch in die geistige Welt eintritt, da wacht das auf, was eingeschläfert wird, da wird klar, was zwischen Mensch und Menschen waltet. Da können daher auch gefunden wer­den die Lösungen der sogenannten sozialen Fragen und sozialen For­derungen. Die können also nur gefunden werden, wie ich schon ein­mal hier sagte, jenseits der Schwelle des sinnlichen Bewußtseins. Und was die Menschheit wird haben wollen in der Zukunft von sogenann­ten Lösungen der sozialen Fragen, das wird, wenn es wahre Lösun­gen der sozialen Fragen sein sollen, nur gewonnen werden können auf dem Wege der Geisteswissenschaft, das heißt, der Wissenschaft vom Übersinnlichen, weil alles Zusammenleben der Menschen in sei­nen intimeren Unterlagen übersinnlicher Natur ist.

Wenn man aber diejenigen Dinge geistig erleben will, die sich auf Mensch und Menschheit beziehen, die sich auf die menschliche soziale Struktur beziehen, da muß man in sein ganzes Vorstellungsvermögen, in alles das, was man erlebt, etwas hineinbringen, wovon Sie gleich sehen werden, daß es heute im gewöhnlichen Bewußtsein kaum vor­handen ist. Es gibt nur eines hier in der physischen Welt an Empfin­dungen, an Gefühlen, welche gleich sind mit den Empfindungen und Gefühlen, die jemand haben muß, wenn er nicht wesenlos, sondern wesentlich die sozialen Gesetze, die sozialen Impulse erforschen will. Das gibt es nur eingeschränkt hier in der physischen Welt, und zwar dann, wenn ein vollständig gesundes, ein vollständig richtiges Ver­hältnis vorhanden ist zwischen Vater, Mutter und Kind, im Heran­ziehen von Vater, Mutter und Kind. In allem, was sonst erlebt werden kann im Umkreis der Welt zwischen Mensch und Mensch, gibt es das nicht zunächst für das gewöhnliche Bewußtsein.

Nun versuchen Sie, diese Mutterliebe sich klarzumachen, jene Liebe, welche die Mutter entfaltet, wenn sie ein Kind unmittelbar geboren hat, diese ganz selbstverständlich aus der Natur quellende Mutterliebe zum Kinde - Sie können es schon in diesem Radikalismus

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tun -, und fragen Sie jetzt, ob in all den wissenschaftlichen Unter­suchungen, welche Gelehrte gewöhnlich pflegen - auch solche Ge­lehrte, welche sozialwissenschaftliche Untersuchungen machen -, diese Mutterliebe waltet? Diese Mutterliebe muß man haben zu den Ge­danken, die man über die soziale Struktur entfaltet, wenn diese Gedanken wesentlich sein sollen und nicht wesenlos. Es gibt im menschlichen Leben nichts anderes, was sozial richtig gedacht sein könnte, als dasjenige, welches mit Mutterliebe sozial gedacht ist.

Und nun nehmen Sie die verschiedenen sozialen Reformatoren und sozialen Denker. Versuchen Sie zum Beispiel so etwas auf sich wirken zu lassen, wie die Schriften von Karl Marx, Schmoller oder Roscher, oder wen Sie wollen, und fragen Sie sich, ob diese, indem sie ihre sogenannten sozialpolitischen Gesetze ausdenken, in diesem Ausden­ken der sozialpolitischen Gesetze dasselbe walten lassen, was sonst in der Mutterliebe zu dem Kinde lebt, wenn sich diese Mutterliebe ge­sund entfaltet? Aber auf das muß man hinweisen: Eine gesunde Lösung der sogenannten sozialen Frage ist nicht anders möglich, als wenn diese Lösung kommt von Denkern, welche - Sie werden ver­stehen, was ich meine, wenn ich mich jetzt so ausdrücke - Mutterliebe entfalten können beim Lösen ihrer Probleme. Es ist eine sehr mensch­liche Sache, von der die Lösung der sozialen Forderungen in der Gegenwart abhängt. Es ist nicht eine Sache des Scharfsinns oder der gewöhnlichen Klugheit oder des Gelehrtenglaubens, sondern es ist eine Sache der Erhöhung der Liebefählgkeit bis zu dem Grade, wie sich Mutterliebe entfaltet, oder wir können auch sagen, die unmittel­bare, intime Liebe in dem Zusammenleben von Vater, Mutter und Kind.

Nun werden Sie mit Recht einen Einwand machen. Sie werden sagen: Nun, auf der Erde ist die Sache schon einmal so eingerichtet, daß die soziale Struktur gewissermaßen zu ihrer engsten Kleinheit die Familie hat, und auf der Erde ist diese Familie als solche selbstver­ständlich voll berechtigt, und es kann doch nicht die ganze Mensch­heit eine Familie werden! - Das ist ein Einwand, der natürlich sofort kommen wird. Aber wenn man ausdenken soll soziale Gesetze mit Mutterliebe, so müßte eigentlich daraus folgen, daß die ganze Menschheit

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eine Familie wird. Das kann natürlich nicht sein. Nur derjenige, der sich Rechenschaft davon gibt, was ein wahrer Gedanke und kein scharlatanhaft abstrakter Gedanke ist, der wird sich gestehen müssen, daß natürlich so unmittelbar der Mensch sich nicht zu jedem Kinde so verhalten kann wie zu seinem Kinde, daß nicht jedes Kind sich zu jeder andern Frau, zu jedem andern Mann so verhalten kann, wie es sich zum Vater, zur Mutter verhält und so weiter. Also kann nicht die ganze Menschheit eine Familie werden. Das ist ganz richtig, aber eben weil das richtig ist, liegt eine andere Notwendigkeit vor. Wir können so, wie wir als physische Menschen hler auf der physischen Erde leben, ganz und gar nicht aus der ganzen Menschheit eine Familie gründen, und wer das wollte, der würde natürlich einen Un­sinn wollen. Aber wir können es in anderem Sinne doch. Und in ande­rem Sinne muß es sogar geschehen. Zum physischen Menschen kön­nen wir nicht so stehen, wie Vater, Mutter und Kind stehen. Aber wenn in der Menschheit Platz greifen wird die Erkenntnis, daß in jedem Menschen ein Geistig-Seelisches lebt, daß in jedem Menschen durch die Augen herausleuchtet ein göttlich-geistiges Wesen, aus sei­nen Worten erklingt die Botschaft eines göttlich-geistigen Wesens, wenn mit andern Worten nicht mehr bloß in abstracto anerkannt wird, daß der Mensch eine unsterbliche Seele hat, sondern in unmit­telbarer Empfindung im Gegenübertreten von Mensch zu Mensch es anerkannt wird: Schaue ich dem Menschen ins Auge, so leuchtet mir heraus eine Unendlichkeit, höre ich den Menschen sprechen, so spricht nicht bloß der physische Ton, sondern es erklingt das gött­lich-geistige Wesen seiner Seele -, wird das unmittelbare Empfindung, so wie wir irgendeine Fläche blau oder rot empfinden, werden wir empfinden können, daß der Mensch, indem er sich äußert, göttlich-geistiger Natur ist, lernen wir nicht bloß glaubensgemäß anerkennen, daß der Mensch eine unsterbliche Seele hat, sondern nehmen wir diese unsterbliche Seele in der Äußerung des Menschen unmittelbar wahr: dann ist der Moment eingetreten, wo wir zwar nicht in bezug auf den physischen Menschen, aber mit Bezug auf dasjenige, was der Mensch intim in seinem Inneren birgt als geistig-seelischer Mensch, uns so verhalten können, wie wenn die ganze Menschheit eine große Familie

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wäre. Denn zu dem Geistig-Seelischen eines jeden Menschen können wir in diese Beziehung treten. Das ist dasjenige, was aber allein mög­lich machen wird, all einzig, die Lösung der sogenannten sozialen Frage. Daher ist diese Lösung der sozialen Frage einfach gegeben in der Anerkennung der göttlich-geistigen Natur des Menschen, in der Anerkennung dessen, daß dasjenige, was vom Menschen hier als physischer Leib auf der Erde herumgeht, nur der äußere Ausdruck ist für etwas, was in jedem Menschen aus der Ewigkeit hereinleuchtet. Zu dem, was uns da im Menschen aus der Ewigkeit hereinleuchtet, können wir uns verhalten in demselben Sinne, wie wir uns im rich­tigen Verhältnis der engsten Familie verhalten. Das können wir, kön­nen wir in jeder Richtung. Wir können dann, wenn wir dies anerken­nen, jene Menschenliebe aufbringen, die so groß ist wie die Familien-liebe.

Der Einwand gilt ja selbstverständlich nicht, und es wäre auch sehr oberflächlich, wenn man die Dinge so betrachtete: Ja, aber es gibt doch auch schlechte Menschen! - Meine lieben Freunde, es gibt auch schlechte Kinder, die wir eben strafen müssen; aber wir bestrafen sie mit Liebe! In dem Augenblicke, wo wir in den Menschen herein-leuchten sehen das Göttlich-Geistige, werden wir, wo es notwendig ist, bestrafen, aber wir werden mit Liebe bestrafen. Wir werden vor allen Dingen eines lernen, was wir nur, ich möchte sagen, instinktiv üben, wenn wir familienhaft einem andern Menschen gegenüber­stehen: Wenn wir familienhaft einem andern Menschen gegenüber­stehen, dann strafen wir, aber wir hassen nicht den Menschen. Wir hassen nicht den Menschen, der unser Sohn ist, auch wenn wir ihn strafen, aber wir hassen das Laster, das er hat. Den Menschen lieben wir; seine Untaten und seine Ungezogenheit, die hassen wir, da wis­sen wir zu trennen zwischen dem Menschen und etwas, was ihn an­gefallen hat. Wenn die Menschen einmal jenen großen, gewaltigen Unterschied verstehen werden, der da besteht zwischen Menschen­liebe und Haß auf die Untaten, die den Menschen anfallen, dann wird ein richtiges Verhältnis von Mensch zu Mensch sich einstellen. Wir haben, wenn wir unserer innersten menschlichen Natur folgen, nie­mals die Möglichkeit, einen Menschen zu hassen. Wir haben selbstverständlich

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viele Veranlassung, menschliche Verbrechen, Untaten, menschliche Charakterschwäche, menschliche Charakterlosigkeit zu hassen. Der große Irrtum, den wir im sozialen Verhalten begehen, besteht dann in der Regel darin, daß wir dasjenige, was wir der Untat und dem Verbrechen entgegenbringen sollen, auf den Menschen über­tragen. Wir tun es heute instinktiv, müssen uns aber dessen bewußt sein, daß die neuere Entwickelung der Menschheit in der Linie liegt, zu trennen zwischen dem Haß gegenüber der Untat, und der Liebe, die man zu dem Menschen trotzdem empfindet.

Mit der Anerkennung solcher Wahrheiten würde mehr getan sein für die Lösung der heute brennenden sozialen Forderungen als mit manchem andern, was heute als sozialistische Pfuscherei oder sozia­listischer Doktrinarismus durch die Welt geht. Es ist gegenüber dem Materialismus, der überall das derb Materielle braucht, schwierig, von solchen Dingen wirkungsvoll zu sprechen, aus dem einfachen Grunde, weil die Menschen heute - was schädlicher ist als die materialistischen Theorien - in ihren Instinkten vielfach materialistisch sind. Das Ver­brechen, die Charakterlosigkeit, die kann man nicht sehen, die sind nicht materiell vorhanden; weil man aber das Materielle hassen will, hält man sich an den materiellen Menschen mit seinem Haß. Daraus entstehen unzählige Mißverständnisse.

Was auch als ein schlimmes Mißverständnis daraus entsteht, ist, daß man manchmal aus irgendwelchen mißverstandenen Empfindun­gen und Gefühlen heraus auch nach der andern Richtung den Men­schen mit dem verwechselt, was er tut. Man wird lässig in der Be­urteilung desjenigen, was die Menschen tun, indem man sagt: Ach, wir wollen doch dem Menschen nicht weh tun; Menschenliebe zwingt mich, da oder dort ein Auge zuzudrücken. - Geschieht die Beurtei­lung der Sache nur so, daß man das Auge richtet auf dasjenige, was als Untat getan wird, und nicht den Menschen in seinem innersten Seelenleben mit der Untat verwechselt, dann wird schon das richtige Urteil erfließen. Bequemer ist es auf der einen Seite, wenn man ohne­dies jemanden nicht mag, gegen ihn, wie man oftmals sagt, gerecht zu sein; bequem ist es aber auch, Fehler, durch die ein Mensch schäd­lich wirken kann in der äußeren Welt, zu entschuldigen, weil einem

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das so paßt. Im Gesamtzusammenhang der Menschheit kommt un­geheuer vieles darauf an, daß wir trennen können dasjenige, worauf wirklich unsere Antipathie gehen darf, und dasjenige, was der Mensch als solcher unmittelbar ist.

Ich habe oft betont: Nicht eine Kritik der Kultur und Zeitverhält­nisse soll das sein, was in solchen Zusammenhängen von diesem Orte aus ausgesprochen wird, sondern eine einfache Charakteristik. Daher werden Sie es auch verstehen, wenn ich sage: Die sogenannte abend­ländische zivilisierte Menschheit, die Menschheit Europas mit ihrem amerikanischen Anhang, die mußte eine Zeitlang durchgehen durch dieses Stadium, nicht nur die Dinge naturwissenschaftlich materiali­stisch zu nehmen, sondern auch das Leben materialistisch zu nehmen, indem man die Menschen verwechselt mit ihren Taten in dem an­gedeuteten Sinne. Das lag in der Erziehung: damit sich die andern Eigenschaften richtig entwickeln können, mußten die Menschen durchgehen durch das Stadium des Materialismus auch auf diesem Gebiete. Aber Menschen, die zurückgeblieben sind auf früheren Kul­turstufen, die haben Mannigfaltiges sich bewahrt von früheren Kultur­stufen, in denen es noch atavistisches Hellsehen gab. Und atavistisches Hellsehen hat dann im Gefolge ganz bestimmte Empfindungsrichtun­gen und Seelenverfassungen. Wir Europäer können erst gewachsen werden dem, was von gewissen Seiten auf uns anstürmt, wenn wir dies bedenken, was heute ausgeführt worden ist. Denn vergessen wir zum Beispiel folgendes nicht: Denker, die als sehr erleuchtet angesehen werden, wie zum Beispiel Immanuel Kant, sprechen - und das ist ja nur aus gewissen Untergründen nicht des Christentums, sondern des Kir­chentums heraus - von dem radikal Bösen in der menschlichen Natur. Und wie verbreitet ist dieser Irrtum - wir können es schon so nennen-, daß die menschliche Natur eigentlich in ihrem Inneren böse ist! In der zivilisierten Welt Europas und ihrem amerikanischen Anhang sagt man: Wenn die menschliche Natur nicht gebändigt wird, so ist sie böse. - Das ist eigentlich eine europäische Ansicht, das ist eine An­sicht des europäischen Kirchentums.

Es gibt eine Menschheit, die hat diese Ansicht nicht, die hat sich aus früheren Zeiten eine andere Ansicht bewahrt. Das ist zum Beispiel

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die chinesische Menschheit. In der chinesischen Weltanschauung als solcher herrscht der Satz, herrscht das Prinzip: Der Mensch ist von Natur aus gut. - Es ist ein gewaltiger Unterschied, der eine viel grö­ßere Rolle spielt, als man meint, in jenem Konflikte der Menschheit, der sich ausbilden wird. Freilich, wenn man heute von diesen Dingen redet, glauben einem die Leute das ebensowenig, wie wenn man im Jahre 1900 von dem Krieg gesprochen hätte, in dem wir jetzt drinnen­stehen. Aber wahr ist es deshalb doch, daß ein Konflikt sich vor­bereitet auch zwischen der asiatischen und der europäischen Mensch­heit. Und da werden noch ganz andere Dinge eine Rolle spielen, als sie gespielt haben, oder noch spielen und weiter spielen werden in dem katastrophalen Konflikt, in dem wir drinnenstehen.

Das ist schon in der ganzen Empfindungsweise ein großer Unter­schied, ob man wie der Chinese davon überzeugt ist: Der Mensch ist von Natur aus gut - oder wie der Europäer: Der Mensch ist von Natur aus mit dem radikal Bösen behaftet -, das ist schon ein großer Unterschied, ob ein Mensch so oder so denkt, vom völkermäßigen Weltanschauungsstandpunkte aus. Daß der eine Mensch so und der andere so denkt, das äußert sich in dem ganzen Lebenstemperament, in der ganzen Lebensseelenverfassung. Die Menschen bleiben ja zu­meist an den Äußerlichkeiten der Lebenskonflikte hängen; was in den innersten Naturen zugrunde liegt, darauf nehmen sie gewöhnlich doch wenig Rücksicht.

Ich will nur eines erwähnen. Sehen Sie, dieser Umstand, daß der europäische Mensch, wenn er es sich auch gewöhnlich nicht gesteht, im Grunde genommen immer überzeugt ist, daß der Mensch eigent­lich schlecht ist und daß er erst brav werden muß durch Erziehung und durch Bändigung, Staats- oder sonstige Bändigung, diese Tat­sache hängt historisch-notwendig innig zusammen mit etwas ande­rem: sie hängt damit zusammen - nicht die Tatsache selbst, aber die Empfindungsqualitäten, die ihr zugrunde liegen -, daß der europai­sche Mensch ein gewisses Leben in der Seele ausgebildet hat in der Form, die man mit Logik und Wissenschaft bezeichnet. Daher wer­den Sie es begreiflich finden, daß wirkliche Kenner des Chinesischen, das heißt nicht europäische Kenner, sondern Chinesen selber, Kenner

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des Chinesischen, die auch Europa kennengelernt haben, wie zum Beispiel der Ihnen hier öfter erwähnte Ku Hung-Ming, daß die be­tonen, es gäbe in der chinesischen Sprache keine Gegenworte für Logik und Wissenschaft. Was wir europäische Wissenschaft nennen, was wir europäische Logik nennen, dafür hat also der Chinese über­haupt kein Wort, weil er die Sache nicht hat, weil dasjenige, wovon die Europäer glauben, daß es chinesische Wissenschaft ist, etwas ganz anderes ist, als was wir Wissenschaft nennen, und was wir Logik nen­nen, etwas ganz anderes, als wovon wir Europäer glauben, es sei Logik in der Seele der Chinesen. So verschieden sind die Menschen auf der Erde! Darauf muß man den Blick richten. Ohne daß man den Blick darauf richtet, ist ein fruchtbares Reden über das soziale Pro­blem ja nicht möglich. Wenn man aber auf solches den Blick richtet, dann erweitert sich der geistige Horizont. Und diese Erweiterung des geistigen Horizontes, die ist es namentlich, welche für das gesunde Verständnis von Geisteswissenschaft notwendig ist.

Und wenn man nach den mancherlei Dingen frägt - wir haben ja heute schon zwei Dinge berührt, können noch ein drittes berühren -, wenn man frägt, warum die Menschen sich gewohiiheitsmäßig heute noch so fernhalten von den geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen, so ist unter anderem auch der Grund vorliegend, daß die Horizonte, der geistige Horizont der gegenwärtigen Menschheit ein sehr enger ist. Wie sich der Mensch auch hervortut, groß tut mit seinem geistigen Horizont in der Gegenwart, der geistige Horizont der gegenwärtigen Menschen ist ein sehr enger. Er zeigt sich in seiner Enge namentlich dadurch, daß der Mensch in der Regel es in der Gegenwart außer­ordentlich schwierig hat, mit Bezug auf gewisse Dinge aus sich selber herauszugehen. Und das beeinflußt nicht nur sein Verständnis, das beeinflußt auch sein ganzes Sympathie- und Antipathieleben.

Ich möchte Ihnen eine Tatsache, die einer ganzen Anzahl von Ihnen ja als Tatsache bekannt ist - das heißt, die Wirkung dieser Tatsache ist einer ganzen Anzahl von Ihnen bekannt -, die ich schon einmal erwähnt habe, noch einmal erwähnen. Sie wissen, daß ein gewisses Verhältnis bestanden hat vor Jahren zwischen der sogenannten Theo­sophischen Gesellschaft und denjenigen Menschen, die heute die

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Antliroposophische Gesellschaft bilden. Nun habe ich gerade von her­vorragenden Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft Merkwür­diges erlebt. Ich habe ja schon im Anfange dieses Jahrhunderts, wie Sie wissen, Mitteilungen aus der sogenannten Akasha-Chronik ver­öffentlicht, Mitteilungen, von denen ich sagen darf, ebenso wie von allem übrigen, das ich aus der geistigen Welt mitteile, daß es auf per­sönlicher Erfahrung beruht. Als diese Mitteilungen gelesen wurden von einem hervorragenden Mitgliede der Theosophischen Gesell­schaft, konnte man gar nicht verstehen, daß es so etwas gibt. Man fragte mich: Wie kommen diese Mitteilungen zustande? - Und es war gar nicht möglich, sich überhaupt zu verständigen, weil die wirklich der heutigen Zeit angemessene Methode geisteswissenschaftlicher Forschung in jenem Kreise überhaupt ganz unbekannt war. Da forschte man auf mehr mediale Weise. Man wollte eigentlich im Grunde das Medium oder die mediumähnliche Person genannt haben, durch welche diese Akasha-Chronik-Mitteilungen zustande gekom­men sind. Daß sie wirklich durch eine gewisse, ins Übersinnliche hin­einragende menschliche Seelenverfassung in unmittelbarer Beobach­tung sich ergeben, das hielt man für unmöglich. In solchen Dingen spricht sich menschliche Engherzigkeit aus. Man hält, selbst auf einem so wichtigen Gebiete, nur das für möglich, was einem geläufig ist, was einem nahe liegt.

Nun, ich habe gerade dieses Beispiel angeführt, weil man ja gar nicht in die Geisteswissenschaft eindringen kann, wenn man eng­herzig ist. Aber im gewöhnlichen Leben ist diese Engherzigkeit heute das übliche: alles immer auf den persönlichen, gerade gewohnten Standpunkt zurückzubeziehen. Das ist es, was jene bedenken müßten vor allen Dingen, die sich gerade zu unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung bekennen. Ich werde jetzt etwas sagen, was ja, wenn man die Dinge nur innerlich systematisch sagen würde, vielleicht nicht so gesagt zu werden brauchte, was aber im äußeren Lebenszusammen­hange zu sagen schon notwendig ist. Diejenigen, die sich genauer um unsere Bewegung bekümmern, wissen ja, wie sehr die Quellen dieser Bewegung angegriffen werden, angefeindet werden, gehaßt werden von manchen, die vorerst gute Anhänger waren. Ich habe schon das

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letzte Mal von verschiedenen Gesichtspunkten über diese Dinge ge­sprochen. Nun, es ist nicht überflüssig, sich die Gründe solcher Gegnerschaften von gewissen Seiten klarzumachen. Über die Gründe solcher Gegnerschaften da oder dort habe ich ja das letzte Mal ge­sprochen. Aber besonders intensiv werden solche Gegnerschaften sehr häufig dann, wenn sie auftreten bei Leuten, welche diesen oder jenen, sagen wir okkulten Gesellschaften angehören. Der Haß man­cher der oder jener Gesellschaft Angehörigen, der sich entwickelt gegenüber dem, was hier als Geisteswissenschaft vertreten wird, der ist manchmal ein wirklich stark hervorstechender, und er nimmt manchmal groteske Formen an, und es ist nicht unnötig, diese Dinge ins Auge zu fassen, denn wir sollen alles ins Auge fassen, was uns gerade dazu bringen kann, mit völligem Ernste dieser Bewegung an-zugehören. Es ist ja wahr, mit nichts wird in der Welt mehr Scharlata­nerie getrieben als mit der Vertretung von geistigen Angelegenheiten durch allerlei Gesellschaften. Daher ist es so leicht, dasjenige zu ver­dächtigen, was als geisteswissenschaftliche Bewegung auftritt, weil ja wirklich so viel Scharlatanerie in der Welt getrieben wird. Derjenige, der es dann will, kann leicht Zustimmung finden, wenn er sagt: Ja, da ist einmal eine Gesellschaft aufgetreten, die hat behauptet, daß sie die Weisheit aller Welt vertreibt; es hat sich nachher als Scharlatanerie enthüllt. Und dann ist dort eine andere aufgetreten: wieder hat es sich als Scharlatanerie enthüllt! - Das muß zugegeben werden, solche Scharlatanerien gibt es unendlich viel in der Welt. Da muß man schon Unterscheidungsvermögen haben, um das Wahre von dem Scharla­tanhaften zu unterscheiden.

Aber es kann ein anderer Fall eintreten. Es kann zum Beispiel eine gewisse Unsicherheit in der Seele eintreten. Solche Unsicherheit kann in folgendem bestehen: Ein solcher Mensch kann dann bekannt­werden mit dem, was hier getrieben wird. Wenn er nun nicht einen offenen Sinn hat, wenn er Persönliches verfolgt, dann kann er in fol­gende zwiespältige Seelenstimmung kommen. Er kann auf alle Ge­fahren hinweisen, er kann sich sagen: Ach, wie ist das nun? Ich habe ja so oft gehört von geheimen oder sonstigen Gesellschaften, etwas von Erkenntnis, wirklicher Erkenntnis habe ich da nicht erlebt! Man

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redet zwar von allem Möglichen, es steht in den Büchern, es wird in den Ritualen verzapft, aber so lebendige Erkenntnis fließt da nicht. Ist nun dasjenige, was sich da Anthroposophie nennt, von derselben Art, oder ist es etwas anderes? - Da kann er in zwiespältige Seelen­stimmung kommen. Wenn man nicht eingehen kann auf dasjenige, was hier wirklich lebt, ist es so, daß man sich, trivial übersetzt, sagen kann: Ist das derselbe Schwindel wie der Schwindel, der mir eigent­lich angenehmer ist, weil er nicht so große Anforderungen stellt?

Die Dinge, die ich hiermit ausspreche, sind nicht so irreal. Und sie sind vor allen Dingen aus dem Grunde ausgesprochen, weil ich dar­auf hinweisen will, daß schon eben Ernst und Würde - was ich oft gesagt habe - und Unterscheidungsvermögen notwendig ist, damit nicht das Unangenehme eintritt, was sehr häufig eintritt, daß wirk­liches Geistesleben um einem herum ist, während man eigentlich lie­ber das Gerede über das geistige Leben haben möchte, denn das ist bequemer. Gerade der Umstand, daß hier das wahr ist, was ich in meinem Buche «Theosophie» betont habe, daß nur von geistigen Er­fahrungen geredet wird, gerade das ist, was so viel Gegnerschaften hervorruft. Die Gegnerschaft der Theosophischen Gesellschaft ist auch eigentlich erst in dem Momente gekommen, als dort bemerkt worden ist, daß hier Anspruch darauf erhoben wird, daß wirkliche geistige Erfahrungen besprochen werden. Das konnte man nicht ver­tragen. Man wollte zwar gern Leute haben, die nachsprechen das­jenige, was dort vorgetragen wird, die mit einem gewissen Eifer das nachsprechen; aber selbständige geistige Forschung, das war doch im Grunde genommen die große Sünde wider den heiligen Geist der Theosophischen Gesellschaft. Und diese selbständige Geistesfor­schung, die hat es heute noch nicht gar so leicht in der Welt. Darauf wollte ich auch neulich am Schluß in meiner Betrachtung hindeuten. Und es wird Ihnen schon nötig sein, gerade diese Dinge mit gesun­dem Sinn, aber auch mit vollem Ernst ins Auge zu fassen. Die Zeit ist ernst, und das muß ernst sein, was wir als das Heilmittel der Zeit aus der geistigen Welt heraus empfangen wollen.

Davon wollen wir dann morgen weiterreden.

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FÜNFTER VORTRAG Dornach, 11. Januar 1919

Wenn man die Bedeutung geisteswissenschaftlichen Eindringens in die Welt für die Gegenwart ins Auge fassen will, so darf man nicht außer acht lassen, daß dieses Eindringen, wie wir aus den verschie­densten Betrachtungen, die wir angestellt haben, ja schon entnehmen können, mit sich bringen wird eine wesentliche Erhöhung der mensch­lichen Auffassung des Mysteriums von Golgatha. Und man kann sagen, wer nicht nur mit dem gewöhnlichen, vernünftigen Nach­denken, sondern mit seiner ganzen Seele, mit seinem ganzen Gemüte sich vereinigt mit den Erkenntnissen der geisteswissenschaftlichen Forschung, der wird sich, wenn er anders irgendwie zusammenhängt mit der neueren Kultur, die Frage doch immer wieder aufwerfen müssen: Wie steht der durch geisteswissenschaftliches Erkennen in einem gewissen Sinne verwandelte Mensch zu dem Mysterium von Golgatha? - Wir haben von den verschiedensten Gesichtspunkten aus unseren Blick auf dieses wichtigste Menschheitsereignis geworfen. Wir wollen heute versuchen, auf dieses Menschheitsereignis hinzu-blicken so, daß wir uns bestreben werden, die Strömung, die ausgeht von diesem Mysterium, bis in die neueste Zeit herein zu verfolgen. Daran kann in einem gewissen Sinne erwiesen werden die Fruchtbar­keit geisteswissenschaftlichen Erkennens, daß es diesem gelingt, oder wenigstens gelingen kann, in einem ähnlichen Sinne das Welten-geschehen, das Menschheitsgeschehen bis in die Gegenwart herein geistig zu begreifen, während eigentlich sonst gewöhnlich die mensch­liche Betrachtung vor einer Durchgeistigung der neuesten Geschichte zurückschreckt.

Wenn man das Mysterium von Golgatha ins Auge faßt, so wird man vor allen Dingen darauf hingewiesen, daß dieses Mysterium von Gol­gatha nicht begriffen, nicht verstanden werden kann, wenn man nur ausgehen will von einer materiellen Betrachtung des Weitgeschehens. Man kommt nur dann zu einem wirklichen Verständnisse des Myste­riums von Golgatha, wenn man den Versuch macht, ein geistiges

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Ereignis geistig aufzufassen. Gewiß, Sie können sagen: Das Mysterium von Golgatha ist doch ein physisches Ereignis der physischen Welt, wie andere historische Ereignisse. - Allein ich habe Ihnen erst neulich angedeutet: Die Wissenschaft der Gegenwart, wenn sie ehrlich ist, kann das nicht sagen. Sie kann nicht die Evangelien in demselben Sinn als historische Urkunden anerkennen wie andere historische Urkunden, und sie kann die paar historischen Notizen, die es außer den Evange­lien gibt über das Mysterium von Golgatha, die höchst anfechtbar sind, auch nicht in dem Sinne wie historische Urkunden hinnehmen, so wie etwa die historischen Nachrichten über Sokrates oder Alexander den Großen oder über Julius Cäsar oder über den Kaiser Augustus und dergleichen. Das ist es gerade - wir haben es öfter betont -, was das besondere Verhältnis der Geisteswissenschaft zu dem Mysterium von Golgatha ausmacht, daß diese Geisteswissenschaft das Mysterium von Golgatha als eine Realität hinstellen wird in dem Augenblicke, wenn alle andern Methoden der Menschheit und alle andern Wege der Menschheit versagen werden, an das Mysterium von Golgatha als einer Realität heranzukommen. Denn das Mysterium von Golgatha muß als ein geistiges Ereignis geistig aufgefaßt werden. Nur durch das geistige Auffassen des Mysteriums von Golgatha kommt man auch an die äußere Wirklichkeit dieses Mysteriums von Golgatha heran.

Was ist das Wichtigste in dem Mysterium von Golgatha? Es ist nicht anders, trotz aller sogenannten liberalisierenden Theologie des Protestantismus: Das Wichtigste an dem Mysterium von Golgatha ist der Auferstehungsgedanke. Und wahr bleibt doch der Paulinische Ausspruch: «Und wäre der Christus nicht auferstanden, so wäre unsere Predigt eitel, und eitel auch euer Glaube.» Das heißt: Notwendig ist zum Christentum, zum wahren, wirklichen Christentum, die Möglich­keit, einzusehen, daß der Christus Jesus durch den Tod gegangen ist und diesen Tod dadurch besiegt hat, daß er nach einer gewissen Zeit lebendig wiederum mit der Erdenentwickelung sich verbunden hat. Das aber gehört selbstverständlich in bezug auf seine innere Gesetz-mäßigkeit nur geistigen Welten an.

Nun habe ich Sie auch auf etwas anderes hingewiesen, was, wenn es vom bloßen Vernunftsstandpunkt ehrlich ins Auge gefaßt wird,

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geradezu einem das Herz zersprengen könnte, weil es einen jener Widersprüche darstellt, die es im Leben immer geben muß und die die Logik immer wegräumen möchte: Der Christus ist getötet worden. Das unschuldigste über die Erde gegangene Wesen ist getötet worden durch Menschenschuld. - Man kann auf diese Menschenschuld hin-blicken und sie so ansehen, wie man Menschenschuld, so große menschliche Schuld ansieht. Das ist die eine Seite der Sache. Dann aber muß man zu der andern Seite der Sache blicken und sich sagen: Und wenn der Christus nicht hingerichtet worden wäre, wenn der Christus nicht durch den Tod gegangen wäre, so könnte es im wahren Sinne kein Christentum geben. Das heißt, die größte Schuld der Menschen war notwendig dazu, daß der größte Segen in die Erdenentwickelung hineingekommen ist, daß die Erdenentwickelung ihren Sinn bekom­men hat. Man könnte geradezu paradox davon sprechen: Wenn die Menschen damals nicht jene Schuld, jene größte Schuld auf sich ge­laden hätten, wäre der Sinn der Erde nicht erfüllt. - Und man bezeich­net dadurch eben einen jener großen, radikalen Widersprüche, die das Leben gibt und die die Logik immer aus der Welt schaffen will. Denn worauf geht die Logik aus? Die Logik geht darauf aus, wenn sie irgendwo einen Widerspruch findet, ihn zu beseitigen. Aber die Logik weiß heute noch nicht, was sie damit tut: Die Logik selber tötet für das menschliche Auffassen mit dem Hinwegräumen des Widerspruches das Leben. Und daher kommt der Mensch zu keiner lebendigen Auf­fassung, wenn er bloß mit abstrakter Logik diese Auffassung ge­stalten will. Deswegen kommt der Mensch nur zu einer Auffassung des Lebendigen, wenn er über die Logik hinaufsteigen will zu Imagi­nation, Inspiration und Intuition.

Äußerlich gesehen stellt sich das Mysterium von Golgatha so dar, daß in einem gewissen Zeitpunkt in einer wenig genannten Provinz des Römischen Weltreiches der Mensch Jesus geboren wird, dreißig Jahre hindurch auf die Weise, wie wir das öfters besprochen haben, lebt, dann durchgeistigt wird von dem Christus, als Christus Jesus drei weitere Jahre lebt, im dritten Jahre durch den Tod geht und auf­ersteht. Zunächst bleibt dieses Ereignis unberücksichtigt im weiten Römischen Reiche. Durch die Jahrhunderte hindurch wirkt dieses

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Ereignis so, daß es die Kultur der zivilisierten Weit ganz und gar nicht nur umgestaltet, sondern völlig erneuert. Das ist zunächst die Außen­seite. In die Innenseite dringt man ein, wenn man versucht, sich klar-zumachen, wie aus dem Judentum heraus und mitten innerhalb der heidnischen Welt dieses Mysterium von Golgatha entstanden ist. Das Judentum hat in seiner Religionsauffassung etwas, was radikal ver­schieden ist von aller heidnischen Religionsauffassung. Man kann geradezu sagen: Judentum und Heidentum nehmen sich aus wie die zwei Pole einer Religionsauffassung überhaupt.

Sehen wir zunächst deshalb auf das Heidentum hin. Alles Heidentum

- ob nun das, was ich sagen will, bei dem Heidentum mehr oder we­niger kaschiert ist oder nicht - geht doch davon aus, das Göttlich-Geistige aus der Natur heraus irgendwie für die menschliche An­schauung zu gewinnen. Heidnische Religion ist im wesentlichen zu­gleich Naturanschauung. Mehr oder weniger unbewußt liegt immer das zugrunde, daß der Heide hinschaut auf die Natur, daß er fühlt:

aus dem Werden und Weben der Naturerscheinungen steigt auch der Mensch auf; daß er sich verwandt fühlt als Mensch in seinem ganzen Dasein, in seinem ganzen Werden mit dem, was in der Natur da ist und in der Natur wird. Und dann versucht der Heide gewissermaßen als die Krönung dessen, was er als Naturanschauung gewinnen kann, dasjenige mit seiner Seele zu ergreifen, was göttlich-geistig in dieser Natur lebt. In alten Zeiten sehen wir dieses dadurch, daß der Mensch in die Lage kommt, aus seiner eigenen leiblichen Natur heraus das Göttlich-Geistige in Visionen, in atavistischem Helisehen zu ergreifen. In dem hochgebildeten Griechentum sehen wir, wie der Mensch ver­sucht, das Göttlich-Geistige im reinen Denken zu ergreifen. Aber überall sehen wir, wie der Mensch, indem er Heide ist, sich einen ge­raden Weg zu bahnen versucht von der Betrachtung der Natur auf­wärtssteigend zu der Krönung des Naturgebäudes in der Anschauung des Göttlich-Geistigen innerhalb der Natur.

Eine solche Anschauung - und das bemerkt man auch, wenn man gründlich, ich kann ja die Dinge heute nur skizzieren, auf das Wesen alles Heidentums eingeht - kann nicht kommen zu einer völligen Er­fassung der moralischen Impulse des Menschengeschlechtes. Denn

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wenn man noch so sehr aus der Natur heraus versucht, den göttlich­geistigen Impuls zu erkennen, es bleibt dieser göttlich-geistige Impuls ohne moralische Ingredienz. In der hochgebildeten heidnischen Reli­gion der Griechen sehen wir, wie die Götter eigentlich nicht gerade viel moralische Impulse in sich enthalten.

Radikal polarisch entgegengesetzt - natürlich, alles drückt sich äußer­lich mehr oder weniger maskiert aus, indem das Wesentliche in diese oder jene Verwandlung sich einkleidet, aber im wesentlichen ist es eben möglich, zu sagen: Radikal polarisch entgegengesetzt drückt sich die Sache im Judentum aus. - Das Judentum könnte genannt werden, wenn man sich trivial aussprechen wollte, die eigentliche Entdeckung des moralischen Impulses im Menschenwerden. Das ist das Charakte­ristische der alten jüdischen Religion, daß der Jahveimpuls im wesent­lichen die Menschheit so durchwebt und durchwellt, daß sein Weben und Wesen Moralisches auch in die Menschheitsentwickelung hinein-bringt. Damit entstand aber gerade für die jüdische Religionsauf­fassung eine Schwierigkeit, welche die heidnische Religionsauffassung nicht hatte. Diese Schwierigkeit lag darinnen, daß das Judentum nicht in die Lage kam, zu der Natur ein verständnisvoiles Verhältnis zu gewinnen. Der Gott Jahve durchweiit und durchwebt das Menschen­leben. Aber wenn nun der Mensch auf den den Menschen zur Geburt bringenden Jahvegott hinblickt, der nun auch die Sünden bestraft und die guten Taten belohnt im Laufr des Lebens, und dann wegblickt von dem Jahvegott zu den Naturereignissen, in die ja auch der Mensch auf dieser Erde eingesponnen ist, dann besteht zweifellos eine Un­möglichkeit, die Naturereignisse in Einklang zu bringen mit dem Wir­ken des Jahvegottes. Das ganze Tragische dieses Nicht -in-Einklang-bringen-Könnens der Naturereignisse mit dem Impuls des Jahve­gottes drückt sich ja aus in der großen, gewaltigen Tragödie des Buches Hiob, wo wir besonders darauf hingewiesen werden, wie rein im Naturlauf der Gerechte leiden kann, ins Elend kommen kann, und wie er im Widerspruch mit dem, was die Natur bringt, an die Gerech­tigkeit seines Jahveimpulses zu glauben hat. Aber der ganze Grund-ton, dieser tief-tragische Grundton des Buches Hiob, der, ich möchte sagen, gegenüber der Natur weltenfremd hereinklingt in die menschliche

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Seele, er zeigt uns an, weiche Schwierigkeit besteht zwischen einer reinen Auffassung desjenigen, was die Jahvewesenheit eigent­lich ist, und einem unbefangenen Hinblicken auf das, was sich als der Lauf der natürlichen Ereignisse, in die der Mensch eingesponnen ist, vor dem menschlichen Blick und vor dem menschlichen Leben haupt­sächlich darstellt. Und doch, dieser Jahvegott, dieser Jahveimpuls, was ist er denn anders für die wirklichen Versteher des Alten Testa­ments als das innerste Wesen, das in der menschlichen Seele selbst webt? Wozu wird die altbebraische Auffassung getrieben dadurch, daß sie so polarisch entgegengesetzt der im Heidentum stark hervortreten­den Naturanschauung entgegengestellt ist?

Es wird die althebräische Auffassung dadurch mit Notwendigkeit hingetrieben zu der Anschauung eines Wesens, das an der mensch­lichen Natur, so wie diese menschliche Natur einmal in der Gegen­wart des Erdendaseins ist, außer dem Jahveimpuls seinen Anteil hatte:

Paradiesesschlange, Luzifer, Satan, ein Wesen, das dem Gotte ent­gegensteht, dem Jahvegotte, muß Anteil haben an dem, wie der Mensch innerhalb des Erdendaseins geworden ist. Der Bekenner des Alten Testamentes muß den Jahvegott als den innersten Impuls, an den er seine Verehrung, zu dem er seine Ergebung hinrichtet, an­sehen; allein er ist nicht imstande, diesem Jahveimpuls den alleinigen Anteil an dem Zustandekommen des Menschen zuzuschreiben. Er muß dem, was dann im Mittelalter Teufel genannt wird, einen wesent­lichen Anteil an dem Menschen zuschreiben. Und es ist doch nur Dilettantismus - wenn man auch glaubt, daß es furchtbar gelehrt ist -, wenn dieser Gegensatz zwischen dem Jahvegotte und dem Teufel, der alten Schlange, so hingestellt wird, als ob es derselbe Gegensatz wäre wie etwa zwischen Ormuzd und Ahriman in der persischen Religion. Die persische Religion ist in ihrem Grundwesen doch heidnischer Natur, und Ormuzd und Ahriman stehen sich so gegenüber, daß man zu ihrem Wesen aufsteigen kann in der Weltanschauung, wenn man von der Naturanschauung aufsteigt. Auch der ganze Prozeß des Weltenkampfes, den sich die persische Religion aus dem Kampfe zwischen Ormuzd und Ahriman vorstellt, auch der ist ein solcher Prozeß, wie ihn die andern heidnischen Religionen in ihre Religions.

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vorstellungen aufgenommen haben. Dasjenige aber, was als Gegensatz gedacht wird im Alten Testamente zwischen dem Jahveimpuls und dem Impuls des Satans, wie er im Buche Hiob auftritt, das ist ein moralischer Gegensatz, und die ganze Schilderung dieses Gegen­satzes ist durch und durch durchsetzt mit moralischen Noten im Buch Hiob. Da wird in der Tat hingewiesen auf ein geistiges Reich, in dem Gutes und Böses ist, das etwas anderes ist als das Naturreich. Und man kann sagen: Zur Zeit, als in der Menschheitsentwickelung das Mysterium von Golgatha herannahte, war die Menschheit dazu ge­langt, mit diesen beiden Hauptströmungen, mit dem heidnischen Weg nach dem Göttlichen und dem jüdischen Weg nach dem Göttlichen, nicht fertigzuwerden. Beide aber waren aufs Höchste ausgebildet. Denn man darf nicht vergessen, man muß immer wieder daran erin­nern: Eine solche feine Geistigkeit, eine solche Höhe des mensch­lichen Vorstellungslebens, wie sie im griechischen Heidentum sich entwickelt hatte, die ist eben einzig in der menschlichen Entwickelung. Die ist auch nicht wieder erreicht seither, war auch vorher nicht da. Und umgekehrt: Ein solches durch die Naturereignisse unbeirrtes Festhalten an dem moralischen Jahveimpuls, wie es im Buche Hiob dargestellt ist, das ist auch einzig, das ist auch sonst nicht zu finden. Das Buch Hiob ist schon eines der Wunderwerke der menschlichen Entwickelung, gerade nach dieser Richtung hin.

Die Menschheit war gewissermaßen in der Zeit, als das Mysterium von Golgatha herannahte, in einer Sackgasse angelangt. Sie konnte nicht weiter. Sie hatte begriffen, oder zu begreifen versucht, auf der einen Seite die Natur im alten Sinne, auf der andern Seite die mora­lische Welt im alten Sinne. Sie konnte nicht weiter. Beides war, äußerlich ausgestaltet, in der menschlichen Anschauung zu einem höchsten Gipfel gelangt, aber man konnte nicht weiter. Es ist nun wirklich so, daß die Weltenentwickelung in Gegensätzen erfolgt. Sie rückt nicht einfach so vor, so bequem, wie es sich die moderne Ent­wickelungslehre denkt, daß so eine aufsteigende geradlinige Ent­wickelung stattfindet. Diese moderne Entwickelungslehre denkt sich:

Erst das Einfache, dann geradlinig aufsteigend das Folgende und so weiter. So ist diese Entwickelung nicht, sondern dieser Entwickelung

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liegt eine andere zugrunde, indem gewisse Entwickelungsimpulse zu einem Höchsten kommen, aber gleichzeitig mit diesen zu einem Höchsten kommenden Impulsen entwickeln sich andere, die zu einem Tiefsten kommen. Immer laufen zwei Strömungen: die eine kommt zur höchsten äußeren Entfaltung, und indem gerade die eine zur höchsten äußeren Entfaltung kommt, kommt die andere zur höchsten inneren Entfaltung. Und in derselben Zeit, in welcher auf der einen Seite die Menschen dazugekommen sind, eine gewisse Höhe zu er­reichen in bezug auf die heidnische Auffassung, auf der andern Seite eine gewisse Höhe zu erreichen in bezug auf die jüdische Auffassung, war dasjenige, was sich im Innern der Erdenmenschheit entwickelte, nicht anders zu erreichen als durch ein solches Ereignis, das - wenn es äußerlich sich gleichsam abspielte wie ein Weltsymbol - selber geschichtlich geschah.

So konnte es nur der Tod des Geistes sein, der der Erde den Sinn gibt. Höchstes Leben, wie dieses Leben im Lauf des Altertums sich entwickelte, zu seinem Gipfel gebracht, bedeutete zu gleicher Zeit innerlich spirituell die Notwendigkeit des Todes. Nur aus dem Tode konnte dann neues Leben hervorgehen. Dieser Tod auf Golgatha ist daher der notwendig größte Gegensatz zu dem üppigen Leben, das die Weltanschauung erlangt hat im Griechentum und Judentum in dieser Zeit.

Gewiß, man kann die Sache von den verschiedensten Gesichts­punkten darstellen. Wir haben das auch schon getan. Aber man kann auch zum Beispiel folgendes sagen. Man kann sagen: Alle alten Welt­anschauungen, die ja doch alle mehr oder weniger fußten auf atavi­stischem Hellsehen, die erst im Griechentum zu dem reinen Gedanken vorgerückt waren, alle diese alten Weltanschauungen waren darauf­hin angelegt, endlich den Menschen hier auf der Erde zu finden. Und das ist schon - namentlich im Griechentum, in einer andern Weise im Judentum - gerade zur Zeit des Mysteriums von Golgatha geschehen. Geht man zurück in die noch früheren Zeiten, so findet man: Der Mensch ist gewissermaßen mit dem, was er über sich selbst denkt, näher dem Göttlichen. Er ist noch nicht mit seiner Auffassung zu sich selbst herangekommen. In der Zeit, in der das Mysterium von

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Golgatha geschah, war der Mensch mit seiner eigenen Auffassung zu sich selbst herangekommen. Da tritt denn, wenn so etwas geschieht, eines jener Ereignisse ein, wo ein Geschehen gewissermaßen durch seine eigene Kraft in sein Gegenteil umschlägt.

Wenn Sie ein Pendel ansehen, welches nach links und rechts aus-schlägt, so werden Sie folgendes finden - ich habe das Bild öfter gebraucht: Indem dieses Pendel hierher aus schlägt (es wird ge­zeichnet>, fällt es durch die Schwerkraft wieder zurück bis hierher, und indem es hier heruntergesunken ist durch die Schwerkraft, kann in diesem Augenblicke, weil der Faden direkt entgegengesetzt ist der Richtung der Schwerkraft, die Schwerkraft nicht wirken. Aber das Pendel bleibt nicht still stehen. Warum? Weil durch das Herunter-fallen, wie man in der Physik sich ausdrückt - es ist spirituell nicht richtig, aber man kann das Wort ja anwenden -, das Pendel so viel Beharrungskraft in sich aufgenommen hat, daß es durch diese eigene Beharrungskraft nach der andern Seite ausschlägt. Diese Beharrungs­kraft ist aber in dem Momente erschöpft, Null geworden, wo das Pendel links so weit ausgeschlagen hat, als es rechts ausgeschlagen hat. Die Bewegung nach links wird durch die eigene Beharrungskraft des Pendels bewirkt, erschöpft sich aber. Das ist überhaupt ein allgemeines Gesetz der Vorgänge in der Welt, daß etwas geschieht, und im Ge­schehen vernichtet sich der Impuls des Geschehens. So aber, in dem Augenblicke, in welchem heidnische und jüdische Kultur auf einem Höhepunkt angelangt waren, war die Kraft, durch die sie sich bis dahin gebracht haben, erschöpft, auf einem Nullpunkt angekommen. Und es bedurfte eines neuen Impulses, der in die Weit hereinkam, um die Entwickelung weiter zu lenken. Und dieser Impuls war der Chri­stus, für den die Hülle des Jesus vorbereitet war in der Weise, wie wir das kennen.

So kann man sagen: Wenn ein Mensch ganz hätte durchschauen können zur Zeit, in der unsere Zeitrechnung das Jahr Null setzt, was eigentlich innerlich in der Menschheit vorgeht, so hätte er sagen müssen: Die Menschheit trifft in diesem Zeitpunkt das tragische Schicksal, daß die Kräfte, die ihr gegeben worden sind beim Aus-gange der Erdenentwickelung, in der Zeit, in welcher wir angekommen

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sind, zwar diese Menschheit zur höchsten Entfaltung gebracht haben in bezug auf ihre innere Seelenverfassung, aber sich zugleich erschöpft haben. Es trifft sie der Tod der Menschheitskultur, die im Sinne jener Impulse verlief, welche die Alten wie eine Erbschaft der Menschheit am Ausgangspunkt der Erdenentwickelung empfangen haben. - Dann konnte einer, der das Geschick der Menschheit so empfunden hätte, aufblicken zu dem Berge Golgatha und das äußere geschichtliche Symbolum sehen, den sterbenden Jesusleib, den ster­benden Repräsentanten der Menschheit, und konnte aus der Aufer­stehung die Hoffnung gewinnen, daß ein neuer Impuls die Mensch­heit nicht verlassen wird auf der Erde, sondern sie weiterführen wird; aber ein Impuls, der nicht hervorgehen konnte aus dem, was bis dahin die Erde hat den Menschen geben können. Das heißt, die Menschheit mußte aufsehen zu etwas, was die Erde nicht geben konnte, indem sie auf Golgatha hinsah und auf Golgatha die Möglichkeit einer Weiter-entwickelung der Menschheit von Golgatha aus empfand. Aufsehen zu etwas, was in die Erdenentwickelung als ein neuer Einschlag herein­kam, das mußte derjenige, oder hätte derjenige müssen, der die Dinge der Menschheitsentwickelung innerlich in dem damaligen Zeitpunkt durchschaut hätte. Das war vor sich gegangen, und das war die Be­deutung desjenigen, was vor sich gegangen war. Ob man nun mehr oder weniger so oder so dieses Ereignis aufgefaßt hat, das ist Sache der äußeren Geschichte. Das für das Christentum Wesentliche ist, daß dies geschehen ist und dies als objektive Tatsache sich abgespielt hat. Christentum ist nicht eine Lehre, Christentum ist die Anschauung dieses in der Erdenentwickelung sich abspielenden objektiven Ereignisses.

Und nun sehen wir, wie diese Anschauung vom Christentum sich merkwürdig ausbreitet. Von einem andern Gesichtspunkte habe ich neulich ja dieselbe Tatsache entwickelt. Heute wollen wir nur das be­trachten, wie über die Länder des Judentums, des griechischen Heiden­tums, des römischen Heidentums hin die Anschauung von dem Chri­stus-Impuls, der in die Erdenentwickelung hereingekommen ist, sich ausbreitet. Man kann nicht umhin, wenn man unbefangen die ge­schichtliche Entwickelung betrachtet, sich doch zu sagen: Ja, so

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recht innerlich Wurzel gefaßt hat das Christentum ganz gewiß nicht im Judentum, aber, trotzdem sogar die Evangelien aus Griechentum heraus geschrieben sind, auch nicht im Griechentum, und erst recht nicht im Römertum des Römischen Weltreiches. Sie brauchen nur den Katholizismus, der ja das Übriggebliebene jenes Christentums ist, das aus dem Römischen Weltreiche sich herausentwickelt hat, zu nehmen und brauchen von diesem römischen Katholizismus nur zu nehmen das allerdings in seiner Art große und gewaltige Meßopfer, so werden Sie sehen, welche eigentümliche Bedeutung zugrunde liegt gerade der Ausbreitung der christlichen Auffassung durch das alte Römische Weltreich.

Was ist denn im Grunde genommen die Messe? Die Messe und auch andere Zeremonien der katholischen Kirche sind in ihrer Grandiosität, ihrer unvergleichlichen Größe eben doch entnommen den alten heid­nischen Mysterien. Und sobald Sie auf das Ritual des Katholizismus hinschauen und es richtig verstehen, so haben Sie in diesem Ritual eine Wiedergabe des Weges der Einweihung in den alten heidnischen Mysterien. Die Hauptteile der Messe: Verkündigung, Opferung, Wandelung, Kommunion, stellen dar den Weg des Einzuweihenden aus den alten heidnischen Mysterien. In die Form des alten heidni­schen Mysteriums mußte eingekleidet werden der Christus-Impuls, um sich zu verbreiten durch die Gegenden des Römischen Welt­reiches. Und wie dasjenige, was durchlebt worden ist in der Anschau­ung des Christus Jesus, sich dargestellt hat denen, die vertraut waren mit den Ergebnissen der Initiation in den alten heidnischen Mysterien, das können Sie ja in meinem Buche «Das Christentum als mystische Tatsache» nachlesen. Da ist dargestellt, wie auf Golgatha auf den Schauplatz der Weltgeschichte hinausgestellt worden ist dasjenige, was sonst in den geheimnisvollen Tiefen der Mysterieneinweihung als einzelnes menschliches Erlebnis auf einem andern Plane sich immer dargestellt hat. Und so sehen wir, daß eingetaucht wird in heidnisches Ritual das Geheimnis des Christentums in der Ausbreitung über die gebildeten Länder des vierten nachatlantischen Zeitraums, den wir als den griechisch-iateinischen bezeichnen. Da lebt dasjenige, was man als Idee von dem Christus-Impuls hat, im Ritual weiter, da lebt es im

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Meßopfer weiter. Im Grunde genommen lebt es heute noch immer so im Meßopfer im Katholizismus weiter. Denn ein richtiger Katholik ist derjenige, der den Christus Jesus in seinem ganzen Geheimnis empfindet, wenn am Altare emporgehoben wird die Hostie, das sich in den Leib des Christus verwandelnde Brot. In dieser rituellen Hand­lung empfindet der wirkliche Katholik, der die heidnische Form des Christentums empfindet, dasjenige, was er empfinden soll. Da ist nicht ein unmittelbares Verhältnis zu dem Christus Jesus, da ist ein Ver­hältnis, wo gesucht wird an den Menschen heranzukommen, heran­zudringen durch die Form des heidnischen Rituals.

In einer ganz andern, intim menschlichen Weise tritt das Christentum doch erst auf, indem es von den zivilisierten Ländern des Südens, die es eingetaucht haben in das Heidentum oder in das Judentum, zu den nordischen Barbaren kommt. Diese nordischen Barbaren sind deshalb auch zunächst so dem Christentum sich gegenüberstellend, daß sie dieses Christentum in einer viel primitiveren Form aufnehmen. Und durch eine lange Zeit hindurch sind ja diese nordischen Barbaren Arianer, das heißt, sie lassen sich nicht ein auf die komplizierten Vor­stellungen, die im heidnischen Ritual einfach verkörpert sind, sondern sie stellen sich doch mehr oder weniger den Christus Jesus vor als eine Art Idealmenschen, als einen gesteigerten, ins Göttliche emporge­hobenen, idealisierten Menschen, als den ersten Bruder der Mensch­heit, aber doch als den Bruder der Menschheit. Die Frage interessiert sie nicht so sehr, wie zu irgendeinem unbekannten Gotte der Christus steht; die Frage interessiert sie dagegen außerordentlich, wie die menschliche Natur zu der Christus-Natur steht, welches Verhältnis unmittelbar das menschliche Herz, das menschliche Gemüt zu dem Idealmenschen Christus Jesus haben kann. Und mit den Anschauungen über die äußerliche, menschliche, gesellschaftliche Struktur verbindet sich dieses. Der Christus wird ein besonderer König, ein besonderer Volksführer. Wie man sich vorgestellt hat, daß man folgt dem Führer, zu dem man Vertrauen hat, so will man folgen dem Christus Jesus als dem besonders erlauchten Führer. Da tritt etwas ein, was man nennen könnte das Suchen eines persönlichen Verhältnisses zu dem Christus Jesus, im Gegensatz zu dem komplizierten, nur im realisierten imaginativen

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Bilde des Rituals ausdrückbaren Verhältnisse, das man im Süden gewonnen hat.

Wodurch geschieht dieses? Ja, diese barbarischen Völkerschaften, zu denen da das Christentum im Norden dringt, die sind der Keim desjenigen, was später auftreten soll in der menschlichen Entwickelung als der fünfte nachatlantische Zeitraum. Sie sind nur in der Zeit, als die Menschen des vierten nachatlantischen Zeitraums verhältnis-mäßig schon auf einer Höhe angekommen waren, noch nicht einmal recht Mensch geworden. Sie nehmen noch in eine primitive mensch­liche Wesenheit herein dasjenige auf, was in eine hochentwickelte Menschheit herein nur in Form der realisierten Imaginationen des Rituals kommen kann. In die Barbarenherzen und Barbarengemüter herein wird dasjenige aufgenommen in einer intimen, persönlichen Weise, was im Überschlagen der menschlichen Natur in hohe Geistig­keit im Süden doch nur in verheidnischter Form aufgenommen wor­den ist.

Und so sehen wir, daß in einer ganz verschiedenen Weise der Keim des Christus-Impulses in die südlichen Herzen und in die Herzen der nordischen Barbaren fällt. Diese nordischen Barbarenherzen sind weit weniger reif als die Herzen der Völker des Südens, und in ihre Unreife hinein senkt sich der Christus-Impuls. Die merkwürdige Tatsache liegt vor, daß im ganzen Süden durch das christianisierte Judentum, durch das christianisierte Griechentum, durch das christianisierte Römertum sich das Christentum so einlebt, daß sich vor den Christus-Impuls, der an die Menschheit herannaht, die Christus-Vorstellung setzt, die man in der Weise ausgestaltet, wie man sie nach den alten Seelenerlebnissen hat ausgestalten können. Denn diese alten Menschen hatten ein bedeutendes Seelenleben, ein in einem gewissen Sinne gran­dios ausgebildetes Seelenleben. Die nordischen Barbaren hatten ein primitives, einfaches Seelenleben, das an das Allernächste nur ge­wöhnt war, an die allernächsten Verhältnisse persönlicher Art zwi­schen Mensch und Mensch. Und in diese nächsten Verhältnisse herein strömte der Christus-Impuls. Diese Menschen hatten gar keine Vor­stellung einer wissenschaftlichen Erkenntnis, wie sie bei den Griechen ausgebildet war. einer politischen Anschauung über eine Staatsstruktur,

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wie sie bei den Römern ausgebildet war. Das gab es bei den nördlichen Barbaren nicht. Ihr Vorstellungsleben in der Seele war, man möchte sagen, frei. Sie konnten nicht viel denken. Sie konnten jagen, sie konnten kriegführen, sie konnten ein bißchen Ackerbau, sie konnten auch anderes - Sie brauchen das ja nur über die alten nordi­schen Barbaren nachzulesen -; aber irgendeine entwickelte Wissen­schaft bildeten sie nicht aus. Vor den Christus-Impuls trat keine Vor­stellung; der konnte selbst als Christus-Impuls zu den Leuten kom­men. Daher kann man sagen: Zu den südlichen Menschen kam der Christus so, daß er haltmachen mußte vor dem Vorstellungsleben, das sie ihm entgegenbrachten. Diese südlichen Menschen stellten ein Tor auf: Durch das mußt du erst kommen -, sagten sie dem Christus. Die­ses Tor war noch dasjenige, das gezimmert war aus den alten, über­lieferten Vorstellungen. Die nordischen Barbaren hatten kein solches Tor; ganz weit offen war der Einlaß, der Christus4mpuls kam selbst da herein. Zwischen dem Volk oder den Völkern, die da als nordische Barbaren sich auslebten, zu denen der Christus kam, und dem Jesus selber, zu dem als einzelner Mensch der Christus kam, ist nur ein gradueller Unterschied. In Palästina kam der Christus zu dem einzelnen Menschen Jesus. Dann breitete sich der Impuls aus über die südlichen Länder. Da war überall das Tor des Vorstellungslebens da, da konnte er nicht so hinein, wie er in den Menschen Jesus hinein konnte. Wie zu den nördlichen Barbaren der Christus4mpuls kam, da konnte er allerdings nicht zu den einzelnen Menschen überall hinein - die waren keine Jesusse -, aber in die Völkerseelen konnte er hinein; die nahmen ihn als Christus in einer gewissen Beziehung au£ Und ein ähnichet Prozeß spielte sich ab zwischen den Volkseelen und dem Christus wie zwischen dem Jesus und dem Christus.

Das ist das innere Geheimnis dieser Wanderung des Christentums durch die südlichen Länder zu den nördlichen Barbaren. Aber sie waren wirklich nicht sehr weit, diese nördlichen Barbaren. Und wenn auch der Christus unmittelbar hinein konnte, so sah es nicht sehr vor­nehm in den Wohnungen aus, die er da betreten konnte. Primitive, primitivste Vorstellungen waren da. Ich möchte sagen: Wie unter der Decke der Weltenentwickelung enfaltete sich erst dasjenige, was

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schon hoch ausgebildet im Süden war, aber auf einer vorhergehenden Stufe. Was hoch ausgebildet war im Süden auf der vierten nach­atlantischen Kulturstufe, der griechisch-lateinischen, das war noch ganz embryonal im Norden und wartete bis später. So daß man sagen kann: Wir haben die vierte nachatiantische Kuiturstufe und haben die fünfte nachatlantische Kulturstufe. Wir wissen, die vierte nachatlan­tische Kulturstufe 747 vor dem Ereignis von Golgatha, geht bis zum Jahre 1413, und dann geht es weiter; wir leben jetzt in der fünften nachatlantischen Kulturstufe. Wenn man irgendeinen Punkt der vier­ten nachatlantischen Kuiturstufe nimmt, sagen wir einen Punkt im 5. Jahrhundert vor dem Ereignis von Golgatha, so war die Entwicke­lung in den griechisch-iateinischen Ländern vorgeschritten, bei den nordischen Barbaren sehr zurück. Die wartete erst auf die spätere Entfaltung, da kam derselbe Punkt erst viel später. Das heißt, im Norden war man, wenn auch auf einer höheren Stufe, auf demselben Punkt, auf dem man im Süden früher war, erst viel später. Das ist wichtig, daß man so etwas ins Auge faßt. Denn nur durch solches Ins-Auge-Fassen kommt man darauf, wie sich die innere Entwicke­lung, die innere Entfaltung des menschlichen Lebens über die Erde hin gestaltet.

Man bedenke nur, wie hoch diese griechisch-lateinische Kultur war in der Zeit, als in dieser griechisch-lateinischen Kultur der große Mensch - man kann ihn nicht einen Philosophen bloß nennen -, Plato aufstand, Plato mit seinem Hinaufwenden des menschlichen Gemütes zu den Ideen. Das sind nicht die abstrakten Ideen, von denen der heutige Mensch faselt, das sind Geistwesen selber, zu denen Plato auf-schaut, indem er von Ideen spricht. Derjenige, der Plato wirklich kennt, weiß, auf welcher Höhe diese alte griechisch4ateinische Kultur der vierten nachatlantischen Kulturperiode stand. In der Zeit, als her­vorragte aus dem Griechentum der große Plato, da mußte die nor­dische Barbarenkultur noch vieles durchmachen, bis sie ihrerseits aus ihrem eigenen Fleisch und Blut heraus, wenn auch jetzt für die fünfte nachatlantische Zeit, dasselbe hervorbrachte, wie es aus dem Grie­chentum hervorgebracht worden war, als Plato da war.

Und wann erst hatte die nordische Barbarennatur aus ihrem eigenen

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Fleisch und Blut heraus sich zu einer solchen Höhe emporgearbeitet, auf der in einer früheren Zeitepoche Plato schon stand? Das war zur Zeit Goethes. Das, was Platonismus im Griechentum ist, das ist Goetheanismus für den fünften nachatlantischen Zeitraum. Wieviel Jahre verfließen denn in einem Kuiturzeitraum? Sie wissen, wenn Sie die 1413 nehmen nach dem Mysterium von Golgatha, und die 747 vorher, so gibt das einen Kuiturzeitraum; das sind 2160, etwas über 2000 Jahre. Das ist ungefähr auch die Zeit, die verfließt zwischen Plato und Goethe; ein Kuiturzeitraum, nur hinausgeschoben, liegt zwischen beiden.

Und indem wir auf Plato blicken, tritt uns eines bei Plato hervor, was grandios herausleuchtet aus der übrigen antiken Kultur. Es tritt uns bei Plato das entgegen, was in dem Worte liegt, wo Piatos Philo­sophie zur religiösen Weihe sich erhebt, wo er sagt: Gott ist das Gute -, wo er eine Ahnung bekommt davon, daß verbunden werden muß die ideengemäße Naturanschauung mit der moralischen Weltenordnung:

das Göttliche ist das Gute. Und damit tritt für das Griechentum die Erwartung des Christentums ein.

Damit aber wäre in der nordischen Welt mit Goethe auf eine Er­wartung hingedeutet, auf eine Erwartung einer Erneuerung des Christentums. Wer könnte auch Goethe innerlich anders anschauen als so, daß in ihm eine Erwartung liegt einer Erneuerung der Auffassung des Mysteriums von Golgatha! Der Knabe Goethe, der siebenjährige, steht noch wie ein Heide vor der Natur, wiederholt sein Griechentum. Er nimmt ein Notenpult, legt darauf allerlei Steine und Felsarten als Repräsentanten der Naturvorgänge, zündet oben ein Räucherkerzchen an unmittelbar an dem Sonnenlichte, das er durch ein Brennglas auf­fängt, um dem großen Gotte der Natur ein Opfer darzubringen. Rein heidnische Naturverehrung; darinnen lebt nichts von einem Christus Jesus. Darinnen lebt der Gott, der in der Natur angeschaut werden kann. Und Goethe ist bis zum innersten Wesen hinein intim ehrlich. Er bekennt sich nicht äußerlich zu irgendeiner Gottheit, zu irgend­einem Göttlichen, mit dem er sich nicht innerlich ehrlich verbinden kann. Annehmen diejenige Gottesvorstellung, die ihm ein Priester sagt, das kann er nicht; lernen äußerlich dasjenige, was nicht ihm aus

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der innersten Seele quillt, das kann er nicht. So quillt noch 1780 aus seinem Inneren hervor sein Prosahymnus an die Natur, jener wunder­bare Prosahymnus an die Natur, der da beginnt: Natur, wir sind von ihr umgeben und umschlungen. Ungewarnt und ungebeten nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arm entsinken... Alles ist Natur. Wir gehören ihr an; sie treibt sich mit uns fort. Auch das Unnatürlichste ist Natur. Die größte Philisterei hat etwas von ihrem Genie. Sie hat mich hineingestellt, sie wird ihr Werk nicht hassen. Alles ist ihr Ver­dienst, alles ihre Schuld.

Intim aus dem Innersten heraus quillt diese Anschauung selber, weil Goethe sie so ehrlich sucht, wie er sie als Repräsentant seiner Stufe der Menschheit suchen muß, in der nichts Christliches liegt. Im ganzen Prosahymnus «Die Natur» finden Sie eine wunderbare Hinneigung zum Gotte, fast noch wie beim siebenjährigen Knaben, der sich seinen heidnischen Altar richtet aus Naturprodukten, aber nichts Christ­liches. Denn Goethe steht als ehrlicher Repräsentant in dem fünften nachatlantischen Zeitraum drinnen, der für ihn der Zeitraum der Er­wartung ist. Daß es aber beim Heidnischen nicht bleiben kann, das drückt sich bei Goethe auf der einen Seite dadurch aus, daß er auch wissenschaftlich zu seiner grandiosen Naturanschauung kommt, die sich in seiner Morphologie, in seiner Farbenlehre ausdrückt; es drückt sich auf der andern Seite aber auch aus dadurch, daß er über diese Naturanschauung, über dieses Heidentum hinausgehen muß. Und nehmen Sie von diesem Gesichtspunkte den innersten Impuls des «Faust», nehmen Sie von diesem Gesichtspunkte aus namentlich das­jenige, was Goethe hineingeheimnißt hat in das «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie», von jener Wiedergeburt des Menschen, die sich ausdrückt in diesem « Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie» und versuchen Sie dann nicht, ober­flächlich zu bleiben, sondern heranzudringen an dasjenige, was in Goethes Sinn lebte, dann kommt Ihnen der Gedanke: Hier lebt in einer Menschenseele ein neuer Christus-Impuls, ein neuer Impuls der Menschheitsverwandlung, wie er durch das Mysterium von Golgatha geschehen ist, ein Streben nach einer neuen Auffassung dieses Mysteriums

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von Golgatha. Denn es atmet das ganze «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie» Erwartungsstimmung.

Da wo Plato im Griechentum steht, da steht Goethe innerhalb des fünften nachatlantischen Zeitraums. Die Frage: Wo steht Goethe? -, die führt uns dazu, zu sagen: Wie Plato mit seiner Definition des Gött­lichen als des Guten hinwies für die Auffassung des vierten nach-atlantischen Zeitraums auf das Mysterium von Golgatha, so wies Goethe mit den Aussprüchen, die herausklingen aus dem «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie» hin zu einer er­neuerten Auffassung des Mysteriums von Goigatha, die da kommen muß. Das ist die Antwort auf die Frage: Wo steht Goethe?

Wie kann man bis in die neuesten Tage herein sich das Menschheits­geschehen durchgeistigt vorstellen? Die äußere geschichtliche Auf­fassung, die nur so hintereinander aufzählt die Menschen und die Vorgänge, die sagt eigentlich gar nichts, was wirklich innerlich den Menschen ergreifen könnte. Sieht man aber auf das Innerliche des Geschehens, sieht man, wie in demselben Punkt des fünften nach-atlantischen Zeitraums, in dem für den vierten Plato stand, nun Goethe steht, dann enthüllt sich einem die geistige Welle, die durch die Welt west bis in die neuesten Tage herein. In den neuesten Tagen wird gewöhnlich für die gegenwärtige Menschheit die Geschichte recht ungeistig in ihrer Auffassung. Goetheanismus ist zugleich Erwartungsstimmung einer Neuauffassung des Mysteriums von Golgatha.

Anders kommt man nicht zu einem Verständnisse desjenigen, was um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert geschehen ist, als dadurch, daß man in dieser Weise versucht hineinzudringen in das Innere des Menschheitsgeschehens. Es kann jemand manche erhebenden Vor­stellungen hervorrufen in Menschenherzen, wenn er heute zu er­neuern versucht gewisse Empfindungen, die erregt wurden im alten Heidentum, sagen wir, wenn hinaufgeschaut wurde zu der Vorstellung der großen Isis des Ägyptertums. Aber gewiß auch zur Zeit Platos haben die Vorstellungen über die ägyptische Isis als der Impuls, der durch alle Natur waltet, den Menschen entgegengeklungen. Hören wir heute über die Isis, hören wir über die Isis, ohne uns mit aller

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Macht zu erneuern das, was Menschen in jener Zeit empfunden haben, so bleibt es bei den Worten. Wenn man ehrlich ist, bleibt es bei den Worten. Wenn man sich nicht an Wortkiängen berauscht, bleibt es bei den Worten; es ergreift nicht das Herz. Was kann der moderne Mensch tun, wenn er dieselben Vorstellungen erwecken will in seinem Inneren, die im Altertum erweckt worden sind im menschlichen Herzen, wenn von der Isis gesprochen wurde? Der moderne Mensch kann den Prosa­hymnus Goethes über die Natur auf sich wirken lassen. Es wird da so zur modernen Menschheit gesprochen, wie zur alten Menschheit ge­sprochen worden ist, wenn von der Isis gesprochen wurde. Da klingt auch unmittelbar das aus den geheinanisvollen Tiefen des Weltenalis heraus, was herausgeklungen hat, wenn zum alten Menschen von der Isis gesprochen worden ist.

Und bedenken wir einmal, wie wir Unrecht tun, Unrecht der Welten-entwickelung und Unrecht unserem eigenen Herzen, wenn wir nicht so hören wollen, wenn wir lieber uns rein äußerlich versetzen wollen, weil das einen alten Nimbus hat, in die Art und Weise, wie über die Isis gesprochen worden ist von den alten Menschen. Wenn von den alten Menschen von der Isis gesprochen wurde, klang aus alldem heraus ein uralt heiliges Geheimnis. Und die Sprache unserer Zeit darf von demselben Geheimnis sprechen, wahrhaftig und wirklich so tief, und tief von demselben Geheimnis sprechen, wie von der ägyptischen Priesterlippe es kam, wenn über die Isis gesungen worden ist. Wir dürfen nicht verkennen, wenn Tiefe waltet im neuen Geistesleben. Dann werden wir uns auch wiederum so recht als Menschen fühlen, wenn wir nicht prosaisch in unserer Empfindung werden, wenn das Heilige zu uns in der Weise tönt, wie es aus dem neueren Impuls der geschichtlichen Entwickelung heraustönen will. Und dann, wenn wir uns, ich möchte sagen, heidnisch vorbereiten an so etwas, wie der Prosahymnus es ist, dann werden wir mit all jenen Weiterungen der Seele, die uns da überkommen können, mit allen Vertiefungen der Seele, die da im Inneren sich uns erlebbar machen, mit allen Erhe­bungen der Seele, die uns empfindbar werden, in so etwas vertiefen, wie in manche « Faust »-Szenen oder in das «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie», wo wir die erwartungsvolle Stimmung

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einer neuen Auffassung des Mysteriums von Golgatha bei dem modernsten aller Menschen ausgesprochen finden.

Das ist etwas, was ich Ihnen andeuten wollte über ein Finden Goethes und des Goetheanismus, nicht nur so, wie das oftmals ge­macht wird, dieses Finden, sondern über ein Finden, das den Goethe-Geist eben findet im ganzen Gang der Menschheitsentwickelung zum Verständnisse der unmittelbaren Gegenwart, zum Erkraften jener Impulse, die wir brauchen, wenn wir uns so recht hineinstellen wollen in die Gegenwart und in die nächste Zukunft, in die wir uns nicht schlafend, wie ich oftmals betonte, sondern wachend hineinzustellen haben, wenn wir uns nicht versündigen wollen an dem Gang der Menschheitsentwickelung. Davon dann morgen weiter.

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SECHSTER VORTRAG Dornach, 12. Januar 1919

Was ich gestern bemerklich machen wollte, das ist, von der einen Seite angesehen, daß der eigentliche Inhalt, der tiefere Inhalt des Christus­Impulses, der durch das Mysterium von Golgatha in die Welt ge­kommen ist, sich nicht mit einem Male, auch nicht in der relativ langen Zeit, in der es nunmehr schon ein Christentum gibt, der Menschheit ganz mitgeteilt hat, sondern daß in alle Zukunft hin immer mehr und mehr von dem Inhalt des Christus-Impulses der Menschheit sich mit­teilen will; daß mit andern Worten tief wahr ist das Wort des Christus-Jesus: «Ich bin bei euch alle Tage durch die Zeitenwende hindurch.» Und nicht untätig meinte der Christus unter den Menschen zu sein, sondern tätig sich offenbarend, eingehend in ihre Seelen, aufmunternd die Seelen, stärkend die Seelen; so daß, wenn diese Seelen dasjenige wissen, was in ihnen vorgeht, sie den Weg finden, die Verbindung finden können mit dem Christus, sich stark innerhalb ihres Erdenringens fühlen können.

Zu alidem aber ist es notwendig, gerade für diese unsere Zeit des Bewußtseinszeitalters, soweit es heute schon der Fall sein kann - und wie gesagt, der Inhalt wird immer klarer und reicher erffießen für die Menschheit -, sich heute schon klarzumachen, was denn eigentlich zu der Offenbarung des Christus-Impulses gehört. Um in diesem Punkte richtig zu verstehen, muß man erst durchdrungen sein von der Er­kenntnis, daß das Menschengeschlecht wirklich sich im Laufe der Erdenzeiten entwickelt hat, verändert hat. Diese Veränderung, man kann sie am besten so charakterisieren, daß man sagt: Wenn man zu­rückblickt in sehr, sehr alte Erdenzeiten, weit zurückliegend vor dem Mysterium von Golgatha, da findet man, genauer zugesehen, die Leiblichkeit des Menschen noch geistiger, als sie heute ist. Und diese Leiblichkeit des Menschen war es, die aufsteigen ließ jene Visionen, welche atavistischem Heilsehen die übersinnliche Welt in einer gewis­sen Weise offenbarten. Aber diese Fähigkeit, diese Kraft, in atavisti­schem Helisehen sich bekanntzumachen mit der geistigen Welt, ging

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nach und nach der Menschheit verloren. Und gerade zur Zeit, als das Mysterium von Golgatha hereinbrach, war eben eine Krisis. Da war die Krisis hereingebrochen, die da zeigte, daß die Leiblichkeit des Menschen am stärksten in ihrer Kraft abgenommen hatte mit Bezug auf die Offenbarung des Geistigen.

Nun mußte von jenem Zeitpunkte, von jener Krisis an, eine der Ab­schwächung der Leibeskraft entsprechende Verstärkung des Seelisch-Geistigen, der seelisch-geistigen Kraft eintreten. Aber hier im Erden-körper müssen wir mit dem Werkzeuge unseres Leibes rechnen. Der Mensch wäre einfach nicht fähig gewesen, die Verstärkung seines Seelisch-Geistigen, die notwendig wurde mit dem Herabdämmern der Leibeskraft, zu erwerben, wenn ihm nicht Hilfe geworden wäre aus einer Region, die nicht die Erdenregion ist, sondern die außerirdisch ist, wenn nicht etwas von außerhalb der Erde auf die Erde herein­gekommen wäre: eben der Christus-Impuls. Der Mensch wäre zu schwach gewesen, selbst vorzurücken.

Das aber zeigt sich ganz besonders, wenn man ins Auge faßt das alte Mysterienwesen. Wozu war denn dieses Mysterienwesen eigent­lich? Im Ganzen kann man sagen: Die große und breite Masse unserer Vorfahren - das heißt von uns selbst, denn wir selbst waren in unserem vorigen Leben eben die Menschen, die wir unsere Vorfahren nennen -, war in sehr, sehr alten Zeiten mit einem viel dumpferen Bewußtsein behaftet als heute. Sie waren mehr instinktive Wesen. Und jene Men­schen hätten sich in diesem instinktiven Wesen nicht hineinfinden kön­nen in eine Erkenntnis, die doch aber zum Heil des Menschen, zu seinem Aufrechterhalten, zu seinem werdenden Kraftbewußtsein nötig ist. Da konnten dann gewisse, durch ihr Karma dazu berufene Persönlichkeiten, die eben in die Mysterien eingeweiht wurden, den andern, die mehr ein Instinktieben führten, die Wahrheiten verkün­digen, die man die Heilswahrheiten nennen kann. Aber diese Ver­kündigung war in den alten Zeiten nur möglich aus einer gewissen Konstitution des menschlichen Organismus, des menschlichen Wesens heraus, die heute nicht mehr vorhanden ist. Die Mysterienzeremonien, die Mysterienverrichtungen durch die verschiedenen Grade hindurch bestanden darinnen, daß der Mensch wirklich in den Mysterien ein

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anderer wurde. Das kann man sich heute nicht mehr gut vorstellen, weil es durch solche äußeren Verrichtungen - ich habe sie neulich für die ägyptischen Mysterien geschildert - heute in solchem Grade nicht möglich ist. Die Menschennatur wurde durch Erzeugung von ge­wissen Emotionen, von gewissen inneren Seeieneriebnissen, wirklich so umgestaltet, daß sich in völligem Bewußtsein das Geistige loslöste. Aber man bereitete zuerst den Zögling der Mysterien so vor, daß dieses Geistige sich nicht in solch chaotischem Zustande loslöste wie heute im Schlafe, sondern daß der Mensch im Geistigen wirklich wahr. nehmen konnte. Das war das große Erlebnis, weiches die Mysterien. schüler durchmachten, daß sie nach ihrer Einweihung so wußten von der geistigen Welt, wie der Mensch durch seine Augen und Ohren von der physisch-sinnlichen Welt weiß. Dann konnten sie verkündi­gen, was sie von dieser geistigen Welt wußten.

Aber die Zeit rückte heran, in der die Menschennatur nicht mehr durch jene Verrichtungen, welche die der alten Mysterien waren, in dieser Weise so ohne weiteres umgestaltet werden konnte. Der Mensch änderte sich eben im Verlaufe der Geschichte. Es mußte etwas anderes kommen, und das andere, was da kam, war eben, daß eigentlich das­jenige, was auf einer gewissen Stufe der Mensch im Mysterium er­lebte, die innere Auferstehung, als historische Tatsache auf Golgatha sich abspielte. Nun war also das ein geschichtliches Ereignis geworden. Ein Mensch, Jesus - denn als äußerlich herumgehender Mensch war er eben der Mensch Jesus -, war durch das Mysterium von Golgatha gegangen. Diejenigen, die seine intimen Schüler waren, wußten aber, daß er nach einer gewissen Zeit unter ihnen lebendig erschienen ist -die Art wollen wir heute nicht prüfen -, daß also die Auferstehung eine Wahrheit ist.

So kann man sagen: Es war einmal innerhalb des Laufes dieser Menschheitsentwickelung da die Tatsache, daß an einem Orte der Erde sich das zugetragen hat, daß durch die Kraft eines Außerirdi­schen, des Christus-Impulses, ein Mensch den Tod überwunden hatte, so daß die Überwindung des Todes unter den Erfahrungen, unter den Erlebnissen des Erdendaseins selber sein konnte. Damit aber war etwas geschehen in der geschichtlichen Menschheitsentwickelung,

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was gerade für den Verstand unbegreiflich ist, der sich jetzt besonders entwickeln sollte, der im Fortschritt der Menschen lag. Denn für den menschlichen Verstand ist das nicht begreiflich, daß ein Mensch stirbt, begraben wird und aufersteht. Zum Heile der Erdenentwickelung war daher etwas notwendig, mußte etwas im physischen Gange dieser Erdenentwickelung geschehen, was für den Verstand, der gerade gut anzuwenden ist in bezug auf das Naturdasein, unbegreiflich ist. Und eigentlich ist es ehrlich, zuzugeben, daß je weiter die Menschen in der Entwickelung dieses Verstandes vorrücken - und die Entwickelung im Bewußtseinszeitaiter ist ja vorzugsweise die Entwickelung des Intellektuellen -, desto unbegreiflicher das Ereignis von Golgatha für den zunächst auf die äußere Natur gerichteten Verstand werden muß. So daß man sagen kann: Derjenige, der nur sich bewußt ist der Hand­habung des gewöhnlichen Verstandes, wie er auf das Naturdasein gerichtet ist, der muß sich ehrlicherweise nach und nach gestehen: er begreift das Mysterium von Golgatha nicht. Aber er muß sich einen Ruck geben, weil er es dennoch begreifen muß. Das ist das Wesent­liche, sich einen Ruck geben zu können, über den gesunden Menschen­verstand einfach hinauszudenken. Das ist das Wesentliche, das ist etwas, was als Notwendiges eintreten muß, sich diesen Ruck zu geben, um etwas scheinbar gerade für die höchste menschliche Kraft Unver­ständliches dennoch verstehen zu lernen.

Je mehr die intellektuelle Entwickelung vorschreitet, von der die Blüte der Wissenschaft abhängt, desto mehr mußte für diese intellek­tuelle Entwickelung zurücktreten das Verständnis für das Mysterium von Golgatha. Aus diesem Grunde war es auch, daß es nicht die ge­bildeten Hebräer, nicht die gebildeten Griechen, nicht die gebildeten Römer waren, die zunächst gewissermaßen wie historisch auserlesen waren zu dem Verständnis des Mysteriums von Golgatha, in der Art, wie ich Ihnen das Mysterium von Golgatha auseinandergesetzt habe; die haben es umgesetzt in andere Vorstellungen, wie ich gestern aus­geführt habe, sondern es waren die primitiv gebildeten Barbaren des Nordens, welche in ihre primitv gebildeten Seelen hereinnahmen den Christus, der zu ihnen kam, so wie er zu dem Jesus von Nazareth ge­kommen ist. Man kann schon in dem Sinne, wie ich das gestern auseinandergesetzt

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habe, sagen: Der Christus kam zunächst im Ereignis von Goigatha zu dem Menschen Jesus von Nazareth. Da wurde zu­nächst die Menschheit hingewiesen - die Menschheit der Hebräer, die Menschheit der Griechen, die Menschheit der Römer - auf das Wich­tigste, was im Erdendasein geschah. Dann aber kam der Christus noch einmal, vereinte sich mit den Menschen, die den Norden, den Osten Europas bevölkerten, die keine solche Bildung hatten wie die Hebräer, wie die Griechen, wie die Römer. Da vereinigte er sich nicht mit einem einzelnen Menschen, da vereinigte er sich mit den Volksseelen dieser Volks stämme. Aber wir haben gestern auch betonen müssen: Diese Volksstämme entwickelten sich nach und nach. Sie mußten gewisser­maßen auf einer fünften Stufe nachholen dasjenige, was auf einer vierten Stufe durchgemacht hatten die hebräisch-griechisch-latei-nischen Völker. Und wir haben ja gestern betont, daß erst im Zeit­alter Goethes das Zeitalter Platos mit Bezug auf eine spätere Stufe erreicht worden war. Mit Goetheanismus selber war für die fünfte nachatlantische Zeit der Platonismus des Griechentums, der für die vierte nachatlantische Zeit da war, wiedergekommen. Doch noch war man nicht so weit im Goetheanismus, daß man etwa schon der ganzen neuen Gestaltung der Auffassung des Mysteriums von Goigatha gegenüberstand, sondern, wie ich gestern sagte, in der Erwartung davon.

Diese Stimmung der neueren Menschheit gegenüber dem Myste­rium von Golgatha, sie kann man insbesondere richtig studieren, wenn man die Persönlichkeit, aber jetzt die Geist-Seelenpersönlich­keit Goethes wirklich richtig versteht. Die Frage ist eine durch und durch geisteswissenschaftliche: Wo stehen Goethe und diejenigen, die zu ihm gehören, verschiedene Geister, die mit ihm in Verbindung waren, wo steht der Goetheanismus an der Wende des 18. zum 19. Jahr­hundert mit Bezug auf die Menschheitsentwickeiung, mit Bezug auf die Auffassung des Christus-Impulses? - Man könnte zunächst da­rauf hinblicken: Wie steht er eigentlich äußerlich drinnen in der euro­päischen Entwickelung, dieser Goetheanismus?

Da wird es gut sein, sich etwas zurückzurufen, was ich jetzt, die Jahre unserer katastrophalen Zeit hindurch, öfter zu Ihnen gesprochen

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habe, da wird es gut sein, sich zurückzurufen die Antwort auf die Frage: Woher kommen eigentlich die europäischen Peripheriekul­turen mit ihrem amerikanischen Nachwuchs? - Wir dürten nicht ver­ges sen: Wer unbefangen den Blick auf diese europäischen Peripherie-kulturen hinrichtet, der weiß es, was Kultur Englands ist, Frankreichs, Italiens, des Balkans, so weit er vorwärtsgeschritten ist, dahinter aber sogar die Kultur des europäischen Ostens, es ist ausgestrahlt von Euro­pas Mitte; sie sind alle ausgestrahlt. Es wäre natürlich ein furchtbares Vorurteil, zu glauben, daß dasjenige, was heute italienische Kultur ist, etwas anderes ist als das, was von der Mitte Europas nach Italien aus­gestrahlt ist, nur überzogen von dem lateinischen Wesen, das in der Sprache und in der äußeren Form geblieben ist. Es wäre ein furcht­bares Vorurteil, zu glauben, daß die englische Kultur etwas anderes ist als dasjenige, was von Europas Mitte ausgestrahlt ist und eigentlich erst eingefaßt ist, auch wiederum durch Sprache und dergleichen, in anderes Wesen, sogar viel weniger als das italienische oder das fran­zösische Wesen. Aber alles dasjenige, was Frankreich, England, Italien, ja auch in vieler Beziehung was der europäische Osten ist, das ist ausgestrahlt aus Europas Mitte. Und in dieser Mitte ist dann zurückgeblieben dasjenige, was eben sich jetzt ergeben hat, nachdem die Kulturen ausgestrahlt sind, was geblieben ist als der Schoß, aus dem sich herausentwickelt hat der Goetheanismus. Wir stehen heute in der ohne Emotion hinzunehmenden Tatsache, daß dasjenige, was ausgestrahlt ist in die Peripherie, mit aller Macht daran arbeitet, zu vernichten, auch geistig-seelisch zu vernichten dasjenige, wovon es, als in Europas Mitte befindlich, ausgestrahlt ist. Es wird einmal die Welt dieses ungeheuerste Phänomen des Menschheitsgeschehens in einer ganz andern Weise ansehen als in unserer Gegenwart, wo sich diese Welt anschickt, vierzehn Gedankenleichen des Westens als Götzenbilder anzubeten. Es wird einstmals die Menschheit verstehen, daß dasjenige geschah, was man nennen kann das absolute Vernichten-wollen desjenigen, was ausgestrahlt ist nach allen Seiten. Die Tragik dieser Tatsache wird sich selbstverständlich erfüllen.

Denn in der Richtung dieser Tatsache liegt es, daß in einem weiteren Entwickelungsschritte für Europa dasjenige erscheint, was - mit Ausnahme

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der letzten Jahrzehnte, wo man sagen kann, daß eben andere Kräfte gewaltet haben - sich angebahnt und durch die Jahrhundere entwickelt hat dadurch, daß von Europas Mitte überailhin ausstrahlten auch die persönlichen Züge derjenigen, welche die Kulturen nach den verschiedensten Seiten ausbilden. Oh, über diesen Punkt ist heute die Menschheit so wenig geneigt, ein unbefangenes Urteil sich zu bilden! Ich darf sagen, ich selbst stand ja in innigem Zusammenhange mit der Arbeit meines alten Freundes Karl Julius Schröer, als er damals die letzten Spuren, die zu finden waren, um der Sache eine vollständig gesicherte wissenschaftliche Basis zu geben, der verschiedenen Dia­lekte, der verschiedenen Sprachen, der verschiedenen Wesen der Volksteile studierte, die als die deutschen Volksteile Nordungarns, Siebenbürgens und sonst der verschiedenen Gegenden Österreichs zu betrachten sind. Wer da betrachtet alles das, was sich an die anspruchs-losen Wörterbücher und Grammatiken der Zipser Deutschen, der Siebenbürgener Sachsen in den Schröerschen Studien anknüpfte, die ich in persönlichem Anteil mit ihm, als einem damaligen Erforscher der Ausbreitung der mitteleuropäischen Kultur, der er war, bespre­chen durfte, der darf sagen, daß Schröer noch zusammenhängt mit einem Wissen, das leider heute im Trubel, im Sturm der Ereignisse gar nicht mehr berücksichtigt wird. Aber man sehe hin auf dieses Ungarn, wo nämlich eine rein magyarische Kultur eingerichtet werden sollte im Laufe der letzten Jahrzehnte, seit dem Jahre 1867, man sehe hin, nicht mit politischer Unwahrheit und politischer Verblendung, politischem Haß, man sehe hin der Wahrheit gemäß: Dann wird man entdecken, daß in die Gegenden, die nachher als die Länder des Ma­gyarentums magyarisiert werden sollten, eingezogen sind Menschen vom Rhein her als die Siehenbürgener Sachsen, Menschen von weiter westlich als die Zipser Deutschen, Menschen aus dem heutigen Schwaben als die Banater Deutschen. Das alles ist das Ferment, welches die Grundlage bildet für die magyarische Kultur, über die nur hinübergegossen ist dasjenige, was dann im Grunde genommen sehr spät erst sich gebildet hat als magyarische Kultur. Aber auf dem Grunde dieser magyarischen Kultur ist - wenn auch nicht in das, was durch die Sprache ausdrückbar ist, aber in die Gefühle, in die Empfindungen,

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in das ganze Volkstum - immer eingeflossen dasjenige, was durch Jahrhunderte aus Europas Mitte dahin gekommen ist.

So staunenswert dieses ist: für alle Peripheriegegenden Europas könnten Sie, wenn Sie nur die Gesamtgeschichte Europas nehmen, dasselbe studieren. Im Osten kam die siawische Welle entgegen dem, was von der Mitte ausgestrahit ist, überzog das, was von der Mitte ausgestrahlt ist, mit der slawischen Welle; vom Westen kam die ro­manische Welle. Und durch eine tragische Verkettung, die aber eine innere geschichtliche Notwendigkeit hat, wandte sich dann die Peri­pherie gegen dasjenige, was in der Mitte im Schoß übriggeblieben ist; wandte sich so, daß aus diesem Wenden eine Tatsache ganz klar ist -das mag geglaubt werden oder nicht, darüber mag leicht gespottet oder gehöhnt werden oder nicht: Dasjenige, was zurückgeblieben ist in Europas Mitte, dasjenige, was aus dem Goetheanismus herausge­wachsen ist, geistig-seelisch aufgefaßt in seiner Wirklichkeit und in seiner Wahrheit, das findet heute in der besten Durchschnittserkennt­nis der Peripherie eben kein Verständnis noch. Und von dem könnte man sagen: Überall wird, bis in die amerikanischen Gegenden hinüber, von der eigentlichen Substanz des mitteleuropäischen Wesens so ge­sprochen, als ob man eben keine Ahnung davon hätte. Man kann keine Ahnung davon haben. Aber die Weltgeschichte wird das zutage fördern. Das ist dasjenige, was einem in gewissem Sinne eine Kraft geben kann, an dem festhalten zu können.

Gewiß, ich habe Ihnen am Silvesterabend hier ein Bild vorgeführt, das errechnet ist von einem Menschen; der gut rechnen kann, über die zukünftigen Verhältnisse Mitteleuropas. Nicht anders als so wer­den sie sein, wenn sich alles dasjenige erfüllt, wenn sich auch nur ein Teil von dem erfüllt, was die Peripherieländer wollen. Aber dieses Mitteleuropa, dessen Vernichtung beschlossen ist in bezug auf das äußere Dasein, dessen Vernichtung sich ja wahrscheinlich auch zu­nächst für die nächsten Jahre und Jahrzehnte erfüllen wird - denn so ist es beschlossen im Rate der Peripheriemächte -, das hatte in seinem Schoße die letzte Ausgestaltung dessen, was wir gestern charakteri­siert haben; das hatte in seinem Schoße die letzte Ausgestaltung des­jenigen, was dennoch wichtig ist als ein Ferment für die Menschheitsentwickelung.

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Es muß einfließen, es muß einfach diese Entwickelung sich fortsetzen, die ich Ihnen für das Magyarentum charakterisiert habe. Dieses Ausstrahlen wird sich schon fortsetzen.

Nur wird begriffen werden müssen, gerade in Mitteleuropa, das­jenige, was allerdings in den letzten Jahrzehnten wenig in Mitteleuropa begriffen worden ist; begriffen wird werden müssen etwas von der Art, wie es in den Intentionen liegt der Dreigliederung des sozialen Wesens, so wie ich sie Ihnen angeführt habe. Gerade Mitteleuropa wird dazu berufen sein, diese Dreigliedrigkeit zu begreifen. Und viel­leicht, wenn dieses Mitteleuropa keinen äußeren Staat hat, wenn dieses Mitteleuropa im Chaos zu leben tragisch genötigt ist, dann erst wird man anfangen zu begreifen, daß überwunden werden müssen alte Anschauungen, für die jetzt die Peripherie Europas kämpft, weil diese alten Anschauungen auch von der Peripherie Europas nicht werden auf­rechterhalten werden können. Der alte Staatsbegriff wird schwinden; er wird der Dreiteilung Platz machen. Und auch in dieses äußere Leben wird einziehen müssen dasjenige, was der Goetheanismus ist. Ob man es so nennt oder nicht, das ist ganz gleichgültig. Das Wesentliche ist, daß in Goethes Weltanschauung der Vorblick liegt auf dasjenige, was einfach auch in bezug auf die äußere soziale Gestaltung der Mensch­heit klarwerden muß. Aber dies alles kann man nur durchschauen, wenn man sich Mühe gibt, diesen Repräsentanten, diesen völligsten Repräsentanten des deutschen Wesens, Goethe, zu verstehen, der daher ein so völliger Repräsentant des deutschen Wesens ist, weil er so ohne allen nationalen Chauvinismus oder etwas ist, was nur an nationalen Chauvinismus oder an Nationalismus, wie man das heute auffaßt, erinnert. Man muß diesen Repräsentanten der neueren Zeit, diesen modernsten Menschen, zu gleicher Zeit diesen in seinem Wesen für die Geisteskultur fruchtbarsten Menschen, ihn muß man zu erfassen versuchen. In der Erfassung Goethes kann man nicht sagen, daß die Menschheit eigentlich besonders weit ist. Goethe fühlte sich selber innerhalb seiner Umgebung als ein Einsamer. Und wenn auch Goethe eine von denjenigen Persönlichkeiten war, solche Umgangsformen zu entwickeln - auch solche, wenn ich so sagen darf, Umgangs-geschicklichkeit und Umgangsgrazie zu entwickeln -, daß ein mögliches

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Verhältnis zu dieser Umgebung sich einstellte: der eigentliche Goethe, der in dem Inneren dieses in Weimar lebenden, später äußer­lich als dicker Geheimrat mit dem Doppelkinn auftretenden Menschen, der innere Mensch, der in diesem dicken Geheimrat mit dem Doppel­kinn lebte, der fühlte sich einsam. Und einsam in einer gewissen Be­ziehung ist er heute noch immer. Einsam ist er aus einem ganz be­stimmten Grunde, und einsam mußte er sich fühlen. Solch ein Gefühl seiner Kultureinsamkeit, seines Nichtverstandenseins lag vielleicht zugrunde, als er in späteren Jahren das merkwürdige Wort aussprach:

Die Deutschen werden vielleicht in einem Jahrhundert anders sein, als sie jetzt sind, sie werden vielleicht dann aus Gelehrten Menschen geworden sein.

Der Ausspruch muß einen wirklich in tiefster Seele berühren. Denn, sehen Sie, als nach dem Tode des letzten Goethe-Enkels in Weimar das Goethe- und Schiller-Archiv und die Goethe-Gesellschaft be­gründet wurden, da wurde dieses begründet durch eine Versammlung von Menschen - wahrhaftig, ich will es im besten Sinne des Wortes sagen -, durch eine Versammlung von Gelehrten. Der Goethe-Dienst wurde dazumal eingerichtet von Menschen, von Persönlichkeiten, die wahrhaftig noch nicht aus Gelehrten Menschen geworden waren. Ja, man kann noch weiter gehen. Sie wissen, wie sehr ich Herman Grimm> den Kunsthistoriker, den feinen Essayisten verehre, und ich habe aus dieser Verehrung nie einen Hehl gemacht und Ihnen in verschiedener Weise über die Verehrung, die ich Herman Grimm entgegenbringe, gesprochen. Ich habe Ihnen auch unbedingt gestanden, daß ich in dem Buche, das von Herman Grimm über Goethe herrührt, das Beste sehe, was in biographischer, monographischer Weise über Goethe ge­schrieben worden ist. Aber nun nehmen Sie dieses Buch von Herman Grimm: Aus einer gewissen menschlichen Liebe und aus einem Welt-blicke heraus ist es geschrieben; aber suchen Sie sich ein Bild von der Goethe-Gestalt zu machen, die dann vor Ihnen steht, wenn Sie dieses Buch auf sich haben wirken lassen. Wie ist diese Goethe-Gestalt? Ein Gespenst ist sie doch, ein Gespenst, nicht der lebende Goethe! Man kann das Gefühl nicht losbekommen, wenn man diese Dinge ernst und würdig nimmt. Herman Grimm, würde er heute Goethe begegnen,

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oder wäre er zu seinen Lebzeiten Goethe begegnet, er würde, weil er in der Tradition, die sich auf Goethe aufgebaut hat, innigste Goethe-Verehrung aufgenommen hat, jederzeit bereit gewesen sein, zu sagen: Goethe ist prädestiniert dazu, der geistige König nicht nut Mitteleuropas, sondern der ganzen Menschheit zu werden. - Ja, Herman Grimm würde auch, wenn es auf ihn angekommen wäre, alles getan haben, um als Herold zu dienen, wenn es sich darum gehandelt hätte, Goethe zum König der Erdenbildung zu machen. Aber das andere Gefühl bekommt man nicht los: Wenn Herman Grimm nun angefangen hätte, mit Goethe etwa reden zu wollen oder Goethe mit Herman Grimm: Herman Grimm würde kaum Verständnis ge­funden haben für das Innerste des Goetheschen Wesens. Denn was er in seinem Buche schildert, ist ganz gewiß das Beste, was er von Goethe gewußt hat, aber nichts anderes als der Schatten, den Goethe auf seine ganze Umgebung warf, der Eindruck, den er auf seine Zeit warf. Da ist nichts, aber auch gar nicht das geringste von dem, was in der Goethe-Seele lebte; ein Gespenst aus der Zeit des 18. und 19. Jahr­hunderts, nicht dasjenige, was in Goethes Tiefen lebte.

Das ist eine merkwürdige Erscheinung, die muß man sich nur in allem Ernste und in aller Würde vor die Seele halten. Und blickt man jetzt von diesem - nicht Goejheanismus, sondern von dieser Goethe­Anhängerschaft, die wahrhaftig auch hundert Jahre nach Goethe sehr viel mehr gelehrt als menschlich ist -, blickt man davon zurück auf Goethe selbst, dann erblickt man unter dem mancherlei Großen, unter dem mancherlei Grandiosen, das bei Goethe einem entgegen­tritt, vor allen Dingen eines. Nehmen Sie «Die Geheimnisse», die vor kurzem hier durch Frau Dr. Steiner rezitiert worden sind, nehmen Sie das Pandora-, das Prometheus-Fragment, nehmen Sie anderes, nehmen Sie den Umstand, daß «Die Natürliche Tochter» nur den ersten Teil einer Trilogie enthält, die nicht vollendet worden ist, nehmen Sie den Umstand, daß in diesem Fragment ein Größtes, das in Goethe lebte, sich ausdrückte: so haben Sie die merkwürdige, die ganz merkwürdige Tatsache, daß dann, wenn Goethe den Anlauf nahm, ein Größtes auszudrücken, er nicht zu Ende kam, weil er ehr­lich genug war, nicht äußerlich, wie es ja auch Dichter, Künstler so

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machen, die Sache abzurunden, zu vollenden, sondern aufzuhören, wenn die innere Quellkraft versiegte. Daher so viel Unvollendetes. Aber die Sache geht doch noch weiter. Die Sache geht so weit, daß man sagen kann: Der «Faust» ist zwar in äußerlicher Beziehung ab­geschlossen, aber wieviel ist im «Faust» innerlich morsch, wieviel ist im «Faust», was so ist, wie die Gestalt des Mephistopheles selber! -Lesen Sie, was ich über den Faust, über die Gestalt des Mephistopheles in dem kleinen Goethe­Büchelchen dargestellt habe, das vor kurzem erschienen ist, wo ich davon spreche, wie Goethe in Mephistopheles eine Gestalt hingestellt hat, die es eigentlich gar nicht gibt, indem die zwei Gestalten, Luzifer und Ahriman, durcheinandergeflossen sind und chaotisch durcheinanderwirbeln. Und im Laufe dieser Woche werden Sie hier dargestellt finden die letzten Szenen vor dem Auf­treten der Helena, vor dem Beginn des dritten Aktes im zweiten Teile des «Faust»: etwas, was Goethe in hohen Jahren vollendet hat, etwas, was auf der einen Seite grandios, tief, gewaltig ist, auf der andern Seite aber, trotzdem es äußerlich fertig ist, innerlich ganz unfertig ist, überall Ansätze enthält von demjenigen, was in Goethes Sehnsuchten lag, in seine Seele aber nicht herein wollte. Sieht man «Faust» an auf seine menschgemäße Größe, so hat man ein gigantisches Werk vor sich, sieht man ihn an im Hinblick auf die Größe, die in ihm leben würde, wenn Goethe das alles hätte in seiner Zeit schon herausbringen können, was in seiner Seele selbst lag, so hat man ein morsches, brüchiges Werk vor sich, das überall in sich unvollendet ist.

Das ist vielleicht das kraftvollste Testament, das Goethe seinen Nachfahren hinterlassen hat, daß sie nicht nur sich zu ihm bekennen sollen wie ein Gelehrter heute, oder selbst wie ein Mensch, der gebildet ist in einer gewissen Weise. Das ist leicht, aber so leicht hat uns Goethe unsere Stellung zu ihm nicht gemacht. Goethe muß als ein Leben­diger unter uns leben und weiter gefühlt und weiter gedacht werden. Das wichtigste im Goetheanismus steht nicht bei Goethe, weil Goethe innerhalb seiner Zeit nicht in der Lage war, es aus dem Geistigen in seine Seele hereinzubringen, weil überall nur die Ansätze dazu da sind. Goethe fordert von uns, daß wir mit ihm arbeiten, mit ihm denken, mit ihm fühlen, daß wir seine Aufgabe, so wie wenn er überall hinter

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uns stünde und uns auf die Schulter klopfte und Rat erteilte, weiter­führen. In diesem Sinne ist das ganze 19. Jahrhundert und bis in unsere Zeit herein, man kann sagen, von Goethe abgefallen. Und die Auf­gabe unserer Zeit ist, den Weg zu Goethe wieder zurückzufinden. Im Grunde genommen ist dem wirklichen Goetheanismus nichts fremder als die gesamte äußere Erdenkultur, mit Ausnahme von einigem Geistigen, was getrieben worden ist vom Ende des 19. Jahrhunderts oder gar vom 20. Jahrhundert. Der Weg muß durch anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft zu Goethe zurückgefunden werden.

Das kann nur der verstehen, der recht auf die Frage einzugehen in der Lage ist: Wo stand eigentlich in Wirklichkeit Goethe? - Sie haben von Goethe das ehrlichste Menschheitsgeständnis - ich habe es gestern charakterisiert -, daß er eigentlich vom Heidentum ausging, wie es auch dem Platonismus seines Zeitalters entsprach. Der Knabe errich­tet sich einen heidnischen Naturaltar. Der Mann Goethe empfängt dann die stärksten Einflüsse nicht von dem traditionell überkommenen christlichen Kirchentum, das ihm im Grunde immer fremd geblieben ist, denn seine Weltanschauung ist die Weltanschauung der Erwartung gegenüber der neuen Auffassung des Mysteriums von Golgatha. Diejenigen, die sich im alten traditionellen Sinne in bequemer Weise zu dem christlichen Kirchenglauben bekannten, oder selbst innerhalb dieses christlichen Kirchenglaubens allerlei bloß äußerliche Reformen durchführen wollten, sie waren ihm wahrhaftig nicht innerlich geistig­seelisch verwandt. Er fühlte eigentlich immer so wie damals, da er es aussprach, als er mit zwei scheinbar guten Christen, mit Lavater und Basedow eine Reise machte, mit zwei Menschen, die auf einem zwar fortgeschrittenen, aber doch alten Kirchenchristentum standen: «Pro­phete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten.» So fühlte er sich eigentlich, wenn er zwischen zwei Menschen in seinem Zeit­alter war. Denn er sprach es ja auch aus: er war gegenüber den Chri­sten, die in seiner Umgebung waren, stets der dezidierte Nichtchrist, gerade weil er die Menschheit vorbereiten sollte zu der erwartungs­vollen Christus-Stimmung.

Und so sehen wir, daß auf seine Geisteskultur drei Menschen in einer merkwürdigen Weise den allergrößten Einfluß haben. Diese drei

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Menschen sind eigentlich durchaus Menschen, die in gewisser Weise Weltkinder sind. Gewöhnliche christliche Prediger würden für Goethe nicht gelegen gekommen sein. Die drei Persönlichkeiten, die auf ihn den größten Einfluß genommen haben, sind ja: Erstens Shakespeare; warum hat Shakespeare einen so maßgebenden Einfluß auf Goethe genommen? Einfach aus dem Grunde, weil Goethe darauf ausging, eine Brücke zu bauen von dem Menschlichen zu dem Übermensch­lichen, nicht aus einer abstrakten Regelhaftigkeit, nicht aus einer durchlässigen Intellektualität heraus, sondern aus dem Menschlichen selbst heraus. Goethe brauchte das Festhalten an dem Menschlichen, um innerhalb des Menschlichen den Übergang zu finden vom Mensch­lichen zum Übermenschlichen. So sehen wir Goethe ringen, auszu­gestalten, zu formen das Menschliche, wie es Shakespeare bis zu einem gewissen Grade getan hat, aus dem Menschlichen herauszuarbeiten. Beobachten Sie doch, wie Goethe in die Hand nimmt «Die Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand», dessen Selbst-biographie; wie er, möglichst wenig verändernd, diese Geschichte dramatisiert, die erste Gestalt seines «Götz von Berlichingen» bildet; wie er dann eine zweite Gestalt, schon mehr umgestaltet, schon mehr geformt, daraus bildet, dann eine dritte Gestalt. Goethe sucht in einer Weise seine ehrlichen eigenen Wege, indem er anknüpft an Shake­speares Menschlichkeit, aber aus dieser Menschlichkeit die Über­menschlichkeit herausgestalten will.

Das kann er erst, als er auf seiner Italienreise - man lese seine Briefe -aus dem ihm Verwandten, aus den griechischen Kunstwerken glaubt erkennen zu können, wie die Griechen nach denselben Intentionen, göttlichen Intentionen verfuhren, nach welchen die Natur selbst ver­fahrt. Er brauchte seinen wahren Weg, seinen individuellen, persön­lich durchgemachten wahren Weg. Er konnte nicht an dasjenige glauben, was ihm seine Umgebung sagte; er mußte seinen Weg finden.

Der zweite Geist, der auf ihn einen ungeheueren Einfluß genommen hat, war ganz gewiß ein dezidierter Nichtchrist, nämlich Spinoza. In Spinoza hatte er die Möglichkeit, das Göttliche so zu finden, wie der Mensch dieses Göttliche findet, wenn er den Weg sich bahnen will aus dem Menschlichen ins Übermenschliche. Spinozas Gedanken sind

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im Grunde genommen die letzte Ausprägung, für das Zeitalter der Intellektualität, des alten hebräischen Sich-Gott-Näherns. Spinozas Gedanken stehen als solche dem Christus-Impuls ganz ferne. Aber Spinozas Gedanken sind so, daß die menschliche Seele in ihnen ge­wissermaßen die Fäden findet, um sich an ihnen zu halten, wenn sie jenen Weg sucht: Da drinnen im menschlichen Inneren, da ist mein Wesen; von diesem menschlichen Wesen suche ich zum Übermensch­lichen weiterzudringen. - Diesen Weg, den er verfolgen konnte, den er nicht bloß sich vorpredigen lassen mußte, den er verfolgen konnte, indem er Spinoza verfolgte, diesen Weg betrachtete Goethe in ge­wissem Sinne in einem gewissen Lebensalter als den seinigen.

Und der dritte Geist, der auf ihn den größten Einfluß nahm, war Linné, der Botaniker. Warum Linné? Linné aus dem Grunde, weil Goethe nicht wollte irgendeine andere botanische Wissenschaft haben, eine andere Wissenschaft von den Lebewesen als eine solche, welche die Lebewesen einfach so, wie es Linné getan hat, nebeneinander hin­stellt in der Reihe. Alles abstrakte Denken, das allerlei Gedanken herausfindet über Pflanzenklassen, Pflanzengattungen und so weiter, das war Goethe nicht verwandt. Ihm war es darum zu tun, in Linné einen Menschen auf sich wirken zu lassen, der die Dinge neben­einander stellte. Denn Goethe wollte von einem höheren Standpunkte aus als diejenigen, die in abstrakter Weise die Pflanzen betrachten, das, was Linné gewissenhaft nebeneinander gestellt hat als Pflanzen-formen, in seiner Art verfolgen, so wie der Geist waltet durch dieses Nebeneinanderstellen.

Gerade diese drei Geister, die im Grunde genommen Goethe das­jenige geben konnten, was nun nicht in seinem innersten Lebens-zentrum war, sondern was er von außen bekommen mußte, gerade diese Geister sind es, die den stärksten Einfluß auf ihn gehabt haben. Goethe selber hatte nichts Shakespearisches, denn als er auf die Höhe seiner Kunst kam, schuf er seine «Natürliche Tochter», die wahr­haftig nichts von Shakespeares Kunst hat, sondern nach einer ganz andern Seite hin strebt; aber er konnte dieses sein innerstes Wesen nur dadurch entwickeln, daß er an Shakespeare sich heranbildete. Goethes Weltanschauung hat nichts von einem abstrakten Spinozismus,

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aber das, was Goethe in seinem Innersten hatte als seinen Weg zu Gott, konnte er nur an Spinoza gewinnen. Goethes Morphologie hat nichts von dem Nebeneinanderstellen der organischen Wesen wie bei Linné, aber Goethe brauchte es, bei Linné nehmen zu können, was er selbst nicht hatte. Und dasjenige, was er dazu zu geben hatte, war neu.

Und so wuchs denn Goethe heran, wuchs hinein in seine vierziger Jahre, herangebildet an Sheakespeare, Linné und Spinoza, durch-gegangen durch die Anschauungen der Kunst, die sich ihm in Italien geboten hat, wo er gegenüber den Kunstwerken sprach: «Da ist die Notwendigkeit, da ist Gott.» Und wie es seiner Zeit gemäß war, ging in ihm in einer stark unbewußten Weise, aber auch bis zu einem ge­wissen Grade bewußten Weise, das vor sich, was man nennen kann seinen Vorübergang an dem Hüter der Schwelle. Und nun vergleichen Sie, wenn Sie sein Vorübergehen an dem Hüter im Beginne der neun­ziger Jahre des 18. Jahrhunderts ins Auge fassen, Worte, die wie die Anbetungsworte an die Isis im alten Ägypten klingen, in diesem Ihnen eben durch Frau Dr. Steiner vorgetragenen Prosahymnus «Die Natur», wo Goethe noch ganz heidnisch fühlt, mit demjenigen, was Ihnen entgegentritt in einer gewaltigen Imagination im «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie», dann haben Sie den Goethe­schen Weg aus dem Heidentum heraus in das Christentum. Aber da steht in Bildern dasjenige, was dann Goethe nach seinem Durchgang durch den Schwellenort war, nach seinem Vorbeigang an dem Hüter der Schwelle; das steht in Bildern da, die er selber intellektuell ge­dankenmäßig den Leuten nicht zergliedern konnte, die aber doch gewaltige Bilder sind. Wozu ist man genötigt, wenn man den Goethe verstehen will, der das «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie» geschrieben hat? Vergleichen Sie das, was in dem schon angeführten Goethe­Büchlein steht über das «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie»: Solcher Tatsache steht man gegenüber, wenn man eben darauf hinblickt, daß Goethe dieses «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie» als eine gewaltige Imagination geschaffen hat nach seinem Vorübergang bei dem Hüter der Schwelle.

Dieses «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie»,

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das ist entsprungen aus der verwandelten Seele, nachdem diese Seele überwunden hat das heidnische Empfinden, wie es sich noch aus­spricht in dem Prosahymnus: Natur, wir sind von ihr umgeben und umschlungen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreis­lauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arm entfallen... Auch das Unnatürliche ist Natur... Alles ist ihr Leben, und der Tod nur ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben - und so weiter, diese heidnische Isis-Stimmung, sie verwandelt sich in die tiefen, jetzt nicht mit dem Verstande zu fassenden Wahr­heiten, die in den gewaltigen Imaginationen des «Märchens von der grünen Schlange und der schönen Lilie» liegen, wo Goethe geradezu hinstellt, wie alles dasjenige, was der Mensch durch äußere empirische Wissenschaft finden kann, nur zu dem Irrlichtelieren der Irrlichter führen kann; wie aber dasjenige, was der Mensch in seinem Innersten entwickeln muß, ihn dazu führt, seine Seelenkräfte so auszubilden, daß ihm Vorbild sein kann die sich hinopfernde Schlange, die ihr eigenes Wesen hinopfert dem Entwickelungsgange der Menschheit, damit die Brücke gebaut werden kann zwischen den zwei Reichen des Sinn­lichen und des Übersinnlichen, zwischen denen sich erhebt der Tem­pel, der neue Tempel, durch den man die Empfindung haben kann von dem übersinnlichen Reiche.

Gewiß, in diesem «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie» ist nicht von dem Christus die Rede. Aber ebenso­wenig wie der Christus verlangte von einem guten Anhänger, daß er immer nur sagte: Herr, Herr! -, ebensowenig ist derjenige nur ein guter Christ, der immer sagt: Christus, Christus! - Die Art, wie die Bilder gefaßt sind, die Art, wie die Menschenseele in ihrer Verwand­lung gedacht ist in dem «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie», die Folge der Gedanken, die Kraft der Gedanken, die ist christlich, die ist der neue Weg zu Christus. Denn warum? Es gab schon zu Goethes Zeiten viele Interpretationen dieses Märchens; seither sind auch noch viele dazugekommen. Wir hatten versucht, in dieses Märchen hineinzuleuchten vom Standpunkte der Geistes­wissenschaft. Ich darf hier, in diesem Kreise darf es ja ausgesprochen werden, über dieses Märchen sprechen. Es war am Ende der achtziger

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Jahre des 19. Jahrhunderts, als mir - wenn ich mich trivial ausdrücken darf - zuerst der Knopf über dieses Märchen aufgegangen ist. Niemals habe ich wiederum den Weg verlassen, der immer weiter und weiter führen soll zum Verständnis Goethes an der Hand dieser gewaltigen Imaginationen, die in dem «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie» ausgeführt sind. Man darf sagen: Der Verstand, der uns ganz gut leitet, um naturwissenschaftliche Wahrheiten zu finden, der Verstand, der uns ganz gut leitet, um die äußere Naturanschauung gerade in ihrer Blüte in Gemäßheit der heutigen Zeit und ihrer Ver­hältnisse zu gewinnen, dieser Verstand versagt vollständig, wenn man dieses Märchen begreifen will. Da ist notwendig, daß man sich seinen Verstand befruchten läßt von den Vorstellungen der Geisteswissen­schaft. Da haben Sie umgesetzt in unsere Zeit und ihre Verhältnisse dasselbe, was der ganzen Menschheit notwendig ist für das Verständ­nis des Mysteriums von Golgatha.

Für das Verständnis des Mysteriums von Golgatha muß der Ver­stand erst ausgebildet werden. Er muß sich einen Ruck geben. Für das Verständnis der äußeren Natur braucht er diesen Ruck nicht. Immer unmöglicher ist es geworden sowohl der lateinischen wie der germanischen Kultur - der lateinischen Kultur, weil sie zu stark in der Dekadenz, der germanischen Kultur, weil sie nicht bis zu dieser Ent­wickelung noch aufgestiegen ist -, aus der bloßen Intellektualität heraus die Seele so weit zu schulen, daß sie den neuen Weg zum Ver­ständnis des Mysteriums von Golgatha finden kann. Wenn Sie aber die Möglichkeit in sich entwickeln, die Seelenkräfte so umzugestalten, daß Sie anfangen, als eine naturgemäße innere Sprache den Übergang zu der Bildhaftigkeit, nach der Goethe gestrebt hat, zu finden, dann schulen Sie Ihre Seelenkräfte so, daß Sie den Weg zu der neuen Er­fassung des Mysteriums von Golgatha finden. Das ist dasjenige, worauf es ankommt.

Goethe ist nicht nur wichtig durch das, was er hervorgebracht hat, Goethe ist wichtig vor allen Dingen durch dasjenige, was er aus unserer Seele macht, wenn wir uns ganz hingebungsvoll in sein innerstes Wesen vertiefen. Dann kann die Menschheit nach und nach auch be­wußt jenen Weg finden vorbei an dem Hüter der Schwelle, den Goethe

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noch zum guten Glück unbewußt gegangen ist, daher er gerade die­jenigen Werke nicht vollenden konnte, in denen er sich am tiefsten aussprechen wollte. Ein Flimmern und Schimmern von Bewußtem und Unbewußtem, von Erreichbarem und Unerreichbarem lebte ge­rade in Goethes Seele. Wenn wir so etwas wie die «Geheimnisse» auf uns wirken lassen, wenn wir so etwas auf uns wirken lassen wie die «Pandora», wie alle diejenigen Dinge, die Goethe nicht vollendet hat, dann haben wir das Gefühl: In dieser Nichtvollendung liegt etwas, was sich loslösen muß in der Seele der Nachfahren Goethes, und was als großes Geistgebilde vollendet werden muß.

Goethe war einsam. In bezug auf das, was Goethe wirklich war, war Goethe einsam, einsam in seiner Entwickelung. Der Goetheanis­mus hat viel Verborgenes. Aber wenn auch das 19. Jahrhundert noch nicht erfüllt hat, daß aus Gelehrten Menschen geworden sind, wäh­rend Goethe aus der Gelehrsamkeit zu einer menschlichen Weltauf­fassung sich durchgerungen hat, so muß gerade die Entwickelung mit Hilfe des Goethe-Impulses vorwärtsschreiten. Ich habe gestern gesagt und heute wiederholt: Die Kraft, die mit dem Mysterium von Gol­gatha verbunden ist, sie hat sich einmal in einer wenig bekannten Provinz des Römischen Reiches mit dem einen Menschen Jesus von Nazareth verbunden, dann mit den Volksseelen Mitteleuropas. Aber sie ist dann ins Innere gegangen. Und aus dem, was da in Mitteleuropa im Inneren webte, sind hervorgegangen solche Leistungen wie die Goethes und des ganzen Goetheanismus. Aber gerade das 19. Jahr­hundert hat viel dazu getan, um den Goetheanismus im Grabe ruhen zu lassen. Auf allen Gebieten hat das 19. Jahrhundert alles getan, um den Goetheanismus im Grabe ruhen zu lassen.

Diejenigen Gelehrten, die am Ende der achtziger Jahre in Weimar die Goethe-Gesellschaft gegründet haben, sie haben sich viel eher zu Totengräbern des Goetheanismus geeignet als dazu, irgend etwas von diesem Goetheanismus aufzuerwecken. Die Zeit ist ganz gewiß für das äußere Leben nicht da, in welcher der Goetheanismus schon leben kann. Das hängt zusammen mit dem, was wir jetzt vielfach be­sprochen haben: mit der geisteswissenschaftlichen Erneuerung der Menschenseelen. Mag über dieses Europa, welches jetzt in einem gewissen

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Sinn seinen Selbstmord verüben will, was immer kommen: das Grab, welches vor allen Dingen in erster Linie die Gedankenlosigkeit der modernen Kultur gräbt, dieses Grab wird doch auch ein Grab sein, aus dem etwas aufersteht. Ich habe schon darauf hingedeutet: Mit den mitteleuropäischen Volksseelen hat sich verbunden der Christus-Geist; im Schoße dieser Volksseelen ist der Goetheanismus entstanden. Es wird eine Auferstehung kommen, eine Auferstehung, die man sich nicht politisch vorstellen soll, eine Auferstehung, die ganz anders aussehen wird, aber eine Auferstehung wird es sein. Der Goetheanis­mus lebt nicht, der Goetheanismus ruht noch im Grabe für die äußere Kultur. Der Goetheanismus muß aber auferstehen.

Es sei auch dafür ein Zeichen der Bau, den wir versucht haben, hier auf diesem Hügel zu errichten, daß wir uns ehrlich vornehmen, so mutig, als es in der Gegenwart notwendig ist, uns vornehmen, den Goetheanismus zur Auferstehung zu bringen. Dazu müssen wir aller­dings den Mut haben, jenen Goetheanismus, der sich bisher so ge­nannt hat, in seiner ungoethischen Weise zu verstehen und zu durch­schauen und an Goethes Wesen selbst heranzutreten. Wir müssen ebenso lernen, Goethes Geist zu bejahen, wie ihn das Ende des 19. und der Anfang des 20. Jahrhunderts verleugnet haben, verleugnet haben auf allen möglichen Gebieten. Dann wird zusammenhängen der Weg der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis, der im absoluten Sinne zu gewinnen ist, mit dem historischen Weg der Wiederauferweckung des Goetheanismus, aber auch mit dem Impuls, der aus dieser Auf­erweckung des Goetheanismus kommen kann, zu dem neuen Ver­ständnis des Mysteriums von Golgatha, zu dem richtigen Christus-Verständnis, wie es für unsere Zeit notwendig ist. Den Wegweiser zu dem der Menschheit notwendigen Christentum der Zukunft wird unsere Zeit vielleicht gerade in dem dezidierten Nichtchristen Goethe finden, der so wie der Christus selber verlangt hat, daß man nicht immer sage: Herr, Herr - sondern seinen Geist in seinem Herzen und in seinem Gemüte trage; der als Goetheanismus nicht immer spricht:

Christ, Christus, der aber um so mehr von dem, was als Realität in die Menschheit vom Mysterium von Golgatha ausgeflossen ist, im Herzen bewahrt, damit dieses Herz das abstrakte und intellektualistische

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Wissen, das Narurwissen der Gegenwart allmählich umwandele in dasjenige, durch welches man hineinschaut in die übersihnlichen Welten, um dem Menschen Kraft zu geben für eine tiefere Erkenntnis der Welt und für eine menschenwürdige Gestaltung der sozialen Struk­tur. Davon wollen wir dann ein nächstes Mal weiter sprechen.

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SIEBENTER VORTRAG Dornach, 24. Januar 1919

Mit Bezug auf alles dasjenige, was in tieferem Sinne mit der Auf­fassung des sozialen Lebens in der Gegenwart zusammenhängt, scheint eine Betrachtung nützlich, die sich anschließen kann an unsere letzten Darstellungen über Goethe> welche wir im Zusammenhange mit der Darstellung unserer «Faust»-Szene gepflogen haben. Ein solches Be­sprechen scheint mir deshalb nützlich zu sein, weil gerade in bezug auf das soziale Leben der Gegenwart das 19. Jahrhundert einen außer­ordentlich bedeutsamen Wendepunkt in der Entwickelung der Menschheit bildet. Die Denkweise der Menschen hat sich viel mehr, als man gewöhnlich meint, gerade in der Mitte des 19. Jahrhunderts sehr, sehr umgeändert. Nun könnte man ja gewiß, wenn man auf diese Wendung hinweisen wollte, auch andere als gerade deutsche Geister als Ausgangspunkt nehmen; man könnte vielleicht Shaftesbury oder Hemsterhuis nehmen. Allein, würde man den englischen oder den holländischen Geist als Ausgangspunkt nehmen, Shaftesbury oder Hemsterhuis, so würde man - und das darf ganz objektiv gesagt wer­den - wohl kaum so tief schürfen können in bezug auf alles das, was zum Verständnisse des einschlägigen Themas führt, wie gerade in An­lehnung an den Goetheanismus. Und in unserer Gegenwart, wo sich so vieles, mehr und gründlicher als man heute denkt, gerade zur Ver­nichtung desjenigen anschickt, was aus diesem mitteleuropäischen Geiste geboren ist, mag es nicht unnützlich sein, an diese Dinge an­zuknüpfen, die wohl in ganz anderer Weise in der Menschheit werden fortleben müssen, als sich die meisten auch heutigen Deutschen etwa vorstellen.

Man muß ja doch, wenn man ehrlich und unbefangen auf die Gegen­wart hinsieht, bei einem Ausspruche wie dem von Herman Grimm, also eines hervorragenden Geistes, der noch nicht sehr lange zurück­liegt, heute etwas Bedrückendes empfinden - man braucht dazu wahr­haftig nicht Deutscher zu sein -, wenn man einiges Gefühl für mittel­europäische Kultur hat. Herman Grimm sagte einmal, daß es vier

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Geister gebe, vier Persönlichkeiten, zu denen der Deutsche hinauf­schaut, wenn er gewissermaßen die Richtung seines Lebens emp­fangen will, und er nennt als diese vier Geister Luther> Friedrich den Großen, Goethe und Bismarck. Grimm sagt: Wenn der Deutsche nicht mehr hinaufbllcken kann zu der richtunggebenden Kraft dieser vier Geister, dann fühlt er sich gewissermaßen ohne Halt und verlassen im Zusammenhange der Nationen der Welt. - Man kann heute mit einer gewissen Bedrücktheit diesen Ausspruch hören, an dessen Richtigkeit viele - ich gehörte nicht zu diesen - in den neunziger Jahren durchaus nicht gezweifelt haben. Allein man muß sich ja doch folgendes ge­stehen, gerade einem solchen Ausspruch gegenüber: Luther lebt eigentlich nicht wesenhaft in den Traditionen des deutschen Wesens. Goethe ist im Grunde genommen niemals wirklich lebendig gewor­den, das haben wir ja immer wieder betonen müssen, und Friedrich der Große und Bismarck gehören einem Werke an, das heute aus der Welt geschafft ist. So daß der Zeitpunkt eingetreten sein würde, wo sich gerade der mitteleuropäische Deutsche, der Deutsche überhaupt, unter den Nationen der Welt ohne Halt und verlassen fühlen müßte. Man fühlt heute nicht gründlich genug, um so etwas wirklich in der Seele ganz auszuschöpfen. Man ist zu oberflächlich. Allein, zu denken wenigstens sollte eine solche Tatsache doch den Menschen geben: die Tatsache, daß etwas vor noch nicht ganz drei Jahrzehnten für einen erleuchteten Geist eine Selbstverständlichkeit war, was heute eine Unmöglichkeit ist. Würde die gegenwärtige Menschheit nicht so oberflächlich sein, so würde in der Tat manches viel tiefer gefühlt werden, als es heute geschieht, wo einem über das Nichtfühlen dessen, was durch die Welt pulsiert, zuweilen das Herz brechen möchte.

Es fällt der Blick, wenn man rückgängig die Entwickelung der Menschheit über das 19. Jahrhundert in das 18. Jahrhundert hinein betrachtet, auf einen großen Moment. Es war jener Moment, welcher in Schiller gewirkt hat, als er seine «Briefe über die ästhetische Er­ziehung des Menschen» schrieb, jener Moment, wo sich Goethe an­geregt hat durch dasjenige, was in der Zeit, als Schiller die «Briefe über ästhetische Erziehung des Menschen» schrieb, dazumal zwischen Schiller und Goethe verhandelt worden war. Dadurch hat sich Goethe

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veranlaßt gefühlt, dann seinerseits den Impuls, der in Schillers Ästhe­tischen Briefen lebt, in seinem «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie» auf seine Art auszuführen. Sie können den Zusammenhang zwischen Schillers Ästhetischen Briefen und Goethes «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie » in einem der Aufsätze meines letzten kleinen Goethe-Büchelchens nachlesen. Ich will heute nur so viel davon erwähnen, als zu unserer Betrachtung notwendig ist.

Schiller wollte mit seinen «Briefen über ästhetische Erziehung des Menschen» nicht nur einen literarischen Aufsatz schreiben, sondern er wollte im Grunde genommen eine politische Tat dadurch tun. Der Anfang der «Briefe über ästhetische Erziehung» verrät das ja sogleich. Es wird angeknüpft an die Französische Revolution, und es wird so­zusagen von Schiller angestrebt, in seiner Art, von seinem Bildungs-und Gesichtspunkte aus dasjenige zu sagen, was dem Menschen durch den Kopf gehen kann durch das Wollen aus der Französischen Revo­lution heraus, aus der Revolution vom Ende des 18. Jahrhunderts heraus überhaupt. Schiller versprach sich zunächst von einer großen politischen Umwälzung, von der sich die französischen Revolutio­näre alles versprochen hatten, nichts Besonderes. Er versprach sich viel mehr etwas von einer durchgreifenden Selbsterziehung des Men­schen. Und von dieser notwendigen, zeitgeschichtlich notwendigen Selbsterziehung des Menschen wollte er in seinen «Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen» sprechen.

Stellen wir den Grundgedanken dieser «Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen» noch einmal vor unsere Seele hin. Wir haben es ja schon öfter getan. Schiller will die Frage in seiner Art beantworten: Wie kommt der Mensch zu einer wirklichen Freiheit im sozialen Zusammenleben mit andern Menschen? Schiller würde sich nie etwas versprochen haben davon, daß bloß die sozialen Einrich­tungen, in denen der Mensch lebt, irgendwie gestaltet werden, um den Menschen zur Freiheit zu führen. Schiller verlangte vielmehr, daß der Mensch selber durch innere Arbeit an sich, durch Selbsterziehung, zu diesem Stande der Freiheit innerhalb der sozialen Ordnung komme. Schiller meinte gewissermaßen, der Mensch müsse selbst erst innerlich

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ftei werden, bevor er die Freiheit nach außen hin realisieren könne. Und so sagte sich Schiller: Der Mensch steht eigentlich zwischen zwei Trieben mitten drinnen. Er steht auf der einen Seite gegenüber dem Trieb, der aus der physischen Natur kommt - Schiller nennt ihn den Trieb der Notdurft -, alidem, was die sinnliche Natur des Men­schen selber an Begierden und so weiter hervorbringt. Das rechnet Schiller zu dem sinnlichen Triebe, zu dem, wozu der Mensch durch eine gewisse bloß physische Notwendigkeit gedrängt wird. Und er sagte sich: Wenn der Mensch diesem Trieb folgt, so kann er nimmer-mehr frei sein, denn er folgt eben nur aus einer physischen Not­wendigkeit diesem sinnlichen Triebe.

Dem sinnlichen Triebe steht ein anderer gegenüber; das ist der Trieb der Vernunftnotwendigkeit, der logischen Notwendigkeit, der Denknotwendigkeit. Diesem Trieb der Vernunftnotwendigkeit zu folgen, kann sich der Mensch gewissermaßen als dem andern Pol seines Wesens nun auch überlassen. Aber ein richtig freier Mensch kann er auch dadurch nicht sein. Denn wenn er logisch der Vernunft-notwendigkeit folgt, folgt er eben einer Notwendigkeit. Und auch wenn diese Vernunftnotwendigkeit sich in einem äußeren Staats- oder ähnlichen Gesetze konsolidiert, festsetzt, so folgt der Mensch, wenn er diesem Gesetze folgt, auch einer Notwendigkeit. Er ist also auf keinen Fall, indem er seiner Vernunft folgt, ein freies Wesen. Der Mensch ist also hineingestellt zwischen Vernunft und Sinnlichkeit. Folgt er der Sinnlichkeit, so folgt er der Notwendigkeit, nicht einer Freiheit. Folgt er der Vernunft, so folgt er auch der Notwendigkeit, wenn auch einer geistigen Notwendigkeit, aber eben doch einer Not­wendigkeit. Er ist nicht ein freier Mensch. Frei sein kann der Mensch im Sinne Schillers nur, wenn er weder einseitig dem sinnlichen Trieb noch einseitig dem Vernunfttrieb folgt, sondern wenn er es dahin bringt, daß er seinen Vernunfttrieb seiner Menschlichkeit annähern kann, wenn er es so weit bringt, daß er nicht nur wie ein Sklave sich der logischen oder gesetzmäßigen Notwendigkeit unterwirft, sondern wenn er den Inhalt des Gesetzes, den Inhalt der Vernunftnotwendig­keit zu seinem eigenen Wesen macht.

In dieser Beziehung ist Schiller tatsächlich zum Beispiel Kant gegenüber,

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dem er sonst in manchem - man darf sagen, zum Unheile Schillers - folgte, ein viel freierer Geist. Denn Kant betrachtete das Folgen der Vernunftnotwendigkeit, die Hingabe an die Vernunft-notwendigkeit gerade als das Höchste, das der Mensch anstreben kann; die absolute Unterwerfung unter das, was Kant die Pflicht nennt, das heißt unter die Vernunftnotwendigkeit, das gilt eben Kant als das Höchste im Menschen. Schiller sagt: «Gern dien' ich dem Freunde, doch tu ich es leider mit Neigung, und so fürchte ich, daß ich nicht tugendhaft bin», denn Kant, meint Schiller, würde fordern, daß es Pflicht ist, dem Freunde zu dienen. «Pflicht, du erhabener großer Name», sagt Kant, das einzige Mal gewissermaßen, wo er poetisch wird, «der du nichts bei dir führst, was Einschmeichelung und dergleichen heißt...» Schiller sagt: «Gerne dien' ich den Freunden, doch tu' ich es leider mit Neigung. Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.» Satirisch sagt er das Kant gegenüber. Also man muß so weit mit seiner Menschlichkeit kommen, daß man dasjenige, was der unfreie Mensch als Inhalt eben gegenüber der Pflicht, dem kategorischen Jmperativ, vollbringt, aus Neigung, aus Liebe, aus innerer Selbstverständlichkeit tut. Das ist das eine.

Schiller will die Vernunftnotwendigkeit also ins Menschliche her-unterziehen, damit der Mensch sich ihr nicht zu unterwerfen brauche, sondern diese Vernunftnotwendigkeit als das eigene Gesetz seines Wesens entfalten könne. Die Vernunftnotwendigkeit will er herunter-rücken zum Menschen. Die sinnliche Notwendigkeit, den sinnlichen Trieb, will er heraufheben, er will ihn durchgeistigen, so daß der Mensch nicht mehr bloß dem folgt, wonach die Sinnlichkeit drängt, sondern daß er diese Sinnlichkeit verschönt, veredelt, daß er ihr folgen darf, weil er sie heraufgehoben hat zu seinem Gipfel. Indem sich in einem mittleren Zustand, meint Schiller, Sinnlichkeit und Vernunft treffen, wird der Mensch ein freies Wesen.

Es scheint, als ob die heutige Menschheit nicht mehr so recht emp­finden könnte, was Schiller empfunden hat, indem er diesen mittleren Zustand als das eigentlich Erstrebenswerte des Menschen hinstellte. Er stellte dann gewissermaßen den Idealzustand hin, in welchem immer erfüllt ist diese Durchdringung der Vernunftnotwendigkeit

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und der sinnlichen Notwendigkeit, und fand den Idealzustand im künstlerischen Schaffen und im künstlerischen Genießen.

Das ist so recht bezeichnend für die Schiller-Goethe-Zeit, daß in der Kunst etwas gesucht wurde, wonach sich die übrige menschliche Tätigkeit richten müsse. Das ist der Gegensatz des Goetheanismus zu aller Philistrosität, daß in der wahren, echten Kunst etwas gesucht wird, was ein Idealzustand ist, dem nachgestrebt werden soll. Denn der Künstler schafft im sinnlichen Material. Selbst wenn er in Worten schafft, schafft er im sinnlichen Material. Und er würde schönes Zeug, höchstens symbolisches, abstraktes Zeug zusammenbringen, wenn er sich einer Vernunftnotwendigkeit im Schaffen überließe. Er muß, was er schaffen will, dem Stoffe und seiner Formung ablauschen. Er muß gerade die Sinnlichkeit vergeistigen, indem er den Stoff formt. Aber indem er den Stoff formt, muß er dem Stoff eine Gestalt geben, welche macht, daß der Stoff nicht mehr als Stoff wirkt, sondern daß er so wirkt, wie das Geistige wirkt. Also der Künstler schiebt Geistiges und Sinnliches in seiner Schöpfung ineinander. Wenn alles Wirken des Menschen in der Außenwelt so wird, daß der Mensch alles Pflicht­gemäße, Gesetzgemäße aus eigener Neigung macht, wie man künstle­risch schafft, und wenn alles das, was Sinnlichkeit ist, so verrichtet wird, daß Geist drinnen lebt, dann ist für den einzelnen Menschen, aber auch für Staat und soziale Struktur die Freiheit erreicht im Schillerschen Sinne.

Das heißt, Schiller frägt: Wie müssen die verschiedenen Seelen-kräfte im Menschen zusammenwirken - der Vernunftzustand, der Sinneszustand, der ästhetische Zustand -, wenn der Mensch als ein freies Wesen innerhalb der sozialen Struktur stehen soll? In einem gewissen Zusammenwirken der Seelenkräfte suchte Schiller dasjenige, was angestrebt werden soll. Und er glaubte, daß wenn solche Men­schen, in denen die Vernunftnotwendigkeit die sinnliche Notwendig­keit durchdringt, und die sinnliche Notwendigkeit vergeistigt wird durch die Vernunftnotwendigkeit, wenn solche Menschen eine soziale Ordnung bilden, so wird ein guter Zustand dieser sozialen Ordnung die notwendige Folge sein.

Goethe sprach viel mit Schiller, korrespondierte viel mit Schiller

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in der Zeit, als dieser die Ästhetischen Briefe verfaßte. Goethe war ein ganz anderer Mensch als Schiller. Schiller war von gewaltiger innerer dichterischer Leidenschaft, aber zu gleicher Zeit ein scharfer Denker. Goethe war nicht in dem Sinne scharfer, abstrakter Denker wie Schiller, war sogar von geringerer dichterischer Leidenschaft, aber er war ausgerüstet mit dem, was Schiller gerade fehlte, was Schiller nicht hatte: mit durchgreifenden volimenschlichen, harmo-nischen Instinkten, vergeistigten Instinkten. Schiller war der reflektie­rende Mensch, der rationalistische Mensch, Goethe war der Instinkt-mensch, aber der vergeistigte Instinktmensch. Wie sie sich so gegen-überstanden, Schiller und Goethe, das wurde für Schiller selber zum Problem. Lesen Sie den schönen Aufsatz, den Schiller geschrieben hat über «Naive und sentimentalische Dichtung», so werden Sie immer das Gefühl haben, Schiller hätte ebensogut, wenn er persön­lich hätte werden wollen, schreiben können: Über Goethe und mich -Über Goethe und Schiller. - Denn der naive Dichter ist Goethe, der sentimentalische Dichter ist Schiller. Er beschreibt eigentlich in die­sem Aufsatz über naive und sentimentalische Dichtung nur sich selbst und Goethe.

Goethe, der Instinktmensch war, dem kam die Sache nicht so ein­fach vor. Er verhandelte, wie ich eben sagte, viel mit Schiller, während dieser die Ästhetischen Briefe schrieb, über dieses Problem. Jedes abstrakt-philosophische Reden, schon ein solches über Vernunftnot­wendigkeit, sinnliche Notwendigkeit und ästhetischen Zustand - was ja schließlich auch Abstraktionen sind, wenn man diese Dinge kon­trastiert ¼ jedes solche «Philosophein» war Goethe eigentlich im Innersten doch zuwider. Er ließ sich dazu herbei, weil er für alles Menschliche empfänglich war, und weil er sich sagte: So und so viele Menschen treiben eben Philosophiererei, also muß man sich auf so etwas schon einlassen. - Er war nie ganz absprechend. Das zeigt sich am besten, wenn er in die Notwendigkeit versetzt wird, über Kant zu reden. Da war Goethe in einer ganz besonderen Lage. Kant galt Schiller und einer ganzen Anzahl anderer Menschen als der größte Mann seines Jahrhunderts. Goethe konnte das eben nicht verstehen, daß Kant als der größte Mann seines Jahrhunderts gelten sollte. Aber

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er war durchaus nicht intolerant, er war nicht ein Mensch, der nur auf sein eigenes Urteil eigensinnig etwas gab. Goethe sagte sich:

Wenn so viele Menschen in Kant so viel finden, dann muß man sie halt gehen lassen, ja, man muß sich sogar anstrengen, dasjenige, was man nicht sehr bedeutend findet, vielleicht doch nach einer geheimen Bedeutung einmal zu erforschen. - Ich habe das Exemplar der «Kritik der Urteilskraft», das Goethe gelesen hat, in der Hand gehabt; da hat er bedeutende Stellen angestrichen. Man sieht, wie Goethe sich be­strebt hat, hineinzukommen gerade in das Lesen der Kantschen «Kritik der Urteilskraft». Allein, ziemlich vor der Mitte schon werden die Striche dann seltener, und zuletzt versiegen sie ganz. Man sieht, zu Ende ist er nicht gekommen.

Und wenn das Gespräch auf Kant kam, da ließ er sich auch nicht so ganz auf den wirklichen Inhalt eines solchen Gespräches ein. Es war ihm unangenehm, in philosophischen Abstraktionen über die Welt und ihre Geheirnnisse zu reden. Und so war es ihm auch klar, daß man so einfach nicht wegkommt, wenn man den Menschen in seiner Ent­wickelung von der Notwendigkeit zur Freiheit auffassen will, wie Schiller das getan hat. Sehen Sie, es liegt etwas außerordentlich Großes in diesen Ästhetischen Briefen. Dieses Große erkannte Goethe an. Aber es war ihm zu einfach. Es war ihm überhaupt zu einfach, diesen komplizierten Menschen, namentlich den komplizierten Seelenmen­schen auf drei Kategorien zurückzuführen: Vernunftnotwendigkeit, ästhetischen Zustand, sinnliche Notwendigkeit. Ihm war viel, viel mehr in dieser menschlichen Seele, und die Dinge ließen sich auch für ihn nicht so nebeneinanderstellen.

Daher wurde er angeregt, das « Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie» zu schreiben, wo nicht drei, sondern etwa zwanzig Seelenkräfte sind, die nicht in Begriffe gefaßt sind, sondern in vieldeutigen, bildhaft wirkenden Gestalten, die dann gipfeln in dem goldenen König, der die Weisheit repräsentiert - nicht symboli­siert, sondern repräsentiert -, dem silbernen König, der den Schein repräsentiert, dem ehernen König, der die Gewalt repräsentiert, und der sie krönenden Liebe. Aber alles andere sind auch Seelenkräfte; Sie brauchen das nur in meinem Aufsatze nachzulesen.

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So wurde Goethe angeregt, diesen Weg des Menschen von der Notwendigkeit zur Freiheit auch vor seine Seele hinzustellen. Für ihn wurde das Problem nur ungeheuer viel komplizierter. Er war der vergeistigte Instinktmensch. Schiller war der - lassen Sie mich den Ausdruck gebrauchen, Sie werden ihn nicht mißverstehen - versinn­lichte Verstandesmensch; nicht ein gewöhnlicher Verstandesmensch, sondern der versinnlichte Verstandesmensch.

Nun, wenn man ehrlich die Zeitentwickelung ins Auge faßt, so kann man sagen: Solche Betrachtungsweise, wie sie da jeder in seiner Art, Schiller auf der einen Seite abstrakt-philosophisch, Goethe ima­ginativ-künstlerisch gepflogen haben, solche Betrachtungsweise, ganz abgesehen von der Form, ist auch ihrem Inhalte nach dem heutigen Menschen wenig gelegen. Ein sehr naher älterer Freund von mir, Kar/Julins Schröer, der auch einmal Prüfungskommissär für Prüfungs-kandidaten des Realschullehramtes war, wollte über Schillers Ästhe­tische Briefe diese Leute prüfen, die dann Kinder von zehn bis acht­zehn Jahren unterrichten sollten. Ja, die haben einen reinen Aufruhr gemacht! Leute, die es ganz selbstverständlich gefunden hätten, daß man sie über Plato gefragt hätte, daß sie die platonischen Gespräche hätten interpretieren sollen, solchen Leuten lag es ganz ferne, irgend­wie etwas zu wissen von Schillers «Briefen über ästhetische Erzie­hung», die einen Höhepunkt der neueren Geistesbildung darstellen.

Nun, die Sache ist aber doch so, daß die Mitte des 19. Jahrhunderts viel mehr, als man heute noch denken kann, einen ungeheuer tiefen Einschnitt der menschlichen Geistesgeschichte darstellt. Jenseits, nach vorne, liegt auch dasjenige, was noch in Schiller und Goethe sich dar­stellt, und hinter der Mitte des 19. Jahrhunderts, bis zu uns herüber, liegt eben doch etwas ganz anderes, was das Vorhergehende nur in sehr geringem Maße verstehen kann. Es wäre viel besser, wenn sich die heutigen Menschen einfach gestehen würden, daß wir eine Art von Abgrund überschritten haben, der uns nur dann, wenn wir ganz bestimmte Verständnismittel anwenden, auch die nahe Vergangenheit vor der Mitte des 19. Jahrhunderts verständlich macht. Und man darf sagen: Dasjenige, was wir heute soziale Frage nennen - jetzt nicht im engen Sinne, sondern im weitesten Sinne aufgefaßt, wie sie eigentlich

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noch nicht aufgefaßt wird von der Menschheit, wie sie aber aufgefaßt werden soll und auch nach und nach aufgefaßt werden muß -, das kannte man vor der Mitte des 19. Jahrhunderts noch gar nicht. Das ist erst, so wie es in das Bewußtsein der Menschheit eingetreten ist, in der zweiten Häffte des 19.Jahrhunderts geboren. Und ein Ver­ständnis für diese Tatsache gewinnt man nur, wenn man sich frägt:

Warum ist in solchen repräsentativen, signifikanten Betrachtungen, wie sie Schiller angestrebt hat in seinen Ästhetischen Briefen, wie sie Goethe bildhaft vor die Seele gestellt hat in seinem «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie», warum ist darinnen, trotz­dem Goethe mit seinem Märchen auch deutlich auf politische Gestal­tungen hinweist, gar nichts von jener eigentümlichen Art, wie wir heute über die soziale Struktur der Menschen denken müssen? Und warum sind wir heute darauf angewiesen, über diese soziale Struktur in dem Sinne, wie ich das oftmals hier auseinandergesetzt habe, uns wirkliche Gedanken zu machen? Wir können eben nicht mehr ganz so sein, wie Schiller und Goethe waren. Wir betreiben am wenigsten richtig Goetheanismus, wenn wir Goethe nicht weiterbilden wollen, sondern ihn nur nachäffen wollen. Wenn man sich mit innerem Ver­ständnis einläßt sowohl auf Schillers Ästhetische Briefe wie auf Goethes «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie», so merkt man, daß da etwas von einer ungeheuren Geistigkeit drinnen ist, die seither die Menschheit verlassen hat, die seither nicht mehr da ist. Da waltet etwas, wofür die wenigsten Menschen heute eigentlich so richtige Empfindung haben. Wer Schillers Ästhetische Briefe liest, müßte die Empfindung haben: Da waltet noch ein anderes seelisch-geistiges Element in der Schreibart selbst, als es heute auch bei den hervorragendsten Geistern waltet, und zu glauben, daß heute jemand so unmittelbar etwas schreiben könnte wie Goethes «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie», ist überhaupt eine Dummheit. Denn diese Geistigkeit ist so nicht mehr da seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Das spricht nicht unmittelbar zum heutigen Menschen, das kann nur eigentlich sprechen durch das Medium der Geisteswissenschaft, die den Gesichtskreis erweitert, und die sich auch in Früheres wirklich einlassen kann. Und es wäre eigentlich am

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besten, wenn sich die Menschen gestehen würden: Ohne Geistes­wissenschaft verstehen sie Schiller und Goethe gar nicht. Jede «Faust»-Szene kann Ihnen das beweisen.

Und wenn man dem nachgeht, was da waltet, nicht so sehr in den Behauptungen, sondern in der Art, wie diese Behauptungen auf­gestellt werden, dann findet man: Es ist in jener Zeit im Menschen noch der allerletzte Rest, der letzte Nachklang von der alten Geistig­keit. Man redet da noch aus der alten Geistigkeit heraus. Die alte Geistigkeit ist letzten Endes erst verrauscht und verraucht um die Mitte des 19.Jahrhunderts, und um die Mitte des 19.Jahrhunderts beginnen die Menschen auf dem ganzen Erdenrund so zu denken, daß in dem Denken nicht mehr der Geist als solcher waltet, sondern nur das Menschliche, wenn sie sich sich selbst überlassen. Natürlich ist das nur im allgemeinen richtig. Bei Schiller und Goethe, bei ihren Zeit­genossen ebenso, waltete noch etwas von Nachklängen der alten, man darf sagen atavistischen Geistigkeit. Das geht ja nur langsam und allmählich verloren. Wenn man immer wieder den Zeitpunkt angibt, mit der Entstehung des Christentums sei die alte Geistigkeit zu Ende gewesen, so bedeutet das doch nur eine Etappe; der letzte Ausläufer liegt in dem, was um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert in sol­chen Hervorbringungen gelebt hat wie in den beiden heute angeführ­ten. Er lebte im Menschen so, daß derjenige, der abstrakt dachte wie Schiller, in dem abstrakten Denken die Geistigkeit drinnen hatte, und bei dem, der vergeistigte Instinkte hatte wie Goethe, da lebte das in den vergeistigten Instinkten drinnen. Aber es lebte in irgendeiner Weise. Jetzt muß es auf geisteswissenschaftlichem Wege gesucht wer­den, jetzt muß der Mensch sich eben aus Freiheit zur Geistigkeit durchringen. Das ist es, worauf es ankommt. Und ohne das Ver­ständnis dieses Einschnittes in der Mitte des 19. Jahrhunderts kommt man nicht zu einer wirklichen Erfassung dessen, was heute von be­sonderer Wichtigkeit ist. Denn nehmen Sie nur einmal diese Tatsache:

Schiller sieht auf die soziale Struktur hin. Im Hinblick auf die Franzö­sische Revolution schreibt er dann seine Ästhetischen Briefe; aber er blickt auf den Menschen, indem er die Frage beantworten will:

Wie soll der soziale Zustand sich gestalten? - Das ist nicht die soziale

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Frage im heutigen Sinne. Das ist eine bloß humanistische Auffassung, die Schiller für die ganz allgemeine Menschheit verwendet, eine rein humanistische Auffassung.

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nun wird der Blick nicht mehr so sehr auf den Menschen gelenkt, sondern auf das Außermenschliche. Und heute ist es ja allgemein üblich, wenn über die soziale Frage ge­sprochen wird, den individuellen Menschen mit seinen inneren Kämp­fen, mit dem, was er durch eigene Selbsterziehung aus sich macht, eigentlich auszuschalten und auf die Zustände, auf dasjenige, was eben in der sozialen Struktur liegt, zu sehen. Der Mensch erwartet heute das, was Schiller von der Selbsterziehung erwartet, von der Umgestaltung der äußeren Verhältnisse. Schiller sagte: Werden die Menschen, wie sie werden können im mittleren Zustande, dann wer­den sie von selbst eine richtige soziale Struktur schaffen. Heute sagt der Mensch: Richten wir eine wirkliche, richtige soziale Struktur ein, dann wird der Mensch darinnen so, wie er werden soll.

So hat sich im Verlaufe von kurzer Zeit die ganze Empf:ndungs­weise, die Form der Empfindungsweise wirklich umgedreht. Das ist sehr wichtig, daß man das ins Auge faßt. Ein Schiller, ein Goethe, sie würden nicht haben glauben können, daß der selbsterzogene Mensch zu einer richtigen sozialen Struktur im Zusammenleben führt, wenn sie nicht im Menschen selbst das Allgemein-Menschliche im Zusam­menleben noch gefühlt hätten. Sie haben gewissermaßen die mensch­liche Gesellschaft im einzelnen Menschen mitgefühlt. Aber es war nicht mehr wirksam. Man konnte gewissermaßen zur Zeit Schillers und Goethes geistvolle, schöne Betrachtungen über die beste Selbst-erziehung anstellen - es war eben der Nachklang des alten atavisti­schen Lebens, es war gewissermaßen ein Bild des alten atavistischen Lebens, aber es lebte nicht mehr richtige Impulsivität darin.

Ebensowenig lebt heute in dem, was die Menschen so ausdenken über die besten sozialen Verhältnisse, in denen die Menschen leben sollen, schon irgend etwas, was soziale Impulsivität hat. Bei Schiller war die menschliche Gesellschaft im einzelnen Menschen noch vor­handen für die Betrachtung, aber nicht mehr wirksam. Heute ist in der Hypothese, in der ausgedachten gesellschaftlichen sozialen Struktur,

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der Mensch vorhanden, aber nicht wirksam. Es muß der Mensch erst wiederum gefunden werden in der Betrachtung der Außenwelt, in dem Hinblick auf die Außenwelt. Und zwar in durchgreifendem Sinne muß der Mensch gefunden werden. Schiller glaubte noch, die mensch­liche Gesellschaft im einzelnen Menschen zu finden. Wir müssen auf die menschliche Gesellschaft überhaupt, auf die Welt blicken und draußen uns selbst, den Menschen finden können.

In durchgreifendem Sinne tut das nur die wirkliche Geisteswissen­schaft. Nehmen Sie meine «Geheimwissenschaft im Umriß», nehmen Sie dasjenige, was heute noch am allermeisten Anstoß erregt, die Entwickelungslehre, Saturn-, Sonnen-, Monden-, Erdenentwickelung:

überall ist der Mensch drinnen. Denken Sie, wie die übrige Betrach­tungsweise, die kosmologische Betrachtung, den Menschen verloren hat. Denken Sie an die groteske - wie Herman Grimm richtig sagt -, wahnsinnige Kant-Laplacesche Theorie! Denken Sie: Da ist ein all­gemeiner Weltennebel in langsamer Bewegung, da entwickelt sich das nachher weiter, was da in rotierender Bewegung ist, und zuletzt tritt der Mensch wie aus der Pistole geschossen auf Nehmen Sie die Evo­lution, wie sie die Geisteswissenschaft lehren muß, nehmen Sie den ersten Zustand, der beschrieben werden kann, den Saturnzustand. Sie haben die ersten Anlagen des Menschen drinnen; nirgends haben Sie die bloße abstrakte Welt, den bloßen abstrakten Kosmos, überall haben Sie irgendwie den Menschen in der Sache drinnen liegen. Der Mensch ist gar nicht abgesondert von der Welt. Das ist der Anfang dessen, was aus ganz dunkeln, aus ganz finstern Impulsen heraus die Zeit instinktiv will. Die Zeit vor der Mitte des 19. Jahrhunderts hat auf den Menschen geblickt und geglaubt, im Menschen die Welt zu finden. Die Zeit nach der Mitte des 19. Jahrhunderts will nur noch auf die Welt blicken. Aber das ist unfruchtbar. Das führt zuletzt zu gerade­zu menschenleeren Theorien, wenn nicht in allem Weltlichen schon der Mensch gefunden wird. Deshalb dient diese Geisteswissenschaft wirklich den sonst finstersten, aber berechtigten Instinkten. Sie ist, wenn ich den ekelhaften Journalistenausdruck gebrauchen darf, das wirklich Zeitgemäße, denn sie dient den Impulsen, welche die Zeit aus sich selbst hervortreibt. Das, was die Menschen wollen, ohne daß sie

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wissen, was sie wollen, das wird durch die Geisteswissenschaft erfüllt:

Hinzublicken auf die Außenwelt und in der Außenwelt den Menschen zu finden. Das ist es aber, worauf es ankommt. Und das ist es, was heute noch verpönt, ja verabscheut wird, was aber notwendig wird gepflegt werden müssen, wenn irgendein Heil in diesem Punkte in der Zukunft wirklich eintreten soll.

Solche Schriften wie Schillers Ästhetische Briefe soll der heutige Mensch aufnehmen, ich möchte sagen, um seinen Geist zu lockern, der sonst fest hereinversetzt ist in das materielle physische Dasein. Man wird freier im Geiste, wenn man diese Dinge auf sich wirken läßt. Aber man muß dann vorschreiten zur neuen Erfassung der Welt. Man kann nicht stehenbleiben bei diesen Dingen. Man darf heute Schiller, man darf Goethe im Sinne des Goetheanismus verstehen, aber nicht so, daß man bei Schiller und Goethe stehenbleibt, sondern daß man das Fruchtbare in ihnen gerade mit Hilfe dessen erkennt, was die Geisteswissenschaft heute bietet.

Und so muß eine Erweiterung auch der Menscheniehre eintreten, wenn man in den äußeren Verhältnissen, in der Außenwelt nun den Menschen finden will. Das, worauf es ankommen wird, wird sein:

den äußeren sozialen Organismus, in dem der Mensch drinnen lebt, wirklich zu verstehen. Aber man wird ihn erst verstehen, wenn man den Menschen drinnen schaut in dem sozialen Organismus. Der Mensch ist ein dreigliedriges Wesen. Er betätigt sich auch in allen Zeitaltern in dreigliedriger Weise, mit Ausnahme unseres Zeitalters, in welchem der Mensch, weil er gerade auf sich selbst, auf den einzigen Punkt des eigenen Selbstes sich stellen soll im Bewußtseinszeitalter, gewissermaßen alles auf eine einzige Kraft in ihm konzentriert; sonst betätigt er sich auch in der Menschheitsentwickelung in dreigliedriger Weise. Denn heute hat jeder eigentlich das Gefühl, daß ihm als Mensch alles aus einem Einzigen fließe. Er denkt: Nun, wenn mir irgendeine Frage vorgelegt wird, wenn mir das Leben irgendeine Aufgabe stellt, dann urteile ich als Mensch so aus mir heraus. - Das ist aber eigentlich nicht die ganze menschliche Wesenheit, aus dem heraus da geurteilt wird, sondern die menschliche Wesenheit hat erstens den Menschen in der Mitte, dann darüber etwas und darunter etwas. Das, was in der Mitte

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ist, ist das jeweilige Urteilen, aus Urteilen handeln. Dasjenige, was darüber ist, ist die Eingebung, das, was man durch Religion oder sonstige geistige Eingebung als etwas Höheres, Übersinnliches an­schaut. Und dasjenige, was unter dem jeweiligen Urteil ist, ist die Er­fahrung, ist die Summe der Erlebnisse: Eingebung - jeweiliges Urtei­len - Erfahrung.

Beides berücksichtigt heute der Mensch wenig. Eingebung: alter Aberglaube, muß überwunden werden! Erfahrung berücksichtigt heute der Mensch auch wenig, sonst würde er den Unterschied zwi­schen jugendlichem Nichtswissen und älterem Wissen-durch-Erfahrung mehr berücksichtigen. Er berücksichtigt ihn allerdings nicht nur im Bewußtsein nicht, sondern auch in der Praxis nicht. Er wird nämlich nichts erfahren, der heutige Mensch, aus dem Grunde, weil er nicht an die Erfahrung glaubt. Die meisten Menschen sind heute, wenn sie graue Haare und Runzeln haben, auch nicht viel gescheiter, als wenn sie zwanzig Jahre alt sind, weil der Mensch nicht an die Erfahrung glaubt. Man wird nämlich wirklich im Leben immer gescheiter, und man bleibt doch immer dumm; aber Erfahrung sammelt man, und die Erfahrung ist der andere Pol von der Eingebung. Die Eingebung kann in jedem Lebensalter kommen; die Erfahrung kann nur kommen, indem man durch die Zeit hindurchlebt zwischen Geburt und Tod. Dazwischen steht dann das jeweilige Urteil.

Ich habe es oft gesagt, heute liest man Urteile, kritische Urteile von den jüngsten Leuten, die sich gar nicht in der Welt umgesehen haben. Da kommt es sogar vor, daß alte Menschen etwas produzieren, dicke Bücher schreiben, und die jüngsten Dachse beurteilen sie kritisch. Das ist nicht die Methode, durch die man wirklich als Mensch vorwärts-kommt. Die Methode, durch die man als Mensch vorwärtskommt, ist diese, daß man sich an dem Alter aufrichtet, daß man ihm nachstrebt, daß man es für urteilsfähiger hält durch die Erfahrung.

Also der Mensch ist auch in der praktischen Betätigung ein drei­gliedriges Wesen, und er ist in jeder Hinsicht ein dreigliedriges Wesen. Lesen Sie mein Buch «Von Seelenrätseln», so werden Sie finden der Eingebung entsprechend den Kopfmenschen, Sinnes­Nervenmenschen, dem jeweiligen Urteile entsprechend den Brustmenschen,

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und der Erfahrung entsprechend den Extremitäten­menschen. Ich könnte auch sagen: den Menschen des Sinnes-Nerven­lebens, den Menschen des rhythmischen Lebens und den Menschen des Stoffwechsels. Diese dreigliedrige Natur des Menschen berück­sichtigt man heute nicht. Deshalb kommt man auch nicht zu dem entsprechenden kosmischen Korrelat. Man kann nicht zu dem ent­sprechenden kosmischen Korrelat kommen, weil man ja überhaupt vom Sinnlichen zu dem Übersinnlichen nicht aufsteigen will. Der Mensch ißt heute, das heißt, er vereinigt die äußeren Nahrungsmittel mit seinem Organismus, und er denkt: Nun ja, dadrinnen ist der organismus, der verkocht so die Sache, nimmt sich so, was er braucht, heraus; das andere, nicht wahr, läßt er unverbraucht abgehen, und so geht die Geschichte weiter. Das auf der einen Seite.

Auf der andern Seite: Ich sehe mit meinen Sinnen in die Welt hinaus. Das Sinnliche nehme ich auf und verarbeite das verstandes­mäßig, und das führe ich nun in die Seele hinein, wie die Nah­rungsmittel in den Leib. Das, was da draußen ist, was Augen sehen, was Ohren hören, trage ich dann in mir als Vorstellung; das, was da draußen ist als Weizen, Fisch, Fleisch, was weiß ich, trage ich dann in mir, indem ich es dadrinnen verdaue, verkoche und so weiter.

Ja, dabei wird eben nicht berücksichtigt, daß alles, was Nahrungs­stoffe sind, auch seine Innenseite hat. Das, was man sieht mit den äußeren Sinnen und was man erlebt mit den äußeren Sinnen an den Nahrungsmitteln, das hat keinen Bezug zu unserer tieferen Natur. Sie können mit dem, was Ihre Zunge schmeckt, was Ihr Magen verdaut, so verdaut, daß es nachkonstatierbar ist mit der gewöhnlichen heutigen Wissenschaft, Ihren täglichen Stoffwechsel besorgen, aber Sie können niemals den andern Stoffwechsel besorgen, der zum Beispiel dazu Führt, daß Sie ungefähr im siebenten Jahre die ersten Zähne auswerfen und neue bekommen. Das, was diesen Stoffwechsel ausmacht, das liegt nicht in dem, was durch die gewöhnlichen Sinne aufgefaßt wird von den Nahrungsmitteln, sondern das liegt in den tieferen Kräften der Nahrungsmittel, die heute keine Chemie irgendwie an die Ober­fläche bringt. Das, was der Mensch als Nahrungsmittel aufnimmt, das

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enthält eine tief geistige Seite, jene geistige Seite, die sich auch sehr stark im Menschen betätigt, aber nur wenn er schläft. In dem, was Ihre Nahrungsmittel sind, leben nämlich die Geister der höchsten Hierarchien, Seraphim, Cherubim, Throne. Ihre Nahrungsmittel haben eine äußere Seite, wenn Sie sie schmecken, wenn Sie sie auf­lösen in Pepsin oder Ptyalin; aber in diesen Nahrungsmitteln lebt etwas Weltgestaltendes, so weltgestaltend, daß in den Kräften, die da untersinnlich - werde ich besser sagen - in den Nahrungsmitteln leben, die Impulse sind für den Zahnwechsel, für die Geschlechtsreife, für die spätere Metamorphose der menschlichen Natur. Das lebt da-drinnen. Nur der tägliche Stoffwechsel wird besorgt durch das, was der Mensch durch äußere Wissenschaft kennt. Dieser Stoffwechsel, der durch das Leben geht, der wird durch die höchsten Hierarchien besorgt, die in den Nahrungsmitteln als Unterlagen drinnen sind. Und hinter dem, was die Sinne schauen, da breiten sich in Wirklich­keit aus die Wesen der dritten Hierarchie: Angeloi, Archangeloi, Archai. - So daß Sie sagen können: Sinneswahrnehmung: Dritte Hierarchie, Nahrungsstoff: Erste Hierarchie, und dazwischen ist die zweite Hierarchie, die lebt im Atmen, überhaupt in aller rhythmischen Tätigkeit des Menschen.

Die Bibel hat das noch ganz richtig dargestellt. Diejenigen Geister, die die Elohim sind, mit Jahve, werden durch den Atem in die Men­schen eingeführt. Die alte Wissenschaft wußte atavistisch diese Dinge noch ganz richtig. Da werden Sie, wenn Sie auf eine wirkliche Menschenkenntnis eingehen, auch in eine richtige Kosmologie hinaus-geführt.

Diese Betrachtungsweise inauguriert erst wiederum die Geistes­wissenschaft. Sie sucht den Menschen wiederum in der Außenwelt auf, macht die ganze Welt zum Menschen. Aber das kann man nicht, wenn man nicht den dreigliedrigen Menschen ins Auge faßt, wenn man nicht weiß, daß der Mensch wirklich eine Trinität ist. Heute ist Eingebung und Erfahrung unterdrückt. Der Mensch wird nicht ge­recht der Eingebung und der Erfahrung. Er wird auch nicht gerecht dem, was in die Sinne geht, und er wird nicht gerecht dem, was in die Nahrungsmittel geht, denn im Verlaufe des Lebens sind ihm die

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Nahrungsmittel bloß das, was die äußeren Sinne darbieten. Das ist aber nur eine ahrimanische Verzerrung der Nahrungsmittel,. das ist nicht ein Hinblicken auf das, was tiefer in allem Geschöpifichen lebt, wie zum Beispiel in den Nahrungsmitteln.

Geisteswissenschaft führt nicht zur Verachtung der Materie, son­dern zum Durchgeistigen der Materie. Und wenn irgend jemand auf die Nahrungsmittel mit Verachtung hinblicken würde, so müßte er es erleben, daß die Geisteswissenschaft ihm nun sogar groteskerweise sagt: Die höchsten Hierarchien, Seraphim, Cherubim und Throne, die leben gerade in den Nahrungsmitteln drinnen.

Also unser Zeitalter faßt zusammen in einer unklaren, chaotischen Weise den dreigliedrigen Menschen, macht ihn zum Monon. Praktisch für die soziale Struktur ist das Gegenbild dafür da, indem alles zum Monon staatlicher Gesetzlichkeit gemacht wird. Das ist das genaue Gegenbild. Alles soll aufgehen in die staatliche Gesetzmäßigkeit. Wir sehen also eine Trinität, welche sich aus drei Gliedern zusammensetzen soll: Erstens aus der Naturgrundlage des Lebens, aus allem Wirtschaft­lichen des Lebens, Ökonomie. Zweitens aus der gesetzlichen Regu­lierung, die auch dem Mittleren des Menschen entspricht, dem Rhyth­mus. Und drittens dem geistigen Leben. Und wir sehen, wie sich dieses Dreifache vereinheitlichen will. Die Wirtschaft, das Ökono­mische, soll allmählich dem Staat aufgebuckelt werden, der Staat soll der alleinige Unternehmer werden. Das geistige Leben ist ja schon vor langer Zeit überhaupt dem Staate aufgebuckelt worden. Dasselbe, was auf der einen Seite der Mensch, der sich nicht mehr versteht, dar­stellt, soll auf der andern Seite der Staat darstellen, den man nicht mehr versteht, weil man nicht mehr den Menschen in der sozialen Struktur drinnen findet. Diese drei Glieder der sozialen Struktur, Wirtschaft, gesetzmäßige Regelung, geistiges Leben, sind so radikal voneinander verschieden wie Kopf, Brust und Unterleib. Wenn Sie den Staat mit der Wirtschaft belasten wollen, so bedeutet das das­selbe, wie wenn Sie mit Lunge und Herz essen wollten, statt mit dem Magen. Der Mensch gedeiht nur dadurch, daß seine drei Systeme außereinander sind und im Außereinander zusammenwirken. So kann auch der soziale Organismus nur gedeihen, wenn die drei Glieder als

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selbständige Glieder nebeneinander wirklich wirken und nicht zu­sammengepfercht werden in einen Monon. Denn aller gesetzlichen Regulierung, die im Menschen dem Rhythmus, dem Atmungssystem entspricht, das auch nur zwischen Bauch und Kopf reguliert, ent­spricht ein absolut unpersönliches Element, vor dem alle Menschen gleich sind. In dem Ausspruch: Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich -, drückt sich das auch aus; da ist nichts vom Menschen drinnen. Daher müssen es auch alle Menschen besorgen, daher allgemeine Ver­tretung auf diesem Gebiete, daher auch ein gewisses Stehenbleiben-Wollen bei diesen Dingen; aber daher auch etwas, was nach beiden Seiten hin steril geblieben ist. Wir müssen atmen. Aber wenn nicht auf der einen Seite dem Prozeß des Atmens die Nahrung zugeführt wird und auf der andern Seite die Sinnesempfindung, dann sind wir nicht Menschen. Wir müssen einen Staat haben, der gesetzlich regelt in unpersönlichen Gesetzen. Wenn aber in diesen Staat nicht hinein-wirkt das halb Persönliche der Ökonomie, wo der Mensch daran beteiligt ist, und das ganz Persönliche, nämlich für das Außenleben des Staates ganz persönliche Geistesleben, so ist der staatliche Orga­nismus ebenso unmöglich, wie wenn der Mensch nur als Atmungs­mensch leben wollte. So wenig der Magen beim gegenwärtigen Men­schen das tun kann, was Herz und Lunge tun, und der Kopf seine Betätigung ausführen kann, wenn er auch Herz und Lunge wird, ebensowenig ist es möglich, wenn eine gesunde soziale Struktur ein­treten soll, daß Sie dem Staate aufbuckeln die beiden andern Systeme:

Das ökonomische System, bei dem der Mensch dabei sein muß, dessen Unternehmungen sich nicht ganz loslösen können vom Menschen, und das geistige Leben, das für den Staat wie für den Menschen so kom­men muß, wie das, was er ißt, von der Natur aus von außen in den Menschen hereinkommt. Das muß eine neue Lehre werden, die als fundamental gelten muß: daß die soziale Struktur eine dreigliedrige ist. Sie können sich nicht hinstellen als Mensch in die Welt und nichts essen, sondern Sie müssen das Essen von außen hereinbekommen. Sie können den Staat nicht hinstellen in die Welt und ihm nicht seine Nahrung zuführen - es ist umgekehrt hier, deshalb habe ich auch um­gekehrt geschrieben - von dem geistigen Produzieren der Menschen.

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Das geistige Produzieren der Menschen ist für den Staat dasselbe, was die äußere physische Nahrung für den einzelnen individuellen Men­schen ist. Und Sie können einen Staat nicht hinstellen, ohne ihm auf der andern Seite eine gewisse Naturgrundiage in der Wirtschaft zu geben. Denn die Wirtschaft ist für den Staat genau dasselbe, was beim einzelnen, individuellen Menschen das Element ist, welches dem Atmungsprozeß von der andern Seite zugeführt wird, was dem Men­schen zugeführt wird durch die Sinneswahrnehmung.

Sinneswahrnehmung:
Nahrungsstoff:

Dritte Hierarchie
Erste Hierarchie

}

Zweite Hierarchie:
Atmung

Eingebung

Kopfmensch - Sinnes-Nervenleben:

1. Naturgrundlage, Wirtschaft, Ökonomie.
Halbpersönliches,
Brüderlichkeit

Jeweiliges Urteil

Brustmensch - Rhytmus:
2. gesetzliche Regulierung, Unpersönliches,
Gleichheit

Erfahrung

Extremitäten - Stoffwechselmensch:
3. geistiges Leben, Persönlichkeit,
Freiheit.

Sie sehen daraus, daß wirkliche Menschenerkenntnis und wirkliche Erkenntnis der sozialen Struktur sich gegenseitig bedingen, daß man zu dem einen nicht kommen kann, ohne das andere. So wie der Mensch Kopfmensch, Brustmensch, Stoffwechselmensch ist, also Sinnes- und Nervenmensch, rhythmischer Mensch und Stoffwechsel­mensch ist, so ist der Staat nicht ein ganzer Organismus, sondern die soziale Struktur ist: Staat und Wirtschaft und geistiges Leben.

Das muß geradezu das Einmaleins werden für die soziale Einsicht in die Zukunft. Und die Sünde, die in bezug auf den Menschen ge­macht wird, indem man Eingebung und Erfahrung eliminiert, die

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wird heute gemacht von dem sozialistischen Denken, indem ignoriert wird auf der einen Seite das Halbpersönliche, in jenem sozialen Denken, in dem die Brüderlichkeit walten muß für sich; indem igno­riert wird auf der andern Seite das geistige Leben, in welchem die Freiheit walten muß, während auf dem unpersönlichen Gesetzeselemente die Gleichheit zu walten hat.

Sie können in den Staat nicht die Brüderlichkeit hineinbringen; Sie können aber keine wirtschaftliche Organisation zustande bringen ohne die Brüderlichkeit. Das ist der große Irrtum des gegenwärtigen Sozialismus, daß er glaubt, durch staatliche Regelung, vor allen Dingen durch Sozialisierung der Produktionsmittel irgendwie eine gesunde soziale Struktur schaffen zu können. An alle Kräfte des sozialen Orga­nismus muß appelliert werden, wenn eine gesunde soziale Struktur geschaffen werden soll. Da muß neben der Gleichheit, die heute einzig und allein angestrebt wird, die für alles Gesetzmäßige ganz richtig angestrebt wird, walten die Brüderlichkeit und die Freiheit. Aber sie können nicht walten, wenn nicht Dreigliedrigkeit eintritt. Sagt man:

im Staate muß walten Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, und der Staat ist omnipotent, dann ist das dasselbe, als wenn man sagt:

Du brauchst keinen Kopf und du brauchst keinen Magen, sondern du sollst nur Herz und Lunge haben, denn das Herz muß denken, und die Lunge muß essen oder trinken. Geradeso unsinnig, wie es ist, vom Herzen und der Lunge zu verlangen, daß sie denken und essen sollen, so unsinnig ist es, von einem omnipotenten Staatswesen zu verlangen, daß es Wirtschaft führt und daß es das geistige Leben versorgt. Das geistige Leben muß auf sich selbst gestellt sein und nur so zusammen­wirken, wie der Magen mit dem Kopf zusammenwirkt und mit dem Herzen. Es wirken schon die Dinge im Leben zusammen, aber sie wirken nur dann richtig, wenn sie ihre individuelle Ausgestaltung be­kommen, nicht wenn man sie abstrakt zusammenpfercht. Das ist es, was vor allen Dingen eingesehen werden muß, und ohne diese Ein­sicht kommt man sicher nicht weiter. Und daß diese Einsicht er­rungen werden muß, das beweisen gerade die Tatsachen der Gegen­wart. Es ist im höchsten Grade bemerkenswert, wie die Menschen in der Gegenwart diesen Zusammenhang zwischen Materialismus auf

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der einen Seite und abstraktem Denken auf der andern Seite gerade in bezug auf die soziale Frage gar nicht sehen.

Ein starker Grund für die Entstehung des Materialismus ist, daß sich der Staat nach und nach bemächtigt hat aller freikorporativen, schuimäßigen Institutionen. Wenn Sie zurückgehen in die Zeiten, in denen man noch aus atavistischem Empfinden heraus, das aus dem Helisehen entsprang, die Dinge gegründet hat, da werden Sie sehen, wie man da noch gefühlt hat die Notwendigkeit des Zusammen-wirkens der drei Glieder. Erst seit dem 16. Jahrhundert ist das all­mählich ineinandergeflossen, mit der Zeit des Heraufkommens des Materialismus. Sehen Sie sich die Universitäten an in früheren Zeiten:

sie waren freie Korporationen, und sie stellten sich ganz selbständig in die menschliche soziale Struktur hinein. Der Mensch des früheren Zeitalters, wenn er ein bedeutender Jurist werden wollte, ging an eine bedeutende juristische Universität, also sagen wir nach Padua; wenn er ein bedeutender Mediziner werden wollte, nach Montpellier oder nach Neapel; wenn er ein bedeutender Theologe werden wollte, an die Universität in Paris. Das gehörte nicht irgendeinem Staate an, das gehörte der Menschheit an, denn das stellte sich als ein selbstän­diges Glied hinein in den sozialen Organismus. Heute hilft es einem Menschen, der in der Schweiz lebt, nichts, wenn er ein bedeutender Mediziner in irgendeinem andern Lande wird, denn da ist er gar nichts in der Schweiz auf dem Gebiete der Medizin, denn heute hat dasjenige, was nur die Regulierung machen sollte, die wirtschaftliche Produkti­vität und auch die geistige Produktivität aufgesogen. Und damit ist ein ungesundes Element hineingekommen. Nicht wahr, der Mensch kann vergessen, daß er einen Kopf hat und daß er einen Magen hat. Er hat es vergessen in der neueren Wissenschaft, denn er behandelt sich so, als ob er nur ein Atmungsmensch wäre. Aber auf dem Gebiete der Wirklichkeit führt das nicht nur zu falschen Theorien, sondern zu falschen Institutionen und falschen Einrichtungen. Jede Schule, die unmittelbar nur unter der Gewalt des Staates steht, ist eine unmögliche Einrichtung. Das braucht man nicht zu durchschauen, wenn man eben kurzsichtig ist, aber trotzdem ist das eine unmögliche Einrichtung, die nach und nach zum Unheile führt. Jede Unternehmung, die über

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das bloß Regulierende hinausgeht, die produktiv sein will, ist, wenn sie vom Staate betrieben wird, Unheil. Das ist es, worauf es ankommt. Sie können in die Lunge nichts hineingießen, nicht einmal Wasser, wenn Sie Durst haben. Wenn es einmal passiert, dann sehen Sie, was das für Unheil anrichtet.

Aber heute gießt man in dasjenige, was nur die gesetzliche Regu­lierung des Daseienden übernehmen soll, alle möglichen Wirtschafts­unternehmungen hinein und auch sogar die Unternehmungen des geistigen Lebens. Man wird heute sogar als ziemlich verdreht an-gesehen, wenn man das einzig Elementare, fundamental Richtige auf diesem Gebiete klarlegt. Nun, die radikalen Parteien, so weit gehen sie noch: Trennung von Kirche und Staat, darauf lassen sie sich noch ein. Diesen Teil des geistigen Lebens, die Kirche, wollen sie unter Um­ständen vom Staate trennen, weil sie dann hoffen, daß die Menschen ja doch nur Interesse für das Staatliche haben. Dann wird die Kirche auf diese Weise, auf einem klugen Umwege, ganz absterben. Aber wenn man denselben Leuten zumuten würde, was notwendig ist: daß vor allen Dingen die Schule auf sich selbst gestellt wird, damit das geistige Leben seiner Produktivität zurückgegeben wird, dann würden sie sehr entschieden widersprechen. Jede Einrichtung, die von der Re­gulierung aus in das geistige Leben eingreift, muß aber notwendig zur Unfruchtbarkeit, zur Sterilität führen. Und ebenso muß es für jene Initiative falsch sein, welche zum wirtschaftlichen Leben notwendig ist, wenn das bloße Regulierungsleben da eingreift. Polizei, Sicherheits­dienst, alles das, was das gesellschaftliche Recht ist - nicht das Privat­recht und nicht das Strafrecht, das gehört zum dritten Gliede, zum geistigen Leben -, gehört zum Regulierungssystem. Alles das, was Wirtschaftssystem ist, ist ein System für sich, das muß eine korporative Gliederung haben, halbpersönlich. Und alles, was geistiges Leben ist, muß auf die menschliche Individualität gestellt werden und kann nie und nimmer gedeihen, wenn es nicht auf die menschliche Individuali­tät gestellt wird. Die menschliche Individualität in ihrer geistigen Produktion ist für den Staat ganz genau dasselbe, was für Lunge und Herz die Nahrungsmittel sind, die durch den Magen gehen müssen und nicht direkt in die Lunge und in das Herz.

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So sehen Sie den andern Pol. Schiller kommt zu der äußersten Menschlichkeit - mittlerer Zustand -, knüpft an s6gar an den nächsten Zustand, an die Kunst. Wir sind gewissermaßen genötigt, bei dem Robustesten, bei dem Gröbsten, bei dem Derbsten einzusetzen und den Menschen drinnen zu suchen; aber wir müssen diesen Weg ein­schlagen, sonst ist kein Heil für die Entwickelung der Menschheit der Gegenwart und der nächsten Zukunft. Schiller hat kühn den Satz ausgesprochen in seinen Ästhetischen Briefen: Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt, und der Mensch spielt nur, wo er im vollsten Sinne des Wortes Mensch ist. - Das Spielen betrachtet Schiller als den eigentlichen Idealzustand, wenn man das Spielen natürlich so vorstellt, wie Schiller: daß da die Vernunftnotwendigkeit zur Nei­gung heruntergeführt und die Neigung hinaufgeführt worden ist, daß sie ebenso vergeistigt worden ist wie die Vernunftnotwendigkeit. Er nennt dann den Ernst des Lebens ein Spiel, weil man so verfährt wie das Kind im Spiel, das auch keiner Pflicht gehorcht, sondern sich seinen Trieben überläßt, aber doch in gewisser Beziehung sich frei seinen Trieben überläßt, weil die Notdurft des Lebens noch nicht hineinreicht in das kindliche Leben. So ist wie ein Gipfelpunkt des Menschen gefaßt in Schillers Ästhetischen Briefen: Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt, und der Mensch spielt nur, wo er im vollsten Sinne des Wortes Mensch ist. - Und so ist es auf der andern Seite notwendig, daß jetzt, wo wir beginnen müssen mit dem Ro­busten des Kosmos, um den Menschen drinnen zu finden, mit dem Derben des ganzen Kosmos, um im ganzen Kosmos den Menschen zu finden, daß wir uns sagen müssen: Der Mensch wird nur dadurch wirklich die Menschheit vorwärtsbringen, daß er auch das Aller-kleinste im alltäglichsten Leben, selbst das alltäglichste Spiel, in den großen Ernst des kosmischen Daseins hinaufzurücken versteht. -Deshalb muß man sagen: In der Gegenwart ist ein Wendepunkt für die Menschheit eingetreten, wo der Ernst furchtbar an unsere Türe klopft. Das muß eben eingesehen werden. Davon dann morgen weiter.

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ACHTER VORTRAG Dornach, 25. Januar 1919

Worauf es mir gestern besonders ankam, war, an dem Beispiel von Schillers «Briefen über ästhetische Erziehung» einerseits, Goethes «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie» anderer­seits zu zeigen, wie vor der Mitte des 19. Jahrhunderts die ganze Art des Vorstellens und Empfindens über die Welt gerade bei hervor­ragenden Geistern anders war als nach der Mitte des 19. Jahrhunderts. Gerade an solchen Beispielen kann man so recht sehen, welch ein be­trächtlicher, bedeutsamer Einschnitt in dieser Mitte des 19. Jahr­hunderts zu verzeichnen ist. Wir haben ja von diesem Einschnitt in die ganze Menschheitsentwickelung von verschiedenen Gesichts­punkten aus gesprochen, haben darauf hingewiesen, daß in dieser Mitte des 19. Jahrhunderts gewissermaßen eine Krisis des Materialis­mus ist, eine Krisis insofern, als materialistische Empfindungsweise die Oberhand gewinnt in der ganzen menschlichen Vorstellung und Empfindung, Weltanschauung, Lebensauffassung und so weiter.

Nun fällt demjenigen, der diese Dinge eindringlich betrachten will, der den Mut und das Interesse hat, diese Dinge eindringlich zu be­trachten, an allem möglichen auf, welcher Umschwung sich da eigent­lich vollzogen hat. Nehmen Sie aus der heutigen Vorstellung die Szene mit den Kabiren heraus, versuchen Sie einmal, in dieser «Faust»-Szene nachzulesen alles, was sich auf die Kabiren bezieht, versuchen Sie, jede einzelne Zeile wirklich mit tieferem Interesse zu verfolgen, und Sie werden sehen, wie Goethe durch seine vergeistigten Instinkte durchaus noch drinnenstand in dem ahnenden Erkennen. Durch solche Vorstellungen und Mysterienverrichtungen, wie sie die Griechen hatten in Anlehnung zum Beispiel an die Kabiren, drückt sich für den Menschen ein Höchstes in bezug auch auf das Erkenntnisstreben und dergleichen aus. Diese Kabiren brachte Goethe mit Recht zusammen mit dem Wege, der führen soll vom Homunkulus zum Homo. Er brachte diese Kabiren mit Recht zusammen mit dem Geheimnisse des menschlichen Werdens.

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Drei Kabiren werden herangebracht. Wir reden von drei mensch­lichen Gliedern zunächst. Bevor wir auf das wahrhaft Innere des Menschen gehen, reden wir von drei menschlichen Gliedern: von dem physischen Leib, dem ätherischen Leib, dem astralischen Leib. Indem man von diesen menschlichen Gliedern spricht, erregt man ja sogleich die Kritik derjenigen Menschen, die sich heute besonders gescheit dünken, die sich heute besonders wissenschaftlich dünken. So wenden zum Beispiel solche Leute ein: Warum denn den einheitlichen Men­schen teilen, gliedern? Der Mensch sei doch eine Einheit, es sei sche­matisch, wenn man den Menschen in solche Glieder auseinander-schält. - Ja, aber so ist die Sache nicht, so einfach liegt sie nicht. Gewiß, wenn bloß eine schematische Einteilung des Menschen zu­grunde läge, brauchte man keinen besonderen Wert auf diese Glieder zu legen. Aber diese einzelnen Glieder, die man scheinbar so abstrahiert von dem ganzen Menschen, stehen ja alle mit ganz andern Sphären des Weltenalls in Verbindung. Dadurch, daß der Mensch einen physi­schen Leib hat, so wie er ihn heute hat, wie sich dieser physische Leib von seiner saturnischen Anlage heraus entwickelt hat bis in die heutige Zeit, dadurch gehört der Mensch dem Raume an, der Sphäre des Raumes. Und durch seinen ätherischen Leib gehört der Mensch der Sphäre der Zeit an. Also indem der Mensch den zwei total von­einander verschiedenen Sphären angehört, indem er, man könnte sagen, aus der Welt der Zeit und des Raumes herauskristallisiert ist, besteht er aus physischem Leib und aus Ätherleib. Das ist nichts Will­kürlich-Schematisches, was man da als Einteilung, als Gliederung des Menschen anführt. Das beruht tatsächlich auf dem ganzen Zusammen­hang des Menschen mit dem Weltenall. Und durch seinen astralischen Leib gehört der Mensch schon dem Außerräumlichen und Außer-zeitlichen an.

Diese Trinität, gewissermaßen die menschliche Hüllentrinität, wird vorgeführt in den drei Kabiren. Der vierte «wollte nicht kommen». Und der ist es, der für sie alle denkt! Steigen wir herauf von den drei Hüllen zum menschlichen Ich, so haben wir in diesem menschlichen Ich zunächst das, was über Raum und Zeit, selbst über das Zeitlose, Raumlose des Astralischen herausragt. Aber dieses Ich des Menschen

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kam ja erst zum Bewußtsein gerade in dem Zeitraume, der auf die samothrakische Kabirenverehrung folgte. Die Griechen hatten aus der uralt heiligen samotlirakischen Lehre allerdings ihren Glauben an das Unsterbliche; aber innerhalb des griechisch-lateinischen Zeitraumes sollte erst das Bewußtsein von dem Ich geboren werden. Daher wollte der vierte nicht kommen, der dasjenige repräsentiert, was als Ver­hältnis besteht zwischen dem Ich und dem Kosmos. Und wie ferne lag das dem Kabirengeheimnis, das zunächst hinweist auf das, was da war in dem Menschenwerden. Die drei höchsten, der fünfte, sechste und siebente, die sind noch «im Olymp zu erfragen»: Geist-selbst, Lebensgeist, Geistesmensch. Die kommen, wie wir wissen, im sechsten, siebenten Zeitraume und so weiter. Und an den achten hat überhaupt noch niemand gedacht!

Wir erblicken tatsächlich in der alten Form ausgesprochen das Menschheitsgeheimnis, wie es in Samothrake in denjenigen Mysterien verhüllt war, von denen die Griechen das Beste für ihr Seelenwissen, für ihre Seelenweisheit, ja auch das Beste für ihre Dichtung, insofern sich diese auf den Menschen bezog, genommen haben. Das ist das Wichtige, daß man erkennt: Sobald man den Blick zurückwendet in diese alten Zeiten, die Goethe also wiederum zu beleben versuchte, so schaut man hinein in ein Wissen vom Zusammenhang des Menschen mit dem Weltenall. Der Mensch fühlte sich verwandt mit allen Ge­heimnissen des Daseins. Der Mensch wußte: er ist nicht bloß ein­geschlossen in die Grenzen seiner Haut, er gehört dem ganzen, weiten Weltenall an. Und dasjenige, was in seiner Haut eingeschlossen ist, ist nur das Bild seines besonderen Wesens.

Man kann sagen: Ein Abglanz, ein letzter Nachhall dieser An­schauung über den Zusammenhang des Menschen mit dem Weltenall findet sich noch in solchen Schriften wie in Schillers «Briefen über ästhetische Erziehung», und findet sich als, ich möchte sagen, die durchdringende geistige Lebensluft in einer solchen Dichtung wie Goethes «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie». Da hat Goethe tatsächlich in seiner Art bildhaft darzustellen versucht, was den Menschen hineinstellt in die Menschengemeinschaft. Es sind dann zwanzig Seelenkräfte, die Goethe in Form der Märchenfiguren

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auftreten läßt. Aber indem Goethe diese zwanzig Seelenkräfte auf­treten läßt, zeigt er, wie diese Seelenkräfte von einem Menschen zum andern im sozialen Leben hinüberführen. Goethe hat in diesem Mär­chen Imaginationen geschaffen von dem Gang der sozialen Ent­wickelung durch die Menschheit hindurch. Diese Imaginationen, so wie sie Goethe geschaffen hat, wie er nebeneinandergestellt hat den König der Weisheit, den König des Scheines, den König der Gewalt, und wie er zerfallen läßt in sich selber den König, der alle drei - Weis­heit, Schein und Gewalt - chaotisch miteinander verbindet, diese Art, wie er das darstellt, die zeigt in seiner Art, was heute ganz intensiv und von andern Gesichtspunkten aus bewußt erfaßt werden muß.

Man kann aber heute beim Goetheschen Märchen nicht stehen­bleiben. Derjenige, der heute beim Goetheschen Märchen und seiner Darstellung stehenbleiben will, spielt eigentlich bloß. Sie wissen ja, dasselbe Thema, dieselben Impulse, die Goethe im Märchen darstellte, sind dargestellt in meinem ersten Mysterium «Die Pforte der Ein­weihung». Aber sie sind dargestellt mit dem Bewußtsein, daß in der Mitte des 19. Jahrhunderts etwas gekommen ist, was notwendig macht, daß aus ganz andern, eindringlicheren Impulsen heraus solche Dinge heute dargestellt werden. Ich habe gestern aufmerksam darauf ge­macht, wie der Übergang sein muß von dem Hinblicken auf das frühere Zeitalter zu dem Zeitalter, an dessen Ausgang wir stehen. Das aber, was wir uns wieder erringen müssen, was in alten Zeiten vor­handen war wie der letzte Nachklang des atavistischen Hellsehens über diese Dinge, das ist das Bewußtsein von dem Zusammenhange des Menschen mit dem ganzen Weltenall, das Bewußtsein von jenem Geheimnis, das Sie in meinem zweiten Mysterium im Anfange aus­gedrückt finden, wo dargestellt wird durch Capesius, wie aller Götter Wirken zuletzt darauf hinausläuft, den Menschen darzustellen. Warum ist ein Bewußtsein von dieser kosmischen Bedeutung des Menschen, von diesem Hineingestelltsein des Menschen in den ganzen Kosmos für unsere Zeit so ganz besonders wichtig? Gerade deshalb, weil wir davorstehen, das Alleralltäglichste, das unmittelbar äußere Leben geistig erfassen zu müssen. Und dieses äußere soziale Leben, man kann es nicht erfassen, wenn man nicht zugrunde legen kann eine wirkliche

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Anschauung von dem Wesen des Menschen. In dem Augenblicke, wo man beginnt, so wie es heute manche Volkswirtschaftslehter tun und wie es sogar im Trivialbewußtsein der meisten Menschen lebt, in dem Augenblicke, wo man beginnt, den Menschen selber in die soziale Struktur in seiner Gänze hineinzustellen, muß man mit Bezug auf die soziale Frage scheitern, weil der Mensch mit seinem Wesen herausragt aus dem, was die soziale Frage eigentlich darstellt.

Ich habe Ihnen gestern gesagt: Drei Glieder hat man zu unter­scheiden in der menschlichen Natur. Wie man sie benennt, ist eine Sache für sich. Wir nennen sie heute den Nerven- und Sinnesmenschen, den Menschen des Rhythmus, den Menschen des Stoffwechsels. Dreier­lei haben wir zu unterscheiden in bezug auf eine wirklich organisch geordnete, soziale Struktur: das Geistige, das rein regulierende Staat­liche, das Wirtschaftlich-Ökonomische. Der Mensch berührt sich mit diesem sozialen Leben, der Mensch steht drinnen. Aber er steht ge­wissermaßen schon in seiner Dreigliederung umgekehrt da, als die Dreigliederung des sozialen Organismus ist. Beachten Sie das: Es ist immer notwendig, darauf hinzuweisen, daß man ja nicht konstruiere, nicht Analogien sucht, nicht in abstrakten Begriffen solche Dinge aus-deutet, sondern wirkliche geistige Forschung treibt. So kommt auch derjenige zu nichts, der den Winter der Erde etwa vergleicht mit der Nacht oder mit dem Schlaf, und den Sommer mit dem Wachen, wäh­rend für die Erde der Sommer gerade das Schlafen darstellt, und der Winter das Wachen. Nichts erreicht derjenige, der sich die Entwicke­lung der Menschheit in Analogie denkt mit der Entwickelung des Einzelmenschen. Während der Einzeimensch von der Kindheit bis zum Greisenalter vorschreitet, schreitet die Menschheit zurück vom Greisenalter in die Kindheit. Wirkliche Forschung zeigt eben etwas ganz anderes als das, was die Menschen phantastisch aussinnen. Nur ja keine Analogien spinnen, sondern die Dinge ansehen, wie sie sind! Wenn wir den dreigliedrigen Menschen ins Auge fassen, so haben wir zunächst das Geistige des Menschen in der Sinnes-Nervensphäre. Dann haben wir das Mittlere in der rhythmischen Sphäre, das Untere in dem Stoffwechsel. Sie können das Genauere nachlesen in meinem Buche «Von Seelenrätseln». Aber ich habe aufmerksam darauf gemacht:

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Im Stoffwechsel ist eigentlich der Abdruck des Höchsten, des Geistigen. Der Stoffwechsel entspricht daher, wenn wir das Geistige sehen, der Intuition, das Rhythmische entspricht der Inspiration, und das Nerven-Sinnesleben entspricht der Imagination. Der Mensch ist ein dreigliedriges Wesen. Aber auch der richtige soziale Organismus, dem die gegenwärtige Menschheit im fünften nachatlantischen Zeit-raum zustrebt, ist dreigliedrig. Nur haben wir da, indem wir diese Dreigliederung beobachten, das Folgende nicht außer acht zu lassen.

Wo liegt eigentlich dasjenige beim Menschen, worauf es im mensch­lichen Organismus abgesehen ist - nicht im ganzen Menschen, sondern im menschlichen Organismus? Ja, hierüber hat die Welt nun einmal eine ganz vertrackte Ansicht, und die wirkliche Ansicht, die wahre An­sicht, die kommt den Menschen vertrackt vor. Der heutige wasch­echte Physiologe, der denkt sich, wie ich schon gestern sagte: Die Menschen essen, stopfen so die Nahrungsmittel in sich hinein; dann wählt sich der Organismus aus diesen Nahrungsmitteln das aus, was er braucht, das andere stößt er aus. Das verwandelt er in sich selber, und so geht es, nicht wahr, Tag für Tag. Nun, ich habe Ihnen gestern gesagt, daß dieser Stoffwechsel so überhaupt nur den tagtäglichen Stoffwechsel bedeutet, und daß von diesem Stoffwechsel gar nicht unmittelbar der andere Stoffwechsel abhängt, der den Menschen hin-überführt von den ersten Zähnen zu den bleibenden Zähnen, dann wieder über die Geschlechtsreife und so weiter. Dieser Stoffwechsel, der sich ausdehnt über die großen Zeiträume zwischen Geburt und Tod, der hängt nicht mit dem zugleich zusammen, mit dem Hinein-stopfen und Umwandeln von Nahrungsmitteln und so weiter, sondern dem liegen andere Gesetze und andere Substanaverarbeitungen zu­grunde. Darauf habe ich ja schon gestern hingewiesen. Was bedeutet denn aber überhaupt diese tägliche Nahrung, die wir in uns aufnehmen? Da kommenwir auf ein Kapitel, wo man nunwiederum in den heftigsten Widerstreit kommen muß mit der gewöhnlichen heutigen Wissenschaft.

Bitte, ich will Sie jetzt nicht zum Nichtessen veranlassen, bitte nur ja keine vertrackten, unsinnigen Schlüsse aus den Dingen zu ziehen, die um des Wissens, um der Erkenntnis Willen gesagt werden, nicht daß jemand allerlei Tollheiten daraus als Konsequenzen zieht! Aber

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warum essen wir denn eigentlich? Essen wir, damit wir das, was außer uns ist, in uns haben? Nein, sondern wir essen, damit die verschie­denen Stoffe, die in uns gelangen, besondere Kraftäußerungen voll­ziehen, und gegen diese Kraftäußerungen wehrt sich unser Organis­mus, und zu diesem Wehren müssen wir den Anstoß haben durch das Essen. Sie können sich bildlich vorstellen: Indem Sie die Nahrungs­mittel in sich aufnehmen, verursachen diese Nahrungsmittel in Ihnen kleine Explosionen; diese Explosionen brauchen Sie, weil Sie sie wiederum zerstören müssen, wiederum ablähmen, vernichten müs­sen, und in diesem Vernichten entwickelt sich eigentlich Ihre innere Kraft. Der Mensch braucht Anstoß, Anregung, und im wesentlichen ist das, was uns die Nahrung ist, Anregung. Denn dasjenige, was wir als Mensch sind, das bekommen wir in der Tat auf geheimnis­volle Weise ganz woanders her.

Sie erinnern sich, ich sagte schon öfter: Der Kopf ist eigentlich hohl. Dadurch kann er aus dem Weltenall dasjenige aufnehmen, was im Menschen produktiv ist. Und diese Produktion, die wird gewisser­maßen aus dem Kopf nur herausgelockt. So kommt der Kopf wieder­um zu seinem Rechte. Der Kopf ist ja eigentlich in vieler Beziehung der unwichtigste Teil; er ist das letzte Überbleibsel aus der vorher­gehenden Inkarnation. Er ist dasjenige, was zum Beispiel ohne die rhythmische Tätigkeit nicht denken könnte. Man glaubt immer, der Kopf denke. Er denkt in Wirklichkeit nicht, sondern er reflektiert nur die Gedanken. Aber dadurch kommt er wieder zu seinen Ehren, daß er das eigentlich Produktive ist. Und der Mensch ist daraufangewiesen, um diese Produktion zu entfalten, daß außer dem Rhythmus in ihm auch noch der Stoffwechsel herrscht, der der fortwährende Anreger ist. Der Stoffwechsel ist also der fortwährende Anreger, durch den kommt der Mensch mit der Außenwelt in Beziehung.

Wie ist es nun heim sozialen Organismus? Da ist es nämlich in Wahrheit umgekehrt. Was beim Menschen innerlich ist, was der Mensch innerlich in sich trägt, durch das er seinen Hohlkopf hat, was da der Anregung von außen bedarf durch den Stoffwechsel, das ist für den sozialen Organismus so die Grundlage, wie für uns die Nahrungs­mittel. Was für uns das ist, was wir essen, das ist für den sozialen Organismus

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das, was die Menschen aus ihrem Nerven- und Sinnesleben hervorbringen. Also der Staat, oder besser gesagt, der soziale Orga­nismus, ist ein organisches Wesen, welches, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf, dasjenige ißt, was die Menschen ausdenken, was die Menschen erfinden, was aus der menschlichen Geistigkeit kommt.

Nehmen Sie die eigentliche Grundkraft, die eigentliche Grund­eigenschaft aus der menschlichen Geistigkeit hinweg, nämlich die Freiheit, die individuelle Freiheit, so ist das genau so, wie wenn Sie den Menschen heranwachsen lassen wollten, ohne ihm zu essen zu geben. Die freien, individuellen Menschen, die sich in eine soziale Zwangsstruktur hineinstellen und ihre freie Geistigkeit steril machen, lassen ebenso die soziale Struktur absterben, wie ein Mensch ab­sterben muß, dem Sie keine Nahrungsmittel geben. Das, was die menschlichen Köpfe in die Welt hereinbringen, das sind die Nahrungs­mittel für den sozialen Organismus.

So daß man sagen kann: Das Produktive aus Nerven- und Sinnes-sphäre ist die Nahrung für den sozialen Organismus. - Das, was beim Menschen das rhythmische System ist, dem entspricht allerdings im sozialen Organismus alles dasjenige, was eigentlich dem Staate über­tragen werden soll, wie ich schon gestern sagte: alles, was sich auf Regulierung, auf die äußere Gesetzlichkeit, also staatliche Gesetz­mäßigkeit bezieht. Und was ist nun im Staat das Produktive? Das­jenige, was aus der Naturgrundlage im weiteren Sinne herauskommt, das Wirtschaftsleben. Das ist gewissermaßen der Kopf des Staates. Das Wirtschaftsleben, die Naturgrundlage, alles das, was produziert wird, das ist gewissermaßen der Kop£ Es ist umgekehrt wie beim individuellen Menschen. So daß wir ebensogut sagen können: Wie der Mensch produktiv ist durch seine Nerven und Sinne, so ist der soziale Organismus durch seine Naturgrundlage produktiv. Und wie der Mensch seinen Stoffwechsel von der Natur erhält, so erhält der so­ziale Organismus seine Nahrung aus dem Menschenkopf heraus.

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Produktiv

Imagination Sinnes-Nervensphäre Nahrung für den sozialen

Organismus

Inspiration Rhythmische Sphäre Staatliche Gesetz­

mäßigkeit

Intuition Stoffwechsel Naturgrundiage

Anreger

Den sozialen Organismus verstehen Sie im Verhältnis zum Men­schen nur richtig, wenn Sie den Menschen auf den Kopf stellen. Hier im Menschenkopf ist eigentlich der Grund und Boden des Menschen. Der Mensch wächst von oben nach unten, der staatliche Organismus wächst von unten nach oben. Er hat seinen Kopf, wenn man ihn schon mit dem Menschen vergleichen will, unten und steht auf dem Kopf und hat seine Beine oben. Seine Nahrung bekommt er aus dem einzelnen individuellen Menschen. So muß man innerlich das, was sozialer Organismus ist, verstehen. Analogiespiel macht nichts aus; aber der Hinblick auf die wahre Wirklichkeit, auf die echte Realität, das ist es, worauf es ankommt.

Nicht wahr, wir haben im Laufe des 19.Jahrhunderts, gerade indem dieser wichtige Einschnitt in der Mitte des 19. Jahrhunderts sich gel­tend machte, die eigentliche Neigung zum Materialismus, die Abkehr vom Geistigen zu verzeichnen. Es war die Hochflut des Materialismus. Was ist da eigentlich geschehen mit Bezug auf die menschliche Welt-auffassung? Ja, mit Bezug auf die menschliche Weltauffas sung ist das geschehen, daß die Menschen den Geist des Übersinnlichen verloren haben. Sie haben das verloren, was gerade durch ihren Hohlkopf an Produktion geleistet werden sollte; was in den Hohlkopf hinein­kommen soll, das haben die Menschen verloren. Sie wollen sich nur überlassen mit Bezug auf alle Erfindungen und Entdeckungen auf den Zufall des Experimentierens. So stolz, so hochmütig man auf die Errungenschaften aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist, studieren Sie die Geistesgeschichte: Sie werden sehen, wie selbst die größten dieser Errungenschaften nicht auf der unmittelbaren Initiative des Kopfes, sondern auf Konstellationen beruhen, die eingetreten sind

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im Verlaufe des Experimentierens. Man hat den Gott, man hat den Geist verloren, indem man mit dem Kopf nicht mehr entgegenstrebte dem Geist.

Was wäre denn im sozialen Organismus das Gegenbild? Da würde man die Naturgrundlagen verlieren, da würde man gerade herum-streiten, ohne auf die Naturgrundlage Rücksicht zu nehmen. Das ist in der Tat der Charakter des sozialen Debattierens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bis heute, heute am heftigsten. Denn heute reden die Leute über soziale Einrichtungen, über Sozialisierung der menschlichen Wirtschaft und dergleichen: Gerade so lassen sie weg bei diesem Debattieren die eigentliche Naturgrundlage, die Art und Weise, wie produziert werden soll, wie die Materialisten weglassen dasjenige, was der Kopf in dem Menschen machen soll. Verliert die materialistische Zeit den Geist aus der Weltanschauung, so verliert der entsprechende soziale Organismus die eigentliche Materie aus der Wirtschaft, aus dem sozialen Zusammenhang heraus. Und im sozialen Werden besteht die große Gefahr, die dem Verlust des Geistes in der materialistischen Weltanschauung entspricht: der Verlust einer die Menschheit möglichst befriedigenden Produktion, einer möglichsten Einsicht in das Produktive.

Nun, zu dem Verständnis der sozialen Struktur kann man nicht kommen, wenn man nicht sich schult an der Dreigliederung des Menschen und dadurch lernt, wie man das Verhältnis der Menschen-wissenschaft zur Sozialwissenschaft gestalten muß. Sonst bewertet man nämlich alles falsch. Unsere gelehrten Nationalökonomen, durch die so viel Elend in die Welt gekommen ist, weil die andern auch so denken, weil sie ja nur die Experimente gelten lassen, unsere gelehrten Nationalökonomen wissen ja in der Tat gar nichts über dieses Ver­hältnis des Menschen zur sozialen Struktur. Denn das kann nur durch Geisteswissenschaft gewonnen werden. Allen Ernstes streiten sich unsere nationalökonomischen Gelehrten, unsere Volkswirtschafts­lehrer, ob ein Ferkel oder ein Mensch ein größerer volkswirtschaft­licher Wert ist. Nicht wahr, für beides läßt sich sehr viel vom Stand­punkte derjenigen Argumente, die die Leute gerade haben, vor­bringen. Die einen behaupten, ein Ferkel wäre wertvoller in der Volkswirtschaft

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als ein Mensch, denn das Ferkel stellt eben etwas dar, was man essen kann, also etwas, was zum Konsum geeignet ist, was einen volkswirtschaftlichen Wert hat. Einen Menschen kann man nicht essen, er ißt selber sogar die Dinge weg, er stellt für manche Leute keinen volkswirtschaftlichen Wert vor. Manche denken aber wiederum anders, die sagen: Nun ja, aber der Mensch produziert volkswirt­schaftliche Werte, und diese werden dann da sein! Er verhilft also indirekt so und so viel Ferkeln zu ihrem Dasein und so weiter. Nun, wie gesagt, über solche Dinge wird gestritten! Es ist in der Tat dies eine Frage, die erörtert wird unter den Volkswirtschaftslehrern, ob ein Ferkel oder ein Mensch den größeren volkswirtschaftlichen Wert darstelle.

Nun, das ist nur ein groteskes Beispiel. Aber an solchen grotesken Dingen hängt tatsächlich für den tiefer Einsichtigen das, was lebt in unserer katastrophalen Gegenwart. Denn man kann schon sagen:

Das Wissen, das ausreicht, um in der Naturwissenschaft grandios weiterzukommen, das Wissen, das großartige naturwissenschaftliche Ergebnisse liefert, das wunderbar in die Möglichkeit versetzt, den Embryo des Ferkels zu vergleichen mit dem Embryo des Hundes, mit dem Embryo des Menschen, mit dem Embryo der Fledermaus und so weiter, und daraus schematisch dasjenige Denken zu bilden, welches ausreicht, um allerlei Physiologisches, Biologisches, Mineralogisches, Geologisches im Sinne der heutigen Zeit zu produzieren, dieses Den­ken, diese Art, Gedanken zu verbinden, reicht nicht aus, um volks­wirtschaftlich zu unterscheiden, was wichtiger ist, ein Schwein oder ein Mensch. Und bevor man dies nicht einsieht, daß man ein großer Naturforscher sein kann, ohne volkswirtschaftlich unterscheiden zu können zwischen einem Schwein und einem Menschen, so lange gibt es kein Heil in bezug auf die Erkenntnis der sozialen Frage. Dies muß rücksichtslos eingestanden werden von den Menschen, daß das­jenige, was heute die Größe des Denkens ausmacht auf dem natur-wissenschaftlichen Gebiet, nicht unterscheiden läßt den volkswirt­schaftlichen Wert eines Ferkels von dem sogenannten volkswirt­schaftlichen Wert des Menschen. Davon wollen wir dann morgen weiter sprechen.

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NEUNTER VORTRAG Dornach, 26. Januar 1919

Öfter habe ich Gelegenheit genommen, bei diesen Betrachtungen dar. auf aufmerksam zu machen, wie gerade mit Bezug auf die wichtigsten Lebensfragen der Mensch der Gegenwart lernen kann von den ein­schneidenden, tiefgehenden, ja sintflutartigen Ereignissen unserer Gegenwart; wie allerdings dieses Lernen von den Ereignissen von den wenigsten Menschen der Gegenwart eigentlich schon als Methode gepflegt wird. Man meint meistens, man lerne dadurch von den Er­eignissen, daß man die Ereignisse beurteilt und dann das Urteil, das man gefällt hat über die Ereignisse, als Erfahrung betrachtet. Das kann für den Menschen sehr befriedigend sein. Aber für dasjenige, was der Gegenwart so not tut, für soziales Wissen, ist es nicht nur ganz ungenügend, sondern auch ganz ungeeignet. Da handelt es sich darum, daß man nicht sein Urteil über die Ereignisse ausgießt, sondern wirklich von den Ereignissen lernt, die Ereignisse selber urteilen läßt. Und dieses werden Sie in den mannigfaltigsten Betrachtungen, die hier angestellt werden, gerade als die Methoden der Geisteswissen­schaft empfinden, wenn diese Geisteswissenschaft angewendet wird auf äußeres physisches Geschehen, also zum Beispiel auf soziales Ge­schehen. Und da glaube ich, daß man insbesondere von einer ganz außerordentlich bedeutsamen Erscheinung der neueren Zeit mit Be­zug auf das soziale Leben lernen kann. Angedeutet habe ich die Sache schon, ich möchte aber an die Spitze unserer heutigen Betrachtungen noch einmal das entsprechende Aperçu setzen.

Wenn man heute sich zu verständigen versucht über die soziale Frage mit einem Mitgliede der arbeitenden Menschenbevölkerung, auf die es in allen Dingen in den heutigen Angelegenheiten ankommt, und die auf der andern Seite vorzugsweise den inneren Impuls für ihre Anschauung bekommen hat aus dem Marxismus heraus, danri erfährt man immer, daß eine solche Persönlichkeit sehr wenig zu­nächst hält, in bezug auf soziale Arbeit und soziales Denken, von dem sogenannten guten Willen oder von den ethischen Grundsätzen. Sie

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werden immer wieder finden, daß eine solche Persönlichkeit sich in der folgenden Weise verhält. Nehmen wir an, Sie sagten, Sie sähen die Grundlage einer Lösung der sozialen Frage darinnen, daß vor allen Dingen die Menschen, die gewisse Führerstellungen haben, namentlich die Menschen der sogenannten Unternehmerklasse, soziale Empfindung bekommen, daß sie Empfindung dafür bekommen, wie ein menschenwürdiges Dasein für alle Menschen unbedingt geschaf­fen werden müsse. Von einem Heben des moralischen Empfindungs-niveaus der bürgerlichen Menschenklassen, nehmen wir an, wollten Sie zu einer solchen Persönlichkeit der breiten Masse der Arbeiter-bevölkerung sprechen. So wie die Dinge heute liegen, wird zunächst dieses Mitglied der breiten Masse der Arbeiterbevölkerung, wenn Sie solch eine Ansicht kundgeben, lächeln. Es wird sagen, Sie seien naiv, daran zu glauben, daß man durch Gefühle oder Gefühlsbetätigung die soziale Frage in irgendeiner Weise heute lösen könne. Auf all das, was aus dem Gefühle der führenden Unternehmermenschenklasse fließt, wird solch ein Mitglied der breiten Masse der Arbeiterbevölke­rung sagen, kommt es gar nicht an. Denn diese Unternehmermen­schenklasse mag sich einbilden was sie will mit Bezug auf ihre ethi­schen und moralischen Gefühle, so wie die Welt einmal heute ein­gerichtet ist, indem sie zerfällt in eine Unternehmerklasse und eine Arbeiterklasse, so muß der Unternehmer, er mag ein noch so guter Mensch sein, ausbeuten. Und von einer Hebung des sozialen Sinnes will der Mensch der Arbeiterbevölkerung nichts wissen, weil er sagt:

Das hilft alles nichts, alles hängt davon ab, daß sich die Arbeiterklasse ihrer Klassenverhältnisse bewußt werde, daß diese arbeitende Be­völkerung selber von ihren Verhältnissen aus eine solche Umformung der sozialen Lage herbeiführe, daß die allgemeine Verelendung auf-höre beziehungsweise gemildert werde. Nicht auf eine Hebung des moralischen Empfindens kommt es an, sondern darauf, daß durch diejenige Menschenklasse, die vor allen Dingen durch die gegen­wärtige wirtschaftliche Kapitalwirtschafts ordnung gedrückt wird, daß durch diese gedrückte, elende Menschenklasse im Kampfe eine andere, nichtkapitalistische Wirtschaftsordnung herbeigeführt werde, eine Veränderung der Zustände, Veränderung der Wirtschaftsordnung.

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Das heißt mit andern Worten, gar kein Vertrauen haben zu der Kraft des Gedankens, gar kein Vertrauen haben dazu, daß man durch ein richtiges Erfassen, durch eine richtige Auffassung des Lebens irgend etwas in der sozialen Lage des Lebens bessern könne. Man hat es neulich einmal als eine Wahrheit empfunden, als in einem Witz­blatte die Abbildung eines Menschen erschien, welcher einen ziem­lich langen Körper hatte und winzig kleine Beine; er war abgebildet als der einzige, der in Deutschland noch nicht regiere, denn alle andern regieren schon in irgendeinem Rat mit, der aber mit seinen kurzen Beinchen ist immer zurückgeblieben, und so war er der einzige Mensch, der in Deutschland noch nicht einem Rat angehört und nicht regiert. - Das kann man schon als eine Art von Wahrheit empfin­den. Man könnte sich ganz gut vorstellen, daß zum Beispiel heute, sagen wir in einem der vielen Räte, die in den Mittelländern gebildet werden, folgendes passiere. Man kann sich vorstellen, daß wenn man in einem solchen Zirkel heute von dem spräche, was man aus der Ein­sicht in die Menschheitsentwickelung und dem Menschheitsbedürf­nisse heraus als das Richtige ansehen muß, einem die Menschen, die da zuhören, sagten, wenn sie der arbeitenden Bevölkerung angehören:

Was willst du uns denn da überhaupt erzählen? Du gehörst der Bour­geoisie an! Dadurch, daß du der Bourgeoisie angehörst, denkst du von vornherein so, daß dein Denken im Sinne der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung ist. Viel nützlicher für die Hebung der sozialen Lage ist es, wenn wir dich unschädlich machen auf irgendeine Art und du überhaupt nichts mehr zu sagen hast, als daß wir von dir irgend etwas hören sollen, was nützlich wäre für die Fortentwickelung der sozialen Lage.

Die Dinge sind eben schon durchaus auf die Spitze getrieben. Und weil die Dinge auf die Spitze getrieben sind, ist es notwendig, daß man sich auch die Möglichkeit erwirbt, klar zu sehen. Nun natürlich, klar sehen wollen ja heute die meisten Menschen nicht, am wenigsten diejenigen, die in Kongreßräten gewöhnlich zusammenkommen, denn die wollen nach ganz andern Dingen urteilen als nach Klarheit. Aber das, was auch jeder Proletarier heute, jeder Angehörige der breiten Masse der Arbeiterbevölkerung, wenn man ihn im richtigen Momente

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erfaßt - und darauf kommt es an, denn es kommt heute wirklich an auf die Erfassung des richtigen Momentes -, einsehen müßte, das ist, daß er jede Möglichkeit, durch den Gedanken eine soziale Besserung in der Entwickelung der Menschheit herbeizuführen, ableugnet. Nun kann man ihn fragen, wodurch er zu dieser Anschauung gekommen ist, wodurch er dazugekommen ist, daß nur durch die Änderung der Zustände eine Verbesserung der sozialen Lage herbeigeführt werden könne. - Da gibt es nur eine von den Tatsachen abzulesende Antwort. Die ganze ungeheure Wucht - und sie ist eine ungeheure Wucht -der modernen sozialen arbeitermäßigen Bewegung ruht auf dem Ge­danken von Karl Marx und seinen Anhängern. Es ist allerdings ein durchgreifender Gedanke. Der Gedanke, daß der Gedanke nichts wert ist, das ist ja marxistische Theorie. Aber ein Gedanke ist es, der eigentlich die gegenwärtige sozialistische Empfindungsweise hervor­gerufen hat. Diese sozialistische Empfindungsweise, die gar nichts von der Impulsivität des Gedankens wissen will, ruht auf der Im­pulsivität von Gedanken.

Ich habe einmal in einem Vortrage, der vor Proletariern gesprochen worden ist, gesagt: Derjenige, der sich in der Weltgeschichte umsieht und nach den wirklichen Kräften forscht, die in der Menschheitsent­wickelung tätig sind, der findet, daß noch niemals, außer in einem einzigen Falle, ein wirklich wissenschaftlicher Impuls zu einem welt-geschichtlichen Impuls geworden ist. Forschen Sie überall, und for­schen Sie nach den wirklichen Impulsen: Wissenschaftliche Impulse waren es nie, außer in einem einzigen Falle, wo durch Marxismus die proletarische Bewegung erneuert worden ist. Lassalle hat das richtig empfunden, als er seine große, eindringliche Rede über die Wissen­schaft und die Arbeiter gehalten hat. Denn die einzige wirklich wis­senschaftliche Bewegung als politische, soziale Bewegung, ist die moderne Arbeiterbewegung. Sie ist daher behaftet mit allen Fehlern, mit allen Aussichtslosigkeiten gerade der neuzeitlichen Wissenschaft, weil sie aus der neuzeitlichen Wissenschaft entsprungen ist. Aber sie geht ganz aus dem Gedanken hervor.

Denken Sie sich diesen kolossalen Widerspruch, der so herein-gestellt worden ist in das moderne Leben! Der Gedanke, daß der

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Gedanke nichts wert sei, der hat als Gedanke am allermeisten gewirkt in den letzten sechzig bis siebzig Jahren. Das kann man lernen von dem Verlaufe der letzten sechzig bis siebzig Jahre. Und das ist eine eindringliche Lehre, eindringlich deswegen, weil man sieht, daß es bei der Wirkung der Gedanken auf etwas ganz anderes ankommt als auf den Inhalt des Gedankens. Nicht wahr, ein Gedanke, der Gedanke von Karl Marx war ganz besonders wirksam. Aber wenn wir ihn sei­nem Inhalte nach prüfen, so ist es der, daß der Gedankeninhalt keine Bedeutung hat, sondern nur die wirtschaftlichen Zustände. Es ist etwas Ungeheures, wenn man Begabung hat, sich in diesen Gedanken-widerspruch zu vertiefen, in diesen lebendigen Gedankenwiderspruch der neueren Zeit, für das Verständnis der Gegenwart.

Und doch ist es das, was gerade in der Gegenwart so notwendig ist, in sich aufzunehmen, daß der Inhalt von Theorien, der Inhalt von Programmen eigentlich gar keine Bedeutung hat, daß die Wirksam­keit des Gedankens auf etwas wesentlich anderem beruht: auf dem Verhältnis des betreffenden Gedankens zu der Verfassung der Men­schen, die diesen Gedanken bekommen. Hätte Karl Marx seinen Ge­danken, wie er ihn vom Jahre 1848 an, vom « Kommunistischen Ma­nifest» an ausgesprochen, dann durchgeführt hat in seinem System der politischen Ökonomie und in seinem großen Werke «Das Kapi­tal», nicht vom Jahre 1848 bis in die siebziger Jahre hinein ausgeführt, sondern vielleicht, sagen wir, im Jahre 1800 oder 1796, so wäre dieser Gedanke ganz unwirksam geblieben; niemand hätte sich für diesen Gedanken interessiert. Da haben Sie einen Schlüssel für eine wichtige Sache. Denken Sie sich die Werke von Karl Marx meinetwillen nur fünfzig Jahre früher in die Welt gesetzt, sie wären Makulatur ge­worden! Vom Jahre 1848 an, wo der allgemeine Lebensstand des Proletariats ein bestimmter geworden war, da sind diese Werke nicht Makulatur geworden, sondern da sind sie internationaler Impuls ge­worden, so daß sie nun fortleben im russischen Bolschewismus, fort­leben in dem ganzen mitteleuropäischen Chaos, das schon da ist und noch immer größer werden wird, das die ganze Erde ergreifen wird.

Solches wird Sie aufmerksam darauf machen, daß auf diese fünfzig Jahre des Früher- oder Später-Sagens einer Sache viel mehr ankommt

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als auf den Inhalt. Ein Inhalt hat nur eine Bedeutung als Inhalt in einer gewissen Zeit. Daher ist es auch nicht von mir irgendeine Lieb­haberei, wenn ich auch zum Beispiel für anthroposophische Geistes­wissenschaft sage: Jetzt muß sie gesagt werden, jetzt muß sie in die Herzen der Menschen hineinkommen, denn jetzt ist der Zeitpunkt, wo sie die Menschen aufnehmen sollen. - Hier handelt es sich um etwas anderes. Beim Marxismus war es etwas, was von selbst gezündet hat; bei der Geisteswissenschaft ist es etwas, was durch Freiheit von den Menschen aufgenommen werden muß. Wenn man dieses auf der einen Seite versteht, daß das Verständnis der Menschen wirklich auch etwas ist, was der Entwickelung unterworfen ist, dann wird man auch manches andere leichter begreifen, was, man darf schon sagen, so notwendig wie nur möglich ist, zu begreifen, was die Menschen eigentlich durchaus nicht einsehen wollen. Man trifft in einer Be­ziehung heute Ungeheuerliches, wenn man auf die Gedanken der Menschen stößt, wie sie jetzt im sogenannten Geistesleben sind, das aber kein wirkliches Geistesleben ist. Wer diese Sache nachprüfen will, kann ja überall die Stichproben machen. Man schlage zum Bei­spiel ein Heft einer in der Schweiz hier erscheinenden Zeitschrift auf, wo ein in dieser Zeitschrift oftmals auftretender Schriftsteller sich wieder einmal über eine bestimmte Zeitfrage ausläßt. Er kommt in diesem Aufsatz, wo er sich so ausläßt, darauf zu sprechen, was er eigentlich unter dem Volke versteht. Er redet von der Schuld der ver­schiedenen Persönlichkeiten am Kriege; er spricht davon, was ja auf der einen Seite viel Richtiges hat, wie führende Persönlichkeiten inner­halb der mitteleuropäischen Bevölkerung anzuklagen sind - daß man den Schuldbegriff nicht anwenden kann, das habe ich ja hier schon ausgeführt -; dann aber findet er es nötig zu sagen, was seiner Mei­nung nach eigentlich das Volk ist. Nun sehen wir, wie dieser Herr das Volk gewissermaßen definiert: Er rechnet zu diesem Volke neun Zehntel der Menschheit eines Gebietes, das zum Beispiel Deutsch-land, Österreich, England, Frankreich und so weiter umfaßt. Und von diesem Volke sagt er, es sei die Gesamtheit der ungebildeten, un­freien, in weitestem Sinne von Führern abhängigen, eben führer-bedürftigen Persönlichkeiten.

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Dieser Mann definiert also das Volk als die ungebildeten, unselb­ständigen, abhängigen, in weitestem Sinne führerbedürftigen Men­schen. Nun, wenn man die meisten heutigen Persönlichkeiten, die der bürgerlichen oder einer noch höheren Menschenklasse angehören, auf Herz und Nieren, wie man sagt, prüfen würde, so würden sie wahr­scheinlich auch, wenn sie sich aussprechen sollten, was sie unter dem Volke verstehen, ungefähr dasselbe antworten: Es ist die breite, un­gebildete, unselbständige, abhängige, führerbedürftige Menschheit, neun Zehntel der Gesamtmenschheit. Nur ein Zehntel, müßte man demnach sagen, ist gebildet, ist selbständig, ist unabhängig, bedarf keines Führers. Dazu rechnen sich gewöhnlich diejenigen, die sich ein Urteil zutrauen über das, was eigentlich Volk ist.

Gegenüber solchen Begriffen, die im eminentesten Sinne wichtig sind, wenn man sich ein soziales Urteil bilden will, ist es vor allen Dingen notwendig, sich in gültiger Weise die Frage vorzulegen, ob das ein wirklichkeitsgemäßer Begriff im weitesten Sinne des Wortes ist: neun Zehntel der Bevölkerung als ungebildete, unselbständige, abhängige, führerbedürftige Menge anzusehen. Das ist eine Frage, die jeder sich vorlegen muß, der sich ein selbständiges soziales Urteil an­eignen will. Allerdings, wenn man sich über solche Fragen verständi­gen will, dann muß man schon die Intensität des Gedankens ein wenig sich heranbilden lassen durch das, was man an Hand der Geistes­wissenschaft für diese Intensität des Gedankens gewinnen kann. Denn alles übrige, was heute dem Denken Intensität gibt, reicht nicht hin, das sieht man ja an all der Gedankenlosigkeit, die heute die Menge beherrscht. Ich weiß nicht, kann man es Zufall nennen- in Wirklich­keit gibt es ja nicht einen Zufall -, ich habe in den letzten Monaten ein Sprichwort immer wieder und wiederum zitiert gefunden, wenn so die Verhältnisse in der Öffentlichkeit besprochen wurden, bald von dem, bald von jenem. Dieses Sprichwort war: Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber. - Die Leute finden es ganz selbst­verständlich, dieses Sprichwort anzuwenden. Jeder findet es selbst­verständlich, daß dieses Sprichwort einen Sinn hat. Ich finde nicht den geringsten Sinn dabei, denn ich glaube, daß das nicht die dümm­sten, sondern gerade die gescheitesten Kälber wären, denn dann würden

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sie sich diejenigen als ihre Metzger wählen, da sie ja doch schon sterben müssen, und für anderes kommen ja diese Kälber nicht in Betracht, die dieses Sterben am schmerziosesten bewirken; während diejenigen, die sich nichts wählen, wahrscheinlich am schlechtesten wegkommen werden. Da wäre gerade das Gegenteil richtig: Nur die gescheitesten Kälber wählen sich ihre Metzger selber. Aber geradeso wie diese Dinge gedankenlos hingenommen werden, so werden auch wichtige Urteile, die geändert werden müssen, hingenommen; denn der Mensch will sich gern beim Überblicken des Lebens eigentlich die Gedankenarbeit, die Gedankenbetätigung ersparen, er will diese Gedankenkraft nicht anwenden.

Schärfere Gedankentätigkeit, das ist es, was wir heute brauchen, um zu wirklichkeitsgemäßen Begriffen zu kommen. Mag bei dem so­genannten Fortgeschrittenen, wie man ihn im Sinne der heutigen Schulweisheit, der heutigen Aufklärung, des heutigen demokrati­schen Bewußtseins nennt, auch der Gedanke etwas noch so Ver­lockendes haben: die Ungebildeten, Unselbständigen, Abhängigen, Führerbedürftigen betragen neun Zehntel des gesamten Volkes - einen Wirklichkeitswert hat das nicht, und zwar aus folgendem Grunde.

Gehen wir aus von der historischen Tatsache, die sehr viel lehren kann in dieser Beziehung. Nicht wahr, das Christentum entstand in einer unbekannten Provinz des Römischen Reiches durch das Myste­rium von Golgatha. Innerhalb des damaligen Römischen Reiches, das ja auch das Griechentum schon in sich aufgenommen hatte, lebte eine Bevölkerung, die in ihrem Schoße wahrhaftig eine tiefe, eine be­deutungsvolle Weisheit trug. Die Kirche hat furchtbare Anstrengun­gen machen müssen, um die alte Gnosis - ich habe das hier einmal auseinandergesetzt - ihren Spuren nach zu verwischen. Aber diese Gnosis war da. Höchstes Wissen war da. In der Tat, innerhalb des Schoßes des Römischen Reiches war in der Zeit der Entstehung des Christentums höchste Weisheit schon vorhanden. Das ist gar nicht in irgendeiner Weise abzuleugnen. Aber es war unmöglich, daß diese höchste Weisheit den historisch starken Impuls des Christentums in sich aufgenommen hätte. Der starke Impuls des Christentums - ich habe neulich erst davon gesprochen - ist aufgenommen worden von

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den nördlichen Barbaren, die diese Weisheit der südländischen Be­völkerung nicht hatten. Erst als die nördlichen Barbaren entgegen-kamen der Welle des Christentums, lebte sich das Christentum so aus, wie es sich für den Rest der vierten nachatlantischen Zeit und auch noch für den Anfang der füriften nachatlantischen Zeit ausleben sollte. Erst heute ist ein anderes Verhältnis gekommen.

Dasjenige, was man dabei berücksichtigen muß, ist, daß nicht die für ein gewisses Zeitalter höchst entwickelte, abstrakt gewordene Geistigkeit den historischen Impuls in seiner größten Stärke auf­zunehmen vermag, sondern daß gerade die scheinbar zurückgeblie­bene, mehr mit der instinktiven menschlichen Natur zusammen­hängende Wesenheit des Menschen den Impuls in der stärksten Weise aufnehmen kann. Es wird nicht viel mehr gesagt mit dem Urteil, das ich gerade vorhin angegeben habe über die neun Zehntel der un­gebildeten, abhängigen, führerbedürftigen Menschheit, als daß sich diese Menschheit mit Bezug auf ihre Geistigkeit unterscheide von denjenigen, die sich als die führenden Menschen dünken. Aber diese sogenannten führenden Menschen, sie haben schon einen degenerier­ten Verstand, eine dekadente Intelligenz. In der neun Zehntel be­tragenden, sogenannten ungebildeten, abhängigen, führerbedürftigen Menschheit ist, wie man sagen könnte, eine Inteillgenz noch latent verborgen, die ungeheuer viel empfänglicher ist für den starken gei­stigen Impuls, der heute aufgenommen werden soll, der ungeheuer viel stärker ist als derjenige, der bei der sogenannten Intelligenz mit der dekadenten Intelligenz zu finden ist. Dasjenige, was heute den Träger der geistigen Impulse trennt von der empfänglichen breiten Masse, das ist nicht diese breite Masse selbst, das sind nicht die Seelen der breiten Masse der Menschheit, sondern das sind die Führer, das ist die Führerschaft. Und diese Führerschaft auch der sozialistische­sten Proletarier, diese Führerschaft, die ist selbst ganz mit dem deka­denten Verstande der Bourgeoisie getränkt, durchzogen. Das ist das­jenige, was vor allen Dingen notwendig ist: ein reinliches, sauberes Geständnis, daß für die wirklichen Impulse geistiger Entwickelung der Weg zu den sogenannten ungebildeten, abhängigen, führer-bedürftigen, unselbständigen Menschen wirklich zu finden ist,

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wenn man nur Einsicht hat in die eigentümliche Wirkung dieser In­telligenz.

Phantastischer als dasjenige Bürgertum, welches die Phantasie heute so sehr verpönt, war eigentlich noch keine Menschenklasse. Denn das Phantastischste ist die heutige Praxis. Alles das, was heute lebens-praktisch sein will, ist es eigentlich bloß dadurch, daß es sich sozu­sagen gesetzlich die Möglichkeit verschafft hat, sich durchzudrücken, sich durchzudrängen, während der andere, der sich nicht die Mög­lichkeit verschafft hat, sich durchaudrängen, an sich noch so geschickt, noch so praktisch sein mag, er drückt sich eben nicht durch. Man muß eine Empfindung haben dafür, daß wirklich heute in den breiten Mas­sen, die nicht geführt sind, sondern verführt durch ihre Führer, etwas nachgedrängt hat aus jener Zeit, die gewöhnlich in der Geschichte, wenn auch etwas unrichtig, als die Zeit der Völkerwanderung be­zeichnet wird. Damals kamen gewissermaßen barbarische Völker her-auf, die gerade dasjenige aufgenommen haben, was die entwickelten Völker nicht mehr aufnehmen konnten. Heute strebt nicht von irgend­einem Orte her, sondern von dem proletarischen Untergrunde der Menschheit strebt herauf eine Völkerwanderung. Das ist das Wich­tige. Aber dieser Völkerwanderung muß entgegengekommen wer­den. Setzen Sie eine Hypothese. Denken Sie einmal: All das, was ge­wöhnlich in den Geschichtsbüchern durch die Völkerwanderung ver­zeichnet wird, all diese Wanderungen der Goten, der Hunnen, der Vandalen, der Sueven und so weiter, später der Mongolen, die ge­wöhnlich als Völkerwanderung geschildert werden, die hätten sich vollzogen, aber indem sich diese Völkerwanderungen vollzogen hät­ten in der Richtung von Osten nach Südwesten, wäre ihnen nicht ent­gegengekommen die Welle des Christentums. Nehmen wir an, diese Welle des Christentums wäre weggeblieben; denken Sie sich, wie anders die Welt geworden wäre! Sie können sich überhaupt die ganze spätere Zeit nur dadurch vorstellen, daß diese barbarischen Stämme herübergezogen sind aus dem Osten nach dem Südwesten und ihnen die christliche Welle entgegengekommen ist.

Heute ist die Sache so, daß aus den Tiefen heraufkommt das pro­letarische Element. Und heute muß diesem proletarischen Element

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entgegenkommen von oben ein Geistiges, ein geisteswissenschaft­liches Ergreifen der sozialen Verhältnisse, der Weltanschauung über­haupt. Und derjenige, der nicht glauben will, daß es nötig ist, daß dieser Völkerwanderung, die heute nur nicht in waagrechter, sondern einfach in senkrechter Richtung vor sich geht, entgegenkommt eine neue geistige Offenbarung, der stehenbleiben will bei der alten, für die waagrechte Richtung geeigneten geistigen Offenbarung, kurz, wer stehenbleiben will bei der römischen Form der Christentumsverbrei­tung, wer nicht sich finden will durch die Sprache der Geisteswissen­schaft zu der Ergreifung der neuen Offenbarung des durch das Myste­rium von Golgatha gegangenen Christus, der versäumt das Aller­wichtigste, was für die Gegenwart notwendig ist, der versäumt so viel, wie in dem Beginne des Mittelalters versäumt worden wäre, wenn der barbarischen Welle, die vom Osten nach dem Südwesten sich wälzte, nicht die Welle der Christentumsverbreitung entgegen­gekommen wäre. Auch damals standen zwischen der Welle des Chri­stentums und der Welle der Barbaren alle diejenigen Menschen, die gerade die Gebildeten waren des Griechenreiches und des Römer-reiches. Heute stehen zwischen der Welle, die als geistige Welle nach unten entgegendringen soll der nach oben gehenden proletarischen Welle, ja alle diejenigen, die an den alten Begriffen festhalten wollen unter der Führung der sogenannten Intelligenz und namentlich der auf diesem Gebiete ganz unfruchtbaren Wissenschaft. Das aber, wozu man es bringen muß, das ist vor allen Dingen Vorurteilslosigkeit für solche Begriffe, wie wir sie gestern und vorgestern hier entwickelt haben, welche einem die Möglichkeit geben, ein soziales Urteil zu bilden. Ein soziales Urteil bekommt man nicht, wenn man nicht den sozialen Organismus versteht. Wissen Sie, was das ist, das heraus­kommt, wenn heute so ein richtiger Durchschnittsprofessor der Volks­wirtschaftslehre, dem dann die andern folgen, oder so ein richtiger politischer Führer über Volks- und soziale Zusammenhänge und so weiter spricht, wissen Sie, was da herauskommt in bezug auf den sozialen Organismus? Der soziale Homunkulus! Das ist dasjenige, was man endlich einsehen sollte, daß alle die Leute, die versucht haben, den sozialen Organismus ohne die Erkenntnis der Dreiglied­rigkeit

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in Gedanken zu fassen, mit Bezug auf den sozialen Organis­mus bloß den Homunkulus herbeigeführt haben, wie Goethe meint, daß durch die gewöhnliche sinnliche und verstandesmäßige Auffassung man auch nur zum Homunkulus, nicht zum Homo kommt.

Denn sehen Sie, mit Bezug auf den sozlalen Organismus können die meisten Menschen heute überhaupt noch nicht denken, weil ihnen die Leitmotive dieses Denkens fehlen. Ich habe es ja schon einmal erwähnt: Die Menschen gehen auf diesen Gebieten aus von der son­derbaren, grotesken Idee, daß ein einzelner Staat oder ein einzelnes Volksgebiet ein Organismus für sich sei. Sie wollen geradezu Volks-Organismen errichten. Das ist an sich ein Unsinn. Ich habe es einmal ausgeführt: Wenn man etwas vergleichen will in bezug auf das Zu­sammenleben der Menschen über die Erde hin, so darf man nur die ganze Erde wie einen Organismus ansehen; ein einzelnes staatliches oder volksmäßiges Gebiet kann nur ein Glied sein im Organismus. Will man den Begriff des Organismus gebrauchen, so muß das ein abgeschlossener Organismus sein. Derjenige, welcher Nationalöko­nomie, Volkswirtschaftslehre, Sozialismus begründen will auf dem Gebiete eines einzelnen Landes, der gleicht einem Menschen, der, sagen wir, die Anatomie des ganzen Menschen aus der bloßen Hand oder dem Bein oder dem Magen begründen möchte. Darauf kommt es in viel höherem Maße an, als sich die Menschen heute vorstellen. Denn diese Dreigliederung, die ich Ihnen angeführt habe, die gibt nicht solche abstrakten Zusammenfassungen, wie sie die heutigen Menschen gewohnt sind, sondern die gibt gerade ein lebendiges Hin­einstellen in das volkswirtschaftliche Getriebe, in das soziale Getriebe. Wer bloß gelernt hat die Anatomie des Magens, der wird nicht ver­stehen die Anatomie des Kopfes, des Halses. Wer aber die Anatomie des Menschen kennt, der wird, wenn es darauf ankommt, auch den Magen richtig beurteilen können, den Kopf richtig beurteilen, den Hals richtig beurteilen können. So ist es: Wer den sozialen Organis­mus in seinen inneren Lebensbedingungen - und das ist etwas, das ausgehen muß von dieser Dreigliederung - kennt, der weiß sich in die richtigen Verhältnisse zu setzen, ob er nun die sozialen Verhältnisse

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in Rußland oder England oder in Deutschland oder irgendwo sonst zu beurteilen hat.

Heute machen Sie die sonderbar betrübliche Entdeckung, daß die Menschen über die Länder reden, als wenn diese Länder für sich da wären. Sie denken, sie können irgendwelche Sozialisierungen oder dergleichen bewirken mit Bezug auf einzelne abgetrennte Gebiete. Das ist dasjenige, was darstellt einen der Grundirrtümer unserer Zeit, und was in der Praxis wirklich zu dem allergrößten Unheil führen kann. Heute ist es nur unheilsam zu glauben, daß man auf einem ge­wissen beschränkten Territorium irgend etwas machen kann, ohne Rücksicht zu nehmen darauf, daß seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Erde ein Gesamtorganismus in sozialer Beziehung ist. Mit der Wirklichkeit muß eben einfach gerechnet werden, sonst kommt man auf keine Weise irgendwie weiter.

Sie sehen daraus, daß es sich vor allen Dingen darum handelt, sich Vorurteilslosigkeit zu erwerben, wirklich gewachsen zu werden durch Vorurteilslosigkeit dem Urteil, das man den Dingen selbst überlassen kann. Denn nur durch Vorurteilslosigkeit kann man von den Dingen lernen. Ein Ausspruch, der Ihnen immer wieder und wiederum ent­gegentreten wird, wenn so über die sozialen Verhältnisse gesprochen wird, wie hier gesprochen wird, das ist der, daß man sich ja kaum vorstellen kann, wie der volkswirtschaftliche Wert getrennt werden soll von der menschlichen Arbeit. Am wenigsten können sich das heute die gelehrten Volkswirtschafter denken. Würden die Leute ein klein wenig von der Geschichte lernen, so würden sie sich sagen:

Plato und Aristoteles haben sich noch nicht denken können, daß unter den volkswirtschaftlichen Werten nicht der Sklave sei; Plato und Aristoteles betrachteten noch als volkswirtschaftlich notwendig das Vorhandensein einer ziemlich großen Sklavenbevölkerung. Nun, heute betrachtet kein vernünftiger Mensch das Vorhandensein einer Sklavenbevölkerung im Sinne des alten Griechen- und Römerreiches als eine volkswirtschaftliche Notwendigkeit. Aber die Menschen be­trachten es heute noch als eine Notwendigkeit, daß menschliche Arbeitskraft in demselben Sinne eine Ware sein soll wie irgendein anderes Gut.

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Nun, suchen wir dahin zu wirken, daß die hier angeführte Drei­gliederung sich allmählich realisiert. Sie kann sich nur langsam reali­sieren. Nicht auf Umsturz plötzlicher Art wird hier hingearbeitet, sondern auf Richtunggeben, auf Treffen von Maßnahmen im ein­zelnen im Sinne dieser Richtung, und alles kann heute schon so ein­gerichtet werden in allen Einzelheiten, was einrichtungsbedürftig ist, daß diese Richtlinien wirklich eingehalten werden, wenn man nicht stupider Programmensch ist, sondern wenn man ein lebendiger Wirk­lichkeitsmensch ist, der sich hineinbegeben will in die Tatsachen selbst, in die lebendige Bewegung der Tatsachen, und das sollte eben heute der Mensch, darauf kommt es eben an. Wirkt man im Sinne jener Richtung, die allmählich die Dreigliederung einführt, indem man die drei Glieder trennt, die so zusammengeschmolzen sind in der letzten Entwickelung und dadurch einen kranken sozialen Organis­mus hervorgebracht haben, der sich in der letzten krankhaften Kata­strophe ausgelebt hat, versucht man dasjenige, was sich so zusam­mengeschmolzen hat, auseinanderzutreiben in die drei Glieder, wie ich sie immer charakterisiere hier: dann kommt man zu einer ge­sunden, wirklichkeitsgemäßen Entwickelung. Und dann realisiert sich schon von selber die allmähliche Abtrennung des volkswirtschaft­lichen Werthegriffes von dem menschlichen Arbeitsbegriff. Geradeso wie der Sklave aufgehört hat, eine Ware zu sein, geradeso wird die menschliche Arbeitskraft aufhören, eine Ware zu sein. Nicht da­durch, daß man Gesetze macht, in denen man verbietet, die mensch­liche Arbeitskraft als Ware zu betrachten, sondern dadurch, daß man das wirkliche Auseinandergehen der geistigen, der wirtschaftlichen und der staatlichen Verrichtungen betreibt. Dadurch wird das Gut, das allein als Ware volkswirtschaftlichen Wert darstellt, gelöst von dem, was heute kristallisiert ist in der Ware: die aufgewendete mensch-liche Arbeitskraft.

In bezug darauf ist es geradezu furchtbar, welchen Begriffsverwir­rungen man bei Menschen begegnet, die heute oft reden und mitreden wollen bei der notwendigen Neugestaltung der Verhältnisse. Dafür lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel anführen. Da ist die breite Masse der sogenannten Marxisten; die sind sich klar darüber: Wenn ich ein

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Gut heute erwerbe, eine Ware erwerbe, so ist in dieser Ware aufge­speichert die menschliche Arbeitskraft, durch die diese Ware erzeugt worden ist. Ich muß mitbezahlen die menschliche Arbeitskraft, die dadrinnen ist, indem ich die Ware bezahle. - Ja, unter den heutigen Verhältnissen ist es natürlich so; aber darum handelt es sich ja gerade, daß man abtrennt im realen Prozeß, nicht bloß im Begriff, die Arbeits­kraft von der eigentlichen Ware. Dazu ist es natürlich notwendig, daß man über diese Dinge sich wirklich klare Begriffe aneignet.

Nun läßt sich das leicht widerlegen, daß in der Ware aufgespeicherte Arbeitskraft als volkswirtschaftlicher Wert drinnen liegt. Einer, der eben nicht Marxist ist, der die Sache wiederum von einem andern Gesichtspunkte betrachtet, sagt, es sei unrichtig, daß die Volkswirt­schaft getrieben würde zu einem Zusammenkleben von Arbeitskraft und Ware; es sei gerade umgekehrt. Ware, fertige Ware, die man hat, die sei eigentlich da heute in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, um Arbeit zu ersparen. - Und in der Tat, gewissermaßen kaufkräftige Ware ist schon da, um Arbeitskraft zu ersparen. Denken Sie einmal, Sie seien Maler; Sie malen ein Bild, das zehntausend Franken wert ist, für zehntausend Franken unter den heutigen wirtschaftlichen Ver­hältnissen verkauft werden kann. Da können Sie für diese zehntau­send Franken unter den heutigen Verhältnissen so und so viel Leute für sich arbeiten lassen. Dadurch, daß Sie den Wertgegenstand dieses Bildes haben, dadurch können Sie so und so viel Leute für sich arbei­ten lassen. Denken Sie, wenn Sie das Bild nicht verkaufen würden und Sie würden alles das selber tun müssen, was Sie andere für sich arbeiten lassen, dadurch, daß Sie das Bild um zehntausend Franken verkaufen, was Sie da alles arbeiten müßten! Sie müßten sich Ihre Schuhe machen und nicht nur Ihre Kleider, sondern sogar den Stoff für die Kleider müßten Sie sich selber weben und dergleichen; Sie müßten sich erst die Rohstoffe verschaffen und das alles, der wirt­schaftliche Prozeß ist ja ein ungeheuer komplizierter. Aber damit hat es nichts zu tun, meint irgendein volkswirtschaftlicher Den­ker, daß Arbeit kristallisiert ist in der Ware, sondern damit, daß man gerade dadurch, daß man verkaufsfähige Ware hat, Arbeit erspart. Also der volkswirtschaftliche Wert eines Gutes beruhe

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gerade darauf, wieviel Arbeit man dadurch erspare; nicht wieviel Arbeit auf dieses Gut verwendet worden ist, sondern wieviel Arbeit erspart werde.

So gibt es also heute zwei Parteien, von denen die eine behauptet, der volkswirtschaftliche Wert bestehe in dem, wieviel Arbeit hinein-gemacht worden ist in dieses Gut. Nun, da kann man bei einem Bild wirklich nicht vergleichen die Arbeit, die da hineinverwoben worden ist, mit der Arbeit, die erspart wurde dadurch, daß man das Bild nach jenem Werte, den das Bild in der volkswirtschaftlichen Zirkulation hat, verkauft. Unter Umständen kann ein begabter Maler ein solches Bild, sagen wir, in einem Monat verkaufsfertig zustande bringen. Dann ist seine Arbeitskraft das, was hineinkristallisiert ist in einem Monat. Aber darauf kommt es viel weniger an, als auf die Arbeit, die er dadurch erspart. Dadurch wird er ja dann zum Kapitalisten, daß er Arbeit erspart; dadurch wird gerade die kapitalistische Wirtschafts­ordsiung hervorgerufen, daß er so und so viel Leute beschäftigen kann durch die Arbeit, die er erspart durch sein Gut.

Sie haben da zwei entgegengesetzte Definitionen. Die eine Defini­tion: Der volkswirtschaftliche Wert eines Gutes oder einer Ware be­steht darinnen, wieviel Arbeitskraft verwendet worden ist, um diese Ware herzustellen. Die andere Definition: Der volkswirtschaftliche Wert einer Ware besteht darinnen, wieviel Arbeit man erspart da­durch, daß man dieses Gut oder diese Ware hat. Zwei ganz entgegen­gesetzte Definitionen, die aber entgegengesetzt sind in bezug auf ihre Wirklichkeitsbedeutung. Denn es wär& ganz verschieden, wenn wirk­lich bewertet würde irgendein Gut nach der Herstellungsarbeit oder nach der ersparten Arbeit. Im volkswirtschaftlichen Zirkulations­prozeß findet nämlich weder das eine noch das andere statt. Sie brau­chen sich nur eines, wenn ich das Beispiel weiter ausführen soll, vor­zustellen: Denken Sie sich, dieses Bild, von dem ich rede, das also nach den Vorstellungen, die man in einem bestimmten Zeitalter, also sagen wir, in der Gegenwart hat, für zehntausend Franken dem Maler abgekauft wird, denken Sie sich, dieses Bild sei noch beim Maler. Da ist es also zehntausend Franken wert. Nehmen wir an, es sei aber nun gekauft, es sei jetzt im Salon des Herrn Mendelssohn, der kein Maler

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ist; da hängt es drinnen, da sehen es nur wenige Leute an. Definieren Sie nun den volkswirtschaftlichen Wert dieses Bildes, der besteht in der Summe der aufgewendeten Arbeit. Sie sehen, das können Sie nicht anwenden, weder auf Lenbach, noch auf den Herrn Mendels­sohn, denn für beide besteht der volkswirtschaftliche Wert nicht dar­innen. Also für Lenbach oder irgendeinen Maler der Gegenwart be­steht unmittelbar der Wert freilich in der Arbeit, die er erspart; aber für den Herrn Mendelssohn schon nicht mehr, denn er erspart nichts. Also wenn Sie volkswirtschaftlich die Sache ansehen wollen, können Sie, wenn Sie einseitig sind, anwenden diesen Begriff auf den Maler, der das Bild produziert; da können Sie diese Definition geben. Wenn Sie definieren wollen mit Bezug auf den, der das Bild gekauft hat und es sich ins Zimmer hängt, dann existiert schon in der Wirklichkeit nicht mehr diese volkswirtschaftliche Definition des Wertes. Das ist es, was so ungeheuer wichtig ist, daß die Menschen heute geneigt sind, leicht zu definieren, wenn sie irgendwo etwas abgeguckt haben von den Verhältnissen. Da definieren sie gleich. Dann ist es gar kein Wunder, daß der eine diese Ansicht hat, der andere jene. Selbstver­ständlich, derjenige, der sich die volkswirtschaftliche Definition eines Bildes aus dem Atelier von Lenbach entnimmt, kommt zu einer ganz andern Ansicht als der, der sich die volkswirtschaftliche Definition eines Bildes aus dem Salon des Herrn Mendelssohn entnimmt. Dann können die Leute auch streiten.

Und so sind alle die Streite, die auf sozialen Gebieten heute vor­kommen, weil die Menschen nicht bis zu den ursprünglichen Impul­sen zurückgehen. Dazu gehört allerdings Wirklichkeitssinn, den nur die Schulung der Geisteswissenschaft gibt. Sie können heute Hunderte von Definitionen auf volkswirtschaftlichem Gebiete finden, und Sie werden nur Herzschmerz bekommen über die Wirklichkeitsfremdheit dieser Definitionen, über das furchtbar Wirklichkeitsfremde dieser Definitionen, die Sie immer beweisen können, weil sie immer wieder­um auf ein gewisses Gebiet passen. Sie können sagen: Der volkswirt­schaftliche Wert besteht in der Arbeit, die man erspart -, wenn Sie just vom Gesichtspunkt des geistigen Arbeiters reden sollen. Sie kön­nen auch sagen: Der volkswirtschaftliche Wert besteht in der aufgewendeten

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Arbeit -, wenn Sie vom Standpunkt des proletarischen Handarbeiters sprechen wollen.

Ich habe Ihnen ein anderes Beispiel aus der Volkswirtschaft an­gegeben. Es gibt, wie ich Ihnen sagte, auf dem Gebiete der Volks­wirtschaft die sogenannten Nominalisten und Metallisten in bezug auf die Theorie des Geldes. Ja, die streiten sich furchtbar herum. Die einen betrachten das Geld so, daß es als Ware gilt, daß es das wert ist, was es als Gold oder Silber wert ist, die andern nur als Zeichen für einen vorhandenen Wert. Die einen, die Nominalisten, die andern, die Metallisten, die streiten sich auf Tod und Leben, definieren und streiten sich. Ja, die Leute wissen alle nichts von der Wirklichkeit. Das Geld wird nämlich so, daß der Nominalismus richtig ist, wenn man in der Zeit lebt, in welcher ein starker Rückgang in der Produk­tion ist; wenn Not da ist, dann wird der Nominalismus richtig. Wenn Überfluß da ist, wird der Metallismus richtig. Es ist eben beides rich­tig vor der Wirklichkeit, das eine Mal das, das andere Mal jenes. Nie­mals sind die Begriffe so, wie sich die Menschen sie einseitig bilden, jemals heilsam anzuwenden auf eine Totalität. Bei der Totalität han­delt es sich immer darum, daß man das Vollständige zusammenbringt, daß man nicht einseitig definiert, und daß man einen Sinn dafür hat, wo man packen kann in der Wirklichkeit dasjenige, was Aufschluß gibt.

Nun kann die Frage auftauchen: Wo entsteht der volkswirtschaft­liche Wert? Er entsteht nicht bei dem Hineinkristallisieren der Arbeit in die Ware, nicht bei dem Ersparen der Arbeit durch die Ware; da entsteht überall nicht der volkswirtschaftliche Wert. Der volkswirt­schaftliche Wert ist ein Spannungszustand. Nicht wahr, wenn Sie hier einen elektrischen Konduktor haben (es wird gezeichnet), der sich hier entladen kann, und hier die Elektrizität aufgefangen wird, so entsteht zwischen den zweien, zwischen Entlader und dem, worauf die Entladung übergeht, ein Spannungszustand. Es strebt mit einer gewissen Stärke hinüber, um sich zu entladen. Wenn die Spannung nicht groß genug ist, findet keine Entladung statt. Wenn die Span­nung groß genug ist, findet eine Entladung statt.

In ähnlicher Weise ist auch der volkswirtschaftliche Wert eine Art Spannungszustand, ein solcher volkswirtschaftlicher Wert, den man

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beschreiben kann, indem man sagt: Auf der einen Seite steht das Gut, die Ware, in ihren Qualitäten und außerdem mit Bezug auf den Ort, an dem sie konsumiert werden kann; also auf der einen Seite steht die Ware an einem bestimmten Ort und in bestimmter Zeit. Auf der andern Seite steht das menschliche Bedürfnis, was dasselbe ist wie künstliches oder natürliches Interesse. Dieser Spannungszustand gibt den wahren volkswirtschaftlichen Wert, nichts anderes. Der Arbeits­begriff ist da gar nicht darinnen. Der muß sich in einer andern Weise assoziieren mit dem Warenzirkulationsprozeß im sozialen Organismus. Das, was drinnen ist in der Erzeugung des volkswirtschaftlichen Wertes, das ist die eigentümliche Spannung, die wie die Spannung zwischen einem elektrischen Konduktor und einem Empfänger be­steht, zwischen dem Vorhandensein einer bestimmt qualifizierten Ware an einem bestimmten Orte und einer bestimmten Zeit, und dem menschlichen Bedürfnis, das nach dieser Ware da ist. Das bestimmt allein den volkswirtschaftlichen Wert. Die Mühe, die Herr Lenbach aufwenden muß, um durch sein Talent das Bild in einer bestimmten Zeit fertigzukriegen, und die Arbeit, die er sich durch das Bild er­spart, bestimmen nur den Privatbesitzeswert des Herrn Lenbach. So ist es aber auch bei aller andern Arbeit und ihrem Verhältnis zur Ware. Das bestimmt alles nicht den volkswirtschaftlichen Wert. Aber der volkswirtschaftliche Wert in jedem Moment ist gegeben durch das Verlangen, das Bedürfnis auf der einen Seite, und die bestimmt qualifizierte Ware an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit auf der andern Seite. Das macht den konkreten volkswirtschaft­lichen Wert einer Ware aus. Dieses können Sie überall anwenden. Nur kommen Sie dadurch aus dem bloßen volkswirtschaftlichen Organis­mus eben gerade hinaus, und hier kommen Sie gerade hinein in die soziale Dreiteilung. Denn Sie haben auf der einen Seite das Gut, die Ware, die Sie hinführt nach der Wirtschaft, die niemals durch die bloße Zirkulation geschaffen werden kann, sondern nach Grund und Boden, nach der andern Naturgrundlage. Diese Naturgrundlage muß da sein. Die kann nicht dem Staate aufgebuckelt werden. Die muß auf der einen Seite da sein. Auf der andern Seite haben Sie das Bedürf­nis. Dies führt Sie aber nach dem Geistigen hin, das führt in die geistige

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Welt des Menschen ein; denn wie verschieden sind die Bedürf­nisse unkultivierter Barbaren und kultivierter Menschen! Da spielen in das rein volkswirtschaftliche Wesen zwei andere Elemente hinein. Das ist das Wichtige, das ist dasjenige, worauf es ankommt: daß da zwei andere Elemente hineinspielen. So daß wir den sozialen Orga­nismus geradeso haben wie den menschlichen Organismus, der auf der einen Seite die Brust, den Kopf hat, in den die geistige Welt hin­einspielt, und auf der andern Seite hat den Nahrungsorganismus, wo die physische Seite hineinspielt. Dadurch ist der Mensch ein drei­gliedriges Wesen. Aber auch der soziale Organismus ist ein dreiglied­riger, indem auf der einen Seite alles dasjenige hineinspielt, was die Bedürfnisse selbst erzeugt, die niemals durch den volkswirtschaft­lichen Prozeß erzeugt werden dürfen als solche, und auf der andern Seite dasjenige, was die Natur erzeugt. Das führt zur Dreigliedrigkeit. In der Mitte ist dasjenige, was beide verbindet.

Sie brauchen nur folgendes sich zu überlegen, so werden Sie die ungeheure Fruchtbarkeit, die soziale Fruchtbarkeit desjenigen, was hier ausgesprochen ist, schon merken. Nach dem, was ich hier eben schon ausgesprochen habe, darf niemals das Bedürfnis durch einen sozialen Eigenprozeß, durch einen wirtschaftlichen Eigenprozeß er­zeugt werden, sondern das Bedürfnis muß gerade von außen herein entwickelt werden durch einen andern, sei es durch einen ethischen oder einen andern Kulturprozeß. In ungesunden Zeiten werden Be­dürfnisse rein volkswirtschaftlich entwickelt, und darüber sind die ungesund denkenden Menschen eigentlich froh. Sie haben in der Zeit, die gerade zu unserer sozialen Katastrophe geführt hat, in der Zeit, wo das soziale Karzinom, die soziale Krebskrankheit sich allmählich heraufgesteigert hat, an allen Ecken und Enden sehen können, wie das Bedürfnis, das nicht aus der sozialen Struktur selber kommen, sondern das von anderer Kulturaufgabe der Menschheit hineinkom­men sollte in die soziale Struktur, wie das durch den sozialen Prozeß selbst erzeugt werden sollte. Eine Zeitlang las man immer wieder:

Kocht mit Maggi gute Suppen! - Nun, das Bedürfnis nach Maggi wäre ganz gewiß nicht entstanden ohne diese Reklame! Diese Reklame ist aus der reinen Volkswirtschaft heraus. Das ist kein Bedürfnis, das

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sich auf wirkliche Weise ergeben hat. So Bedürfnisse erzeugen, so ein künstliches Interesse für ein bestimmtes Produkt erzeugen, das ist geradeso unheilsam und muß zur Krankheit des sozialen Organismus führen, als wenn Sie als Arzt zum Beispiel den Knaben, der etwas lernen soll, nicht durch moralische Mittel zum Fleiß anfeuern woll­ten, sondern wenn Sie ihm ein Pülverchen gäben, damit er durch die­ses Pülverchen vielleicht da oder dort eine Aufrüttelung erlebe und durch seinen Magen fleißiger werde. Solche sozialen Pfuschereien, die dadurch zustande gekommen sind, daß man alles aufgebuckelt hat einem sogenannten Monon, einem sozialen Homunkulus, das ist es, was unsere katastrophale Gegenwart herbeigeführt hat. Denn es darf eben nicht der soziale Organismus selber auf der einen Seite die Be­dürfnisse erzeugen, und auf der andern Seite darf er auch nicht Ware erzeugen, die nur dem sozialen Organismus als solchem dienen soll. Der soziale Organismus muß die Ware geliefert bekommen von der Naturgrundlage. Er muß die Bedürfnisse gellefrrt bekommen auf der andern Seite von der Menschheitsentwickelung selbst.

Daher darf auch niemals eine Soziale Frage werden die Frage der Bevölkerung. Und das bedeutet eben die Verkennung des richtigen Verhältnisses zwischen Mensch und Volkswirtschaft, auf die ich gestern hingedeutet habe. Das bedeutet, daß man in unserer Zeit nicht weiß den Unterschied zwischen Schwein und Mensch, wie ich gestern am Schluß angedeutet habe, das bedeutet eben, daß man das Bevölke­rungsproblem zu einem sozialen Problem macht. Ob wünschenswert ist eine starke Vermehrung der Menschen oder ein Erhalten der Be­völkerung auf einem bestimmten Niveau der Bevölkerungszahl, das darf niemals von volkswirtschaftlichen Erwägungen abhängen son­dern da müssen andere, ethische, spirituelle Erwägungen mitsprechen. Bei Erörterung dieser Frage muß ganz besonders bedacht werden, daß, wenn man künstlich durch Volkswirtschaft hinarbeitet auf eine bedeutende Vermehrung der Bevölkerung, daß man dann Seelen, die vielleicht sich erst nach vier oder fünf Jahrzehnten haben verkörpern wollen, zwingt, daß sie jetzt schon herunterkommen, um in um so schlechterem Zustande auf diese Weise herunterzukommen. So daß eine Bevölkerungszunahme unter Umständen einen Zwang bedeutet,

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den Sie auf die Seelen ausüben, die dann in um so schlechterer Ver­fassung in die Körperinkarnation hinein müssen. Dadurch kommt dann das moralische Sumpfniveau unter Umständen. Die Frage der Bevölkerungszunahme oder Stabilität oder selbst die der Bevölke­rungsabnahme, die darf niemals eine volkswirtschaftliche Frage, son­dern muß eine Frage der ethischen, der moralischen, kurz, überhaupt der geistigen und sogar der spirituellen Lebens- und Weltanschauung sein. Alle diese Dinge kommen nur in eine gesunde Sphäre hinein, wenn sie geisteswissenschaftlich erfaßt werden. Daher werden Sie be­greifen die Notwendigkeit einer geisteswissenschaftlichen Fundierung alles sozialen Denkens. Wenn Sie sich wirklich befassen möchten mit alldem scheusäligen Zeug, was über die Soziale Frage gegenwärtig geredet, geschrieben wird, dann würden Sie, indem Sie sehen, welche Unfruchtbarkeit eben in all diesen Dingen steckt, schon dadurch ge­trieben werden, endlich jenes scharfe Denken anwenden zu wollen, das zu diesen Dingen notwendig ist.

Geradeso wie sich die Nachfolger von Plato und Aristoteles ent­schließen mußten zu sagen: Der Mensch als Sklave darf nicht Ware sein -, so müssen sich eben die Nachfolger der heutigen Menschheit sagen lernen: Auf keinen Fall darf die Arbeitskraft Ware sein -, son­dern durch andere Impulse muß der Mensch zum Dienen, zum Ar­beiten für seine Mitmenschen getrieben werden, nicht durch den Wert desjenigen, was er erzeugt. Der volkswirtschaftliche Wert desjenigen, was erzeugt wird, wird niemals geregelt werden dürfen nach der auf­gewendeten oder ersparten Arbeit, sondern lediglich nach dem be­rechtigten Entspannungsverhältnis der Ware und solchen mensch­lichen Bedürfnissen. Da entscheidet also weder aufgespeicherte noch ersparte Arbeitskraft; denn man steht nicht durch seine Arbeit im volkswirtschaftlichen Prozesse, man arbeitet nicht für Ersparung 4er Arbeit, sondern man arbeitet lediglich Ware fertig, damit sie in ein bestimmtes Spannungsverhältnis zum entsprechenden Bedürfnisse trete. Das entsprechende Bedürfnis kann bestimmen, daß eine Ware, auf die sehr viele Arbeit aufgewendet wird, unter Umständen billig sein muß, das Bedürfnis kann bestimmen im gesunden volkswirt­schaftlichen Prozesse, daß eine Arbeit, auf die wenig Arbeit auf

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gewendet werden muß, vielleicht sogar teurer ist; die aufgewendete Arbeit kann nicht entscheidend sein. Das ergibt sich aus der heutigen Auseinandersetzung. Daher ergibt sich für den, der diese Dinge durchschaut, die radikale Forderung, den Impuls zum menschlichen Arbeiten von ganz anderer Seite her zu holen als von dem volkswirt­schaftlichen Wert der Ware, der eben bestimmt wird durch das an­gedeutete Spannungsverhältnis.

Der allein, der diese Dinge durchschaut, kann dann entscheiden über die zwei wichtigen heute sozial vorliegenden Fragen: Arbeits­zwang, Zwang zur Arbeit, wie die Bolschewisten es wollen, oder Recht auf Arbeit, wie man es auch nenne. Derjenige aber, der nicht in solchen Tiefen schürft, auf welche wir heute hingedeutet haben, der wird immer nur konfuses, törichtes Zeug reden, gleichgültig ob er auf irgendeinem Posten oder zu irgendeinem Zwecke von Arbeits­recht oder Arbeitszwang redet. Nur wenn man im Tiefen schürft, hat man ein Recht, über solche Fragen zu sprechen. Und es ist heute eine ernste Frage, sich ein Recht zu erwerben, bei diesen Dingen mit­sprechen zu dürfen. Davon dann das nächste Mal weiter.

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ZEHNTER VORTRAG Dornach, 31. Januar 1919

Man kann sagen: Es lagert eine ernste Tragik über der gegenwärtigen Menschheit. Das wird Ihnen ja hervorgehen aus dem Inhalte der man­cherlei Betrachtungen, die wir gerade in der letzten Zeit gepflogen haben. Diese Betrachtungen erstreckten sich zum größten Teile weit­aus über verschiedene Gesichtspunkte, die mit Bezug auf die Ent­wickelung des sozialen Problems, des sozialen Rätsels in unserer Zeit in Betracht kommen. Und gerade mit Bezug auf dieses soziale Rätsel können wir sagen, daß eben eine gewisse ernste Tragik über der gegen­wartigen Menschheit lagert. Wir sehen ja, wie die soziale Frage, die mehr oder weniger von vielen Leuten, insbesondere der sogenannten Intelligenz, bisher mehr für eine theoretische Frage angesehen wor­den ist, eine wahrhaftig recht bedeutungsvolle, praktische Gestalt durch große Territorien der zivilisierten Welt hindurch gewinnt. Und was schon zum Tragischen gehört in bezug auf diese Sache, das ist, daß nun gerade da, wo das soziale Rätsel im praktischen Leben un­mittelbar an die Oberfläche des Daseins tritt, die Menschen, man kann sagen, aller Berufsstände und aller sozialen Klassen, in außerordent­lich schlechter Weise auf die soziale Situation der Gegenwart vor­bereitet sind. Wenn sich die Menschen jetzt so in die Welt gestellt finden, daß sie an zahlreichen Orten sich genötigt sehen, nicht nur, wie dies früher der Fall war, Reden zu halten über die soziale Frage, sondern zu urteilen über das oder jenes in bezug auf die soziale Ge­staltung - daß dies eintreten muß, läßt sich leicht einsehen aus den Verhältnissen der Gegenwart -, dann finden die Menschen nicht die Möglichkeit, Ausgangspunkte für solches Urteilen zu gewinnen. Sie finden nicht die Möglichkeit, für solche Urteile, die heute nun einmal brennend notwendig geworden sind, das rechte Denken zu entfalten. Sehen wir doch, daß im Laufe der letzten Jahrhunderte die führenden Menschen des Bürgertums eigentlich angenommen haben für den Tagesgebrauch und auch für den Wochen- und Jahresgebrauch ihres Denkens gewisse Gedankenformen, die, wenn auch das nicht immer

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ersichtlich ist, aus dem naturwissenschaftlichen Denken der neueren Zeit abstammen. Also Menschen, die überhaupt heute denken, den­ken eigentlich, wenn sie auch ganz und gar nicht über Naturwissen­schaftliches denken, naturwissenschaftlich; sie denken so, wie es gut ist, in der Naturwissenschaft, so wie sich diese heute gestaltet hat, zu denken. Und mit diesem Denken kommt man eben mit Bezug auf alle sozialen Angelegenheiten auch nicht einen wirklichen Schritt wei­ter. Das wollen sich die Leute aber heute meistens noch nicht geste­hen. Sie möchten alle die Wirrnis, die eingetreten ist, allerlei andern Dingen zuschreiben. Sie möchten noch nicht hinblicken darauf, daß sie sich eigentlich sagen müßten: Wir stehen in bezug auf einen gro­ßen Teil der zivilisierten Welt vor einem sozialen Chaos; wir müssen ein Urteil haben, aber wir haben eigentlich keine Anhaltspunkte für dieses Urteil in den Denkgewohnheiten, die wir bisher gepflogen haben.

Man muß, wenn man sich die ganze schwere Tragik der hiermit angedeuteten Tatsache vor das Auge rücken will, sich das Folgende klarmachen. Man muß sich bemerklich machen, wie seit dem 16., 17. Jahrhunderte sich langsam vorbereitet hat dasjenige, was heute zum Ausbruch gekommen ist, und wie seit dem 16. und 17. Jahrhun­dert im Grunde gerade die führende Menschheit nichts getan hat, um sich ein Urteil wirklich zu verschaffen über das, was notwendig ist. Die Wirtschaftsordnungen, die seit dem 16. und 17. Jahrhundert zer­sprengt worden sind, sie sind heute eben nicht mehr da. Es hat sich an ihre Stelle im Grunde genommen, man kann sagen, bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts herein eine Art wirtschaftliches Chaos, oder besser gesagt, eine wirtschaftliche Anarchie gesetzt. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wiederum strebte die Menschheit zu einer solchen Gestaltung der sozialen Körperschaften, wodurch man aus der wirtschaftlichen Anarchie herauskommen sollte. Aber sie strebte dem zu mit unzulänglichen Mitteln. Betrachten wir diese Sachlage einmal ein klein wenig, allerdings nur ein klein wenig genauer.

Wir sehen ja, wenn wir in die Zeit vor dem 16. oder 17. Jahrhundert zurückblicken, wirtschaftlich die Menschheit gegliedert in mehr oder weniger feste Berufsverbände, deren inneres Gefüge den Leuten heute

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noch wenig bekannt ist, die aber so gegliedert, so angeordnet waren, daß sie in einer gewissen Beziehung für das Leben der damaligen Menschheit eine Art Befriedigung bieten konnten. Es war vor allen Dingen in den Berufsorganisationen, die als Zünfte, Gilden und so weiter existiert haben, für den einzelnen Menschen die Möglichkeit vorhanden, mit seinem ganzen Wesen an seiner Berufsorganisation interessiert zu sein. Er war interessiert mit allen seinen Aspirationen, könnte man sagen. Derjenige, welcher einer Berufsorganisation als Lehrling angehörte, konnte hoffen, einmal Geselle, ja Meister zu wer­den. Er konnte hoffen, auf der sozialen Stufenleiter hinaufzusteigen. Und auch in anderer Richtung, mit der Beziehung auf die Regelung von Produktion und Konsum waren für gewisse Zeitverhältnisse in der Zeitentwickelung der Menschheit diese Organisationen mehr oder weniger dienlich.

Nun kam die neuere Zeit herau£ Wir wissen ja aus unseren geistes-wissenschaftlichen Betrachtungen, wie diese neuere Zeit eigentlich ihrem Wesen nach innerlich ist. Der Mensch will sich bewußt auf die Spitze seiner eigenen Persönlichkeit stellen. Er will die Bewußtseins-seele entfalten. Das ist doch, wenn es auch maskiert ist durch die ver­schiedenen Verhältnisse, der innere Impuls desjenigen, was da kämpft, was da sich entwickelt in der neueren Zeit. Für dieses Streben nach der Ausgestaltung des persönlichen, des individuellen Elementes im Menschen waren die alten Berufsverbände, die aus ganz andern menschlichen Aspirationen heraus waren, eben nicht mehr geeignet. So daß wir sehen, wie sich vom 16. und 17. Jahrhundert an auch auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens ein gewisser Individualismus ent­wickelt, wie die alten Verbände, die alten sozialen Gemeinschaften zertrümmert werden. Wir sehen beim Übergange in diese Zertrümme­rung gewisse Übergangserscheinungen; wir sehen, wie gerade im 15., 16. Jahrhundert sich vorübergehend dasjenige ausbildet, was man nennen könnte die Monopolisierung verschiedener Produktions­zweige. Wir sehen aber dann, wie sich gerade unter dem Einflusse des wirtschaftlichen Individualismus eine Art Antimonopolbewegung entwickelt, die im Grunde genommen bis in die Mitte des 19. Jahrhun­derts hinein dauert, und die dann geführt hat zu der neueren kapitalistischen

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Produktionsweise. Diese neuere kapitalistische Produktions­weise trägt dem Individualismus in einer gewissen Weise Rechnung. Die alten Berufsgemeinschaften wurden zersprengt, die wirtschaft­liche Initiative ging an die einzelnen Menschen über, an die Kapi­talisten, welche Unternehmer wurden und von deren Risikomut es abhing, ob nun das wirtschaftliche Leben gedieh oder nicht gedieh. Daneben entwickelte sich das moderne technische Wesen, welches ganz und gar umgestaltete das ganze wirtschaftliche Leben, welches eigentlich erst schuf die moderne Proletarierklasse. Und die Folge da­von war, daß sich auf der einen Seite der Kapitalismus, auf der andern Seite das Proletariat entwickelte, und daß durch das Leben von der Hand in den Mund, durch die Unaufmerksamkeit und Uninteressiert­heit der führenden Menschen an dem wirtschaftlichen Leben, zuletzt ein vollständiges Nichtverstehen zwischen den führenden Kapitalisten und ihrem Anhange und der arbeitenden Proletarierbevölkerung ein­trat. Die großen Unterschiede, die über die Erde hin gerade mit Be­zug auf die soziale Lage der Menschheit bestehen - wir haben sie be­trachtet -, über sie sieht ein großer Teil gerade derer hinweg, die heute an dem sozialen Problem in der einen oder in der andern Weise her­umpfuschen wollen. Man muß bedenken, daß die Weststaaten Europas mit ihrem amerikanischen Anhange sich im Laufe der neueren Zeit durchaus zugewandt haben dem, was man nennen kann bürgerliche Demokratie. Diese bürgerliche Demokratie rechnet mit gewissen Frei­heits- und Gleichheitsidealen, die sie dann auch auf das wirtschaft­liche Leben überträgt. Aber sie, diese bürgerliche Demokratie, ist bis zu einem gewissen Grade rückständig geblieben, rückständig geblie­ben insofern, als sie die Grundsätze, die Prinzipien, gewissermaßen die Programmpunkte des Bürgertums anwendet, so wie sie sich er­geben haben vor dem eigentlichen modernen Maschinenzeitalter. So daß wir sehen, daß in den Westländern diese bürgerliche Demokratie sich entwickelt, sich ihre Körperschaft, eine gewisse soziale Gestal­tung gibt, aber nach und nach durchwirkt wird von dem, was Produkt des modernen Maschinenzeitalters ist, durchwirkt wird von dem Pro­letariat. Nun wird in diesen Weststaaten noch nicht in radikaler Weise gerechnet mit der proletarischen Bevölkerung.

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Wir sehen dann, wie in Mitteleuropa gerade die Entwickelung der neueren Zeit in einer erschreckend klaren Weise gezeigt hat, wohin eigentlich der Weg geht. Was ist denn eigentlich das Grundwesen dieser Mittelstaaten gewesen? Ja, das Grundwesen dieser Mittel-staaten war dieses, daß das staatliche Gefüge ein Uralthergebrachtes war. Die Begriffe, nach denen sich die staatlichen Gefüge in Mittel-europa gebildet haben, auch bis nach Rußland hinein gebildet haben, diese Begriffe waren im Grunde uralt hergebrachte. Man hatte sie so bewahrt - ob nun monarchisch oder nicht monarchisch, das kommt ja dabei weniger in Betracht -, daß man ausgebaut hat die Körper­schaften zu sogenannten modernen Staatsgebilden. Diese modernen Staatsgebilde Mitteleuropas und bis nach Rußland hinein sind eigent­lich durchaus Reste mittelalterlicher Anschauungs- und Empfindungs-weise. Sie sind auch so gefügt, daß ihr Gefüge Mittelalterlichem ent­spricht. Aber das Leben fügt sich solchen Begriffen nicht. In den Ter­ritorien, auf denen sich solche Körperschaften herausgebildet haben, entstand aus einer Notwendigkeit, die eine viel stärkere ist als das­jenige, was da aus dem Mittelalter herauf sich verpflanzt hatte, die Wirtschaft, entstand der Wirtschaftskörper. Und dieser Wirtschafts­körper, der hat seine eigenen Gesetze, der fordert seine eigenen Ge­setze.

Nun trat das durch und durch Krankhafte ein, daß die Erforder­nisse des modernen Wirtschaftslebens sich wandten an die alten Staatsgebilde und daß man glaubte, dieses Wirtschaftsleben mit den alten Staatsgebilden durchdringen zu können. In einer gewissen Weise sollte dasjenige, was ganz neues Element war oder ist, das Wirtschafts­leben, eingefügt werden in den Staatskörper, der aus ganz andern Bedingungen heraus gewachsen ist. Da geschah die moderne Kata­strophe, diese furchtbare Katastrophe der letzten Jahre. Und inner­halb dieser Katastrophe zeigte sich - denn das gehört zum Verständ­nis des Verlaufs dieser Katastrophe, was ich jetzt sagen werde -, daß es unmöglich ist, das moderne Wirtschaftsleben mit den alten Staats-begriffen zu vereinigen. Es zeigt sich nunmehr, nachdem diese Kata­strophe einen Krisencharakter angenommen hat in den letzten Mona­ten, das dadurch, daß ja diese mitteleuropäischen Staatsgebilde nun

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hinweggefegt sind. Die Staatsgebilde sind fort, der soziale Wirt­schaftskörper auch, und es kann im weiteren Verlaufe - das könnte heute schon jeder Einsichtige einsehen - gar nicht mehr eine Zusam­menkoppelung der neuen Wirtschaftsforderungen mit den alten Staatskörperschaften stattfinden, aus dem Grunde, weil diese alten Staatskörperschaften, statt daß sie sich modernisiert hätten im Sinne des modernen Lebens, sich haben hinwegfegen lassen.

Man steht da vor einer eigentümlichen Perspektive. In den West­staaten ist vorläufig aufgehalten die Bewegung, welche über die ganze moderne Menschheit kommen muß. Sie kann nur aufgehalten werden so lange, als die alten, noch nicht mit dem modernen Wirtschaftsleben rechnenden bürgerlich-demokratischen Impulse so stark sind, daß sie das proletarische Leben unterdrücken können. In dem Augenblicke, wo dieses proletarische Leben in den Weststaaten nicht mehr unter­drückt werden kann, wird die kurzsichtige Menschheit dieser West-staaten schon auch einsehen, daß sie heute eigentlich mit dem Leben ein Hasardspiel treibt. Das wollen sich ja die Menschen durchaus nie­mals zur rechten Zeit sagen lassen. Für die Mittel- und Oststaaten Europas ist aber der Funke bereits ins Pulverfaß gefallen. Es ist nur ein Anachronismus, wenn da aus reiner Denkfaulheit noch geredet wird von Begriffen, die es gar nicht mehr gibt, die gar nicht mehr da sind. Statt zu dem Bewußtsein zu kommen, daß man sich wirklich an neue Begriffe zu wenden hat, redet man in gewissen Kreisen noch immer von Rußland, von Deutschland, sogar von Österreich, das es selbst äußerlich nicht mehr gibt. Einzelne reden immer noch so, wäh­rend es sich auf diesen Gebieten schon durchaus zeigt, daß dasjenige, was von alters her überliefert ist, einfach aufgegeben werden müßte auch in den Denkformen. Das wollen die Menschen so schwer be­greifen, daß sie nicht nur irgendwie Urteile fällen sollen über das, was unmittelbar an ihre Nase stößt - denn diese Urteile werden niemals zutreffend sein -, sondern daß sie mit ihrem Denken umzulernen haben. Das wollen die Menschen der Gegenwart recht schwer be­greifen.

Nun, dieses Nichtbegreifenwollen der Notwendigkeit des Um-lernens, das beruht hauptsächlich darauf, daß die Menschen so felsenfest

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überzeugt sind, daß die Art des Denkens, wie sie sich in den letz­ten Jahrhunderten entwickelt hat und wie sie für die naturwissen­schaftlichen Berufe so außerordentlich gut paßt, für die Lösung der sozialen Frage absolut ungeeignet ist. Das wollen die Menschen nicht begreifen. Sie wollen nicht einsehen, daß sie ein gewisses Denken ent­wickelt haben, und daß die Außenwelt ein gewisses Leben entwickelt hat, das ganz anderes Denken fordert als dasjenige, welches sie selbst entwickelt haben. Das ist, was die Menschen schwer einsehen wollen, obwohl die Tatsachen, die da in Betracht kommen, eine außerordent­lich bedeutsame Sprache sprechen.

Ich möchte auf eine Tatsache hinweisen, die eine in eminentestem Sinne lehrreiche wäre, wenn sie richtig ins Auge gefaßt würde. Die­jenigen Menschen, die sich unbefangener interessierten für die Ent­wickelung des modernen Lebens, die haben im Beginne der neun­ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in einer gewissen Weise eine Art, nein, man könnte sagen, theoretische Überraschung erleben kön­nen, als die deutsche Sozialdemokratie, die ja die fortgeschrittenste Richtung in der Sozialdemokratie immer war, von ihrem früheren Ideal zu dem Ideal des sogenannten «Erfurter Programmes» - aus­gearbeitet im Anfange der neunziger Jahre am Erfurter Parteitage -übergegangen war. In diesen früheren Idealen, wenn ich den Aus­druck einfach für gewisse propagandistische Ziele gebrauchen darf, da lebt noch etwas, man möchte sagen, von unnaturwissenschaft­lichem Denken. Mit dem Erfurter Programm mündet die moderne Arbeiterbewegung ganz und gar ein in den Aberglauben gegenüber dem naturwissenschaftlichen Denken. Von da ab will man eigentlich erst die ganze soziale Frage innerhalb des Proletariats so bewältigen, daß man zu dieser Bewältigung nur naturwissenschaftlich geschultes Denken verwendet. Man kann sagen: In zwei Programmpunkten, in zwei Idealen lief zusammen alles dasjenige, was sozialdemokratische Ideale der Arbeiterschaft vor dem Erfurter Programm waren. Diese zwei Punkte waren erstens die Abschaffung des Systems der Lohn-arbeit, zweitens die Beseitigung aller sozialpolitischen Ungleichheit. So haben Sie diesen zwei Programmpunkten zugrunde liegend, ich möchte sagen, ein viel allgemeineres Denken noch, ein Denken, das

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aus Urteilen der Menschheit stammt, das gefühlsmäßig, instinktiv war und bewußt geworden ist in den letzten Jahrhunderten, und das im Grunde genommen mit dem Menschen als dem Mittelpunkt des sozia­len Strebens rechnet. Man will also die Lohnarbeit, das System der Lohnarbeit abschaffen. Das heißt, man will dem Menschen ein men­schenwürdiges Dasein geben dadurch - es war ja das immer unklar in den Köpfen, was wir nun aus der Geisteswissenschaft heraus klar darstellen -, daß man nicht mehr die Arbeit eines Menschen der Sache gleichstellt, die als Ware verkauft wird, daß man die Arbeitskraft nicht als Ware behandelt. Man will das System der Lohnarbeit ab­schaffen und will ein anderes System, das den Menschen nicht mehr nötigt zum Verkauf seiner persönlichen Arbeit, aufstellen. Das ist also etwas, was noch mit dem Allgemein-Menschlichen rechnet. Eben­so die Beseitigung der sozialen und politischen Ungleichheit.

Diese eigentliche Grundidee des sozialistischen Ideales früherer Zei­ten wurde aufgegeben mit dem Beginne der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts mit dem sogenannten Erfurter Programm. Und da wurden nun zwei andere Punkte geradezu die Zielpunkte. Diese zwei andern Punkte sind erstens die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigen­tum, also die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Maschinen, Grund und Boden und so weiter, die sollen aus dem Privateigentum in das gesellschaftliche Eigentum übergehen. Das war der erste Punkt. Der zweite Punkt war Umwandlung der Warenproduktion in sozia­listische Produktion, die durch und für den gesellschaftlichen Körper geleistet wird. Diese z wei Programmpunkte, die sind in der Denk-form, die in ihnen herrschend ist, ganz und gar angepaßt dem rein naturwissenschaftlichen Denken der neueren Zeit. Da ist nicht mehr die Rede davon, daß sich der Mensch irgend etwas erwerben oder er­obern soll. Da ist nicht die Rede davon, daß das System der Lohn-arbeit abgeschafft werden soll. Da ist nicht die Rede von irgendeiner Beseitigung von sozialer oder politischer Ungleichheit, sondern da ist die Rede von einem ganz vom Menschen absehenden äußeren Prozeß, der sich vollziehen soll, von etwas, das sich so unter dem Gange von Ursache und Wirkung vollziehen soll, wie sich die Naturereignisse

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selbst in ihrem Gange beherrscht von Ursache und Wirkung zeigen. Es soll einfach, ganz gleichgültig, was der Mensch dadurch für eine Umwandlung erleidet, das Privateigentum an Produktionsmitteln in Gemeineigentum an Produktionsmitteln verwandelt werden. Und es soll die Wirtschaftsordnung nicht mehr die der Warenproduktion sein, sondern die sozialistische Produktion: Die Gemeinschaft selbst soll produzieren, und das, was produziert ist, soli auch für die Gemein­schaft da sein. Warenproduktion, das heißt Produktion, die der ein­zelne aus seiner Privatinitiative heraus fördert und die dann auf den Markt geliefert wird, um auf dem Markt wiederum von den andern gekauft zu werden, die unterscheidet sich von der sozialistischen Pro­duktion dadurch, daß die sozialistische Produktion gewissermaßen das Prinzip der Eigenproduktion, wo derjenige, der etwas produziert, es auch wiederum selbst verbraucht, auf die ganze Gemeinschaft über­trägt. Die Warenproduktion rechnet mit dem individuellen Menschen. Der eine individuelle Mensch produziert etwas, gibt es auf den Markt; der andere individuelle Mensch nimmt es vom Markt durch Kauf weg. Die sozialistische Produktion kehrt wiederum zurück zur Ur-produktion, wo der einzelne dasjenige selbst produziert, was er ver­braucht - wenigstens bilden sich die Leute ein, daß es das einmal ge­geben hat -, aber jetzt soll nicht der einzelne es machen, sondern die Gemeinschaft. Der Markt hört auf, es produziert irgendeine Gemein­schaft dasjenige, was zu produzieren ist. Das Produzierte wird nicht Ware, sondern es wird verteilt auf diejenigen, die der Gemeinschaft an­gehören; die es fabrizieren, die konsumieren es auch.

Da handelt es sich also darum, die rein naturwissenschaftlichen Be­griffe auf den sozialen Organismus zu übertragen. Auf solche Unter­schiede, wie einer hervortritt in dem sozialistischen Programm vor dem Erfurter Parteitag und in dem sozialistischen Programm nach dem Erfurter Parteitag, lassen sich die Leute heute gar nicht gerne ein, weil die Leute heute überhaupt gar nicht gern denken, trotzdem sie sich auf ihr Denken so ungeheuer viel einbilden.

Nun kommt aber eine andere Misere dazu. Diese Misere können wir insbesondere dann gut studieren, wenn wir, ich möchte sagen, einen der klassischen Schriftsteller betrachten, die sich betätigt haben

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innerhalb des sozialen Rätsels, als dieses noch eine mehr theoretische Frage war, zum Beispiel Karl Kautsky. Kautsky sagt in einer seiner Schriften, indem er nachzuweisen versucht, daß die kapitalistische Wirtschaftsordnung in die sozialistische übergehen müsse, daß bei diesem Übergang die Warenproduktion als solche aufhören müsse und daß an ihre Stelle treten müsse der Eigenkonsum, so daß also der Konsument zu gleicher Zeit der Produzent ist, das heißt eine Ge­meinschaft. Aber nun wirft er zu gleicher Zeit die Frage auf: Welches kann diese Gemeinschaft sein? Und da gibt er die Antwort: Das kann natürlich nur der moderne Staat sein. - Das heißt, er gibt die Antwort, die er jedenfalls nicht hätte geben dürfen. Er hat nicht eingesehen, und die Leute von seiner Art sehen es bis heute nicht ein, daß der Staat, den sie den modernen Staat nennen, durchaus kein modernes Gebilde war. Jene Staaten, die für Mittel- und Osteuropa hinweggefegt sind, sind keine modernen Gebilde gewesen, sondern sie sind aus ganz andern Bedingungen, als sie im modernen Wirtschaftsleben enthalten sind, von alters her dagewesen, und es war einfach keine Verbindung zu sehen - in solcher Weise, wie sich diese Menschen das dachten -zwischen dem modernen Wirtschaftsleben und diesen Staatsgebilden. Daher sehen wir, daß da diese Staatsgebilde weggefegt sind. Das­jenige, was von ihnen noch zurückgeblieben ist, sind ja eigentlich Gespenster, die in den Köpfen der Menschen spuken, und es wird auch das noch hinweggefegt werden. Es wird nichts zurückbleiben, was nicht eine Frage wäre auf allen Gebieten des praktischen Lebens; es werden nur Fragen zurückbleiben. Und zur Beantwortung dieser Fragen, die nicht theoretisch sind, sondern die Tatsachen sind, wird man eben ein durch und durch neues Denken brauchen. Dieses neue Denken waltet ja, wie ich Ihnen gezeigt habe in unseren Betrachtun­gen, die wir die letzten Wochen gepflogen haben, dieses neuere Den­ken waltet ja darinnen, daß man einsehen wird, man müsse die Grund­gesetze einer Menschheitsorganisation so studieren, wie man geistes-wissenschaftlich studiert die Grundgesetze der einzelnen mensch­lichen individuellen Organisation.

Wenn wir die Grundgesetze der einzelnen menschlichen Organisa­tion studieren, so wissen Sie, wir kommen auf die Dreiheit von Sinnes-Nervensystem,

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von rhythmischem System und von Stoffwechsel-system. Und nur wenn man das Ineinandergreifen dieser drei Systeme im Organismus versteht, versteht man dasjenige, was der Mensch in der Zeit ist. Dem entspricht auf dem Gebiete des äußeren Lebens das Verständnis für die drei Glieder des sozialen Organismus, der zer­fallen muß in ein geistiges System, in ein wirtschaftliches System und

- wenn wir so sagen dürfen - in ein Rechtssystem, von dem aber aus­geschlossen ist das Privatrecht oder Strafrecht, in dem nur das äußere Rechtssystem, das politische Rechtssystem enthalten ist.

Geradeso wie die moderne Naturwissenschaft nichts wissen will von dieser Dreigliederung des Menschen und alles, was im Menschen ist, über einen Leisten schlägt, so will das moderne soziale Denken nichts wissen von dieser Dreigliederung des sozialen Körpers. Und weil sie nichts wissen will von dieser Dreigliederung des sozialen Körpers, steht sie so ratlos und wird ratlos stehen, solange sie nichts wissen will von dem, was zu geschehen hat gegenüber den großen praktischen Anforderungen, die eigentlich heute jeder Tag bringt. Es ist eben eine Regeneration des Denkens notwendig. Es ist notwendig, einzusehen, daß man mit den modernen naturwissenschaftlichen Be­griffen, die auf einem gewissen Gebiete ihren großen Dienst tun, ge­rade auf dem Gebiete des sozialen Lebens eben auch nicht einen ein­zigen Schritt wirklich vorwärtskommen kann.

Und so sehen wir ganz merkwürdige Erscheinungen eintreten. Man kann sagen, es ist ja eigentlich wahrhaftig keine absonderliche Er­scheinung mehr, daß die Leute anfangen, mehr oder weniger sozial zu denken, und es war auch schon keine absonderliche Erscheinung, daß gewisse Menschen sozial dachten, bevor diese furchtbare Kata­strophe der letzten Jahre, die ja zum Teil gerade das soziale Rätsel in seiner Urgestalt zeigt, eingetreten ist. Aber wir gewahren dann, ge­rade wenn wir die führenden Volkswirtschaftslehrer in ihren An­schauungen, in ihren Hauptgedanken betrachten, wie ratlos vor den Erscheinungen diese Leute eigentlich dastehen. Ich will Ihnen zum Beispiel eine Definition vorlesen, welche ein in gewissen Kreisen an­gesehener Volkswirtschaftslehrer, nämlich Jaff6, gegeben hat von dem, was er sich denkt als den wünschenswerten idealen Zustand

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eines sozialen Organismus. Jaffé schildert in einer Weise, die durch­aus den Begriffen entspricht, zu denen es einmal die moderne Mensch­heit auf diesem Gebiete gebracht hat, was er glaubt schildern zu müs­sen, und faßt dann zusammen, wie er sich denkt, daß der soziale Zu­stand sein müsse, der den Forderungen der modernen Menschheit, den Forderungen auch der modernen industriellen und sonstigen Ent­wickelung entspricht. Sehen Sie auf diese, ich möchte sagen, grund­gescheite Definition, die wahrhaftig nicht eines der unbedeutendsten Produkte modernen volkswirtschaftlichen Denkens bedeutet. Also ich will ganz langsam lesen, was Jaffé als den Idealzustand für den sozia­len Organismus, der da kommen soll, angibt. Es sei das «jener Zu­stand der wirtschaftlichen Organisation, in dem alle Glieder des Vol­kes verwachsen sind zu einer organischen Einheit, jeder an seinen Platz eingeordnet als dienendes Glied einer Gemeinschaft, die zuletzt ihm selber dient, die ihm nicht nur äußerlich ein menschenwürdiges Dasein sichert, sondern auch seiner Arbeit die letzte Würde verleiht, weil sie nicht individuelle Zwecke verfolgt, sondern Dienst ist für die Allgemeinheit».

Ich glaube, daß ein großer Teil derjenigen Menschen, die so recht im Sinne der Denkgewohnheiten der Gegenwart ihr Denken ent­falten, diese Definition außerordentlich treffend und geistreich finden, daß sie sogar sagen werden, sie sei alles, was ja eigentlich nur wün­schenswert sein kann. Man solle anstreben einen Zustand wirtschaft­licher Organisation, in dem jeder einzelne richtig eingegliedert ist, an seinen Platz gestellt ist, seine Arbeit verrichtet, die ihm nicht nur ein menschenwürdiges Dasein zusichert, sondern die ihm auch dadurch dient, daß er selber wiederum mit dieser Arbeit den entsprechenden Dienst der Gemeinschaft liefert. Solch eine Definition errungen zu haben, wird auf manchen, der heute glaubt, richtig denken zu kön­nen, so den Eindruck machen: Gott, wie bin ich gescheit, denn ich hab es endlich gefunden, wie das sein muß, wie eigentlich die Sache sein muß! - Und dennoch: Die Armut kommt von der Pauvreté! -Jenes ist auch eine Definition der Arbeit, und jene Definitionen unter­scheiden sich von der Definition, daß die Armut von der Pauvreté kommt, durchaus nicht. Denn diese Definition ist so, daß sie eigentlich

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ebenso gut paßt auf die gegenwärtige soziale Organisation, die wir haben, oder wenigstens bis zum Kriege gehabt haben, oder welche einzelne Staaten, wie zum Beispiel Deutschland, während des Krieges gehabt hat. Aber man kann auch sagen: Gar kein Staat der Gegenwart paßt auf diese Definition. Es ist solch eine Definition das Musterbild abstraktesten Nichtssagens. Und so kann man es heute erleben, daß die Leute Gescheitheiten an Systemen enifalten, die zuletzt eigentlich im Grunde genommen mit dem, was sie als ihre gescheiten Definitio­nen herausbringen, aber auch gar nicht einmal leise an die Wirklich­keit herantippen. Denn nehmen wir doch einmal diese Jaffé-Defini­tion. Er will schildern einen idealen wirtschaftlichen Zustand der Zu­kunft. Das soll jener Zustand wirtschaftlicher Organisation sein, in dem alle Glieder des Volkes verwachsen sind zu einer organischen Einheit. Das ist nun wirklich der Fall, sobald irgendein Staat, und zwar auch der schlechteste, da ist! Alle Glieder des Volkes sind trotz­dem irgendwie zu einer organischen Einheit verwachsen. Wenn der Mensch den Aussatz über alle seine Glieder verbreitet hat, sind auch alle Glieder mit einer Aus sätzigkeit behaftet, sind zu einer organischen Einheit verwachsen! Sie können einen aussätzigen Körper und einen gesunden Körper nämlich mit genau derselben Definition treffen, wenn Sie nur diese Definition in entsprechender Weise allgemein hal­ten. Solange Sie bei der Theorie bleiben, merkt es keiner. Wenn aber die Lage so ist wie jetzt, daß die Krankheit ausgebrochen ist und geheilt werden soll, da erweisen sich die Begriffe, die dann die Leute haben, das Urteilsvermögen, das dann die Leute haben, eben als ab­solut ungeeignet.

Dann weiter sagt er .... . wo jeder an seinem Platze eingeordnet als dienendes Glied einer Gemeinschaft ist...» Nun, das ist ja nun wirk-lich zum Beispiel innerhalb des Deutschen Reiches, mit Ausnahme der paar wenigen Leute, die absolut nichts mit einem Staate zu tun haben wollten, doch eigentlich für die meisten Menschen so der Fall gewesen, daß jeder irgendein dienendes Glied im Ganzen ist, nicht wahr. Mindestens gibt er ja den Stimmzettel ab. «Dienendes Glied einer Gemeinschaft, die zuletzt ihm selber dient», stimmt auch, stimmt für das schlechteste staatliche Gebilde. «Die ihm nicht nur äußerlich

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ein Dasein sichert», da tritt so ein bißchen etwas hervor, aber es bleibt ein Phrasenhaftes, Angehängtes, denn es ist so ein unter der übrigen Phraseologie Gesagtes. Bei «sondern auch seiner Arbeit die letzte Würde verleiht», kommt es darauf an, was man unter dieser Würde versteht. «Weil sie nicht individuelle Zwecke verfolgt, sondern Dienst ist für die Allgemeinheit», das kann auch beim schlechtesten Staate der Fall sein!

Eine gescheite Definition von einem angesehenen Volkswirtschafts-lehrer ist nichts anderes als: Armut kommt von der Pauvreté. - An dieser Eigenschaft der wesenlosen Abstraktheit leidet ein großer Teil der Menschheit heute praktisch. Kaum dämmert den Leuten auf, was als Wirklichkeit hinter den Erscheinungen webt und west. Man be­denke doch nur, wie weit die Menschen entfernt sind, so etwas wie die Dreigliederung, die wir hier als das Grundwesentliche anführen, auch nur praktisch ins Auge zu fassen! Die Menschen denken sich heute noch immer, sie könnten irgendeine Formel finden, durch welche, sagen wir zum Beispiel - es ist Schlagwort jetzt geworden -sozialisiert werden könnte. Ja, es ist das nicht viel besser, wenn auch der Vergleich ein wenig hinkt, als wenn jemand eine Wissenschaft finden sollte, durch welche verdaut werden kann. Verdauen muß der menschliche Organismus in seinem wirklichen Leben. Dazu muß er in seinem wirklichen Leben dreigeteilt sein; dann wird er schon durch das rechte Zusammenwirken der drei Glieder die Lebensfunktion in Realität entsprechend unterhalten. Gliedern Sie die Gemeinschaft wirk­lich nach der Dreiheit, dann brauchen Sie keine Formel für Soziali­sierung, dann sozialisiert sich das, was sich sozialisieren will, von selbst.

Bedenken Sie nur einmal, wie unendlich kompliziert das, was sich im menschlichen Organismus abspielt, ist. Denken Sie einmal, wenn Sie alles das ausdenken müßten, was in den zwei Stunden nach Ihrem Mittagsmahl geschieht! Sie haben gegessen, das Gegessene wird ver­daut: das ist ein ungeheuer komplizierter Prozeß, der in unzälilige Einzelheiten zerfällt. Denken Sie einmal, Sie sollten das durchdenken:

Sie könnten es natürlich durchaus nicht durchdenken! Und wenn jedermanns Verdauung davon abhinge, daß man sie durchdächte,

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dann könnten Sie nicht einen Tag leben; nicht einen einzigen Tag könnten Sie leben. Heute möchten sich da oder dort Komitees zu­sammensetzen, um die Formen zu finden, wie man sozialisiert. Nun ist aber das, was öffentliches Leben der Menschheit ist, auch ein durch und durch komplizierter Prozeß, der ebensowenig in seinen Einzel­heiten abgefangen werden kann, wie der Verdauungsprozeß zum Bei­spiel oder der Denkprozeß selbst, oder der Atmungsprozeß in seinen Einzelheiten abgefangen werden kann. Aber wenn man die dreiglied­rigen Impulse hat und zusammenwirken läßt, dann geschieht das Richtige. Nehmen Sie ein Beispiel. Man kann heute kaum einen sozia­listischen oder sozialen Schriftsteller lesen, ohne daß man staunen wird über seine außerordentlich reichen Kenntnisse. Weniger die bür­gerlichen, aber insbesondere die sozialistischen Schriftsteller haben eine Unsumme von allem möglichen statistischem und anderem histo­rischem Material zusammengetragen, bis in die neueste Zeit herein, um den notwendigen Werdegang der Menschheit bis in die Gegen­wart zu studieren. An dem, was sich entwickelt hat, wollen sie nun die Notwendigkeiten erkennen, wie man, sagen wir, sozialisieren soll. Aber bei diesem Prozesse, der sich innerhalb der menschlichen Ge­meinschaft abspielt, da geht es eigentümlich zu. Sie packen eine Er­scheinung an irgendeinem Zipfel, und sie entschiüpft ihnen sogleich am andern Zipfel! Sozialisieren sie dann, so wie es ihnen zu sozialisie­ren notwendig erscheint, indem sie beim einen Zipfel anfassen, ent­schlüpft ihnen die ganze Geschichte nach der andern Seite.

Betrachten wir das einmal etwas beispielsweise. Nehmen wir nur die eine Tatsache: Jm Jahre 1910 konnten von einem amerikanischen Werke, in welchem Eisenbahnschienen fabriziert werden, in zwei­einhalb Tagen ebensoviel Eisenbahnschienen hergestellt werden, als noch zehn Jahre vorher in einer ganzen Woche. Aber die ganze Woche wurden doch wiederum die Arbeiter beschäftigt! Nun kann man sagen, um zu einer Anschauung zu kommen über das Verhältnis von Unternehmer und Arbeiter: Diese Arbeiter produzieren in der Woche das Doppelte von dem, was 1900 produziert wurde. Natürlich arbeitet jeder Arbeiter das Doppelte für den Markt! Das merkt an verschiede­nen Verhältnissen der Arbeiter. Was durch den Arbeiter zustande

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gebracht wird, kommt natürlich in der proletarischen Frage zum Aus­druck. Der Arbeiter weiß natürlich ganz gut, daß der Unternehmer das Doppelte, mehr als das Doppelte verdient, und es ergeben sich Faktoren, wodurch der Arbeiter vom Unternehmer das Doppelte ver­langt. Aber wenn man jetzt theoretisiert und sagt: Nun ja, es kann ja dem Arbeiter, wenn auch vielleicht nicht das Doppelte, aber es kann mehr bezahlt werden, denn der Unternehmer verdient natürlich um so und so viel mehr, so hat man die Sache erst bei dem einen Zipfel erfaßt. Bei dem andern Zipfel rutscht sie einem wieder aus der Hand, denn die Schienen werden um so und so viel billiger. Und dieses Billigerwerden der Schienen, das kommt an andern Erscheinungen des sozialen Lebens wiederum zum Vorschein und korrigiert das, was als proletarische Frage auf der einen Seite erscheint. Man kann sagen: Die Verhältnisse sind im sozialen Organismus so kompliziert, daß, wenn man eben von einem Gesichtspunkte aus irgendeine Frage in Angriff nimmt, gleich andere Gesichtspunkte das, was man zu sagen hat, paralysieren.

Nehmen Sie ein anderes Beispiel. Nehmen Sie die deutsche Volks­wirtschaft. Ich habe Ihnen ja in früheren Betrachtungen ausgeführt, wie die Maschinen gewissermaßen den Menschen menschliche Ar­beitskraft abnehmen. Man kann gerade von der deutschen Volkswirt­schaft sagen, daß in den letzten Jahrzehnten - sie hat ja da einen un­geheueren Aufschwung erlebt -, wenn man sogar von den Leistungen der Lokomotiven absieht, die Maschinen so viel geleistet haben, wie siebzig, achtzig Millionen Menschen leisten, das heißt mehr als die Bevölkerung Deutschlands. Von der Bevölkerung Deutschlands ist wiederum nur ein Teil Arbeiter, woraus folgt, daß in Deutschland bei der neueren Volkswirtschaft in den letzten Jahren vor dem Kriege ein Arbeiter dasjenige geleistet hat, was vier bis fünf Arbeiter vor der Einführung der Maschine geleistet haben. Denken Sie sich, welcher Umschwung das für das allgemeine Leben bedeutet! Aber das, was da auftritt, tritt an so vielen Punkten des Lebens auf, daß, wenn Sie irgendwie sozialisieren wollen mit Bezug auf einen Gesichtspunkt, Sie die schlimmsten Dinge mit Bezug auf andere Gesichtspunkte an­richten. Denn dieses soziale Leben ist ebenso kompliziert wie das

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Leben irgendeines organischen Wesens. Und nicht das kann die Auf­gabe sein, in irgendeine Formel zu bringen, wie die Dinge zu ge­schehen haben, sondern dem sozialen Organismus diejenige Gliede­rung zu geben, durch die er von selbst arbeitet und die Dinge so in Ordnung bringt, wie der menschliche Organismus seine Funktionen in Ordnung bringt. Darum kann es sich nur handeln.

Also Sie sehen, es muß die Sache von einer ganz andern Seite auf­gefaßt werden. Sie muß von der Seite aufgefaßt werden, in das wirk­liche Wesen des sozialen Organismus wirklich einzudringen. Das ist es, was wichtiger ist als alles Reden von Gemeinschaft und Gemein­schaftsbildung. Es wird eine außerordentlich gute Schule für die mit­teleuropäischen und osteuropäischen Länder sein, daß sie bald ein­sehen müssen, wie sie nicht mehr von Verstaatlichung der Produk­tionsmittel im gewöhnlichen Sinne reden können. Vorläufig reden die Leute nach alten Denkgewohnheiten noch von diesen Dingen und bedenken nicht, daß die Staaten ja nicht mehr da sind, daß sie fort sind, daß an ihrer Stelle etwas ganz Neues geschaffen werden muß, was noch nicht da ist. Man wird zunächst einmal Leute wählen, die noch die alten Begriffe im Kopfe haben. Die werden nach diesen alten Begriffen irgend etwas tun, was aber so wenig ein Mensch sein wird, wie der Homunkulus in der Wagnerschen Retorte. Dann wird man sehen, daß es so nicht geht und wird sich erst durch das praktische Leben überzeugen müssen, daß wirklich alle die konfusen Begriffe, welche die letzten Jahrzehnte auf die Oberfläche gebracht haben, un­möglich sind gegenüber den praktischen Situationen, vor welche die Menschheit heute gestellt ist.

Das wird Sie aufmerksam darauf machen, daß es ja vor allen Dingen sich darum handelt, erst einmal die Wirklichkeit so zu prüfen, daß man aus dieser Wirklichkeit herausbekommt: welche Gestalt können überhaupt diese sozialen Forderungen in der Gegenwart haben? Auf eines habe ich ja hier immer wieder und wiederum hingewiesen. Mö­gen die Proletarier heute sagen, was sie wollen; was heute ein Mensch sagt, ist überhaupt zumeist gleichgültig, weil das, was er sagt, in seinem Oberbewußtsein existiert, während das, was er fordert, das, worum es ihm zu tun ist, in seinem Unterbewußtsein enthalten ist.

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Man lernt heute die Menschen fast gar nicht durch das kennen, was sie reden. Durch das, was aus ihrem Unterbewußtsein heraufdämmert, durch die Art und Weise, wie die Menschen reden, lernt man sie viel mehr kennen als durch den Inhalt dessen, was sie reden. Denn der Inhalt dessen, was sie reden, ist zumeist nur der fortgepflanzte Inhalt einer absterbenden oder schon abgestorbenen Zeit. Das, was in dem Unterseelischen der Menschen sitzt, das ist dasjenige, was neu ist.

Und so sehen wir denn, daß die proletarische Bevölkerung überall hinstreut kategorische Begriffe, Worte, die ihr eingetrichtert sind aus dem Marxismus oder aus sonstigen Quellen. Und in Wahrheit ist unter den Impulsen - was ist nicht alles unter den Impulsen! -, vor allen Dingen der Impuls, die menschliche Arbeitskraft nicht mehr Ware sein zu lassen. Fragt man heute den modernen Proletarier: Was willst du eigentlich? - antwortet er: Ich will Verstaatlichung oder Ver­gesellschaftung der Produktionsmittel, ich will Sozialisierung und so weiter. - Würde er unter den verschiedenen Punkten, die man ja alle in ihrer wahren Gestalt kennenlernen kann, besonders Gewicht legen auf den Punkt: Ich will, daß meine Arbeitskraft fernerhin nicht Ware sei, sondern etwas ganz anderes -, dann würde er die Wahrheit sagen.

So ist in diesem modernen Denken das Allerallerälteste untermischt mit demjenigen, was unbewußt als die neueste, als die modernste Forderung in den Menschenseelen enthalten ist. Und dessen sind sich die Menschen wiederum nicht bewußt. Daher sehen wir eine Forde­rung auftreten, die also wirklich schon iür einen großen Teil der ge­bildeten Welt gegenstandslos geworden ist: die Forderung, die alten Gemeinschaften an die Stelle der Privatunternehmer zu setzen. Es ist eigentlich grotesk für diejenigen Staaten, die verschwunden sind, daß der Staat nun Unternehmer werden soll an Stelle der Privatunterneh­mer. Einer, der gar nicht mehr da ist, soll der Unternehmer werden! Dennoch pfuschen die Leute an dieser Frage herum. Daran sieht man eben, wie in eine Sackgasse hineingemündet ist dieses moderne Den­ken und Empfinden. Und gerade darüber, inwiefern der Staat oder irgendeine bestehende Gemeinschaft direkt an die Stelle des Privat-unternehmens treten kann oder nicht treten kann, über diese Frage wollen wir dann morgen noch genauer sprechen.

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ELFTER VORTRAG Dornach, 1. Februar 1919

Der Sozialismus ist der Meinung, daß dasjenige, was er sozialistische Wirtschaftsordnung nennt, eine unmittelbare und notwendige, ur­sachengemäße Fortsetzung sei dessen, was sich in der Wirtschafts­ordnung innerhalb der letzten Jahrhunderte in der Entwickelung der Menschheit nach und nach ergeben hat. Gewissermaßen meint der, welcher heute der proletarisch-sozialistischen Lebensauffassung ist, daß die kapitalistische Wirtschaftsordnung von selbst übergehen müsse nach und nach in die sozialistische Wirtschaftsordnung, und dies aus dem einfachen Grunde, weil innerhalb dessen, was sich herausgebildet hat in den letzten Jahrhunderten durch den Kapitalismus, die sozialistische Wirtschaftsordnung gewissermaßen schon stecke. Manche sagen, um diesen Gedankengang, wie sie glauben, präzis charakteri­sieren zu können: Jede menschliche Ordnung, jede Lebens ordnung enthält, wenn sie gewissermaßen in der Kulmination, auf dem Gipfel ihrer Entwickelung angelangt ist, dann schon den Keim für das Folgende.

Nun, äußerlich betrachtet, ich möchte sagen, statistisch betrachtet - und die Statistik lieben ja die sozialistischen Gelehrten ganz beson­ders - hat das, was ich eben auseinandergesetzt habe als sozialistische Ordnung, sehr viel für sich. Die moderne Technik hat nämlich auf gewissen Gebieten übergeführt - wir können summarisch den Vor­gang in der folgenden Weise charakterisieren -, was früher ein über­schaubarer, in der Obhut der menschlichen Individualität stehender Betrieb war, in den Großbetrieb. Man braucht nur auf die moderne Eisenindustrie als ein ganz hervorragendes Beispiel zu sehen, und man wird finden, daß diese moderne Eisenindustrie zusammenfassen mußte eine ganze Unsumme von Verrichtungen, die alle zuletzt dahin gipfeln, gewisse Produkte zu schaffen, die aber nur durch das Zusammen­wirken komplizierter Vorgänge geschaffen werden können. Um solche Riesenbetriebe, wie sie das moderne Wirtschaftsleben herausgebildet hat, betreiben zu können, bedarf es großer Kapitalmassen, Kapitalanhäufungen,

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denen gegenüber das Wirtschaftsleben früherer Zeiten eine Lächerlichkeit gewesen wäre. In diesen Kapitalanhäufungen liegt nun aber auch für den einzelnen Besitzer oder für eine Gruppe von Besitzern solcher Riesenbetriebe die Möglichkeit, eine große Arbeiter­schaft zu beschäftigen. Dadurch, daß die Betriebe sich ins Riesenhafte ausgedehnt haben, ist innerhalb der Betriebe zusammengebracht worden eine große Arbeiterschaft. Die Verkehrsverhältnisse haben außerdem noch dazu geführt, daß solche Riesenbetriebe nicht ver­einzelt stehen können, weil sie die Konkurrenz nicht aushalten würden; daß sie in einer gewissen Weise sich zusammengeschlossen haben, wodurch noch größere Umfänge einer zusammengehörigen sozialen Gruppe von Unternehmern und Arbeitern geschaffen worden ist. So meint der sozialistische Gedanke der neueren Zeit, das Wirtschafts­leben selbst habe in einer gewissen Weise zur Sozialisierung geführt, und das, was nun die Begleiterscheinungen dieser Sozialisierung seien, das müsse notwendigerweise diesen ganzen Prozeß fortsetzen.

Die Fortsetzung würde darinnen bestehen, daß nun nicht mehr der einzelne Unternehmer in weitem Umfange eine Arbeitsgemeinschaft zusammenbrächte, sondern daß die Gemeinwesen, Staat, Kommune, Genossenschaften die Unternehmer selbst werden, so daß gewisser­maßen nur der Sozialisierungsprozeß, der durch das moderne tech­nisch-wirtschaftliche Leben schon eingetreten ist, in einer geregelten Weise fortgesetzt werde.

Nun wirkt im Grunde genommen der Gedanke, den ich soeben geäußert habe, mit einer ungeheuren suggestiven Kraft auf das mo­derne Proletariat. Dieses moderne Proletariat muß von dem, der die Verhältnisse wirklich restlos ins Auge fassen will, auch hinsichtlich seiner Seelenverfassung betrachtet werden. Und da zeigt sich wirklich, daß solche Gedanken eine außerordentlich starke suggestive Kraft auf das moderne Proletariat haben. Diese suggestive Kraft beruht darauf, daß sich in der Tat der moderne Arbeiter ausgeliefert glaubt dem Unternehmertum, und daß er glaubt, dieser Auslieferung nur dadurch zu entkommen, daß er das, was der Unternehmer besorgt, selbst mitbesorgt.

Nun liegt es in der Natur der neueren Menschheit - und es wird

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dieses durch die verschiedensten Gründe bewirkt -, sich einseitigen Gedanken gerne hinzugeben. Heilung für mancherlei Verhältnisse wird nur dadurch kommen, daß man abläßt von diesem Hange, sich einseitigen Gedanken hinzugeben und daß man lernt, die Dinge all­seitig zu betrachten. So die Entwickelung des modernen kapitalistisch-technischen Wirtschaftslebens mit seiner Kulmination nach der Soziali­sierung betrachten, heißt eigentlich nichts anderes, als die modernen, naturwissenschaftlich tauglichen Gedankenformen auf das Wirt­schaftsleben anwenden. Von einem andern Gesichtspunkte aus habe ich Ihnen diese Tatsache gestern auseinandergesetzt.

Nun aber, wenn man rein naturwissenschaftlich betrachtet, so wie die naturwissenschaftliche Gedankenform in der neueren Zeit ge­worden ist, dann bleiben aus einer solchen Betrachtungsweise ge­wisse Impulse notwendig fort. Natürlich, wenn man solche Dinge auseinandersetzt, muß man mancherlei sagen, das, wenn es miß­verstanden wird, leicht anfechtbar ist. Sie wissen aber, welche Metho­den notwendig sind gerade in der geisteswissenschaftlichen Betrach­tung, und werden sich daher auch überzeugt halten davon, daß das Folgende auch nur eine Beleuchtung von einer Seite ist, aber eine Be­leuchtung von einer Seite, die man braucht.

Die rein naturwissenschaftliche Betrachtungsweise, welche die Er­scheinungen bloß nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung be­trachtet, ist im Grunde sowohl auf den gesunden als auch auf den kranken Organismus anwendbar. Sie können den gesunden Organis­mus physiologisch betrachten, und Sie werden, wenn Sie stehen­bleiben wollen bei dem, was die moderne Naturwissenschaft be­sonders liebt, überall den Zusammenhang von Ursache und Wirkung konstatieren können. Sie können aber geradeso, wenn Sie bei dieser Abstraktion - Zusammenhang von Ursache und Wirkung - stehen­bleiben, den kranken Organismus pathologisch betrachten. Auch in dem kranken Organismus hängt alles nach Ursache und Wirkung zu­sammen. Und legt man einseitig, abstrakt nur zugrunde eine nach Ursache und Wirkung orientierte Folge der Ereignisse, dann bleibt der Jmpuls, den man auf der einen Seite als gesunden, auf der andern Seite als kranken Impuls bezeichnen muß, notwendigerweise fort. Er fällt

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heraus aus der Betrachtungsweise. Das ist für die naturwissenschaft­liche Betrachtungsweise mit Bezug auf die Aufgaben, welche die Naturwissenschaft zunächst in der neueren Zeit sucht, nicht weiter schlimm. Das wird aber schlimm, wenn man dieselbe Denkweise an­wenden will auf die sozialen Vorgänge, denn da läßt sich nicht aus dem Werdeprozeß der Menschheit einfach der Unterschied zwischen dem Gesunden und dem Kranken ausschließen. Das läßt sich nicht tun. Und das ist es, was zu nächst hauptsächlich betont werden muß, daß, so wie die Menschen heute vor den durch die Wirklichkeit so brennend gewordenen sozialen Fragen stehen, ihnen eben durchaus fehlt die Möglichkeit, ein Urteil zu gewinnen, ob irgend etwas ein gesunder oder kranker Prozeß ist, ob irgend etwas gefördert werden muß oder geheilt werden muß. Deshalb, könnte man sagen, liegt eine solche Tragik über der modernen Menschheit, weil gerade dieser Unterschied, den ich eben annähernd charakterisiert habe, fehlt.

Wenn man die moderne, seit drei oder vier Jahrhunderten gehende Entwickelung der Menschheit ins Auge faßt, wenn man namentlich verfolgt, wie sich das, was Kapitalismus genannt wird, entwickelt hat, dann muß man auch noch einen andern Gesichtspunkt als den der Zu­sammendrängung der Betriebe in Großbetriebe und ähnliches ins Auge fassen. Man muß zum Beispiel die Frage durchgreifend stellen: Wie steht eigentlich die kapitalistische Produktionsweise im gesamten Ge­sellschaftsprozeß der Menschheit drinnen? Man kann darüber eigentlich nur ein Urteil gewinnen, wenn man die moderne kapitalistische Pro­duktionsweise mit Bezug auf einen gewissen Gesichtspunkt mit der Produktionsweise des ehemaligen Handwerkers vergleicht. Der ehe­malige Handwerker, er fertigte seine Produkte, er lieferte seine Pro­dukte an den Konsumenten, und durch die Bezahiung seiner Produkte war er in die Möglichkeit versetzt, seinerseits zu leben. Verfolgt man ein solches Handwerkerleben, verfolgt man überhaupt das Produk­tionsleben früherer Jahrhunderte, namentlich bis etwa zum Jahre 1300, so findet man, daß die Menschen sich haben bezahlen lassen oder Waren eingetauscht haben meinetwillen für das, was sie produziert haben. Für das, was sie produziert haben, verschaffen sie sich dasjenige, was zu ihrem Lebensunterhalte notwendig war. Das war in gewissem

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Sinne eine eingeschränkte Wirtschaft, aber es war eine Wirtschaft, welche eng gebunden war an die Persönlichkeit. Alle Hervorbringung war auch eng gebunden an persönliche Tüchtigkeit, an persönlichen Eifer, an die Ehre, die jemand darinnen sah, ein Produkt so gut als möglich zu machen und so weiter. Bedeutungsvolle moralische Im­pulse waren in der Zeit des einfachen Handwerkerlebens mit der wirtschaftlichen Ordnung verbunden.

Das alles ist anders geworden im Laufe der letzten drei bis vier Jahrhunderte. Nachdem ein Übergang war vom 15. Jahrhundert bis etwa ins 16., 17. Jahrhundert hinein, ist die Sache in den letzten drei bis vier Jahrhunderten anders geworden. Denn in diesen letzten drei bis vier Jahrhunderten entwickelte sich eigentlich erst so recht das, was man kapitalistische Produktionsweise nennen kann. Wenn man nun dem nachgeht, was der sozialen Frage wirklich zugrunde liegt und nicht abstellt auf das, was die Leute glauben, so muß folgendes Merkmal ins Auge gefaßt werden: Das Wesentliche für den Kapi­talisten, insofern er ein Glied der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ist, besteht nicht darin, sich wie der Handwerker seinen Lebensstand zu verschaffen, sondern dafür zu sorgen, daß das Kapital Zuwachs erhält, daß es sich vermehrt. Dasjenige, um was das Kapital wächst, das ist der Profit. Also nicht das Arbeiten auf den Lebens status, son­dern das Arbeiten auf den Profit hin, das ist das besonders Charakteri­stische der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Dadurch aber wird im hohen Maße das Kapital als solches verselbständigt. Nicht wahr, wenn eine gewisse Kapitalmasse sich im Laufe der Jahre durch den Produktionsprozeß vermehrt, wenn sie wächst, und wenn das gerade­zu der Zweck der Kapitalbildung ist, so wird ja von allem Persönlichen losgelöst dasjenige, was eigentlich die Hauptsache im Wirtschafts­prozeß ist. Und das ist der Gesichtspunkt, der bei der richtigen Be­urteilung der modernen sozialen Frage vor allen Dingen in Betracht kommt, diese Loslösung des Wirtschaftsprozesses von dem Per­sönlichen.

Leider haben die wenigsten Menschen der heutigen gebildeten Stände wirklich Neigung, sich mit diesen Dingen zu befassen; wenn sie dies nämlich tun würden, könnten sie schon sehen, wie der moderne

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Mensch gewissermaßen getrennt ist von alidem, was den Wirtschafts-prozeß eigentlich ausmacht. Ich frage Sie: In welchem Grade ist denn heute außerhalb ganz eng umgrenzter Kreise Freude am Produkte, das man erzeugt, vorhanden? Was durchgreifend in der Wirtschafts­ordnung früherer Epochen war, daß der Mensch zum Beispiel an jedem Schlüssel, den er hervorbrachte, seine große Freude hatte, seine Ehre dareinsetzen mußte, die Sache so gut als möglich zustande zu bringen, das ist vorbei. Der Mensch ist gewissermaßen abgetrennt von dem Wirtschaftsprozeß als solchem. Höchstens auf künstlerischem Gebiete und auf dem, was dem künstlerischen Gebiete verwandt ist, findet noch statt, was früher wie ein durchgreifendes moralisches Moment das Handwerk durchzogen hat. Man kann nicht einmal sagen, daß im geistigen Leben die Verbindung des Menschen mit seiner Lei­stung aufrechterhalten geblieben ist. Sehen Sie sich an all die Pro­fessoren, die in den oder jenen Fächern tätig sind, ob die Leute nun wirklich ganz menschlich verwachsen sind mit demjenigen, was sie hervorbringen!

Aber in umfassender Weise hängt das schon zusammen mit diesem Grundcharakter der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die ja schließlich in alles eingreift. Aus den gestrigen Schiußbemerkungen können Sie das entnehmen. Aus diesem Grundcharakter der kapita­listischen Wirtschaftsordnung geht es hervor, daß der Mensch ge­wissermaßen losgelöst ist in seinen persönlichen Aspirationen von dem objektiver und objektiver werdenden Wirtschaftsprozeß. Die Folge davon ist eine ganz weitgehende und färbt die ganze sozialistische Auffassung von heute. Es entsteht nämlich der Glaube, daß wirklich dieses ungesunde Abtrennen der menschlichen Produktion von dem Menschen selbst und dem, was ihn interessiert, gerade festgelegt werden müßte in einer neuen Wirtschaftsordnung. Wo denkt man heute daran, wiederum ein Band zu suchen zwischen dem Menschen und seinen Hervorbringungen? Im Gegenteil, man denkt daran, den Wirtschaftsprozeß so weit wie nur irgend möglich nach außen zu verlegen, vom Menschen abzusondern. Und die Folge davon würde sein, daß der Mensch auf andern Gebieten Befriedigung suchen müßte für dasjenige. was eigentlich mit seiner Persönlichkeit, was mit allen

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Interessen seines Wesens zusammenhängt. So wirkt dieses Vorurteil auf das, was man heute sozialistische Ideale nennt. Führen wir uns einmal vor Augen, worinnen das sozialistische Ideal für weite Kreise heute besteht.

Da haben wir vier Punkte, in denen wir zusammenfassen können alles dasjenige, was gewissermaßen sozialistisches Ideal mit Bezug auf die Struktur des menschlichen Gesellschaftsorganismus ist. Erstens strebt dieses sozialistische Ideal danach, daß alle Produktionsbetriebe Eigentum der Gemeinschaft werden, sei diese Gemeinschaft der Staat oder die Kommune oder Genossenschaften; daß, mit andern Worten, abgeschafft werde aller Privatbesitz an Produktionsmitteln, daß die Produktionsmittel alle Gemeineigentum werden, so daß alle Betriebe durch die Gemeinschaft auch geführt werden müssen.

Das zweite ist innerhalb des sozialistischen Ideals, daß die Produk­tion geregelt werde nach dem Bedarf, das heißt, daß die Produktion sich nicht regle frei nach Angebot und Nachfrage, daß nicht, wenn da oder dort ein Artikel verlangt wird, ein Produktionszweig für diesen Artikel eröffnet wird, sondern daß gewissermaßen staatlich oder kommunal oder genossenschaftlich festgestellt werde: Das benötigen die Leute, also errichtet die Gemeinschaft einen Produktionsbetrieb für diesen Artikel, der da benötigt wird. Ein drittes ist die demo­kratische Regelung der Arbeits- und Lohnverhälmisse, und ein viertes ist, daß jeder Mehrwert der Gemeinschaft zufällt. Damit haben wir ungefähr die vier Glieder des sozialistischen Ideals vor unsere Seele hingestellt. Ich wiederhole: Alle Produktionsbetriebe sollen Eigentum der Gemeinschaft werden, die Produktion soll geregelt werden nach dem Bedarf; die Arbeits- und Lohnverhältnisse sollen demokratisch geregelt werden; jeglicher Mehrwert, das heißt, jeglicher Profit soll an die Gemeinschaft abgeliefert werden.

In diesen vier Punkten liegt in der Tat für Millionen und Millionen von Menschen heute das, was sie anstreben. Und dem gegenüber be­steht schon die absolute Notwendigkeit, zu fragen: Wie ist es möglich, den Menschen klarzumachen, daß diese vier sogenannten Ideale absolut unmöglich sind innerhalb der wirklichen menschlichen Gemeinschaft?

Nicht wahr, wenn die Menschen vor dreißig Jahren so viel Eifer

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gezeigt hätten für die soziale Frage, als heute notgedrungen einzelne Menschen in denjenigen Ländern zeigen, wo die alten Regierungen weggejagt worden sind - in den Ländern, wo die alten Regierungen nicht weggejagt worden sind, wird noch kein Interesse gezeigt -, man könnte sogar sagen, wenn die Menschen damals einen Teil jenes Inter­esses gezeigt hätten für die soziale Frage, das sie heute zeigen, so wäre die Sache schon gut gewesen, so wäre alles anders gekommen. Aber da, wo den Leuten noch nicht das Wasser in den Mund rinnt, ist es ja heute noch nicht möglich, ein wirklich durchgreifendes Interesse für die sozialen Rätsel zu wecken. Das, was in dieser Richtung das führende, sogenannte intelligente Bürgertum versäumt hat in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten, das ist doch ungeheuerlich. Und es schickt sich an, dieselben Dinge weiter zu versäumen, nur auf einem andern Gebiete. Das, was heute vor allen Dingen notwendig ist, das ist, daß die Menschen begreifen lernen: so wie der einzelne Organis­mus geisteswissenschaftlich begriffen werden muß, so muß auch der soziale Organismus geisteswissenschaftlich begriffen werden. Man muß endlich auf diesem Gebiete hinauskommen über die wesenlosen Abstraktionen. Man kann schon anknüpfen da an tiefere menschliche Interessen, tiefere menschliche Impulse, die gerade jetzt in dieser Epo­che der Menschheit hereinwirken in die menschliche Entwickelung.

Die gegenwärtige Schläfrigkeit der Menschheit ist eine ungeheure, und notwendig ist ein Aufwachen nach einer gewissen Richtung hin. Wie oft hört man heute das sonderbare Urteil da, wo man überhaupt Geisteswissenschaft berücksichtigt: Geisteswissenschaft sei ja nicht nötig für denjenigen Menschen, der glaube und im guten alten Sinne ein Christ sei, und übrigens sei der Glaube einfach und die Geistes­wissenschaft kompliziert und es sei daher nicht einzusehen, warum man das Komplizierte für das Einfache umtauschen sollte. Aber dieses bequeme Kleben an dem Einfachen, dieses ruchlose bloße Glauben, dieses bequeme Pochen: Wir brauchen nicht daran zu denken, wir brauchen nicht nach Wahrheit zu forschen, uns gibt es der Glaube ein -, das trägt im tieferen Sinne des Wortes die Schuld an den kata­strophalen Ereignissen, in denen wir leben. Und es muß immer wieder und wiederum betont werden, daß dieses die Schuld trägt. Wehe, wenn

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sich nicht genügend Menschen im Leben finden, die Herz und Sinn haben fur eine vollige Hingabe an ernstes, innerlich arbeitsreiches Denken und Forschen nach den Wahrheiten! Denn die Zeiten sind vorüber, wo man an die geistige Welt bloß zu glauben brauchte, wo man hier im physischen Dasein auf der faulen Haut liegen durfte und glauben konnte, man werde erlöst werden von den Mächten, um die man sich nicht weiter kümmert, und die ihrerseits das ihrige beitragen werden zu der entsprechenden Erlösung. Dasjenige, worauf es an­kommt im Fortgange der Menschheit, das ist, daß der Mensch nicht bloß an Gott und die Götter glaubt, sondern daß er den Gott und die Götter in seinem eigenen Wesen wirksam sein läßt, daß er einfließen läßt die Kräfte der geistigen Welt in das, was er selber tut, was er tut im alleralltäglichsten Leben. Was wir tun vom Morgen bis zum Abend, das muß so geschehen, daß göttlich-geistige Kraft in unserem Tun ist. Es wird in unserem Tun nur sein, wenn es vor allen Dingen in unse­rem Denken ist. Den Gott tätig, nicht bloß glaubensinhaltlich in uns aufnehmen, das ist es, was die Aufgabe der modernen Menschheit ist. Nicht bloß über Gott denken, sondern so denken, daß in unseren Gedanken der Gott lebt, darauf kommt es an. Gibt man sich einem solchen Ideale hin, dann wird man schon das nötige Interesse ent­wickeln für alles dasjenige, wofür nun leider in den letzten Jahrzehn­ten von dem weitaus größten Teile der modernen Menschheit kein Interesse entwickelt worden ist.

Worauf es ankommt, das ist, daß wir die Möglichkeit finden, den Menschen klarzumachen, daß eine Umkehr in der ganzen Gedanken­welt notwendig ist. Es ist höchste Zeit; denn nachdem von den so­genannten Intellektuellen versäumt worden ist, nach dieser Richtung zu wirken, erwachen jetzt die wüstesten Instinkte der Menschheit fast über die ganze zivilisierte Welt, wenigstens über einen großen Teil der zivilisierten Welt hin. Glauben Sie, daß, wenn diese Instinkte der Menschheit eine bestimmte Kulmination, einen bestimmten Höhe­punkt erlangt haben, daß sie dann leicht zu bannen sind? Bis sie sich wiederum selbst verzehren, wird lange, lange Zeit vergehen. Nur bis zu einem gewissen Zeitpunkte hin wirkt Lehre, wirkt Vorbild zur Besänftigung, zur Zügelung der Instinkte der Menschheit. Das Tier

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in der Menschheit strebt nach der Oberfläche hin, weil versäumt wor­den ist, das Edlere in der Menschenwesenheit anzuregen. Und hier stehen wir an dem Punkt, wo über die moralische Seite der modernen sozialen Frage gesprochen werden muß. Ich sagte: Das, was ich das letzte Merkmal der kapitalistischen Wirtschaftsordnung genannt habe, Vermehrung des Kapitals als solches, das Wachsen des Kapitals, 1das hinstrebt nicht nach den Leistungen, sondern nach Profit -, das öst den Menschen los von seinem Produkte. Und in dieser Loslösung des Menschen von seinem Produkte liegt ein wesentliches Charakte­ristikon der ganzen modernen Entwickelung. Aber in der Welt ist es so, daß in der Regel nicht eine Erscheinung ohne die andere auftritt, sondern daß Erscheinungen in der verschiedensten Weise zusammen­gehören. Sie können nicht über einen weichen Erdboden gehen, ohne daß sich zu gleicher Zeit auf diesem Boden die Fußspuren eindrücken. Das ist ein Beispiel, das Sie überall anwenden können, um zu sehen, wie in der wirklichen Welt immer eins zu dem andern gehört. Was die moderne Welt zugetrieben hat der im modernen Kapitalismus lie­genden Vermehrung des Kapitals, im Wachsen des Kapitals, das hat eben auf der andern Seite - nicht einseitig logisch, aber wirklichkeits­logisch - verknüpft mit dem Aufkommen des Kapitalismus die In­teresselosigkeit, die wir in der modernen Menschheit gerade für die tiefsten Impulse der menschlichen Seele finden. Auf der einen Seite das Herausschälen der menschlichen Persönlichkeit aus dem Wirt­schaftsprozeß, auf der andern Seite die Austrocknung dieser Persön­lichkeit, die sich aus dem Wirtschaftsprozeß herausgelöst hat, gerade für die intimsten Eigenschaften des geistig-seelischen Wesens des Menschen. Beide Dinge gehören zusammen. Beide Dinge haben jenes furchtbare Treiben der modernen Großstädte, in denen der Kapitalis­mus seine besonderen Sitze aufgeschlagen hat, hervorgebracht, wo auf der einen Seite der Kapitalismus wirkt, auf der andern Seite die Interesselosigkeit für die intimsten Fragen des menschlichen innersten Wesens herrscht.

Diese Dinge sind in der äußeren Erscheinung vielfach verhüllt, und nur einer genaueren Betrachtungsweise werden sie offenbar. Sie kön­nen natürlich sagen: Es gibt doch eine große Anzahl von Menschen,

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die durchaus nicht beteiligt sind an dem modernen kapitalistischen Prozeß. - Gewiß, es sind wenige, die daran beteiligt sind in direkter Weise, aber in indirekter Weise ist die ganze moderne Menschheit, namentlich auch die gebildete moderne Menschheit an dem kapitali­stischen Prozesse beteiligt. Dadurch beteiligt, daß die Existenzen ab­hängen von der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Es sei einer ein Künstler: Wie er früher für den Fürsten produziert hat oder für den Papst, so produziert er heute für den Kapitalisten. Und wenn Sie solche Fäden, wie sie sich von der Kunst heute zum Kapitalismus schlingen, über die verschiedensten Gebiete des Lebens ziehen, dann werden Sie sehen, wie der Kapitalismus seine Fangarme nach allen Seiten ausgebreitet hat, insbesondere über das geistige Leben. Da wirkt allerdings sehr viel Unbewußtes in diesen Dingen drinnen, das, wenn man bloß die Oberfläche des Lebens ansieht, sich nicht gleich enthüllt.

Ich werde jetzt einen unbewußten oder unterbewußten Prozeß et­was charakterisieren müssen: Diese Verobiektivierung des Produk­tionsprozesses, dieses Loslösen des Produktionsprozesses von den menschlichen Aspirationen, wie sie sich vollziehen im modernen Ka­pitalismus, bedarf in gewissem Sinne der Rechtfertigung. Die Men­schen brauchen ja immer eine Rechtfertigung für dasjenige, was sie tun, und es kommt ihnen nicht darauf an, wenn sie sich rechtfertigen wollen, die Wahrheit zu erforschen, sondern es kommt ihnen nur dar­auf an, etwas zu sagen, was sie rechtfertigt. Nehmen Sie ein nahe­liegendes Beispiel. Die Entente hat gesiegt; es handelt sich darum, diesen Sieg zu rechtfertigen. Daher sagt man dasjenige, was eben von der Entente heute gesagt wird, nicht, weil das die Wahrheit ist, son­dern weil man den Sieg rechtfertigen muß. So ist es auch im einzelnen menschlichen Leben. Was liegt den meisten Menschen an der wirk­lichen Ergründung der Wahrheit! Es liegt ihnen an der Rechtferti­gung desjenigen, was sie tun. Das ist es, was der Kapitalismus will:

Vor allen Dingen rechtfertigen sein Dasein. Er kann es nur recht­fertigen, wenn er den alleräußersten materiellen Prozeß, den materiell­sten wirtschaftlichen Prozeß in seinem Spiegelbilde, in der Vermeh­rung des Kapitals beobachtet. Dann aber muß, wenn gerechtfertigt

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sein soll in dieser physischen Welt die kapitalistische Wirtschafts­ordnung, ausgeschaltet sein alles das, was geistig-seelische Angelegen­heiten sind. Die müssen auf ein besonderes Gebiet kommen. Mag der Pfarrer auf seiner Kanzel über die Dinge des Glaubens sprechen, wie er will - ich kann es glauben, ein anderer kann es glauben, ich kann es lassen zu glauben, ein anderer kann es lassen zu glauben -, er redet von einer ganz andern Welt. In der Welt, in der man leben muß, da kann es nicht so zugehen, wie es der Pfarrer von der Kanzel sagt, selbstverständlich nicht, da muß es kapitalistisch zugehen.

So hat gerade der extreme Kapitalismus auf der einen Seite dieses furchtbar abstrakte moralisch-geistige Leben hervorgerufen, welches sich ganz abtrennen will von allen äußeren Wirklichkeiten des Da­seins. Ebenso schlimm im modernen Leben wie auf der einen Seite der materielle Kapitalismus, hat auf der andern Seite gewirkt jene Gesinnung, die da sagt: Ach, was kümmere ich mich um Ahriman. Ahriman mag Ahriman bleiben, ich widme mich den Impulsen des Innersten meiner Seele, ich gebe mich der geistigen Welt hin, ich suche die geistige Welt so, wie ich sie in meinem Inneren finden kann; die Angelegenheiten der Seele interessieren mich. Was kümmert mich dieses ahrimanische Kredit-, Geld-, Vermögens- und Besitzwesen! Was kümmert mich der Unterschied zwischen Rente und Zins, zwi­schen Bruttoeinnahmen und Reingewinn und so weiter. Ich kümmere mich um die Angelegenheiten meiner Seele! - Aber, wie der Mensch eine Einheit ist nach Leib, Seele und Geist, und wie ihm zwischen Geburt und Tod Leib und Seele und Geist zusammengebunden sind, so sind im äußeren physischen Dasein verbunden diejenigen Impulse, die wir finden können durch das innerste Gefüge unserer Seele, und diejenigen Impulse, die in der äußeren Wirtschaftsordnung liegen. Und ebenso schuldig an dem modernen Katastrophalen, wie es auf der einen Seite die materialistischen Kapitalisten sind mit ihrer Denk-und Gesinnungsweise, ebenso schuldig sind diejenigen, die auf der andern Seite nur fromm, nur geisteswissenschaftlich sein wollen, in ihrem Sinne dieses Geisteswissenschaftliche abstrakt einschränken und sich nicht einlassen auf die Durchdringung der alltäglichen Wirklich­keit mit einem eingreifenden Denken. Das ist es, was mich immer

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wieder und wiederum bewogen hat, zu Ihnen davon zu sprechen, daß Sie doch ja nicht diese anthroposophische Geistesbewegung als eine Gelegenheit nehmen sollen, bloße Sonntagnachmittagspredigten zu hören, die einem wohitun in der Seele, weil sie einem davon sprechen, daß das Leben ein Ewiges ist und so weiter, sondern daß Sie diese anthroposophische Bewegung nehmen als den Weg, die modernen Aufgaben des Daseins, die so brennend an uns herandringen, wirklich sinngemäß anzugreifen. Und eine der ersten Notwendigkeiten ist diese: zu verstehen, wo begonnen werden muß, und daß alles nichts hilft, wenn die Menschen nicht den Zugang gewinnen zu einem un­befangenen Denken.

Und hier möchte ich am Schlusse der heutigen Betrachtungen das­jenige aussprechen, an was dann morgen bei einer praktisch-sozialen Betrachtung weiter angeknüpft werden soll. Was ich aussprechen werde, wird scheinbar sehr weit abliegen von allem sozialistischen Denken oder Denken über die soziale Frage, aber Sie werden morgen sehen, wie nahe das liegt, was scheinbar fern liegt, und wie wir gerade durch diese Betrachtungen werden zurechtrücken können die vier Punkte, die ich Ihnen als die Glieder des sozialistischen Ideals an­gegeben habe. Die Menschen sagen im Leben so oft: Die Meinungen sind verschieden, Überzeugungen sind verschieden, der eine glaubt das, der andere glaubt jenes. - Sieht das nicht so aus, als ob, wenn wir uns unserem Denken hingeben, der eine sich diese, der andere sich jene Gedanken machen kann, und diese und jene Gedanken dann berechtigt sein können? Es sieht so aus, und ist doch durchaus nicht so. Unter Berücksichtigung des Umstandes, daß eine jede Charakte­ristik einer Sache im höheren Sinne immer gewissermaßen eine Photo­graphie von der einen Seite ist, daß es also Beleuchtungen von den verschiedensten Seiten gibt - immer vorausgesetzt, daß dies berück­sichtigt wird -, haben alle Menschen über ein und dieselbe Sache die gleiche Meinung in ihrem tiefsten Inneren. Es gibt nicht zwei Men­schen in der Welt, die über ein und dieselbe Sache - wie gesagt, immer unter der gemachten Voraussetzung - nicht dieselbe Meinung haben. Das gibt es nicht. Warum reden denn die Menschen doch von verschiedenen Meinungen? Weil sich zwischen die Wahrheit und zwischen

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dasjenige, was der Mensch vernimmt in seinem Inneren, sein Emotionelles schiebt, sein egoistisches Vorurteil schiebt und ihm die Sache verzerrt, karikiert. Wahrhaftig verschieden sind die Menschen nur mit Bezug auf ihre Emotionen, nicht mit Bezug auf ihre Begriffe und Ideen. Hat man einmal den Zugang zu einem wirklichen Begriff gewonnen, so kann man über diesen Begriff nicht anderer Meinung sein als ein anderer Mensch, der ebenfalls den Zugang zu diesem Be­griff gewonnen hat. Und es ist die größte Frivolität der Seele, zu glauben, daß man ein gewisses Recht auf subjektive Meinungen habe. Dieses Recht auf subjektive Meinungen hat man nicht, sondern man hat als Mensch die Verpflichtung, hinauszudringen über seine Sub­jektivität zu dem Objektiven. Und in diesem Punkte das Richtige zu sehen, ist allerdings sehr notwendig, daß man alle die Fehlerquellen berücksichtigt, die aus den menschlichen Emotionen folgen. Ein Mensch glaubt, er kann von irgendeiner Sache überzeugt sein. Oftmals ist der Grund, warum er glaubt, daß er von irgendeiner Sache über­zeugt ist, kein anderer, als daß er zu faul ist, den Begriff wirklich ins Auge zu fassen. Ja, man muß schon auf diese innerlich moralische Seite der Menschennatur hinweisen, wenn man auf dasjenige hin­weisen will, was der heutigen Zeit not tut.

Diese heutige Zeit ist ja vor allen Dingen voller Hochmut, voller Emotionen selbst in dem, was man objektive Wissenschaft nennt, und gar nicht geneigt, den Zugang zu suchen zu dem Urteil, das in wirk­lichen Ideen und in wirklichen Begriffen liegt. Wohin sollen wir aber kommen, wenn die brennenden sozialen Rätsel, die jetzt vor der Türe stehen, aus den Emotionen der Menschen herausgelöst werden? Sie wissen: Es gibt Imaginationen, es gibt Inspirationen, es gibt Intuitio­nen. In Wahrheit liegt alles dasjenige, was mit Bezug auf die ökono­mischen, die wirtschaftlichen und wirtschaftsgesetzlichen Zusammen­hänge ergründet werden muß, in Imaginationen; alles dasjenige, was im Wirtschaftsorganismus ergründet werden muß, das liegt in Ima­ginationen. Diese Imaginationen mögen ja bei den meisten Menschen nur aus dem Unbewußten herausdämmern in Ahnungen. Aber dann sind diese Ahnungen besser als die erstudierten Begriffe, die heute vielfach in der Menschheit figurieren. Alles, was in dem lebt, das man

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nennen kann das geistige Leben, was wir so charakterisiert haben, wie wir das geistige Leben als ein Glied der künftigen Gesellschaftsord­nung charakterisiert haben, alles das beruht auf Inspirationen: geisti­ger Organismus. Und alles das, was nun wirklich losgelöst vom Men­schen existieren darf, ja losgelöst vom Menschen existieren muß, das, worinnen die Menschen gleich sein müssen, gleich, wie man sagt, vor dem Gesetze, das kann nur auf Intuitionen beruhen. Darauf beruht also der, man könnte sagen, politische Organismus. Imagination:

Wirtschafts organismus - Inspiration: Geistiger Organismus - Intui­tion: Politischer Organismus.

In dieser Weise müssen zusammenwirken wirklich Inspiration, In­tuition, Imagination in der Gestaltung der Lebensverhältnisse. Da muß man nur einmal bedenken, daß dies so ist. Und dann wird man auch einsehen, wie im Grunde genommen nur aus geisteswissenschaft­lichen Methoden heraus die sozialen Fragen, die heute vor der Türe nicht nur stehen, sondern brennen, in die Richtung ihrer Lösung gebracht werden können. Das ist es, worauf es ankommt: ablegen alle Lässigkeit, alle Bequemlichkeit im Denken, und wirklich los­gehen auf dasjenige, was die Menschenseele mit der Wirklichkeit ver­bindet. Das kann letzten Endes doch nur dahin bringen, wohin wir kommen müssen in der Gegenwart. Von diesem Gesichtspunkte aus wollen wir dann morgen die vier Glieder des sogenannten sozialisti­schen Ideals einmal charakterisieren, kritisch besprechen.

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ZWÖLFTER VORTRAG Dornach, 2. Februar 1919

Ich habe gestern angeführt die vier hauptsächlichsten Glieder des gegenwärtigen sozialistischen Programms. Sie sind, wie Sie sich er­innern werden: Erstens: Die Produktionsbetriebe sind überzuführen in Vergesellschaftung. Zweitens: Die Produktionen haben sich zu richten nach dem Bedarf. Drittens: Arbeits- und Lohnverhältnisse seien demokratisch zu regeln. Viertens: Jeglicher Mehrwert falle an die Gemeinschaft. - Wir haben schon gestern auf einiges hinweisen müssen, welches uns zeigte, daß innerhalb jener Urteils- und Emp­findungsströmungen, die zu diesem viergliedrigen Programm geführt haben, doch nicht bloß solche vom Menschen ganz losgelöste Tat­sachen liegen, wie sozialdemokratische Gesinnung heute aus dem ab­leitet, was wir ja kennengelernt haben als materialistische Geschichts­auffassung und als Lehre vom ökonomischen Klassenkampfe. Es spielen in die Dinge, die heute geworden sind, die sich namentlich als Anschauungen und als Aspirationen des Proletariats festgesetzt haben, geistige Potenzen, geistige Impulse hinein. Und es wird verhängnis­voll werden, wenn man sich nicht genügend Einsicht verschaffen will, wie stark die geistigen Impulse sind, die in den Verlauf des sozialisti­schen Denkens und sozialistischen Wollens der neueren Zeit hineinspielen. Man kann sagen: Das Auffälligste in diesem sozialistischen Denken und sozialistischen Wollen ist das absolute Mißtrauen in ein jegliches Mitsprechen der menschlichen Moralität, der menschlichen Ethik bei der Ordnung des sozialen Organismus. Es liegt einfach wie ein Bodensatz dem proletarischen Denken und Wollen zugrunde, nicht daran zu glauben, daß bei den herrschenden Klassen irgend­welche moralischen Impulse oder auch nur geistigen Impulse irgend etwas zur Lösung des sozialen Problemes beitragen könnten.

Man täusche sich über diese Dinge nicht, namentlich nicht durch den Wortlaut, der manchmal auch von Sozialisten gehört werden kann. Gewiß, dieser Wortlaut ist besonders da, wo kritisiert wird, wo über die Fehler der herrschenden Klassen gesprochen wird, so, daß

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manches in den herrschenden Klassen moralisch verurteilt wird. Aber da, wo das sozialistische Proletariat sich vollbewußt besinnt auf das­jenige, wovon es etwas erhofft in der neueren Zeit, da sagt es nur:

Selbst wenn die herrschenden Klassen sich vornehmen würden, aus moralischen Impulsen heraus irgendeine Besserung der sozialen Lage des Proletariats anzustreben, sie könnten es ja gar nicht. Eine Besse­rung kann sich nur ergeben aus dem wirklichen Klassenkampf, aus dem Kampf der ökonomischen Interessen und ökonomischen Kräfte als solchen. - Es ist außerordentlich wichtig, daß man sich das voll klarmacht. Denn was heute vielleicht noch als ein Rest eines Glaubens und Vertrauens in die moralische Kraft der herrschenden Klassen da ist, das wird auch noch verschwinden.

Klarmachen muß man sich, daß aus jenen Voraussetzungen des Kapitalismus heraus, von denen ich gestern gesprochen habe, die so-genannte Intelligenz, die intellektuellen Führer der heutigen Mensch­heit allmählich im weitesten Umkreise selber zu einem Unglauben ge­kommen sind mit Bezug auf die Kraft moralischer oder sogar geisti­ger Impulse. Auch die bürgerlichen Kreise halten ja im tiefsten Grunde ihres Herzens nicht viel von der wirksamen Kraft moralischer Im­pulse. Gewiß, sie sprechen viel von solchen moralischen Impulsen, aber gegenüber dem, wie dann diese Dinge auftreten, erscheint oftmals dieses Sprechen wie eine mehr oder weniger bewußte oder unbewußte Unwahrhaftigkeit. Denn vergessen wir niemals eine der verhängnis-vollsten Tatsachen in der Entwickelung der Menschheit der Gegen­wart, eine Tatsache, die wir von den verschiedensten Gesichtspunkten aus schon berührt haben; wir können sie etwa so charakterisieren:

Wir haben heute auf der einen Seite ein gewisses Vertrauen zu einem reinen, man möchte sagen, moralitätsfreien, geistfreien Wissen über die äußeren Naturdinge. Bedenken Sie nur, wie sehr die Gegenwart danach strebt, das Naturwissen so zu gestalten, daß nur ja keine Be­ziehung herrscht zwischen den Gedanken, die man sich über das Naturwesen macht und den Gedanken, die man sich macht über die moralische Weltenordnung. Eine charakteristische Tatsache ist ja diese, daß zum Beispiel die römisch-katholische Kirche, welche unter ihren Priestern wahrhaftig gründlich gelehrte Leute hat, darauf aufmerksam

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macht, daß die gelehrten Leute, die in ihren Reihen sind, nur ja sich bloß an die äußeren sinnlichen Tatsachen halten und nur ja nicht versuchen sollen, in das, wie man sagt, rein kausale Wissen mit Bezug auf die äußeren Tatsachen irgend etwas hineinzumischen, was auf Geistiges oder Moralisches sich bezieht. Höchstens gleichnisweise wird man das tun.

Und auf der andern Seite nehmen Sie diejenigen Dinge, die heute von den verschiedensten, als berufen geltenden Stellen und Leuten über moralische, ethische, geistige Fragen geschrieben werden. Ge­wiß, es werden mancherlei mehr oder weniger salbungsvolle oder auch nicht salbungsvolle, pathetische oder nicht pathetische, zum Mit­leid hinstrebende oder Abscheu erregen wollende ethische Impulse und Ideale aufgezählt. Aber überzeugen Sie sich einmal und nehmen Sie solche Schriften wirklich zur Hand: Fragen Sie sich, was man heute gewinnen kann gegenüber den brennenden Fragen der Gegen­wart, die man die sozialen Fragen, die sozialen Rätsel nennt, aus die­sen Ethikbüchern oder geistigen Büchern der Gegenwart? Nichts, aber auch gar nichts! Zurückgezogen in gewisser Beziehung hat sich dasjenige, was ethisches Denken ist, von dem unmittelbar, alltäglich im sozialen Leben Wirksamen. Sie können immer und immer wieder in ethischen Büchern solche Begriffe finden, wie Wohlwollen, Liebe -Liebe ist besonders beliebt -, Vornehmheit, Recht - Recht ist wieder besonders beliebt - und ähnliche Dinge. Aber so, wie da gesprochen wird, hat es keine Kraft, um im Menschen zu wirken. Es hat keine moralische Impulsivität, was da in moralischen Begriffen abstrakt an die Menschen herantritt. So hat man auf der einen Seite eine ins Ethi­sche, ins Moralische hinüberspielende Rhetorik, die nicht imstande ist, den Menschen wirklich zu ergreifen, und so hat man das, was die Menschen ergreift, die ökonomische Ordnung, die sich gar nicht mehr um diese bloß rhetorische Ethik kümmert, sondern nur noch bauen will auf die bloßen Gedanken von der Naturkausalität, und in die ökonomische, in die wirtschaftliche Ordnung der Menschheit auch nur diese Naturkausalität hineinbringen will.

Wo hören Sie heute, wenn die Leute, die aus den sogenannten intelligenten Kreisen hervorgegangen sind, ethisch reden wollen, oder

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wo lesen Sie heute, wenn die Leute ethisch schreiben wollen, etwas, was wirklich an den Menschen so herantritt, daß aus den ethischen Forderungen unmittelbar sozialökonomische werden? Das wäre heute gerade das Wesentliche, daß ein gerader Weg gehen würde von Ethik, Religion und Geistigkeit zu den alleralltäglichsten ökonomischen, volkswirtschaftlichen sozialen Fragen. Diesen Weg zu wissen, das darf nicht versäumt werden, wenn nicht noch größeres Unheil in die Menschheit hineinkommen soll, als in der letzten Zeit schon hinein-gekommen ist. Denn mit Bezug auf diese Dinge macht die soziali­stisch-proletarische Partei der Gegenwart von ihrem rechtesten Flügel zu ihrer Mitte bis zu ihrem linkesten Flügel alles dasjenige mit, was sie als Erbschaft angetreten hat von der kapitalistischen Bourgeoisie, wie sie in den letzten Jahrhunderten sich heraufentwickelt hat. Das ist ja das Eigentümliche dieser Bourgeoisie, daß sie auf der einen Seite ganz verobjektiviert, losgelöst hat den Kapitalbildungsprozeß, die Wirtschaft, von den persönlichen Aspirationen des Menschen, und daß auf der andern Seite diese Bourgeoisie, ganz gleichgültig, ob sie hinneigt zu der oder jenen traditionellen Religionsgemeinschaft oder zu irgendeiner neueren Sektenbildung, daß diese Bourgeoisie, weil sie das für vornehm, für richtig hält, das Seelenleben getrennt führen will von dem alltäglichen Leben und so alle Übersicht über das Leben verliert, jene Übersicht, die gerade den heutigen Menschen so not­wendig wäre. Ich habe Mitglieder dieser Anthroposophischen Ge­sellschaft kennengelernt, die haben zum Beispiel unter anderem eine Frage gestellt wie diese: Ja, soll man denn einen Menschen in die Ge­sellschaft hereinnehmen, der in einer Bierbrauerei ist, also mitwirkt dazu, daß die Leute Bier trinken? - Ich will hier weder für noch gegen das Biertrinken sprechen; der Ausgangspunkt der Leute war eben dieser, daß sie gegen das Biertrinken waren. Man kann in einem sol­chen Falle dann nur sagen: Ja, sehen Sie, Sie urteilen ungefähr gerade so weit, als Ihre Nase geht; denn, nicht wahr, Ihr Nasenurteil reicht gerade so weit, daß Sie das Mitglied sehen oder Nichtmitglied sehen, das in einer Bierbrauerei eine verhältnismäßig gleichgültige Stellung hat. Aber ich rede von Tatsachen. Sie haben Aktien, Sie haben auch allerlei Bankpapiere: Wissen Sie denn, wieviel Bier Sie brauen mit

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Ihren Aktien, mit Ihren Bankpapieren? Darum kümmern Sie sich gar nicht; Sie kümmern sich nur um dasjenige, was Ihnen unmittelbar vor die Nase tritt.

Nicht darum handelt es sich, irgend jemanden zu tadeln, weil er so oder so denkt, sondern darum, auf die Inkonsequenz, auf das In­kohärente, auf das Unübersichtliche dieses Denkens hinzuweisen. Denn das ist das größte Unglück in unserer Zeit, daß die Menschen aus Bequemlichkeit bei diesem unzusammenhängenden, inkohären­ten Denken, bei dieser inneren Inkonsequenz verbleiben und ver­bleiben wollen, weil sie nicht die Brücke schlagen wollen von Ethik, Religion, Geistigkeit auf der einen Seite zur andern Seite, zu dem unmittelbar realen Leben, das heute in der Gestalt der sozialen, öko­nomischen Forderungen, der sozialen Rätsel überhaupt vor diese Menschheit hintritt.

In dieser Beziehung muß in der Tat vieles noch gelernt werden. Erinnern Sie sich nur daran, wie ich doch immer wieder und wieder­um betont habe, daß bei der Behandlung der sozialen Frage in der Gegenwart das Allerwichtigste der Hinblick auf die geistigen An­gelegenheiten ist. Die Schulfragen, die Fragen des geistigen Lebens überhaupt, das sind die allerwichtigsten. Man kann sogar, wenn man tiefer in die Dinge hineinblickt, sagen: Solange ihr das geistige Leben abhängig sein lasset von der politischen Gemeinschaft, solange ihr die geistige Gemeinschaft, das geistige Leben abhängig sein laßt, auf­gesogen sein lasset von der bloßen politischen Gemeinschaft, so lange könnt ihr tun, was ihr wollt, ihr werdet nicht zurechtkommen . -Dasjenige, um was es sich handelt, ist, daß das Schulwesen frei auf sich selbst gestellt wird, daß die Behandlung der geistigen Angelegen­heiten frei auf sich gestellt wird. Und die Menschheit hat im Grunde genommen gar nicht sehr viel Zeit, dies zu tun, denn es könnte sehr bald zu spät sein dazu. Denn Zeit ist nur so lange, als man es in der Hand hat, durch das wilde Wüten der Instinkte hindurch überhaupt noch an die innere Wesenheit der Menschen heranzukommen. Ver­suchen Sie heute, Menschen, die im sozialen Chaos der Gegenwart ihre wütenden Instinkte schon entwickelt haben, versuchen Sie, ihnen zu predigen; Sie werden ausgelacht. Das ist es, warum man immer

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wieder und wiederum an die Herzen, an die Seelen appellieren möchte, daß doch gehört werde auf dasjenige, was eigentlich notwendig ist. Geradeso wie die Entwickelung in den Kapitalismus hinein in den letzten Jahrhunderten die Beschäftigung mit dem Geistigen und da­durch die Beschäftigung mit der Welt überhaupt ins völlig Unklare getrieben hat, so will anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft diese Dinge zur Klarheit bringen.

Betrachten wir einmal den ersten Punkt in dem viergliedrigen sozia­listischen Ideal: Überführung der Produktionsbetriebe in gemein­sames Eigentum, in Gesellschaftseigentum. Ja, um was es sich dabei handelt, das hängt gerade ab von geistigen Fragen, von einer klaren Einsicht in gewisse Antworten auf geistige Fragen. Was wird denn eigentlich Geisteswissenschaft, wenn sie nicht bloß als eine trockene Theorie genommen wird, den menschlichen Seelen bringen? Drei Dinge wird diese Geisteswissenschaft den menschlichen Seelen brin­gen: Erstens nicht bloß einen Glauben an irgendein Geistig-Gött­liches, sondern eine Anschauung, wenn auch vielleicht nur eine durch Begriffe vermittelte, dafür aber für den gesunden Menschenverstand erfaßbare Anschauung von den geistigen Welten. Gegenüber dem verwaschenen, oftmals pantheistischen oder möglichst unbestimmten Sprechen von der geistigen Welt gibt die anthroposophisch orien­tierte Geisteswissenschaft Anschauungen von dieser geistigen Welt, redet von ganz bestimmter Gliederung der geistigen Wesen, von einer Gliederung hierarchischer Ordnungen innerhalb der geistigen Welt, gibt Anschauungen der geistigen Welt, die ebenso konkret sind wie die Anschauungen über das mineralische, das pflanzliche, das tierische Reich innerhalb der physischen Welt. Diese Anschauungen, sie wur­den gänzlich beiseite geschoben durch die Entwickelung der letzten jahrhunderte. Bedenken Sie nur, wie heute die Menschen pochen auf den Glauben ohne Anschauung! Das ist das Charakteristische der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft, daß sie von der geistigen Welt Anschauung geben will.

Ein zweites, was diese Geisteswissenschaft dem gibt, der sie nicht bloß als nüchterne, trockene Theorie nimmt, sondern der Herz und Seele davon ergreifen läßt, ist wirkliche, unermeßlich weitgehende

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Menschenachtung und Menschenschätzung. Kann denn eine geistige Lebensauffassung, die sich so darlebt, wie sie versucht worden ist darzuleben zum Beispiel in meiner « Geheimwissenschaft im Umriß», zu etwas anderem führen, wenn sie von der ganzen Seele, nicht nur von dem theoretischen Verstande aufgenommen wird, als zu einer wirklichen Menschenschätzung? Denken Sie, der ganze Kosmos wird betrachtet, insoferne der Mensch hineingestellt ist in diesen Kosmos. Es ist ja im Grunde genommen, indem nicht bloß gesprochen wird von der Erdenentwickelung, sondern sogar von Monden-, Sonnen-und Saturnentwickelung, immer der Mensch, der betrachtet wird. Vergleichen Sie in dieser Beziehung anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft mit der gewöhnlichen Naturwissenschaft der Ge­genwart. Die läßt sich führen zu solchen Hypothesen wie der Kant­Laplaceschen. Sie geht nicht weit zurück, verglichen mit dem, zu welchem zurückgegangen wird in der Monden-, Sonnen-, Saturn-anschauung; sie geht zurück zu einem gewissen Erdenzustand. Allein in jenem philosophisch naturwissenschaftlichen Wahnsinn, den man Kant-Laplacesche Theorie nennt, ist ja längst schon der Mensch ver­loren. Da ist er nicht mehr drinnen, da ist ein grauer Urnebel, von dem diese wahnsinnige Theorie, die man heute aber als wissenschaft­lich empfindet, spricht. Diesem Verlust des Menschen schon inner­halb des Irdischen selber steht gegenüber die Betrachtung der Geistes­wissenschaft, die im ganzen Kosmos den Menschen aufsucht. Gewiß, man kann das tun, indem man auf die Sache bloß gescheite Gedanken wendet, indem man die Sache bloß theoretisch verfolgt. Wer aber das nicht bloß theoretisch verfolgt, sondern wem die Verfolgung dieser Sache innerster Gehalt seines ganzen Menschenwesens ist, für den folgt aus einer solchen Weltenbetrachtung eine in unermeßliche Wei­ten gehende Menschenschätzung, Schätzung des Menschen als solchen.

Die Schätzung des Menschen als solchen, die fehlt jener modernen Anschauung, die nur auf das äußerlich Sinnliche geht. Geisteswissen­schaft bleibt in der Wirklichkeit, ihr ist gerade die äußere Sinnlichkeit ein Scheinbild. Aber wenn man bei der äußeren Wirklichkeit stehen-bleibt, hat man kein Korrektiv, kein solches Korrektiv, wie die Gei­steswissenschaft es hat, indem sie den kosmischen Menschen betrachtet

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und dadurch zur Menschenschätzung kommt, im Gegensatz zu dem, was manchmal die sinnliche Anschauung über den Menschen aussagt. Diese materialistische Anschauung kann zu keiner Menschen-schätzung kommen; sie müßte ja unwahr sein. Sie müßte ja den ein­zelnen empirischen Menschen, den alltäglichen Menschen, das heißt das, was sie von diesem Menschen weiß, unbedingt schätzen. Nun, das geht wohl nicht gerade!

So ist die Geisteswissenschaft erstens der Weg zur geistigen An­schauung gegenüber dem bloßen Glauben, so ist sie der Weg zur echten Menschenschätzung gegenüber jener Gleichgültigkeit gegen die Menschen, die notwendigerweise aus der bloß materialistischen Anschauung folgt. Noch ein Drittes. Es gibt natürlich im Kosmos Dinge und Vorgänge außerhalb des Menschen. Wie betrachtet die Geisteswissenschaft diese Dinge und Vorgänge außerhalb des Men­schen? Alle in bezug auf den Menschen! Es wird ja nichts betrachtet als in bezug auf den Menschen. Das mineralische, das pflanzliche, das tierische Reich, mit Bezug auf den Menschen werden sie betrachtet von der Geisteswissenschaft. Das gibt eine gewisse Schätzung des­jenigen, was neben dem Menschen, oder man könnte auch sagen:

unter dem Menschen in der äußeren physischen Welt vorhanden ist. Nehmen Sie jene Empfindung, die eine echt geisteswissenschaftliche ist, und die aus der Geisteswissenschaft heraus Christian Morgenstern genommen und in dichterische Form umgeprägt hat: Der Mensch fühlt sich auf der Höhe der physischen Erdenreiche. Unter ihm ist das tierische, das pflanzliche, das mineralische Reich. Aber wenn dieses pflanzliche Reich empfindungsgemäß nachdenken könnte über das mineralische, was müßte es sich sagen? Ich neige mich in Ehrfurcht vor dir, du Mineral, denn dir verdanke ich mein Dasein. Gäbest du mir nicht den Boden, trotzdem du niedriger bist in der hierarchischen Naturordnung als ich, gäbest du mir nicht den Boden, ich könnte nicht sein. Ebenso muß sich in Ehrfurcht neigen das Tier zur Pflanze und sagen: Ich danke dir mein Dasein. - Und so hinauf. Jedes höhere Reich neigt sich in Ehrfurcht vor dem niedrigeren Reich.

So findet Geisteswissenschaft die Möglichkeit, auch die andere Welt mit Bezug auf den Menschen anzuschauen, in ein richtiges Verhältnis

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zu bringen. Nach drei Richtungen hin greift Geisteswissenschaft ein, wenn sie einzugreifen vermag in das geistige Leben, in das Leben aber auch des Materiellen in der Gegenwart: Erstens durch geistige Anschauung; zweitens durch Menschenschatzung; drittens durch rich­tige Wertung aller Dinge der Welt gegenüber dem Menschen. Ohne daß diese Dinge eintreten, bleibt jede Forderung der Sozialisierung der Produktionsbetriebe eine wesenlose Forderung. Denn solange nicht vorhanden sind die drei genannten Vorbedingungen in der Stel­lung des Menschen zur Welt, zu andern Menschen und zur Geistig­keit, so lange ist es unmöglich, daß richtige Impulse in dem Gemein­schaftsleben herrschen, das irgend etwas sozialistisch betreiben soll.

Ebensowenig ist es möglich, den zweiten Punkt irgendwie zu reali­sieren: Regelung der Produktion nach dem Bedarf. Ja, der Bedarf ist ja nicht irgend etwas, was statistisch aufgenommen werden kann und wonach sich eben anderes regeln läßt. Der Bedarf im wirklichen Leben wandelt sich fortwährend, metamorphosiert sich fortwährend. Ich bitte, ich möchte einmal, daß jemand feststellt, wie groß im Jahre 1840 der Bedarf der Menschen nach elektrischen Eisenbahnen war! Dieser Bedarf wird hervorgezaubert durch den Kulturprozeß selber, wird verwandelt durch den Kulturprozeß selbst. Wollen Sie nach einem vorhandenen Bedarf die Produktion regeln, wollen Sie der Pro­duktion nicht Initiative geben, so bringen Sie den Bedarf zur Stagna­tion. Sie können allein das richtige Verhältnis zwischen Bedarf und Produktion herstellen, wenn Sie den sozialen Organismus dreifach gliedern. Dann ist im lebendigen Zusammenwirken die Regelung von selbst da zwischen Produktion und Bedarf, wie zwischen den andern Impulsen des sozialen Organismus. - Arbeits- und Lohnverhältnisse sollen demokratisch geregelt werden. Ja, da handelt es sich darum, daß eine Demokratie gar nichts hilft, wenn nicht die richtige Men­schenschätzung zugrunde liegt, jene Menschenschätzung, die wirk­lich nur gründlich in die menschliche Seele geschrieben werden kann aus der Geisteswissenschaft heraus. Demokratie enthält immer das Ferment zu ihrem eigenen Untergang, wenn sie nicht zu gleicher Zeit den Keim zu wirklicher Menschenschätzung enthält.

Der Mehrwert - das ist der vierte Punkt - soll der Gemeinschaft

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überliefert werden. Meine lieben Freunde, ich möchte sagen: Bei einer solchen Sache ertappt man gerade das absolut in sich unmög­liche Denken einer solchen Richtung. Was ist denn der Mehrwert? Der Mehrwert ist dasjenige, was gerade das marxistische Proletariat als das Unmögliche, als das Abzuschaffende tadelt. Damit es keinen Mehrwert mehr gibt, soll eine sozialistische Ordnung begründet wer­den. In dieser sozialistischen Ordnung ist ein Wesentliches, daß kein Mehrwert mehr da wäre. Aber einer ihrer idealen Punkte ist, daß die­ser Mehrwert an die Gemeinschaft abgeliefert werden soll! Das figu­riert in der Tat unter den besonderen Punkten. Warum figuriert es? Ja, weil schon Mehrwert da sein wird, und weil die Tatsache, daß Mehrwert da sein wird, auf das Programm seinen Schatten wirft. Aber das ist der Schatten, der durchaus auf das Programm fällt. Der wirft wiederum seine ganze Finsternis zurück auf die ganze Theorie.

Und so lebt die heutige Menschheit taumelnd in einer furchtbaren Finsternis, die nur erhellt werden kann, wenn man die Unbequem­lichkeit überwindet, vom Glauben zum Anschauen, von der bloßen empirisch gegebenen Stellung des einen Menschen zum andern, zur wirklichen Menschenschätzung zu kommen, von dem bloßen Essen der Dinge und ähnlichem zu jener Würdigung der außermensch­lichen Dinge in der Welt, die ja gegeben ist, wenn man anthroposo­phisch weiß, alle Dinge auf den Menschen zu beziehen.

So eng hängt das Schicksal geisteswissenschaftlicher Bestrebungen mit den sozialen Rätseln der Gegenwart zusammen. Und mehr als jenes Bedürfnis, Geisteswissenschaft überhaupt zu verbreiten, liegt dem, welchem es ernst ist um die Geisteswissenschaft, das Bedürfnis auf der Seele: in den Menschen ein Gefühi hervorzurufen davon, wie notwendig gerade für die wichtigsten und berechtigtsten Bedürfnisse der Gegenwart eine Ausbreitung derjenigen Ideen, Gefühle und Wil­lensimpulse ist, die allein aus der Geisteswissenschaft kommen kön­nen. Nun, wir werden ja auch über diese Dinge noch weiter sprechen.

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HINWEISE

Die Vorträge vom 24. Januar bis 2. Februar 1919 waren abgedruckt in der Wochensehrift «Das Goetheanum» vom 1.November bis 13. Dezember 1942 und vom 3.Janusr bis 4.April 1948.

Hinweise auf Bände der Gesamtausgabe, bei denen kein Erscheinungsjahr angegeben ist, betreffen vorgesehene Bände.

Zu Seite:

10 Walther Rathenau, 1867-1922, Industrieller, Schriftsteller, Politiker. 1922 Außenminister, von Rechtsradikalen ermordet

die Gedanken Walther Rathenaus: Siehe Rudolf Steiner «Silvester-Empfindung und Neujahrs-Ausblick», Vorträge vom 31. Dezember 1918 und 1. Januar 1919, in «Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden? - Das dreifache Schatten­dasein unaerer Zeit und das neue Christuslicht», Bibl.-Nr. 187, Gesamtausgabe

11 f. Aufsatz: Konnte mangels näherer Angaben nicht beatimmt werden

14 Ernst Haeckel, 1834-1919

15 Rudolf Eucken, 1846-1929

Henri Bergson, 1859-1941

Otto Willmann, 1839-1920. Katholischer Pädagoge und Philosoph auf Grundlage der modernisierten aristotelisch-thomistischen Weltanschauung

16 Arthur Drews, 1865-1935. «Hat Jesus gelebt?» Berliner Religionsgespräch, Reden

über die Chriatusmythe, Berlin 1910

17 Erich Wasmann, 1859-1931. Seit 1875 Jesuit. Erforschte das Leben der Ameisen,

schrieb u.a. «Menschen- und Tierseele», Köin 1904

gelehrter Bummler: Der Name dieser Persönlichkeit konnte nicht ermittelt werden

21 Carl Vogt, 1817-1895

Jakob Moleschott, 1822-1893

W. K. Clifford, 1845-1879, Mathematiker

Herbert Spencer, 1820-1903

27 so wie wir das in diesen Tagen charakterisiert haben: Siehe « Silvester-Empfindung und Neujahrs-Ausblick» (vgl. Hinweis zu Seite 10)

30 Ich habe es neulich ausgesprochen in einem Aufsatz: «Luziferisches und Ahrimanisches in ihrem Verhältnis zum Menschen», in «Philosophie und Anthroposophie. Gesammelte Aufsätze 1904-1918», Bibl.-Nr. 35, Gesamtausgabe Dornach 1965

31 wie ich Ihnen... vor einiger Zeit vorgetragen habe: Siehe Rudolf Steiner «Geschichtliche Symptomatologie», Bibl.-Nr. 185, Gesamtausgabe Dornach 1962

246

Zu Seite:

35 Otto Zimmermann, S.J., in «Stimmen der Zeit», 48.Jg., 1918, Heft 10 und 11

39 Johannes vom Kreuz Juan de la Cruz, 1542-1591

48 Ich habe von einem andern Gesichtspunkte schon daranf anfmerksam gemacht: Im 8. und

9. Vortrag von «Geschichtliche Symptomatologie», Bibl.-Nr. 185, Gesamtausgabe Domach 1962

50 Spartakusmeusch, Spartacus, Sklavenführer, 73-71 v.Chr. Nach ihm wurde eine von Karl Liebknecht herausgegebene Zeitung 1916 benannt und die am weitesten links stehenden Kräfte der deutschen Revolution von 1918/19 hießen «Spartakisten»

61 die ich in dem Mysterienerama beschrieben habe: Im vierten Mysteriendrama «Der Seelen Erwachen», 6. Bild. «Vier Mysteriendramen, Bibl.-Nr. 14, Gesamtausgabe Dornach 1962

66 Jean-Jacques Rousseau, 1712-1778

93 Karl Heinrich Marx, 1818-1883

Gustav Schmoller, 1838-1917

Wilhelm Roseher, 1817-1894

97 Immanuel Kant, 1724-1804

99 Ku Hung-Ming: Siehe den vierten Vortrag in «Innere Entwickelungsimpulse der Menschheit. Goethe und die Krisis des 19. Jahrhunderts», Bibl.-Nr. 171, Gesamt­ausgabe Domach 1964, und den siebenten Vortrag in «Das Karma des Berufes des Menschen in Anknüpfung an Goethes Leben», Bibl.-Nr. 172, Gesamtausgabe Dornach 1964

100 Akasha-Chronik: Siehe «Aua der Akasha-Chronik», Bibl.-Nr. 11, Gesamtausgabe Dornach 1964, Sonderdruck aus der Zeitschrift «Lucifer-Gnosis», Juli1904 bis Mai 1908

123 Zu Beginn des Vortrages Gedenkworte für Frau Leyh; erscheinen in anderem Zusammenhang.

128 vierzehn Gedankenleichen des Westens: Die vierzehn Punkte Wilsons

132 ale er in späteren Jahren das merkwurdige Wort aussprach: In Eckerniann, am 12. März

1828. Wörtlich: «Wir wollen indes hoffen und erwarten, wie es etwa in einem Jahrhundert mit uns Deutschen aussieht, und ob wir es sodann dahin werden gebracht haben, nicht mehr abstrakte Gelehrte und Philosophen, sondern Men­schen zu sein.»

Herman Grimm, 1828-1902

135 Johann Kaspar Lavater, 1741-1801, Schriftsteller und protestantischer Geistlicher. Begründer der Physiognomik

Johann Bernhard Basedow, 1723-1790. Vorsteher des Philanthropianum in Dessau

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Zu Seite:

136 William Shakespare, 1564-1616

Baruch Spinoza, 1632-1677

137 Karl von Linné, 1707-1778

138 «Da ist die Notwendigkeit... »: Italienische Reise, 6. September 1787

was in dem angefübrten Goethe-Büchlein steht: « Goethes Geistesart in ihrer Offen­barung durch seinen und durch das Märchen .» Bibl.-Nr. 22, Gesamtausgabe Dorr'ach 1956

144 Earl of Shaftesbury, 1671-1713

Frans Hemsterhuis, 1721-1790

145 Martin Luther, 1483-1546

Friedrich der Große, 1712-1786

Otto, Fürst von Bismarck, 1815-1898. Gründer des Deutschen Reichs, 1871, dessen Kanzler er wurde

148 Schiller: «Gerne dien' ich den Freunden...» Aus den Xenien

Kant: «Pflicht! du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Ein­schmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst» und so weiter. «Kritik der praktischen Vernunft», 1788

152 Karl Julius Schröer, 1825-1900

182 Ferdinand Lassalle, 1825-1864, Sozialisteuführer. «Die Wissenechaft und die Arbeiter. Eine Verteidigungsrede vor dem Berliner Krimilgericht gegen die Anklage, die besitzlosen Klassen zum Haß und zur Verachtung gegen die Besitzenden öffentlich aufgereizt zu haben. » Zürich 1863

208 Erfurter Programm: 1891 aufgestelltes Programm der Sozialdemoliratischen Partei Deutschlands

211 Karl Kautsky, 1854-1939, sozialdemokratischer Theoretiker und Historiker. Auf ihn geht hauptsächlich das Erflirter Programm zurück

212 Edgar Jaff6, Professor der Nationalökonomie. Das Zitat ist nach seiner Broschüre «Volkswirtschaft und Krieg», Tübingen 1915, Seite 28

242 Christian Morgenstern, 1871-1914

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.