GA 67

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

ÖFFENTLICHE VORTRÄGE

Das Ewige in der Menschenseele
Unsterblichkeit und Freiheit

Zehn öffentliche Vorträge
gehalten in Berlin
zwischen dem 24. Januar und 20. April 191

GA 67

1962


Inhaltsverzeichnis


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ZUR EINFÜHRUNG

Aus einem Vorwort von Marie Steiner, 1940

Wir übergeben der Öffentlichkeit eine Anzahl von Vorträgen, die Rudolf Steiner in Berlin für das große Publikum gehalten hat. Berlin war der Ausgangspunkt für diese öffentliche Vortragstätigkeit gewesen. Was in anderen Städ­ten mehr in einzelnen Vorträgen behandelt wurde, konnte hier in einer zusammenhängenden Vortragsreihe zum Aus­druck gebracht werden, deren Themen ineinander übergriffen. Sie erhalten dadurch den Charakter einer sorgfältig fundierten methodischen Einführung in die Geisteswissen­schaft und konnten auf ein regelmäßig wiederkehrendes Publikum rechnen, dem es darauf ankam, immer tiefer in die neu sich erschließenden Wissensgebiete einzudringen, während den neu Hinzukommenden die Grundlagen für das Verständnis des Gebotenen immer wieder gegeben wurden.

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ZIEL UND WESEN DER GEISTESFORSCHUNG Berlin, 24. Januar 1918

Wie jetzt schon seit einer recht langen Reihe von Jahren, möchte ich auch in diesem Winter hier in Berlin eine An­zahl von Vorträgen halten über Gegenstände der Geistes­wissenschaft. Die Vorträge werden durchzogen sein von einem gemeinsamen Gedankengang, doch möchte ich die einzelnen Vorträge so gestalten, daß jeder für sich, wenig­stens in einem gewissen Sinne, als ein abgeschlossenes Gan­zes gehört werden kann.

Der heutige Vortrag ist zunächst einleitend und orien­tierend gedacht. Er soll handeln über Ziel und Wesen der hier gemeinten Geistesforschung.

Spricht man von den Zielen der Geistesforschung, so bezieht man sich eigentlich auf etwas, was Ziel zugleich jedes wahrhaft menschlichen, menschlich fühlenden und emp­findenden Herzens ist, und, man kann sagen, was Ziel ist der Menschheit, des menschlichen Erkenntnisstrebens, seit es überhaupt eine denkende, fühlende Menschheit gibt. Und dennoch: jedes Zeitalter muß dieses Ziel auf verschiedene Weise zu erreichen versuchen. Es ist ja auch auf anderen Gebieten des menschlichen Strebens so. Wenn man die ver­schiedenen Epochen der menschlichen Entwickelung an sich vorüberziehen läßt, so sieht man, daß von Zeitalter zu Zeit­alter die Charaktere der menschlichen Bestrebungen sich ändern; die Interessen werden auf immer anderes und an­deres gerichtet, die Impulse gehen aus immer anderen und anderen Ecken der menschlichen Seele hervor, das Leben

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wird von immer neuen und neuen Gesichtspunkten be­herrscht. Daher kommt es, daß das, was eigentlich uralt ist, in einer immer neuen und neuen Form von der Mensch­heit angestrebt werden muß, auch wenn sich dieses An­gestrebte auf das ewige, unvergängliche Ziel der Menschheit selber richtet. Man braucht nur daran zu denken, wie ver­schieden ist beim Menschen die Art und Weise, wie er das äußere räumliche Weltgebäude heute ansieht, von jener Art, wie er es ansah noch vor fünf bis sechs Jahrhunderten. Man könnte auf anderen Gebieten dieselbe Betrachtung an­stellen und würde finden, daß die ganze Art und Form des menschlichen Strebens und Denkens, alle Beziehungen des menschlichen Denkens zur Welt sich fortwährend ändern. Diesem Umstande will insbesondere das, was hier anthropo­sophisch orientierte Geisteswissenschaft genannt wird, Rech­nung tragen. Sie will das tiefste Ziel des menschlichen Er­kenntnisstrebens in einer solchen Weise verfolgen, wie es gerade entsprechen muß dem Charakter, der Eigenart des menschlichen Strebens in der Gegenwart und der nächsten Zukunft.

Was hier als Geisteswissenschaft gemeint ist, kann sehr leicht verkannt werden. Es wird auch sehr leicht verkannt und in den weitesten Kreisen heute noch durchaus mißver­standen. Man denkt dabei an irgend etwas Sektiererisches, stellt sich etwas vor, was wie eine neue Religionsgründung etwa auftreten will oder dergleichen. Das ist alles durchaus nicht richtig. Was diese Geisteswissenschaft will, steht eigent­lich so zum menschlichen Streben, daß es sich ausleben muß wie eine unmittelbare Fortsetzung der so tief in alles mensch­liche Denken und Vorstellen eingreifenden naturwissen­schaftlichen Weltanschauung selber. Zunächst ist diese hier gemeinte Geisteswissenschaft gar nicht etwa hervorgegangen aus einem religiösen Impuls, sondern sie ist hervorgegangen

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aus dem, was sich notwendigerweise neben die Naturwis­senschaft mit ihren großen Errungenschaften und ihren gro­ßen Einsichten in das äußere Leben des Daseins in Gemäß­heit unserer Gegenwart und Zukunft hinstellen muß. Es muß dabei immer wieder betont werden: Geisteswissen­schaft verkennt nicht die naturwissenschaftlichen Errungen­schaften, sondern anerkennt sie im tiefsten Sinne; aber gerade was die Naturwissenschaft groß, bedeutend gemacht hat, was ihr die großen Erfolge gebracht hat, das hat sie zu gleicher Zeit davon abgebracht, Mittel und Wege zu fin­den, um in das Geistesleben der Menschheit selbst einzu­dringen. Man braucht nur hinzuweisen auf das eigentliche Ziel des menschlichen Geistesstrebens, auf dasjenige, was im Mittelpunkte dieses Strebens steht, und man wird, wenn man im gegenwärtigen Wissenschaftsleben Umschau hält, sofort erkennen, daß dieses eben Gesagte richtig ist.

Der bedeutende Philosoph Eduard von Hartmann hat gegen das Ende seines Lebens eine Geschichte der Seelen-lehre geschrieben. In dieser Geschichte der Seelenlehre, die sehr bemerkenswert ist, hat er es ausgesprochen, daß eigent­lich seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts schon die wissenschaftlich, die akademisch betriebene Seelenlehre ge­rade die zwei Hauptfragen der menschlichen Seelenerkennt­nis im Grunde genommen nicht berühren kann. Diese zwei Hauptfragen sind ja keine anderen als die nach dem Ewigen in der menschlichen Seele, die man im wesentlichen die Unsterblichkeitsfrage nennt, und die andere, die Frage nach dem Wesen der menschlichen Freiheit; und im Grunde ge­nommen gipfelt alles, was auf diesem Gebiete nach Er­kenntnis strebt, darin, klare, sichere, wahrhafte Erkenntnis über diese zwei Fragen zu erringen. Und gerade über diese zwei Fragen wird man nicht Mittel und Wege finden in demjenigen, was heute wissenschaftliche Seelenlehre ist.

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Einer der vielleicht Allerbedeutendsten, die sich in der neueren Zeit mit Seelenforschung befaßt haben, der im vorigen Jahre in Zürich verstorbene Franz Brentano, der tiefe Erkenntnissehnsucht auf Fragen des Seelenlebens ver­wendet hat, er sagte schon in den siebziger Jahren des ver­flossenen Jahrhunderts, indem er das betrachtete, was aus dem wissenschaftlichen Geist der Gegenwart heraus «See­lenwissenschaft» sein kann: Diese Seelenwissenschaft befaßt sich damit, wie sich eine Vorstellung an die andere knüpft, wie die Aufmerksamkeit zur menschlichen Seele steht, was das Gedächtnis für eine Rolle spielt, wie Liebe und Haß wirken, wie die Gefühle auf- und niederwogen; allein - so meinte Franz Brentano - wenn die genaue Erforschung aller dieser Dinge zur Folge hätte, daß die Beantwortung der großen Frage über die Unsterblichkeit des besseren Tei­les in der menschlichen Natur - jene große Frage, die schon Plato und Aristoteles verfolgten - beeinträchtigt würde und weichen müßte gegenüber den Ergebnissen einer Einzel-forschung, dann wäre die Einzelforschung, trotz ihrer Exakt­heit und Genauigkeit, durchaus eitel. Und man muß sagen:

Gerade jene Art des Denkens, die so, wie sie auf naturwissenschaftlichem Gebiete sein muß, in die äußeren Ver­hältnisse der Natur eindringen kann, sie ist ungeeignet, in das menschliche Seelenleben einzudringen, und sie ist un­geeignet dazu aus dem folgenden Grunde:

Ein Ideal muß der gegenwärtige Naturforscher darin sehen, die Erscheinungen der Natur so zu verfolgen, daß sich nichts hineinmischt in dieses Verfolgen von dem, was aus der menschlichen Seele selbst, aus der, wie man sagt, subjektiven Natur der Menschenseele stammt. Ausgeschlos­sen, soll alles werden, was nicht aus den Naturregeln selbst vor den menschlichen Geist tritt, sondern was der menschliche Geist von sich aus dazutut. Wenn das Ideal der

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Naturforschung sein muß, das Subjektive der Seele auszu­schließen, kann man sich dann wundern, daß eine Denk­form, eine Vorstellungsart sich heranbildet, die gerade wegen dessen, was sie groß macht, ungeeignet ist, um in das Seelenleben einzudringen?

Das war nicht immer so. Wer den Gang der menschlichen Geistesentwickelung verfolgen kann in frühere Jahrhun­derte und Jahrtausende, der findet, daß die Naturwissen­schaft in dem Sinne, wie sie heute groß ist, ja nicht immer vorhanden war, sondern daß sie eigentlich, so wie sie heute ist, erst ein drei- bis vierhundertjähriges Alter hat.

Vorher betrachtete der Mensch auch die Natur. Aber man verfolge nur das, was der Mensch über die Natur zu wissen glaubte: In allen Erkenntnissen oder vermeintlichen Erkenntnissen über die Natur war immer etwas von der Seele vorhanden. Man sprach so über die Natur und ihre Erscheinungen, daß man immer etwas sah, was ähnlich war dem Wesen der menschlichen Seele selbst. Es ist mit vollem Recht diese Art der Naturbetrachtung versunken in das Dunkel, und eine andere Art ist heraufgekommen, die alles Seelische und Geistige in dieser Art ausschließt. Wer auf dem Standpunkte steht, daß wir es heute einmal so herrlich weit gebracht haben, auf den meisten Gebieten endlich sicher Festgestelltes zu wissen, ein solches Wissen zu haben, daß man auf die kindlichen Errungenschaften früherer Jahr­hunderte und Jahrtausende hochmütig herabsehen kann, der wird allerdings leichter mit diesen Fragen fertig werden als der, welcher etwas tiefer in die Menschenzusammen­hänge hineinsieht. Man kann mit Bezug auf die großen Errungenschaften eines Helmholtz oder eines Juijus Robert Mayer der Meinung sein, das seien eben endlich einmal die Wahrheiten, nach denen die Menschheit seit Jahrhunderten vergeblich gestrebt habe. Aber eine genauere Geschichtsbetrachtung

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zeigt, daß dies nicht so ist, daß alles Streben uns doch zurückführt auf die großen Ideen Lessings, daß die Entwickelung der Menschheit durch die Jahrhunderte und Jahrtausende eine «Erziehung der Menschheit> ist, daß die Menschheit so fortschreitet, daß sie das, was sie auffindet, deshalb auffindet, um sich immer weiter und weiter zu bringen und dadurch die verschiedenen Formen der Ent­wickelung durchzumachen. Dadurch kommt man dazu, eine besondere Form der Entwickelung sich nicht als eine end­gültige Wahrheit vorzustellen; denn ebenso wie Kopernikus anders dachte als die älteren Astronomen vor ihm, so wer­den wieder künftige Zeiten anders denken als Kopernikus. Aber man kommt zu folgendem Gedankengang: Diese neuere Zeit, insbesondere seit dem dreizehnten Jahrhun­dert, hat über die Natur ein Denken entfaltet, welches eine Stufe bildet in der menschlichen Weiterentwickelung, eine Stufe, die besonders dadurch charakterisiert werden kann, daß man sagt: Der Mensch hat gelernt, aus der Natur alles Geistige herauszutreiben, die Natur so anzusehen, daß sie ihm ihre chemische, physikalische Gesetzmäßigkeit dar­bietet, um jene Kräfte, die in das Seelenleben hineinführen, die ihn zum Geiste bringen, mit um so stärkerer Macht in dem eigenen Innern aufzusuchen. So wird gerade Natur­wissenschaft der Hinweis darauf, daß der Weg nach dem Geiste in der neueren Zeit zwar nach dem Muster und den Anforderungen der Naturwissenschaft mit der in der Na­turwissenschaft waltenden Strenge gegangen werden muß, daß aber dieser Weg zum Geiste auf innere, eigene Kräfte der Menschenseele selbst gebaut ist. Dies führt uns sogar dahin, daß die Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist, genau ebenso «Wissenschaftliches» darstellt, ebenso wissen­schaftliche Sicherheit darstellt und eine Form darin anstrebt, wie die Naturwissenschaft, daß sie aber, weil sie sich als

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ebenbürtig neben die Naturwissenschaft hinstellen will, an­dere Wege einschlagen will, und daß sie sich klar werden muß, daß man mit jenen Gedanken, Ideen und Vorstel­lungen, die für die Naturerkenntnis geeignet sind, nicht in das menschliche Seelenleben eindringen kann.

Da können wir denn gleich - und ich will ohne weitere Umschweife darauf kommen - aussprechen, daß diese hier gemeinte anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft eben an andere Erkenntniskräfte appelliert als an diejenigen, welche heute in der äußeren Wissenschaft anerkannt sind und gehandhabt werden. Gegen dieses Streben nach solchen besonderen Erkenntniskräften richtet sich ja im Grunde ge­nommen alles, was an Mißverständnissen oder gar an Un­ehrlichkeit sich anheftet an das Auftreten dieser anthropo­sophisch orientierten Geisteswissenschaft. Es muß davon gesprochen werden: Indem diese anthroposophisch orien­tierte Geisteswissenschaft das Ewige der menschlichen Seele zu finden versucht, das über Geburt und Tod hinausliegt, muß sie in die Tiefen der menschlichen Seele selbst ein­dringen, die zwar in jeder Menschenseele unablässig vor­handen sind, die immer zu finden sind, die aber mit den gegenwärtigen Methoden der Wissenschaft nicht gesucht werden können und im Grunde genommen auch nicht gesucht werden. Es handelt sich darum, daß der Mensch den ewigen Kern seines Wesens in sich trägt, daß aber dieser ewige Wesenskern in ihm erst gesucht werden muß, und daß die Kräfte, durch die er gefunden werden kann, erst aus dem Inneren der Seele heraufgeholt werden müssen. Man darf schon den Vergleich gebrauchen, den ich in mei­nem Buche «Vom Menschenrätsel» angewendet habe: Was den Menschen eigentlich zur Seelenerkenntnis führt, das «schläft» im gewöhnlichen Leben in der Seele, das muß erst erweckt werden; es muß erst aus dem gewöhnlichen

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Bewußtsein das «schauende Bewußtsein» hervorgehen. Da­mit Geisterkenntnis eintritt, ist etwas notwendig in der menschlichen Seelenverfassung, das man bezeichnen kann als ein «Aufwachen» der Seele aus dem Bewußtsein, das uns führt durch das alltägliche Leben und durch die ge­wöhnliche Wissenschaft. Es muß also etwas heraufgeholt werden, was sich da unten in den Tiefen der Seele findet.

Nun wird die Reihe der Vorträge zeigen, wie dies, was unten in der Seele als der ewige Kern liegt, heraufgeholt wer­den kann. Heute will ich nur andeuten, daß es sich bei diesem Heraufholen nicht um irgend welche äußeren Maßnahmen handelt, sondern um einen intimen inneren Seelenweg, der vor allem darauf gerichtet ist, die gewöhnlichen Seelenkräfte des Menschen kraftvoller, intensiver, stärker zu machen, als sie im gewöhnlichen Leben und in der gewöhnlichen Wissenschaft sind. Später zu schildernde und in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Wel­ten?» wie auch in anderen Schriften beschriebene Übun­gen machen es der Menschenseele möglich, solche stärkeren Kräfte aus sich selber herauszuholen und ein intensiveres Denken, ein innigeres Fühlen, ein lichtvolleres Wollen zu entwickeln, die dann imstande sind, auf die geistige Welt -in der der Mensch wurzelt, wie er als physischer Mensch in der Sinneswelt wurzelt - so hinzublicken, wie physische Augen auf Farben und Formen hinblicken, physische Ohren auf Töne hinhören. Durch solche, in späteren Vorträgen zu schildernde Übungen kommt der Mensch also dazu, das, was er sonst als Seelenkräfte anwendet, zu erkraften, zu verdichten, so daß er dadurch dahin gelangt, in seiner See­lenverfassung etwas zu entfalten, was, wenn man es heute nur ausspricht, in den weitesten Kreisen selbstverständlich eine Art Hohnlächeln hervorbringt: Er kommt dazu, zu schauen, mit geistigen Organen ebenso zu schauen, wie man

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sonst im äußeren Leben mit physischen Organen sieht und hört. Er kommt dazu, in einer Menschenwesenheit zu leben, die ebenso übersinnlich ist, wie man im gewöhnlichen Leben in der fleischlichen Sinneswelt lebt. Der Mensch kommt mit anderen Worten dazu, mit seinem ganzen Seelenwesen in einer - wenn der Ausdruck auch uneigentlich ist - «über­sinnlichen Leiblichkeit» zu leben. Diese übersinnliche Leib­lichkeit trägt der Mensch immer in sich. Zur Erkenntnis des Wesens des Menschen selbst muß sie erst aus dem Innern herausdringen. Man muß anders erkennen, wenn man die Natur erkennt, als wenn man den Geist erkennen will; man muß mit anderen Kräften in das Reich des Geistes hineinschauen als in das Reich der Natur. Wenn ich auch erst später die intimen Seelenvorgänge schildern will, die zum Geistesschauen führen, so darf ich doch schon einiges anführen, was dazu gehört.

Ein Eigentümliches tritt besonders hervor, wenn man sich die Frage vorlegt: Was macht es denn eigentlich, daß der Mensch in seinem gewöhnlichen Bewußtsein von sei­nem ewigen Seelenkern nichts weiß? Nun, die hier gemeinte Geistesforschung zeigt, daß dieses Ewige, wenn man es in das Blickfeld des geistigen Bewußtseins bringt, dann der gewöhnlichen Beobachtung und dem gewöhnlichen Denken außerordentlich leicht entschlüpft. Es geht mit dem ewigen Wesenskern des Menschen so, wie es etwa mit zarten Ge­fühlen in der Seele des Menschen geht: Sie können in der Menschenseele leben, und sie leben am intensivsten, wenn man nicht daran geht, sie mit dem gewöhnlichen Verstande zu betrachten. Will man das Licht des gewöhnlichen Ver­standes darauf werfen, so fliehen sie. So ähnlich ist es mit dem ewigen Wesenskern des Menschen. Unsere äußere Naturforschung geht auf robuste, triviale, leicht verständ­liche Begriffe; sie richtet die Beobachtung so ein, daß solche

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Begriffe in ihr walten. Wenn man mit solchen Vorstellungen, die gerade tauglich sind, um die Natur zu erkennen, das Seelenleben und seinen ewigen Kern betrachten will, flieht es. So flieht es besonders den, der heute glaubt, mit allen seinen Vorstellungen und Ideen gerade fest auf dem Boden der zeitgemäßen Naturwissenschaft zu stehen.

Und noch etwas anderes ist der Fall. Wer mit solchen Seelenkräften, wie sie in dem Buche «Wie erlangt man Er­kenntnisse der höheren Welten?» geschildert sind, an die Geisteswelt herantritt, der kann bemerken, daß die Seele eine eigentümliche Scheu, man möchte sagen, eine Art inne­rer Furcht hat, wie sie heute im Grunde genommen die wenigsten Menschen kennen, weil sie tief im Unterbewußt­sein sitzt, eine Scheu und Furcht davor, in die Tiefen der Seele hinunterzudringen, wo das Ewige der Seele lebt. Auf der anderen Seite strebt der Mensch mit allen Fasern seines Wesens danach, etwas von dem Leben der Seele zu erkennen; aber er findet doch die Wege, die dazu führen, so schwierig, daß ihn etwas wie diese innere Scheu und Furcht befällt. Gerade wenn der Mensch anfängt, solche Übungen zu machen, um, ich möchte sagen, Auge in Auge seinem Ewi­gen gegenüberzustehen, dann flieht nicht nur dieses Ewige in der geschilderten Weise, sondern die Furcht und Scheu werden sogar noch größer, steigern sich.

Noch ein anderes kommt dazu. Haben wir als Geistesforscher etwas von diesen Dingen erfaßt, und versuchen wir mit ungeschultem, geisteswissenschaftlich ungeschultem, aber naturwissenschaftlich gut geschultem Denken an die­ses nun schon Gewonnene heranzutreten, so kommt dieses Gewonnene in Verwirrung. Es ist tatsächlich so, wie wenn dies, was so großartig anwendbar ist auf die äußere Natur, dasjenige vertreiben würde, was der Mensch hervorholen kann aus seinem Innern über seine eigene Wesenheit. Dazu

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kommt weiter, daß der Mensch sehr leicht geneigt ist, aus seinen Wünschen, seinen Begierden und Vorurteilen her­aus in die Ergebnisse der Seelenforschung das hineinzu­tragen, was er darin haben möchte, daß er aus seiner Phantasie heraus dasjenige färbt, was sich in objektiver Weise ergeben soll, gerade so objektiv, wie auf dem Gebiete der Naturwissenschaft die Ergebnisse objektiv sein sollen. Das alles bringt Hindernis über Hindernis. Und wer er­kennen will, wie man es eigentlich macht, um an den Geist heranzukommen, der hat gar nicht so sehr nötig, bestimmte Übungen daraufhin anzuwenden, um gewisse in der Seele verborgene Fähigkeiten heraufzuholen; denn läßt man ihnen Freiheit, läßt man sie walten, wie sie walten wollen, sie kommen schon von selber, sie kommen nur aus den an­geführten Gründen nicht.

Ein großer Teil der Anstrengungen, die innerhalb der Übungen sich geltend machen, kommt davon, daß man die eben aufgezählten Hindernisse hinwegschaffen muß. Wer oberflächlich von der hier gemeinten Geistesforschung Kenntnis nimmt, der wird allerdings leicht denken: nun, unsere exakte Wissenschaft fordert strengeres Denken, ge­schultere Ideen-Entwickelung. Wer dagegen tiefer in die Geistesforschung eindringt, wird finden, daß sie weit mehr «Gedanken» verlangt - man darf schon sagen - als heute die offizielle Wissenschaft. Aber auf der anderen Seite ist das der Fall, daß man ein schwaches Denken kräftigen kann, ein Denken, das namentlich in der heutigen Form dadurch herausgebildet ist, daß sich die heutige Form des Denkens tragen läßt von Experiment zu Experiment und dadurch sich an eine gewisse Passivität gewöhnt. Stärker, aktiver, kräftiger muß dieses Denken werden; und nur durch die Erkraftung des Denkens ist man imstande, die Beobach­tung dann so einzurichten, daß die Ergebnisse über den

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ewigen Wesenskern des Menschen nicht fliehen, daß sie nicht zerstört werden, und daß die Scheu und Furcht, von der ich gesprochen habe, überwunden wird.

Zu alledem kommen andere Dinge, die mit Bezug auf die Geistesforschung dem heutigen Menschen recht ungewohnt sind, und die er als paradox, als sonderbar ansehen muß. Ich muß immer wieder sagen, was ich schon bei anderen Gelegenheiten betonte: Wahre Geistesforschung muß durch­aus mit inneren Mitteln arbeiten, muß durchaus die Kraft des übersinnlichen Schauens aus der gesunden Menschen-natur holen, muß dahin kommen, sich den übersinnlichen Menschenleib so zu organisieren, daß dieser unabhängig von dem physischen Menschenleib seine übersinnlichen Or­gane entwickeln kann. Diese Methoden sind entgegengesetzt denjenigen, die heute auf Schritt und Tritt den Menschen entgegentreten und in begreiflicher Weise von diesem oder jenem geschätzt und überschätzt werden, und die auch hin­einführen sollen in einer gewissen Weise in das Übersinn­liche, in das Gebiet des Ewigen der Menschennatur. Man kennt heute das, was das weite Gebiet des unterbewußten oder unbewußten Seelenlebens ist. Man weiß, wie man die menschliche Natur durch allerlei Vornahmen zu ganz an­deren Verrichtungen bringen kann, als die sogenannten nor­malen sind; man weiß, was Hypnose und Somnambulismus leisten können. Von allen diesen Dingen kann in der wahren Geistesforschung nicht die Rede sein. Alle diese Dinge machen aus dem Menschen nicht das, was Geistesforschung aus ihm machen kann: Sie machen ihn nicht unabhängiger von sei­nem physischen Leibe, sondern gerade von ihm abhängiger. Wenn man die Geistesforschung oft anklagt, daß sie den Menschen auf pathologische Züge hinführe, so ist das nicht wahr. Denn die Wege und Methoden der Geistesforschung sind denjenigen jener Bestrebungen, die in anderer Weise

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dem Seelenleben nahekommen wollen, gerade entgegen­gesetzt; diese anderen Bestrebungen machen den Menschen abhängiger von seinem gewöhnlichen Bewußtsein. Unab­hängiger, als er im gewöhnlichen Bewußtsein ist, soll er gerade durch die Methoden der Geistesforschung werden. Und auf diesem Wege der Geistesforschung erobert sich der Mensch Kräfte, die in das geistige Reich eindringen können, die aber tatsächlich demjenigen paradox erschei­nen müssen, der von ihnen nicht nähere Kenntnis sammeln will.

Was der Mensch da aus seiner Seele herausholt, sieht ganz anders aus als die gewöhnlichen Seelenkräfte. Man braucht nur darauf aufmerksam zu machen, wie der Mensch als Seelenkraft, um im gewöhnlichen Leben tüchtig zu sein, alltäglich das Gedächtnis, die Erinnerungskraft braucht. Man braucht nur darüber nachzudenken - und wir werden viel in den kommenden Vorträgen darüber zu sprechen haben -, was der Mensch wäre, wenn er in seinem Leben so dahinleben müßte, ohne daß die einzelnen Punkte seines Lebens erinnerungsgemäß zusammenhängen. Kommt der Geistesforscher dazu, aus dem geistigen Schauen heraus ein geistiges, ein übersinnliches Ereignis vor die Seele zu rufen, ein Ereignis, das wirklich aufklären kann über den ewigen Kern der menschlichen Natur, dann ist es gerade ein beson­deres Kennzeichen dieser Eroberung des Übersinnlichen, daß man sich an solche Dinge nicht im gewöhnlichen Sinne wieder erinnern kann, daß solche Ergebnisse der Geistes-forschung, die innerlich erobert werden, nicht der gewöhn­lichen Erinnerung unterliegen. Man muß - Sie können darüber in den bereits genannten Büchern nachlesen, es wird auch hier noch besprochen werden - gewisse innere Ver­richtungen pflegen, wenn man zum geistigen Schauen kom­men will. An diese Verrichtungen kann man sich erinnern.

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Hat man es durch diese Verrichtungen dazu gebracht, in den geistigen Welten eine Tatsache zu schauen, so tritt spä­ter, wenn man nachher wieder auf diese Sache zurück­kommen will, nicht jene Tatsache auf; man kann sich nur an die Seelenverrichtungen erinnern, die man gemacht hat. Die muß man wieder herbeiführen, dann kann man die Seele wieder dahin bringen, daß sie neuerlich dasselbe schaut. Gerade so, wie man das, was als Gegenstände um uns herum im Raume ist, in Begriffe und Vorstellungen fassen kann - dann ist es nicht mehr das Geschaute -, so kann man sich an die Begriffe und Vorstellungen erinnern. Will man wirklich dem Seelenleben nahetreten, so muß man sich schon herbeilassen, solche Unterscheidungen zu machen. Man muß sich an das Faktum des Wiederholens der Seelenverrichtungen gewöhnen. Ohne solche Vornahme ist an die große Frage des Menschendaseins eigentlich nicht heranzukommen.

Im gewöhnlichen Leben wissen wir, daß etwas, wenn wir es wiederholt üben, uns geläufiger wird. Das bewirkt die Macht der Gewohnheit. Was wäre auch das gewöhn­liche Leben, wenn wir nicht etwas, was wir können sollen, eben durch Wiederholung besser tun können! Es beruht doch schließlich alles Schaffen und Wirken im Leben darauf, daß wir uns gewohnheitsmäßig vervollkommnen.

Mit den geistigen Erfahrungen ist es anders. Das ist es gerade, was wieder so paradox dem Menschen vorkommen muß. Es kommt häufig vor, daß jemand solche Übungen anstellt, wie sie später besprochen werden sollen, und daß er, weil die Menschenseele immer Reservekräfte des Über­sinnlichen hat, verhältnismäßig bald gute Fortschritte macht. Ich kenne sehr viele Menschen, die an das Übersinn­liche dadurch herantreten durften, daß sie die ersten Übun­gen nur verhältnismäßig kurze Zeit machten. Dann aber

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werden sie überrascht. Sie haben vielleicht ganz bedeutende übersinnliche Erfahrungen gemacht und recht Bedeutsames gesehen. Nach einiger Zeit aber kommen diese Erlebnisse nicht wieder, sie können sie nicht wieder herbeiführen. Denn es verhält sich mit dem geistigen Erleben gerade um­gekehrt als in dem gewöhnlichen Üben der äußeren Welt. In der äußeren Welt bringt man eine Fertigkeit zu größerer Vollkommenheit, wenn man sie häufig übt. Im geistigen Schauen flieht uns durch Wiederholung, was wir schon er­reicht haben; es wird immer geringer und geringer, es geht fort. Die Anstrengungen des Menschen müssen daher im­mer größere und größere werden. Darin besteht wieder ein Eigentümliches der geistigen Übungen, daß man die Möglichkeit findet, um immer größere und größere An­strengungen zu machen, um das immer größere Fliehen der geistigen Welt zu überwinden. Diese Dinge sind natürlich alle so zu verstehen, daß sie überwunden werden können; aber sie sind das, was in bezug auf die geistige Welt ein Charakteristisches ist.

Und ein Drittes. Ich erzähle diese Einzelheiten heute deshalb, weil ich nicht im Abstrakten herumreden will, sondern auch heute schon möglichst im Konkreten die Dinge besprechen möchte. Wenn wir etwas in der äußeren Welt betrachten wollen, so sind wir gewohnt, möglichst lange die Aufmerksamkeit darauf zu richten. Für die Betrachtung des Geistigen ist etwas nötig, was man gerade bezeichnen kann als Geistesgegenwart. Denn das Allerwichtigste und We­sentlichste im Erleben tritt an die Seele aus der geistigen Welt so heran, daß es ganz schnell auftritt - und vorüber­huscht, ohne das man es beobachten kann. Deshalb ent­gehen dem Menschen die Geheimnisse der geistigen Welt, weil er nicht Geistesgegenwart genug hat. Eine der besten Übungen, um sich in der geistigen Welt zurechtzufinden, ist,

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daß man sich schon im äußeren Leben daran gewöhnt, Gei­stesgegenwart zu entwickeln, daß man sich gewöhnt, in einer Situation nicht lange zu zögern, nicht eine Viertel­stunde zu brauchen, um sich zu entschließen, diesen oder jenen Gedanken zu haben. Je mehr Geistesgegenwart man hat und besonders in Situationen, die ein rasches Denken erfordern, desto mehr schult man sich, um das zu erhaschen, was die geistige Welt bietet. Daher werden Menschen, die in gewissen Situationen des äußeren Lebens rasch entschlos­sen sind, die nicht alles zwei- und dreimal umkehren, son­dern die Sache machen und richtig machen können, auch wenn sich nur kurz die Gelegenheit dazu bietet, diese Men­schen werden am geeignetsten sein, um geistige Beobach­tungen zu machen. In späteren Vorträgen werden noch andere Dinge dargestellt werden, wie der Mensch die Kräfte entwickeln muß, um in jene Welt hineinzuschauen, wo sein ewiger Wesenskern ist.

Nun will ich nicht, daß jeder Mensch, der Geisteswissen­schaft für sich in Anspruch nehmen will, gleich selbst ein Geistesforscher durch solche Übungen werden soll. Das aber meine ich: Wie der Chemiker die chemischen Methoden, der Physiker die physikalischen Methoden entwickeln muß, um zu den chemischen und physikalischen Erfolgen zu kom­men, so müssen die entsprechenden geisteswissenschaftlichen Methoden entwickelt werden, wenn der Mensch wirklich wissenschaftlich an die geistige Welt herankommen will. Sind aber die Ergebnisse erforscht und dargestellt, dann kann der Mensch durch den gewöhnlichen gesunden Men­schenverstand, wenn er sich nur nicht beirren läßt, diese Er­gebnisse begreifen, obzwar es auch heute schon möglich ist, daß jeder, der da will, nach den hier gemeinten Methoden sich so weit bringen kann, daß er sich auch durch unmittel­bare Anschauung überzeugen kann von der Wahrheit desjenigen,

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was aus der Geistesforschung über die geistige Welt hervorgeht.

Wovon man sich besonders überzeugen kann, wenn man in der angedeuteten Weise über die Grenzen der Sinneswelt hinaustritt, ist etwas, was ich schon berührt habe: daß die­jenigen Begriffe und Vorstellungen, die gerade geeignet sind, um die äußere Natur im Sinne der großen Erfolge der Naturwissenschaft zu betrachten, nicht in gleicher Weise geeignet sind, um an die geistige Welt heranzutreten. Dies tritt einem, wenn man der Geistesforschung nahe ist, in einer besonders charakteristischen Art dann entgegen, wenn man sich durch die Geistesforschung gewöhnt hat, tiefe Rätsel des Lebens in aller möglichen Innigkeit zu empfin­den, an denen man sehr häufig, ich will nicht sagen, vorüber-geht, aber an die man noch nicht so herantritt, daß sie einem alles darbieten, was sie darbieten könnten. Geistesforschung ist durchaus gebaut auf dieselben Wahrheitsgründe der menschlichen Seele wie die Naturforschung auch; aber Gei­stesforschung wirkt doch auf die tieferen Impulse auch des Empfindungslebens, wenn das Empfindungsleben und das Gefühlsleben auch nicht Weltenrätsel lösen können. Und es kann, wenn es vertieft, erkraftet wird von den Ideen der Geisteswissenschaft, gerade an diejenigen Rätsel heran-treten, die man sonst weniger beachtet.

Lassen Sie uns ein solches Rätsel anführen, ein Rätsel, das dem Menschen oft und oft entgegentritt, das Rätsel, das sich dann enthüllt, wenn der Mensch dem entseelten mensch­lichen Körper, dem Leichnam gegenübersteht. In seiner vol­len Tiefe wird der Vergleich des menschlichen Leichnams mit dem lebenden Menschen nicht allzuoft gemacht; denn sonst würde man erkennen, daß darin einer der tiefsten Vergleiche des Lebens an uns herantritt. Denn den mensch­lichen Leichnam, der eigentlich, wenn wir ihn vor uns haben,

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das unmittelbare Problem des Todes und damit auch der Unsterblichkeit vor uns hinstellt, wir sehen ihn an, wir untersuchen ihn auch als Anatom, als Physiologe, um daraus manches Menschenrätsel zu lösen, aber wir bedenken viel zu wenig, was es heißt: Dieser entseelte Leichnam ist da; was er jetzt ist, das ist nicht mehr der «Mensch»; was er jetzt ist, hat nur seine Bedeutung dadurch, daß ein anderes in ihm nicht mehr ist, was früher in ihm war. Der entseelte Leichnam in allen seinen Formen und Zusammenhängen, er hat eigentlich nicht mehr einen ursprünglichen Sinn: Sei­nen Sinn gibt ihm etwas, was nicht mehr in ihm ist. Die Geistesforschung zeigt uns nämlich, daß es ein Analogon gibt zu diesem entseelten Leichnam, der seinen Sinn nur dadurch bekommt, daß wir wissen: Leben war in ihm, das ihm seinen Sinn gibt. Ein Analogon zu diesem entseelten Leichnam sieht die Geistesforschung in dem gewöhnlichen Vorstellen und Denken. So wenig dieser entseelte Leich­nam das Leben noch in sich trägt und verrät, so wahr er aber auch ohne dieses Leben keinen Sinn, keine Bedeutung hat, weil er nur durch dieses Leben Bedeutung erhält, so wahr hat unser gewöhnliches, gerade für die äußere Natur­betrachtung so geeignetes Denken nicht die Möglichkeit, in die übersinnlichen Geheimnisse einzudringen. Denn es ist das gewöhnliche Denken und Vorstellen den übersinnlichen Geheimnissen gegenüber so gelähmt, so tot, wie ein Leich­nam gegenüber dem Leben. Und darin hat der Materialis­mus recht: Dieses Denken, das gerade seine Triumphe in der heutigen Naturwissenschaft errungen hat, rührt davon her, daß wir während des Lebens diesen Leichnam des Denkens in uns tragen, des Denkens, das das Werkzeug des gewöhn­lichen Verstandes ist. Und mit vollem Recht sagt die mate­rialistisch orientierte Naturwissenschaft: In dem Augen­blick, wo das gewöhnliche Leben aufhört, hört auch das

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Bewußtsein auf. Denn ein anderes Bewußtsein tritt dann ein, ein Bewußtsein, das nur vorgestellt werden kann durch die Geistesforschung. Wie der menschliche Leib nur durch das Leben seinen Sinn hat, so muß etwas anderes eindringen in das menschliche Denken, dasselbe, was sonst in dem Leichnam ist, was der Leichnam abgelegt hat, und worin das gewöhnliche Denken nicht steckt. Das gewöhnliche Den­ken steckt nur in dem, was wir als Leichnam ablegen. Wir stecken im gewöhnlichen Leben nur in dem, was wir in unserem gewöhnlichen Denken haben. Wir müssen aber unabhängig werden von dem, was Leichnam werden kann. Indem die Geistesforschung anstrebt, dieses menschliche Denken, das eigentlich selbst ein Leichnam ist, hinunter­zutauchen in das, was den Leichnam durchseelt, erkraftet sich dadurch dieses Denken und bringt sich in Verbindung mit einer Welt, wo der Leichnam nie sein kann, das heißt, bringt sich in Verbindung mit der übersinnlichen Welt. Ebensowenig wie der Leichnam sein wahres Wesen, seinen inneren Sinn durch das hat, was er noch ist, so wenig hat dieses Denken sein Wesen in sich. Und wie das Leben in den menschlichen Körper hineinfahren muß, damit er das wird, was ihn aus einem bloßen Körper zu einem beseel­ten Wesen macht, so kann sich der Mensch auch im Denken mit dem verbinden, wovon der Leib verlassen wird. Gei­stesforscherische Erkenntnis ist ein realer Vorgang, kein formeller; Geistesforschung ist kein theoretischer Vor-gang. Denn Geistesforschung läßt das menschliche Denken und Vorstellen hinuntertauchen in das, was eben gerade aus dem Grunde für das gewöhnliche Bewußtsein ver­borgen bleibt, weil der Mensch im gewöhnlichen Leben nicht in diese Dinge untertauchen kann. Es bedeutet für das menschliche Erkenntnisempfinden eine ungeheure Vertie­fung, wenn man diese Parallele zieht zwischen dem ent­seelten

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Leichnam und demjenigen, was unser gewöhnliches Denken ist. Wir werden in den folgenden Vorträgen sehen, wie gerade aus der richtigen Erforschung dieses Lebens­geheimnisses, dieses Todesgeheimnisses, die Rätsel der Un­sterblichkeit vor die Seele treten und wie sie sich äußern, aber geahnt werden können schon auch aus dem, was heute hier besprochen worden ist: daß das Ziel der Geistesfor­schung das ist, das menschliche Seelenwesen in Verbindung zu bringen mit seinem ewigen Teil, mit demjenigen Teil, der nicht bloß lebt zwischen der Geburt - oder Empfäng­nis - und dem Tode, sondern der durch die Geburt herein-tritt in die eine Pforte des Lebens und mit dem Tode hin-austritt durch die andere, um durch den Tod in ein geistiges Reich einzutreten.

Das aber ist das Wesen der Geistesforschung, daß durch sie gesucht werden diejenigen Tiefen der Seele, in denen der Mensch nicht nur sein vorübergehendes Leben lebt durch die Sinne, durch seinen physischen Leib, sondern in denen er sein unsterbliches Leben lebt. Damit kann die Unsterb­lichkeitsfrage im echten Sinne eine Wissenschaftsfrage sein, und das wird der Weg des menschlichen Geistesstrebens in die Zukunft hinein sein. Und schon die Gegenwart wird dieses Streben brauchen, daß sich neben die Naturwissen­schaft eine besondere Geisteswissenschaft hinstellt; und ge­rade dann wird die Naturwissenschaft den großen, den be­deutsamen erzieherischen Wert für den Menschen haben, wenn man auf ihrem Gebiete gar nicht mehr suchen wird, was dort nicht gefunden werden kann: die menschliche Seele und ihre Betätigungen. Aber wenn man auf der an­deren Seite nach dem Ideal naturwissenschaftlicher Wahr­heit und Wahrhaftigkeit die Seele mit den Geistesmethoden ausbildet, um ebenso zu einer Geisteswissenschaft zu kom­men wie durch die naturwissenschaftlichen Methoden zur

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Naturwissenschaft, dann wird die Unsterblichkeit für die Seele zur unmittelbaren Gewißheit.

Man kann sagen: was die Geistesforschung will, das wird eigentlich heute in den weitesten Kreisen angestrebt. Man braucht gar nicht zu glauben, daß der Geistesforscher mit irgendeiner eigensinnigen Idee vor seine Zeitgenossen hintritt und ihnen etwas aufoktroyieren will, was nur ge­rade ihn beseelt. Nein, der Geistesforscher will eigentlich nichts anderes als das, was im innersten Grunde in den weitesten Kreisen auch die Seelen der gegenwärtigen Men­schen wollen. Und manches, was an unbefriedigten Ge­fühlen, an ungestillten Sehnsuchten, die bis zur Krank­haftigkeit und Nervosität gehen können, in der Gegenwart lebt, das rührt vielfach davon her, daß die Seelen der ge­genwärtigen Menschen suchen nach dem Geheimnis der geistigen Welt, und doch eigentlich nicht in der rechten Weise wissen, daß sie suchen. Die besten, die wissenschaft­lichsten Geister gehören dazu. Jetzt ist es zwar nicht so, aber man kann schon sagen, bevor diese traurigen Zeiten eingetreten sind, war es doch so, daß die Menschen gesucht haben, in Sanatorien und auf ähnlichen Wegen Heilung zu finden für etwas, was in ihren Seelen lag und was im Gefolge davon auch im körperlichen Leben dieser Men­schen aufgetreten ist. Die Menschen «wallfahrteten» nach den Sanatorien, und diese Züge waren ja viel stärker als zu anderen Zeiten die Züge nach den Wallfahrtsorten. Würde aber heute richtig verstanden werden, was Geistes­wissenschaft für die menschliche Seele sein kann, dann würde man andere Wallfahrten anstellen als nach Bädern und Kurorten, nämlich solche Wallfahrten, die die Seele hinein­führen können in die geistige Welt, aus der heraus den Menschen Kraft und Gesundheit kommen kann.

Man wird vielleicht schon aus den wenigen Andeutungen

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sehen, daß die hier gemeinte Geisteswissenschaft nicht etwas Theoretisches sein will, sondern etwas, was die Seele ver­tieft und erkrafttet, was, mit anderen Worten, Verständ­nis des wirklichen, wahrhaftigen Lebens schaffen kann. Geisteswissenschaft will nicht sein eine verworrene, un­klare, düstere Mystik; sie will etwas sein, was eingreifen kann ins Leben, was im heutigen Sinne «praktische» Men­schen im Leben machen kann. In einer Zeit der Eisenbah­nen, der Telegraphen, der Telephone, der Aëroplane und so weiter ist es unmöglich, über geistige Dinge so zu denken, wie man im Mittelalter wohl über dieselben Gegenstände gedacht hat. Und es ist heute auch ebenso unmöglich, das soziale Zusammenleben der Menschen richtig zu gestalten, wenn man nicht die Vorstellungen entwickeln kann, die lebenskraftvoll sind. Was damit gesagt sein soll, das kann man an vielen Erscheinungen der Gegenwart sehen. Ich möchte nur an ein Buch erinnern, das in der letzten Zeit erschienen ist, das in gewisser Beziehung ein bedeutsames Buch ist, das sich zwar nicht mit den Fragen der Geistes­wissenschaft, wie sie heute besprochen worden ist, beschäf­tigt, das aber überall die Sehnsucht durchblicken läßt nach einer solchen Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist. An ein Buch möchte ich erinnern, das sich beschäftigt mit den Dingen der äußeren Wirtschaft, mit jenen Dingen, welche der Menschheit notwendig sind, wenn sie einen Ausweg aus den gewaltig katastrophalen Zuständen der Gegenwart finden will. Die meisten von Ihnen werden das Buch von Walther Rathenau «Von kommenden Dingen» kennen. Es handelt von den Gegenständen der äußeren Wirtschaft, der menschlichen Notdurft, von dem, was an äußeren Einrichtungen getroffen werden soll für die künf­tige Ausgestaltung des Lebens. Aber durch das ganze Buch geht etwas wie ein roter Faden: Die Sehnsucht nach der Seele,

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die Sehnsucht nach Gesichtspunkten und Begriffen, um die Bedingungen für das Leben der Seele aus dem äußeren Leben regeln zu können. Man braucht nur wenige Sätze dieses Bu­ches auf seine Seele wirken zu lassen und wird finden, wie das gemeint ist, was ich hier sage. Walther Rathenau spricht auch von denen, die heute im Zeitalter der Mechanisierung den Geist nur zu einem Ergebnis der äußeren Körperlichkeit und der äußeren wirtschaftlichen Verhältnisse machen wol­len. Er sagt zum Beispiel in seinem Buche:

«Genug dieser Argumente. Sie setzen voraus, was sie zu beweisen haben, daß Leib das erste, Geist das zweite ist, daß Materie Geist formt. Glauben wir, daß wir Geschöpfe des Fleisches sind, so mag wer will das Leben versüßen und beschmeicheln; dann ist das Ringen um Gott und unsre Seele eitel, und es haben die das Wort, die um des Nütz­lichen und des Nutzens willen da sind. Glauben wir aber, daß der Geist sich seinen Körper formt, daß der Wille nach oben die Welt emporträgt, daß der Funke der Gott­heit in uns lebt: dann ist der Mensch sein eigenes Werk, dann ist sein Schicksal sein eigenes Werk, dann ist seine Welt sein eigenes Werk.»

Ein Mann spricht aus diesem Buche, der Anteil genom­men hat an dem, was innerhalb dieses Krieges geschaffen werden mußte, ein Mann spricht, nachdem er angeschaut bat, was sich im Laufe der letzten Jahre entwickelt hat, Lind er spricht über die Ursachen der äußeren katastrophalen Wirkungen. Und das Merkwürdige ist, daß ein Praktiker, ein ganz im Leben stehender Mann zu den Wor­ten kommt:

«Zum letzten Male habe ich im Jahr vor Kriegsausbruch auf die nahende Wende hingewiesen: Nicht aus politischer Notwendigkeit, sondern aus transzendentem Gesetz müsse das Schwere kommen... »

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Und wiederum, nachdem diese katastrophalen Ereignisse zwei Jahre gedauert haben, und Walther Rathenau dieses Buch schreibt und auf das zurückblickt, was sich bisher ereignet hat und was kommen müsse, da spricht er, der ebenso «an ehrenvolle, gottgesandte Rettung» glaubt, wie nur irgend jemand an dieses oder jenes - was man in die­sem Buche nachlesen kann - mit Bezug auf das, was für die Zukunft der Menschheit zu tun sein wird, den folgenden Satz aus:

«Und abermals sind nicht politische und militärische Gründe bestimmend, sondern transzendente!»

«Transzendente Gründe», das heißt aber solche, die aus der geistigen Welt herunterfließen! Man könnte dieses Bei­spiel, das aus diesem Buche spricht, heute durch hunderte und tausende vermehren. Es spricht ein Mensch aus dem lebhaften Bedürfnis nach dem geistig-seelischen Leben, aus dem Wunsche, die Bedürfnisse des geistig-seelischen Wesens-kernes des Menschen zum leitenden Prinzip der sozialen Ordnung zu machen. Aber indem man dieses Buch liest und es vergleicht mit den früheren Büchern Walther Rathenaus, «Zur Kritik der Zeit» und «Die Mechanik des Geistes», hat man überall das Gefühl: Die Begriffe sind schwach, sind nicht eingreifend in das Leben, sind nicht das, was tatsäch­lich diese Wirklichkeit meistern könnte, weil sie selbst nicht aus der vollen Wirklichkeit heraus stammen. In abstrakten Formen wird von der Sehnsucht der Seele, von der Trans­zendenz der Gründe für unser Handeln gesprochen; aber nirgends ist ein wirkliches Eingehen auf die geistige Welt zu bemerken. Was würde man heute von einem Menschen denken, der in der naturwissenschaftlichen Bildung der Gegenwart drinnenzustehen glaubte und etwa sagen würde:

Mich interessieren nicht Schwefel, nicht Silizium, nicht Kal­zium; das ist alles nur eines, das ist nur Stoff? Man würde

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von ihm sagen: er will nicht eingehen auf das Einzelne. Wir sprechen, wenn wir nicht abstrakte Monisten sein wollen, nicht von dem «einen Stoff», sondern von den etwa siebzig Stoffen, den Elementen, wenn wir das wirkliche Natur-gefüge verstehen wollen. So spricht man auch nicht von Geist im allgemeinen, sondern von der konkreten geisti­gen Welt, die ebenso eine Welt geistiger Wesen ist, die in unser Seelenleben eingreifen, wie es einzelne Stoffe im äuße­ren Leben gibt. Das ist aber etwas, vor dem die Gegenwart heute noch Furcht hat, wenn man in der Geisteswissenschaft von einem Eindringen in das konkrete geistige Leben spricht, das die geistige Wirklichkeit so ergreift, daß mit dem Ergreifen und Begreifen dieser Wirklichkeit auch starke, kraftvolle Begriffe gefunden werden können, kräf­tige Impulse, welche die Macht haben, auch in das äußere soziale Leben einzugreifen. Und dieser Geisteswissenschaft und diesem Ergreifen des geistigen Lebens möchten diese Vorträge dienen.

Es ist heute noch notwendig, daß man vielfach, wenn man von geisteswissenschaftlicher Forschung spricht, sich gewisser Ideen und Vorstellungen bedienen muß, von denen man­cher wohl sagt, sie seien schwierig, und man müsse sich an­strengen, um sie zu erringen. Mir schwebt vor - wenn ich diese Bemerkung machen darf - eine Gestalt der Geistes­forschung, die es in der Zukunft geben kann, eine Gestalt, die einfach, die populär ist, so daß sie jedes einfache Gemüt in sich aufnehmen kann. Das muß ja auch so sein. Physik brauchen nur einzelne Menschen, Astronomie und so weiter brauchen nur einzelne Menschen. Was Geistesforschung ist, das braucht aber jeder Mensch. Heute noch steht Geistes­forschung der übrigen Forschung fern. Sie muß sich, da­mit sie geduldet wird, heute noch auf einen Gesichtspunkt stellen, daß sie gewachsen ist den gegen sie gerichteten

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Angriffen seitens der übrigen Forschung. Würde sie heute schon wie «aus der Pistole geschossen» in ihrer einfachen Form auftreten, die sie haben kann: sie würde verlacht, würde verhöhnt werden. Heute muß sie auftreten mit schwereren Begriffen, damit sie gewappnet ist gegenüber dem, was die offizielle Wissenschaft zwar in leichter Weise, aber dennoch ihr entgegensetzen kann. Damit muß man sich abfinden.

Vor allem muß man sich damit bekannt machen, daß diese Geistesforschung etwas in unser Kulturleben hinein­führen muß, was diesem Kulturleben zu seiner innersten Gesundung ganz besonders notwendig ist. Wenn man sich näher befaßt mit dieser Geistesforschung, dann wird man sehen, daß ihre Ergebnisse einen Charakter haben, von dem man sagen kann: Es wird angestrebt ein wirkliches Sichgegenüberstellen der geistigen Welt, aber ohne alle Sen­timentalität, ohne alle falsche Mystik und Frömmelei, ohne das, was den Menschen schwach macht. Nein, gerade stark soll der Mensch dadurch werden, daß er sein Verhältnis zur geistigen Welt kennt. Daher darf man auch nicht denken, daß diese Geisteswissenschaft irgendwie sich in sektiereri­scher Weise geltend machen will, daß sie so auftreten will, als wenn sie eine neue Religionsbildung anstrebte. Das alles will sie nicht. Woraus sie sich zunächst als aus ihrer Wurzel entwickelt, das ist die moderne naturwissenschaftliche Denk­weise. Festgehalten werden muß, daß sie andere Begriffe und Erkenntnisfähigkeiten entwickeln muß als die moderne naturwissenschaftliche Forschung. Daher suche man ihren Ursprung in dem, was modernes naturwissenschaftliches Denken ist. Daß dann diese Geisteswissenschaft die beste Stütze gerade des religiösen Lebens der Menschen werden kann, daß das ja auf so vielen Gebieten, in so vielen Ver­zweigungen - leider! - so vielfach erschütterte religiöse

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Leben wieder eine Auffrischung und feste Stütze erlangen kann, das ist eine andere Frage. Das ist eine Frage, welche Dr. Rittelmeyer in einem Aufsatze, der in der Zeitschrift «Die christliche Welt» erschienen ist, vor kurzem eingehend und erschöpfend behandelt hat. Aus diesem Aufsatze kann man ersehen, was nach dem Urteil eines Urteilsfähigen diese Geisteswissenschaft gerade der Vertiefung des religiö­sen Lebens sein kann. Vielleicht wird sie es gerade deshalb sein, weil sie nicht darauf ausgegangen ist, eine neue Form neben das schon bestehende religiöse Leben hinzustellen, sondern weil sie darauf ausgegangen ist, die Frage zu be­antworten: Wie dringt man ebenso wissenschaftlich ernst in das geistige Reich ein, wie man naturwissenschaftlich in die Natur eindringt?

Geltend machen wollte ich, daß Geisteswissenschaft wirk­lich nicht etwas in der Gegenwart willkürlich Auftretendes ist, sondern die Zusammenfassung dessen, was die besten Geister der Menschheit immer gewollt haben, eine Zusam­menfassung dessen, was zum Beispiel Goethe damals durch die Seele gezogen ist, als er vor der Frage stand, die sich ihm aufgeworfen hatte durch die Idee Hallers: «Ins Innere der Natur dringt kein erschaffener Geist.» Haller, ein gro­ßer Naturforscher zur Zeit Goethes, war ein bedeutender Geist. Allein er stand auf der Seite derer, die seitdem immer zahlreicher und zahlreicher geworden sind, die da glauben, daß das menschliche Erkenntnisvermögen «Grenzen» habe. Grenzen hat gewiß das Erkenntnisvermögen, das wir auf das gewöhnliche Leben anwenden. Aber das Erkenntnisver­mögen des Menschen kann so erweitert werden, daß wir bis zu einem gewissen Grade eindringen können in das Rätsel des Ewigen in der Seele, daß man sich mit dem Rätsel des Ewigen verbinden kann. Das wird Geisteswissenschaft durch ihre Forschung darstellen können. Und sie wird mit den

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Worten Goethes, womit ich den heutigen Vortrag abschlie­ßen will, ihre Forschungsart bekräftigen können. Goethe erinnerte sich an die Worte Hallers, der, wie gesagt, einer der bedeutendsten Naturforscher seiner Zeit war, und der sagte:

«Ins Innere der Natur
Dringt kein erschaffner Geist
Glückselig, wem sie nur
Die äußre Schale weist!»

Und Goethe erwiderte darauf:

«Das hör' ich sechzig Jahre wiederholen,
und fluche drauf, aber verstohlen;
Sage mir tausend tausendmale,
Alles gibt sie reichlich und gern;
Natur hat weder Kern
Noch Schale,
Alles ist sie mit einemmale;
Dich prüfe du nur allermeist,
Ob du Kern oder Schale seist!»

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DER MENSCH ALS GEIST- UND SEELENWESEN Berlin, 7. Februar 1918

Über das Ewige in der Mensdienseele oder, wie man audi sagen könnte, über das Unsterblidikeitsproblem und über das damit zusammenhängende Freiheitsrätsel der Menschen­seele geisteswissenschaftlich zu sprechen, das ist ja die Auf­gabe des ganzen Vortragszyklus, den ich in diesem Winter hier halten möchte. Es sind dies die beiden Fragen, an welche eingestandenermaßen die naturwissenschaftliche Weltan­schauung gar nicht herankommen kann, und an welchen die bloß philosophische Weltbetrachtung immer zerschellen wird, wie das, glaube ich, hervorgeht aus meinem Buche «Die Rätsel der Philosophie» und aus einer unbefangenen Betrachtung der geschichtlichen Entwickelung der Philoso­phie überhaupt.

Heute möchte ich eine Teilfrage möglichst in einem abge­schlossenen Ganzen der Betrachtung unterziehen: die Frage nach dem Menschen als einem Seelenwesen und einem Geistwesen. Schon indem man diese Worte ausspricht, berührt man eigentlich die menschliche Seelenfrage in einer Art, welche der gegenwärtigen Weltbetrachtung ziemlich fern liegt. Die gegenwärtige Weltbetrachtung, wenn sie sich über­haupt darauf einläßt, etwas anderes als dasjenige anzu­schauen, was Biologie, was Physiologie, was experimen­telle Psychologie gibt, sie spricht von einer Zweiheit des Menschen nach Leib und Seele. Es soll heute gezeigt werden, daß diese Gliederung des Menschen bloß nach Leib und

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Seele zu den schwierigsten Mißverständnissen führen muß, welche eine wirklich wissenschaftliche Betrachtung eigentlich ablenken von den höchsten Menschenrätseln. Man glaubt heute, daß in den sogenannten Seelenrätseln das Geisträtsel schon eingeschlossen ist, und man wird, indem man sich diesem Mißverständnisse hingibt, gerade auf den Beifall mancher naturwissenschaftlichen Weltbetrachter und auch mancher Seelenbetrachter stoßen können. Es steht über­haupt, das möchte ich einleitungsweise vorausschicken, die in diesen Vorträgen gemeinte Geisteswissenschaft in einem eigentümlichen Verhältnis zur naturwissenschaftlichen und auch zur philosophischen Weltbetrachtung. Diejenigen der verehrten Zuhörer, welche nun schon seit Jahren bei diesen Vorträgen anwesend waren, wissen, wie ich immer wieder und wieder betont habe, daß die von mir vertretene Geistes­wissenschaft nicht im allergeringsten in irgendeinen Zwie-spalt kommt mit der modernen naturwissenschaftlichen For­schung, daß sie im Gegenteil überall voll auf dem Boden dieser Forschung steht, und gerade weil sie mehr als die naturwissenschaftliche Weltanschauung selbst auf naturwissenschaftlichem Boden steht, sieht sie sich genötigt, auf­zusteigen von der bloßen Betrachtung der Natur und ihres Lebens zu der Betrachtung des wirklichen Geistlebens. Allein die naturwissenschaftliche Weltbetrachtung, die ja einem großen Teil unserer Zeitgenossen, wir dürfen es schon sagen, geradezu in Fleisch und Blut übergegangen ist, die - und zwar durchaus mit einem gewissen Recht - die Gedanken, Ideen, auch die Empfindungsgewohnheiten, die Erkenntnistriebe der Gegenwart trägt, diese Weltbetrachtung verhält sich auch in ihren auserlesensten Vertretern in einer solchen Art, daß die Geisteswissenschaft es außerordentlich schwer hat, irgendwie auf Verständnis bei den Zeitgenossen zu stoßen. Gerade darüber möchte ich hier einige einleitende

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Worte sagen, weil sie uns notwendig sein werden bei un­serer weiteren Betrachtung.

Man kann heute finden, daß auf gewissen Gebieten die naturwissenschaftliche Weltanschauung geradezu, wenn das Wort eben in seinem begrenzten Sinne genommen wird, zu einer Art ideal-schönen Begrenzung ihres Gebietes gekom­men ist. Wir haben ja heute auf naturwissenschaftlichem Gebiete Werke, die gerade in der Art, wie sie ihre Aufgabe in der Durchführung der einzelnen Probleme begrenzen, als mustergültig betrachtet werden können. Nach, man möchte sagen, der einseitig darwinistisch-Haeckelschen Ro­mantik aus dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhun­derts hat es zum Beispiel die Biologie dazu gebracht, daß wir heute ein solch mustergültiges, höchste Anforderungen befriedigendes Werk haben, wie das Werk des Berliner Forschers Oskar Hertwig über «Das Werden der Organis­men. Eine Widerlegung von Darwins Zufallstheorie». Wir haben auch für solche Gebiete, welche die Grenzen dessen berühren, was hier in Betracht gezogen werden soll, metho­disch hervorragende Leistungen, wie zum Beispiel die «Phy­siologische Psychologie» von Theodor Ziehen. Man darf sagen, daß die hier vertretene anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft überall, wo es auf die Betrachtung des eigentlich naturwissenschaftlichen Gebietes ankommt, die Partei solcher methodischer Forschung nimmt. Ich selbst stehe immer mit allem, was ich zur Geisteswissenschaft bei­tragen möchte, gegen manchmal zwar gut gemeinte, aber doch dilettantische Weltanschauungsaufbaue, die aus irgend­welchen unzulänglichen Erkenntnisbestrebungen hervor­gehen. Allein gerade diese methodische naturwissenschaft­liche Weltanschauung macht es der Geisteswissenschaft schwer, Verständnis bei unseren Zeitgenossen zu finden. Selbst in einem so mustergültigen Buche wie dem von Oskar

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Hertwig über «Das Werden der Organismen>, das im Jahre 1916 erschienen ist, finden wir unter anderem gewisser­maßen als wissenschaftliche Überzeugung festgestellt, die Naturwissenschaft könne sich nur mit dem Endlichen be­schäftigen und müsse das Unendliche außer der Betrachtung lassen. Das Endliche aber könne Naturwissenschaft nach allen Seiten durchforschen. Nagels, des großen Botanikers, Anschauung wiederholt Hertwig mit diesen Worten von seinem naturwissenschaftlichen Standpunkt völlig mit Recht, und auch Theodor Ziehen sagt, er wolle alles dasjenige im menschlichen Seelenleben betrachten, was Parallelerschei­nungen im menschlichen Leibesleben hat, so daß die Physio­logie über diese Parallelerscheinungen Auskunft zu geben vermag. Alles übrige müsse der Erkenntniswissenschaft, der Metaphysik oder dergleichen überlassen werden. Dann aber finden wir auch in der von meinem Gesichtspunkt aus mustergültigen «Physiologischen Psychologie» Ziehens wie­derum gesagt, dasjenige, was von der gegenwärtigen phy­siologisch-psychologischen Forschung vorgebracht wird, sei in seinen Einzelheiten, die eigentlich gar nichts Beson­deres sagen über die großen Seelen- und Geisträtsel, wich­tiger als alles, was Jahrhunderte mit Bezug auf die Fragen über das Übersinnliche im Seelenleben und dergleichen zu leisten versuchten. Wenn wir dazunehmen den Machtsp ruch, den schon vor Jahrzehnten der große Physiologe Du Bois­Reymond getan hat, daß wirklicheWissenschaft sich eigent­lich nur mit der Sinnenwelt beschäftigen dürfe, weil, wie er sagte, wo das Übersinnliche beginnt, die Wissenschaft auf­hört, so finden wir dasjenige - und wir können das Ge­sagte hundert- und tausendfältig vermehren -, wodurch die naturwissenschaftliche Weltbetrachtung auch aller Gei­steswissenschaft den Boden unter den Füßen wegziehen möchte. Wir finden es darinnen, daß, während auf der einen

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Seite immer wiederum recht wohlwollend gesagt wird:

Alle Fragen, die über die Sinnesbetrachtung hinausgehen, muß man der Metaphysik oder etwas Ähnlichem über­lassen, auf der anderen Seite doch wieder - und zwar so, daß sich diese Anschauung in die weitesten Kreise unserer Zeitgenossen einimpft - geltend gemacht wird, daß wirk­liche Wissenschaft doch nur auf dem Gebiet der Sinnesbetrachtung geleistet werden könne.

So sehen wir, daß von dieser Wissenschaft alles Seelische und Geistige ausgeschaltet wird, und einzig und allein für dasjenige, was dann übrigbleibt, der Charakter der Wis­senschaftlichkeit in Anspruch genommen wird. Solchen Bestrebungen gegenüber möchte ich betonen, daß Geistes­wissenschaft sogar in der Frage nach der sogenannten alten Lebenskraft durchaus auf dem Boden solcher Forscher steht, wie es Du Bois-Reymond, Hertwig und andere sind. Denn diese Lebenskraft, die in der Wissenschaft bis in die Mitte, ja bis gegen das Ende des zweiten Drittels des neunzehnten Jahrhunderts gespukt hat, ist ein Produkt der Spekulation. Weil man glaubte, daß die Erscheinungen am lebenden Organismus nicht erklärbar seien durch physikalische und chemische Gesetzmäßigkeiten und Kräfte, spekulierte man über eine unbestimmte Lebenskraft, der man dann alles dasjenige zuschrieb, was man nach physikalisch-chemischen Gesichtspunkten am Organismus nicht erklären konnte. Du Bois-Reymond hat in seinem hervorragenden Vorworte zu seinen «Untersuchungen über tierische Elektrizität» schon um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, wie ich glaube mit einem gewissen Rechte gesagt, daß die Fortschritte der Physiologie eigentlich notwendig machten, daß einmal je­mand käme, der - wie einstmals Gottsched den Hanswurst von der Bühne verbannt hat -, diese Lebenskraft aus der Physiologie heraus verbannt. Selbst einer so harten Verurteilung

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der Lebenskraft, wie sie im alten wissenschaft­lichen Sinne gemeint war, kann Geisteswissenschaft bei­pflichten. Denn sie kann durchaus durchschauen alles das, was von physiologisch-biologischer Seite mit Recht gegen eine solche hypothetische, spekulative Aufstellung einer Lebenskraft vorgebracht wird, und sie kann, was heute wie­derum als sogenannter Neovitalismus auftritt, nur als eine Reaktion betrachten, die dadurch hervorgerufen wird, daß man vereinzelt einsieht: schon dasjenige, was lebt, kann nicht einfach so von uns erkannt werden wie das bloß Phy­sikalische und Chemische. Aber diese Reaktion kehrt eben doch mehr oder weniger zurück zu der alten Spekulation von einer unbestimmten Lebenskraft.

Auch mit dieser Reaktionserscheinung gegen die rein mechanistische Naturwissenschaft kann die hier vertretene Geisteswissenschaft nicht gehen. Dafür aber muß sie - ich habe schon vor vierzehn Tagen hier darauf hingewiesen - etwas ganz anderes in Anspruch nehmen. Mit denjenigen Erkenntniskräften und Erkenntnismöglichkeiten, die ge­rade zu den großen, bedeutsamen naturwissenschaftlichen Ergebnissen führen, kann über das bloß Physikalische und Chemische überhaupt nicht hinausgekommen werden. Es haben selbstverständlich die Lebewesen bis herauf zum Menschen, indem sie physische Leiber an sich haben, physi­kalische und chemische Gesetze. Diese müssen natürlich mit Physik und Chemie betrachtet werden, und man darf nicht irgendeine Lebenskraft hineinspekulieren. Aber man reicht eben mit den bloßen Erkenntniskräften und Erkenntnismöglichkeiten, wie sie in der Naturwissenschaft mit Recht angewendet werden müssen, nicht aus, um das Lebendige oder das Seelische wirklich zu durchdringen, wirklich zu verstehen, und man hat nur die Wahl, entweder rein im Gebiet physikalischer und chemischer Gesetze stehenzubleiben

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und dann auf ein Begreifen des Lebens, auf ein Be­greifen des Seelischen und Geistigen zu verzichten, oder an ganz andere Erkenntniskräfte zu appellieren, als diejenigen sind, durch welche das rein Naturgemäße, das Physikalische und Chemische namentlich, betrachtet werden kann.

Damit aber stößt man wiederum auf ein ungeheuer ver­breitetes Vorurteil. Daß die menschliche Seele, wenn sie es methodisch darauf anlegt, fähig ist, zu ganz anderen Er­kenntnismöglichkeiten und Erkenntniskräften zu kommen, als diejenigen sind, die in der reinen Naturwissenschaft an­gewendet werden, das wird in weitesten Kreisen heute noch zurückgewiesen. Deswegen steht man nur vor einer zwei­fachen Möglichkeit, entweder das Seelische und Geistige unbegriffen zu lassen oder diesen Rubikon zu überschreiten, um sich bekannt zu machen damit, was es eigentlich heißt: die menschliche Seele kann sich weiterentwickeln über den Standpunkt, den sie, ich möchte sagen, von selbst schon der Weltordnung gegenüber einnimmt. Sie kann dadurch zu solchen Erkenntniskräften kommen, die ihr mehr sagen als das, was die bloße Naturwissenschaft sagen kann, ge­rade dann, wenn sie möglichst vollkommen ist. Man stößt da auf ein scharfes Vorurteil. Man muß vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft sagen: Die Naturwissenschaft verhält sich eigentlich zur Geisteswissenschaft so, wie jemand, der Buchstaben, die auf irgendeiner Seite gedruckt sind, nur beschreiben kann, zu demjenigen, der lesen kann. Wenn ich mich zunächst vergleichsweise ausdrücken darf, so möchte ich sagen: Das, was Naturwissenschaft nur zu beschreiben vermag, das sucht Geisteswissenschaft zu lesen. Das, was sie über die Erscheinungen der Welt, über ihren Inhalt und über die Bedeutung der Vorgänge zu sagen hat, verhält sich wie ein Gelesenes zu der Beschreibung der bloßen Buch­staben, welche die Worte zusammensetzen. Es besteht also

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- um den Vergleich, der zunächst oberflächlich sein muß, der aber später näher ausgeführt wird, weiter fortzuset­zen - die Möglichkeit, wirklich einzudringen in das leben­dige Seelisch-Geistige, darinnen, daß man sich aus der Seele heraus selbst eine Fähigkeit zum Lesen der Natur aneignet. Diese Fähigkeit verhält sich gegenüber der bloßen Naturbetrachtung wie die freie, aus der Seele hervorflie­ßende Fähigkeit des Lesens zu dem bloßen Beschreiben der Buchstaben.

Nun wird ja ein großer Teil unserer gegenwärtigen Zeit­genossen, wenn so etwas gesagt wird, selbstverständlich daran denken, daß das ein Hinweis auf alle möglichen phantastischen visionären Betätigungen der menschlichen Seele sei. Das ist es aber durchaus nicht. Geisteswissenschaft ist vielmehr ein ebenso methodisch zu Erarbeitendes, ein ebenso in strengen Formen Verlaufendes wie reine Natur­wissenschaft. Nur wird es der Geisteswissenschaft heute deshalb so schwer, durchzudringen, weil seit Jahrhunderten schon - in einem der nächsten Vorträge werde ich darüber Ausführungen machen - im Grunde genommen alle mensch­liche Weltbetrachtung darauf ausgegangen ist, aus der Seele das Geistige mehr oder weniger auszuschalten, das Seelische als die gesamte Innerlichkeit des Menschen zu betrachten, und es mehr oder weniger abhängig oder auch unabhängig vom Leib zu denken, aber nicht eine solche Beziehung von der Seele zum Geiste zu suchen, wie sie auf der andern Seite von der Seele zum Leib gesucht wird. Derjenige, der bloß durch reine Seelenerlebnisse, und wären es auch, wie man oftmals meint, mystisch gesteigerte Seelenerlebnisse - Erlebnisse, die also rein innerlich mit dem Seelischen erfahren werden, das man im alltäglichen Bewußtsein hat -, etwas über die eigent­liche Wesenheit des Menschen als Geistwesen erfahren will, der gleicht einem Menschen, der aus Hunger und Durst sich

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unterrichten will über jene Vorgänge, die sich im mensch­lichen Leib abspielen, und die die Grundlage sind für das, was die Seele in Hunger und Durst durchlebt. Jeder Mensch sieht leicht ein, daß Hunger und Durst das innere Erlebnis ist für irgend etwas, was sich im Leib abspielt. Die natur­wissenschaftliche Weltbetrachtung sagt: Wenn der Mensch Hunger und Durst empfindet, dann ist eine chemische Ver­änderung im Blute oder dergleichen, also sie weist darauf hin, daß sich im Leibe etwas abgespielt hat, das in der Seele zum Ausdruck kommt in dem Erlebnis des Hungers und des Durstes. Man muß allerdings, will man erforschen, was im Leibe vorgeht, hinschauen auf die Seelenerlebnisse. Man kann selbstverständlich nicht an einem lebendigen Wesen, das keinen Hunger hat, erforschen, worin der Hunger leib­lich zum Ausdruck kommt, aber man kann niemals dadurch, daß man bloß das innerliche Erlebnis des Hungers oder der Sättigung ins Auge faßt, darauf kommen, mit welchen leib­lichen Vorgängen dieses innere Erlebnis des Hungers oder Durstes oder der Sättigung zusammenhängt. Ebensowenig kann man, und wenn man sich noch so sehr mystisch vertieft, wenn man noch so sehr nach dem Muster mancher Mystiker seine inneren Seelenerlebnisse spielen läßt, aus diesem blo­ßen Spiel irgend etwas erfahren über das, was der Seele als Geistiges zugrunde liegt. So wie die Naturwissenschaft durch ihre Methoden über das bloße Erleben des Hungers und Durstes oder der Sättigung übergehen muß zu etwas, das im gewöhnlichen Seelenleben nicht beobachtet wird - denn nichts weiß der Mensch im gewöhnlichen Seelenleben von jenen chemischen Vorgängen, die in seinem Leibe sich abspielen, während er Hunger und Durst leidet -, so muß man auch bei einer wirklichen Geistbetrachtung von alle­dem, was durch Vorstellen, Fühlen und Wollen in der Seele erlebt werden kann, übergehen zu etwas Geistigem.

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Wie aber kann dieses Geistwesen gefunden werden? Das Sinnliche stellt sich vor die Sinne hin, indem der Mensch der Natur gegenübertritt; das Geistige nicht in gleicher Weise. Das Geistige stellt sich dem Menschen nur gegenüber, wenn er die Erkenntnismöglichkeiten, die Wahrnehmungsmög­lichkeiten aus seinem Innern erweckt, die ich in meinem Buche «Vom Menschenrätsel» das Schauen genannt habe, das im gewöhnlichen Leben verborgen ist, gleichsam schlum­mert. Nun möchte ich nicht in Abstraktionen herumreden, sondern möchte gleich an einem konkreten Beispiel zeigen, daß ebenso, wie es für den Naturforscher möglich ist, durch seine Methode von dem subjektiven Hunger und Durst überzugehen zu den im gewöhnlichen Erleben nicht be­wußten Leibesvorgängen, es ebenso möglich ist, von den bloßen seelischen Erscheinungen überzugehen zu den gei­stigen Erscheinungen, die von der einen Seite zum Seelischen ebenso in Beziehung stehen wie von der andern Seite das Leibliche zum Seelischen. Schon mit solchen konkreten Fra­gen stößt man sogleich auf Widerstand, der einem geboten wird durch die landläufige Betrachtung des Seelenlebens. Diese will ja eigentlich nur, und sie muß das, weil sie von naturwissenschaftlichen Methoden ausgeht, das passive Seelenleben betrachten. Das aktive Seelenleben, das sich in seinem Wesen von innen heraus betätigt, das kann natur­wissenschaftlich nicht betrachtet werden, und es wird viel­fach überhaupt aus den Augen verloren. Die Naturwissen­schaft betrachtet heute, wenn sie das seelische Erleben ins Auge faßt, vielfach nur die Art, wie sich die Vorstellungen zusammen gruppieren, wie eine Vorstellung, die vielleicht hervorgerufen ist durch eine äußere Wahrnehmung, eine andere hervorruft, die in meinem Gedächtnis aufgespeichert ist, oder auch viele andere. Man betrachtet, wie sich die Vor­stellungen assoziieren, wie sie sich verbinden mit Gefühlsabtönungen,

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mit Willensimpulsen oder dergleichen. Man eignet sich auf diesem Boden keine Methoden an, die sich nach dem Geistigen hin vergleichen ließen mit den strengen Methoden der naturwissenschaftlichen Weltbetrachtung. Wenn Sie die «Physiologische Psychologie» von Theodor Ziehen in die Hand nehmen, so werden Sie sehen, wie alles darauf hinausläuft, daß eigentlich unser ganzes Seelenleben auf solchen Assoziationen aufgebaut ist, wenn es über das bloße Empfindungsleben hinausgeht. Aber es kommt eben diese Art der Betrachtung gar nicht zu einem wirklich un­befangenen Anschauen des Seelenlebens.

Ein solches ergibt zum Beispiel das Folgende: Man kann, wenn man auf die Art, wie ich es nachher darstellen werde, zu einer wirklichen Seelen- oder Selbstbeobachtung kommt, sehen, wie wir allerdings im gewöhnlichen Leben als Men­schen mit unserem seelischen Erleben abhängig sind von dem, was uns das Leben an Vorstellungen gibt. Wenn der Mensch in der gegenwärtigen Stunde sein Seelenleben sich selbst überläßt, so spielen darinnen die Vorstellungen, die durch die Eindrücke der Außenwelt in seine Seele hineingekommen sind. Er ist in gewissem Sinne wirklich eine Art Sklave seiner Vorstellungen. Theodor Ziehen sagt in ein­geschränktem Sinne, aber insofern mit vollständigem Recht: «Wir können nicht denken, wie wir wollen, sondern müs­sen denken, wie die gerade vorhandenen Assoziationen be­stimmen, - weil dieser oder jener Eindruck auf uns gemacht worden ist, der einen anderen Eindruck hervorruft.» So sind wir - nach Ziehen - dem Spiele der Eindrücke hingegeben. Dies ist in eingeschränktem Sinne durchaus richtig. Wir sind im gewöhnlichen Leben in bezug auf unser Vorstellen gar nicht so frei, wie wir meinen. Wir sind aber auch nicht so abhängig, wie Theodor Ziehen meint. Derjenige, der zur Seelenbeobachtung vordringen kann, weiß, daß die starke

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Abhängigkeit von den Eindrücken, die wir bekommen, zwar da ist, aber nur durch eine gewisse Zeit wirklich dau­ert. Das ist etwas, worüber sich die heutige offizielle Seelen­wissenschaft überhaupt nicht viel Gedanken macht. Eine Vorstellung, die durch einen Eindruck hervorgerufen wird, tyrannisiert uns allerdings. Wenn ich einen Freund gesehen habe, so verfolgt mich diese Vorstellung, sie ruft andere Vorstellungen an andere Freunde hervor, an gemeinsame Erlebnisse mit diesen Freunden und so weiter, man ist von diesen Vorstellungen abhängig, aber nur eine gewisse Zeit. Und diese Zeit läßt sich sogar, ich möchte sagen, innerlich experimentell bestimmen. Diese Zeit dauert nur zwei bis drei Tage. Zwei bis drei Tage sind wir allerdings einem empfangenen Eindruck wie Sklaven hingegeben. Nach die­ser Zeit verändert sich aber die Kraft, mit welcher ein sol­cher Eindruck auf unsere Seele wirkt. Wir kommen dann innerlich seelisch in die Lage, einem Eindrucke gegenüber uns so zu verhalten, wie sich der Eindruck vorher uns ge­genüber verhalten hat. Wir waren vorher sein Sklave, wir werden nach zwei bis drei Tagen sein Herr. Man kann das zum Beispiel auf folgende Art machen. Hat man eine Emp­findung für inneres Seelenleben - und wir werden sehen, wodurch man diese Empfindung erlangt -, so kann man sich fragen: Welcher Unterschied besteht zwischen dem Hingegebensein an das innere Seelenleben, das wie von selbst sich abspielt durch eine gewisse Zeit hindurch, und dem Lesen eines Buches? Wenn ich ein Buch lese, so kann ich mich nicht von einer Vorstellung zu einer anderen tragen lassen. Ich würde im Lesen nicht weiterkommen, wenn ich mich von Vorstellungen tragen ließe, die ein Eindruck in mir hervorgerufen hat, ich muß mich vielmehr demjenigen hingeben, was aus dem Buche an Vorstellungen fließt. Da komme ich in die Gewalt des Autors. Da ist es der Autor,

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der dann meinen Vorstellungsablauf beherrscht. Ähnlich demjenigen, was sich abspielt, wenn meine Vorstellungen beherrscht werden von den Vorstellungen, die aus dem Buche fließen, werde ich mit meinem eigentlichen Ich, wenn ich zwei bis drei Tage über irgendeinen Eindruck hinweg-gelebt habe, mit Bezug auf diesen Eindruck. Ich werde dann mich nicht der Assoziation, die dieser Eindruck her­vorrufen will, überlassen, sondern ich habe die innere Kraft, diesen Eindruck mit anderen zusammenzustellen. Eine voll­ständige Umwandlung eines Vorstellungseindrucks geht in der menschlichen Seele vor sich, wenn dieser Vorstellungs­eindruck zwei bis drei Tage in der Seele geweilt hat.

Man kann schon, ohne Geistesforscher zu sein, durch ge­wöhnliche, intimere Beobachtung des Seelenlebens sich von der Wahrheit des eben Gesagten überzeugen, allerdings auf einem Gebiete, das heutzutage nur oberflächlich ins Auge gefaßt wird, und besonders schief ins Auge gefaßt wird dadurch, daß sich eine gewisse, sehr nach dem Materiellen hindrängende Wissenschaftsrichtung der Gegenwart dieses Gebietes bemächtigt hat, nämlich die sogenannte analytische Psychologie oder Psychoanalyse. Doch darauf will ich nicht eingehen. Ich möchte aber darauf aufmerksam machen, daß derjenige, der das Traumleben wirklich beobachten kann, weiß, daß das unwillkürliche Heraufkommen von Träumen immer irgendwie zusammenhängt mit den Ein­drücken der letzten Tage, eigentlich nur der letzten zwei bis drei Tage. Aber mißverstehen Sie mich nicht! Selbst­verständlich kommen im Traum längst verflossene Ereig­nisse als Reminiszenzen herauf. Aber etwas anderes ist es, was diese längst verflossenen Ereignisse heraufruft. Wenn man genau den Traum beobachten kann, wird man immer sehen, daß irgendeine hervorrufende Vorstellung aus den letzten zwei bis drei Tagen da sein muß. Die ruft erst längst

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verflossene Ereignisse hervor. Durch zwei bis drei Tage haben die Eindrücke der Außenwelt die Kraft, Träume zu erzeugen. Das andere gliedert sich dann um sie herum. Wenn nicht eine solche aus den letzten zwei bis drei Tagen stammende Vorstellung den Traum erzeugen kann, kann er auch nicht entstehen. Nun muß man allerdings das, was ich jetzt angedeutet habe, wirklich beobachten können, denn das gewöhnliche Bewußtsein kann es nicht beobachten. Es ist ja das gerade deshalb in den weitesten Kreisen heute so unbekannt, weil es im Unbewußten verläuft. Der Mensch eignet sich in der Regel heute kein Wissen davon an, wie er anders steht zu einer Vorstellung, die noch nicht zwei bis drei Tage in seiner Seele anwesend ist, und zu einer solchen, die schon so lange anwesend ist. Alle diese Dinge kann man genau und richtig eigentlich nur als Geistesfor­scher beobachten. Der Geistesforscher braucht aber zur wirklichen Beobachtung eine gewisse Verstärkung, eine Er­kraftung des gewöhnlichen Seelenlebens. Das Vorstellen erstreckt sich für das gewöhnliche Seelenleben eigentlich nur darauf, daß es in einer gewissen Weise wiederholt und ausgestaltet das, was die Sinne von außen wahrnehmen, von außen auffassen. Dieses Seelenleben kann nun, wenn auch die gewöhnliche Wissenschaft wenig davon weiß, ver­stärkt werden, so daß dieses blasse, unbestimmte Vorstel­lungsleben des heutigen Alltags in einer ganz anderen Weise in der Seele auftreten kann, daß es so kraftvoll als Vorstellen auftreten kann, daß seine Kraft einer äußeren, sinnlichen Wahrnehmung gleichkommt. Das aber muß ein­treten, wenn man wirklich auf geistigem Gebiete Forschun­gen machen will. Mit den gewöhnlichen Erkenntnisseelen­kräften kann man diese Forschungen nicht machen. Nun habe ich in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten» und in meiner «Geheimwissenschaft»

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die Methode ausführlich beschrieben, durch die man das Vorstellen heraufheben kann - um einen technischen Aus­druck zu gebrauchen, der leicht mißverstanden werden kann - und durch die man es zum imaginativen Erkennen, zum schauenden Wahrnehmen macht.

Ich möchte heute aus der großen Fülle desjenigen, was die Seele mit sich vornehmen muß, um ihr Leben zu er­kraften, damit das Vorstellen zu einem Schauen des Geistes werden kann, nur einiges Wenige hervorheben. Ich will auf dasjenige verweisen, was ich neuerdings ganz besonders hervorgehoben habe in meinem letzten Buche «Von Seelen­rätseln», der Fortsetzung meines Buches «Vom Menschen­rätsel»: daß der Mensch, wenn er sein gewöhnliches Seelen­leben in der Wissenschaft betätigt, zu gewissen sogenannten Erkenntnisgrenzen kommt. Diese Erkenntnisgrenzen kön­nen einem entgegentreten gerade dann, wenn man sich bekannt macht mit der Weltanschauung tiefschürfender Geister. Wenn ich etwas Persönliches hier anführen darf, so muß ich sagen, daß vor dreißig bis fünfunddreißig Jahren dasjenige, das mich selbst zu der besonderen Richtung der Geisteswissenschaft, die ich hier pflege, hingeführt hat, ins­besondere die Erlebnisse waren, die ich an den Weltanschau­ungen solcher Menschen machen konnte, denen Erkenntnis nicht ein äußerer Beruf ist, nicht etwas Angelerntes, son­dern etwas, was das Innerste ihres Seelenlebens, ihres gan­zen Sehnens und Empfindens ausmacht. Wenn man zum Beispiel bei einem heute gar nicht mehr genug gewürdigten Denker, Friedrich Theodor Vischer - aber ich könnte auch viele andere anführen - auf Worte stößt, die er hervor­ringt aus tiefen Erkenntnisrätseln, die ihm gekommen sind, als er nachgesonnen hat über den Zusammenhang zwischen Leib und Seele des Menschen, auf Worte wie die: Die Seele des Menschen kann nicht im Leibe sein, aber sie kann auch

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nicht außerhalb des Leibes sein -, dann stößt man in leben­digem Zusammenhang mit einem ursprünglichen, elemen­tarischen Denker an solche Grenzen, an die das menschliche Seelenleben, wenn es sich erkenntnismäßig betätigen will, kommen muß.

Das gewöhnliche Denken statuiert an solchen Punk­ten des Seelenlebens eben Erkenntnisgrenzen. Du Bois­Reymond hat von den «Sieben Welträtseln» gespro­chen, die nicht gelöst werden können; man könnte aber Hunderte und Hunderte solcher sogenannten Grenzen des menschlichen Seelenlebens anführen. Wenn man sich nicht leicht beruhigt an solchen Grenzen, sondern wenn man ver­sucht, alles dasjenige durchzumachen, was die Seele durch­machen muß, indem sie sich sagt, du mußt hier Fragen aufwerfen, die natürliche Außenwelt kann dir darauf keine Antwort geben, auch dasjenige, was aus deiner Seele selbst heraufstößt, kann dir keine Antwort geben, - wenn man sich so recht in seinem innersten Seelenleben mit diesen Fragen verbindet, wenn man Geduld hat, mit ihnen nicht bloß logisch, sondern innerlich ringend zu leben, wenn man sie immer wiederum in seiner Seele aufwirft, um nicht nur kennenzulernen, was sie logisch sagen, sondern was sie innerlich lebendig in der Seele auslösen, dann sprießt aus solchen Fragen allmählich in der Seele etwas auf. Man er­lebt seelisch etwas, was ich in folgender Weise durch einen Vergleich klarmachen will: Vielfach denkt gerade dienatur­wissenschaftliche Weltanschauung, daß die niedrigsten Lebe­wesen zunächst nur eine innerliche Lebensbetätigung haben, diese anstoßend an die Außenwelt entwickeln und dadurch ihren noch undifferenzierten Organismus umgestalten, so daß er sich nicht nur in einer unbestimmten Weise an der Außenwelt stößt, sondern daß dieses Stoßen selbst differen­ziert wird zum Tastsinn, und aus dem Tastsinn sollen ja nach

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der naturwissenschaftlichen Anschauung phylogenetisch all­mählich die anderen Sinne sich entwickelt haben. Was da in lebendiger Materie von dem Wesen erlebt wird, läßt sich wirklich vergleichen mit dem, was die Seele erlebt, wenn sie an solche Grenzen stößt. Lernt man das seelische Erleben gegenüber solchen Grenzen wirklich kennen, so fühlt man, daß damit nicht irgend etwas gemeint ist, was mit der Ent­stehung äußerer Sinneswerkzeuge zu tun hat. Hat man Geduld, sich innerlich einzuleben in solche Grenzrätsel, dann entwickelt sich so etwas wie ein seelisches Tasten aus dem Anstoßen, dann geht daraus etwas hervor wie eine Differenzierung des Seelenlebens. Das ist etwas, woran heute selbstverständlich in weitesten Kreisen nicht geglaubt wird. Man wird aber immer mehr daran glauben, wenn man einsehen wird, daß nur auf solchem Wege wirkliches Wissen über die Erscheinungen der Welt und namentlich über das Rätsel des Menschen zu gewinnen ist. Allmählich wird es dann von innen heraus so werden, daß der Mensch nicht nur an Grenzfragen stößt, sondern daß er damit sein Seelisches entwickelt, so wie das bloße Lebewesen lebendige Substanz entwickelt, und so entstehen jene höheren Organe des Schauens, durch die die Seele allmählich lernt, in den Geist einzudringen. Es ist das nur eine von jenen Übungen - oder wie man es nennen will -, die die Seele durchzu­machen hat, um das undifferenzierte Seelenleben umzu­gestalten, so daß es wirklich in die geistige Welt eindringen kann.

Ich müßte vieles von dem anführen, was in den ge­nannten Büchern steht, wenn ich nun auseinandersetzen wollte, wie auf diese Weise wirklich das Vorstellen etwas ganz anderes wird als im gewöhnlichen Leben. Da ist das Vorstellen ein passives, das sich anlehnt an die Sinneswahr­nehmungen. Dadurch, daß das Seelenleben in der Weise erkraftet

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wird, wie es prinzipiell geschieht durch die Übun­gen, die ich geschildert habe, wie es aber durch viele und viele Übungen geschehen muß, wird aus dem Vorstellen etwas ganz anderes. Dadurch wird das Vorstellen selbst so rege, daß gewissermaßen ein viel innerlicheres und kon­kreteres Ich, als es das gewöhnliche des Menschen ist, sich in dem Menschen geltend macht, und der Mensch lernt erkennen, wie er mit dem also gesteigerten Seelenleben nun die Seelenerscheinungen wirklich beobachten kann.

Wenn ich nunmehr, nachdem ich so das Wesen wirklicher Selbsterkenntnis entwickelt habe, zurückkehre zu dem, was ich bisher geltend gemacht habe, muß ich sagen: Was da eigentlich geschieht, indem die Vorstellungen von dem Zu­stande, den sie zwei bis drei Tage haben, zu dem andern übergehen, den sie später haben, das kann man nur wirk­lich durchschauen mit einem so verstärkten Seelenleben. Denn dann lernt man erkennen, daß in der Tat der Mensch den Vorstellungen gegenüber, die subjektiv, wie von innen heraussprudelnd und ihn tyrannisch bestimmend, zwei bis drei Tage hindurch walten, nach dieser Zeit innerlich so frei wird, wie er sonst frei ist von seinem gewöhnlichen Leib. Der Mensch lernt erkennen, was er in seinem Innern ist, was die Vorstellungen so lenkt, wie wir die Hand, wie wir das Bein lenken, wenn wir greifen oder gehen, durch unser gewöhnliches Ich. Der Mensch lernt das sonst un­bewußt bleibende, höhere Ich kennen, das sich innerhalb der Vorstellungswelt so bewegt, wie das gewöhnliche Ich sich im Leibesleben bewegt, das heißt wir kommen nach zwei bis drei Tagen aus demjenigen, was subjektiv ist, in das Objektive des Seelenlebens hinein. Wir kommen hinein in dasjenige, was nicht von äußeren Eindrücken beherrscht wird, und was wir dann erkennen lernen als das, was die äußeren Eindrücke trägt durch das ganze Leben zwischen

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Geburt und Tod. Wir lernen erkennen etwas Zweites im Menschen, dem wir uns dann so gegenüber fühlen wie un­serm Leib gegenüber im gewöhnlichen Leben. Wir lernen das kennen, was ich in einer der letzten Nummern der Zeit­schrift «Das Reich» den Bildekräfte-Leib des Menschen ge­nannt habe, einen übersinnlichen Leib, der da ist, so wie der gewöhnliche physische Leib da ist. Nur bleibt er un­bewußt für das gewöhnliche Seelenleben. So wie die Hand des physischen Leibes durch das gewöhnliche Ich bewegt wird, so lernt der Mensch erkennen, wie er sich betätigt innerhalb desjenigen, was nun das Vorstellen trägt, was im Vorstellen lebt, und das ist erst der Geist. Nicht das Vor­stellen ist der Geist, sondern dasjenige, was im Vorstellen so lebt, wie die gewöhnliche Seele im Leibe lebt. Indem aber die gewöhnliche Psychologie im Grunde genommen das ganze Seelenleben nur so betrachtet, wie es eigentlich durch zwei bis drei Tage, von den Eindrücken ab gerechnet, waltet, kommt sie gar nicht von der Seele zum Geiste, schal­tet sie den Geist aus. Für das gewöhnliche Seelenleben ist er in einer gewissen Weise ausgeschaltet.

Das zeigt wiederum eine Selbstbetrachtung, von der wir jetzt sprechen können, nachdem ich schon angedeutet habe, worin ihr Wesen besteht. Sie alle sind sich klar darüber, daß im Mittelpunkte Ihres Seelenlebens das sogenannte Ich waltet. Aber der Psychologe ist sich heute darüber weni­ger klar. Es ist interessant sich vorzuhalten, was zum Bei­spiel ein so ausgezeichneter Psychologe wie Theodor Ziehen in seinem Buche «Physiologische Psychologie» gerade über das Ich sagt. Dieses Buch ist ja der Abdruck von Vorlesun­gen, daher ist alles vorlesungsmäßig gesagt. Da sagt er zu seinen Zuhörern: Wenn Sie nachdenken über dasjenige, was eigentlich das Ich ist, wozu kommen Sie da eigentlich? Es wird Ihnen, wenn Sie wirklich darüber nachdenken, zunächst

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Ihr Körper einfallen, dann alles dasjenige, was Sie an Relationen zur Außenwelt haben; dann wird Ihnen ein­fallen alles das, was Sie an Verwandtschafts- und Eigen­tumsverhältnissen haben, es wird Ihnen einfallen Ihr Name und Titel - die Orden hat Theodor Ziehen ausgelassen -, Ihre dominierenden Vorstellungen und Ihre Hauptneigun­gen, es wird Ihnen einfallen Ihre Vergangenheit. Allerdings, sagt Theodor Ziehen, das reflektierende Bewußtsein unter­scheidet ja nun außer all dem, was Ihnen so einfällt, das Ich als dasjenige, was im Innern waltet, gegenüber dem, was draußen ist, als das, was sich von innen heraus vorstellend bewegt und betätigt. Aber das ist eine Fiktion der Erkennt­nistheorie oder der spekulativen Psychologie. Mit dem hat es die physiologische Psychologie in nichts zu tun. - Wie­derum eine solche Stelle, durch die eigentlicher geisteswissen­schaftlicher Beschäftigung der Boden unter den Füßen weg-gegraben werden soll. Aber kann wirklich jemand für das gewöhnliche Bewußtsein sich das leisten, bei seinem Ich nur an alles dasjenige zu denken, woran Theodor Ziehen denkt? Wird er gar nicht spüren die innere Regsamkeit eines Mittelpunktwesens in seinem Seelenleben? Wird er wirk­lich nur denken an seine Verwandtschafts- und Eigentums­beziehungen, an seinen Titel und Namen und so weiter? Nein, davon kann keine Rede sein! Der Mensch ist sich bewußt, in diesem seinem Innern waltet etwas. Aber dennoch kommt er eigentlich zu nichts, wenn er das Ich charakterisiert. Es hat die äußere naturwissenschaftliche Psychologie in einem eingeschränkten Sinne heute recht, wenn sie über dieses Ich nicht viel zu sagen weiß. Wie ver­hält sich nun eigentlich im gewöhnlichen Bewußtsein dieses Ich? Das zeigt wiederum die Selbstbeobachtung, die ich vorhin im Prinzip charakterisiert habe.

Wenn dieses Ich sich erkraftet, wenn es etwas anderes

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wird unter den Übungen, die ich beschrieben habe, dann merkt man auch, was das Ich eigentlich vor dem gewöhn­lichen Bewußtsein ist. Man unterscheidet heute nach dem äußeren Anschein zwei Zustände im Menschenleben: Schla­fen und Wachen, und denkt, die wechseln ab zwischen Tag und Nacht. Man weiß nicht, daß sich für ein wirkliches Seelenbetrachten etwas ganz anderes ergibt. Wir schlafen nämlich nicht nur in der Nacht, wo unser Bewußtsein völlig trübe ist, sondern ein Teil unseres Wesens schläft auch bei Tag, schläft fortwährend. Das Erkraften des Ich ist eigent­lich in gewissem Sinne ein Erwecken, ein sich selbst zum Erwachen bringen mit Bezug auf dasjenige, was vom Ich fortwährend schläft. Wir wissen nichts vom Inhalte unseres Schlafes, wir wissen nur, daß er unser gewöhnliches Leben unterbricht. Wenn wir unsern Lebensgang von der Geburt bis zum Tode hin überschauen, so blicken wir eigentlich immer nur auf die Tageserlebnisse zurück, die Nachterleb­nisse sind ein Nichts. Sie sind immer etwas Schwarzes, wenn wir farbig oder weiß zeichnen, was wir während des Tages erleben. Wenn wir so hinschauen auf unser Leben, so ist das, was wir schlafend sind, eigentlich wie nicht da. Wir sehen es ausgesperrt aus unserm Beobachtungsfeld. So ist es aber im gewöhnlichen Seelenleben auch mit dem Ich. Es ist im Grunde genommen für die vorstellende und sonstige Betrachtung nicht da, das wirkliche Ich entzieht sich dem gewöhnlichen Seelenleben, weil der Mensch in seinem ge­genwärtigen Entwickelungsstadium mit Bezug auf das Ich auch bei Tage schläft. Wir wissen im Grunde genommen für das gewöhnliche Bewußtsein nur negativ von unserm Ich, wir wissen davon so, wie das Auge schaut mit dem dunkeln Fleck, den es im Innern hat. Wir wissen, daß da nichts ist. Wir wissen ebenso von dem Ich wie von einer schwarzen Stelle auf einer farbigen Fläche. Trotzdem von

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da keine Farbenerscheinungen ausgehen, sehen wir doch eine schwarze Stelle. So sehen wir, daß ein Nichts umgeben wird von unseren gewöhnlichen Erlebnissen, und so haben wir das Bewußtsein des schlafenden Ich. Erweckt wird es dadurch, daß die Seelenkräfte so gesteigert werden, wie es von mir beschrieben wurde. So tritt erst dasjenige im Menschen nach und nach zutage, was sein eigentlicher We­senskern ist, und man lernt die Zusammenhänge des Seelen­lebens nach dem Geiste hin erkennen, so wie man erst aus der Naturwissenschaft erkennen lernt, wenn wir Hunger und Durst haben, daß ein Leib da ist, in dem chemische Veränderungen des Blutes vor sich gehen, die sich im Seelen-leben als Hunger und Durst ausdrücken. Wie da ein Leib mit dem Seelenleben durch gewisse Vorgänge zusammen­hängt, von denen der Mensch im gewöhnlichen Leben zu­nächst nichts weiß, so lernt man auf der andern Seite er­kennen, daß die Seele mit dem Geist zusammenhängt. Während der Leib von der Außenseite erkannt wird, wird der Geist erkannt, indem man das schlafende Ich gewahr wird.

Wie in einem Punkte des Ich zusammengedrängt, so wird der Mensch als Geist vom gewöhnlichen Bewußtsein er­kannt. Verstärkt man die innere Seelenkraft, wie ich es ausführlich beschrieben habe in meinen Büchern «Wie er­langt man Erkenntnisse der höheren Welten», in der «Ge­heimwissenschaft» und «Vom Menschenrätsel», dann findet man, daß dieses Ich wirklich Inhalt bekommt, wie man zu dem Inhalte des Leiblichen für die bloß inneren Empfin­dungen durch methodische wissenschaftliche Forschung ge­langt. Man kommt zu einer wirklichen Geist-Erforschung, wie man kennenlernt die chemischen Veränderungen, die im Blute oder sonst im Leibe vor sich gehen, wenn der Mensch Hunger oder Durst hat oder Sättigung fühlt. So

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lernt man erkennen, wie eine Vorstellung, die in uns lebt und zunächst bloße Vorstellung ist, jetzt erfüllt ist von einem bildhaften Inhalt, der nicht so abstrakt ist wie die Vorstellung, die im gewöhnlichen Bewußtsein waltet, einem Inhalt, den der Geistesforscher ins Bewußtsein heraufhebt, so daß die Vorstellung wie eine Wahrnehmung dieses bild­haften, imaginativen Inhalts wird. Vor das geistige Auge des Geistesforschers treten imaginative Vorgänge, und sie verändern sich. Wenn zum Beispiel eine Vorstellung wär­mer wird, was für das gewöhnliche Bewußtsein alles im Unterbewußten vor sich geht, dann wird aus der Vorstel­lung etwas ganz anderes. Dann wird daraus etwas, was nun nicht bloß eine Wissens-, eine Erkenntnis-, eine Wahrneh­mungsvorstellung ist, sondern eine den Willen motivierende Vorstellung. Das ist ein sehr bedeutsamer Fortschritt für den Geistesforscher, wenn er aufzusteigen vermag zu einer solchen Erkenntnis, durch die er einsieht, wie die Erkennt­nisvorstellung - unter deren Einfluß wir nichts tun, sondern nur von der Welt etwas wissen -, dadurch, daß sich ihr ima­ginativer Inhalt verändert, sich umgestaltet in eine Willens-vorstellung, die dann übergeht zu dem, was in uns handelnd wird oder werden kann. Da sieht man, wie das Geistige hinter dem Seelischen steht und in fortwährender wirklicher Veränderung ist. Wie wir leiblich chemische und physi­kalische Vorgänge im Leibe beschreiben können, so können wir geistig beschreiben, wie hinter dem Vorstellungs-, Ge­fühls- und Willensleben Veränderungen liegen, die vom Ima­ginativen ins Inspirierte und ins Intuitive gehen. Und wie aus der chemischen Veränderung des Leibes subjektiv Hun­ger und Durst erscheint, so erscheint umgekehrt das Geistige subjektiv, entweder als eine Wahrnehmungsvorstellung oder auch eine Gefühlsvorstellung, die sich dann in eine Willensvorstellung umwandelt. So gelangt man ganz konkret

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hinein in die Möglichkeit eines wirklichen Beschreibens desjenigen, was hinter der Seele als geistige Wesenheit lebt und webt, wie hinter der Seele nach der andern Seite lebt und webt das Leibliche. Man kommt dann dazu, daß das wirklich gegenständlich wird im Menschen, was so vor dem erkrafteten Seelenleben auftreten kann, daß das, was ich vorher «Bildekräfte-Leib» genannt habe, von uns so erfühlt wird, wie sonst nur der physische Leib erfüllt wird. Dann lernt man auch dasjenige, was draußen in der Welt lebt über das Sinnliche hinaus, als Übersinnliches in ganz kon­kreter Weise erkennen.

Es liegt in der Natur solcher Vorträge, wie ich sie hier halte, daß ich in einem früheren Vortrage manches vorausnehme, was genauer in späteren Vorträgen ausgeführt wird. So wird es auch mit dem Folgenden, was ich jetzt zu sagen habe, sein. Aber ich will doch heute schon darauf aufmerk­sam machen. Die Pflanze, die ein lebendes Wesen ist, ist nicht nur aus dem zusammengesetzt, was Physik und Che­mie, oder die aus ihnen wiederum zusammengesetzte Bio­logie oder Physiologie erforschen kann, sondern sie enthält noch etwas ganz anderes. Haben wir es in uns selbst so weit gebracht, daß wir uns in einem Bildekräfte-Leib fühlen, wie sonst mit unserm gewöhnlichen Ich in einem physischen Leib, dann können wir, wie wir im physischen Leib Auge und Ohr zu Sinneswahrnehmungen benutzen, durch diesen Bildekräfte-Leib, den wir aus dem seelischen Tastsinn her­aus differenziert haben, auch wahrnehmen, was Übersinn­liches in der übrigen Welt ist, was als Übersinnliches die Natur durchsetzt und durchwebt. Dann sehen wir in allem Pflanzlichen, allem Tierischen und auch physisch Mensch­lichen außer uns das Geistige, das dann nicht ein in trivialem Sinne Visionäres ist, sondern ebenso vor der erkrafteten Seele dasteht wie der Inhalt der Sinneswahrnehmungen vor

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der unerkrafteten Seele. Nur müssen wir überall die Rau­mesbegriffe durch Zeitbegriffe ersetzen können. Wodurch nehmen wir eigentlich wahr dasjenige, was übersinnlich in der Pflanze ist? Dadurch, daß wir unser eigenes Übersinn­liches im Bildekräfte-Leib, wie er sich regt und webt, wahr­nehmen, dadurch nehmen wir nun auch das Übersinnliche in der Pflanzenwelt wahr, ähnlich, wie wenn ein Ton in einem musikalischen Zusammenhang den andern wahrneh­men würde. Die Wahrnehmung des Übersinnlichen in der Pflanzenwelt beruht ganz und gar darauf, daß unser eigener Bildekräfte-Leib in seinem Leben und Weben in einem viel langsameren Tempo abläuft als das Leben und Weben des pflanzlichen Bildekräfte-Leibes. Ich habe das genauer aus­geführt in einer kleinen Schrift «Das menschliche Leben vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft». Da wird man fin­den, wie alles abhängt von diesem verschiedenen Tempo in dem Zeitmaße des menschlichen und des pflanzlichen Bildekräfte-Leibes. Dadurch, daß sich unser Bildekräfte-Leib in Wechselwirkung versetzen kann wie ein höheres, bildsames Organ mit dem viel schneller ablaufenden Leben der Pflanze, dadurch nehmen wir wirklich die andere Art des Lebens im Pflanzlichen wahr. Dadurch wird etwas ganz anderes vor unsere Seele treten als die alte, erspekulierte Lebens­kraft war. Wir nehmen, mit anderen Worten, Übersinn­liches im Sinnlichen wirklich wahr.

Es ist ja schwierig, heute schon von diesen Dingen so unbefangen zu sprechen. Nur wenn man sich in gewissem Sinne zur Erkenntnis der Wahrheit verpflichtet fühlt, tut man dieses. Denn es besteht ja in weitesten Kreisen selbst­verständlich die Meinung, daß solche Dinge, wie sie jetzt ausgesprochen worden sind, nicht auf wirklich wissenschaft­lichem Geiste beruhen, sondern auf irgendwelcher Phanta­stik oder Träumerei. Nur langsam und allmählich wird die

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Menschheit lernen, daß dies keine Träumerei, keine Phanta­stik ist, sondern eine, wenn auch auf einem andern Wege als auf dem der Naturwissenschaft verlaufende, methodische Forschung über das Geistige. Ebenso wird die Menschheit das lernen, wie sie, was auch einmal als Träumerei und Phantastik galt, die Kopernikanische Weltanschauung, als Wahrheit eingesehen hat. Gewisse Bekenntnisse haben ja allerdings bis zum Jahre 1829 gebraucht, bis sie diese Ko­pernikanische Weltanschauung als Wahrheit gelten ließen. Hoffentlich wird es nicht so lange dauern mit der Anerken­nung dieser geistigen Wahrheiten, auch aus sozialen Grün­den, die heute hier nicht angeführt werden können, die an­geführt werden sollen in dem Vortrage, den ich in diesem Zyklus über das geschichtliche Leben der Menschheit halten werde.

Heute bestehen allerdings in bezug auf das Ganze und in bezug auf die Einzelheiten dieser geistigen Erkenntnis die paradoxesten Vorurteile, die aber selbstverständlich er­scheinen und auch zahlreich sein müssen. Ich will von allen nur eines erwähnen. Ich habe schon vor vierzehn Tagen er­wähnt, daß vor kurzem Pfarrer Rittelmeyer in «Die christ­liche Welt» in religiös durchleuchteter Weise eine schöne Abhandlung geschrieben hat über dasjenige, was Geistes­wissenschaft will, und was sie auch als eine wirklich tiefere Grundlage des religiösen Lebens werden kann. Von einer Seite her, die in weiten Kreisen viel Anerkennung findet, ist nun unter manchem andern, was ich hier nicht erwähnen will, gegen die Ausführungen des Pfarrers Rittelmeyer eingewendet worden: Wenn schon die Menschenseele sich zu einer geistigen Welt erheben soll, so dürfe das auf keine Weise so geschehen, daß der Mensch willkürlich durch Übun­gen sein Seelisches in die geistige Welt hineinträgt, sondern das müsse von selbst kommen. Man kann, vom geisteswissenschaftlichen

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Standpunkte betrachtet, nichts Unverstän­digeres sagen als dieses. Denn gerade, wenn dieses Hinein-leben in die geistige Welt von selbst kommt, wenn es auf­tritt, ohne daß der Mensch etwas dazu tut, kommt der Mensch nicht in die wirkliche geistige Welt hinein, sondern nur in den Wahn irgendwelcher Vorstellungen, die nicht geistig sind, weil der Mensch sich dabei nicht aktiv, sondern passiv verhält. Er kommt zu einem Leben, das schon wie­derum abhängig ist vom Leib, von irgendwelchen organi­schen Vorgängen im Leib, und dann ist es pathologisch, oder abhängig von bloß seelischen Vorgängen, und dann ist es eine Einbildung, eine Autosuggestion oder dergleichen. Gerade darauf beruht das wirkliche Hineindringen in den Geist, daß man gewahr wird, wie das nur erreicht werden kann durch Aktivität, durch Betätigung des eigenen inner­sten menschlichen Willens. Dieser ist es allein, der uns in die wirkliche geistige Welt hineinträgt. Wer also sagt, es sei bedenklich, daß Übungen verlangt werden, durch die der Mensch auf willkürliche Weise das erreichen soll, was ihm nur wie durch eine Gnade gegeben werden könne, versteht gar nichts von dem eigentlichen Nerv, von der eigentlichen Bedeutung dieser Geisteswissenschaft, der weiß aber auch nichts vom wirklichen Geiste, sondern nur von jenem er­träumten Geiste, der als eine Autosuggestion in der mensch­lichen Seele lebt. Aber es wissen heute recht viele Menschen nichts vom wirklichen Geiste. Daher können sie nicht zu einer wirklichen Betrachtung des Ewigen, des Unsterblichen und des Freien in der Menschenseele kommen.

Auf zwei Wegen kommt man heraus aus demjenigen, was in der menschlichen Seele entweder nur Innenleben ist oder abhängig ist vom Leibe. Auf jenem Wege kommt man nicht heraus, auf dem es zum Beispiel die «Physiologische Psycho­logie» von Theodor Ziehen versucht. Wenn Ziehen sagt,

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wir können nicht denken, was wir wollen, sondern wir müssen denken, wie es die Assoziationen bestimmen, wie sich die Vorstellungen zueinander vergesellschaften, gerade dann zeigt er, daß er im Grunde genommen mit seiner gan­zen Betrachtung vom Geiste ablenkt. Man kann sagen, die Ziehensche Betrachtung des menschlichen Seelenlebens ist dadurch allein so, wie sie ist, daß Ziehen die wirklichen Geistimpulse der menschlichen Seele verschläft. Daher kann Ziehen sagen, das Hauptgesetz des menschlichen Seelen­lebens ist, daß sich eine Vorstellung mit der andern ent­weder nach ihrer inneren Ähnlichkeit oder nach ihrer zeit­lichen Folge verbindet. Wenn ich einen Freund an einem bestimmten Orte gesehen habe und nachher den Freund wiederum sehe, so kann der Ort, der mit ihm zeitlich ver­bunden war, sich wiederum mit ihm assoziieren. Wenn das Seelenleben so abläuft, nur nach diesen Assoziationsgeset­zen, dann läuft es so ab, wie der Leib dieses Seelische ab­laufen läßt. Es schläft eben gerade der Geist. Es taucht der Geist unter in das bloß vom Leibe abhängige Seelenleben. Die gegenwärtige Psychologie drängt das ganze Leben der Seele hinunter in das Leibliche, sie betrachtet nur dasjenige Seelenleben, in das der Geist so untertaucht, daß er dar­innen nicht mehr wirklich ist. Denn das wirklich Geistige beginnt überall da, wo wir uns von den Assoziationen durch innerliche Aktivität unabhängig machen. Das wirk­lich Geistige beginnt überall da, wo Ziehen zu reden auf­hört, und wo überhaupt alle Psychologie, die sich heute auf Naturwissenschaft begründen will, zu reden aufhört.

Nach zwei Richtungen kommt man heute aus dem bloßen Seelenleben hinaus. Auf der einen Seite können wir da­durch hinauskommen und zum Geiste aufsteigen, daß wir, nachdem wir uns in unserm eigentlichen Ich bewußt ge­worden sind, indem wir den Bildekräfte-Leib erfühlen,

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wie wir sonst den physischen Leib erfühlen, dadurch in der äußeren Welt das Übersinnliche sehen. Dann kommen wir aber zu einer noch höheren Vorstellung von unserm Ich, dann kommen wir zu der Erkenntnis, warum für das ge­wöhnliche Bewußtsein dieses Ich sich verbirgt: Im Grunde genommen entspringt dieses Ich so wenig aus dem gewöhn­lichen Seelenleben heraus, wie aus der Lunge die Luft kommt, die wir atmen. Wer da glaubt, daß das wahre Ich drinnen im Leibe irgendwie erzeugt wird, glaubt auf diesem Ge­biete dasselbe wie der, der glaubt, daß der Atem irgendwie aus der Lunge erzeugt werde. Nein, unser wahres Ich ist in der Welt drinnen, die wir imaginativ aufnehmen. Da finden wir auf der einen Seite das Ich, indem wir es zum Erwachen bringen, es über die bloße Sinneswahrnehmung zum Übersinnlichen bringen. In diesem Ich finden wir die eine Seite des Ewigen, jene Seite, die uns den Keim zu alle dem zeigt, was aus uns wird, wenn wir durch die Pforte des Todes durchgehen und uns in die geistige Welt hineinleben, um zu folgenden Erdenleben zurückzukehren.

Auf der andern Seite finden wir das Ich wiederum. Es ist dasselbe. Der Mensch im gewöhnlichen Leben verschläft das eigentliche Wesen seines Ich, er verschläft aber auch das eigentliche Wesen seines Willens. Wird der Bildekräfte-Leib ihm bewußt, so erwacht in gewisser Weise dasjenige, was im Willen lebt. Was weiß der Mensch im gewöhnlichen Leben von dem, was im Willen lebt? Hebt er die Hand, so weiß er, es kommt aus seiner Vorstellung. Aber wie diese wirkt, wie sie in den physischen Leib übergeht, das ver­schläft der Mensch vollständig im gewöhnlichen Wach-bewußtsein. Das wacht auch auf, nach und nach, wenn auch nicht im Bildekräfte-Leib. Wir erleben dann, aus welchen wirklichen tieferen Impulsen unsere Handlungen sich in die Welt hineinstellen, wir erleben hinter unserm Wollen ein

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Übersinnliches, von dem das gewöhnliche Bewußtsein nichts weiß. Indem wir auf der andern Seite über unser gewöhn­liches Seelenleben nach dem Geist hinausgehen, erleben wir den Geist im Wollen, jenen Geist, der uns schon getragen und gewoben hat, bevor wir durch die Geburt oder die Empfängnis in das physische Dasein eingetreten sind, durch den wir aus der geistigen Welt in das physische Dasein hin­eingekommen sind. So methodisch nach zwei Seiten hin über das gewöhnliche Seelenleben hinaustretend, erlebt der Geistesforscher sein Ewiges.

Das wird weiter in den nächsten Vorträgen auszuführen sein. Wie enthalten ist dieses Ewige in dem Inhalt des schau­enden Bewußtseins, wie wirklich dieses Ewige gefunden wird dadurch, daß wir zusammenzuschauen vermögen das­jenige, zu dem wir auf der einen Seite kommen, indem wir das Vorstellen hinausverfolgen über die bloße sinnliche Wahrnehmung in das Übersinnliche hinein, und das, zu dem wir auf der andern Seite kommen, indem wir das Wollen hinausverfolgen über das bloß Seelisch-Leibliche in das Geistige hinein.

Damit habe ich am Schlusse des heutigen Vortrags etwas von dem Programme für die nächsten Vorträge angegeben. Ich hoffe, Geisteswissenschaft wird hinauskommen über jenen Machtspruch Du Bois-Reymonds, womit er allem Geistesforschen den Boden unter den Füßen entziehen wollte, indem er den Grundsatz geltend machte, nur das­jenige, was von den Sinnen kommt, kann eigentlich Wis­senschaft sein, und da, wo der Supranaturalismus anfängt, hört die Wissenschaft auf. Nein, es soll durch unsere Weltbetrachtung, wie sie diese Vorträge bieten, gerade gezeigt werden, daß in Zukunft eine Menschheitsüberzeugung mög­lich sein wird, welche darauf fußt, daß überall da, wo wirklicher Supranaturalismus, wirkliches Eindringen in die

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geistige Welt aufhört, auch der bloßen Naturbetrachtung gegenüber die Wissenschaft ersterben muß. So sehen wir auch, wie die Naturwissenschaft selbst immer mehr und mehr tote, ersterbende Begriffe hat, denn das Lebendige kann nur aus dem Geiste kommen. Der Geist ist der Schöp­fer des Lebendigen, und er kann, wenn er erkannt wird, auch nur der Schöpfer sein von wirklichen, lebensvollen, wissenschaftlichen Begriffen.

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GOETHE ALS VATER DER GEISTESFORSCHUNG Berlin, 21. Februar 1918

Es würde mir gut verständlidi sein, wenn jemand die ganze Idee meiner heutigen Vortragsbetrachtungen als eine Ver­irrung ansehen würde, und ich würde auch verständlich fin­den, wenn jemand sagen würde, wie kann Goethes Name mißbraucht werden durch die Herstellung einer Beziehung zur Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist, da doch hinlänglich bekannt ist, daß Goethes Weltanschauungsweise gerade darin ihre Eigentümlichkeit hat, daß sie sich rein und klar auf das äußerlich Naturgemäße richtet, und daß sie schon recht zweifelhaft sich äußern mußte gegenüber einem Hinauftragen der Weltgesetzmäßigkeit in ideale Höhen, so wie dies Goethe etwa bei Schiller entgegentrat. Man kann dann sagen: Wie würde sich Goethe erst ab­lehnend verhalten haben, wenn man seine Begriffe, seine Vorstellungen in Zusammenhang hätte bringen wollen mit dem, was aus ganz bestimmten inneren Erlebnissen heraus eine konkrete wirkliche Geisteswelt anzunehmen geneigt ist, die sich neben die natürliche Welt hinstellt. Es ist mir ja auch hinlänglich bekannt, wie zur Herstellung einer sol­chen Beziehung ein so reicher Geist wie derjenige Goethes mißbraucht werden kann. Denn wenn man noch soviel Aussprüche Goethes anführt, um diese oder jene eigene An­schauung zu bekräftigen, so ist es selbstverständlich immer möglich, andere Aussprüche Goethes zur Bekräftigung der entgegengesetzten Meinung anzuführen. Allein gegenüber alledem darf ich von vorneherein erwähnen, daß es mir

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bei meiner wahrhaftig langjährigen Betrachtung Goethes und der Goetheschen Weltanschauung - meine erste größere Publikation über Goethe ist vor nahezu fünfunddreißig Jahren erschienen - niemals darauf angekommen ist, die­sen oder jenen Inhalt eines Goetheschen Satzes, einer Goethe­schen Anschauung, zur Bekräftigung der hier gemeinten Weltanschauung anzuführen. Es ist mir stets darauf ange­kommen, die ganze Art und Weise, das innere Gefüge des Goetheschen Seelenlebens in seinem Verhältnisse zum natür­lichen Geschehen, zum Weltgeschehen überhaupt, zu cha­rakterisieren. Denn es scheint mir, daß man gerade dann, wenn man auf diese Weise auf das innere Gefüge, auf die ganze Richtung und Artung des Goetheschen Wesens ein­zugehen vermag, auch ein Verständnis dafür gewinnen wird, was ja pedantischen Geistern so sehr widerstrebt, daß ein solcher Geist wie Goethe scheinbar entgegengesetzte An­schauungen geäußert hat über ein und dasselbe. Goethe heranzubringen an dasjenige, was man Erforschung des Geisteslebens oder überhaupt in streng wissenschaftlichem Sinne Erforschung des Weltgeschehens nennen könnte, da­gegen wird von den verschiedensten Seiten leicht etwas eingewendet werden können.

Zunächst glauben sich ja, wenn es sich darurn handelt, das Übersinnliche gegenüber dem Sinnlichen zu erforschen, die Philosophen vermöge der Ausbildung des menschlichen Denkens hierzu berufen. Es ist ja immer wiederum erinnert worden, wie Goethe die ganze Art und Weise seiner Stel­lung zur Welt wiederholt dadurch charakterisiert hat, daß er sagte, alles das, was er als Erkenntnis über die Welt aus­gebildet habe, verdanke er im Grunde genommen dem Um­stande, daß er nie über das Denken gedacht habe. Damit allein scheint für viele philosophisch denkende Menschen die ganze philosophische Artung Goethes verurteilt zu sein.

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Es scheint damit nötig, Goethes Wesensart für die Erfor­schung des Weltenzusammenhanges abzulehnen, insofern man bei einer solchen Erforschung hinausgehen muß über das, was sie unmittelbar den Sinnen darbietet. Wiederum werden sich die religiösen Naturen, welche das Gemüt hin-lenken wollen aus der Welt, die den Menschen sinnlich um­gibt, zu einer Welt, welche außerhalb dieses Sinnlichen ist, selbstverständlich stoßen müssen an einem für die Goethe­sche Anschauung so prägnanten Ausspruch, wie er ihn selbst getan hat. Es war ihm, so deutet er es klar an, immer im höchsten Grade unsympathisch, von Dingen einer anderen Welt zu sprechen. Er drückt sich sogar einmal darüber so aus, daß er sagt: «Wie im Auge ein Fleck ist, der eigentlich nichts sieht, so befindet sich im Gehirn des Menschen eine hohle Stelle. Und wenn diese hohle Stelle, die eigentlich nichts sieht, allerlei Zeug in die Welt hineinträumt, so spricht man von solchen Nichtigkeiten wie von den Dingen einer andern Welt.» Als Goethe diesen Ausspruch tat, wies er auch darauf hin, wie ein so nach dem Geistigen hin veran­lagter Mensch wie J. G. Hamann, den man auch wegen seiner geistigen Veranlagung den «Magus des Nordens» genannt hat, ein Zeitgenosse Herders und Goethes, unruhig wurde, wenn man nur von den Dingen einer andern Welt sprach. Goethe gibt Hamann in dieser Beziehung vollstän­dig recht. In der energischsten Weise lehnte Goethe ab, von den Dingen einer andern Welt zu sprechen. Ja die Naturforscher selbst, trotzdem auf sie der Name und der große Einfluß Goethes stark gewirkt hat, können sich, wenn sie ganz aufrichtig auf dem Boden der heutigen Naturwissen­schaft stehen, nach ihrer Anschauungsweise darauf berufen, daß Goethe zum Beispiel in seiner Farbenlehre gezeigt hat, wie er niemals in die streng wissenschaftliche Forschungsart, welche notwendig ist, um die Natur nach ihrer Gesetzmäßigkeit

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zu erkennen, hat eindringen können, daß diese ihm niemals gemäß war, und daß er gerade dadurch zu einer von der herrschenden Lehre so abweichenden An­schauung über die Farbenwelt gekommen ist.

Nun kann es hier nicht meine Aufgabe sein, die Goethe­sche Naturwissenschaft aus sich selbst heraus zu rechtfer­tigen. Ich habe das in einer ganzen Reihe von Schriften ausgeführt. Heute soll es nur meine Aufgabe sein, einige Fäden von der Geisteswissenschaft aus nach der Goethe­schen Naturforschung herüberzuziehen. Vor allen Dingen möchte ich anknüpfen an dasjenige, was wirklich für den, der Goethe nähertritt, etwas außerordentlich Charakte­ristisches bei diesem Geiste ist: die Ablehnung des Denkens über das Denken. Man hat nicht nur da, wo Goethe einen solchen Ausspruch tut wie den, daß er niemals über das Denken habe denken mögen, sondern auch überall, wo man es nur erkennen will, im Verfolg der Goetheschen Welt­anschauung die Empfindung, daß es Goethe wie etwas gei­stig instinktiv in ihm Liegendes war, sich geradezu zu scheuen, im Sinne eines rechten Philosophen, wie man oftmals meint, das Denken selbst einer denkenden Betrachtung zu unterziehen. Er schreckte davor zurück wie vor etwas, das ihm etwas hätte nehmen müssen, was sonst seine Stärke, seine Kraft in der Weltbetrachtung ausmachte. An einer solchen Stelle, wo Goethe sich selber in dieser Art charak­terisiert, muß man Halt machen, da man von hier aus recht tief in das Gefüge des Goetheschen Geistes hinein­schauen kann. Faßt man gerade philosophisch geartete Na­turen ins Auge, die gerungen haben mit dem, was das Denken der Menschenseele ist, so kann man bemerken, wie die Hinlenkung der menschlichen Seelenkräfte auf das Den­ken, so daß man das Denken selber zu einem Beobachtungs­objekte machen möchte wie andere Beobachtungsobjekte

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unserer Erfahrungswelt, immer etwas in der Seele hervor­ruft, das sich wie ein unübersteigliches Hindernis gegenüber irgend etwas ausnimmt. Es bringt diese Hinlenkung des Denkens auf das Denken selbst den Menschen in eine ganze Summe von Ungewißheiten hinein. Obgleich man eigentlich immer, wenn man im Ernste das Übersinnliche erforschen will, darauf hingewiesen wird, sich zu fragen: Ist dieses menschliche Denken imstande, in die geistige Welt einzu­dringen? kommt man trotzdem dazu, sich in der Ungewiß­heit, dem Zweifel, einem gewissen inneren Schwanken gegenübergestellt zu sehen.

Als einen einzelnen Tatsachenbeweis dafür, der in hun­dertfältiger Weise vermehrt werden könnte, möchte ich den Ausspruch eines neueren Denkers anführen, eines Denkers, der zwar weniger bekannt geworden ist, der aber für die­jenigen, die ihn kennen, zu den, wenn auch nicht tiefsten, so doch eindringlichsten Denkern der neueren Zeit gehört, des Professors Gideon Spicker, des Philosophen mit dem merkwürdigen Geschicke, der sich herausgearbeitet hat aus einer konfessionellen kirchlichen Weltanschauung zu einem freien philosophischen Standpunkt. Man kann verfolgen, wie dieser Denkerweg geartet war, wie da einmal ein Den­ken wirklich durch eigene Kraft sich aufgeschwungen hat aus einem traditionellen zu einem freien Gesichtspunkt, wenn man sein Buch liest «Am Wendepunkt der christ­lichen Weltperiode. Philosophisches Bekenntnis eines ehe­maligen Kapuziners», das im Jahre 1910 als eine Art von philosophischer Selbstbiographie von Gideon Spicker er­schienen ist. Man findet da folgenden Satz, der die Wieder­gabe eines Selbsterlebnisses mit dem Denken ist:

«Zu welcher Philosophie man sich bekenne: ob zur dog­matischen oder skeptischen, empirischen oder transzenden­talen, kritischen oder eklektischen: alle ohne Ausnahme

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gehen von einem unbewiesenen und unbeweisbaren Satz aus, nämlich von der Notwendigkeit des Denkens. Hinter diese Notwendigkeit kommt keine Untersuchung, so tief sie auch schürfen mag, jemals zurück. Sie muß unbedingt angenommen werden und läßt sich durch nichts begründen; jeder Versuch, ihre Richtigkeit beweisen zu wollen, setzt sie immer schon voraus. Unter ihr gähnt ein bodenloser Abgrund, eine schauerliche, von keinem Lichtstrahl erhellte Finsternis. Wir wissen also nicht, woher sie kommt, noch auch wohin sie führt. Ob ein gnädiger Gott oder ein böser Dämon sie in die Vernunft gelegt, beides ist ungewiß.»

Das ist ein Selbsterlebnis über das Denken, über ein Denken, das, nicht bloß durch äußere wissenschaftliche Be­strebungen gedrängt, sich klar zu machen suchte, was eigent­lich Denken ist, sondern das gerungen hat, das menschliche Wesen in dem Punkt zu ergreifen, wo es denkt, um in die­sem Punkt dasjenige zu finden, wo das Zeitliche, das Ver­gängliche des Menschen an das Ewige angeknüpft ist. An diesen Punkt muß eigentlich jeder kommen, der nicht in oberflächlicher Weise, sondern in tieferer Art sich dem ewigen Wesen im Menschen nähern will. Aber was findet Gideon Spicker? Er findet, wenn man an der Stelle an­gekommen ist, wo das Denken betrachtet werden kann, da zeigt sich einem zwar die Notwendigkeit des Denkens, aber es zeigt sich auch ein bodenloser Abgrund. Denn jen­seits dieses Denkens - was ist da? Ist es ein gnädiger Gott oder ein böser Dämon, der das Denken in die Vernunft gelegt hat? Ein Abgrund, eine öde Finsternis ist das, was Gideon Spicker sieht. Man kann unmittelbar erfahren, daß alle diejenigen, die nicht weiterkommen können durch die Verfolgung des Denkens als bis zum Denken, sich trotzdem innerhalb dieses Denkens nicht befriedigen können.

Dies alles ist wie geistig instinktives Erleben in Goethes

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gesunder Weltanschauung. Man kann nicht sagen, daß er sich jemals in seinem Innern bereit gefunden hat, sich den bodenlosen Abgrund etwa vor Augen zu führen, von dem Gideon Spicker spricht. Allein, daß einem so etwas ge­schehen könne, wenn man nur mit dem bloßen Denken die Welträtsel lösen will, das fühlte Goethe, das empfand er. Daher näherte er sich gar nicht diesem Punkte, daher ließ er gewissermaßen die Betrachtung des Denkens außer seinem Bereiche liegen. Wir werden gleich nachher sehen, welche tieferen Impulse diesem Goetheschen Instinkte zugrunde lagen. Vorerst wollte ich nur darauf aufmerksam machen, daß Goethe sehr wohl an dem Punkte war, wo die Philosophen stehen, wenn sie das Ewige in der Men­schennatur und in der Welt erforschen wollen, daß er aber diesen Punkt, ich möchte sagen, umging, sich ihm nicht näherte.

Ebenso kann man Goethe unmittelbar innerlich seiner ganzen Artung nach erfassen, wenn man bei seiner Ab­lehnung aller Dinge einer andern Welt Halt macht. Da zeigt sich gerade der entgegengesetzte Impuls bei ihm, der entgegengesetzt ist seiner Ablehnung des Denkens, ent­gegengesetzt auch der Ablehnung einer bloß philosophi­schen Weltanschauung überhaupt, jener Impuls, der aus unmittelbarer geistiger Instinktivität heraus geltend machte, daß man nicht aus der Welt, die sich unmittelbar dem Sinne darbietet, herauszugehen brauche, um den Geist zu finden. Goethe war sich vielmehr klar, daß, wer den Geist zu finden vermag, ihn nicht in einer andern Welt zu suchen brauche, und umgekehrt, daß derjenige, der die Natur so wenig vom Geiste durchdrungen empfindet, daß er nötig hat, auf eine andere Welt zu reflektieren, auch in einer an­dern Welt höchstens Phantastisches, Träumerisches, niemals aber wirklich den Geist finden könne. Goethe suchte den

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Geist so sehr innerhalb der Dinge dieser Welt, daß er ab­lehnen mußte, ihn im Bereich irgendwelcher andern Welt zu suchen. Schon das Gefühl, man müsse aus dieser Welt herausgehen, um zum Geiste zu kommen, empfand er als etwas Geistloses.

Insbesondere aber bekommt man einen Eindruck von der Artung des Goetheschen Weltbeobachtens, wenn man den Blick darauf lenkt, wie Goethe sich den Erscheinungen der Natur gegenüber verhalten hat, wie er, mit anderen Worten, den Geist und das geistige Leben wirklich in der Natur gesucht hat. Es ist ja wohl in weitesten Kreisen be­kannt, daß Goethe nicht gerade schulmäßig, sondern erst in späteren Jahren seines Lebens an die verschiedensten Zweige der Naturwissenschaft herangekommen ist, und daß er aus seiner allgemeinen Weltanschauung heraus, aus sei­nen im Leben erarbeiteten Vorstellungen heraus genötigt war, mit den Naturerscheinungen zurechtzukommen. Herman Grimm hat mit Recht als ein bedeutsames Charakte­ristikum im Leben Goethes hervorgehoben, daß, während andere schulmäßig in einer gewissen Jugendzeit nach und nach methodisch in diese oder jene naturwissenschaftliche Betrachtungsweise eingeführt werden, Goethe in vieler Be­ziehung schon als reifer Mann durch die Lebensnotwendig­keit, durch die Lebenspraxis an naturwissenschaftliche Be­strebungen herangebracht worden ist, so daß er mit einer gewissen Reife sich eigengeformte Vorstellungen über diese oder jene Naturerscheinungen ausbilden mußte.

Er kam eigentlich in der Regel zu Vorstellungen, die sehr, sehr bedeutsam abwichen von dem, was über dieselben Dinge gerade die maßgebenden Naturwissenschafter seiner Zeit meinten. Man kann sagen, daß die Goethesche An­schauungsweise nicht nur der damaligen Naturforschung, sondern auch der landläufigen Naturwissenschaft der Gegenwart

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in einer gewissen Beziehung diametral gegenüber­steht.

Ganz unzulässig ist, wenn von mancher Seite her einzelne Aussprüche Goethes immer wieder herausgegriffen werden, um in einseitiger Art etwa die Anschauung Haeckels oder auch seiner Gegner zu belegen und dergleichen. Man kann ja - das erwähnte ich schon - aus Goethe, wenn man will, alles durchaus belegen und bekräftigen. Goethe ist zur Bo­tanik dadurch gekommen, daß er sich der Pflanzenkultur im Großherzogtum Weimar annehmen wollte, also aus der Praxis des Lebens heraus. Er ist zur Geologie durch den Ilmenauer Bergbau gekommen, zur Physik dadurch, daß ihm die naturwissenschaftlichen Sammlungen der Universi­tät Jena übertragen worden waren und so weiter. Also aus Lebensnotwendigkeit suchte er zu Vorstellungen zu kom­men, durch die er in die Geheimnisse der Natur, wie er sie empfand, eindringen konnte. Es ist hinlänglich bekannt, daß er auf diesem Wege Anschauungen ausgebildet hat, die zum Teil im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts, in­sofern sie auf äußere naturwissenschaftliche Tatsachen hin­weisen, ihre Bestätigung gefunden haben. Aber Goethe ist nicht wie andere Naturforscher zu diesen Anschauungen gekommen, sondern er ist von seiner umfassenden Den­kungsart aus dazu gedrängt worden, über gewisse Natur­vorgänge und Naturwesenhaftigkeiten in einer gewissen Weise zu denken. Man kann sagen, gleich bei seiner ersten, gerade epochemachenden Entdeckung ist dies der Fall.

Ich möchte nur kurz erwähnen, wie Goethes Gang durch die Naturforschung eigentlich gewesen ist.

Als Goethe in Jena durch die Beobachtung der anatomi­schen und der physiologischen Sammlungen mit der Tier­kunde, mit der Menschenkunde bekannt wurde, da machte er sich auch vertraut mit allerlei Lehren, welche in der damals

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gebräuchlichen Naturwissenschaft über den Menschen als äußeres sinnliches Wesen üblich waren. Man suchte da­zumal noch nach äußeren Unterschieden zwischen dem Men­schen und den Tieren. Man suchte in einer Weise, die der heutigen gebräuchlichen Naturanschauung schon gar nicht mehr verständlich ist. Man suchte zum Beispiel in einer Einzelheit den Unterschied des Menschen von den Tieren, indem man sagte: In der oberen Kinnlade zeige sich deut­lich, daß der Mensch keinen Zwischenkieferknochen habe, während die höheren Tiere alle diesen Knochen hätten. Goethe ging das gegen seine ganze Empfindung, einfach aus dem Grunde, weil er sich zunächst nicht denken konnte, daß der gesamte übrige Bau des Menschen, wenn er auch in seiner Gesamthaltung von dem Bau des Tieres gründlich unterschieden ist, sich von diesem in einer solch unbedeu­tenden Einzelheit wie das Fehlen eines Zwischenkiefer­knochens in der oberen Kinnlade unterscheiden könne. Goethe suchte nun, indem er selber zum anatomischen For­scher wurde, indem er Skelett nach Skelett vornahm und den Menschenbau mit den Tieren in bezug auf die obere Kinnlade verglich, ob das wirklich eine innere Bedeutung habe, was da die Anatomen sagten. Und Goethe hat wirk­lich zu zeigen vermocht, daß ein Unterschied zwischen dem menschlichen und dem tierischen Skelett in dieser Beziehung nicht vorhanden ist. Er hat dabei selbst die embryologische Forschung, die später ja ganz besonders wichtig geworden ist, schon zu Rate gezogen und gezeigt, daß beim Menschen verhältnismäßig früh während der Keimesausbildung die übrigen Teile des Oberkiefers mit dem Zwischenkiefer so verwachsen sind, daß dieser beim Menschen gar nicht vor­handen zu sein scheint, während bei den Tieren eine deut­liche Scheidung zwischen diesem Zwischenkiefer- und den anderen Oberkieferknochen festzustellen ist. Goethe war

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sich also klar geworden, daß es richtig war, was er zuerst empfunden hatte, daß der Mensch nicht durch eine solche Einzelheit seines Baues, sondern nur durch dessen ganze Haltung von den Tieren verschieden sei. Goethe wurde dadurch selbstverständlich nicht zum materialistischen Den­ker. Aber es war ihm möglich, dadurch Ideen näherzu­treten, die ihm vor allem durch seine Bekanntschaft mit Herder nahelagen, der eine umfassende Denkungsweise ausdehnen wollte auf alle Welterscheinungen, so daß die Weltentwickelung eine innere Notwendigkeit darstellte, die in ihrem Gipfel zuletzt den Menschen hervorbringt. Wie kann man sich denken, meinte Goethe im Einklang mit Herder, daß in der Weltentwickelung eine große Har­monie, eine innere gesetzmäßige Notwendigkeit waltet, und daß dann plötzlich irgendwo ein Strich gemacht wird, daß diesseits dieses Striches die ganze Tierentwickelung steht und jenseits dieses Striches die Menschheitsentwicke­lung, die durch eine so unbedeutende Einzelheit von der Tieresentwickelung verschieden sein soll? Man kann es der Art, wie Goethe spricht, als er durch den Zwang der Tat­sachen zu der Annahme dieses Knochens beim Menschen gekommen war, ansehen, worum es ihm eigentlich zu tun war. Wahrhaftig nicht um eine einzelne naturwissenschaft­liche Entdeckung, sondern darum, in der ganzen umfassen­den Natur eine harmonische Ordnung zu erblicken, so daß sich das Einzelne überall in ein Ganzes hineinstellt, daß das Einzelne nirgends herausfällt, daß nirgends Klüfte und Sprünge in der Entwickelung der Welt zu finden seien. Einem Briefe an Herder, in dem er diesem freudig seine Entdeckung mit den Worten mitteilte: «Er ist auch da, der kleine Knochen!», merkt man es an, daß Goethe an dieser einzelnen Tatsache etwas wie eine Bestätigung der sein gan­zes Wesen durchziehenden Weltanschauung fand.

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Diese Anschauung hat er ja gerade in bezug auf die Tiergestaltung weitergeführt. Auch da kam Goethe auf einzelne Tatsachen, die aber für ihn nicht als solche wichtig waren, sondern nur als Bekräftigung seiner gesamten Welt­anschauung. Er erzählt es selbst, wie er bei seinem Aufent­halt in Venedig auf dem Friedhof einen Tierschädel fand, der ihm deutlich zeigte, daß die Kopfknochen nichts an­deres sind als umgewandelte Knochen des Rückgrates. Die gewöhnlichen Ringknochen des Rückgrates, die nur ein­zelne Erhöhungen haben, stellte sich Goethe so vor, daß dasjenige, was daran Erhöhung ist, weiter auswachsen kann, und daß das, was nur wie ein Ring erscheint, sich abflachen kann, so daß also ein scheinbar ganz Einfaches und Primitives sich so metamorphosieren kann, daß das, was in äußerlich ganz anderer Gestalt das Gehirn um­schließt, nichts anderes darstellt als eine Reihe von umgewandelten Rückenwirbelknochen. Er fand also, daß das, was als ringförmiger Wirbelknochen in verhüllter Weise allerlei Wachstumsmöglichkeiten enthält, sich umwandeln kann zum Schädelknochen, der dann das Gehirn umschließt. Dadurch kam Goethe zu der Idee, daß der Mensch und das Tier, und überhaupt die verschiedenen Wesenheiten des organischen Lebens, aus verhältnismäßig einfachen Gebil­den aufgebaut sind, aus solchen Gebilden aber, welche sich in lebendiger Metamorphose in- und auseinander bilden. Man kann, wenn man so recht eingeht auf das, was Goethe mit solchen Forschungen wollte, unmittelbar die Empfin­dung erhalten, daß Goethe eigentlich nicht nur auf das Skelett, sondern auf alle übrigen Glieder der menschlichen Wesenheit diese Metamorphosenlehre anwenden wollte, daß er nur, weil selbstverständlich ein Mensch nicht alles machen kann, und er ja mit eingeschränkten Forschungs­mitteln arbeitete, eben nur auf einem speziellen Gebiet

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seine Forschung durchführen konnte. Dem, der Goethes naturwissenschaftliche Schriften kennt, ist ja hinlänglich be­kannt, wie Goethe in sorgfältiger Weise die Schädelknochen als umgewandelte Rückenwirbelknochen aufgezeigt hat. Dabei kann man aber eben die Empfindung haben, daß Goethes Ideen auf diesem Gebiete noch viel weiter gingen. Goethe hätte überhaupt in seinem Innern die Anschauung tragen müssen, daß das ganze menschliche Gehirn als äußer­liches physisch-sinnliches Organ nur ein umgewandeltes Stück aus dem Rückenmark ist, daß die menschlichen Bildekräfte die Fähigkeit haben, das, was auf niederer Stufe nur ein Glied des Rückenmarks ist, umzuwandeln in das kom­plizierte menschliche Gehirn. Diese Empfindung hatte ich, als ich Ende 1889 die Aufgabe erhielt, im weimarischen Goethe- und Schillerarchiv zu den bis dahin veröffentlich­ten Schriften Goethes über Naturwissenschaft diejenigen hinzuzuverarbeiten, die bis dahin handschriftlich geblieben waren. Besonders interessant war es mir, zu verfolgen, ob solche Ideen in Goethe wirklich gelebt haben, von denen man die Empfindung haben konnte, daß sie eigentlich bei ihm dagewesen sein mußten. Insbesondere interessierte es mich, ob Goethe wirklich den Gedanken hatte, das Gehirn als ein umgewandeltes Rückenmarkglied anzusehen. Und siehe da, bei der Durcharbeitung der Goetheschen Manu­skripte ergab sich wirklich, daß in einem Notizbuch mit Bleistift wie eine Intuition Goethes hingeschrieben der Satz sich fand: «Das Gehirn ist nur ein umgewandeltes Rückenmarkganglion.» Dieser Teil der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes, der den 8. Band der II. Abteilung der großen weimarischen Ausgabe bildet, ist dann von dem Anatomen Bardeleben besorgt worden. Da können Sie diese Auslassung Goethes über das menschliche Gehirn an­geführt finden.

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Dieselbe Denkungsweise hat dann Goethe, wie hinläng­lich bekannt ist, im Grunde auch auf die Welt der Pflanzen angewendet. Und da haben seine Anschauungen ebenso­wenig, was die äußeren Tatsachen betrifft, Widerspruch gefunden wie auf anatomischem Gebiet. Goethe faßt die ganze Pflanze eigentlich als aus einem einzigen Organ zu­sammengesetzt auf. Dieses einzige Organ sieht er im Blatte. Nach rückwärts und vorwärts ist die Pflanze immer nur Blatt. Das buntgefärbte Blumenblatt ist ihm das umge­wandelte grüne Pflanzenblatt, ja auch die Staubgefäße und das Pistill sind ihm nur umgewandeltes Blatt, alles ist an der Pflanze Blatt. Das, was im Pflanzenblatt als Bildekraft lebt, hat die Fähigkeit, alle möglichen äußeren Formen an­zunehmen. Das hat ja Goethe so schön ausgeführt in seiner 1790 erschienenen Schrift «Ein Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären».

Wie man sich nun auch zu den Einzelheiten, sei es auf diesem, sei es auf jenem Gebiete der Naturforschung bei Goethe verhalten mag, man kann als ein Durchgreifendes in seiner ganzen Naturforschung eins ins Auge fassen: die Art, wie er überhaupt geforscht hat. Diese Art war aller­dings vielen etwas Fremdes und ist auch heute vielen etwas Fremdes. Goethe hat sich selbst klar über diese Artung ausgesprochen. Man denke sich, wie die Menschenseele, die im Goetheschen Sinne der äußeren Lebewelt gegenübersteht, genötigt ist, solch ein Organ wie das Pflanzenblatt sich in Umwandlung zu denken zum Blumenblatt, dann wiederum zu dem fadenförmigen Staubgefäß, ja sogar umgewandelt zur Wurzel. Man denke sich einen einfachen ringförmigen Rückenwirbel durch innere Wachstumsgesetze aufgeplustert und verflacht, so daß er in seiner Ausbildung geeignet wird, nicht nur das Rückenmark, sondern auch das Gehirn zu umschließen, das selber wiederum aus einem

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Rückenmarksgebilde umgewandelt ist, und wie dazu nötig ist, was Goethe selber empfunden hat als die innere Beweg­lichkeit seines Denkens. Er hat es wohl empfunden, was daran hindert, die Welterscheinungen so anzusehen. Wer ein starres Denken hat, wer ein solches Denken hat, das nur scharf konturierte Begriffe ausbilden will, der bildet sich den festen Begriff des grünen Blattes, des Blumenblattes und so weiter, kann aber nicht von einem Begriff zum an­dern übergehen. Dabei fällt ihm die Natur in lauter Ein­zelheiten auseinander. Er hat nicht die Möglichkeit, weil seine Begriffe selber keine innere Beweglichkeit besitzen, in die innere Beweglichkeit der Natur einzudringen. Dadurch kommt man aber darauf, sich einzuleben in die Goethesche Seele und sich davon zu überzeugen, daß bei ihm das Erken­nen überhaupt etwas ganz anderes ist als bei vielen anderen. Während bei vielen anderen das Erkennen ein Zusammen­fügen von Begriffen ist, die sie getrennt bilden, ist bei Goethe das Erkennen ein Untertauchen in die Welt der Wesenheiten, ein Verfolgen desjenigen, was wächst und wird und sich fortwährend verwandelt, ein solches Ver­folgen, daß sich sein Denken selber dabei fortwährend ver­wandelt, daß es fortwährend wird, fortwährend von einem ins andere übergeht. Kurz, Goethe bringt in innere Be­wegung dasjenige, was sonst bloßes Denken ist. Dann ist es nicht mehr bloßes Denken. Darüber werde ich näher in den nächsten Vorträgen sprechen. Es handelt sich dabei, um es nur kurz anzudeuten, darum, daß der Mensch das, was sonst bloß kombinierendes Denken ist, wie es dem zu­grunde liegt, was man heute oftmals allein «Wissenschaft» nennt, zum innerlichen Denkleben erweckt. Dann ist das Denken ein Leben im Gedanken. Dann kann man auch nicht mehr über das Denken denken, sondern dann ver­wandelt es sich überhaupt in etwas anderes. Dann verwandelt

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sich das Denken über das Denken in eine geistige An­schauung des Denkens, dann hat man das Denken so vor sich, wie man sonst äußere Sinnesobjekte vor sich hat, nur daß man diese vor Augen und Ohren hat, während man das Denken vor der von geistiger Anschauung erfüllten Seele hat. Goethe wollte überall übergehen von dem bloßen Denken zu den inneren geistigen Anschauungen, von dem bloßen Bewußtsein, wie es im Alltag vom Denken durch­tränkt ist, zum schauenden Bewußtsein, wie ich es in mei­nem Buche «Vom Menschenrätsel» bezeichnet habe. Daher ist Goethe unbefriedigt davon, daß Kant davon gesprochen hat, der Mensch könne mit seinem Forschen nicht an die sogenannten «Dinge an sich» oder überhaupt an das Ge­heimnis des Daseins herankommen, und daß Kant es «ein Abenteuer der Vernunft» nannte, wenn der Mensch von der gewöhnlichen Urteilskraft, die kombiniert, aufsteigen will zur «anschauenden Urteilskraft», die in dieser Weise das kombinierende Denken zum inneren Leben erweckt.

Goethe sagte, wenn man gelten läßt, daß der Mensch durch Tugend und Unsterblichkeit - die sogenannten Postu­late der praktischen Vernunft bei Kant - sich in eine höhere Region erheben kann, warum sollte man nicht im Anschauen der Natur das «Abenteuer der Vernunft» mutig bestehen! Goethe verlangt geradezu vom Menschen diese anschauende Urteilskraft. Von diesem Punkt aus ist es verständlich, warum Goethe jene Scheu trug vor dem, was man das Den­ken über das Denken nennt, daß er sich dem nicht hingeben wollte. Goethe wußte, daß, wenn man über das Denken denken will, man eigentlich ungefähr in derselben Lage ist, wie wenn man das Malen malen wollte. Man könnte sich ja denken, daß jemand das Malen malen will, daß er es sogar tut. Aber dann wird man sich wohl sagen, daß über das, was das eigentliche Malen ist, hinausgegangen wird.

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Ebenso muß über das Denken hinausgegangen werden, wenn es gegenständlich werden soll. Wovon ich hier in den schon gehaltenen Vorträgen dieses Winterzyklus gesprochen habe: daß der Mensch in der Lage ist, in seiner Seele schlum­mernde Kräfte und Fähigkeiten so auszubilden, daß er zum schauenden Bewußtsein kommt -, diese Möglichkeit, diese Fähigkeit hat Goethe wiederum instinktiv, geistig instink­tiv in sich getragen. Goethe wußte aus einem geistigen In­stinkte heraus, daß der Mensch in sich verborgene Fähig­keiten zum Leben erwecken kann. Gelingt das dem Men­schen, tritt das ein, was man schauendes Bewußtsein nennen kann, was man Auferweckung von Geistesaugen und Gei­stesohren nennen kann, so daß die geistige Welt um einen ist, ebenso wie sonst um die Sinne die sinnliche Welt, dann tritt man gewissermaßen nicht nur aus seinem gewöhnlichen Sinnesleben heraus, sondern auch aus seinem gewöhnlichen Denken. Dann schaut man das Denken als Wirklichkeit an. Das Denken läßt sich nicht denken, es läßt sich an­schauen. Verständlich war es daher Goethe immer, wenn Philosophen an ihn herangetreten sind, die sich die Fähig­keit zuschrieben, in einer geistigen Anschauung das Denken anzuschauen. Unverständlich war es ihm immer geblieben, wenn Leute behauptet haben, sie könnten über das Denken denken. Das ist ihm ebenso vorgekommen, wie wenn je­mand das Malen hätte malen wollen. Erst eine höhere Fähigkeit läßt das Denken vor dem Menschen auftreten. Goethe besaß diese Fähigkeit. Daß er sie besaß, das zeigt einfach die Art seiner Naturanschauung. Denn die Fähig­keit, das Denken in lebendige Bewegung zu versetzen, um der Metamorphose der Dinge zu folgen, sie ist auf niedriger Stufe dieselbe wie das anschauende Bewußtsein auf höherer Stufe. Goethe fühlte sich im Anschauen denkend. Nur lag bei Goethe eine besondere Eigentümlichkeit vor.

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Es gibt gewisse Menschen, die haben, was man nennen könnte eine Art naiven Hellsehens, eine Art naiven schau­enden Bewußtseins. Es liegt mir nun ganz ferne zu behaup­ten, daß Goethe in dieser Weise nur eine Art naiven schau­enden Bewußtseins hatte, aber Goethe hatte doch eine besondere Veranlagung, durch die er sich von demjenigen unterscheidet, der nur in der Lage ist, durch die ganz be­wußte, willkürliche Entwickelung der tieferen Fähigkeiten seiner Seele zum schauenden Bewußtsein zu kommen. Goethe hatte dieses schauende Bewußtsein nicht von vorne­herein wie die naiven Hellseher, sondern er hatte die Mög­lichkeit, sein Denken, sein Empfinden, die ganze Struktur seines Seelenlebens in eine solche Bewegung zu bringen, daß er wirklich nicht nur äußerlich forschen konnte und dadurch zu in Gedanken gefaßten Naturgesetzen kam, sondern daß er das innere Leben der Naturerscheinungen in ihren Meta­morphosen verfolgen konnte. Nun ist es eine besondere Eigentümlichkeit, daß, wenn man auf eine nicht willkür­liche Art zur Anschauung des Geistes kommt dadurch, daß man von vorneherein eine bestimmte Anlage hat - man könnte ja von Hellsichtigkeit sprechen, wenn das Wort nicht so mißbraucht wäre, nicht so leicht mißverstanden würde; ich verstehe darunter nur das, was ich als solches in diesen Vorträgen kennzeichne -, daß diese Anlage dann, wenn man nun willkürlich die Fähigkeit des geistigen Schauens entwickeln will, zunächst beeinträchtigt, ja aus­gelöscht wird. Goethe hatte diese natürliche Anlage in sich, nach und nach ein gewisses schauendes Bewußtsein mit Bezug auf die Naturerscheinungen in sich auszubilden. Er brauchte nicht solche Regeln, wie ich sie etwa beschrieben habe in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», die für jeden gelten können. Goethe war, wie gesagt, nicht von Anfang an mit dem schauenden Be­wußtsein

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behaftet, aber im Laufe seiner eigenen individu­ellen Entwickelung war es ihm eine Selbstverständlichkeit, gewisse Fähigkeiten anders als andere Menschen auszubil­den, sie nach dem Schauen hin zu entwickeln. Diese naive Begabung, dieses instinktgemäße Vorwärtsbringen seiner Seele, das wäre zunächst ausgelöscht worden. Wenn die Begabung nicht vorhanden ist, braucht man sie nicht aus­zulöschen, dann kann man ruhig willkürlich diese Fähig­keiten entwickeln. Da sie aber bei Goethe als innerer gei­stiger Trieb vorhanden waren, wollte er sie nicht als solche stören, wollte er sie sich selbst überlassen. Daher seine Scheu, auf das Denken, das er nur anschauen wollte, ein­zugehen mit dem Denken selbst. Sonst muß man allerdings versuchen, auf den Punkt des Denkens hinzugehen, um die Gedanken selber zu erfassen und sie allmählich in Schau-kräfte umzuwandeln.

Das ist eine besondere individuelle Eigentümlichkeit Goethes, daß er das Heranwachsen jener Kräfte fühlte, die auch künstlich ausgebildet werden können. Dieses Naive wollte er sich nicht zerstören dadurch, daß er, ich möchte sagen, zu viel Bewußtsein über dasselbe ausgegossen hätte. Das zeigt aber, daß es nicht unberechtigt ist, sich gerade bei Goethe nicht bloß anzuschauen, wie seine Seelenkräfte innerlich wirken, sondern auch, wie seine Seelenkräfte untertauchen in die Natur, gewissermaßen zu versuchen, nachzuleben, wie er die sich wandelnde Natur, die von Metamorphose zu Metamorphose schreitende Natur mit innerem beweglichen Seelenleben verfolgt. Dann wird man unweigerlich bei Goethe ein Vorbild für das Heranent­wickeln des schauenden Bewußtseins finden, jener Geistes­kräfte, die in die Geisteswelt, die in das Ewige wirklich hineinführen.

Wenn man sich einmal in dasjenige, was Goethe durch

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die Metamorphose der Natur trug, so einlebt, daß man es nicht nur äußerlich beobachtet, sondern daß man versucht, wie man eigentlich selbst wird, wenn man solche Kräfte in sich rege macht, dann kommt man auch dazu, dasjenige, was Goethe bei seiner Anschauung der Natur verfolgte, nun auf die menschliche Seele selbst zu übertragen. Und dann stellt sich heraus, was Goethe selbst unterließ, weil seine Sinne zunächst nach außen, auf die Natur, die er gei­stig in ihrer Geistigkeit betrachtete, gerichtet waren: daß man das menschliche Seelenleben ebenso unter dem Ge­sichtspunkt der Metamorphose zu betrachten hat. Goethe war durch seine besondere Anlage auf die Natur hingewie­sen, und weil diese Anlage besonders stark war, so blieb, ich möchte sagen, das Hingewendetsein auf das Seelenleben selbst von ihm weniger berücksichtigt.

Man kann aber seine Art und Weise, die Welt anzu­schauen, auf das Seelenleben selbst anwenden. Dann wird man von selbst über das bloße Denken hinausgeführt. Das glauben die meisten Menschen, die sich mit diesen Dingen befassen, eben einfach nicht. Sie glauben, man könne über die Seele geradeso nachdenken, wie man über irgend etwas anderes nachdenken kann. Gedanken aber kann man nur auf dasjenige richten, was äußerlich wahrgenommen werden kann. Will man auf die Seele selbst zurückschauen, auf dasjenige, was das menschliche Denken betätigt, dann kann man es nicht mit den Gedanken selbst machen. Dann stellt sich als eine Notwendigkeit das schauende Bewußtsein ein, welches über das bloße Denken hinausgeht; man kommt zu dem, was ich in meinem Buche «Wie erlangt man Er­kenntnisse der höheren Welten?» und anderen Büchern die imaginative Erkenntnis genannt habe. Man kann nicht die-selben abstrakten, blassen Gedanken, mit denen man die Natur erfaßt, auf das menschliche Seelenleben anwenden.

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Man erfaßt es damit einfach nicht. Solche Gedanken sind wie ein Sieb, durch welches das menschliche Seelenleben hindurchgeht.

Das trat einmal in einem großen geistig historischen Augenblicke im Verkehr Goethes mit Schiller zutage. Ge­rade in diesem Punkt kann man sehen, wie es sich verhält, wenn man von Goethes Naturanschauung in eine Seelen-anschauung eintreten will. Schiller hat ja als eine seiner schönsten, bedeutungsvollsten denkerischen Abhandlungen die «Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen» geschrieben. Ich will nur kurz andeuten, welches menschliche Seelenrätsel Schiller da vor Augen stand. Schiller wollte das Problem des Künstlerischen lösen. Er wollte sich die Frage beantworten: Was geschieht eigentlich in der menschlichen Seele, wenn der Mensch künstlerisch schafft oder künstle­risch empfindet, wenn er sich in die Welt des Schönen ver­setzt? Schiller fand, wenn der Mensch bloß hingegeben ist seiner sinnlichen Triebwelt, so unterliegt er der Naturnot­wendigkeit. Insofern der Mensch der Naturnotwendigkeit unterliegt, kann er nicht an das Schöne und das Künst­lerische heran. Aber auch dann nicht, wenn der Mensch sich bloß dem Denken hingibt, wenn er bloß der logischen Not­wendigkeit folgt, dann kann er ebensowenig an das Schöne, das Künstlerische heran. Aber es gibt einen mittleren Zu­stand, meint Schiller. Wenn der Mensch das Triebleben, alles dasjenige, was ihm die Sinnlichkeit gibt, so durch­tränkt mit seinem Wesen, daß es wie die reine Geistigkeit wird, wenn der Mensch das Sinnliche in die Geistigkeit hinaufhebt und die Geistigkeit herunterdrückt in das Sinnliche, so daß das Sinnliche geistig und das Geistige sinnlich wird, und der Mensch sich selbst in diesem Geistig-Sinnlichen und Sinnlich-Geistigen erlebt, dann ist er im Schönen, dann ist er im Künstlerischen darinnen. Die Notwendigkeit scheint

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gemildert durch den Trieb, und der Trieb erscheint ver­edelt durch den Geist. Viel hat Schiller zu Goethe gespro­chen von dieser seiner Absicht, die menschlichen Seelen­kräfte zu erhöhen, das, was in der menschlichen Seele wallt und wogt, so zu erkraften, daß in dem harmonischen Zu­sammenklingen der einzelnen Seelenkräfte dieser mittlere Zustand zum Vorschein kommt, der den Menschen geeignet macht, das Künstlerische zu schaffen oder das Künstlerische zu empfinden. In den neunziger Jahren, von der tieferen Bekanntschaft Goethes und Schillers an, war dies ein wich­tiges menschliches Lebensrätsel, das in der Korrespondenz und im mündlichen Verkehr zwischen Schiller und Goethe eine große Rolle gespielt hat. In den «Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen» versuchte Schiller die­ses Problem philosophisch zu lösen. Goethe war es dadurch, daß Schiller dieses Problem so innig, so energisch beschäf­tigte, auch nahegelegt, sich damit zu befassen. Aber Goethe hatte das schauende Bewußtsein, das Schiller nicht hatte; das befähigte ihn, mit seinen Gedanken in die Welt der Dinge selber hinunterzutauchen, dadurch aber auch das Seelenleben intimer zu erfassen.

Er hatte die Möglichkeit, zu sehen, wie das, was in der menschlichen Seele lebt, viel umfangreicher, viel gewal­tiger ist als das, was man in solch abstrakte Gedanken fassen kann, wie Schiller es in seinen «Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen» getan hat. Goethe wollte nicht einfach solche Gedankenstriche, Gedanken­konturen hinstellen, um dieses reich gegliederte menschliche Seelenleben zu charakterisieren. Und so entstand über das­selbe Problem ein ganz anders geartetes Werkchen.

Es ist sehr interessant, gerade diesen Punkt der Bekannt­schaft Goethes mit Schiller näher ins Auge zu fassen. Was wollte eigentlich Schiller? Schiller wollte zeigen, daß in

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jedem Menschen ein höherer Mensch lebt, demgegenüber dasjenige, was das gewöhnliche Bewußtsein umfaßt, ein niedrigeres ist.

Diesen höheren Menschen wollte Schiller verkünden in demjenigen, der seine Triebe hinaufträgt bis zum Geist und der den Geist herunterb ringt bis zu den Trieben, so daß sich der Mensch, indem er die geistige und sinnliche Notwendig­keit verbindet, in einer neuen Weise selbst erfaßt und, wie Schiller selbst sagt, als ein höherer Mensch im Menschen erscheint. So abstrakt wollte Goethe nicht sein. Aber auch Goethe wollte auf dasjenige gehen, was als ein höherer Mensch im Menschen lebt. Und dieses Höhere im Menschen erschien ihm so reich in seinen einzelnen Gliedern, daß er es nicht im bloßen Denken erfassen konnte, sondern in mächtigen, bedeutungsvollen Bildern hinstellte. So entstand das «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie», das den Schluß der «Unterhaltungen deutscher Aus­gewanderter» bildet.

Wer viel an diesem Märchen symbolisiert, kommt seinem tieferen Sinn nicht nahe. Die verschiedenen Gestalten die­ses Märchens, etwa zwanzig sind es, sind die Seelenkräfte des Menschen, personifiziert in ihrem lebendigen Zusam­menwirken, wie sie den Menschen über sich selbst hinausheben und zum höheren Menschen bringen. Das lebt in der Komposition des «Märchens von der grünen Schlange und der schönen Lilie». Nur in Bildern konnte Goethe das Pro­blem erfassen, das Schiller in Gedanken philosophisch faßte; aber in Bildern, die eine Welt sind.

Man braucht nun nicht wiederum etwa pedantisch das Seelenleben nur in Goethescher Weise erfassen, also eigent­lich nur in dichterischen Bildern, sondern man wird gerade dann, wenn man auf die innere Struktur der Goetheschen Weltanschauung eingeht, wenn man in ebensolcher Weise,

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wie Goethe in der Metamorphosenlehre seine bewegliche Geistigkeit angewendet hat, diese auf das Seelenleben an­wendet, finden, wie die Metamorphose der Seelenkräfte den Menschen lebendig erfaßt und weiterführt von dein Vergänglichen, das der Mensch im Leibe erlebt, zu dem Unvergänglichen, das der Mensch als das erlebt, was in seinem Innern ist und durch Geburten und Tod durchgeht. Die gebräuchliche Seelenlehre befaßt sich viel damit: Soll man ausgehen von der einen oder der anderen Seelenkraft? Ist das Wollen ursprünglich, ist das Vorstellen oder Denken ursprünglich? Wie soll man sich das gegenseitige Verhältnis von Vorstellen, Denken, Fühlen und Wahrnehmen denken? Man kann, wenn man die gebräuchliche Seelenlehre kennt, sehen, wieviel Scharfsinn angewendet worden ist, um das innere Leben des Menschen, das Zusammenwirken der ver­schiedenen Seelenkräfte so zu erfassen, wie die äußere Na­turwissenschaft das Zusammenwirken von grünem Blatt und Blütenblatt erfaßt oder das Zusammenwirken von Schädelknochen und Rückenmarksknochen, ohne den inne­ren Übergang, die innere Verwandlung ins Auge zu fassen. Derjenige, der den Blick von außen nach innen zu wenden vermag, mit Goetheschem Sinne das Seelenleben zu schauen vermag, der muß es allerdings lebendig erfassen, und inso­fern noch lebendiger als das äußere Naturleben, weil man im äußeren Naturleben gewissermaßen mit dem geistigen Blick ruhen kann. Das Naturleben gibt einem den Stoff, man kann von Gestaltung zu Gestaltung gehen. Das innere Leben scheint einem fortwährend zu entschwinden, wenn man es anschauen will. Aber wenn man jemals das beweg­liche Denken, das eben ein schauendes wird, nach innen richtet, dann wird einem dasjenige, was als Denken, Fühlen, Wollen, als Wahrnehmen auftritt, auch nichts anderes als ein Wesenhaftes, das sich ineinander verwandelt. Das Wol­len

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wird eine Metamorphose des Fühlens, das Fühlen eine Metamorphose der Vorstellungen, das Vorstellen eine Meta­morphose des Wahrnehmens und umgekehrt.

Die Ausbildung der in dem Menschen schlummernden Kräfte und Fähigkeiten, des meditativen Denkens, das in die geistige Welt hineinführt, das beruht auf nichts an­derem als auf dem lebendigen Verfolgen der inneren Meta­morphosen der Seelenkräfte. Auf der einen Seite versucht derjenige, der Geistesforscher werden will, sein Vorstellen, sein Wahrnehmen so auszugestalten, daß er den Willen, der sonst nur schlummert im Wahrnehmen und Vorstellen, in dieses Wahrnehmen und Vorstellen immer wiederum so hineinführt, daß er dasjenige, was sonst als unwillkürliche Vorstellung auftritt, willkürlich sich vor die Seele ruft. Da­durch verwandelt sich dasjenige, was sonst blasses Denken oder aufgezwungenes Wahrnehmen ist, in die Imagination, in das bildhafte Schauen. Denn das Geistige kann nur bild­haft geschaut werden. Das Wollen und das Fühlen, die sonst zwar vorgestellt werden können, aber nicht in ihrer eigent­lichen Wesenheit erkannt werden, die werden durch das meditative Leben selber umgewandelt, so daß sie vorstel­lendes Leben, wahrnehmendes Leben werden.

Die Einführung des Vorstellens in das Wollen, des Wol­lens in das Vorstellen, das Umwandeln des Wollens zum Vorstellen und umgekehrt, das Umwandeln des Vorstellens zum Wollen in innerer Lebendigkeit, die Umwandlung der einzelnen Seelenkräfte ineinander, das ist meditatives Le­ben. Wird das verfolgt, so kündigt sich für die innere Beobachtung dasjenige an, was sich nicht ankündigen kann, wenn man bloß Denken, Fühlen und Wollen nebeneinander betrachtet. Betrachtet man sie nebeneinander, so erscheint einem nur das Zeitliche des Menschen, das, was eingeschlos­sen ist in den physischen Leib und von der Geburt oder der

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Empfängnis bis zum Tode sich ausdehnt. Lernt man so er­kennen, wie sich das Vorstellen in Fühlen und das Wollen in Vorstellen und Wahrnehmen umwandelt, so lernt man die Metamorphose des inneren Seelenlebens kennen, so lebendig, wie Goethe auf dem Gebiet der äußeren Natur die Metamorphosen verfolgte. Dann kündigt sich in diesem in Fluß gebrachten Seelenleben das Ewige der Menschenseele an, das durch Geburten und Tode geht. Der Mensch tritt dadurch in sein eigenes Ewiges ein.

Was wollte Goethe, indem er so etwas verfolgte wie die Hinwegräumung des Vorurteils, daß der Mensch durch eine Einzelheit wie den Zwischenknochen in der oberen Kinnlade sich vom Tiere unterschiede? Er wollte nicht, daß der Mensch als ein isoliertes Wesen der übrigen Welt gegen­übersteht, er wollte, ganz im Einklang mit Herder, die Natur als ein großes Ganzes überblicken und den Menschen aus der ganzen Natur hervorgehend anschauen. Als sich Schiller aus manchem Vorurteile gegenüber Goethe zu einer reinen freien Anerkennung von dessen Größe hindurch­gerungen hatte, da schrieb er einmal an Goethe selbst, wie er über seine Art, die Natur anzuschauen, denken müsse. Da schrieb er unter anderem die schönen Worte an Goethe:

«Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das Ein­zelne Licht zu bekommen; in der Allheit ihrer Erscheinungs­arten suchen Sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf... Eine große und wahrhaft heldenmäßige Idee, die zur Genüge zeigt, wie sehr Ihr Geist das reiche Ganze seiner Vorstellungen in einer schönen Einheit zusammenhält.»

Schiller fiel es auf, wie Goethe den Menschen dadurch begreifen wollte, daß er ihn aus dem zusammenbaute, was sonst in den verschiedenen anderen Naturwesen getrennt ist, was sich aber durch innere Bildekräfte heraufmetamorpho­sieren kann so, daß der Mensch wie eine Zusammenfassung

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der äußeren Naturerscheinungen in seiner eigenen äußeren Gestalt erscheint, als die Krone der äußeren Natur.

Man muß sich eine rechte Vorstellung von dem machen, was da Goethe eigentlich wollte, wenn man nun die andere Seite ins Auge faßt, die sich für das Seelenleben ergibt. Wenn man die Metamorphose der inneren Seelenkräfte ins Auge faßt wie Goethe die Metamorphose der äußeren Gliedgestaltungen des Menschen, so ergibt sich, daß das, was da im Menschen innerlich seelisch als Zusammenfas­sung der sich metamorphosierenden Seelenkräfte auftaucht, als ebenso sich herausgestaltend aus einer großen geistigen Welt erscheint, aus der dahinterstehenden Welt der gei­stigen Wesenheiten und geistigen Vorgänge, wie auf der anderen Seite, wenn man den Menschen goethisch äußerlich als Naturwesen betrachtet, dieses menschliche Naturwesen sich ergibt als Zusammenfassung der äußeren Körperwelt, die äußere Körperwelt heraufgehoben zu einer inneren Harmonie und Summe. Wie Goethes Naturforschung die äußere menschliche Gestalt anschließt an die ganze übrige Naturwelt, so schließt eine in seinem Sinne gehaltene Seelenlehre des Menschen Seele an die ewige, konkrete, umfassende Geisteswelt an und läßt diese sich im Menschen konzen­trieren. Nicht dadurch, daß man unmittelbar diesen oder jenen Satz Goethes nimmt, um dadurch seine eigene An­schauung zu bekräftigen, kann man eine Brücke schlagen zwischen der Geisteswissenschaft und der Goetheschen Weltbetrachtung, sondern dadurch, daß man innerlich - lebendig, nicht abstrakt - logisch das Problem zu lösen sucht:

Wie kommt man einer solchen Art, sich in die Natur zu versenken, nahe? Bei Goethe selber war diese Fähigkeit, sich in die Natur zu versenken - wie ich schon auseinander­gesetzt habe - naiv. Lernt man sie an ihm kennen, sucht man sie durch Vertiefung in seine Art, die Welt anzuschauen,

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in sich selber lebendig zu machen, dann gelangt man zu der Notwendigkeit, das, was bei Goethe für die Naturanschauung veranlagt war, auch auszudehnen auf die Welt des Seelischen, dann gelangt man durch das mensch­liche Seelenleben so zur ewigen geistigen Welt, wie Goethe durch das menschliche natürliche Leben zu seiner Betrach­tung der äußeren Naturwelt gekommen ist. Man muß sich Goethe innerlich nähern, man muß versuchen, in seine Ab­sichten einzutreten, versuchen, in Liebe dasjenige mitzu­wollen, was seine Seele in bezug auf die Natur gewollt hat. Dann kommt man dazu, dasselbe zu wollen mit Bezug auf die geistige Welt, deren Abbild die menschliche Seelenwelt ist. Man kommt dazu, von der menschlichen Seele so in den Geist hineinzuschauen, wie Goethe von der menschlichen Natur aus in die übrige Natur hineingeschaut hat. In die­sem Sinne kann schon gesagt werden, daß man Goethe wenig versteht, wenn man ihn nur so nimmt, wie er sich zunächst unmittelbar gab. Goethe selbst wollte gewiß nicht so genommen werden. Denn Goethe stand der ganzen Art und Weise, die mit der Geistesforschung wiederum an die Oberfläche treten muß, unendlich nahe, er stand ihr auch auf den nichtwissenschaftlichen Gebieten, auf dem Gebiete der Dichtung, der Kunst überhaupt, nahe.

Wenn man selber versucht, in diejenige Vorstellungsart, die ich schauendes Bewußtsein genannt habe, sich hineinzuleben, so findet man, daß vor allen Dingen nötig ist, daß dieses Hineinleben nicht fortwährend sich selber stört durch allerlei Vorurteile, die aus der Sinneswelt oder aus dem abstrakten, bloß logischen Denken in die geistige Welt übertragen werden. Ein wichtiger Gesichtspunkt in der Er­forschung der geistigen Welt, in der Verfolgung der gei­stigen Wesenheiten und Tatsachen ist, daß man warten kann. Es kann die Seele sich noch so stark anstrengen,

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irgend etwas in der geistigen Welt zu erforschen, will sie es durchaus erforschen, sie wird scheitern, sie wird sich etwas vormachen. Sie kann sich noch so stark anstrengen: Wenn in ihr noch nicht gereift sind diejenigen Fähigkeiten, die zur Anschauung gewisser Wesenheiten oder gewisser Tatsachenreihen notwendig sind, so wird sie diese Wesen­heiten, diese Tatsachenreihen noch nicht erkennen können. Reifen, warten können, bis in der Seele das herangewachsen ist, was einem auf einem bestimmten Gebiet der geistigen Welt entgegentreten kann, das ist etwas, was in einer ganz besonderen Weise zum Vordringen in die geistige Welt gehört. Geduld und Energie, das ist es, was dem Geistesforscher in hervorragendem Maße eigen sein muß. Andere Gesetze werde ich in späteren Vorträgen charakterisieren. Goethe war in seinem ganzen Wesen darauf veranlagt, auch als Künstler so zu sein, daß er überall wartete.

Nichts ist interessanter, als wenn man diejenigen Dich­tungen Goethes verfolgt, die er nicht hat fertigmachen können, wenn man verfolgt, wie er mit der «Pandora» steckengeblieben ist, wie er mit der «Natürlichen Tochter», die eine Trilogie hätte werden sollen und nur ein Stück geworden ist, steckengeblieben ist. Vergleicht man damit, was in großartiger Weise fertiggeworden ist, wie der zweite Teil des «Faust» oder wie die «Wahlverwandtschaften», so kommt man darauf, wie die innerste Art seines Wesens war. Goethe konnte nicht etwas «machen», er mußte immer nur dasjenige bilden, wozu er durch die Reife seines Wesens vorgedrungen war, und wenn sein Leben, wie es sich ent­wickelte, in diese Reife in bezug auf irgend etwas nicht kam, dann ließ er es liegen, dann konnte er eben nicht weiter. Derjenige, der bloß kombinierend künstlerisch schafft, kann immer weiter. Derjenige, der wie Goethe den Geist selber in sich schaffen läßt, der kann gerade manchmal, wenn er

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groß ist wie Goethe, nicht weiter. Da, wo Goethe stehen­bleiben mußte, wird er für den, der in sein inneres Wesen eindringen will, ganz besonders interessant. Verfolgt man so etwas wie die «Wahlverwandtschaften», so findet man, daß dasjenige, was darinnen lebt, schon in verhältnismäßig früher Zeit vorhanden war, aber nicht ebenso die Möglich­keit, wirklich Gestalten auszubilden, welche dieses innere Natur- und Menschenrätsel der Wahlverwandtschaften verkörpern konnten. Goethe ließ sie liegen, und so über­gab er die «Wahlverwandtschaften» einer Zeit, wo dieMen­schen schon längst nicht mehr da waren, die sie noch hätten verstehen können, weil sie die ersten Jugendimpulse ge­meinsam mit ihm durchlebt haben.

So stand Goethe durch dieses reale, dieses wirkliche innere Erleben des Seelischen der Geisteswissenschaft gewisser­maßen nahe, er stand ihr nahe durch den Drang, nicht beim abstrakten Denken stehenzubleiben, sondern vom Denken zu der Wirklichkeit fortzuschreiten, zwar als Naturforscher, aber als Naturforscher, der den Geist suchte. Deshalb freute es ihn so unendlich, als in den zwanziger Jahren der Psycho­loge Heinroth davon sprach, Goethe habe ein gegenständ­liches Denken. Das verstand Goethe sogleich, daß er nicht ein Denken habe, das nur am Faden des Gedankens sich fortspinnt, sondern ein Denken, das in die Dinge selber untertaucht. Wenn aber das Denken in die Dinge untertaucht, so findet es in den Dingen nicht abstrakte materielle Atome, sondern dann findet es in den Dingen den Geist, so wie nach innen schauend durch die anschauende Betrach­tung des Seelenlebens der ewige Geist der menschlichen Wesenheit erkannt wird. Deshalb war Goethes Blick auf das gerichtet, was innerhalb der Welt des Sinnlichen sich als Geistiges offenbart. Man kann aus diesen Andeutungen verstehen, daß Goethe nicht über das Denken denken wollte,

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weil er nur zu gut wußte, daß man das Denken nur an­schauen kann. Man kann auch gut verstehen, daß Goethe durchaus nicht etwas Irreligiöses, durchaus nicht etwas Un­geistiges oder Materialistisch-Sinnliches meinte, als er davon sprach, daß es ihm antipathisch sei, von den Dingen einer andern Welt zu sprechen. Denn er wußte, daß diese angeb­lichen Dinge einer andern Welt in dieser Welt sind, diese fortwährend durchdringen und darinnen gesucht werden müssen, und daß, wer diese geistigen Dinge und Wesen­heiten nicht in der Natur sucht, wer sie in der Natur ver­leugnet, den Geist nicht in den Naturerscheinungen er­kennen will. Daher wollte Goethe nicht hinter den Natur­erscheinungen suchen, sondern er wollte überall in den Naturerscheinungen suchen. Daher war es ihm unsympa­thisch, von einem «Innern der Natur» zu sprechen.

Ein Inneres der Natur, das kam Goethe so vor, als wenn jemand, der ein Bild in einem Spiegel vor sich hat, sich ein­fallen ließe, das, was den Spiegelbildern zugrunde liegen solle, das «Ding an sich», das hinter ihnen liegen soll, da­durch zu suchen, daß er den Spiegel zerstört, um das zu finden, was dahinter ist, aber es natürlich nicht findet.

So ungefähr ist auch das Suchen nach dem «Ding an sich» bei sehr vielen philosophischen Naturen. Sie haben die Welt der äußeren sinnlichen Wahrnehmungen vor sich, sie erkennen, daß das nur sinnliche Wahrnehmungen, Spie­gelungen der Wirklichkeit sind. Da suchen sie nach den «Dingen an sich», aber nicht, indem sie von dem Spiegel zurücktreten und in dem suchen, was den Geist als Geist erfassen kann, sondern indem sie den Spiegel zerschlagen, um nach der Welt der toten Atome zu fassen, aus denen niemals Lebendiges wird ergriffen werden können.

Dieses Innere der Natur lag für Goethe ganz außerhalb der Möglichkeit seines Vorstellens. Daher bei seinem Rückblick

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auf all die Anstrengungen, die er hatte machen müssen, um in die Geistigkeit der Naturerscheinungen einzudringen, jener harte Ausspruch, den er über Haller, einen sehr ver­dienstvollen großen Naturforscher, getan hat, der ihm nicht etwa durch seine einzelnen Forschungen, sondern dadurch unsympathisch geworden war, daß er einmal gesagt hatte:

«Ins Innere der Natur dringt kein erschaffner Geist.
Glückselig, wem sie nur die äußere Schale weist!»

So vom Innern der Natur wollte Goethe gar nicht spre­chen. Er erwiderte darauf in der Reife seiner Weltanschau­ung:

«Ins Innere der Natur -»
0, du Philister! -
«Dringt kein erschaffner Geist.»
Mich und Geschwister
Mögt ihr an solches Wort
Nur nicht erinnern;
Wir denken: Ort für Ort
Sind wir im Innern.
«Glückselig, wem sie nur
Die äußere Schale weist»
Das hör' ich sechzig Jahre wiederholen.
Und fluche drauf, aber verstohlen;
Sage mir tausend tausendmale,
Alles gibt sie reichlich und gern;
Natur hat weder Kern
Noch Schale,
Alles ist sie mit einemmale;
Dich prüfe du nur allermeist,
Ob du Kern oder Schale seist!

Das ist im Grunde genommen doch Goethes Glaubens­bekenntnis, daß der, welcher die Natur als etwas ansieht,

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was Außenseite des Geistes ist, nicht zum Geiste vordringen kann, daß die Natur, indem sie in ihren verschiedenen Metamorphosen dem Menschen sich zuwendet, ihm zugleich mit ihrer Schale den Geist offenbart. Geisteswissenschaft will in dieser Beziehung nichts anderes als, ich möchte sagen, ein Kind Goethes sein, sie will dasjenige, was Goethe so fruchtbar in die Welt der äußeren Naturerscheinungen eingeführt hat, so daß er den Geist in der Natur finden konnte, auch auf die Seelenerscheinungen ausdehnen, wo­durch diese selbst unmittelbar in reges Leben kommen und das innere Geistige offenbaren, jenes Geistige, das im Men­schen selber als dessen ewiger unsterblicher Wesenskern lebt. Diesen näher zu betrachten, werden die folgenden Vorträge sich zur Aufgabe stellen.

Das war es, was ich heute vor allem zeigen wollte, daß, wenn man die besondere Art und Weise, wie Goethe an die Natur herangeht, auf das seelische Leben überträgt, man sich zur Geisteswissenschaft hingedrängt fühlt. Nicht dadurch, daß man Goethe in seinen einzelnen Äußerungen erfaßt, kann man ihn einen Vater der Geisteswissen­schaft nennen - denn auf diese Weise könnte man ihn zum Protektor aller möglichen Weltanschauungen machen -, wohl aber dadurch, daß man versucht, sich liebevoll ein­zuleben in das, was ihm so fruchtbar geschienen hat. Dann wird man vielleicht nicht dasselbe sagen, was er schon ge­sagt hat, aber Geisteswissenschaft wird dann mit Recht als eine Fortsetzung der Goetheschen Weltanschauung er­scheinen, als etwas, was durchaus im Sinne der Goetheschen Weltanschauung liegt. Mir scheint es, daß es durchaus in ihrem Sinne liegt, wenn man vom Naturleben zum Geistes­leben aufsteigt. Goethe selber hat ja, als er in seinem Auf­satz über Winckelmann sein Weltempfinden und seine Welt­anschauung zusammenfassen wollte, das Zusammenleben

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des Menschen mit dem ganzen Universum wie einen Aus­tausch, eine Wechselwirkung von Geist zu Geist dargestellt, indem er gesagt hat: «Wenn die gesunde Natur des Men­schen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Ent­zücken gewährt, dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauch­zen und den Gipfel des eigenen Wesens und Werdens be­wundern.» So dachte sich Goethe in lebendiger Geistigkeit des Menschen Innerstes mit dem Innersten der Natur zu­sammen und in Wechselwirkung: die Natur, die Welt sich wahrnehmend im Menschen, der Mensch sich wissend ewig, aber seine Ewigkeit ausdrückend in der Zeitlichkeit der äußeren Welt. Zwischen Welt und Mensch lebt, sich selbst erfassend, sich selbst wissend, sich selbst bestätigend im Sinne Goethes der Weltgeist.

Diejenigen, die im Sinne Goethes gedacht haben, haben daher niemals die Möglichkeit gehabt, in die Versuchung zu fallen, den Geist zu verleugnen und etwa die Goethesche Weltanschauung selber zu einer Bekräftigung einer mehr oder weniger materialistischen Weltansicht anzuwenden. Nein, diejenigen, die Goethe verstanden haben, die sich in Goethe haben einleben wollen, sie haben wohl immer ge­dacht, daß der Mensch, indem er den Dingen der Natur gegenübertritt und unter ihnen weilt, zugleich in der Gei­stigkeit weilt, in die er eintritt, wenn er durch die Pforte des Todes tritt. Diese Menschen haben so gedacht wie etwa Novalis in denjenigen seiner Gedanken, die aus der Welt­anschauung Goethes übernommen hat.

Novalis, der wunderbare Genius, der in gewissen Pha­sen seines Lebens in ganz Goethescher Weise in die Natur untertauchen wollte, wußte sich damit selbst untergetaucht

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in die geistige Welt. Seine vielen Aussprüche über die un­mittelbare Gegenwart des Geistes in der sinnlichen Welt, sie gehen auf die Goethesche Weltanschauung zurück.

Daher darf, indem Goethe gewissermaßen als Vater einer geistigen Welterfassung hingestellt wird, vielleicht geschlos­sen werden mit einem Ausspruche, den Novalis ganz im Goetheschen Sinne getan hat, mit einem Ausspruch, der in gewisser Weise das, was heute als Goethesche Weltanschau­ung in einer kurzen Skizze betrachtet werden sollte, zu­sammenfaßt:

«Die Geisterwelt ist uns auch hier schon nicht verschlos­sen. Sie ist uns immer offenbar. Können wir uns mit un­serer eigenen Seele nur so elastisch machen, als es nötig ist, so sind wir als Geist mitten unter Geistern!»

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GEIST, SEELE UND LEIB DES MENSCHEN Berlin, 28. Februar 1918

Wer heute ein populäres oder audi wissenschaftliches Budi in die Hand nimmt, um darin irgendwelche Belehrungen zu suchen über das Verhältnis des menschlichen Geist- und Seelenwesens zu der äußeren Leibesorganisation, der wird zumeist auf so etwas wie das folgende Gleichnis stoßen können: Daß die Sinneseindrücke, die der Mensch von der Außenwelt empfängt, gewissermaßen telegraphische Nach­richten seien, die zur Zentralstation des Nervensystems, zum Gehirn, über die Nerven wie Drähte geleitet und von dort wiederum in den Organismus ausgesendet werden, um die Impulse des Wollens hervorzurufen, und so weiter. So einnehmend für manche heute ein solches oder ein ähn­liches Gleichnis zu sein scheint, so kann man doch sagen, daß im Grunde mit einem solchen Gleichnis nur verdeckt werden soll die Hilflosigkeit gegenüber dem großen Seelen- und Geisträtsel, das man einschließen kann in die Worte, die den Gegenstand der heutigen Betrachtung charakteri­sieren sollen: Geist, Seele und Leib des Menschen.

Nun habe ich schon in den vorangehenden Vorträgen angedeutet, daß die heutigen Betrachtungen auf diesem Gebiete an einem Grundmangel leiden. Gerade wenn man sich mit einer solchen Betrachtung auf den Boden der auf anderen Gebieten so erfolgreichen naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise stellt, dann tritt einem heute noch die Unmöglichkeit in den Weg, über das Vorurteil hinwegzu­kommen, das da zusammenwirft im menschlichen Wesen

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das Seelenleben mit den Wirksamkeiten des eigentlichen Geisteslebens. Seele und Geist werden heute fast überall in naturwissenschaftlichen, in philosophischen, in populären Betrachtungsweisen durcheinandergeworfen. Es geht mit solchen Betrachtungen heute in der Tat noch so, wie es einem Chemiker gehen würde, der eine zusammengesetzte Substanz analysieren wollte und sich durchaus einbildete, es müßten zwei Glieder, zwei Teilsubstanzen, in dieser zu­sammengesetzten Substanz sein, der dann ganz unter die­sem Vorurteil handelte und infolgedessen nichts Ordent­liches herausbringen kann, weil er eben nicht berücksichtigt, daß die Untersuchung nur fruchtbar werden kann, wenn er auf eine Dreigliedrigkeit losgeht.

So bleiben die Untersuchungen heute häufig aus dem Grunde unfruchtbar - neben dem Umstande, daß sie es auch aus mannigfachen anderen Gründen sind -, weil man sich nicht lossagen will von dem Vorurteil, der Mensch könne betrachtet werden, ohne daß man seine Gliederung in die drei Wesenheiten, wenn ich sie so nennen darf, oder in die drei Wesensglieder Leib, Seele und Geist, ins Auge fasse. Ich habe auch schon in einem früheren Vortrage an­gedeutet, daß es sich für dasjenige, was hier unter Geistes­wissenschaft gemeint ist, darum handelt, ebenso von dem seelischen Leben aus die Brücke zum Geist zu schlagen, wie es sich für die physische Wissenschaft und Biologie darum handelt, die Brücke zu schlagen vom seelischen Leben her­über zum leiblichen Wesen des Menschen. Noch einmal möchte ich auf das aufmerksam machen, worauf ich schon hingedeutet habe zur Erläuterung dessen, was eigentlich ge­meint ist. Seelisches Erleben, allerdings im weiteren Sinne, ist es zweifellos - wenn das seelische Erleben in diesem Falle auch auf körperlichen und leiblichen Grundlagen be­ruht -, wenn der Mensch Hunger, Durst, Sättigung, Atmungsbedürfnis

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und dergleichen empfindet. Aber wenn man auch diese Empfindungen noch so sehr ausbildet, wenn man noch so sehr versucht, den Hunger größer oder klei­ner zu machen, um ihn innerlich seelisch zu beobachten, oder wenn man das Hungergefühl vergleicht mit der Sätti­gung und dergleichen, es ist unmöglich, durch diese bloße innere Beobachtung, durch das, was man seelisch erlebt, darauf zu kommen, welche leiblichen, körperlichen Grund­lagen diesem seelischen Erleben als Bedingung dienen. Da muß in der Ihnen ja allbekannten Weise die Brücke durch wissenschaftliche Methoden so geschlagen werden, daß man übergeht von dem bloßen seelischen Erleben zu demjenigen, was sich, während dieses oder jenes seelische Erleben da ist, in der leiblichen Organisation des Menschen abspielt.

Ebenso aber ist es unmöglich, zu irgendeiner fruchtbaren Anschauung zu kommen über den Menschen als Geistwesen, wenn man bloß stehenbleiben will bei dem, was der Mensch innerlich-seelisch in seinem Vorstellungsleben, in seinem Gefühlsleben, in seinem Willensleben durchmacht. Vorstel­lungen, Gefühle, Willensimpulse sind ja der Inhalt der Seele. Sie wogen auf und ab im alltäglichen wachen Tages-leben. Man versucht, sie zuweilen dadurch zu vertiefen, daß man übergeht von dem bloßen alltäglichen seelischen Erleben im Vorstellen, Fühlen, Wollen zu einer Art mysti­scher Versenkung in sein Inneres, zu einem vertieften Durch-leben desjenigen, was die Seele eben nach dieser Richtung hin durchleben kann. Allein, wieweit man auch gehen mag mit einem solchen mystischen Versenken, zu einer Geist-erkenntnis des Menschen kann man durch solche Mystik, und sei sie noch so subtil, nicht kommen. Es muß vielmehr, wenn Geisterkenntnis angestrebt werden soll - allerdings nach der anderen Seite hin, aber in ebenso ernster wissen­schaftlicher Weise -, die Brücke geschlagen werden von dem

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bloßen seelischen Erleben zu dem geistigen, wie auf dem Gebiete der physischen Wissenschaft durch ernste, strenge Methoden die Brücke geschlagen wird von dem seelischen Erleben zu den leiblichen Vorgängen, zu den chemischen oder physischen Vorgängen, die dem Hungergefühl, dem Sättigungsgefühl, dem Atmungsbedürfnis und dergleichen zugrunde liegen. Nun kann man allerdings nicht in einer ebensoldien Weise, wie man von der Seele übergeht zu der Betrachtung der leiblichen Organisation des Menschen, übergehen zu einer Betrachtung des geistigen Lebens des Menschen. Da sind andere Methoden notwendig. Auf diese Methoden habe ich schon in einer prinzipiellen Weise hingedeutet. Die Einzelheiten können natürlich in einem kur­zen Vortrage nicht erörtert werden. Sie finden sie in den schon öfter genannten Büchern «Wie erlangt man Erkennt­nisse der höheren Welten?», in meiner «Geheimwissen­schaft», in den Büchern «Vom Menschenrätsel», «Von Seelenrätseln» und so weiter. Aber einige bemerkenswerte Eigenschaften jener Methoden, welche die Brücke schlagen können vom gewöhnlichen menschlichen Seelenleben zum geistigen Wesen des Menschen, möchte ich auch heute wie­derum einleitungsweise vorbringen.

Da handelt es sich vor allen Dingen um eines - auch darauf habe ich von anderen Gesichtspunkten aus in diesen Vorträgen schon hingedeutet -, es handelt sich darum, daß gerade viele Seelenforscher der Gegenwart glauben, daß gewisse Dinge einfach unmöglich sind, die für die Geistes-forschung unbedingt angestrebt werden müssen. Wie oft findet man heute von Seelenforschern erwähnt, daß das eigentliche Seelenleben nicht beobachtet werden könne. Man findet darauf hingewiesen, daß zum Beispiel zarte Gefühle nicht beobachtet werden können, weil sie einem entschlüpfen, wenn man mit der beobachtenden Seelentätigkeit

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an sie herantreten will. Es wird mit Recht darauf hingewiesen, wie wir uns gestört fühlen, wenn wir zum Beispiel etwas auswendig gelernt haben, es hersagen, und uns selbst beobachten wollen. Das wird so angeführt, als ob es eine durchgreifende Eigentümlichkeit des Seelenlebens wäre. Gerade das ist aber notwendig einzusehen, daß, was da wie eine Unmöglichkeit, wie eine charakteristische Un­fähigkeit des Seelenlebens hingestellt wird, gerade als gei­steswissenschaftliche Methode angestrebt werden muß. Was der Biologe, was der Physiologe für den Leib verrichtet, das verrichtet der Geistesforscher für den Geist, indem er von der bloßen alltäglichen und von der bloßen mystischen Selbstbeobachtung zu jener wahren Seelenbeobachtung auf­zusteigen bestrebt ist, deren Unmöglichkeit mit dem er­wähnten Hinweise dargetan werden soll, daß wir uns beim Hersagen eines Gedichtes nicht selber beobachten können, weil wir uns dadurch stören. Nun ist es ja nicht notwendig, daß man gerade in solch äußerlichen Dingen, wie dem Hersagen eines memorierten Stoffes, zu einer Möglichkeit der Selbstbeobachtung kommt, obwohl das für den, der Geistes-forscher werden will, auch eine Notwendigkeit ist. Not­wendig aber ist es, daß der Geistes- und Seelenforscher dazu vordringt, wirkliche Selbstbeobachtung dadurch zu erringen, daß er einen Vorstellungsverlauf, eine Gedanken­folge, auch den Verlauf von Willensimpulsen, von Gemüts­zuständen wirklich so vor sich hat, daß er gewissermaßen, während das in seiner Seele abläuft, wie sein eigener Zuschauer dabeisteht und sich wirklich innerlich selbst beob­achten lernt, so selbst beobachten lernt, daß 13eobachter und Beobachtetes eigentlich vollständig auseinanderfallen. Diese Möglichkeit wird oftmals als etwas sehr Leichtes hingestellt, und diejenigen, die dies als etwas sehr Leichtes hinstellen, obwohl sie natürlich sie nicht in der ganzen

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Schwierigkeit ihres Wesens anstreben, die sind es auch, die da glauben, während der Naturwissenschaft strenge Me­thoden obliegen, sei Geisteswissenschaft irgend etwas, was leichten Herzens auf leichte Weise erlangt werden könne. Zu wirklicher Geistesforschung, die zu sagen vermag, worauf es dem geistigen Leben gegenüber ankommt, ist aber ebensoldies, wenn auch nur im Geistigen angewen­detes, methodisch strenges, geduldiges, energisches Fort­schreiten in einer bestimmten Weise notwendig, und zwar nicht nur wie das auf äußerlich naturwissenschaftlichem Ge­biete geschieht, sondern so, daß der, der beides kennt, natur-wissenschaftliches Forschen und geisteswissenschaftliches Forschen, sagen muß, daß gegenüber dem oftmals jahre­langen Streben, das notwendig ist, um zu ernsten geisteswissenschaftlichen Resultaten zu kommen, man sich die Methoden der Naturwissenschaft im Grunde doch noch auf eine leichtere Weise aneignen kann.

Für diese wahre Selbstbeobachtung wird eine Grundlage dadurch geschaffen, daß man versucht, ganz methodisch regelrecht den inneren Willen des Menschen einzuführen in das Vorstellungsleben. Dadurch gelangt man zu dem, was man im wahren Sinne des Wortes, nicht in einem dunk­len, mystischen Sinne, nennen kann Meditation, medi­tatives inneres Leben. In unserem gewöhnlichen alltäglichen Bewußtsein sind wir ja an solches meditatives Leben durch­aus nicht gewöhnt, da richten wir die Folge der Gedanken ganz nach dem Verlauf der äußeren Welt mit ihren Ein­drücken ein; wir lassen einen Gedanken auf den anderen folgen, je nachdem der äußere Eindruck auf den andern folgt. Die Folge der äußeren Eindrücke gibt uns den Faden, nach dem unsere Gedanken verlaufen. Auf der Grundlage dessen, was sich dann der Mensch als eine Lebenserfahrung oder auch Lebensweisheit angeeignet hat, regelt er sich sein

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inneres Leben, seinen Gedankenverlauf, so daß er dann dazu kommt, von innen heraus seinen Gedanken Folge geben zu können. Allein alles das kann höchstens Vor­bereitung zu dem sein, was hier gemeint ist. Das muß in langsamer, geduldiger, energischer Arbeit erlangt werden. Es wird dadurch erlangt, daß man zunächst die Vorsicht anwendet, in seine Gedanken eine solche Regelmäßigkeit und dennoch, ich möchte sagen, solche Willkür hineinzu­bringen, daß man sicher ist: In dem, was man so übt, wirkt nichts von einer bloßen Reminiszenz, nichts von dem, was heraufsteigen kann aus irgendwelchen mehr oder weniger vergessenen Vorstellungswelten, Lebenserfahrungen und dergleichen. Daher ist es notwendig, daß derjenige, der zur Geistesforschung kommen will, sich einlebt in ein sol­ches Verfolgen der Vorstellungen, die er sich in übersicht­licher Weise selber zubereitet, oder von da oder dort her in übersichtlicher und kunstgerechter Weise zubereitet er­hält, daß er wirklich in dem Augenblick, in dem er sich diesem Vorstellungsverlaufe hingibt, sagen kann: Ich über­schaue, wie ich die eine Vorstellung an die andere reihe, wie ich durch den Willen beeinflusse den Vorstellungsver­lauf.

Das alles muß man dahin bringen, daß es nichts wei­ter ist als eine Vorbereitung zu dem, was eigentlich für das Seelen- und Geistesleben eintreten soll. Denn das muß zwar auf diese Art sorgfältig vorbereitet werden, stellt sich aber in einem bestimmten Punkt der Entwickelung als etwas Objektives ein, als eine von der geistigen Außenwelt kom­mende Wirklichkeit. Nur derjenige, der sich eine Zeitlang sorgfältig solchen inneren Übungen hingibt - es ist indi­viduell verschieden, wieviel Zeit man dazu braucht -, durch die er den Willen in die Vorstellungswelt einführt, durch die er dahin kommt, sich zu sagen: Ich lasse die Vorstellungen

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nicht nach ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit oder nach der von außen aufgenommenen Gesetzmäßigkeit aufein­ander folgen, sondern ich bringe durch meinen Willen sel­ber jene Regelmäßigkeit in mein Vorstellungsleben, wo­durch eine Vorstellung an die andere angereiht wird - der bringt es nach und nach dahin -, wenn er in die Vorstel­lungsfolge die Willkür eingeführt und wieder überwun­den hat, etwas innerlich zu entdecken, das ebenso not­wendig vom geistigen Gebiete her eine Vorstellung, einen Gedanken an den anderen reiht, und so ein inneres Seelenleben, beherrscht von einer geistigen Wirklichkeit, hervor­ruft. Wie die äußere Beobachtung das Vorstellungsleben regelt und dadurch, daß die Folge der äußeren Ereignisse, die charakteristischen Eigenschaften der äußeren Wesen­heiten, den Vorstellungen zugrunde liegen, Notwendigkeit in die Vorstellungen hineinbringt, so daß sie zum Ver­mittler der äußeren Wirklichkeit werden, so wird nach und nach das Vorstellungsleben zu einem Vermittler einer geistigen Wirklichkeit. Man muß nur eben dasjenige, was hier gemeint ist, in demselben Sinne als etwas ernstWissen­schaftliches erkennen wie die Naturwissenschaft und sich nicht dem Vorurteil hingeben, daß man dadurch in irgend­welche Phantastik hineingerät, weil man allerdings in eine innere Willkür hineinkommt, und einsehen, daß man auf diese Weise ein geistig Lebendiges, ein geistig Wirkliches ergreifen kann, das von der andern Seite her an unser Vor­stellen herankommt, als die Seite ist, die der äußeren physi­schen Wirklichkeit entspricht. Es ist für denjenigen, der sich mit solchen Dingen nicht viel befaßt hat, ja zunächst schwie­rig, sich vorzustellen, was mit diesen Dingen eigentlich ge­meint ist. Allein diese Dinge, die einer kommenden Geistes­wissenschaft zugrunde liegen sollen, die eine kommende geisteswissenschaftliche Forschungsweise abgeben sollen,

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sind ebenso, wie die naturwissenschaftlichen Verrichtungen im Laboratorium und so weiter, nichts weiter als feinere Ausbildungen der auch sonst in der Außenwelt erfolgenden Hantierungen. Diese inneren, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, Hantierungen des Geistesforschers sind nichts anderes als die Fortsetzung desjenigen, was das Seelenleben sonst auch vollbringt, um die Beziehung zwischen mensch­lichem Seelenleben und Geistesleben herzustellen, die eigent­lich immer da ist, die aber durch diese Übungen mehr oder weniger ins Bewußtsein hineingerufen wird.

Ich möchte von etwas, das leichter verständlich sein kann, ausgehen, um das, was ich eigentlich meine, zu charakteri­sieren. Wer sich befaßt mit allerlei Betrachtungen über diese oder jene menschlichen oder sonstigen Lebensverhältnisse, der kann ja, wenn er sich nach und nach eine Empfindung da­für aneignet, Unterschiede herausfinden zwischen den Dar­stellungen des einen Menschen und den Darstellungen eines anderen Menschen. Er wird bei dem einen Schriftsteller fin­den, daß er mit dem, was er sagt, ja recht gelehrt sein kann, recht streng seine bestimmte Methode handhaben kann, daß er aber durch die Art, wie er die Dinge sagt, im Grunde recht fern steht dem, was sich eigentlich in dem Wesen der Dinge abspielt. Dagegen kann man bei einem anderen Schriftsteller oftmals, ohne daß man vielleicht geneigt ist, zu untersuchen, um was es sich handelt, sich sagen: Der ist einfach durch die Art, wie er über die Dinge spricht, ein den Dingen, ihrem inneren Wesen nahestehender Mensch. Es vermittelt einem, während man seine Zeilen liest, etwas, was einen so recht an die Dinge heranbringt. Dafür ein Beispiel:

Man kann sehr viel haben gegen eine solche Kunstbetrachtung, wie sie der anregende, so sympathische Schrift­steller Herman Grimm geübt hat, aber man wird doch,

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wenn man dafür eine Empfindung hat, selbst dann, wenn man oftmals mit irgendwelchen Ausführungen Herman Grimms nicht einverstanden ist, wenn man ihn sogar dilet­tantisch findet gegenüber dem, was strenge Gelehrte zu sagen haben, zugeben müssen: In seinen Ausführungen liegt etwas, wodurch man herangeführt wird an die Kunst­werke, an die Künstler, an deren persönlichen Charakter sogar. Es ist, ich möchte sagen, etwas von Atmosphäre in den Schriften Herman Grimms, die unmittelbar hinüberführt von dem, was er sagt, zu dem Wesen dessen, worüber er spricht. Man kann sich die Frage vorlegen: Wie kommt ein solcher Geist dazu, sich gerade in solcher charakteristi­scher Weise von anderen, die recht gelehrt sein mögen, zu unterscheiden? Für den, der gewohnt ist, über solche Dinge nicht im allgemeinen Abstrakten herumzureden, sondern wirkliche Gründe für eine solche Erscheinung zu suchen, für den kann sich dann eben das Folgende ergeben: Sie werden zum Beispiel an einer Stelle - Sie können aber ähn­liche Beobachtungen in den Schriften Herman Grimms auch an anderen Stellen machen -, wo Herman Grimm in einem sehr schönen Aufsatz über Raffael spricht, auf einige Sätze stoßen, welche für den, der ein trockener, pedantischer, nüchterner Gelehrter ist, wahrscheinlich aufreizend, ärger­lich klingen mögen. Da sagt Herman Grimm, was man nach seiner Meinung empfinden würde, wenn einem heute Raffael begegnete, und wie man ganz anders empfinden würde, wenn einem heute Michelangelo begegnete. - Nicht wahr, in einer wissenschaftlichen Abhandlung solches Zeug zu reden, ist ja für manche von vornherein Träumerei. Selbst­verständlich, man kann ein solches Urteil durchaus be­greifen. Bei Herman Grimm finden Sie an zahlreichen Stel­len solche sonderbaren Bemerkungen. Man möchte sagen, er gibt sich da von vornherein gewissen Vorstellungszusammenhängen

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hin, von denen er ja natürlich weiß, daß sie sich nicht in der unmittelbaren Wirklichkeit realisieren können, und will selbstverständlich auch gar nichts Besonderes in bezug auf die äußere Wirklichkeit mit solchen Bemerkun­gen sagen. Aber wer sich immer wieder und wieder gerade solchen Gedankengängen hingegeben hat, der hätte - aller­dings jetzt nicht auf diesem Gebiete, denn auf diesem Ge­biete führen solche Gedankengänge zu gar nichts - wohl aber auf anderen Gebieten, in anderen Punkten seiner Be­trachtung, das Ergebnis, daß dann seine Seelenkräfte so in Bewegung versetzt worden sind, daß er tiefer in die Dinge hineinschauen kann, sie treffsicherer zum Ausdruck bringen kann als andere, die es verschmähen, solche «unnötigen» Gedankengänge anzustellen. Das ist es, worauf es ankommt, und was ich hervorheben möchte.

Wenn man Gedankengänge anstellt in seinem Innern, nur um diese Gedankengänge herzustellen, bloß um sein Denken in Bewegung zu bringen, in eine solche Bewegung zu bringen, daß es eine mögliche Beziehung zur Wirklich­keit hat, und wenn man darauf verzichtet, mit diesen Ge­dankengängen etwas anderes zu wollen als sein Denken in eine gewisse Entwickelungsströmung hineinzubringen, dann führt einen zunächst das, was man da tut, zu nichts anderem als zu einem Beweglicherwerden seines Denkens, zu einem Beweglicherwerden der seelischen Fähigkeiten überhaupt. Die Frucht davon tritt dann auf ganz anderen Gebieten der Betrachtung zutage. Man muß beides streng voneinander scheiden können. Wer das nicht kann, wer da mit solch einem In-Bewegung-bringen des Denkens etwas Wirkliches erfassen will, wer etwas anderes will als sein Denken erst herzurichten, um dann in eine Wirklich­keit einzudringen, der kommt in Phantastereien, in Träu­mereien, in allerlei Hypothesenmacherei hinein. Wer aber

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die Selbstbeherrschung und Selbstkontrolle hat, genau zu wissen, daß ein solches In-Bewegung-bringen des Denkens zunächst nur subjektive Bedeutung hat, wer dann die Kraft, die aus einem solchen Sichbetätigen des Denkens in der Seele wirkt, in Bewegung bringt, für den treten die Früchte davon zu einer ganz andern Zeit ein. Von da aus­gehend war Herman Grimm wirklich imstande, in seinen Abhandlungen über Macaulay, Friedrich den Großen und so weiter historische Bemerkungen zu machen, welche hart an das anklingen, was Geisteswissenschaft über das Leben der menschlichen Seele und des menschlichen Geistes zu sagen hat. Ich will damit nicht sagen, daß Herman Grimm schon ein Geistesforscher war; das lehnt er ja gerade ab. Ich will damit auch nicht sagen, daß das, was ich bei ihm charakterisiert habe, mehr ist als etwas, was schon im ge­wöhnlichen Bewußtsein vor sich gehen kann. So etwas aus­gebildet, so etwas immer weiter und weiter betrieben, das führt dazu, den Willen einzuführen in das Vorstellungsleben und die geistige Notwendigkeit im Vorstellungsleben zu ergreifen. Dazu muß allerdings etwas anderes kommen.

Ich habe auch darauf schon hingewiesen, daß ja in der Entwickelung des Geistesforschers dem eine besondere Wichtigkeit zugeschrieben werden muß, daß er sich an die sogenannten Grenzpunkte des Erkennens hingeben kann. Du Bois-Reymond spricht von sieben Welträtseln, denen sich der Mensch gegenübergestellt sehen kann, als von Grenzpunkten, über die das menschliche Erkennen nicht hinauskommen kann. Wenn der Mensch sich an solchen Grenzpunkten ein Doppeltes sagt, dann bilden sie gerade den Ausgangspunkt geisteswissenschaftlicher Untersuchun­gen. Das eine ist, daß man zunächst im vollen inneren Leben empfindet, was mit einer solchen Grenzfrage eigent­lich gesagt ist. Ich mache bei einer solchen Gelegenheit gern

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aufmerksam auf wirkliche, echte Ringer nach Erkenntnis. Als Beispiel sei angeführt Friedrich Theodor Vischer. Als dieser das wichtige Thema der menschlichen Traumphan­tasie behandelte, kam er auf eine solche Grenzfrage. Er sagte sich: Betrachtet man das Verhältnis des menschlichen Seelenlebens zum menschlichen Leibesleben, so muß man sich sagen: Es ist ganz gewiß, daß die Seele nicht im Leibe sein kann, aber ebenso gewiß ist, daß die Seele nicht irgend­wo außer dem Leibe sein kann. Wer solch ein Denken ent­wickelt, das nicht nach landläufigen, schulmäßig gegebenen Methoden, sondern nach inneren notwendigen Strömungen des Seelenlebens nach Erkenntnis ringt, der kommt in zahl­reichen Fällen dahin, daß er sich sagen muß: Du stehst an einem Punkt, wo alle die Vorstellungen, die sich dir er­geben haben aus deinen Sinnesbeobachtungen, aus dem ganzen bewußten Leben, das sich unter dem Einfluß der Sinnesbeobachtung Tag für Tag abspielt, dich gar nicht weiterführen. Man kann nun, wie das so vielfach in der Gegenwart geschieht, an solchen Grenzpunkten stehen­bleiben und sagen, nun ja, da ist eben eine Grenze, darüber kann der Mensch nicht hinaus! Man täuscht sich schon, in­dem man dies sagt. Aber darüber will ich nicht sprechen. Das, um was es sich handelt, ist, daß man gerade an solchen Grenzpunkten versucht, mit dem vollen Leben der Seele einzudringen, daß man versucht, sich in einen wirklichen Widerspruch einzuleben, der die geistig-seelische Wirklich­keit uns darstellt, wie sich als äußere widerspruchsvolle Wirklichkeit darstellt, wenn an einer Pflanze einmal ein grünes Pflanzenblatt, ein andermal ein gelbes Blumenblatt erscheint. In der Wirklichkeit realisieren sich auch die Widersprüche. Wenn man sie erlebt, statt mit seinem logi­schen Denken, mit seiner gewöhnlichen, nüchternen Urteils­kraft an sie heranzugehen, wenn man statt dessen an sie

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herangeht mit dem vollen lebendigen inneren Seelenwesen, wenn man einen Widerspruch in der Seele selbst sich ausleben läßt und nicht mit dem Vorurteil des Lebens an ihn herankommt und ihn auflösen will, dann merkt man, wie er aufquillt, wie sich da wirklich etwas einstellt, das man mit folgendem vergleichen kann, wie ich das in meinem Buche «Von Seelenrätseln» getan habe.

Wenn ein niederes Lebewesen zunächst keinen Tastsinn hat, sondern nur ein inneres wogendes Leben, und nach und nach in der Außenwelt anstößt, so bildet sich das, was vorher nur inneres wogendes Leben war, um in Tastsinn - es ist das ja eine gebräuchliche naturwissenschaftliche Vor­stellung -, und der Tastsinn wiederum differenziert sich, so daß gewissermaßen nach und nach im Zusammenstoßen dieses inneren Lebens mit der Außenwelt diese selber erst inneres Erlebnis wird. Dieses Bild vom Tastsinn kann man anwenden auf jenes seelisch-geistige Erleben, das beim Gei­stesforscher eintreten muß. Solchen Grenzpunkten des Er­kennens gegenüberstehend, läßt er sie in seiner Seele ausleben, läßt er sie in ihrer Eigengeltung. Dann ist es so, als wenn das innere Leben nicht an eine physische Außenwelt stieße, sondern an eine geistige Welt und ein geistiger Tast­sinn sich wirklich entwickelt, dann sich weiter differenziert und zu dem werden will, was man in übertragener Bedeu­tung mit Goethe Geistesaugen, Geistesohren nennen kann. Es ist allerdings weit hin von einer Beschäftigung mit sol­chen Grenzfragen des Erkennens bis zu dem, was ich in meinem Buche «Vom Menschenrätsel» schauendes Bewußt­sein genannt habe. Aber dieses schauende Bewußtsein kann entwickelt werden. Das ist das eine, was zu berücksich­tigen ist.

Das andere ist, daß man nun gerade in einer solchen inne­ren geistig-seelischen Betätigung erfährt, daß man nicht mit

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dem, was man auf der Grundlage der Beobachtung der Sinneswelt an Urteilskraft gewonnen hat, in die geistige Welt darf eindringen wollen, nicht einmal in dem negativen Sinne, daß man sagt, es könne das menschliche Erkennen an diesem Punkt über sich selbst nicht hinaus. Man muß vielmehr darauf verzichten, in die geistige Welt einzu­dringen mit dem, was man vorher in der Seele hatte, bevor man sich erst durch diese und ähnliche Übungen bereit machte, in die geistige Welt wirklich einzudringen. Dazu gehört eine gewisse Resignation, dazu gehört überhaupt Verzicht. Während in der Regel der Mensch gewohnt ist, mit dem, was er an der äußeren Welt sich erobert hat, Hypothesen und allerlei logische Schlußfolgerungen auf­zustellen über das, was jenseits der physischen Erfahrung sein könnte oder nicht sein könnte, muß der Geistesforscher es sich wirklich nicht nur zu einer inneren Überzeugung, sondern - ich sage ausdrücklich - zu einer inneren intellek­tuellen Tugend machen, das nicht zu gebrauchen für die Charakteristik der geistigen Welt, für die Anschauung der geistigen Welt, was nur aus der physisch-sinnlichen Wirk­lichkeit stammt. Diesen Verzicht muß man sich erst an­eignen, er muß habituelle Eigenschaft der Seele werden, so daß man es sich versagt, bloße Hypothesen oder bloße philosophische Erörterungen anzustellen über das, was jen­seits der physisch-sinnlichen Beobachtung liegt. Man ringt sich dann durch zu der Erkenntnis, daß, um in die geistige Welt einzudringen, die Seele sich dafür selber erst reif machen muß. Das, was sich allmählich durch das volle Festsetzen dieser intellektuellen Tugend ausbildet, unter­stützt durch die Einführung des Willens in das Vorstel­lungsleben, wie ich es geschildert habe, das bringt einen dahin, jene Selbstbeobachtung üben zu können, von der ich vorhin gesprochen habe, die wirklich in die Lage kommt,

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gewissermaßen der eigene Zuschauer zu sein, während die Gedanken, Gefühle und Willensimpulse ablaufen. Nur durch solche wahre Selbstbeobachtung gelangt der Mensch dazu, eine geistige Tätigkeit zu entwickeln, von der er durch Erleben weiß, sie wird nicht mit Hilfe des Leibes vollführt, sondern sie wird vollführt, indem der Mensch mit seinem wahren Ich nunmehr außerhalb des Leibes steht.

Das ist eine Vorstellung, von der ja zugegeben werden muß, sie ist ganz ungewohnt für die Weltanschauungen, die ihre festen Wurzeln aus jenem Boden ziehen, aus dem fast einzig und allein in der Gegenwart die Weltanschau­ungen ihre Wurzeln ziehen wollen. Denn alles geht in die­sen Weltanschauungen dahin, die Möglichkeit zu verneinen, daß der Mensch ein Seelenleben entwickeln könne, das un­abhängig vom Leibe ist, und, wenn auf diese Weise die Er­gebnisse der Selbstbeobachtung angeführt werden, sie zu kritisieren mit demjenigen, was man an der äußeren Welt gewonnen hat oder was sich für die Urteilskraft aus dieser äußeren Welt ergeben hat. Damit kommt man nicht zu­recht. Man schafft Mißverständnisse über Mißverständ­nisse aus dem einfachen Grunde, weil aller Geistesforschung ein gerade Entgegengesetztes zugrunde liegen muß von dem, was zugrunde liegen muß der naturwissenschaftlichen Den­kungsweise, obwohl Geistesforschung ganz nach dem Mu­ster naturwissenschaftlicher Forschung aufgebaut ist. Da wird das Denken und der methodische Ausbau des Denkens im Experimentieren und so weiter so eingerichtet, daß der Mensch die von der Urteilskraft und dem Verstande aus­gebildeten wissenschaftlichen Methoden anwendet, um der Natur ihre Geheimnisse abzulauschen, daß er durch seinen Verstand die Dinge in diese oder jene Verbindung bringt, wodurch sie ihr Wesen, ihre Geheimnisse aussprechen. Das ist ganz selbstverständlich auf dem Boden naturwissenschaftlicher

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Denkungsweise. Allein dieselbe Kraft des Den­kens und Vorstellens, die da verwendet wird, um allerlei wissenschaftliche Methoden auszubilden, wird in der Gei­steswissenschaft dazu verwendet, die Seele erst vorzuberei­ten, damit sie dann beobachten kann, was das Ergebnis der Geisteswissenschaft ist. Das dient dazu, die Seele zu prä­parieren, damit sie auf eine vom Leibe völlig freie Weise die Erscheinungen des Seelenlebens beobachten kann. Da­durch kann der Mensch herausrücken von der Seele zum Geiste, wie er nach der andern Seite hin durch wissenschaft­liche Methoden herausgerückt wird von der Seele in den Leib. So daß man sagen kann, schon die ganze Art des beweisenden, des urteilenden Denkens muß eine andere werden in der Geisteswissenschaft. Sie darf nicht fehlen, aber was damit erreicht wird, ist dann nicht ein Erwägen nach Gründen und Folgen in derselben Weise wie in der äußeren Wissenschaft, sondern es ist ein Beobachtenkönnen, weil man die Methoden der äußeren Wissenschaft zuerst auf die Entwickelung der Seele selbst angewendet hat.

So bereitet sich der Geistesforscher durch dieselben Mittel, mit denen die Wissenschaft sonst zu ihrem Schlußresultat kommt, im Anfang vor, um geistig beobachten zu können, so daß das Geistige für ihn eben als Erfahrung auftritt, wie für die äußeren Sinne die physisch-sinnliche Welt. Dadurch kommt dasjenige zustande, was ich ungern hellsichtiges Anschauen der geistigen Welt nenne, ungern aus dem Grunde, weil ja heute noch vielfach, wenn man von einem hellsichtigen Anschauen der äußeren Welt spricht, auf ältere abnorme Zustände des menschlichen Seelenlebens hingewiesen wird und man absichtlich oder unabsichtlich die ernste, strenge Methode der Geisteswissenschaft ver­wechselt mit allerlei krankhaften und dilettantischen Me­thoden, durch welche die Menschheit heute oftmals in die

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geistige Welt eindringen will. Über solche Dinge werde ich näher in dem Vortrage über die «Offenbarungen des Un­bewußten» sprechen.

Man gelangt nunmehr dazu, das Seelenleben so zu beob­achten, daß die Beobachtung nicht bloß im seelischen Er­leben stehen bleibt, sondern auf den Geist hinweist. Zwei Punkte möchte ich zunächst erwähnen, obwohl sie ver­hundertfältigt werden können, die aber wichtige Kern­punkte sind. Indem der Mensch in dieser Weise zur wah­ren Selbstbeobachtung kommt, die außerhalb des Leibes ausgeführt wird und dadurch dem Geiste gegenübersteht, gelangt er dazu, als unmittelbares Beobachtungsresultat eine Anschauung zu bekommen nicht nur über das Verhält­nis des gewöhnlichen Wachens zum gewöhnlichen Schlafen, sondern vor allen Dingen über das, was die Phänomene des Aufwachens und Einschlafens sind. Es ist einmal heute noch das Schicksal der Geisteswissenschaft, daß sie nicht nur von heute vielfach Unbekanntem spricht, sondern daß sie über das, was in das Bewußtsein eines jeden Menschen hineinspielt, was eigentlich alltäglich Bekanntes ist, in einer ganz andern Weise sprechen muß, als sonst gesprochen wird. Dazu kommt, daß die Geisteswissenschaft ja Worte ver­wenden muß, die geprägt sind für das äußere, gewöhnliche Leben. Das bietet viele Schwierigkeiten, da Geisteswissen­schaft dieselben Worte zuweilen schon in einer andern Rich­tung gebrauchen muß. Sie muß anknüpfen an bekannte Erscheinungen des Lebens, um von diesen ausgehend in das geistige Gebiet hineinleuchten zu können. Den Wechsel-zustand von Schlafen und Wachen kennt ja der Mensch, wenn man zunächst vom Bewußtseinsstandpunkt aus spricht, nicht vom naturwissenschaftlichen Standpunkt - der soll heute nicht Gegenstand unserer Betrachtung sein -, auf der einen Seite als die Zeit, in der das Bewußtsein des

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Menschen vorhanden ist vom Aufwachen bis zum Ein­schlafen, und auf der andern Seite als die Zeit, in der das Bewußtsein in eine Finsternis hinuntergetaucht ist, in das Schlafbewußtsein. Der Geistesforscher weiß, daß es so schwach ist, daß man gewöhnlich vom Nichtvorhandensein des Bewußtseins im Schlafe spricht. Nun, diese beiden, für das Leben wahrhaftig gleich notwendigen Wechselzustände des menschlichen Wesens, sie sind geeignet, durch eine wirk­lichkeitsgemäße Betrachtung schon ein Stück in das Men­schenrätsel hineinzuführen. Von vorneherein müßte ja jedem auffallen, daß das eigentliche menschliche Wesen unmöglich mit dem Einschlafen und Aufwachen wiederum neu beginnen kann. Das, was im Menschen seelisch-geistiges Wesen ist, das sonst im Wachzustande als Bewußtsein lebt, das muß auch im Schlafe vorhanden sein. Aber für das gewöhnliche Bewußtsein ist ja die Sache so, daß der Mensch in eigener Selbstbeobachtung sich im Schlafe nicht betrach­ten kann, daß er daher den Wachzustand mit dem Schlafzustand innerlich geistig nicht vergleichen kann. Äußerlich naturwissenschaftlich ist das eine andere Sache. Nun han­delt es sich darum, daß man diesen Dingen näher kommt, wenn man wirklich von der gewöhnlichen Sinnesbeobach­tung zur geistigen Beobachtung in der geschilderten Weise so aufsteigt, daß man ins innere geistige Auge faßt das Vorstellungsleben, Gefühlsleben und Willensleben.

Richten wir unsere Aufmerksamkeit zunächst auf das Vorstellungsleben. Der Mensch betrachtet es in der Regel so, daß er weiß: Ich bin wach vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Meine Gedanken, herrührend von Wahrneh­mungen oder auch innerlich aufsteigend, sie stellen sich hinein in mein gewöhnliches Wachleben. Es kann das ge­wöhnliche Bewußtsein gar nicht zu einem andern Urteil kommen. Anders ist es, wenn das menschliche Seelenleben

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durch solche Übungen zu einer geistigen Beobachtung vor­bereitet ist. Da gelangt man dazu, diese ganze innere Aus­dehnungswelt, das Wachbewußtsein überhaupt vom Auf­wachen bis zum Einschlafen zu beobachten. Es ist merkwürdig, wie auch hier, wie auf so vielen anderen Punkten, ernsthafte Naturforscher heute sich begegnen mit dem, was Geisteswissenschaft von einer ganz andern Seite her zutage fördert. Aber Naturforschung kann ja nur, ausgehend von der Leibesuntersuchung, die Brücke herüberschlagen zum Seelenleben. Sie lehnt es heute noch ab, über dasjenige zu sprechen, über das hier gesprochen wird. Daher reden heute die Naturforscher, wenn sie von diesen Dingen reden, eine ganz andere Sprache als der Geistesforscher. Aber die Dinge werden sich finden, so sicher zusammenfinden, wie die nach richtigen geologischen und geometrischen Methoden zur Herstellung eines Tunnels unternommene Durchbohrung eines Berges sich in der Mitte zusammenfindet. So sind zum Beispiel seit kurzer Zeit auf naturwissenschaftlichem Ge­biete interessante Untersuchungen erschienen von dem Forscher Julius Pikler, der das Wachbewußtsein des Men­schen ganz anders, als man es in der Biologie bisher gewohnt war, ins Auge faßt. Nur kommt er natürlich nicht darauf, so etwas geisteswissenschaftlich zu untersuchen. Er legt daher etwas zugrunde, was auch nicht viel mehr ist als ein Wort. Pikler spricht von einem Waditrieb, der den Men­schen vom Aufwachen bis zum Einschlafen einfach wach-hält, der da ist, auch wenn keine besonderen Gedanken und Vorstellungen vorliegen, der sich als solcher insbesondere in der Langeweile zeigen soll. Darauf wollte ich nur hin­weisen, um zu zeigen, wie auch von der andern Seite ge­bohrt wird.

Geisteswissenschaft kann nicht einfach da, wo eine Er­scheinung vorliegt, irgendein Wort oder irgendeine hypothetisch

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angenommene Kraft zugrunde legen, sondern muß beobachten. Sie beobachtet in der Tat das, was die mensch­liche Seele erlebt, indem sie in dem für jeden erlebbaren Wachzustande ist. Sie beobachtet das gleichmäßige Hinfließen des bewußten Tageslebens vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Was findet die Geisteswissenschaft? Sie findet sich insbesondere dann zurecht, wenn sie mit ihren Beob­achtungsmethoden das Hineindringen von Gedanken und Vorstellungen in diesen einfachen Wachzustand beobach­tet. Was beobachtet der Geistesforscher, wenn er den ruhigen Strom des Wachlebens verfolgt und dann das Hineindringen von Vorstellungen? Da ergibt sich für den Geistesforscher, daß der gewöhnliche helle Wachzustand, der sonst wie ein ruhiger Strom dahinfließt, unterbrochen wird dadurch, daß ein partielles Einschlafen im Gedanken-fassen, im Gedankenerleben eintritt. Wir wachen so, daß wir fortwährend den Wachzustand herunterdämpfen zu einem partiellen Schlafen, indem wir in den Wachzustand die Vorstellungen hineinrücken. Wir lernen nur dadurch das Verhalten der Seele zum Vorstellungsleben kennen, daß wir beobachten können, wie der sonst intensive Wachzustand zwar nicht so stark herabgestimmt wird wie im traumlosen Schlaf, daß er aber doch herabgestimmt wird und in diese Herabstimmung jedesmal der Gedanke, der von einer Wahrnehmung hervorgerufen werden kann, hin­einfällt. Wir machen also den gewöhnlichen Wachzustand nicht in einer gleichmäßigen Intensität durch, sondern er wird fortwährend abgedämpft und abgedämmert, indem wir Gedanken fassen. Es setzt sich also im Vorstellen, im Gedankenleben das, was sonst in stärkerer oder völliger Abstumpfung im Schlaf vorhanden ist, ins Wachleben hin­ein fort. Dadurch kommt man darauf, das, was man sonst eigentlich als ein buntes Aufeinanderfolgen von Vorstellungen

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im Wachzustande hat, nun zu differenzieren. Was man sonst als Wachen und Schlafen mit einem einheitlichen Intensitätsgrad kennt, das muß man mit anderen Intensi­tätsgraden vorstellen lernen. Man muß beobachten können völligen Wachzustand, abgeschwächten Wachzustand, wei­ter völligen Schlafzustand, abgeschwächten Schlafzustand und so weiter.

So lernt man allmählich das, was sonst gar nicht beach­tet wird, im Bewußtseinsleben wirklich beachten. Indem man so hineindringt in das gewöhnliche Seelenleben, ge­langt man dazu, nun auch den Wachzustand selber ins Auge fassen zu können durch Beobachtung, zu der das geistige Auge erst geschaffen sein muß, wie das physische Auge für die Sinnenwelt geschaffen ist. Dann braucht man keine Be­weise für das, was man sieht, sondern man schaut es eben. Da gelangt man dazu, eine Ansicht als die richtige, als die unmittelbare, durch Erfahrung gegebene einzusehen, von der in der bisherigen Seelenlehre außerordentlich selten, aber doch einmal sehr schön gesprochen wird, nämlich von dem viel zu wenig beachteten Seelenforscher Fortlage. Hier steht man an einem derjenigen Punkte, die so interessant sind für die Entwickelung desjenigen, was heute zusam­menfassend als Geistesforschung auftreten will. Das ist nicht etwas völlig Neues, sondern etwas, was nur in syste­matischer Zusammenfassung aufgebaut werden soll, wofür aber die Anfänge bei solchen, die auf diesem Gebiete da oder dort mit der Erkenntnis gerungen haben, schon zutage getreten sind. Fortlage spricht einmal davon, und Eduard von Hartmann tadelt ihn deshalb, daß eigentlich das ge­wöhnliche Bewußtsein der menschlichen Seele ein fort­währendes abgeschwächtes Sterben sei. Es ist eine sonder­bare, kühne Behauptung, aber eine Behauptung, die natur­wissenschaftlich zu erhärten ist, obwohl die Naturwissenschaft

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die entsprechenden Tatsachen falsch deutet; man lese zum Beispiel die Untersuchungen von Gaswitz. Fortlage kommt darauf, einzusehen, daß das, wodurch Bewußtsein entsteht, nicht allein beruht auf einem Zutagetreten des wachsenden, sprossenden, gedeihenden Lebens, sondern daß gerade, wenn bewußtes Leben in der Seele auftritt, das sprossende, wachsende, gedeihende Leben im menschlichen Organismus absterben muß, so daß wir den Tod durch unser ganzes Leben partiell in uns tragen, sofern es ein bewußtes ist. Indem wir Vorstellungen bilden, wird etwas in unserm Nervensystem zerstört, das sich aber gleich nach­her wieder neu bildet. Dem Abbau folgt wieder ein Aufbau. Auf Abbauprozessen, nicht auf sprossenden, sprießenden Aufbauprozessen, beruht das bewußte Seelenleben. Fort-lage sagt sehr schön: Wenn dasjenige, was beim Bilden des Bewußtseins immer in einem Teil des Leibes, im Gehirn, auftritt, das partielle Sterben, jedesmal den ganzen Leib ergreifen würde, wie es der physische Tod tut, so würde der Mensch fortwährend sterben müssen. Der physische Tod bringt für Fortlage nur einmal das summiert zum Aus­druck, worauf das Bewußtsein fortwährend beruht. Daher kann Fortlage, freilich nur hypothetisch, weil er noch nicht Geistesschau hat, zu der Schlußfolgerung übergehen, daß er sagt, wenn wir es jedesmal, wenn unser gewöhnliches Bewußtsein auftaucht, mit einem partiellen Tode zu tun haben, so ist der generelle Tod das Aufgehen eines Bewußt­seins unter anderen Bedingungen, welches der Mensch dann für die geistige Welt entwickelt, wenn er durch die Pforte des Todes hindurchgeschritten ist. Da zeigt sich wie ein Licht­blick klar und deutlich, was Geisteswissenschaft genauer und immer genauer entwickeln wird, indem sie ihre Beob­achtungsmethoden auf das menschliche Wesen anwendet.

Da zeigt die Wissenschaft, daß das Gesamtwesen des

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Menschen, das mit Recht heute von der einen Seite her unter den Entwickelungsgedanken gestellt wird, nicht bloß unter den Entwickelungsgedanken gestellt werden darf. Ich dehne jetzt diese Betrachtung nicht über den Menschen hinaus aus; wir werden später eingehend über die Natur sprechen, wo solche Fragen behandelt werden können. Es muß, wenn man beim Menschen stehen bleibt, dieses Men­schenwesen so betrachtet werden, daß man weiß, es findet eine Entwickelung von sprießendem, sprossendem, wachsen­dem Leben, aber fortwährend auch ein Abbauprozeß, rück­schreitende Entwickelung statt. Die Organe dieses Abbau-prozesses, die Organe, in denen nicht eine fortschreitende, sondern eine rückführende Entwickelung stattfindet, sind im menschlichen Leibe vorzugsweise das Nervensystem. Das seelische Bewußtsein greift in den Menschen ein da­durch, daß es die wachsenden, sprossenden Prozesse ab­wechseln läßt mit Prozessen, die eine rückläufige Ent­wickelung darstellen. Das gesamte Wachleben vom Auf­wachen bis zum Einschlafen beruht darauf, daß mit dem Aufwachen das Seelisch-Geistige, das sich mit dem Ein­schlafen vom Leibe getrennt hat, in den Leib untertaucht und das, was vom Einschlafen bis zum Aufwachen fort­schreitende Entwickelung ist, in bezug auf das Nerven­system sich in rückschreitende Entwickelung verwandelt. Indem der Mensch denkt, indem er vorstellt, muß er ab­bauen, muß er Leichenprozesse in seinen Nerven hervor­rufen, um dem Wirken des Geistig-Seelischen Platz zu machen. Das wird Naturwissenschaft von der andern Seite immer mehr bezeugen. Der Geistesforscher rückt vom Gei­stig-Seelischen an das Leibliche heran und zeigt, daß, indem mit dem Aufwachen das Geistig-Seelische in das Leibliche einströmt, abgebaut wird, bis der Abbau so weit gediehen ist, daß wiederum die fortschreitende Entwickelung mit

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dem Beginn des Schlafes auftreten muß. Der gleichmäßig fortschreitende Wachzustand beruht darauf, daß durch das Seelisch-Geistige im menschlichen Leibe immer wieder ein ordnungsgemäßer, ein gesetzmäßiger Abbauprozeß, eine Rückentwickelung stattfindet, entgegengesetzt derjenigen Strömung, die lebt in dem gewöhnlichen Wachen, die tätig ist in den Kräften, die uns als Kind wachsen und gedeihen lassen. Stellen wir in den gewöhnlichen Wachzustand das Vorstellen, den Gedanken hinein, so wirken wir wiederum entgegengesetzt. Da bringen wir in den Abbauprozeß von der Leibesseite aus Stücke von Fortentwickelung hinein, partielle Schlafzustände, so daß wir sagen können: Abge­schwächt wird durch Prozesse, die ganz schwach dasjenige darstellen, was im Wachstum vorhanden ist, jener Zustand, der sich ausdehnt über das gewöhnliche Wachleben dadurch, daß abgebaut wird. Nun zeigt sich für den Geistesforscher, daß dieses Abbauen, dieser kontinuierlich fortschreitende Prozeß vom Aufwachen bis zum Einschlafen, die Wirkung desjenigen ist, was der Geistesforscher mit der wahren Selbstbeobachtung als den Geist im Menschen erkennt. Geist baut ab, und innerhalb dieses Abbaues machen sich wie­derum jene Tätigkeiten des Vorstellens und Denkens gel­tend, in denen die Seele die Aufbauprozesse benutzt, um sie in die geistigen Abbauprozesse hineinzustellen. Hier sehen wir ineinanderwirken Geistig-Seelisches und Leibliches. Der Geistesforscher ist nicht geneigt, dilettantisch über Geistig­Seelisches zu sprechen mit Außerachtlassung desjenigen, was sich im Leibe abspielt, gerade weil er selber beobachtet, wie der Geist nicht so wirkt, daß er die Prozesse des Wachsens, der Entwickelung, die reine Naturprozesse sind, zum Aus­druck bringt, sondern diesen entgegengesetzte Prozesse. In­dem der Geistesforscher das, was der Geist am Leibe voll­bringt, kennenlernt, lernt er auch wieder erkennen, wie sich

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die Seele der Leibesprozesse bedient, um die geistigen Pro­zesse abzudämpfen, indem sie die Vorstellungen hineinrüdit in den Abbauprozeß, den der Geist vollführt. Damit deute ich nur an, wie der Geistesforscher dazu kommt, das Wechselverhältnis, die Wechselwirkung des Geistigen, des Seeli­schen und des Leiblichen im Menschen anzuschauen.

So wie er auf der einen Seite in den Vorstellungen, die in den gewöhnlichen Wachzustand hineinspielen, ein par­tielles Einschlafen erkennt, so lernt er auf der andern Seite erkennen, wie jedesmal, wenn ein Willensimpuls sich in das Seelenleben hineinstellt, dieser sich wie eine Art Erhöhung des Wachzustandes, wie ein Aufwachen hineinstellt. Das Vorstellen ist wie ein Abdämpfen des Wachzustandes, der Willensimpuls wie ein Aufwachen, wie ein Aufleuchten desjenigen Zustandes, der fortlaufend ist vom Aufwachen bis zum Einschlafen in bezug auf das Willensleben, das ja so dumpf ist, daß man es auch, wenn man wacht, als ein Schlafleben bezeichnen kann. Was weiß der Mensch, in­dem er irgendeinen Willensimpuls ausführt, was da in sei­nem Arm vor sich geht? Aber jedesmal wenn ein Willensimpuls auftaucht, ist es wie ein Aufwachen.

Damit habe ich Ihnen angedeutet, wie der wirkliche Be­obachter, der zur wahren Selbstbeobachtung aufgestiegen ist, das Wirken der menschlichen Seelenkräfte und Geistes­kräfte im Geistigen auffassen kann. Er kann, indem er mit seinen Methoden weiter vorrückt, gerade so, wie man das gewöhnliche, alltägliche Ich kennenlernt, dasjenige Ich kennenlernen, das er in dieser Selbstbeobachtung in sich selber erlebt, mit dem er eben die Selbstbeobachtung an­stellt. Dieses Ich läßt sich nicht durch philosophische Speku­lationen erkennen, es läßt sich nur erleben. Wird es erlebt, dann lernt man durch unmittelbare Anschauung das kennen, was ich jetzt skizzenhaft charakterisiert habe. Der Mensch

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mit dem gewöhnlichen Bewußtsein kann gar nicht anders als glauben, indem er nur die wachsenden, sprossenden, sprieß enden Entwickelungskräfte ins Auge faßt, daß, indem das Kind heranwächst aus der dumpfen Bewußtseinslage und allmählich dazu übergeht, Ich zu sagen, überhaupt zum Selbstbewußtsein zu kommen, allmählich aus den Ent­wiekelungsvorgängen des Leibes das, was im Seelischen als Ich zum Ausdruck kommt, sich heranentwickelt. Für den, der das Ich durch wahre Selbstbeobachtung kennenlernt, wird klar, daß dies irrtümlich ist - aber es ist ein notwen­diger Irrtum für das gewöhnliche Bewußtsein -, so wie es irrtümlich wäre, wenn man glauben würde, weil der Mensch Luft in der Lunge hat, steige die Luft, die er aus-atmet, aus der Lunge heraus. Hier kann man schon durch äußere, tatsächliche Beobachtung erfahren, daß es Unsinn wäre, die Luft, die mit der menschlichen Lunge verbunden ist, als irgend etwas anzusehen, das aus der menschlichen Lunge entspringt. Will man die Luft erkennen, so muß man aus der Lunge herausgehen; will man die Luft in ihrer eigenen Wesenheit erkennen, so muß man zum äußeren Luftraum übergehen. Dasselbe tut man, wenn man in der hier charakterisierten Weise zur Selbstbeobachtung aufge-stiegen ist. Da lernt man erkennen, daß das, was sich im Leibe abspielt in den fortlaufenden sprießenden, sprossen­den Entwickelungsprozessen, zu dem Ich des Menschen, zu dem wahren Selbst sich so verhält wie die Lunge zur Luft. So wenig die Lunge Luftschöpferin ist, so wenig ist dieser menschliche Leib irgendwie Ichschöpfer. Nur solange man das wirkliche Geistig-Seelische nicht kennt, kommt man zu dem notwendigen Irrtum, als ob dieses Ich irgend etwas mit dem Leibe zu tun habe. Der Geistesforscher geht aber durch seine Methoden bei der Erforschung des Ich hinaus aus dem Leibe, so wie der, der die Luft für sich betrachten will, aus

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der Lunge herausgeht. So kommt der Geistesforscher dazu, durch wirkliche Beobachtung zu erkennen, wie dieses Selbst, dieses Geistig-Seelische des Menschen - wenn ich mich eines bildhaften Ausdrucks bedienen darf -, in den physischen Leib mit der Geburt, respektive Empfängnis eingeht, den es durch die Vererbungsströmung bekommt, wie dieses Ich, das aus der geistigen Welt herabsteigt, den Leib hinzuerhält, so wie zu der Luft die Lunge hinzukommt, daß der Leib dieses Ich einatmet, und indem der Mensch durch die Pforte des Todes tritt, wieder ausatmet. Es ist das ein bildhafter Ausdruck für die Verbindung des Geistig-Seelischen, das aus der geistigen Welt heruntersteigt, mit dem Physisch-Leib­lichen. Wie man, wenn man die Luft in ihrer Wesenheit ken­nenlernt, diese Wesenheit in dem äußeren Luftraum, nicht in der Lunge sucht, ebensowenig sucht man in der äußeren phy­sischen Leiblichkeit die Wesenhaftigkeit des geistig-seelischen Ich, sobald man das Ich wirklich kennengelernt hat.

Gerade dann aber ergibt sich für den Geistesforscher eine wesentliche Unterscheidung des Geistigen und des Seeli­schen auch beim Übergang vom Menschen zu der seelisch-geistigen Umgebung, in der der Mensch lebt mit jenem Teil seiner Wesenheit, der durch Geburt und Tod geht, der ge­genüber der Vergänglichkeit des Leibes das Ewige, Unsterb­liche im Menschen ist. Dieser Unterschied des Seelischen und des Geistigen ergibt sich dadurch, daß wir in dem See­lischen, das sich loslöst von dem Menschen, das nicht un­mittelbar mit dem Menschen verbunden ist, erkennen lernen etwas, das von dem, was man sonst im Seelenleben erlebt als Vorstellen, Fühlen und Wollen, gewissermaßen nur ein verklungener Grundton ist. Ich möchte mich durch Folgen­des ausdrücken: Nehmen wir ein gesungenes Lied. Wir können die Worte, wir können das Lied zunächst als Dich­tung betrachten und können diese Betrachtung fortsetzen in

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dem Anhören des gesungenen Liedes. Aber wir können auch beim Singen absehen von dem Inhalt der Worte, von den Sätzen, und können auf das bloß Tonliche, auf das bloß Melodische achten, auf dasjenige also, das zutage tritt, wenn wir gerade von dem Inhaltlichen der Worte absehen. Es ist nur ein Vergleich, den ich brauche, aber der Vergleich hat reale Bedeutung in bezug auf dasjenige, was ich hier sage. Es läßt sich das ganze Erleben des Menschen im Vorstellen, Fühlen und Wollen so ergreifen, daß man auch da einen Unterton erfassen kann, wenn man nicht eingeht auf den Inhalt des Vorstellens, des Fühlens und Wollens, wie sie sich im gewöhnlichen Bewußtsein darstellen.

Um mich noch deutlicher auszudrücken, möchte ich die Sache noch von einer andern Seite charakterisieren. Ihnen allen ist bekannt, daß gewisse orientalische Völker zu dem Geistig-Seelischen aufsteigen durch Methoden, von denen ich in den Vorträgen, die ich hier gehalten habe, und auch in meinen Büchern immer wieder gesagt habe, daß sie für unsere abendländische Kulturentwickelung nicht in dersel­ben Weise anwendbar sind, daß vielmehr hier zur bewußten Geistesforschung andere Methoden angewendet werden müssen. Aber es kann doch zum Vergleich einiges heran­gezogen werden. Es ist Ihnen bekannt, daß die Morgen-länder zu einem gewissen Erkennen des Seelischen - was sie vielleicht nicht zugeben, doch darauf kommt es jetzt nicht an - dadurch kommen, daß sie mantrische Sprüche immer wieder hersagen. Man lacht im Abendlande über die Wiederholungen in den Reden des Buddha und weiß nicht, daß für den morgenländischen Menschen diese Wieder­holung gewisser Sätze eine Notwendigkeit ist, weil dadurch eben ein gewisser Unterton in der innerlichen Aufnahme des Stoffes erreicht wird, mit Außerachtlassung dessen, was unmittelbarer Inhalt ist. Es wird, ich möchte sagen, in der

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Seele gewissermaßen eine in diesen Sprüchen lebende Mu­sik gehört oder gesprochen. Die Seele versetzt sich in so etwas. In meinen Büchern können Sie finden, wie wir das in der abendländischen Geistesentwickelung auf eine gei­stig-seelischere Weise machen, daß wir nicht in ein solches Absingen oder Absprechen von mantrischen Sprüchen oder Wiederholungen verfallen. Aber was da auf andere Weise erreicht wird, kann erläutert werden dadurch, daß man aufmerksam macht, wie im Vorstellen, Fühlen und Wollen etwas miterlebt wird, was ein Grund- oder Unterton ist.

Verlegt man sich darauf, zur vollen Selbstbeobachtung zu kommen, unter Aufrechterhaltung des Inhalts des Vor­stellens, Fühlens und Wollens, wie Sie ihn im gewöhnlichen Wachbewußtsein haben, so entdeckt man zumeist am leich­testen das Wirken des Geistes. Dagegen ist das Seelische ein Intimeres, das entzieht sich vielfach. Man muß schon schwie­rige und langandauernde Übungen anstellen, wenn man darauf kommen will. Während man verhältnismäßig leich­ter darauf kommen kann, wie der Geist abbaut im fort-strömenden Wachzustande, muß man feinere, intimere Übungen anwenden, um zu beobachten, wie die Vorstellun­gen, die da auftauchen, partielle Schlafzustände sind. Aber wenn man dann zu diesem intimeren Erleben im Seelischen kommt durch Methoden, wie ich sie in meinen Büchern beschrieben habe, so gelangt man auch von dem bloßen subjektiven Seelenleben in das objektive Seelenleben hin­aus. Man verfolgt dann nicht bloß das Geistig-Seelische als solches, wie man die Luft aus der Lunge in den Luftraum hinaus verfolgt, in jenen Geistesraum hinaus, den der Mensch zwischen Tod und einer neuen Geburt durchlebt, in einem rein geistigen Erleben, sondern man kann dann das Seelische verfolgen in seinem Zustande vor der Geburt und in seinem Zustande nach dem Tode. So sonderbar das für

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den heutigen Menschen noch klingt, diese Dinge können erfahren werden. Und auf Grund dieser Erfahrung, die der Orientale gerade auf eine dem intimen Seelenleben so naheliegende Art ausbildet, kam er eher als der Abendländer darauf, wie sich das gesamte menschliche Seelenleben im wiederholten Erdenleben abspielt, wie sich das wiederholte Erdenleben wirklich als Beobachtungsresultat ergibt. Es ist ein Beobachtungsresultat des seelischen Erlebens. Das ewige Unvergängliche, das durch Geburten und Tode geht, in seiner Geistigkeit zu erleben, ist nun etwas anderes als dieses seelische Erleben, wie es im wiederholten Erdenleben auf­tritt. Es ist wie eine Spezialisierung, eine Differenzierung des geistigen Erlebens.

Wie man beim einzelnen Menschen im seelischen Durchwirken des allgemeinen Geisteslebens das Vorstellen als ein partielles Schlafen hineinspielen sieht, so kann man in der äußeren Welt beobachten - auf diese Dinge werde ich in dem nächsten Vortrage genauer eingehen -, wie in jenen Geistesraum, den man als Schauplatz des ewigen Geistigen im Menschen entdeckt, hineinspielt das Seelische, indem es spezialisiert das allgemein-ewige Geistesleben in wieder­holte Erdenleben, die allerdings einmal einen Anfang ge­nommen haben und ein Ende nehmen werden. Davon werde ich in dem nächsten Vortrage sprechen.

Dazu gelangt man durch wirkliche Ausbildung der seeli­schen Fähigkeiten, die sich nicht jeder anzueignen braucht. Aber jeder Mensch hat den Sinn für Wahrheit. Wenn dieser Sinn für Wahrheit nicht getrübt wird durch Vorurteile, die heute nur allzu leicht in populären oder wissenschaftlichen Weltanschauungen zu finden sind, so wird man dem, was der Geistesforscher zu sagen hat, zustimmen können, auch bevor man selber ein Geistesforscher geworden ist. Denn der Seher unterscheidet sich von anderen Menschen - ich

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habe das auch hier schon als Gleichnis zum Ausdruck ge­bracht - wie derjenige, der dem Uhrmacher zuschaut, von dem, der nur die Uhr sieht. Der die Uhr sieht, der weiß, daß sie durch intellektuelle Tätigkeit des Uhrmachers ent­standen ist, dazu braucht man dem Uhrmacher nicht zuge­schaut zu haben. Indem der Geistesforscher aus seiner For­schung heraus durch seherische Beobachtung schildert, wie zustande kommt, was im alltäglichen Leben darinnen steht, wird derjenige, der dieses unmittelbar beobachtet, daraus überall die Bestätigung für das Gesagte finden, auch wenn er nicht selbst ein Geistesforscher ist. Wenn das auch heute noch wie etwas Paradoxes sich hineinstellt in die allgemeine geistige Kulturentwickelung, wie der Geistesforscher zu denken hat über Leib, Seele und Geist des Menschen, es wird sich im Laufe der Zeit, indem die Naturwissenschaft entgegenarbeitet dem, was die Geistesforschung zu sagen hat, auch für die Geistesforschung dasjenige ergeben, was sich für die Naturforschung auch langsam und allmählich ergeben hat. Bedenken Sie nur, es hat ja auch eine Zeit gegeben, in der gewisse Vorurteile das Entstehen von Phy­siologie und Biologie im heutigen Sinne verhindert haben. So hat man heute ein Vorurteil dagegen, die Brücke zu schlagen vom menschlichen Seelenleben zu dem hinüber, was im menschlichen Leibe vor sich geht, während das See­lenleben dahinfließt. Anatomie zu studieren, ist auch erst im Laufe des Mittelalters aufgekommen. Vorher stand ein Vorurteil dagegen, das, was sich da im Leibe abspielt, hin­zuzufügen zu dem, was die Seele im Innern erleben kann. In derselben Lage ist heute die Geisteswissenschaft. Und wenn man es auch nicht glaubt, die heutigen Vorurteile sind von demselben Wert und stammen aus denselben Ursachen. Wie man im Mittelalter den Leib nicht sezieren lassen wollte, um das, was sich im Leibe abspielt, als Bedingung

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für das seelische Leben zu erkennen, so sträubt sich heute noch selbst der ernsteste Wissenschaftler dagegen, den Geist zu erforschen durch geisteswissenschaftliche Methoden. Und wie das Mittelalter erst nach und nach dazu gekommen ist, die Untersuchung des Menschenleibes der Wissenschaft frei­zugeben, so wird auch die Kulturentwickelung der Mensch­heit es notwendig machen, daß auch die Erforschung des Geistes, der nicht einerlei ist mit der Seele, der Geisteswis­senschaft freigegeben wird.

Ob man heute zu naturforscherisch denkenden Menschen, ob man zu sonstigen Seelenforschern geht und mit geistes­wissenschaftlichen Resultaten kommt, man erlebt wirklich dasselbe, nur auf einem andern Gebiete, wovon die Biogra­phie Galileis erzählt. Bis zu Galileis Zeiten galt das alte noch gegenüber den Leibeserscheinungen zu überwindende Vorurteil, das sich durch eine mißverständliche Auffassung des Aristoteles durch das ganze Mittelalter fortgepflanzt hat, daß die Nerven aus dem Herzen entspringen. Galilei hatte einem Freunde die Mitteilung gemacht, daß das ein Vorurteil sei. Der Freund war ein strenggläubiger Anhän­ger des Aristoteles. Er sagte, was im Aristoteles steht, ist wahr, und da steht, daß die Nerven aus dem Herzen ent­springen. Da zeigte Galilei dem Betreffenden an einer Leiche, wie der Augenschein lehre, daß die Nerven aus dem Gehirn entspringen, nicht aus dem Herzen, daß Aristoteles das nicht beachtet hatte, weil ihm noch keine solche Leibes-beobachtung möglich war. Der Aristoteles-Gläubige blieb trotzdem ungläubig. Obgleich er sah, daß die Nerven aus dem Gehirn entspringen, sagte er, der Augenschein spricht zwar für dich, aber Aristoteles sagt anders, und wenn ein Widerspruch vorliegt zwischen Aristoteles und der Natur, so glaube ich nicht der Natur, sondern Aristoteles. Das ist wirklich vorgekommen. Und so ist es noch heute. Gehen

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Sie heute zu denjenigen, die im alten Sinne vom philosophi­schen Standpunkt aus Seelenforschung begründen wollen, gehen Sie zu denjenigen, die Seelenforschung auf naturfor­scherische Art begründen wollen, sie werden behaupten, daß man das, was aus dem Geiste oder Leibe stammend den seelischen Erscheinungen zugrunde liegt, bloß aus dem See­lischen heraus irgendwie zu erklären habe; und wenn man noch so sehr auf Tatsachen der geistigen Beobachtung hin­weist - sie ist ja nicht so leicht anzustellen wie unsere natur­wissenschaftliche Beobachtung, und geistige Anatomie wird schwerer zu treiben sein als physische Anatomie -, es wird einem heute aus demselben Geiste heraus erwidert werden:

Wenn ein Widerspruch besteht zwischen dem, was Wundt oder Paulsen oder irgendeine Autorität sagt, und demjeni­gen, was Geisteswissenschaft durch geistige Beobachtung zeigt, so glauben wir nicht der geistigen Beobachtung, son­dern demjenigen, was in den Büchern steht, an die wir in dieser autoritätslosen Zeit gewöhnt sind. Denn heute glaubt man ja nicht mehr an Autoritäten, sondern - allerdings so, daß man es nicht bemerkt - an das, was irgendwie offi­ziell abgestempelt ist. Geisteswissenschaft wird sich ebenso durchringen, wie sich Naturwissenschaft mit Bezug auf die Leibesforschung durchgerungen hat.

Naturforscher wie Du Bois-Reymond und ähnliche spre­chen davon, daß, wo das Übersinnliche beginne, Wissen­schaft aufhören müsse. Ich habe schon in einem früheren Vortrage auf den Irrtum hingedeutet, der da zutage tritt. Wodurch ist er entstanden? Man hat zwar gefühlt - und Du Bois-Reymond fühlt es recht deutlich -, daß das menschliche Wesen in einem Geistigen wurzelt. Aber dieses Geistige muß erst durch Ausbildung von geisteswissen­schaftlichen Methoden als der Boden erkannt werden, aus dem das Seelische des Menschen fließt. Habe ich einen Baum

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vor mir und sehe, wie seine Wurzeln in den Boden hinein­reichen, so kann ich vielleicht ungehalten darüber sein, daß er mir den Anblick seiner Wurzeln entzieht, und ich will den Baum übersichtlich haben. Die heutige Wissenschaft will die Dinge übersichtlich machen, indem sie dasjenige ins Auge faßt, was sinnlich anschaubar ist; denn das Wurzel­hafte im geistigen Boden entzieht sich ihr. Die Wissenschaft macht es wie jemand, der, um einen Baum übersichtlich, anschaulich vor sich zu haben, ihn aus dem Boden heraus-reißt oder herausgräbt. Er hat ihn dann übersichtlich vor sich, aber der Baum verdorrt. So hat die heutige Wissen­schaft, die nicht auf den Geist eingehen will, den Baum der Erkenntnis ausgerissen. Aber ebenso wahr, wie der aus seinem Wurzelboden herausgerissene Baum, wenn er auch übersichtlich anzuschauen ist, verdorrt, ebenso verdorrt die Erkenntnis, die man aus dem geistigen Mutterboden herausreißt. Ein solcher Ausspruch wie der von Du Bois­Reymond, daß die Wissenschaft da aufhört, wo das Über­sinnliche anfängt, wird in der Zukunft zu der entgegen­gesetzten Überzeugung übergeleitet werden. Man wird er­kennen: Wenn man das Übersinnliche nicht anerkennen will bis in die Naturerscheinungen hinein, so reißt man den Baum der Erkenntnis aus seinem Mutterboden heraus und bringt die Erkenntnis zum Verdorren. Man wird in Zukunft nicht sagen, wo das Übersinnliche anfängt, hört die Wissen­schaft auf, sondern man wird, wenn man Wissenschaft auf die Weise begründen will, daß man sie aus dem Boden des Übersinnlichen herausnimmt, erfahren, daß da, wo im menschlichen Geistesleben das Übersinnliche aufhört, Wis­senschaft nicht gedeihen kann, daß da nicht außerhalb des Übersinnlichen eine wirkliche Wissenschaft entstehen wird, sondern daß da, wo das Übersinnliche aufhört, es nur eine tote Wissenschaft geben wird.

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DIE NATUR UND IHRE RÄTSEL IM LICHTE DER GEISTESFORSCHUNG Berlin, 7. März 1918

Der amerikanische naturwissenschaftliche Schriftsteller Charles Snyder, der ein Buch geschrieben hat über das gegenwärtige naturwisssenschaftliche Weltbild, das auch ins Deutsche übersetzt worden ist, spricht in fast spöttischer Weise über einen Vortrag, den der Entdeckergenosse Dar­wins, Russell Wallace, einmal gehalten hat. Wallace hat als Naturforscher - vielleicht besser gesagt, obwohl er Natur-forscher war - den Ausspruch getan, daß nach seiner An­schauung das menschliche Leben, die unsterbliche Seele des Menschen nicht nur diejenige Bedeutung habe, die man beobachten kann hier im Leben zwischen Geburt und Tod, sondern daß sie sich erstrecke in ihrer unoffenbar übersinn­lichen Wirkung über das ganze Weltall. Ein Mensch wie Charles Snyder kann sich von seinem mehr materialistisch gehaltenen Denken aus ja selbstverständlich in unserer Gegenwart über einen solchen Ausspruch nur fast spöttisch ausdrücken. Nun muß man, wenn man das kulturhistorisch Interessante an dieser Tatsache ins Auge fassen will, darauf hinweisen, daß Wallace, sogar etwas vor Darwin, zu den ja für das neunzehnte Jahrhundert Epoche machenden Entwickelungsgedanken mit Bezug auf die tierische und mensch­liche Welt gekommen ist, die dann eben durch Darwin populär geworden sind. Trotzdem gehört aber Wallace zu denjenigen, welche sich, obwohl sie im vollsten Sinne des Wortes auf dem naturwissenschaftlichen Boden der Entwickelungslehre

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stehen, zuletzt zu einer Anschauung heraufgearbeitet haben, die eben in einem solchen Ausspruch zutage tritt, wie der ist, daß die menschliche Seele, das ganze menschliche Leben eine Bedeutung habe für die ganze umfassende Welt.

Allerdings hat Wallace versucht, eine Bestätigung für dasjenige, was da in seine Gedankenwelt als Überzeugung eingedrungen ist, durch jene experimentelle Methode zu finden, welche gewöhnlich Spiritismus genannt wird. Man kann nun sagen, dieses Streben von Wallace, in solcher äußeren Experimentierkunst eine Bestätigung zu finden für eine Wahrheit, die sich auf die geistige Welt be­zieht, die aus der geistigen Welt gewonnen werden muß, sei ein Irrtum, denn in diesem Falle kommt die Frage in Betracht: Hat die äußere experimentelle Methode, das spi­ritistische Suchen, Wallace wirklich etwas bieten können für seine Überzeugung von der ewigen, universellen Bedeu­tung der menschlichen Seele? - Heute möchte ich über diese Frage nur so viel bemerken: Für den, der weltanschau­ungsgemäß, geistgemäß einen Einblick hat in das, was eigentlich bei einem Naturvorgang vorliegt, und welche Er­gebnisse ein Experiment liefern kann, ist es klar, daß ein solch äußeres Experiment - wenn dabei auch allerlei, das einen an geistige Kundgebungen erinnert, zutage tritt - nicht mehr über die ewige Bedeutung einer Wesenheit lie­fern kann als irgendein anderes magnetisches, elektrisches oder sonstiges Experiment. Das was in der Sinneswelt zu­tage tritt, kann auch nur über die Sinneswelt Aufschluß geben. In dieser Bestrebung, durch solche Experimentier­methoden eine Bestätigung seiner Überzeugung zu finden, war Wallace gewiß im Irrtum. Aber seine Überzeugung konnte auch gar nicht durch eine solche äußere Beobachtung erzeugt und bekräftigt werden. Wer die menschliche Seele

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kennt, weiß, daß eine solche Überzeugung heraufdringen muß aus den Tiefen der menschlichen Seele selbst, daß der Vorgang, der sie zu einer solchen Überzeugung führt, ein durchaus geistiger sein muß und nichts mit äußeren Experi­menten zu tun haben kann. Und so muß denn auch ange­nommen werden, daß Wallace, obwohl er gründlich auf naturwissenschaftlichem Boden feststand, eine aus dem Un­bewußten, aus den Tiefen der Seele sich losarbeitende Er­kenntnis aussprach, die sich auf diese ewige Bedeutung der Menschenseele bezog.

Das hängt zusammen mit dem, was ich über Geistesforschung in den hier schon gehaltenen Vorträgen ausge­führt habe, und was ich jetzt von einem gewissen andern Gesichtspunkt aus kurz wiederholen möchte. Es hängt da­mit zusammen, daß in den Tiefen der Menschenseele in der Tat etwas ist, was man nicht nur im ideellen Sinne, son­dern im geistig wirklichen Sinne einen zweiten Menschen nennen könnte, der eine geistige Wesenheit ist. Diese gei­stige Wesenheit tritt nicht in das gewöhnliche Bewußtsein, das wir zwischen Geburt und Tod haben, ein, schickt aber Kundgebungen, Offenbarungen herauf in dieses Bewußt­sein, deren Ursprung sogar diesem gewöhnlichen Bewußt­sein unbekannt sein kann. Man kann diese Offenbarungen Eingebungen nennen, die dann in einer solchen Überzeu­gung zutage treten, für die ein naturwissenschaftlicher Denker eben eine äußere, den naturwissenschaftlichen For­schungen ähnliche Bestätigung sucht. So ist denn eigentlich Wallace so recht ein Repräsentant für diejenigen naturwissenschaftlichen Geister der Gegenwart, die, gerade weil sie tieferen Einblick in das Wesen der Naturvorgänge und des Naturwerdens haben, in ihrer Seele gedrängt werden zu Überzeugungen über das geistige Leben, die aber nicht zu einer geisteswissenschaftlichen Methode selbst kommen

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können und daher eine Nachahmung, man könnte auch sagen Nachäffung der naturwissenschaftlichen Methode zur Bestätigung ihrer geistigen Überzeugung suchen.

Nun wird es sich natürlich vor allen Dingen darum han­deln, daß eine solche Behauptung, es ruhe in den Tiefen der Menschenseele etwas, was eben dem gewöhnlichen Be­wußtsein durchaus unbewußt bleiben kann, eine Art zwei­ter Mensch, nicht in der Luft hängen bleibt. Die geistes­wissenschaftliche Methode ist bestrebt, für diese Behaup­tung die Bewahrheitung zu finden. Ich habe in den früheren Vorträgen dieses Zyklus prinzipiell darauf hingewiesen, wie gewisse in der Seele des Menschen schlummernde Erkenntniskräfte, die im gewöhnlichen Bewußtsein nicht zutage treten, durch eine Erstarkung, Erkraftung dieses Seelenlebens, durch gewisse Übungen heraufgeholt werden können, so daß dem Menschen wirklich aufgeht, wie in seinem Wesen ein anderes Wesen ruht, das ebenso um sich eine geistige Welt schauen kann, wie der im physischen Menschenleib steckende Mensch durch seine Sinne die sinn­lich-physische Welt schaut. Ich habe hier des öfteren aus­geführt, wie man dazu kommt, diese in der Seele schlum­mernden Kräfte heraufzuholen und zu wirklichen, bewußten Erkenntniskräften zu machen. Sie finden das näher geschil­dert in meinen Büchern «Die Geheimwissenschaft», «Vom Menschenrätsel» und besonders ausführlich in meiner Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Wel­ten?»

Hier sei nur das Folgende darüber bemerkt: Derjenige, der sich bemüht - aber die Bemühung erfordert eine lange, energische, geduldige innere Arbeit der Seele -, den Willen in sein Vorstellungsleben einzuführen, so daß dieses Vor­stellungsleben wirklich unter dem Einfluß des eigenen Willens, zunächst übungsgemäß, abläuft, der gelangt dazu,

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zunächst in dem Vorstellungsleben Geistiges zu entdecken. Man muß sagen, die richtige Methode der Meditation führt dazu, in dem gewöhnlichen Vorstellungsleben, das sonst nur eine seelische Betätigung ist, den Geist als solchen zu finden, so wie der Naturforscher in dem Hungergefühl das­jenige ausgedrückt findet, was im Leibe an chemischen oder physischen Vorgängen diesem Hunger zugrunde liegt. Me­ditieren heißt - wie gesagt, ich kann hier nur Prinzipielles anführen, sonst würde mich die Auseinandersetzung zu weit führen -, eine Vorstellung, die möglichst übersichtlich ist, so daß nichts Unterbewußtes, nichts von Reminiszenzen in sie hineinspielen kann, in der Seele ruhen lassen, so daß man die vorstellende Kraft, die Denkkraft als den Inhalt der Vorstellung entwickelt. Wenn man in einer solchen Tätigkeit immer wiederum verharrt, und gewissermaßen, wie man sonst sein Leibliches erfühlt, das Seelische erfühlt in dieser Betätigung des Meditierens, da offenbart sich nach und nach, wenn der eigene Wille so lange eingeführt worden ist in dieses willkürliche, meditative Vorstellen, bis die Kraft dieses Willens erstarkt ist, ein objektives Etwas, das nicht vom eigenen Willen abhängt. Der eigene Wille kann sich gewissermaßen von der Vorstellungsbetätigung zurück­ziehen, und man hat die Vorstellungstätigkeit so weit in das Bewußtsein hineingehoben, wie sie sonst nicht hineingehoben ist. Man hat dadurch den Weg zu dem Geist hin angetreten. Man kommt dadurch dazu, indem man das Vor­stellen immer mehr und mehr losreißt vom Leiblichen, in dem Vorstellen das Hineinspielen des Geistes wirklich zu entdecken.

Das ist zunächst nur einer der Wege, die der Geistesfor­scher zu gehen hat; andere sind ihm ähnlich. Worauf es an­kommt, ist, daß die menschliche Seelentätigkeit so erstarkt wird, daß sie sich wirklich losreißt vom Leiblichen. Das

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muß erlebt werden und kann es gerade dadurch, daß es sich losreißt vom Leiblichen und durchdrungen wird vom Geistigen. Wenn man die Übungen durchrnacht, die in einer solchen Erkraftung des Seelenlebens bestehen, dann kommt man nach und nach - es kann natürlich nur auf dem Boden der geisteswissenschaftlichen Methode erreicht werden - dazu, sich sagen zu können, was denn eigentlich das im seelischen Element des Menschen wirkende Geistige ist. Man macht die bedeutungsvolle, dem ganzen Leben eine neue Wendung gebende innerliche Entdeckung, die erschüt­ternde Entdeckung - so schlicht sie sich erzählen läßt, sie ist, indem sie erlebt wird, erschütternd -, daß man mit seinem Denken, indem man es immer mehr als reines Den­ken ausbildet, nicht durch Anstrengung irgendwelcher leib­licher Funktionen, an einen Punkt kommt, wo man merkt:

du kannst jetzt nicht mit deiner gewohnheitsmäßigen Denkmethode durchkommen. Es ist mit dem Denken ge­rade so, wie wenn man ein Gewicht daliegen hat und zu­nächst irrtümlich glaubt, man könne es aufheben, und nach­her merkt, daß Hände und Arme zu schwach sind, um es aufzuheben. Äußerlich zeigt sich da, daß zu dem Tat­bestand, der eintreten soll, das physische Organ zu schwach ist. Ein ganz Ähnliches, ins Geistig-Seelische übertragen, kann dem Geistesforscher begegnen, wenn er das Denken durch Meditieren so weit gebracht hat, daß es geistdurch­drungen ist. Er fühlt dann, er kann nicht weiter, er fühlt, das Werkzeug des Gehirns ist nicht so weit, um einen Gedanken, den er jetzt fassen will, der eben geistdurchdrun­gen ist, wirklich zu erfassen. Man muß einmal den Wider­stand erlebt haben, den einem das Gehirn beziehungsweise die Leiblichkeit überhaupt bieten kann, um auf der einen Seite die Abhängigkeit des gewöhnlichen Bewußtseins von dieser Leiblichkeit richtig zu würdigen, und auf der andern

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Seite einmal zu erfahren, daß die Leiblichkeit auch zu schwach sein kann, um einen Gedanken, der im Geiste erfaßt ist, durchzuhalten. Wenn man eine solche Erfahrung macht:

Die Leiblichkeit kann zu schwach sein, der Gedanke kann zu stark sein -, so weiß man, daß es ein unmittelbar erleb­bares, anschaubares Geistiges gibt, das unabhängig vom Leibe ist, in das man sich durch entsprechende Methoden hineinversetzen kann. Man kommt in der Tat nach und nach zur unmittelbaren Anschauung einer geistigen Welt dadurch, daß man - es muß das immer wieder gesagt wer­den, obwohl es für die heutige Welt ein Paradox ist - mit seiner seelischen Betätigung außerhalb des physischen Lei­bes sich befindet. Man lernt da erkennen, was es heißt, vom Geiste so erfüllt sein, wie man sonst im gewöhnlichen Vor­stellen von leiblicher Betätigung erfüllt ist. Man lernt un­terscheiden das auf den Leib Gestütztsein des seelischen Lebens von dem auf den Geist Gestütztsein des seelischen Lebens.

Man kommt dann dazu, einzusehen, wie der Mensch eigentlich durch naturwissenschaftliche Anschauungen in den Materialismus verfallen kann. Denn das muß schon gesagt werden, auf dem Weg zum Geiste hin liegt für den Geistesforscher, wenn er nicht denkerischen Mut genug hat, um gerade durch diese Bestrebungen zum Geiste hinzu­kommen, durchaus die Möglichkeit, beim Materialismus stehenzubleiben, weil er dabei die Erfahrung macht, wie er mit dem gewöhnlichen Bewußtsein vom Leibe abhängig ist. Ist er dann nicht imstande, zum wirklichen Anschauen eines übersinnlichen Bewußtseinswesens zu kommen, lehnt er dieses ab, dann wird ihn gerade der Weg zum Geistigen hin in die Gefahr bringen, in den Materialismus einzulau­fen. Derjenige, der niemals so richtig gespürt hat, wie groß, wie ungeheuer groß die Versuchung und Verlockung ist,

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in den Materialismus zu verfallen, der steht auch nicht mit der vollen Energie in der geistigen Welt darinnen. Denn man muß auf der einen Seite wissen, daß dieses Bewußt­sein, das uns zwischen Geburt und Tod begleitet, zwar in seiner Urkraft eine seelische Betätigung ist, daß es aber in jedem kleinsten Teile seiner Betätigung des äußeren, phy­sisch-leiblichen Organes bedarf, und daß man nur zum Zwecke der Geistesforschung sich von diesem Gebunden­sein an das Physisch-Leibliche loslösen kann. Da entdeckt man dann - man muß den Ausdruck nicht mißverstehen, er soll keine Wertung ausdrücken, sondern nur eine Angabe sein -, wie in diesem Menschen, der zwischen Geburt und Tod lebt, wirklich ein höherer, geistig-seelischer Mensch lebt, der durch Geburten und Tode geht. Man lernt diesen geistig-seelischen Menschen kennen, wie er, wenn er selbst Bewußtsein entwickelt, in einem objektiven Gedankengewebe lebt.

Die Erfahrung, die sich da ergibt, kann man durch einen Vergleich so ausdrücken: Man lernt erkennen, daß diese gewöhnliche Welt, die wir durch unsere physischen Augen sehen, durch unsere physischen Ohren hören, etwa wie die Welt ist, die wir gewahr werden, wenn wir, sagen wir, am Ufer des Meeres stehen. Und wie wenn wir uns in das Meer stürzen, um in das Meer selbst untergetaucht zu schwim­men, so kommen wir aus der sinnlich-physischen Welt in eine Welt des objektiven Gedankenlebens. Das muß eine Erfahrung und kann eine Erfahrung werden. Man lernt erkennen, was objektives Gedankenleben ist. Allerdings tritt dann nicht die Unbestimmtheit ein gegenüber der mannigfachen Welt, die eintritt, wenn man sich in das Meer stürzt und darinnen untergetaucht schwimmt, sondern man lernt eine zweite, geistige Welt erkennen, innerhalb wel­cher der Mensch als geistig-seelisches Wesen so lebt, wie er

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in der physisch-sinnlichen Mannigfaltigkeit als physisch­-seelisches Wesen lebt. Gewisse Vorstellungen, an die sich sonst die Naturwissenschaft nur hypothetisch heranmachen kann, sie gewinnen eine durchaus reale Bedeutung. Gewisse Rätsel in der Natur treten in einer neuen Form an die Men­schenseele heran.

Ich werde hier zunächst nur auf das eine Rätsel in der Natur hinweisen, das den Naturforschern so viel Kopfzer­brechen gemacht hat, weil sie sich ihm nur von der Außen­seite her nähern, weil sie es nur auf der Grundlage des­jenigen betrachten wollen, was die äußeren Naturtatsachen geben. Ich meine das, was in der Naturwissenschaft der Äther genannt wird, dasjenige, was von den Naturforschern gesucht wird als der äußeren, groben materiellen Welt zu­grunde liegend, als ein feineres Element des Naturdaseins. Es ist merkwürdig, wie gerade auf solchen Gebieten die ernst zu nehmenden Naturforscher sich der Geisteswissen­schaft von der anderen Seite her nähern. Hat man doch in der neueren Zeit von einem sehr bedeutenden Physiker gehört: Wenn man schon dem Äther Eigenschaften zuschrei­ben will, so dürfen es jedenfalls keine materiellen sein. Das sagt heute schon ein Physiker, das heißt, er versetzt den Äther schon in jene Welt, in der nicht-materielles Dasein zu finden ist. Aber für den Physiker wie für den Naturforscher überhaupt muß dieser Äther Hypothese bleiben. Er kann ihn erschließen aus den anderen Naturvorgängen und We­sensoffenbarungen. Wenn der Mensch als Geistesforscher seine Seele so behandelt, wie ich es angedeutet habe, so kommt er allerdings dazu, zunächst das Wesen des Äthers in sich selbst wahrzunehmen und gewahr zu werden, wie diesem physischen Leibe - ich muß schon, da ich nicht im Unbestimmten, im rein Theoretischen herumreden möchte, auf dieses für die heutige Welt noch Paradoxe eingehen -

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ein Ätherleib, ein übersinnlicher Leib zugrunde liegt. Zu diesem übersinnlichen Leib hat dasjenige, was durch wahre Selbstbeobachtung, durch das Sichwissen im Gedanken­weben auftritt, unmittelbar eine Beziehung. Das seelische Erleben ist wesentlich ein Zusammenwirken derjenigen menschlichen Wesenheit, die sich aus dem Leib herauszieht und in dem webenden Gedankenmeere leben kann, mit dem Ätherischen. Und erst auf dem Umwege über das Äthe­rische, indem das Ätherische wieder auf den physischen Leib wirkt, wirkt auch die Seele auf den physischen Leib. So entdeckt man auf der einen Seite, daß dieser Ätherleib -ich habe ihn in der Zeitschrift «Das Reich» auch Bildekräfte­Leib genannt - dem physischen Leib des Menschen zugrunde liegt, und ein wesentliches Element desjenigen ist, was ich vorher den höheren Menschen genannt habe. Auf der an­dern Seite: Indem man sein Seelenvermögen so erstarkt hat, daß man diesen Ätherleib anschaulich wahrnehmen kann, lernt man dadurch die verfeinerte Gestalt des menschlichen Wesens im Ätherischen kennen und erfährt auch, daß der Mensch seelisch reicher ist als was in demjenigen enthalten ist, was er in seinem gewöhnlichen, alltäglichen Selbstbe­wußtsein erlebt. Dieses alltägliche Bewußtsein ist an den Leib gebunden, zeigt daher nur einen Ausschnitt aus der allgemeinen Geistigkeit. In diese allgemeine Geistigkeit taucht man unter wie in ein Gedankenmeer, und so erlebt man das, was geistig zunächst dem Menschenleib zugrunde liegt. Aber dadurch, daß man aus diesem menschlichen Leib herausgetreten ist, lernt man auch dasjenige erkennen, was geistig zugrunde liegt dem, was man auch sonst in der phy­sisch-sinnlichen Umgebung vorfindet.

Jetzt, wenn man zu dieser Erkenntnis vorgedrungen ist, stellt sich wie etwas erfahrungsgemäß Auftretendes das ein, daß man in dem Suchen nach den verborgenen Wesenheiten

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der Natur, so wie es zunächst in der Naturforschung selbst auftritt, keinen rechten Sinn finden kann, daß man für dieses Forschen einen anderen Sinn suchen muß. Wenn man dieses Forschen des gewöhnlichen Naturforschers nach den Rätseln der Natur ins Auge faßt, so findet man eigentlich immer, daß er so forscht, als ob er vor sich dasjenige ausgebreitet hätte, was die Naturbeobachtung ergibt, und dann, durchdringend dieses Netz, das ihm die Naturbeobachtung darbietet, hinter diesem Netz irgend etwas finden wolle, was wesenhaft zugrunde liegt dem äußerlich Beobachteten, sei in mehr philosophischem Sinne an das «Ding an sich» gedacht, sei es die wirkende Atomenwelt ge­nannt. Immer wird vorausgesetzt, wenn man über die bloß sinnlichen Tatsachen hinausgeht, daß man gewissermaßen dieses Gewebe der sinnlichen Tatsachen durchdringen kann, daß hinter diesem Gewebe etwas liegen müsse, das irgend ein «Ding an sich» sei, in das man deshalb nicht eindringen könne, weil vor einem die Welt der sinnlichen Beobachtung ausgespannt ist. Dem Geistesforscher, der durch unmittel­bares Schauen kennengelernt hat, was Geist ist, dem scheint ein solches Bestreben, hinter der sinnlichen Beobachtung ein «Ding an sich», eine Atomenwelt oder dergleichen zu fin­den, so, wie wenn jemand in einen Spiegel hineinschauen würde, in diesem Spiegel sein Bild und das Bild der um­liegenden Gegenstände sieht, und nun, um zu finden, woher dieses Bild rührt, den Spiegel durchstößt. Er wird sich über­zeugen, hinter dem Spiegel ist gar nichts, was irgendwie Veranlassung geben könnte zu dem, was ihm aus dem Spie­gel entgegentritt. Lernt man den Geist wirklich kennen, so macht man die Entdeckung: Auf diese Weise, durch das Eindringen hinter die Sinneswelt, kommt man zu nichts, weder zu einer Atomenwelt, noch zu einem «Ding an sich». Will man die Ursache suchen für das, was da im Spiegel

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erscheint, so muß man vor dem Spiegel suchen, man muß es suchen in dem Zusammenleben mit der Welt. Man muß lebendig eindringen in die Welt, mit der man zusammen­lebt vor dem Spiegel. So ist es mit den Rätseln der Natur, so ist es mit dem, was man Unoffenbares im Naturdasein nennen könnte. Lernt man auf die geschilderte Weise ken­nen, wie man in der geistigen Welt darinnen steht, so weiß man: Was man erkennt als den Geist, der die eigene Geist­seele trägt und fortentwickelt, was man überhaupt erken­nen lernt als den Geist, in dem man lebt und webt, das ist auch die Ursache der Naturerscheinungen, und nur die äußere menschliche Organisation ist schuld daran, daß wir diese Naturerscheinungen wie ein Spiegelbild um uns her­um ausgebreitet sehen, daß diese Naturerscheinungen fest­gehalten werden in diesem sinnlich-physisch ausgebreiteten Beobachtungsteppich. So kommt die Geistesforschung dazu, wenn sie überhaupt von einem Wesenhaften hinter den Na­turerscheinungen sprechen will, vom Geist zu sprechen, den sie kennenlernt als dasjenige, in das die Seele eintritt, wenn sie sich selbst vom Leibe freimacht und ihr eigenes ewiges Wesen in der geistigen Welt kennenlernt.

Es ist von großer Bedeutung, sich nicht von naturwissen­schaftlichen Vorurteilen abhalten zu lassen, hinzublicken auf das Verhältnis, das sich dem geistig Beobachtenden in der geschilderten Weise ergibt. Es ist ja dasjenige, was sich so ergibt, nur heraufgeholt aus der Seele selbst, indem sich die Seele in die geistige Welt einsenkt. Was aus der Seele selbst heraufgeholt werden kann, das kann auch verdun­kelt, das kann auch abgelehnt werden, wenn diese Seele Vorurteile in sich trägt. Was seelisches Eigentum werden soll, kann der Seele genommen werden, indem Vorurteile den freien Blick auf die geistige Umwelt trüben. Daß je­mand dazu kommt, solches überhaupt zuzugeben, das hängt

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davon ab, ob er in seiner Seele nicht entgegengesetzte natur­wissenschaftliche Vorurteile groß werden läßt. Wer so denkt, daß unsere physisch-sinnliche Welt, aus der wir als physisch-sinnliche Wesen stammen, und in der wir uns ent­wickeln, der Erzeuger ist für das gewöhnliche Bewußtsein -was wahr ist und was auch die Geistesforschung erhär­tet -, und wer dann diese physisch-sinnliche Welt etwa zurückführt in Kant-Laplacescher Weise auf einen bloßen Urnebel, der durch seine anorganische, rein physikalische Wirksamkeit und Fortentwickelung auch das Lebendige, und in der Entwickelung des Lebendigen zuletzt den Men­schen hervorgebracht hat, und wer dann weiter allerlei Hypothesen aufstellt über einen Endzustand, der in der Entwickelung der Erde eintreten werde, wenn sich die Erde etwa auf minus 200 Grad Celsius abgekühlt hat, - wer so durch naturwissenschaftliche Spekulationen das Unleben­dige an den Anfang und an das Ende stellt, und dann mit Recht davon überzeugt ist, daß aus diesem naturwissen­schaftlich Gegebenen das gewöhnliche Bewußtsein aufsteigt, für den kann dieses spekulative naturwissenschaftliche Weltbild zu einer solchen Suggestion, zu einem solchen Vor­urteil werden, daß es ihm vollständig die Möglichkeit nimmt, wenn er noch ein ehrlicher Mensch bleiben will, zum Geiste fortzuschreiten. Vielleicht gerade aus dem Grunde, weil das naturwissenschaftliche Weltbild im Laufe der letzten Jahrhunderte, insbesondere des allerletzten Jahrhunderts, so suggestiv auf die Menschheit gewirkt hat, weil es so suggestiv in die menschliche Bildung eingegangen ist, ist so wenig Neigung in der Menschheit vorhanden, zu irgendeiner Geistanschauung hin zu wollen. Aus dem, was ich dargestellt habe, sehen Sie in der Tat, daß man zum Wesen der Natur nur dann vordringen kann, wenn man zum Geiste vordringt; denn man findet ihn dann auch als

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das Wesenhafte in der Natur selber. Aber, und das ist das Bedeutungsvolle - denn Geisteswissenschaft ist nicht ab­strakt wie bloße Philosophie, sondern eine ganz konkrete Forschung, die im anschaulichen Geiste vor sich geht -, man findet nicht nur im allgemeinen, daß der Geist den Natur­erscheinungen zugrunde liegt, sondern man findet das im einzelnen. Dadurch ist Geistesforschung auch nicht in einem leicht überschaubaren Weltbilde darzustellen, sondern sie ist stufenweise, langsam und allmählich, darzustellen, wie irgendeine andere Wissenschaft.

Lernt man wirklich anschauen diesen ätherischen Teil des Menschen, der eingegliedert ist dem physisch-sinnlichen Leib, dann ist dieser ätherische Mensch ganz anderer Art. Er ist zwar übersinnlich, er ist dem Seelischen ähnlich, er steht zwischen Materiellem und Seelischem, aber er ist nicht so differenziert, nicht so im einzelnen ausgebildet wie der physische Leib. Der physische Leib hat aus sich herausgeglie­dert Augen, durch die wir nur sehen können, Ohren, durch die wir nur hören können, einen Wärmesinn, durch den wir nur Wärme erleben können, und so weiter. Der äthe­rische Leib des Menschen ist nicht in dieser Weise gegliedert, sondern indem er der ätherischen Welt gegenübertritt, formt er sich, gestaltet er sich, angeregt durch dasjenige, dem er gegenübertritt, so, daß die geistigen Augen, die geistigen Ohren erst in dem Augenblick erzeugt werden, wo irgend etwas auf irgendeine Art in der geistigen Welt wahrgenom­men werden soll. So entdeckt man eine ganz andere innere Beweglichkeit, eine innere Bildefähigkeit dieses Bildekräfte­leibes. Man entdeckt vor allen Dingen: Während die physisch-sinnliche Welt abhängig ist von der physischen Erdumgebung, während man sie im Sinne der physischen Wissenschaft durch diese Abhängigkeit von der physischen Erdumgebung erklären kann, ist der Bildekräfteleib nicht

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abhängig von dieser unmittelbaren physischen Umgebung. Man kommt allmählich darauf: Dieser menschliche Äther­leib ist eigentlich von dem ganzen Universum abhängig, so abhängig, daß für ihn die vertikale oder horizontale Rich­tung etwas bedeutet, daß es für ihn etwas bedeutet, ob er in­nerhalb der Lichtmasse ist, die von der Sonne ausgeht, oder unter dem Einflusse der Schwere-Masse der Erde, wenn er sich in der Dunkelheit befindet, und so weiter. Man merkt, dieser Ätherleib steht auf einer Stufe, auf der er noch ab­hängiger ist von dem gesamten Kosmos, während der phy­sische Menschenleib diese Entwickelungsstufe schon hinter sich hat und nunmehr unmittelbar abhängig geworden ist von der Erde. Es ist eine viel, ich möchte sagen, idealere Ab­hängigkeit von einem umfassenderen Ganzen, was diesem Bildekräfte-Leib eignet, als dasjenige ist, was dem physisch-sinnlichen Leib eignet. So entdeckt man die merkwürdige Wahrheit, daß der Mensch in dem, was er innerlich ist, zwar ein übersinnliches, geistiges Wesen ist, das sich sein Abbild schafft hier im physischen Menschenleib, daß aber dieses Übersinnliche, obzwar es übersinnlich ist, in gewisser Beziehung höher steht als das Physisch-Sinnliche, sich noch auf einer früheren Entwickelungsstufe befindet.

Das ist etwas, was sich unmittelbar ergibt, daß sich der Mensch als Geistesforscher sagt: In dir lebt etwas, was zwar höher steht als die ganze äußere Natur, weil es eben geistig­seelisch ist, aber als Geistig-Seelisches ist es unvollkomme­ner als das äußere Physische, als Geistig-Seelisches wird es erst auf einer späteren Entwickelungsstufe so differenziert, so ausgestaltet, wie das Sinnlich-Physische des Menschen jetzt schon ausgestaltet ist.

Will man daher das Geistig-Seelische in einem Abbild im physischen Leben finden, so muß man es in der Welt der niederen Organismen suchen. Die niederen Formen der Organismen

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treten einem so entgegen, daß man sich sagt, sie bilden materiell dasjenige aus, was der Mensch auf einer höheren Stufe geistig-seelisch ausbildet. Sie sehen, die Dinge sind nicht so einfach, wie sie von der darwinistisch gefärb­ten naturwissenschaftlichen Anschauung hingestellt werden. Diese innere Beweglichkeit und Bestimmtheit der Bildekräfte des Ätherleibes, durch die er bald der vertikalen Richtung folgt, dahin seine Organe dirigiert, bald der hori­zontalen Richtung folgt, dahin seine Organe dirigiert, bald dem Lichte folgt, bald der Schwere folgt, und dahin seine Organe dirigiert, und so weiter, diese innere Charakte­ristik des Ätherleibes, die man wahrhaftig nicht durch Spekulation entdeckt, sondern durch geistige Anschauung, die man haben muß, bevor man irgendwie in der äußeren Natur ein Gegenbild finden kann, die hat nichts zu tun mit der Spekulation über das äußere Naturdasein. Man müßte nun, nachdem man sich überzeugt hat, daß dieser übersinnliche Leib des Menschen die Eigenschaften hat, die ich eben geschildert habe, behaupten, gerade bei niederen Lebe­wesen müßte sich etwas ähnliches Undifferenziertes finden, es müßte sich herausstellen, daß sie zwar geistig-seelisch niedriger sind als des Menschen Geistig-Seelisches, daß sie aber in ihrer physischen Konfiguration nicht dem physischen Leib des Menschen ähnlich sind, sondern seinem Ätherleib. Da ist nun merkwürdig, daß je weiter die Naturwissenschaft fortschreitet mit ihren ganz anders gearteten Methoden, sie gerade die besten Beweise aufbringen kann für das, was die Geisteswissenschaft wie eine Aufforderung hinstellen muß. Der Gang ist also der, daß die Geisteswissenschaft zuerst sagt, daß man in der Natur das materielle Abbild für dasjenige finden muß, was in der übersinnlichen Welt entdeckt wird.

Nun können Sie gerade in einem solchen Forschungszusammenhang,

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wie er der mehr materialistisch gesinnten Forschungsweise eines Snyder entspricht, hingewiesen fin­den auf sehr interessante naturwissenschaftliche Unter­suchungen, wie sie zum Beispiel Jacques Loeb gemacht hat, der ja auch früher in Europa in allerlei Monistenbünden eine große Rolle gespielt hat. Da finden Sie ein ganz merk­würdiges Experiment angeführt - ich rede jetzt nicht da­von, ob es menschlich oder unmenschlich, ob es erlaubt oder unerlaubt ist, ob es moralisch oder unmoralisch ist, solche Experimente auszuführen; das kommt für die «Wissen­schaft» wenig in Betracht -: Dieser Forscher Loeb nahm die Substanz von einfachen, niederen Organismen, von Hy­droiden, und rücksichtslos schnitt er mit dem Messer aus der Substanz Würfel heraus. Was stellte sich heraus? Nach oben wuchsen Fühler in dem Kopf, nach unten wuchsen Füße, so, wie sie die Hydroiden sonst haben. Also ganz gleich­gültig, was man für eine Form herausschnitt: nach oben wuchsen Kopf und Fühler, nach unten Füße. Aber nun drehte Loeb die Substanz um, so daß die Füße oben waren. Da kam tatsächlich nach oben gehend ein neuer Kopf her­aus, der zwischen den Füßen herauswuchs. Da haben Sie das ganz Undifferenzierte, da haben Sie im niederen Tierwesen, in diesem Falle bei den Hydroiden, dasjenige auf materiel­lem Boden ausgestaltet, was der Geistesforscher auf einer höheren Stufe des Daseins für das Menschlich-Seelische im Bildekräfteleib entdeckt. Ähnlich ist es bei einer andern Gattung. Man schneidet mit dem Rasiermesser an einer ge­wissen Stelle in die Substanz des niederen Tierwesens hinein; es bildet sich da sogar ein Mund mit umliegenden Fühlern, sogenannte Tentakeln. Da haben Sie noch die undifferen­zierte Substanz als ein Abbild desjenigen, was im Menschen auf einer höheren Stufe geistig-seelisch lebt. Da finden Sie den Zusammenhang im Konkreten zwischen dem, was im

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Geist entdeckt wurde, dessen Teilnehmer der Mensch auf einer höheren, übersinnlichen Stufe ist, und demjenigen, was sich auf einer niederen Stufe im Materiellen ausdrückt.

Sie sehen, daß die niedere organische Welt darauf beruht, daß sie dasjenige im Materiellen festhält, was der Mensch auf einer höheren Stufe geistig-seelisch ausbilden kann da­durch, daß ihm sein höher entwickelter Organismus als Grundlage dienen kann. Sie sehen gerade da, wie Geistes­wissenschaft, wenn sie nicht als jener Firlefanz, der heute vielfach als Mystik oder Theosophie auftritt, sondern ernst als Forschung genommen wird, entgegenarbeitet dem, was von der Naturwissenschaft von der andern Seite her kommt, wie wirklich hier das Geistige und das Natürliche, Geist­rätsel mit Naturrätsel, in der Mitte zusammentrifft.

Indem man in solche Dinge eindringt, lernt man gründ­lich kennen, wie die wahre Tatsache, daß das gewöhnliche Bewußtsein, das man im Alltage hat, an das Physisch-Sinn­liche gebunden ist, nicht stört die Anerkennung desjenigen, was man das Geistig-Seelische, das Ewige, die unsterbliche Menschenseele nennt; denn man lernt die Möglichkeit kennen, daß der Mensch nicht nur in dieser Bewußtseins-form lebt, sondern auch in anderen Bewußtseinsformen. Hat man keine andere Möglichkeit, als nur die Bewußt­seinsform zu kennen, die dem Menschen hier zwischen Ge­burt und Tod eigen ist - von der die Geisteswissenschaft zeigt, daß sie an den physischen Leib gebunden ist -, so hat man auch keine Möglichkeit, eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie der Mensch beschaffen sein wird, wenn er durch die Pforte des Todes getreten ist. Lernt man aber durch Geistesforschung erkennen, daß dieses Bewußtsein nur eine von verschiedenen Bewußtseinsformen ist, so lernt man auch erkennen, daß schon der Schlaf nur eine andere Bewußtseinsform des Menschen ist. Dann bekommt man

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gerade, indem man den berechtigten Anforderungen der materiellen Forschung Rechnung trägt, den Weg frei, um in das Geistig-Seelische einzudringen. Dann sagt man sich, je weiter und weiter die Naturforschung dringen wird, je mehr rätselhafte Tatsachen sie enthüllt, desto mehr drängt sie dazu, den Geist und seine Wissenschaft anzuerkennen, und sie wird immer mehr und mehr erkennen, daß das ge­wöhnliche Bewußtsein zu seiner Grundlage ein auf einer niederen Stufe stehendes Materielles braucht, und daß das Geistig-Seelische im Menschen dieses Niedere übersinnlich durchdringt. Derjenige, der dieses Verhältnis des Geistes zur Natur nicht durchschaut, der wird entsetzt sein über den groben Materialismus, wenn heute ein Naturforscher, und zwar mit einem gewissen Recht, etwa das Folgende sagt - obwohl man darüber natürlich auch andere Ansichten haben kann, aber es handelt sich hier mehr um die Richtung, um die ganze Forschungsmethode -: Was ist eigentlich die menschliche Gehirnnervenmasse? Es ist organische Substanz, und die Erregung, die im gewöhnlichen Bewußtsein mit Hilfe dieser organischen Nervensubstanz auftritt, ist eigent­lich nichts als ein Streben dieser organischen Substanz, zu gerinnen; und dieses Gerinnen einer phosphorhaltigen, fett-artigen Substanz, das in unserm Gehirnnervensystem auf­tritt, wenn wir denken, vorstellen, wahrnehmen, das läßt sich, wie zum Beispiel Snyder in seinem naturwissenschaft­lichen Weltbild bemerkt, durchaus vergleichen mit dem, was vor sich geht, wenn zum Beispiel eine von der Hausfrau zubereitete Gelee oder Creme durch Abkühlen gerinnt. Da, sehen Sie, kommt der Naturforscher nach und nach dazu, wirklich recht anschaulich materiell zu denken, sich recht anschaulich zu sagen - und die naturwissenschaftliche An­schauung bewegt sich durchaus mit Recht in dieser Rich­tung -: Während da in der Seele die verschiedensten Prozesse

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sich abspielen, geschieht als natürliche Grundlage da­von, daß die Nervenmasse, die geléeartige, crémeartige Masse, das Bestreben hat zu gerinnen, und daß sie wirklich gerinnt.

Da haben wir die nach der andern Seite, nach der Naturseite auslaufende Betrachtungsweise. Dem braucht sich der Geistesforscher nicht zu widersetzen. Würde er sich wider­setzen, so wäre das Dilettantismus, aus dem einfachen Grunde, weil die rechtmäßige naturwissenschaftliche Me­thode zur Ausbildung solcher Erkenntnisse, wenn sie auch heute noch sehr unvollkommen sind, hinführen wird und hinführen muß. Aber indem man erkennt, welche einfachen materiellen Prozesse sich abspielen, während das Geistig-Seelische sich betätigt, erklärt man gerade dadurch die Selb­ständigkeit, das In-sich-Gegründetsein dieses Geistig-See­lischen. Man lernt gerade dadurch das Geistig-Seelische kennen, und so wird sich als das richtige Verhältnis des gei­steswissenschaftlichen Erforschens zum naturwissenschaft­lichen Erforschen das herausstellen, daß die Geisteswissen­schaft gewissermaßen richtunggebend hinweisen muß darauf, wie die naturwissenschaftlichen Tatsachen, wenn man durch sie auf die Rätsel der Natur kommen will, ins Auge zu fassen sind, was man aus ihnen zu machen hat. Man kommt allmählich darauf, nicht so zu denken über die Offenbarun­gen der Natur, wie heute leider die allermeisten noch den­ken, daß diese Offenbarungen der Natur nun auch aus irgendwelchen materiellen Grundlagen heraus die Wesenhaftigkeit der Natur kundgeben werden, sondern man wird erkennen, daß das Wesenhafte der Natur im Geistigen zu suchen ist. Indem man dieses Verhältnis vom Geistigen zum Natürlichen durchschaut, kommt man darauf, zu erkennen, daß das Geistige im Natürlichen überall tätig ist, und daß man gewissermaßen die Naturtatsachen anzusehen

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hat wie die Lettern einer Schrift. Beschreibt man sie als Lettern, so tut man etwas ganz Richtiges, aber man tut nicht das Vollständige. Man muß in der Lage sein, lesen zu können das, was durch die Lettern in ihrer Zusammenfügung zum Worte ausgedrückt ist; so muß man lesen ler­nen in der Natur, so muß man dahin kommen, ich möchte sagen, die Tatsachen der Natur allmählich so aufzufassen, daß man sich sagt: Was die Naturforscher erkennen, was sie in der Natur finden, das führt eher zu Fragen als zu Antworten. Die Antworten können erst gegeben werden, wenn man die geistigen Grundlagen durchschaut. Das ist allerdings etwas, wozu sich die Gegenwart und die Zukunft erst wird durcharbeiten müssen. Heute erwartet man gerade, wenn ein Naturphilosoph über Naturdinge und Naturvor­gänge schreibt, daß er Antworten gibt. Den richtigen Stand­punkt wird man einnehmen, wenn man einmal dahin gekommen ist, sich zu sagen: Was man an der Natur be­obachtet, das lenkt die Menschenseele dahin, Fragen zu stellen; die Antworten müssen kommen aus demjenigen, was nur geistig aufgefaßt werden kann. So könnten wir bei den alltäglichsten Vorgängen, wenn wir gerade auf ihr Naturrätselhaftes eingehen, darauf hinweisen, wie das Gei­stige dem Menschen den Instinkt verleihen muß, die Natur-tatsachen in der richtigen Weise als Fragen zu behandeln.

Eine sehr alltägliche Tatsache ist die Aufeinanderfolge von Schlafen und Wachen im menschlichen Leben. Es be­stehen sehr interessante Theorien über das Wesen des Schla­fes von seiten der naturwissenschaftlichen Weltanschau­ung, auf die ich hier nicht eingehen will, von J. Crüger, L. Strümpell, J. Freyer und vielen anderen. Diese Schlafforschungen sind alle sehr interessant, aber sie leiden vor allen Dingen darunter, daß man die fundamentalen Tat­sachen, die nur auf geistesforscherischem Wege gefunden

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werden können, nicht ins Auge zu fassen weiß, daß der Wechselzustand von Schlafen und Wachen wirklich zum menschlichen Leben so gehört wie das Links- und Rechts­ausschlagen des Pendels. Wenn man erkennt, wie der Mensch, wenn er hier auf der Erde lebt, Naturwesen und Geisteswesen ist, so erkennt man auch, wie er mit seinem eigent­lichen Selbst hin- und herpendelt zwischen dem Eingebettetsein in das Naturdasein und in das geistige Dasein. In seinem Wachleben bedient er sich zu den Verrichtungen, die mit dem gewöhnlichen vollen Bewußtsein ausgeführt wer­den, des physischen Leibes, der, weil er eine längere Ent­wickelung hinter sich hat, vollkommener ist als sein geistig­seelisches Wesen, das zwar auf einer höheren Stufe steht, aber unvollkommener ist. Dann schläft er hinüber mit sei­nem Geistig-Seelischen in einen andern Bewußtseinszustand, in dem er heute zwischen Geburt und Tod noch nicht wahr­nehmen kann, in dem er erst wahrnehmen wird, wenn er durch die Pforte des Todes getreten ist, weil er da gerade durch die Vernichtung seines Zusammenhanges mit seinem physischen Leibe in eine andere Verbindung mit der gei­stigen Welt eintritt, und einen geistigen Leib annehmen kann. Dieses Hin- und Herpendeln ist eine Tatsache, die als solche wie eine innere Notwendigkeit des Lebens an­gesehen werden muß Auch in dieser Beziehung haben schon interessante naturwissenschaftliche Annäherungen statt­gefunden. Wenn man zum Beispiel einzugehen vermag auf manches Interessante, was über das Gefühls- und Ge­dächtnisleben der magyarische Forscher Palagyi in seinen 1908 erschienenen «Naturphilosophischen Vorlesungen» gesagt hat, so sieht man, daß auch da die Naturforschung schon auf der andern Seite herankommt an dasjenige, was geisteswissenschaftlich eingesehen wird. Allerdings muß gesagt werden, daß gerade die mit Bezug auf die Schlafforschung

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vorgebrachten Tatsachen, die rein in der äußeren Natur vorliegen, nicht in der richtigen Weise als Fragen behandelt werden. Wie behandelt man sie?

Ein sehr angesehener Naturforscher der Gegenwart aus der Haeckelschen Schule hat in einer populären Schrift auch über den Schlaf geschrieben. Er behauptet, wie andere Na­turforscher auch, der Schlaf trete ein, weil der Mensch er­müdet ist, der Schlaf folge auf die Ermüdung. Das ist ja ganz richtig, wir werden gleich auf die Sache weiter ein­gehen. Aber, um anzudeuten, daß der Mensch nun über­tnüdet ist, daß er seine Sinne nicht mehr in Betätigung ver­setzen kann, weist dieser angesehene Naturforscher zum Beispiel darauf hin, wie der Mensch einschläft: was eigentlich geschehen muß, daß der Mensch einschläft. Ich könnte da das ganz interessante Strümpellsche Experiment an­führen, will dies aber nicht tun, sondern nur darauf hinweisen, was dieser angesehene Naturforscher dafür an­führt, daß eigentlich die Ermüdung der Sinne, das Auf­gezehrtsein des sinnlichen Lebens dahin führt, daß der Mensch, weil er nicht mehr im Sinnesleben sein kann, eigentlich aufhört, bis sich das Sinnesleben durch Selbststeuerung wiederum regeneriert hat. Da ist der Mensch als reines Naturwesen betrachtet. Deshalb führt dieser Naturforscher zur Bekräftigung dafür, wie das Sinnesleben auf­hört, wenn wir richtig einschlafen wollen, folgendes an:

Was tun wir, wenn wir einschlafen? Wir versuchen, die Sinnesreize möglichst abzusperren. Wir verhängen unsere Schlafzimmer, so daß es möglichst dunkel ist, wir sperren die Gehörreize ab, damit es möglichst geräuschlos um uns ist. - Er macht sogar darauf aufmerksam, daß selbst die nicht richtige Temperatur, wenn es zu warm oder zu kalt ist, den Menschen nicht einschlafen läßt, daß man also eine bestimmte Temperatur herbeiführen müsse, und so weiter,

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kurz, er will zeigen, wie in der Tat nicht in dem Oszillieren des Lebens zwischen Leib und Geist, sondern in der äußeren Umgebung, in den äußeren Verhältnissen, die Ursachen dafür zu suchen seien, daß der Mensch einschläft.

Kann diese Frage so richtig gestellt sein? Können die äußeren naturwissenschaftlichen Tatsachen so wirklich rich­tig angesehen sein? Dann dürfte es zum Beispiel ein anderes nicht geben: Ich habe zahlreiche Fälle in meinem Leben be­obachtet, wo die Menschen nicht durchaus eine geräuschlose Umgebung herstellen, auch nicht möglichste Dunkelheit, indem sie die Fenster verhängen und so weiter, sondern wo sie in ganz hellichten Sälen, wenn der Redner auch noch so sehr schreit, fünf Minuten, nachdem er geschrien hat, ein­geschlafen sind. Da ist die ganze Aufmachung nicht da, die der Naturforscher fordert, und dennoch, mit einer abso­luten Sicherheit tritt der Schlaf ein, natürlich nur bei ein­zelnen Menschen! Es handelt sich eben nicht darum, daß man nur richtige Voraussetzungen, mit den Tatsachen über­einstimmende Voraussetzungen hat, sondern darum, daß man diese Tatsachen hineinstellen kann in den ganzen Zu­sammenhang, in den sie hineingehören, mit allen Verhält­nissen, die mit ihnen in Beziehung stehen, und unter denen sie auftreten. Weiß man, daß der Wechselzustand, das Os­zillieren zwischen Schlafen und Wachen, darauf beruht, daß der Mensch dadurch, daß er hin- und herpendelt vom Leibe in die geistige Umgebung, eingebettet wird in den Geist, und daß er dann, solange er mit dem physischen Leibe nicht verbunden ist, diesen Leib von außen genießt, dann kann man auch verstehen, daß ein Schwelgen in diesem Genusse, ein Übertreiben dieses Genusses möglich ist. Dann kann man genau ebenso, wie man verstehen kann, daß sich der Mensch betrinkt, verstehen, daß er zu viel schläft, oder daß er zur Unzeit schläft. Man lernt den Schlaf als eine selbständige,

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in sich gegründete Forderung an das Leben ken­nen, als einen anderen Bewußtseinszustand, als der ist, den man im physischen Leibe hat. Nun hat dieser Bewußtseins-zustand eine bestimmte Bedeutung für den physischen Leib. Dasjenige, was man genießend erlebt, vom Einschlafen bis zum Aufwachen, das trägt man beim Aufwachen in den physischen Leib hinein, das trägt man auch während des Schlafes in den physischen Leib hinein. Dadurch wird die Ermüdung fortgeschafft. Das ist ganz richtig, aber das ist etwas anderes, als wenn jemand sagt, die Ermüdung sei die Ursache des Schlafens. Wenn jemand eine Tafel mit Kreide vollgeschrieben hat bis unten, dann einen Schwamm nimmt und das, was auf der Tafel steht, auslöscht, dann hat er allerdings die Schrift ausgelöscht; so schafft auch der Mensch mit dem, was er im Schlafe erlebt, die Ermüdung weg. Aber ebensowenig, wie man sagen kann, daß die Kreide den Schwamm erzeugt, ebensowenig kann man sagen, daß die Ermüdung den Schlaf erzeugt. Es ist etwas anderes, zu sagen: der Schlaf schafft die Ermüdung weg, als: die Ermu­dung hat den Schlaf erzeugt. Allerdings, wenn der Schlaf geistig-seelisch betrachtet wird, kann es begreiflich erschei­nen, daß der Mensch Sehnsucht hat nach dem Schlaf, wenn er ermüdet ist. Da liegt die Notwendigkeit vor, ins Gei­stige überzugehen. Da erzeugt aber nicht die Ermüdung den Schlaf, sondern die Sehnsucht in der Seele, die Er­müdung fortzuschaffen, erzeugt den Schlaf, das heißt die Sehnsucht der Seele nach dem Schlaf ist als geistig-seelisches Phänomen aufzufassen, nicht als etwas, was aus bloßer Ermüdung stammt.

Sie sehen, richtunggebend für die Wege, die genommen werden müssen, um die Rätsel der Natur zu lösen, ist das­jenige, was im Geistigen gefunden werden kann. Dafür möchte ich noch kurz ein Beispiel anführen, das ich schon

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in der Lage war, im Anhang meines letzterschienenen Bu­ches «Von Seelenrätseln» auszuführen. Es handelt sich darum, daß gewöhnlich, wenn vom Zusammenhang des seelischen Lebens mit dem leiblichen Leben des Menschen gesprochen wird, heute fast allgemein - auch von denjeni­gen, die dieses seelische Leben als eine besondere Wirklich­keit gelten lassen - angegeben wird, dieses seelische Leben hänge bloß mit dem Nervenleben zusammen. Diejenigen von meinen Zuhörern, die mich öfter gehört haben, wissen, wie wenig ich Neigung habe, eine persönliche Bemerkung zu machen. Hier ist aber das Persönliche mit dem Sachlichen unbedingt verbunden. Daher darf ich wohl sagen, gerade dieses Problem, die Beziehungen des Geisteswissenschaft­lichen zum Naturwissenschaftlichen auch äußerlich festzu­legen, hat mich seit dreißig bis fünfunddreißig Jahren be­schäftigt, wofür ich erst jetzt in der Lage bin, die richtigen Worte zu finden, um es wenigstens einigermaßen zu for­mulieren; denn das geistige Forschen ist wahrhaftig nicht leichter als das naturwissenschaftliche Forschen. Was sich mir im Verlaufe von dreißig bis fünfunddreißig Jahren aus der Geisteswissenschaft heraus ergeben hat im fortwähren­den Betrachten und Vergleichen der einschlägigen natur-wissenschaftlichen Tatsachen, wie sie bis heute vorliegen, hat mir überall bestätigt, daß man die Beziehungen des Geistig-Seelischen zum Leiblichen in einer ganz anderen Weise charakterisieren muß, als es sehr häufig heute ge­schieht. Gewiß sind auch da wiederum überall Ansätze da, so daß ich nicht sagen möchte, daß das, was ich hier auszu­sprechen habe, durchaus eine originelle Wahrheit von mir ist. Aber in diesem Zusammenhang wird es heute auf dem Gebiete der äußeren Naturforschung noch nicht durch­schaut. Es handelt sich darum, daß man das Geistig-Seeli­sche des Menschen nicht nur in einem Verhältnis mit einem

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Teile des Leiblichen, mit dem Nervensystem, denken kann, sondern daß man das ganze Geistig-Seelische, das aus der geistigen Welt in die menschliche Leiblichkeit durch die Geburt oder Empfängnis eintritt, mit dem ganzen Leibe im Zusammenhang zu denken hat, und zwar in folgender Weise:

Das Geistig-Seelische können wir gliedern - meine Zu­hörer werden wissen, daß ich auf solche Systematik keinen großen Wert lege, aber sie erleichtert doch die Übersicht - erstens in das Wahrnehmen und Vorstellen, zweitens in das gefühlsmäßige Erleben und drittens in das Erleben der Willensimpulse, die sich dann im Handeln realisieren, so daß das Geistig-Seelische des Menschen, wie es im gewöhn­lichen Bewußtsein auftritt, aus dieser Dreigliedrigkeit be­steht. Nimmt man die geisteswissenschaftlichen Tatsachen, so führen sie einen dazu, das vorstellende, wahrnehmende Leben nicht mit etwas anderem im Leibe in Beziehung zu setzen als mit dem, was sich im Nervensystem abspielt, aber auch nur dieses vorstellende, wahrnehmende Es ist interessant, daß zum Beispiel Theodor Ziehen, weil er das Seelische nur mit dem Nervensystem in Beziehung bringt, dadurch für das Gefühlsleben nur den Ausdruck «Gefühls­ton» hat, als wenn das Gefühlsleben nicht etwas Selbstän­diges in der Seele wäre, als wenn es nur ein Ton des Vor­stellungslebens wäre. Und ein selbständiges Willensleben leugnet er infolgedessen erst recht. Alle diese Forscher haben recht, wenn sie nur diesen Teil des Geistig-Seelischen, das vorstellende und wahrnehmende Leben, mit dem Nerven­system, dem Gehirn, in unmittelbare Verbindung bringen. Allerdings hat die physische Wissenschaft für diese Nerven-prozesse überhaupt noch keinen Begriff, weil sie sie nicht richtig betrachtet. Davon werde ich in dem Vortrage über die Offenbarungen des Unbewußten demnächst eingehender

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sprechen. Dann tritt aber als zweites Glied des geistig-seelischen Lebens auf das Gefühlsleben. Dieses Gefühls­leben steht nicht in unmittelbarer Beziehung, sondern nur in mittelbarer Beziehung zum Nervensystem. Es steht ebenso in unmittelbarer Beziehung zu dem, was sich im Blute und in der Atmung als Lebensrhythmus auslebt, wie das wahrnehmende und vorstellende Leben zu den Vor­gängen im Nervensystem in unmittelbarer Beziehung steht. Wenn wir in uns die nervösen Prozesse verfolgen, so haben wir das leibliche Gegenbild der Wahrnehmungen und Vorstellungen. Wollen wir ein ebensolches leibliches Gegenbild haben für das Gefühlsleben, so dürfen wir zu­nächst nicht das Nervensystem unmittelbar, sondern müs­sen das rhythmische Leben ins Auge fassen, wie es sich in der Wechselbeziehung von Atmung und Blutzirkulation abspielt. Erst dadurch, daß dieser Atmungs- und Blutzirkulationsrhythmus heranschlägt an das Nervensystem, zum Nervensystem in Beziehung tritt, ist es überhaupt möglich, daß wir unsere Gefühle auch vorstellen. Indem wir unsere Gefühle vorstellen, treten sie allerdings in das Vorstel­lungsleben hinein, dadurch kommt eine unmittelbare Be­ziehung des Gefühlslebens zum Vorstellungsleben zustande. Aber es kommt auch eine unmittelbare Beziehung desjeni­gen, was dem Gefühlsleben im Leibe als Rhythmus zu­grunde liegt, zum Nervensystem zustande.

Ich weiß sehr gut, daß jetzt, wo es ja - und zwar durch­aus zum Heile der Wissenschaft - eine experimentelle Psychologie gibt, diese Beziehung des menschlichen Lebens­rhythmus zum Gefühlsleben schon angedeutet wird. Aber es wird nicht in der richtigen Weise angedeutet, weil nicht jene unmittelbare Beziehung des Gefühlslebens zum Rhyth­mus des Lebens gesucht wird, wie man sonst die unmittel­bare Beziehung des Vorstellungslebens zum Nervensystem

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sucht. Ich weiß auch, wieviel sich einwenden läßt gegen dasjenige, was ich gesagt habe. Ich würde viele Stunden brauchen, um diese Einwände zu entkräften. Sie können alle entkräftet werden. Ich will nur auf eins hinweisen. Es könnte jemand kommen und sagen: Ja, sieh einmal das musikalisch-ästhetische Empfinden, das Leben in der musi­kalischen Kunst, das kommt doch gerade durch das Wahr­nehmen, durch das Vorstellungsleben zustande; das wider­legt also schon das Gesagte. - So könnte man Hunderte und Hunderte von Widerlegungen vorbringen. Diese Dinge sind eben sehr fein, und sie können, wenn man sie grob be­trachtet, wie man es heute vielfach gewohnt ist, natürlich sehr leicht scheinbar widerlegt werden. Der wahre Vorgang beim musikalisch-ästhetischen Empfinden ist, daß das, was sich im Rhythmusleben abspielt, heranschlägt an dasjenige - der Psychologe weiß, wie das geschieht -, was sich im Gehirn abspielt, indem die Töne gehört werden, und daß erst, indem das Rhythmusleben in sich aufnimmt das, was im Ton in den menschlichen Organismus übertritt, erst in­dem der Ton in den Rhythmus des ganzen Leibes sich einlebt, die musikalische Empfindung, das ästhetische Genießen auf musikalischem Gebiete erzeugt wird.

Ein Drittes - wie gesagt, ich kann diese Dinge nur kurz illustrieren - ist das Leben in Willensimpulsen, die sich in Handlungen realisieren. Gerade so, wie unmittelbar das Vorstellungsleben mit dem Nervenleben, das Gefühls­leben mit dem Atmungs- und Blutrhythmus zusammen­hängt, so hängt das Willensleben, und zwar das gesamte Willensleben, tatsächlich zusammen mit dem Stoffwechsel­leben des menschlichen Organismus, so sonderbar das aus­sieht. Jedem Willensvorgang liegt ein Stoffwechselvorgang zugrunde. Die Dinge geraten nur dadurch in Konfusion, daß im Menschen in einer gewissen Beziehung alles ineinanderspielt,

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daß zum Beispiel in das Vorstellungsleben der Wille hineinspielt, und dadurch der Stoffwechsel in das Nervenleben. Aber man darf nicht dasjenige, was sich da als Stoffwechsel abspielt, auf das Vorstellungsleben be­ziehen, dem liegen ganz andere Nervenvorgänge zugrunde, sondern man muß das, was sich als Stoffwechsel abspielt, immer auf das Willensleben beziehen.

So hat man das ganze Geistig-Seelische, das Denken, Fühlen und Wollen, in Beziehung gebracht zu den dreierlei Lebensvorgängen im menschlichen Organismus. Denn wenn man eingeht auf den menschlichen Organismus, so erschöpft sich sein gesamtes Leben in Nervenvorgängen, Rhythmus-vorgängen und Stoffwechselvorgängen. Das ganze Leib­liche des Menschen steht mit dem ganzen Geistig-Seelischen in unmittelbarem Zusammenhang. Diesen Zusammenhang kann man erhärten durch Tausende von Tatsachen, die naturwissenschaftlich heute schon erkannt sind, die nur nicht in der richtigen Weise als Fragen aufgeworfen werden und daher nicht so genommen werden, daß man von ihnen den Weg findet zum geistigen Anschauen, das erst Ordnung hineinbringen kann in die naturwissenschaftlichen Rätsel. So kann man heute die Entdeckung machen: Man braucht nur ein physiologisches Buch in die Hand zu nehmen, das auf der Höhe steht, man braucht sich nur mit dem bekannt zu machen, was wirklich entdeckt ist auf naturforscheri­schem Gebiete, braucht nur abzusehen von den Vorurteilen, die theoretisch hineingetragen werden, braucht es nur rich­tig zu durchschauen und richtig zu fragen, so liefert das, was heute schon naturwissenschaftlich vorliegt, in einem ungeheuer vollkommenen Grade überall die Bestätigung desjenigen, was Geisteswissenschaft zu sagen hat. Aber die Naturforschung kommt nicht darauf, wirklich ihre Metho­den umfassend anzuwenden. Sie spezialisiert sich. Dadurch

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kommt es, daß man dasjenige, was man richtig auf einem Gebiete anwendet, nicht auf das andere Gebiet überträgt. Wird es zum Beispiel der Wissenschaft einfallen, die Stellung der Magnetnadel von Norden nach Süden physikalisch so aufzufassen, daß nur in der Magnetnadel selbst die richtung-gebenden Kräfte wirken? Die Wissenschaft sagt vielmehr mit Recht: Die Erde selbst ist ein großer Magnet, der ma­gnetische Nordpol der Erde zieht das eine Ende der Magnet-nadel an, der magnetische Südpol das andere Ende. Kurz, man stellt die Magnetnadel mit ihrer Richtungskraft in den ganzen Kosmos hinein. Denken Sie einmal, wenn man das übertragen würde auf die organische Wissenschaft! In der organischen Wissenschaft geht man so vor, wie jemand, der die Richtungskräfte der Magnetnadel nur in der Magnetnadel suchen würde. Da treibt man Embryologie und sucht, wie das Ei des Huhnes sich entwickelt, sucht seinen Ur­sprung bloß im Huhn, oder höchstens bei den Vorfahren in der Vererbungslinie. Würde man die physikalische Me­thode auf die Embryologie übertragen, so würde man ohne weiteres im ganzen Kosmos die gestaltenden Kräfte für die Eibildung, für die Keimesbildung sehen. Darauf muß Geisteswissenschaft hinweisen. Sie wird immer mehr zei­gen, daß, was an naturwissenschaftlichen Tatsachen heute schon vorliegt, in hohem Grade das bestätigt, was Geistes­wissenschaft zu sagen hat. Wie kann man, wie zum Beispiel Loeb, die Hydroidensubstanz zerschneiden, sehen, wie sich da auf der einen Seite Kopf und Fühler bilden, auf der anderen Seite Füße, die Geschichte umkehren, und zwischen den Füßen wiederum einen Kopf sich bilden sehen, und doch ganz davon absehen, daß da ein ähnliches inneres Verhältnis der Bildekräfte zum Kosmos besteht, wie bei der Magnetnadel zum Erdmagnetismus? Und wie kann man dann übersehen, welche wunderbare Bestätigung das

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auf äußerem Gebiete für die Tatsache ist, die nun rein gei­stig auf geistesforscherischem Gebiete gefunden wird, daß das, was im Menschen auf übersinnliche Weise als Bildekräfteleib lebt, in einer ähnlichen Weise dem ganzen Kos­mos eingegliedert ist, daß dadurch kosmische Kräfte hineingeführt werden in die menschliche Natur, so daß der Mensch in der Tat, während er in seinem gewöhnlichen Be­wußtsein auf der Erde lebt, dadurch, daß ihm das Über­sinnliche eingegliedert ist, zugleich in dem unvergänglichen, dem ewigen Kosmos lebt. Doch davon soll in den näch­sten Vorträgen die Rede sein, in denen ich mehr über die eigentliche, ewige Natur des Menschen und über das Schick­sal der Seele nach dem Tode sprechen werde.

Heute war es meine Aufgabe, zu zeigen, wie Geistes­wissenschaft, indem sie zum Geist hinführt, auch zum We­sen der Natur hinführt, wie sie die Rätsel der Natur in Wirklichkeit zu erfassen, zu ergründen vermag. Da kommt man denn dazu, nicht mehr zurückzublicken auf einen Kant-Laplaceschen Urnebel, sondern durch wirkliche innere geistige Erkenntnis sich zu sagen: Du kennst jetzt das, was mit dem ganzen Kosmos im Menschen zusammenhängt, was die höhere Wesenheit in seinem rein äußerlichen natür­lichen Dasein ist, was übersinnlich zugrunde liegt dem, was sinnlich in seinem Leib zum Ausdruck kommt. Du mußt nun diesen Leib zurückverfolgen, wie er in Urzeiten auf der Stufe gestanden hat, auf der heute das Geistig-Seelische steht, um dann zu anderen Entwickelungsstufen vorzu­schreiten. Auch dies kann ich nur andeuten. Aber es ist ja aus dem ganzen Sinn des heute Auseinandergesetzten klar:

Man kommt dazu, nicht in dem unlebendigen Kant-Laplaceschen Weltnebel den Anfangszustand der Erde zu denken, sondern in einem Geistig-Seelischen, so daß man in der Erde den Übergang sieht vom Geistigen zum Materiellen,

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wie auch im einzelnen Menschen, indem er aus der geistigen Welt heruntersteigt, um sich hier durch die Ver­bindung mit Materiellem zu verleiblichen. So kommt man nicht zum leblosen Kant-Laplaceschen Urnebel, sondern zu dem, was geistig-seelisch im Anfang des Erdendaseins steht, zum geistig-seelischen Ursprung und zum geistig-seelischen Endzustande des Erdendaseins. Man verbindet sich da in Wirklichkeit, nicht bloß durch Hypothesen, mit dem äußeren Dasein. So lernt man Gedanken nur so zu fassen, wie sie wirklichkeitsgemäß sind.

Ich möchte hier hinweisen auf eine sehr interessante Vorlesung, die Professor Dewar im Anfang dieses Jahr­hunderts gehalten hat. Er geht in seinen Ausführungen ganz wissenschaftlich vor, es ist logisch nicht das Geringste da­gegen einzuwenden. Er rechnet aus, wie nach Jahrmillionen der Zustand der Erde sein wird, und rechnet ganz richtig wissenschaftlich wie folgt: Da muß mindestens eine Tempe­ratur von minus 200 Grad Celsius sein; bei diesem Kälte­grad müssen aber ganz andere Verhältnisse vorliegen. Was die Erde als Luftkreislauf umgibt, wird dann zu Wasser verflüssigt sein, wird ein Meer bilden. Die jetzigen leich­teren Gase werden dann einen Luftkreislauf bilden, ge­wisse Substanzen - es ist, wie gesagt, ganz richtig natur-wissenschaftlich kombiniert - werden, während sie heute flüssig sind, dann fest sein. Zum Beispiel die Milch, die heute flüssig ist, wird bei minus 200 Grad fest sein. Aber nicht nur fest, sondern, wenn sie eine Zeitlang dem Licht ausgesetzt ist, so wird sie selbst leuchtend sein. Man wird daher - der Professor schildert sehr anschaulich - mit die­sem Milcheiweiß nur die Wände zu bestreichen brauchen, dann wird man bei diesem Milchlichte Zeitungen lesen können! Er beschreibt weiter sehr anschaulich, wie man dann nicht mehr - was heute schon zur Misere geworden

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ist - wird photographieren können, weil bei dieser Tem­peratur die chemischen Kräfte der Lichtstrahlen verloren gegangen sein werden. Kurz, man könnte das Bild ganz nach wissenschaftlichen Methoden recht gut weiterführen. Derjenige, der durch die geistige Forschung gelernt hat, wirklichkeitsgemäß zu denken, der steht der Wirklichkeit so nahe, daß er weiß, wo er mit seinem Denken aufzuhören hat. Ein solches Forschen - so paradox das klingt, was ich jetzt sage, es ist dem Geistesforscher durchaus eine Selbst­verständlichkeit - ist gerade so, wie wenn sie irgendein Organ des Menschen nehmen, zum Beispiel das Herz: Sie beobachten seine Veränderungen durch sechs bis sieben Jahre und kombinieren dann ganz wissenschaftlich, wie sich das Herz weiterverändern muß, rechnen aus, wie es sich nach dreihundert Jahren verändert hat. Da haben Sie dieselbe Methode, die da von Professor Dewar angewendet wird! Indem er die langsamen Veränderungen unserer Erde während einer übersehbaren Zeit ausdehnt auf Jahrmillio­nen, kommt er zum Endzustande der Erde, wie man zu einem Zustande des Menschen nach dreihundert Jahren kommen würde, wenn man der Berechnung die Verände­rung eines Organs oder des Gesamtorganismus während einiger Jahre zugrunde legt, ohne dabei zu berücksichtigen, daß der Mensch dann natürlich als physisches Wesen schon längst tot ist. So wird auch die Erde nicht mehr bestehen in der Zeit, für die Professor Dewar diesen schönen Zu­stand ausgerechnet hat, für den man ja, äußerlich betrach­tet, fragen möchte, wer denn noch bei minus 200 Grad Celsius Zeitungen lesen wird, bei diesen mit Milcheiweiß angestrichenen luminiszierenden Wänden, welche Kühe dann die flüssige Milch geben werden und so weiter! Schon eine ganz äußerliche Betrachtung könnte einem zeigen, wenn man sein Denken mit der Wirklichkeit verbunden

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hat, daß, sobald man aufhört, mit denjenigen Gedanken zu denken, die die physische Wirklichkeit hergibt, man ins Geistige übergehen muß. Aber nach derselben Methode ist die Kant-Laplacesche Theorie erdacht, gerade so, wie wenn Sie davon ausgehen, wie das menschliche Herz sich in einer bestimmten übersehbaren Epoche geändert hat, und dann ausrechnen, wie das Herz nach dreihundert Jahren sein wird. Das Denken, das sich mit Wirklichkeit gesättigt hat, indem es den Geist aufgenommen hat, das läßt einen nicht die Begriffe bis zu dieser Leere ausbilden, welche dann un­möglich macht, daß es nun noch eine vollständig vorurteils­lose Betrachtung einer geistigen Welt geben kann.

So kommt es denn, daß Geisteswissenschaft wirklich den Boden liefern wird, auf dem eine wirklichkeitsgemäße Be­trachtungsweise auftaucht, die auch wirklich einem gesun­den menschlichen Denken entgegenkommen wird. Es ist doch bemerkenswert - und dafür will ich ein Beispiel an­führen, das ich hier schon bei früheren Vorträgen angeführt habe, das vor die Seele zu führen aber immer wieder inter­essant ist -, wie ein gesundes Denken beschaffen ist, das zwar nicht auf geistesforscherischem Boden steht, das aber der Wirklichkeit in gesunder Weise gegenübersteht, und wie das sich zu solchem Denken verhält, das ganz richtig wissen­schaftlich ist, das aber nicht bemerkt, daß diese Wissen­schaftlichkeit an einem bestimmten Punkte aufhört, in der Wirklichkeit zu stehen. Wie auf ein solches wissenschaft­liches Denken ein gesundes Empfinden nicht eingehen kann, dafür möchte ich hinweisen auf Ausführungen, die Herman Grimm in seinem schönen Goethe-Buch, in dem so viel Geistvolles steht, über die Kant-Laplacesche Theorie ge­macht hat, über den Urnebel, aus dem sich alles gebildet haben soll, und das Verhältnis dieser Urnebel-Theorie zu Goethes gesunder Anschauung. Er sagt hierüber:

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«Längst hatte in seinen (Goethes) Jugendzeiten schon die große Laplace-Kantsche Phantasie von der Entstehung und dem einstigen Untergang der Erdkugel Platz gegriffen. Aus dem in sich rotierenden Weltnebel - die Kinder bringen es bereits aus der Schule mit - formt sich der zentrale Gas-tropfen, aus dem hernach die Erde wird, und macht als erstarrende Kugel in unfaßbaren Zeiträumen alle Phasen, die Episode der Bewohnung durch das Menschengeschlecht mit einbegriffen, durch, um endlich als ausgebrannte Schlacke in die Sonne zurückzustürzen: ein langer, aber dem heutigen Publikum völlig begreiflicher Prozeß, für dessen Zustandekommen es nun weiter keines äußeren Eingreifens bedürfe, als die Bemühung irgendeiner außen­stehenden Kraft, die Sonne in gleicher Heiztemperatur zu erhalten. - Es kann keine fruchtlosere Perspektive für die Zukunft gedacht werden als die, welche uns in dieser Er­wartung als wissenschaftlich notwendig heute aufgedrängt werden soll. Ein Aasknochen, um den ein hungriger Hund einen Umweg machte, wäre ein erfrischendes, appetitliches Stück im Vergleich zu diesem letzten Schöpfungsexkrement, als welches unsere Erde schließlich der Sonne wieder an­heimfiele, und es ist die Wißbegier, mit der unsere Gene­ration dergleichen aufnimmt und zu glauben vermeint, ein Zeichen krankhafter Phantasie, die als ein historisches Zeit-phänomen zu erklären die Gelehrten zukünftiger Epochen einmal viel Scharfsinn aufwenden werden.»

Wenn heute uns jemand so etwas sagt, so ist es selbstver­ständlich, wenn es ein gewöhnlicher Mensch ist, ein Dumm­kopf, wenn es ein Herman Grimm ist, ein geistreicher Mensch, der aber gerade durch seine Phantasie irregeführt worden sei und wegen seines phantasievollen Idealismus eben nicht eindringen konnte in die strenge, exakte Me­thode der Naturwissenschaft. Nun ja! Aber schließlich

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braucht doch derjenige, der ganz richtige naturwissenschaft­liche Methoden anwendet, zu dieser Methode noch die Möglichkeit, zu erkennen, wo er mit seinem Denken, das aus den rein physischen Vorgängen geschöpft ist, aus der Wirklichkeit heraustritt, und wo er, um noch in der Wirklichkeit zu bleiben, in den Geist eintreten muß. Dann überzeugt er sich, daß die größten Rätsel der Natur: Anfang und Endzustand des Erdendaseins, zum Geistigen hinfüh­ren, daß man nicht in dem Kant-Laplaceschen Urnebel, nicht in dem Dewarschen Erstarrungszustand, sondern in dem geistig-seelischen Erdursprung und Erdenziele die bei­den polarischen Enden der Erdenentwiekelung zu sehen hat. Darinnen aber sieht man zu gleicher Zeit diejenige gei­stig-seelisch-leibliche Erdenumgebung, die entspricht dem geistig-seelisch-leiblichen Leben des Menschen selber.

Vorsichtige, ernste Naturforscher fühlen schon das, was Geisteswissenschaft will. Allein es ist heute noch wenig Neigung da, die Dinge wirklich ernst und durchgreifend anzufassen. Zu Darwins hundertstem Geburtstag schrieb unter anderem ein bedeutender Naturforscher der Gegen­wart, Julius Wiesner, über die Licht- und Schattenseiten der Darwinschen Theorien - und damit hängt ja so viel zusammen, was heute die Welt in bezug auf die Rätsel der Natur beschäftigt. Unter anderem findet sich darin auch eine Stelle mit Bezug auf die Verirrungen und die Schat­tenseiten der Darwinschen Theorie, die so viel materia­listische Meinungsnuancen in den Weltanschauungsfragen hervorgerufen hat. Wiesner sagt da ungefähr folgendes:

Der wahre Naturforscher ist sich der Grenzen seiner naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise wohl bewußt und weiß, daß Naturwissenschaft zwar die Bausteine liefern kann zu einer Weltanschauung, niemals aber mehr liefern kann als die Bausteine. Das Bild ist ungefähr zutreffend,

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weil man es, wie wenige Bilder, noch weiter ausführen kann. Die Naturforschung liefert wirklich nur Bausteine. Nimmt man Bausteine, so kann man mit dem, was sie sel­ber sind, kein Haus aufführen. Man muß die Gesetze zum Hausbau von außen her nehmen, von dem Verhältnis der Schwere, von dem Verhältnis des Druckes, von all dem, was nicht in den Steinen liegt, die Steine müssen sich an­deren Gesetzen fügen. Allerdings wird man dann finden, daß, indem man das Haus aufgeführt hat nach Gesetzen, die nicht in den Steinen selber liegen, man in den Druck- und Schwereverhältnissen, den Harmonieverhältnissen und so weiter des Hauses etwas zum Ausdruck gebracht hat, was einen wieder zurückführen kann zu ähnlichen Ver­hältnissen in der Natur selbst, aus der die Bausteine herausgebrochen sind. Aber zu dem Haus kann man nur kom­men, wenn man die Steine anderen Gesetzen unterwirft, als in ihnen selbst liegen. Wiesner hat ganz recht, die Natur­forschung kann Bausteine liefern, aber sie müssen anderen Gesetzen unterworfen werden, als sie gefunden werden können in der Sphäre des Naturdaseins selbst. Woher wer­den die Gesetze gefunden, mit denen Geisteswissenschaft baut, indem sie die naturwissenschaftlichen Ergebnisse als Bausteine verwendet bei der Erforschung des geistigen Le­bens? Gerade so, wie der Baukünstler, nachdem er nach ganz anderen Gesetzen, als sie in den Bausteinen gegeben sind, den Plan des Hauses und das Haus selber ausgeführt hat, genau so führt der Geisteswissenschaftler mit dem, was sich auf das Geistige in der Natur bezieht, das Welt­anschauungsgebäude für die Naturwissenschaft selber auf nach den Gesetzen, die er im Geiste selbst beobachtet hat. So, wie man in dem Gefüge des Hauses etwas finden kann, was zurückführt zum Naturgefüge, aus dem die Steine her-ausgebrochen sind, so werden wir allerdings auch von der

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Geisteswissenschaft wieder zurückgeführt zu der Natur. Geisteswissenschaft kann das Naturleben wiederum er­hellen, aber Geisteswissenschaft darf nicht glauben, und Naturwissenschaft darf es auch nicht glauben, wenn sie sich selbst versteht, daß mit den Bausteinen und ihren Gesetzen selbst, mit den unmittelbaren naturwissenschaftlichen Er­gebnissen, ein Weltanschauungsgebäude auch für die Natur­wissenschaft aufgeführt werden kann.

Die heutigen Betrachtungen dürften es rechtfertigen, daß ich sie zum Schlusse zusammenfasse in dem kurzen Aus­spruche: Es zeigt sich gerade, wenn man eingeht auf eine richtige Beobachtung und Betrachtung der Rätsel der Na­tur, daß die Naturwissenschaft selbst zum Geiste hinführt, und daß in der Betrachtung des Geistes auch die Elemente gegeben werden, um die Rätsel der Natur selber zu lösen. So kann man, wie einen Merkspruch für ein Weltanschau­ungsstreben auch auf naturwissenschaftlichem Gebiete und für die Rätsel der Natur, den finden:

Nicht die Natur selbst kann über sich selbst aufklären, sondern allein das Licht, das in der geistigen Welt gewon­nen wird, kann auch die Vorgänge und die Wesenhaftig­keiten der Natur durchleuchten. Will man die Natur er­kennen, so muß man den Weg durch den Geist nehmen. Der Geist ist das Licht, das eine eigene Wesenheit beleuch­tet und von sich aus auch die Rätsel der Natur beleuchten kann.

DAS GESCHICHTLICHE LEBEN DER MENSCHHEIT UND SEINE RÄTSEL IM LICHTE DER GEISTESFORSCHUNG Berlin, 14. März 1918

#G067-1962-SE177 Das Ewige in der Menschenseele Unsterblichkeit und Freiheit

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DAS GESCHICHTLICHE LEBEN DER

MENSCHHEIT UND SEINE RÄTSEL IM LICHTE

DER GEISTESFORSCHUNG

Berlin, 14. März 1918

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In der gegenwärtigen Zeit, wo so viele Seelen das nur zu begreifliche Bedürfnis haben, sich gegenüber den großen, welterschütternden Ereignissen nach irgendeiner Richtung hin zu orientieren, sich Aufklärung zu verschaffen über die Bedeutung der einen oder anderen Tatsache, da hört man oft, die Geschichte «lehre» dies oder jenes. Man meint, über irgendeine Tatsache der Gegenwart könne man ur­teilen aus dem heraus, was man über eine ähnliche Tatsache aus der Geschichte, so wie man Geschichte eben kennt, hat erfahren können. Nun, wenn man sich ein wenig fragt, welche Möglichkeiten sich den Menschen geboten haben, um aus den Erfahrungen der Geschichte dies oder jenes inner­halb der Weltlage oder auch des näherliegenden Lebens zu beurteilen, dann kommt man allerdings zu einem etwas zweifelhaften Urteil über das, was, wie man sagen könnte, die Geschichte «lehrt».

Ich möchte beispielsweise nur auf zwei Dinge hindeuten, doch könnte das ins Hundertfache vermehrt werden. Ich möchte darauf hinweisen, daß es zu Beginn dieser für das Geschick der Menschheit so eingreifenden Weltkatastrophe eine ganze Anzahl von Menschen gab, wahrhaft urteils­fähige Menschen, die sich ein Urteil aus der Geschichte glaubten angeeignet zu haben, und die der Meinung waren, diese kritischen Ereignisse könnten vier, im äußersten Falle

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sechs Monate dauern. Man hielt ein solches Urteil für ein aus der geschichtlichen Betrachtung, namentlich der ge­schichtlichen Verhältnisse der Menschheit voll berechtigtes. Und man kann auch nicht einmal sagen, daß diejenigen, die solch ein Urteil abgegeben haben, nicht alle logischen Vorsichtsmaßnahmen angewendet hätten, um aus einer ge­wissen Erkenntnis heraus - was man so Erkenntnis nennt -, ein solches Urteil abzugeben. Nun, die Tatsachen selbst haben solche Menschen recht gründlich das Gegenteil ge­lehrt von dem, was sie geglaubt haben. Gerade an einem solchen Falle sieht man auch, wie eng dasjenige, was die Geschichte lehren soll, zusammenhängt mit der Beurteilung der sozialen oder sonstigen Weltverhältnisse, so daß man aus einer Betrachtung über das geschichtliche Leben der Menschheit erwarten kann, daß auch einiges Licht fällt auf das Beurteilungsvermögen, das man aufbringen kann für das soziale und wirtschaftliche Zusammenleben der Men­schen.

Aber man kann ein, ich möchte sagen, noch leuchten­deres Beispiel anführen für die eingeschränkte Gültigkeit des Satzes, die Geschichte «lehre» dies oder jenes. Eine Per­sönlichkeit, über deren Genialität gewiß kein Zweifel sein kann, trat vor mehr als hundert Jahren das Lehramt als Professor der Geschichte an einer deutschen Hochschule an. Wahrhaftig aus einer genialen Auffassung desjenigen her­aus, was Geschichte gibt, und was sich aus ihr anwenden läßt auf das menschliche Leben, sprach dazumal diese Per­sönlichkeit Worte aus, die etwa so klangen: Die einzelnen Nationen Europas sind im Verlaufe des menschlichen Fort­schritts, wie die Geschichte lehre, eine große Familie ge-worden, deren einzelne Glieder sich zwar noch befehden, nimmermehr aber zerfleischen können. - Wahrhaftig keine unbedeutende Persönlichkeit glaubte, ein solches Urteil

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fällen zu können aus ihrer Einsicht in den Gang der Ge­schichte heraus beim Antritt einer geschichtlichen Profes­sur. Diese Persönlichkeit war Friedrich Schiller, und diese Worte sprach er beim Antritt seiner Jenenser Professur. Er sprach sie am Vorabend der Französischen Revolution, die so viel beigetragen hat zu dem, was man nennen kann die Zerfleischung der europäischen Völker, und wenn er erst schauen könnte dasjenige, was in unserer Gegenwart ge­schieht, so würde er wohl darauf kommen, wie wenig es möglich ist, sich an den Satz zu halten, die Geschichte «lehre» für die Erfassung des Lebens dies oder jenes. Mir scheint, aus solchen Tatsachen heraus müsse Goethe die Empfindung gekommen sein, die er in einem wunderbaren Satze ausgesprochen hat. Der Satz lautet: «Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt.» Es scheint, als ob dieser Ausspruch von Goethe getan worden sei, um gerade abzuweisen die anderen Früchte der sogenannten geschichtlichen Erkenntnis, und nur dasjenige anzuerkennen, was als Enthusiasmus, also als eine gewisse positive Gemütsstimmung, aus den Doku­menten der Geschichte hervorgehen kann.

Wir wollen heute sehen, was die in diesem Vortrags-zyklus vertretene Geisteswissenschaft für eine Stellung ein­zunehmen hat gegenüber den zwei Meinungen: Die Ge­schichte könne die große Lehrmeisterin für die Erfassung des Lebens sein, und der anderen: Das Beste, was man von der Geschichte haben könne, ist der Enthusiasmus, den sie erregt. Nun wird es gerade bei der Betrachtung des ge­schichtlichen Lebens der Menschheit und der Folgerungen, die aus dieser Betrachtung gezogen werden können, für die Beurteilung des sozialen Lebens nicht uninteressant sein, sich einleitungsweise einmal anzusehen, zu welcher Anschauung man in der Gegenwart außerhalb der Geisteswissenschaft

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über das geschichtliche Werden gekommen ist. Denn das geschichtliche Leben der Menschheit hängt ja eng zusammen mit dem, was als der Strom der Menschheits-entwickelung durch jede einzelne menschliche Seele geht, weil jeder Mensch eingesponnen ist in das geschichtliche Werden. Und wahrhaftig, gerade in der Gegenwart ist es bedeutungsvoll, auf dieses Urteil der Zeitgenossen hinzu-schauen, aus dem Grunde, weil die urteilsfähigen Ge­schichtsbetrachter gerade in der Gegenwart meinen, daß auch das Urteil darüber, wie man das geschichtliche Leben betrachten, wie man Geschichtswissenschaft begründen soll, in einer Krisis steht. Ich möchte nicht in Abstraktionen herumreden, sondern meine Betrachtungen an Wirklich­keiten knüpfen. Da muß man sich an Beispiele halten, die natürlich einzelne Beispiele aus so vielen Fällen sein mussen.

Ich möchte mich halten zum Beispiel an das Urteil über Geschichtswissenschaft, wie sie in der Gegenwart neu be­gründet werden soll, welches der ja berühmte Leipziger Professor Karl Lamprecht gefällt hat. Man kann das, was man empfinden kann aus der großen, monumentalen deut­schen Geschichte von Lamprecht, in einer bequemen Weise zusammengefaßt finden in seinen Vorträgen über «Mo­derne Geschichtswissenschaft», die Lamprecht zum Teil in St. Louis, zum Teil in New York auf Einladung der Co­lumbia-Universität gehalten hat. Da versucht er zusam­menzufassen, was sich ihm ergeben hat über die Art, wie Geschichte gelehrt werden soll aus den Anforderungen der Gegenwart heraus. Man hat es noch bequemer, sich eine Vorstellung von dem zu machen, was dieser berühmte Hi­storiker eigentlich sagen wollte, dadurch, daß er einen Abschnitt aus dem geschichtlichen Werden der Menschheit in kompendiöser Form außerordentlich übersichtlich behandelt

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hat in dem zweiten dieser Vorträge über «Mo­derne Geschichtswissenschaft». Lamprecht hat dazumal den Amerikanern kurz erzählt den ganzen Werdegang der deutschen Entwickelung von den ersten christlichen Jahr­hunderten an bis in die Gegenwart herein, erzählt in der Art, von der er gemeint hat, so müsse Geschichtswissenschaft nach den Anforderungen der Gegenwart werden. Nun kann man solche Dinge eigentlich nur erschöpfend beurtei­len, wenn man sie irgendwie vergleichen kann. Da bietet sich gerade zu diesen Vorträgen des Professors Lamprecht über den Entwickelungsgang des deutschen Lebens eine Parallele, die besteht in einem Vortrag, den - selbstver­ständlich auch für Amerikaner - Woodrow Wilson über die Entwickelung des nordamerikanischen Lebens gehalten hat, so daß man zwei seelisch und räumlich weit vonein­ander abstehende Geister miteinander vergleichen kann, wie sie den Blick des Geschichtsforschers richten auf das­jenige, was die Geschichte ihres eigenen Volkes ist.

Verzeihen Sie, wenn ich - wahrhaftig nicht aus Höflich­keit, sondern aus stilistischen Gründen - die Betrachtungen von Woodrow Wilson vorangehen lasse. Mir wird niemand irgendwie eine Überschätzung Wilsons zuschreiben, der mich etwas genauer kennt. Ich darf auch darauf hinweisen, daß ich mein Urteil über Wilson bereits gefällt habe in einem Vortragszyklus, den ich längere Zeit vor diesem Kriege in Helsingfors gehalten habe, aber allerdings zu einer Zeit, als die Welt bereits die Ehre hatte, Wilson als Präsidenten der nordamerikanischen Staaten zu besitzen. Damals führte ich bereits aus, wie sehr bedauerlich es sei, daß an einer so wichtigen Stelle, an einer Stelle, von der so viel abbängt für das neuere Leben der Menschheit, eine Persönlichkeit gerade in diesem Zeitpunkt sitzt, welche in ihrem Urteil so furchtbar eingeschränkt ist. Denn obwohl

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dazumal noch, auch unter uns, wegen des Erscheinens der Bücher Wilsons «Die Neue Freiheit» und «Nur Literatur» zahlreiche enthusiastische Verehrer sich fanden - wofür finden sich heute nicht enthusiastische Verehrer! -, konnte man nachweisen, daß das eigene, selbständige, aus der Per­sdnlichkeit Wilsons fließende Urteil innerlich aufs engste beschränkt ist. Ohne jeden Einfluß irgendeiner politischen Stellungnahme, ohne jeden Einfluß desjenigen, was sich aus den welthistorischen Ereignissen heute ergibt, muß ich festhalten, was ich vor dem Kriege über die dazumal noch so verkannte, auch in Mitteleuropa so verkannte, das heißt überschätzte Persönlichkeit ausgesprochen habe. Ich muß das vorausschicken, damit man die Objektivität desjenigen nicht anzweifelt, was ich noch über Wilson, den Geschichts­betrachter, sagen will.

Es ist sehr merkwürdig, wenn man ins Auge faßt, gerade vergleichend mit dem, was Lamprecht über die Geschichte Mitteleuropas sagt, wie Wilson die Geschichte seines Volkes betrachtet. Man findet, daß er den prägnantesten Punkt, man möchte sagen durch eine gewisse instinktive Witterung, herausfindet, um die Frage zu beantworten: Wann sind wir eigentlich Amerikaner geworden, und wie sind wir Amerikaner geworden? Wie ist das geschichtlich zugegan­gen? Da unterscheidet er, man kann nicht sagen fein, aber außerordentlich treffend zwischen all denjenigen, die ein­mal Führer in der Union waren, die er aber als «noch nicht Amerikaner», sondern als «Neu-Engländer» ansieht, die ihrer ganzen Gesinnung, ihrer Seelenstimmung nach «Neu-Engländer» sind, und den späteren «echten Amerikanern». Und da unterscheidet er ganz genau eine Vorgeschichte der Union und läßt die Union in ihrem geschichtlichen Werden dann beginnen, als die östliche Bevölkerung sich immer mehr und mehr nach dem Westen Amerikas hinzieht, als

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die auf einem engen Raum im Osten zusammengedrängte Bevölkerung sich auf die westliche Seite Amerikas ausbrei­tet, als die Menschen, die es unternahmen, sich nach dem Westen auszubreiten, jene Gesinnung entwickeln, die er die Gesinnung der Grenzmänner nennt. Und nun zeigt er, wie die Geschichte Amerikas äußerlich und seelisch eigent­lich darin besteht, daß der Osten sich nach dem Westen ausbreitet, und er zeigt merkwürdig einleuchtend, wie die Regelung der Landfrage, der Landverteilung, die Regelung der Tariffrage, sogar die Regelung der Sklavenfrage, die er nicht irgendwelchen Humanitätsprinzipien zuschreibt, sondern den Notwendigkeiten, die sich aus der Besiedlung und der Eroberung des Westens durch den Osten ergaben, wie alle diese Fragen sich hineinstellen in dasjenige, was die Entwickelung des modernen Amerika fordert. Nun könnte man sehr viel über den kurzen Vortrag, den da Wilson gehalten hat, ausführen, allein das Wesentliche be­steht ja darin, daß er so recht zeigt, wie aus einer äußeren Situation heraus das geschichtliche Werden eine Summe von Menschen ergriffen hat, und dasjenige, was mit diesen Menschen vorgeht, im Grunde genommen begriffen werden kann, wenn man hindeutet auf das, was die Menschen unter dem Einfluß der geschilderten Verhältnisse unter­nehmen mußten. Mancherlei ist interessant, wenn man gerade diese Betrachtungen Wilsons verfolgt, und dasjenige, was Wilson sonst als geschichtlicher Betrachter geleistet hat. Gerade um über mancherlei Gedanken zu bekommen, die mit dem Thema des heutigen Vortrages zusammenhängen, ist ein Vergleich desjenigen, was Wilson über die verschie­densten geschichtlichen Gegenstände sagt, mit dem, was die Europäer sagen, sehr nützlich. Ich muß sagen, daß es mich an den verschiedensten Stellen der Ausführungen Wilsons außerordentlich frappiert hat, wenn ich sah, daß eine merkwürdige

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Übereinstimmung - mir schon aus dem Grunde merkwürdig, weil ich lieber gewollt hätte, es wäre nicht so - in dem Satzinhalt, in dem Gedankeninhalt desjenigen vorliegt, was Wilson über die verschiedensten Gegenstände ausführt, und desjenigen, was zum Beispiel der hier schon öfter erwähnte geistvolle, eindringliche deutsche kunst-geschichtliche Betrachter Herman Grimm über mancherlei aus dem geschichtlichen Verlauf der Menschheit gesagt hat.

Wenn man Herman Grimm für so geistvoll hält, wie ich ihn halte, und Wilson für so gescheit hält, wie ich ihn halten muß, dann kann es einem schon unsympathisch sein, wenn man manchmal diesen Wilson liest und sich sagt: Sonder­bar, da steht ein Satz, der könnte auch bei Grimm stehen! Und dennoch, trotzdem dieses so ist, trotzdem ich dieses er­probt habe an Urteilen, die Wilson und Grimm über die­selben Persönlichkeiten, über Macaulay, Gibbon und andere fällten, trotz der oftmals annähernd wörtlichen Überein­stimmung, ohne daß sie irgendwelchen Bezug zueinander hätten, zeigt es sich doch, daß in Wirklichkeit die Geistes­stimmung dieser beiden Persönlichkeiten grundverschieden ist. Gerade bei einer solchen Gelegenheit kann es sich einem zeigen, wie dem äußeren Inhalte nach zwei Menschen das­selbe sagen können, und doch aus ganz anderen Seelen­untergründen heraus. In diesem Falle interessiert es ganz besonders, weil die Färbung, die das Urteil in dem einen und dem anderen Falle erhält, zusammenhängt mit den Wurzeln der einen oder der andern Persönlichkeit in dem einen und dem andern Volkstum. Gerade indem man solche Ahnlichkeiten bemerkt, macht man nachher die Entdeckung:

Trotzdem ist das eine amerikanisch und das andere deutsch. Es kann einem schon äußerlich auffallen, was da für ein

Unterschied vorliegt. Es gibt einen Band der Grimmschen Aufsätze aus der letzten Zeit seines Lebens, denen das Bild

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Grimms vorgedruckt ist, wie das ja heute so vielfach ge­schieht. Ebenso ist der deutschen Ausgabe der Vorträge Wilsons «Nur Literatur» auch das Bild von Wilson vor-gedruckt. Man kann da also auch noch die Bilder ver­gleichen. Schon das ergibt für den, der so etwas zu beurtei­len versteht, etwas ganz Merkwürdiges. Sieht man sich, nachdem man sich versenkt hat in das, was Grimm sagt, insbesondere was er als Geschichtsbetrachter sagt, das Bild Grimms an: Aus jedem Zug des Gesichts, das einem da ent­gegenleuchtet, spricht sich einem aus: Innig verbunden ist jeder Satz und jede Satzwendung mit allem, was dieser Mann seiner Seele entrungen hat. Dann sieht man sich, nachdem man auch zuerst aufgenommen hat, was im Buche steht, das Bildnis von Wilson an: Es kommt einem so vor, als ob die Persönlichkeit gar nicht dabei gewesen sein könnte bei dem, was da im Buche geurteilt worden ist; eine gewisse Fremdheit mutet einen an. Wenn man das sieht, dämmert ein Rätsel auf über die Art und Weise, wie in diesem Falle zwei Menschen Geschichte betrachten, und man kann sich die Frage vorlegen, wie ist es mit dieser Ahn­lichkeit, wie ist es mit dieser auch wiederum stark empfun­denen Grundverschiedenheit bestellt? Da zeigt sich dann etwas sehr Merkwürdiges. Gerade dasjenige, was Wilson über das Amerikanertum sagt, leuchtet unmittelbar ein, so daß man weiß, das trifft den Entwickelungsgang der Ge­schichte des Amerikanertums, wie er ihn darstellen will. Aber man kommt allmählich darauf - so etwas kann eben nur die psychologische Beobachtung ergeben -: So innig, wie wir uns das vorstellen innerhalb Mitteleuropas, ist diese Persönlichkeit mit ihrem Urteil nicht verwachsen. Ein ganz anderes Verhältnis zwischen Urteil und Persönlichkeit be­steht da, als man es eigentlich bei uns gewohnt ist.

Ich weiß, daß ich damit etwas Paradoxes ausspreche,

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aber es hängt innig zusammen mit dem, was ich heute über das Wesen des geschichtlichen Werdens der Mensch­heit ausführen möchte. Wenn das nicht an einen aber­gläubischen Ausdruck erinnern würde, so würde ich sagen:

Man kommt darauf, daß solch eine Natur wie Wilson, wenn sie so treffende Urteile fällt wie in dieser Geschichts­betrachtung und auch an anderen Stellen, von etwas in der eigenen Seele besessen ist, nicht selber urteilt. Mit einem Ausdruck, der weniger leicht des Aberglaubens beschuldigt werden kann, möchte ich sagen: Bei einer solchen Per­sönlichkeit wie Wilson hat man den Eindruck, daß in der Seele etwas liegt, was dieses Urteil vom Innern der Seele heraus suggeriert. Man hat nicht den Eindruck, nicht die Empfindung: Es ist ganz und gar durch die eigene Indivi­dualität, die Persönlichkeit erarbeitet; man hat vielmehr das Gefühl: Es ist irgend etwas wie eine zweite Persönlich­keit, eine zweite Wesenheit in der Seele, welche dieser Seele das suggeriert. Wenn man wiederum hinblickt auf Urteile, die ohne Zweifel treffend sind, die Wilson gerade über den Charakter des Amerikanertums gefällt hat, wo er sagt, schon in dem äußerlichen Aussehen und Gebaren merkt man den rechten Amerikaner daran, daß er das schnell be­wegliche Auge hat, daß er geneigt ist, kühne, aber auch abenteuerliche Gedankengänge schnell aufzunehmen, daß er andererseits wenig geneigt ist, an seiner Heimat zu hän­gen so wie andere Völker, daß er vielmehr sehr gern Pläne schmiedet, welche sich überall ausführen lassen, - wenn man diese Charakteristik ins Auge faßt, dann findet man es von Wilson selber als den Charakter des die amerikanische Ge­schichte machenden Volkes und seiner bedeutendsten Män­ner ausgesprochen, daß sie im Grunde genommen in ihrem Innern etwas haben, wovon sie äußerlich vergewaltigt wer­den: Nicht das sinnvoll blickende, ruhige Auge - die anderen

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von Wilson angeführten Charakteristiken könnten ebenso herangezogen werden -, sondern das schnell beweg­liche Auge ist ein Zeichen dafür, daß ein Etwas den Ameri­kaner von innen heraus vergewaltigt, und solche Sugge­stionen wirken auch, wenn das Urteil ein so treffsicheres wird wie bei Wilson.

Vergleichen wir das, was ich so sagen mußte, mit einer Geschichtsbetrachtung, die räumlich und - wie wir sehen werden - auch seelisch etwas fern liegt, mit demjenigen, was Lamprecht als seine Ideen vorbringt über den Ent­wickelungsgang der mitteleuropäischen Geschichte. Es sind im Grunde genommen originelle Ideen. Er versucht, sich klar zu machen: Wie hat sich eigentlich dieses Wesen des mitteleuropäischen Volkes nach und nach im Laufe der Jahrhunderte, etwa seit dem dritten Jahrhundert bis in die Gegenwart, entwickelt? Alles das, was er sagt, man merkt es ihm an, ist innerlich errungen, erarbeitet. Man ist mit sehr vielem, insbesondere als Geisteswissenschaftler, nicht einverstanden; wir werden gleich davon zu sprechen haben. Aber es ist alles errungen, es ist alles aus der unmittelbaren Persönlichkeit heraus. Da wäre es ein völliger Unsinn zu sagen, irgendeine innere Macht würde etwas suggerieren. So leicht hat es diese Persönlichkeit nicht. Diese Persönlich­keit muß sich Stück für Stück des Gedankens, nicht nur jeden Gedanken nach dem andern, erobern, durch Gedan­kenüberwindung hindurchgehen, um zu einem Urteil zu kommen. Erst dann kommt sie zu einer Auffassung des geschichtlichen Werdens, die verhältnismäßig neu ist, neu selbst nach der Auffassung Rankes und Sybels, neu in der Art, daß Lamprecht das geschichtliche Werden auffaßt als die Entwickelung des gesamten Seelenhaften. Dasjenige, was in der Seele des Volkes veranlagt ist, was da nach Dasein ringt, das versucht Lamprecht als Äußerungen des

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Seelischen zu verfolgen, wie der Psychologe die seelische Ent­wickelung jedes einzelnen Menschen verfolgt.

Bis zum dritten Jahrhundert entwickelte sich das deut­sche Volk nach Lamprecht so, daß man sagen kann, diese Entwickelung zeige eine symbolisierende Seelenrichtung. Auch die äußeren Handlungen, auch das politische Wer­den verläuft so, daß man sieht, es kommt aus der Sucht der Seele, die Welterscheinungen symbolisch aufzufassen, über­all Sinnbilder zu sehen, ja selbst die Helden zu Sinnbildern zu machen und sie als solche zu verehren, wie lebendige persönliche Sinnbilder im wirklichen Leben verehrt werden. Dann kommt die Periode vom dritten Jahrhundert bis zum elften, zwölften Jahrhundert. Lamprecht nennt sie die typi­sierende. Da ist nicht mehr die Sehnsucht des Seelischen, Sinnbildliches zu sehen, Sinnbildliches zu realisieren, son­dern Typen zu errichten. Auch die Menschen, die man verehrt, die Menschen, denen man gehorcht, man verehrt sie so, gehorcht ihnen so, daß sie nicht wie einzelne Indi­vidualitäten, sondern wie Typen eines ganzen Volksstam­mes, einer ganzen Stadt wirken. Dann kommt - ich muß diese Dinge kurz darstellen - vom zwölften bis ungefähr zum dreizehnten Jahrhundert die Zeit, in der sich na­mentlich das Rittertum entwickelt, die Lamprecht die kon­ventionelle Zeit nennt, in der man nicht mehr typisiert, sondern in der man so urteilt und seine Willensimpulse so empfindet, wie es die Konvention von Mensch zu Mensch, von Stand zu Stand, von Volk zu Volk bedingt, die Zeit des Konventionalismus. Dann folgt - und das ist bedeu­tungsvoll, daß Lamprecht dies bemerkt, obwohl er sich über die Tragweite, wie wir gleich sehen werden, keinen erschöpfenden Begriff machen kann - ungefähr mit der Wende des fünfzehnten Jahrhunderts auf das konventio­nelle Zeitalter das individualistische Zeitalter, wo die Menschen

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sich wirklich als Individuen innerhalb der Gemein­schaft fühlen, und wo die Ereignisse so zu beurteilen sind, daß man sie herleitet aus dem, was Geltendmachung des Menschen als Individuum ist. Das dauert ungefähr bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. Da beginnt für Lamp-recht das Zeitalter, in dem wir jetzt noch drinstehen, das Zeitalter des Subjektivismus, wo der Mensch versucht, sich zu verinnerlichen, seine Gedanken, seine Affekte zu ver­innerlichen, wo er nicht bloß als Persönlichkeit wirkt, son­dern aus den Tiefen der Persönlichkeit, aus den Tiefen des Subjekts heraus wirkt, denkt und will. Dieses Zeitalter teilt Lamprecht wiederum in zwei: Ungefähr bis in die siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts geht der erste Teil, dem also die große klassische Zeit Goethes, Schillers, Herders angehört, und seit den siebziger Jahren bis in un­sere Tage folgt dann für Lamprecht unsere Zeit.

Nun ist es merkwürdig, daß Lamprecht als der vielleicht bedeutendste Geschichtsschreiber der Gegenwart sich ganz klar darüber ist, er müsse erst einen Impuls suchen, um zu sehen, wie eigentlich der Lauf der Geschichte weitergeht, und das - man merkt dies ja schon seiner Deutschen Ge­schichte an - beschäftigte ihn unablässig: nachzuforschen, wie man es eigentlich anfangen soll, um das, was die Doku­mente, was die Denkmäler, was die Archive geben, so an­einanderzureihen, so in erzählende und in schildernde Ver­bindung zu bringen, daß es das wird, was man Geschichte nennen kann. Also die wichtigste Frage der Geschichte, die Existenzfrage, sie wurde für Lamprecht aktuell. Er sagte sich, man kann überhaupt nur zu Geschichte kommen -denn die Geschichtsschreibung Rankes, Sybels und so weiter betrachtet er nicht als Geschichte -, wenn man versucht, den seelischen Werdegang eines Volkes oder der ganzen Mensch­heit zu schildern. Aber dann muß man doch die Möglichkeit

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haben, diesen seelischen Werdegang zu beobachten, in die­sem seelischen Werdegang irgendwelche Gesetze zu finden. Da ist es interessant, daß ein merkwürdiger Widerspruch in der ganzen Betrachtungsweise Lamprechts einem entgegen­tritt nach den Denkgewohnheiten der gegenwärtigen Zeit. Nach den durch die Zeitverhältnisse notwendig herbeige­führten Denkgewohnheiten sagte sich Lamprecht, die frü­here bloß individualistische Betrachtungsweise, wo man eben einfach das genommen hat, was die Archive gegeben haben, um Persönlichkeiten oder Tatsachen in einer etwas äußerlichen Weise zu charakterisieren, diese Betrachtungs­weise kann nicht bleiben. Wie kann man überhaupt Ord­nung hineinbringen in die Tatsachen? Da sagt er sich, man muß das Seelische im Werdegang so betrachten, daß man es sozialpsychologisch schildert. Das ergibt sich ihm also aus einer notwendigen Denkgewohnheit der neueren Zeit, das soziale Leben, das gemeinschaftliche Zusammensein der Menschen zu beachten. Das sagt er sich auf der einen Seite. Aber nun hat er keine Möglichkeit, das Soziale im Seelen-leben oder - anders gesagt - das Seelische im sozialen Leben gesetzmäßig zu betrachten. Er wendet sich also an die Seelenforscher, fragt, wie betrachten die Seelenforscher heute die einzelnen individuellen Seelen. Hier sehen sie in der individuellen Seele die Gedanken sich vergesellschaften, die Gefühle aufsteigen, die Willensimpulse sich entwickeln. Dann will er das anwenden auf die Art und Weise, wie die Ereignisse im geschichtlichen Werden bei den Menschen wirken, wie der Gedanke des einen Menschen auf den gan­zen Stamm wirkt, wie sich also die Gedanken äußerlich vergesellschaften, wie sich sonst in der individuellen Psycho­logie ein Gedanke mit dem andern vergesellschaftet. So will er nach dem Vorbilde der individuellen Psychologie Geschichte sozialpsychologisch betrachten. Da ergibt sich,

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wie ich andeutete, ein sehr bemerkenswerter Widerspruch. Er will loskommen von der individuellen Geschichtsbetrach­tung und zur sozialpsychologischen kommen; aber er nimmt das, was ihm als Mittel dazu dienen soll, von der Betrach­tung der individuellen Psychologie. Ein merkwürdiger Widerspruch, den er gar nicht bemerkt.

Und noch ein anderes: Wenn man sich so recht vertieft in das, was da einer der modernsten Historiker leistet, wenn er so recht anschaulich schildert, wie eines der Kultur­zeitalter, die ich Ihnen in seinem Sinne aufgezählt habe, in das andere übergeht, wenn er schildert, wie die Gefühle der Menschen bei solchen Übergängen in Explosionen über­gehen, wie da die Gedanken sich knüpfen und trennen, wie sie sich überstürzen, wie sich neue Gefühle bilden, wie die Willensimpulse wirken, so hat man das Gefühl: Der Mann sieht die Bäume vor lauter Wald nicht. Ich halte nämlich nichts von dem Sprichworte, es sähe jemand den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ich möchte wissen, wie das jemand machen wollte, daß er im Walde drinnen wäre, die Bäume durch seine gesunde Anschauung vor sich hat, und den Wald sehen wollte! Man muß doch erst weit weg gehen, um den Wald zu sehen. Man hat das merkwürdige Gefühl, daß Lamprecht die Unterschiede, die Differenzierungen zwi­schen den einzelnen Zeitaltern, dem symbolisierenden, dem typisierenden und so weiter, nicht genau herausarbeiten kann, kurz, man kommt zu dem Ergebnis, es ist das ein Forscher, der sich durch innere schwere Kämpfe durch­gerungen hat, um eine Anschauung des geschichtlichen Wer­dens der Menschheit zu haben, der aber innerhalb des Gei­steslebens der Gegenwart, innerhalb desjenigen, was die Gegenwart an Beobachtungen über das Geistesleben zu geben hat, nicht die Mittel finden konnte, um sich audi nur die Frage vorzulegen: Was ist nun eigentlich dieses geschichtliche

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Werden der Menschheit? Ist dasjenige, was aus den Dokumenten, aus den Archiven gewonnen werden kann, schon Geschichte, oder suchen wir durch alles das viel-leicht noch etwas ganz anderes?

Hier muß man einsetzen, wenn man das geschichtliche Leben und seine Rätsel im Lichte der Geisteswissenschaft betrachten will. Man muß sich die Frage vorlegen: Ist denn überhaupt schon im allgemeinen Bewußtsein gefunden, was das Objekt der Geschichte ist? Weiß man denn schon, was man eigentlich beurteilen will, wenn man an die Geschichte herangeht? Um diese Fragen aus der Beobachtung heraus zu beantworten, muß ich nun allerdings einiges aus der Geisteswissenschaft heranziehen, das sich an Dinge an­schließt, die ich hier in früheren Vorträgen ausgeführt habe.

Wenn man das menschliche einzelne Seelenleben betrach­tet, so steht dieses ja drinnen in dem Wechsel zwischen Wachen und Schlafen. Wir haben versucht, die Bedeutung von Wachen und Schlafen in früheren Betrachtungen vor die Seele zu führen. Nun wird aber gewöhnlich dasjenige, was als Wechselzustände zwischen Schlafen und Wachen auftritt, in der einseitigen Weise betrachtet, daß man sagt, der Mensch bringt zwei Drittel oder auch mehr seines Le­bens wachend und ein Drittel schlafend zu. So einfach liegen aber die Dinge nicht vor der Beobachtung der Geistes­wissenschaft. Klar ist nur, daß sich der Schlafzustand ins Wachleben fortsetzt, daß wir in einem gewissen Sinne vom Aufwachen bis zum Einschlafen nur teilweise wach sind. Wir sind in Wirklichkeit bewußt wach nur den Wahrneh­mungen der Außenwelt und den Vorstellungen gegenüber, die wir uns von diesen Wahrnehmungen machen. Allein man vergleiche nur einmal - was die heutige Psychologie in der Regel nicht macht - die Art, wie außer den Wahrnehmungen

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und Vorstellungen die Gefühle erlebt werden. Derjenige, der allmählich lernt, die Art, wie Gefühle in der Menschenseele vorkommen, zu beobachten - ich werde auf dieses Thema in dem nächsten Vortrage über «Die Offenbarungen des Unbewußten» zurückkommen und jetzt nur einiges Prinzipielle sagen -, der lernt das, was Ge­fühlsleben ist, was Affekt, was Leidenschaftsleben ist, zu vergleichen mit dem Traumleben. Das Traumleben, das heraufwogt aus dem Schlafesleben, es stellt Bilder vor die Seele, ohne daß diese Bilder des Traumes von Logik und von gewissen moralischen Impulsen, die wir nur im Wach-leben haben, durchzogen sind. Nun unterscheiden sich ge­wiß die Traumbilder von den Gefühlen, von den auf- und abwogenden Leidenschaften und Affekten, aber es gibt etwas, worin sich beide in bezug auf ihr Verhältnis zur Seele gleichen: Das ist der Grad des Bewußtseins, in dem wir den webenden, wogenden Traumbildern hingegeben sind. Denselben Grad des Bewußtseins haben wir, wenn wir unseren Gefühlen hingegeben sind, nur daß wir unsere Gefühle zugleich mit Vorstellungen begleiten. In dem Au­genblick, wo wir über ein Traumbild, das wir gehabt haben, uns eine Vorstellung machen, fällt das Licht der Vorstellung auf den Traum; dann wird der Traum vollbewußt, dann ordnen wir ihn auch richtig ein in das menschliche Leben. Das tun wir fortwährend mit unserm Gefühlsleben. Wir ordnen unsere Gefühle durch die ihnen parallel gehenden Vorstellungen ein in das Leben, aber diese Gefühle werden für sich in keiner andern Intensität, in keinem andern Ver­hältnis zum Seelenleben erlebt als die Träume, so daß wir sagen können: Das Traumleben setzt sich fort in unser waches Tagesbewußtsein und wird träumend unsere Ge­fühlswelt. Leicht ist es zu überschauen, daß sich aber auch das tiefe, traumlose Schlafleben in unser wachendes Leben

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hinein fortsetzt, und zwar als unsere Willensimpulse. Wir wissen im gewöhnlichen Wachbewußtsein von diesen Wil­lensimpulsen nur insofern, als sie von Vorstellungen be­gleitet sind. Wir stellen uns wohl unsere Handlungen vor, wir stellen uns vor, was wir tun sollen; wie aber dasjenige, was aus uns herausfließt als Willensimpulse, als Tat, wie sich das aus der Vorstellung entwickelt, wie es von der Vor­stellung in den Willensimpuls übergeht, das bleibt uns bei dem wachsten gewöhnlichen Tagesbewußtsein so unbewußt, wie uns unser Leben im tiefsten Schlafe unbewußt bleibt. Nur dadurch, daß wir unsere Willensimpulse uns vorstel­len können, begleiten wir diese schlafenden Impulse mit dem wachen Leben. So setzt sich fortwährend das Schlafes-leben in unser waches Tagesleben fort.

Wenn nun auch unsere Gefühle, unsere Affekte, un­sere Leidenschaften von uns nur geträumt werden, so ist trotzdem unser Gefühlsleben so mit einem objektiven Gei­stig-Seelischen verbunden wie mit unserm eigenen Geistig-Seelischen, mit unserm Vorstellungs- und Wahrnehmungs­inhalte. Nur liegen die Verbindungen der Gefühls- und Willensinhalte mit dem objektiven Geistigen im Unter­bewußten. Wir verschlafen diesen unsern Zusammenhang mit dem Geistig-Seelischen, und heraus ragt aus dem Meere, in das wir so eingebettet sind, nur dasjenige, was wir durch unsere Vorstellungen und Wahrnehmungen erleben. Lernt man durch Erweckung der in der Seele schlummernden Kräfte hineinschauen in die geistige Welt, dann weiß man:

die Welt, in die unsere Gefühle niedertauchen gerade mit demjenigen Teil unserer Seele, der uns für das gewöhnliche Bewußtsein unbewußt bleibt, diese Welt kann zwar nicht von dem gewöhnlichen Bewußtsein, aber wohl von dem erweckten, schauenden Bewußtsein wahrgenommen wer­den, dadurch wahrgenommen werden, daß die Seele durch

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den erstarkten, denkkräftigen Willen oder die durch die Willensimpulse durditränkte Denkkraft sich Bilder gestal­ten kann aus der Berührung mit dieser geistigen Welt, und in dieser sich bildet, was man imaginatives Erkennen nennt. Dieses imaginative Erkennen ist die erste Stufe der über­sinnlichen Anschauung, durch die man in die wirkliche geistige Welt hineinkommt. Soll ich Ihnen einen äußer­lichen Vergleich geben, so müßte ich sagen, dieses imagina­tive Erkennen ist das vollbewußte Hineinschauen in eine geistige Wirklichkeit, so daß die Imaginationen keine Ein­bildungen sind, sondern Wiedergabe geistiger Wirklichkeit, obwohl ihr Weben nicht dichter vor der Seele steht als Traumbilder, nur daß man weiß, die Traumbilder haben keinen Wirklichkeitswert, das aber, was in der Imagina­tion gegeben ist, weist auf eine objektive geistige Wirklich­keit außer uns hin. Man lernt erkennen, womit die Gefühls­welt des Menschen verbunden ist, was für das gewöhnliche Bewußtsein nur erträumt wird; man lernt das in seiner Wirklichkeit erkennen durch das imaginative Anschauen der Welt. Man lernt weiter das, worinnen die Willens­impulse eingebettet sind, in derselben Weise erkennen durch die zweite Stufe des höheren Bewußtseins, durch das inspi­rierte Bewußtsein, lernt dadurch die geistige Welt erken­nen, insofern die Willensimpulse des Menschen, die sonst unterbewußt bleiben, ebenfalls eingesenkt sind in eine ob­jektive geistige Wirklichkeit.

Wenn man diese Dinge durchschaut hat, und einem dann die Frage nach dem eigentlichen Gegenstand des geschicht­lichen Verlaufs vor die Seele tritt, dann ist das Bedeutungs­volle, daß einem dann klar wird, was eigentlich geschicht­liches Werden ist. Das wird nicht so erlebt wie dasjenige Werden, das von Person zu Person geht, das im Alltage erlebt wird, indem wir selbst mit dem Gegenstande persönlich

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in Berührung kommen. Nein, dieses geschichtliche Wer­den ist noch etwas anderes, in dem steckt ebenso etwas Unbekanntes wie in dem, was der Mensch als Gefühl, als Willensimpuls erlebt. Wie der Mensch seine Gefühlswelt eigentlich verträumt, so verträumt er dasjenige, was wirk­licher Strom des geschichtlichen Werdens ist. Diese Er­kenntnis ist das erschütternde Ergebnis jener Beobachtung, die sich vom Menschen weg zum geschichtlichen Werden hinwendet, und sie zeigt, daß wir diese Vorstellungen, die das äußere bewußte Leben regieren, nicht gebrauchen kön­nen, um geschichtliches Leben irgendwie zu fassen. Denn das, was man im alltäglichen Bewußtsein als einzelner Mensch erlebt, wird wachend erlebt. Aber in diesem ganzen wachen Tagesleben ist das gar nicht drinnen, was Geschichte ist. Geschichte wird von den Menschen nicht wach erlebt, Geschichte wird geträumt. Der große Traum des Werde­ganges der Menschheit, das ist Geschichte, und niemals tritt Geschichte in das gewöhnliche Bewußtsein ein. Man kann das gewöhnliche Bewußtsein in sehr scharfsinniger Weise besitzen, man kann der bedeutendste Naturforscher sein gerade mit demjenigen Verstande, der geeignet ist, die Dinge zusammenzustellen nach Ursache und Wirkung, man kann diejenige Geistesstimmung haben, welche einen be­sonders befähigt, die äußere Natur richtig zu schauen und zu charakterisieren in ihrer Gesetzmäßigkeit. Lernt man erkennen, was Strom des geschichtlichen Werdens wirklich ist, so sagt man sich: Mit all dem Geistesvermögen, das geeignet ist, die äußere Natur zu begreifen, ja, das gerade fruchtbar ist für das Begreifen der äußeren Natur, mit dem kann man nicht hineinschauen in das geschichtliche Werden. Dieses wird nicht im gewöhnlichen Bewußtsein erlebt wie die Natur, sondern nur in dem Bewußtseinsgrad, der auch dem Traum eigen ist. Es wird einmal für die Geschichtsbetrachtung

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eines der bedeutendsten Ergebnisse sein, wenn man darauf kommen wird, daß man erst den Gegenstand der Geschichtsbetrachtung finden muß, finden muß, daß der Strom des geschichtlichen Werdens gar nicht so da ist wie die Natur, daß also auch dasjenige, was so da ist wie die Natur, nämlich die Tatsachen, die in den Archiven ver­zeichnet sind, die in den Dokumenten stehen, die man ge­wöhnlich schon als Geschichte bezeichnet, noch gar nicht Geschichte sind, daß die Geschichte in Wirklichkeit erst dahinter liegt, daß diese Tatsachen nur herausragen aus dem geschichtlichen Werden, nicht selbst dieses geschicht­liche Werden sind.

Herman Grimm sagte mir einmal, als ich mit ihm in Weimar längere Zeit über geschichtliche Fragen sprach, man könnte eigentlich dieses geschichtliche Leben der Menschen nur betrachten, wenn man die sich entwickelnde Volks-phantasie verfolgt. Man kann sagen, Herman Grimm war nahe daran, eine Entdeckung zu machen, aber er wollte eben nicht den Übergang in die Geisteswissenschaft voll­ziehen, und so erschien es ihm als das einzig Fruchtbare, nicht die äußeren Ereignisse allein zu betrachten und sie so aufzureihen, wie der Naturforscher die äußeren Ereig­nisse nach Gesetzen der Kausalität aufreiht, sondern sie so zu betrachten, daß er durch sie wirklich auf die sich fort­entwickelnde, fortströmende Phantasie der Menschheit sah. Es war das ein unvollkommener Ausdruck für das, was er hätte erkennen können: daß das geschichtliche Werden auch nicht in dem, was die Phantasie erlebt, sich vollzieht, sondern noch viel tiefer liegt, tief liegt in den unterbewuß­ten Gründen, in denen die Träume gewoben werden. Nur herauf wogt es. Wie die Tiefen des Meeres heraufwogen in den Wellen, die nach oben gehen, so wogt es herauf in den einzelnen Ereignissen.

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Wenn wir unsern gewöhnlichenverstand, unsere gewöhn­liche äußere Erkenntnis, die uns soviel nutzt in der Naturbe­trachtung und im äußeren praktischen individuellen Leben, anwenden auf das geschichtliche Werden, dann treffen wir eigentlich merkwürdigerweise nur das an Kräften im ge­schichtlichen Werden, was Niedergang, was absteigende Entwickelung bewirkt. Herman Grimm hat sich einmal die Frage vorgelegt, wie es kommt, daß der Historiker Gibbon, indem er die ersten Jahrhunderte des Christentums schil­dert, nur den Verfall des römischen Reiches schildert, nicht das Wachstum, nicht das Emporkommen des Christentums. Grimm hat da ein richtiges Aperçu gemacht, ist aber nicht darauf gekommen, welches der Grund ist. Der Grund ist der, daß Gibbon zu einer Geschichtsbetrachtung, obwohl er tiefgründig ist, nur anwendet denselben Verstand, den man sonst in der Naturbetrachtung anwendet. Da konnte er eigentlich nur den Niedergang betrachten, nicht das­jenige, was sprießt und sproßt, nicht das Aufgehende; denn das Aufgehende kann nur geträumt werden. Gerade so aber, wie in den lebendigen Menschen hineinorganisiert ist das, was als physischer Leib im Tode noch studiert wer­den kann, so daß der Mensch sich an den toten Leib be­trachtend wenden und an dem toten Leib das, was ein-organisiert war dem Leben, beobachten kann, gerade so kann man es beim geschichtlichen Verlauf nicht machen, weil der Leichnam von dem Lebendigen nicht getrennt, sondern beides ineinander ist, weil das Aufsteigende, Wachsende, Sprossende lebendig verbunden ist mit dem, was im Nie­dergang, im Sterben begriffen ist. Deshalb kann man mit dem gewöhnlichen Verstande nur das Tote im ge­schichtlichen Werden betrachten. Wendet man das, wovon man bisher glaubte, daß man es auch in der Geschichts­betrachtung anwenden müßte, was gerade so fruchtbar ist

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in der Naturwissenschaft, wirklich an auf die Betrachtung der Geschichte, so findet man nur dasjenige an Kräften im geschichtlichen Werden, was zum Sterben, zum Nieder­gang, zum Untergang führt. Was braucht man also, wenn man im geschichtlichen Werden das Wachsende, das Gedei­hende erkennen will, dasjenige, was den Menschen vor­wärtsbringt?

In älteren Zeiten, wo man eine andere Seelenverfas­sung hatte, hat man in dieser Beziehung eigentlich tiefer geschaut, aber eben in der alten Form. Man hat nicht Geschichte erzählt, man hat Mythen und Sagen erzählt. Diese Mythen und Sagen, die die Geschichtsträume der Menschheit wiedergeben sollten, sie waren wahrere Ge­schichte als die sogenannte pragmatische Geschichte, die für die geschichtlichen Ereignisse denselben Verstand anwen­det, der für die Natur paßt. Aber wir können in der Ent­wickelung der Menschheit nicht wieder zurückgehen und Mythen und Sagen dichten über das geschichtliche Werden. Aber etwas anderes können wir. Wir können uns entschlie­ßen, dasjenige, was für das gewöhnliche Bewußtsein nur als Träume im Unterbewußten ruhend liegenbleibt, her­aufzuholen, indem wir anwenden auf das geschichtliche Werden die imaginative Erkenntnis. An dem geschicht­lichen Werden wird die Menschheit, wird die Wissenschaft erkennen, daß sie nicht einmal den Gegenstand der Be­trachtung erreichen kann, wenn sie nicht zur geistwissen­schaftlichen Betrachtung übergehen will. Unterhalb des Be­wußtseins bleibt, was in der Geschichte wirkt, wenn man den Traum nicht heraufhebt ins Bewußtsein. Dann muß man aber den Traum heraufheben in das Geistbewußtsein, in das übersinnliche Bewußtsein, das nicht bloß gegen­ständlich denkt, wie man es der Natur gegenüber, dem gewöhnlichen praktischen Leben gegenüber macht, sondern

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das das Geistige imaginieren kann. Imaginatives Erkennen wird erst Geschichte schaffen.

Derjenige, welcher fühlen kann, welches der Nerv der Geisteswissenschaft ist, und sich dann einläßt auf das Rin­gen einer solchen Seele, wie es bei Lamprecht zu beobachten ist, wird finden: da wird ein Weg gesucht zu einem Ziele hin. Aber wo ist dieses Ziel? Warum sucht Lamprecht alles heranzuziehen, um Geschichte überhaupt erst zu finden, und kommt doch zu nichts anderem, als daß er die ge­wöhnliche Seelenlehre der Einzelpsychologie anwendet, obwohl er glaubt, man müsse Sozialpsychologie, Gesell­schaftsseelenlehre anwenden. Aber was der Mensch in der Gesellschaft erlebt und durch die Gesellschaft, was er als soziales Wesen erlebt, was Werdegang seiner Geschichte wird, das träumt er, das geht auch nicht in die individuelle Psychologie hinein. Da muß man jene neue Psychologie anwenden, die erst Geisteswissenschaft geben kann. Bei Lamprecht finden Sie die Forderung, in der Geisteswissen­schaft finden Sie die Antwort auf das große, heute der Menschheit durch die Geschichte aufgegebene Rätsel des geschichtlichen Werdens selber. Was wird aber aus alle dem für eine Geschichtsbetrachtung werden?

Sehen Sie, Lamprecht kommt doch nicht los von der verstandesmäßigen, für die Naturwissenschaft passenden Betrachtung der Aufeinanderfolge der Ereignisse. Er be­trachtet dasjenige, was bis zum dritten, bis zum elften Jahrhundert und so weiter vor sich geht, hintereinander, wenn er es auch geistvoll betrachtet. Aber er kommt nicht darauf, die Ereignisse so zu beurteilen, daß er das unter ihnen Liegende, vom Menschen nur als Traum Erlebte, wirklich erreichte.

Dafür sind leicht Beweise zu finden; hundertfältige Be­weise könnte ich Ihnen anführen, gerade aus Lamprechts

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Geschichtsbetrachtung. Ich will nur eines davon anführen, wo Lamprecht zu der neuen Zeit heraufkommt. Da fragt er unter anderem: Welches sind die bedeutendsten Kultur-erscheinungen in dieser Neuzeit? Bedenken wir, diesenVor­trag, wo diese Frage gestellt wird, hat Lamprecht im Jahre 1904 gehalten! Da fragt er: Welches sind die bedeutend­sten kulturhistorischen Momente, die als Errungenschaft der Menschheit heute hervortreten? Er will also die bedeu­tendsten charakteristischen Seelenäußerungen vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts anführen. Was führt er an? Die Antwort ist sehr interessant, gerade für einen Men­schen, der dem Seelischen so viel Bedeutung beilegt. Er führt erstens die Bestrebungen zur Herbeiführung eines Lebens der Selbstlosigkeit an, eines altruistischen Lebens der Menschheit, verschiedene Gesellschaften für ethische Kultur, die besonders von England und Amerika dazumal auch nach Europa gekommen sind, und er führt zweitens als besonders hervorragend an die Friedensbewegung. Dies sagt ein anerkannter Historiker der Gegenwart! Er kommt dazu, als besonders bezeichnend für den Beginn des zwan­zigsten Jahrhunderts hinzustellen die altruistische Bewe­gung und die Friedensbewegung! Kann eine solche Ge­schichtsbetrachtung, so sehr auch die betreffende Seele ringt, kann die auf rechtem Wege sein? Ungefähr zu derselben Zeit habe ich dazumal - es sind heute noch Zuhörer auch in diesem Saale, die diesen Vortrag gehört haben - hier einen Vortrag gehalten über ähnliche Ideen und habe aus­einandergesetzt, daß die am allerwenigsten charakteristi­schen Ideen für den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts eben diese beiden Bewegungen sind: die Bewegungen für ethische Kultur und namentlich die Friedensbewegung. Ich habe damals meinen Vortrag so zusammengefaßt, daß ich sagte: Das ist gerade das Charakteristische, daß die Zeit,

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in der die Friedensbewegung besonders laut auftritt, die-selbe Zeit sein wird, in die die größten Menschheitskriege fallen werden. So wenig ist dies charakteristisch! Doch, nicht wahr, das eine hat ein berühmter Historiker gesagt, das andere ein verrückter, verdrehter Vertreter der An­throposophie, und es ist in der Gegenwart selbstverständ­lich, auf wen man hört.

Es handelt sich darum, durch diesen Zusammenhang zwischen Menschenseele und jener nur erträumten Geistig­keit, die als historischer Strom dahinfließt, zu erkennen, wie man das, was an Tatsachen vorliegt, was man bis jetzt schon Geschichte genannt hat, zu benutzen hat, damit es einen überall hinweist auf die tieferen, für das gewöhn­liche Bewußtsein nur erträumten Entwickelungströmungen der Menschheit. Das kann man nur, wenn man an die Stelle der Lamprechtschen und aller sonstigen Geschichtsbetrach­tung setzt, was ich nennen möchte die symptomatische Ge­schichtsbetrachtung, wenn man sich mit dem Bewußtsein durchdringt, daß alles, was man durch die Archive, die Dokumente, durch die Denkmäler, kurz mit dem gewöhn­lichen bewußten Verstand erfahren kann, so zu benutzen hat, daß man es wertet und würdigt, indem man es bezieht auf etwas, wofür es Symptom, wofür es Ausdruck ist. Große Männer der Geschichte, ihre Erscheinungen und ihre Taten, sie werden nicht um ihrer selbst willen betrachtet, wenn man das geschichtliche Werden der Menschheit schil­dern will, sondern nur als Symptome. Man ist sich bewußt:

Wenn man das richtige Symptom in imaginativen Zusam­menhang bringen kann mit dem, was darunter liegt als gei­stiger Werdestrom, dann schildert man richtig Geschichte. Symptom-Geschichte wird ganz anders ausschauen als Ge­schichte, die so verläuft, daß man nur die Tatsachen auf-reiht und versucht, die individuelle Psychologie zur Erklärung

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und Analyse dieser Tatsachen zu benutzen, wie Lamprecht es tut. Es wird Symptom-Geschichte darin be­stehen, daß man sich bewußt wird der Gesinnung, die Goethe hatte, daß man sich eigentlich einem geistigen Wesen nur von allen Seiten nähern kann, es nur durch seine Sym­ptome kennenlernen kann, wenn man sich bewußt wird, daß das, was man bisher als Geschichte betrachtet hat, eigentlich nur an der Oberfläche liegt und sich wie ein Trauminhalt ganz merkwürdig ins Leben hineinstellt.

Beobachten Sie den Trauminhalt, Sie werden sehen, daß Sie oftmals etwas ganz anderes träumen, als was mit den bedeutendsten Ereignissen Ihres Taglebens unmittelbar zu­sammenhängt. Trotzdem hängt es irgendwie als Reminis­zenz mit Ihrem Leben zusammen, aber auf sehr verbor­gene Art, und es hängt - wir werden davon heute in acht Tagen sprechen - mit tieferen Kräften des menschlichen Lebens zusammen. Es ist ein Grund vorhanden, warum gerade dieses oder jenes, was im Unterbewußten wirkt, symptomatisch heraufkommt, indem wir nicht irgend etwas Bedeutendes träumen, was uns äußerlich im Wachleben be­deutend erscheint, sondern vielleicht gerade etwas, was uns äußerlich unbedeutend scheint. Symptomatische Geschichts­forschung wird genötigt sein, Ereignisse, die für den äuße­ren Verstand die Situation weithin beherrschen, als unbe­deutend anzusehen für das wahre Geschehen und kleine, scheinbar unbedeutende Ereignisse als tief einschneidende Symptome anzusehen. Dadurch wird man erst dahin kom­men, im geschichtlichen Leben vom Äußeren ins Innere ein­zudringen. Man kann nicht in einer solch äußerlichen Weise, so sehr man auch glaubt, dabei wissenschaftlich zu sein, das individuelle Seelenleben des Menschen auf das historische Werden übertragen.

Ich kann natürlich hier nicht eine umfassende Geschichtsbetrachtung

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anstellen, um zu zeigen, wie diese sympto­matische Betrachtung das Wesenhafte im Werdegang der Menschheit ergreift, aber ich kann doch wenigstens einiges beispielsweise andeuten. Ich habe in einem früheren Vor-trage gesagt: Wenn der Geistesforscher lernt, in die geistige Welt und ihr Werden hineinzuschauen, dann bemerkt er, so, wie man die Ergebnisse erwartet hat, kommen sie ge­wöhnlich nicht. Sie kommen in der Regel anders, als man es nach dem Urteil, das man äußerlich in der Sinneswelt gewonnen hat, erwarten konnte. Ich will hierfür ein Bei­spiel anführen:

Man könnte erwarten, daß die geschichtlichen Ereignisse so verliefen, daß man sie vergleichen könnte mit dem, was beim individuellen Menschen als Kindheit, Jugendzeit, Reifezeit und Alter aufeinanderfolgt. Manche Geschichts­betrachter haben sich ja in der Tat dieser Illusion hinge­geben. Das sind analogisierende Betrachtungen, die recht geistreich sein können, die aber mit der Wirklichkeit, wie sie Geisteswissenschaft zutage fördert, nichts zu tun haben. Es zeigt sich vielmehr etwas ganz anderes. Das Resultat, das ich Ihnen hier mitzuteilen habe, ist wahrhaftig mit demselben Ernst gewonnen, mit dem ein anderes wissen­schaftliches Resultat gewonnen wird; ich kann es aber nur als Ergebnis anführen. Es ist zunächst paradox, aber das, was Geisteswissenschaft findet, ist ja für die heutige Mensch­heit ebenso paradox wie die kopernikanische Weltanschau­ung für die damalige Menschheit. Lamprecht sucht Perio­den der geschichtlichen Entwickelung zunächst für das deut­sche Volk zu finden. Ich habe schon vorher angedeutet: es ist einem richtigen Eindruck zu verdanken, daß er um die Wende des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts einen Übergang von einem Zeitalter in das andere fest­stellt. Es ist auch sehr bezeichnend, daß er gerade dasjenige,

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was mit dem fünfzehnten Jahrhundert beginnt, das indi­vidualistische Zeitalter nennt. Der geisteswissenschaftlichen Forschung zeigt sich ebenfalls um die Wende des vierzehn­ten und fünfzehnten Jahrhunderts ein bedeutungsvoller Einschnitt. Aber indem man geisteswissenschaftlich hinein­schaut in den Strom des geschichtlichen Werdens, zeigt sich, daß man weiter zurückgehen muß und zunächst außer acht lassen muß die Grenzen, die einem durch Völker- und Stammesentwickelung gezogen sind. Man muß das allge­meine geschichtliche Werden der Menschheit ins Auge fas­sen. Da fügen sich einem zusammen die Ereignisse durch die Jahrhunderte, und zwar von diesem fünfzehnten Jahr­hundert nach Christus bis ins siebente und achte Jahrhun­dert vor Christus. Dieses Zeitalter vom siebenten Jahr­hundert vor dem Mysterium von Golgatha bis etwa ins fünfzehnte Jahrhundert nachher, das trägt einen eigenen Charakter. Dieser Charakter ändert sich mehr, als die heu­tige Menschheit glaubt, aus inneren Gründen heraus um das fünfzehnte Jahrhundert. Lamprecht erkennt das, nur erkennt er nicht die ganze Tragweite dieser Tatsache. An­dere haben von den verschiedensten Gesichtspunkten schon hingewiesen darauf, daß man nicht aus äußeren Gründen, nicht durch die bloße Betrachtung der geschichtlichen Ver­hältnisse, nicht einmal des Heraufkommens der Renais­sance und so weiter, sondern aus dem, was spontan aus dem geschichtlichen Leben, aus dem Seelenhaften der Mensch­heit selbst aufsteigt, zu erklären hat den bedeutsamen Um­schwung, der um diese Zeit fast über die ganze Erde, aber besonders über Europa hin, sich geltend macht. Es ist ja sehr beachtenswert, daß wohl der bedeutendste Germanist der Gegenwart, Konrad Burdach, in sehr schönen Aufsätzen darauf hingewiesen hat. Burdach sieht aus rein literarhisto­rischen, aber sehr weitsichtigen literaturhistorischen Forschungen

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heraus, wie da aus der seelischen Entwickelung der Menschheit etwas ganz Neues in die geistige Konfigura­tion, in das ganze Tun und Wollen und Treiben der Mensch­heit, wenn man es richtig betrachtet, eingetreten ist.

Wir hatten also einen Zeitraum der geschichtlichen Ent­wickelung hergestellt, den Zeitraum vom achten vorchrist­lichen bis zum fünfzehnten nachchristlichen Jahrhundert. In dem folgenden Zeitraum leben wir selbst darinnen. Es ist geisteswissenschaftlich möglich, noch weiter zurückzu­gehen. Da stellt sich nun etwas sehr Merkwürdiges heraus. Betrachtet man die Impulse, die die Menschen seit dem fünfzehnten Jahrhundert in ihrem geschichtlichen Sein be­herrschen, so sind sie andere als diejenigen, die die Men­schen in dem vorhergehenden Zeitraum beherrscht haben. Aber man kann nicht sagen, die Impulse des vorhergehen­den Zeitraums verhalten sich zu denen des folgenden Zeit­raums etwa so, wie sich im individuellen Menschenleben irgendeine Lebensperiode zu der folgenden verhält. Das ist nicht der Fall. Es ergibt sich vielmehr das Sonderbare: In unserm Zeitalter wirkt das Geschichtliche namentlich hin­ein in dasjenige in der individuellen Menschennatur, was sich bis in die zwanziger Jahre des Lebens entwickelt. Das ist das Geheimnis unseres gegenwärtigen Werdens, daß wir durch die geschichtlichen Verhältnisse besonders entwickelt erhalten diejenigen Kräfte, die unserm individuellen Leben in den zwanziger Jahren angehören. In dem vorhergehen­den Zeitalter, das vom achten vorchristlichen bis zum fünf­zehnten nachchristlichen Jahrhundert geht, griff das ge­schichtliche Leben der Menschheit so ein in das individuelle Leben, daß es besonders ergriff die dreißiger Jahre. Man kann die Sache auch anders darstellen. Man kann sagen:

Wir, die wir in diesem Zeitraum seit dem fünfzehnten Jahrhundert leben, sind seelisch daraufhin organisiert, daß

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wir uns durch die Kindheit bis in die zwanziger Jahre hin­ein entwickeln, und daß wir dann dasjenige, was wir in den zwanziger Jahren entwickelt haben, in das künftige Leben hineintragen, daß also der Mensch gewissermaßen innerlich fühlt, daß seine Entwickelungsperiode in den zwanziger Jahren abgeschlossen ist. Man braucht ja nur ganz äußerliche Dinge zu erwähnen, so kann man das schon belegen. Daß jemand heute so leicht noch in den drei­ßiger Jahren ernstlich lernen wollte, das wird man in einer Zeit, wo schon die jüngsten Menschen unter dem Strich in den Zeitungen schreiben, wohl schwerlich behaupten wollen. Aber man wird es sehr leicht erleben, daß die Men­schen sagen: Goethes Iphigenie, überhaupt die Klassiker, die liest man eben in der Jugend, im späteren Leben nicht mehr. Man könnte noch andere Symptome anführen. Geht man aber zurück in den vorhergehenden Zeitraum, so findet man, daß das, was bei uns fortdauernd sprießendes, spros­sendes Leben nur bis ans Ende der zwanziger Jahre ist, bis in die dreißiger Jahre hineinging. So paradox es heute für den Menschen noch klingt, es ist so, und man wird das einstmals als eine gesicherte geschichtliche Errungenschaft haben. Der Grieche und Römer entwickelte sich anders, als sich der moderne Mensch entwickelt, und die Geschichte spielte sich dazumal aus dem Grunde anders ab, weil die Menschen länger entwickelungsfähig blieben. Geisteswis­senschaft zeigt, daß man, noch weiter zurückgehend, zu Zeiten kommt, wo die Menschen entwickelungsfähig blie­ben bis in ein höheres Alter, bis in die vierziger Jahre hin­ein. So daß man sagen kann, man findet drei aufeinander­folgende Zeitperioden im geschichtlichen Leben der Mensch­heit: eine hinter dem achten vordiristlichen Jahrhundert zurückliegende, in der finden wir Menschen, welche bis in die vierziger Jahre hinein sich jung fühlen; dann kommt

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der Zeitraum, der die ganze griechische und römische Kul­tur von einem gewissen Gesichtspunkte aus gerade durch die Tatsache charakterisiert, daß die Menschen entwicke­lungsfähig, jung bleiben bis in die dreißiger Jahre; dann der Zeitraum, in dem sie entwickelungsfähig sind bis in die zwanziger Jahre hinein. Denkt man das durch, so sieht man, es läßt sich der Strom des geschichtlichen Werdens der Menschheit nicht etwa vergleichen mit dem Strom des einzelnen individuellen Lebens. Im einzelnen individuellen Leben wird man immer älter, die Menschheit als solche entwickelt sich in umgekehrter Richtung; sie wird immer jünger, das heißt sie bleibt immer jünger; sie trägt die Jugend immer weniger in das spätere individuelle Lebens­alter hinauf. Daher macht die Kultur, wenn man sie wirk­lich innerlich betrachtet, in den aufeinanderfolgenden Zeit-epochen einen immer jüngeren und jüngeren Eindruck, das heißt der Mensch trägt das, was er sich in der Jugend er­ringt, immer mehr und mehr in das Alter hinein. Man hätte glauben können, daß sich in der Zeit vor dem achten vor-christlichen Jahrhundert, wenn man von Vorurteilen aus­gegangen wäre, gerade eine jüngere Menschheit findet, dann eine ältere, und daß wir jetzt, wo wir es auch sonst so herrlich weit gebracht haben nach Ansicht mancher Men­schen, viel reifer und viel älter geworden sind. Es muß eben erst die Frage beantwortet werden, was im Entwicke­lungsgang der Menschheit, nicht im Einzelleben, Reife und Alter bedeutet. Aber es läßt sich dieser Entwickelungsvor­gang der Menschheit nur so betrachten, wie ich es jetzt an­gedeutet habe. Sie sehen, etwas ganz anderes, als was man sich gewöhnlich unter den inneren Gesetzen des Kultur­werdens vorstellt, wird herauskommen, wenn man wirklich symptomatisch die Geschichtsentwickelung betrachtet.

Nur noch eins will ich zum Schluß hervorheben. Man

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kann, wenn man versteht, durch die Symptome durchzu­sehen, auch eingehen auf die ganze Artung der Menschen in zwei solchen aufeinanderfolgenden Zeiträumen. Da sieht man, daß in dem Zeitraum, der mit dem achten vordirist­lichen Jahrhundert begonnen und mit dem fünfzehnten nachchristlichen Jahrhundert geschlossen hat, eine ganz an­dere Seelenstruktur des Menschen da war als in dem jetzigen Zeitraum. Betrachtet man geisteswissenschaftlich die Seele des Menschen, so hat man es nicht so bequem wie die tri­viale Seelenforschung. Man muß dann einsehen, daß es drei ganz verschiedene Seelenschattierungen in der Gesamt-seele gibt, und daher unterscheidet man in der menschlichen Wesenheit drei Seelenglieder. Ich nenne die eine Empfin­dungsseele. In der sind verankert die Triebe und Leiden­schaften, sie bringt aber auch den Menschen sinnenmäßig in Verbindung mit der äußeren Natur; dann ist zu unter­scheiden die Verstandes- und Gemütsseele, und drittens die Bewußtseinsseele, diejenige Seele, in der das eigentliche Selbstbewußtsein verankert ist. Indem nun im Strom des geschichtlichen Werdens, den ich als immer Jünger-Werden des Menschen beschrieben habe, immer andere Kräfte in die Menschenseele eingreifen, stellt sich folgendes heraus: Wäh­rend des Zeitraums, der vom achten vorchristlichen bis zum fünfzehnten nachchristlichen Jahrhundert geht, wo die europäische Kultur besonders durch den Einfluß des Griechentums und Römertums gefärbt wird, wirkt von diesen drei Seelengliedern besonders die Verstandes- und Gemütsseele. Daher tritt uns alles, was da der Mensch im Strom des geschichtlichen Werdens und auch im äußeren Leben, im sozialen und wirtschaftlichen Leben vollbringt, so entgegen, wie wenn sein Verstand, sein Gemüt instinktiv wirkten, wie wenn er unmittelbar die äußere Welt mit Leib und mit Geist gleich stark ergriffe. Der Mensch hat in dieser

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Zeit ein Gleichgewicht zwischen Leib und Geist, und der Geist selber wirkt instinktiv. Das wird anders bei dem großen Umschwung um das fünfzehnte Jahrhundert herum. Da tritt das Selbstbewußtsein, das Erfühlen, das innere Wahr­nehmen der Persönlichkeit des Menschen auf. Da wird die Bewußtseinsseele besonders stark, da hat der Mensch den Verstand nicht mehr instinktiv, da muß er überall reflek­tieren. Da fängt sich die Individualität zu bilden an. Da fühlt er nicht mehr instinktiv, indem er einem anderen Menschen entgegentritt: Du mußt dich so und so zu ihm verhalten. Da überlegt er, da wendet er sich an das Innere seiner Persönlichkeit. So daß wir sagen können: Die ganze geschichtliche Struktur seit dem fünfzehnten Jahrhundert über die Erde hin wird dadurch charakterisiert sein, daß seit jener Zeit die Bewußtseinsseele des Menschen wirkt, während vorher die mehr instinktiv geartete Verstandes-oder Gemütsseele gewirkt hat. Man kann nicht das romi­sche Recht, nichts, was vom Altertum herkommt, richtig verstehen, wenn man nicht diesen Unterschied ins Auge faßt zwischen dem instinktiven Verstand, dem instinktiven, impulsiven Gemüt, und demjenigen, was intellektualistisch, was reflektiv in der neueren Zeit wirkt.

Es zeigt sich, daß dasjenige, was Lamprecht bis zum fünf­zehnten Jahrhundert sucht, gerade die, ich möchte sagen, im Naturgrunde der deutschen Seele vor sich gehende Vor­bereitung ist für dasjenige, was sich für die Bewußtseins-seele entwickeln soll. Man wird es wahrhaftig nicht als einen chauvinistischen Ausspruch, sondern als eine objek­tive Erkenntnis, wenn wieder andere Zeiten gekommen sind, erkennen, daß das, was jener Zeitraum, den ich be­grenzt habe mit dem achten vordiristlichen Jahrhundert, aus sich heraus entwickelt hat, wie in einem natürlichen Mutterschoße sich vorbereitet hat in der deutschen Volksseele.

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Sie hat in den kommenden Zeitraum hineingetragen, was vom Süden heraufgeströmt ist, indem gerade sie ver­anlagt war, weiterzubringen den Strom des geschichtlichen Werdens aus der Verstandes- oder Gemütsseele in die Be­wußtseinsseele und deren verschiedene Nuancierungen hin­ein.

Lernt man nun erkennen, was da eigentlich wirkt, dann leuchtet das hinein bis in die Einzelheiten. Dann kann man sich wiederum fragen: Was ist es zum Beispiel, was Wilson in seiner Geschichtsbetrachtung als das eigentliche Wesen des Amerikanertums schildert? Das ist eine andere Nuance der Bewußtseinsseele. Die westliche Nuance wird in ihrem Urphänomen, in ihrer Urcharakteristik erlebt hier in Mit­teleuropa. Hier wird wirklich die ringende Ichheit des Menschen erlebt, die sich zur Bewußtseinsseele ganz be­wußt verhält, die mit allen Kräften der Persönlichkeit durchdringen will dasjenige, was hier in voller Bewußtheit ins Leben eintreten will. Das erscheint in einer anderen Nuance, wo die Seele des Menschen wie besessen ist von sich selbst, in dem Amerikanertum. Es ist manchmal un­angenehm, in die Wahrheit hineinzuschauen. Aber gerade die katastrophalen Ereignisse unserer Zeit werden eine ge­wisse Objektivität notwendig machen, notwendig machen, daß man auch dasjenige in ungeschminkter Wahrheit hört, was die Menschen selbst, und nicht nur die Naturereignisse oder gleichgültige Tatsachen charakterisiert. Bis in den Cha­rakter des Geschichtsforschers Wilson hinein leuchtet das Licht, das die Geisteswissenschaft verbreiten kann in bezug auf das geschichtliche Werden der Menschheit.

Nur einzelnes konnte ich natürlich heute andeuten. Nur prinzipiell konnte ich zeigen, welche Richtung die Ge­schichtswissenschaft nehmen muß, wenn sie von der Gei­steswissenschaft in demselben Sinne befruchtet wird, wie

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ich das für die Naturwissenschaft heute vor acht Tagen zu zeigen versuchte. Dann erst, wenn die Geschichte so be­trachtet wird, wird man die Einsicht erlangen, wie der Mensch eigentlich zusammenhängt mit dem von ihm sonst nur geträumten Strom des in ihm wühlenden geschichtlichen Werdens. Dann wird sich aber zeigen, daß das, was auf imaginative Weise durch die symptomatische Geschichts­betrachtung bekannt wird, innerlich verwandt ist mit dem, was der Mensch als geschichtliches Wesen ist. Dann wird man einsehen, wie nicht der Verstand, wie nicht das ge­wöhnliche Bewußtsein, sondern wie das Unterbewußtsein, das traumhafte Gefühlsleben selber mit dem geschichtlichen Werden verknüpft ist. Die Imagination wird lehren, was nicht im Verstande, was nicht im Alltagsbewußtsein, was aber im Gemüte und in den Willensimpulsen der Menschen wirkt, indem sie im Strome des geschichtlichen Werdens darinnen stehen. Dann wird sich etwas anderes ergeben als der Glaube, die Geschichte könne dies oder jenes lehren. Würde sie so lehren können, wie man sich das gewöhnlich vorstellt und wie wir es heute als in so und so vielen Fällen irrend darstellen mußten, dann müßte man einen Zusam­menhang finden können zwischen der Geschichte und die­sem gewöhnlichen Verstande. Der ist aber nicht da. Der Zusammenhang ist da mit dem, was in den Tiefen der Seele, im Unterbewußtsein wirkt. Der Mensch kann also zwar nicht für seinen gewöhnlichen Verstand aus der Geschichte lernen, aber aus der wahren Geschichte, wenn sie immer mehr ausgestaltet wird durch die Anschauung des Geistes in der Geschichte selbst, werden sich die geschichtlichen Im­pulse in das Empfinden, in das Gefühl des Menschen hin­einleben. Er wird nicht in äußerlicher Weise sagen können, die Geschichte lehre dies oder jenes, aber, wenn er vor einer Tatsache steht, wenn er zum Handeln, zum richtigen Empfinden

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gegenüber einer Tatsache innerhalb des sozialen Lebens aufgerufen wird, dann wird ihn sein Gefühl, sein Empfinden richtig leiten. Dann wird nicht sein Verstand, es wird seine ganze Seele von einer solchen Geschichts­betrachtung belehrt werden.

Damit lassen Sie mich diese Betrachtung kurz zusam­menfassen. Das fühlte Goethe, indem er aus seiner großen Intuition heraus ablehnte die gewöhnliche Einsicht, man könne von der Geschichte verstandesmäßig lernen. Er ahnte, daß Geschichte, wenn sie in ihrer Wahrheit erkannt wird, hineinwirkt in das Gemüt, in das Gefühl, daß sie wirkt, wenn Begeisterung in der richtigen Weise entsteht, wenn Antipathien oder Sympathien entstehen für das, was getan oder unterlassen werden soll in einer sozialen Situ­ation. Kurz, Goethe sagte aus der richtigen Ahnung des­jenigen, was Geisteswissenschaft an die Oberfläche bringen muß: das Beste, was wir von der Geschichte haben können, ist der Enthusiasmus, den sie erregt. Jawohl, nicht das ver­standesmäßige Urteil, sondern der Enthusiasmus, der ist es, den wir als Frucht aus der Geschichte empfinden können, wenn wir das, was wirklich geschichtliches Werden ist, zu beobachten, zu erkennen vermögen.

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DIE OFFENBARUNGEN DES UNBEWUSSTEN VOM GEISTESWISSENSCHAFTLICHEN GESICHTSPUNKT Berlin, 21. März 1918

Erkenntnisgewinn über diejenigen Dinge des mensthlidien Lebens, welche in der hier vertretenen Geisteswissenschaft behandelt werden, wünscht eigentlich jeder, der bis zu einem gewissen Grade zum Erkennen erwacht ist und Einsicht gewonnen hat, welchen Dienst ein wahres Verständnis der Wirklichkeit dem menschlichen Leben leisten kann. Dagegen ist gerade die Art der Erkenntnisbestrebungen, welche innerhalb dieser Geisteswissenschaft gesucht wird, man­chem unbequem aus dem Grunde, weil sie immer wieder aus der Natur ihres Suchens heraus darauf hinweisen muß, daß die gewöhnlichen und auch die in der gewöhnlichen Wissenschaft üblichen Erkenntniskräfte in dieses Gebiet des geistigen Lebens nicht hineinführen können; denn man fin­det es eben unbequem, sich an andere Erkenntnisquellen zu wenden. Zwar kann es gerade aus der Betrachtung die­ser Geisteswissenschaft jedem, wenn die Betrachtung vor­urteilslos ist, immer klarer werden, daß der gewöhnliche, gesunde Menschenverstand, der sich nur wirklich an das Leben heranmacht, in der Lage ist, alles dasjenige unmittel­bar einzusehen, was aus der Geisteswissenschaft dargeboten wird. Dennoch will man gerade dieser Geisteswissenschaft gegenüber diesen gesunden Menschenverstand und die ge­wöhnliche Lebenserfahrung nicht anwenden, weil man sich nicht an dasjenige wenden will, was erst durch die Entwickelung

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der menschlichen Seele herbeigeführt werden muß. Erforscht können die Tatsachen der Geisteswissen­schaft nur werden durch die hier schon geschilderten und weiter zu schildernden geisteswissenschaftlichen Methoden, aber wenn die Tatsachen erforscht sind, so können sie von dem gesunden Menschenverstand und der gewöhnlichen Lebenserfahrung durchaus erfaßt werden. Weil man aber aus einer inneren Erkenntnisbequemlichkeit eine gewisse Scheu hat, an diese Geisteswissenschaft heranzutreten, des­halb wenden sich auch diejenigen Persönlichkeiten der Ge­genwart, welche den Drang haben, hierüber etwas zu wis­sen, gern an andere Quellen, an solche Quellen, welche ihrer Natur nach näherliegen den Methoden, die man im Labo­ratorium, im Seziersaal oder sonst in der heute gebräuch­lichen Wissenschaft anwendet. So kommt es denn, daß diejenigen, die es nicht über sich bringen können, an die Geisteswissenschaft selbst heranzutreten, oftmals gerade die abnormen Erscheinungen des menschlichen Lebens heran­ziehen, die sich in dem Gebiet der äußeren Sinneswelt be­obachten lassen, um gewisse Einblicke in das geistige Leben zu gewinnen. Denn sie glauben, durch dasjenige, was sich am Menschen in abnormer Weise äußert, Aufschlüsse über gewisse Rätsel des Daseins gewinnen zu können. Aus die sem Grunde ist ja die Geisteswissenschaft in weitesten Krei­sen immer wiederum verwechselt worden mit solchen Bestrebungen, die an allerlei abnorme Grenzgebiete des menschlichen Lebens herangehen, um das Geistige zu er­kennen.

Deshalb ist es notwendig, daß ich auch in einem dieser Vorträge auf eine Betrachtung solcher Grenzgebiete ein­gehe, die zwar durch ihre Abnormität hinweisen auf ge­wisse Geheimnisse des Daseins, die aber nur durch die Geisteswissenschaft wirklich verstanden werden können,

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und die zu unzähligen Irrtümern über die wahre Wirk­lichkeit des geistigen Lebens führen müssen, wenn man sie ohne die Hilfe der Geisteswissenschaft betrachtet. Das Grenzgebiet, das ich heute ins Auge fassen will, ist ja in aller seiner Weite und aller seiner Interessantheit und Rät­selhaftigkeit jedem Menschen mehr oder weniger bekannt, da es hinweist auf gewisse Zusammenhänge des äußeren Lebens mit den verborgenen Untergründen dieses Daseins. Ich meine das Traumleben des Menschen. Ausgehend von diesem Traumleben wird es mir dann obliegen, auch andere Grenzgebiete des menschlichen Daseins heute zu betrach­ten, nämlich die Erscheinungen, durch welche im abnormen Erleben der Glaube entstehen könnte, daß man durch sie irgendwie den Untergründen des Lebens besonders nahe stände, die Erscheinungen der Halluzination, die Erschei­nungen des visionären Lebens, und was damit verwandt ist, die Erscheinungen des Somnambulismus, der Medium-schaft, soweit es im Rahmen eines kurzen Vortrages ge­schehen kann.

Wer vom geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkt aus über diese Grenzgebiete des menschlichen Lebens sich Aufschluß verschaffen will, der hat nötig, daß er gerade diejenigen Eigentümlichkeiten wirklicher Geistesforschung ins Auge faßt, welche irgendwie darüber Licht verbreiten können. Daher möchte ich aus dem Umfang dessen, was ich von verschiedenen Gesichtspunkten her in den bisherigen Vor­trägen schon charakterisiert habe, einiges herausgreifen, was dann geeignet sein kann, eine Grundlage abzugeben für die Besprechung der eben genannten Erscheinungen. Geistesforschung muß begründet sein auf einer wirklichen Entfaltung von Kräften der menschlichen Seele, die im ge­wöhnlichen Bewußtsein und auch in demjenigen Bewußt­sein, mit dem die gewöhnliche Wissenschaft arbeitet, verborgen

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sind. Ich habe darauf hingewiesen, daß die mensch­liche Seele in der Lage ist, durch gewisse Übungen, gewisse Veranstaltungen rein seelischer Art, die gar nicht mit irgend etwas Leiblichem zu tun haben, in ihr sonst schlummernde Kräfte aus sich herauszuholen, so daß sie sich dadurch in die Möglichkeit versetzt, hineinzuschauen in das wirkliche geistige Leben. Charakterisieren muß ich heute das, was vor allen Dingen Vorbedingung für die menschliche Seele ist, um in einer solchen übersinnlichen Erkenntnis sich von dem Leiblichen unabhängig zu machen. Da ist vor allem notwendig, daß man dasjenige berücksichtigt, was ich in einem früheren Vortrage schon auseinandergesetzt habe und heute kurz wiederholen will.

Ich habe gesagt, daß allerdings die Art, sich zur geistigen Wirklichkeit zu stellen, eine andere sein muß als diejenige, wie man sich zur äußeren physisch-sinnlichen Wirklichkeit stellt. Da ist vor allem notwendig zu berücksichtigen, daß dasjenige, was in der geistigen Welt erfahren wird von der leibfreien Seele, nicht unmittelbar so, wie es erfahren wird, wie eine gewöhnliche Vorstellung übergehen kann in das menschliche Erinnerungsvermögen. Dasjenige, was man im Geiste erfährt, das muß immer wieder von neuem erfahren werden, so wie man einer äußeren physischen Wirklichkeit, wenn man sich nicht bloß an sie erinnern, sondern sie vor sich haben will, immer wieder von neuem gegenübertreten muß. Wer glaubt, wirkliche geistige Erfahrung mit solchen Vorstellungen zu haben, an die er sich erinnern kann wie an gewöhnliche Vorstellungen des alltäglichen Lebens, der kennt nicht das wirklich Geistige. Wenn man sich, wie das selbstverständlich möglich ist, doch später erinnert an gei­stige Erlebnisse, so rührt das davon her, daß man in der Lage ist, solche Erlebnisse in das gewöhnliche Bewußtsein hineinbringen zu können, wie man die Anschauungen einer

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äußeren physischen Wirklichkeit hineinbringen kann. Dann kann man sich an die Vorstellungen erinnern. Aber man muß unterscheiden lernen zwischen diesem Erinnern an die selbst gebildeten Vorstellungen und dem unmittelbaren Er­leben eines geistigen Vorganges, dem unmittelbaren einer geistigen Wesenheit Gegenüber-Stehen. Das also ist ein be­sonderes Charakteristikum des leibfreien Erlebens, daß dieses Erleben nicht unmittelbar in das Gedächtnis eingreift.

Ein anderes Charakteristikum - ein auch schon von mir hier erwähntes - ist, daß der Mensch sonst, wenn er sich im Leben übt, um irgend etwas zu können, durch die fortschrei­tenden Übungen immer mehr in die Lage kommt, leichter und geschickter das, was er übt, zu vollbringen. Beim gei­stigen Erkennen ist sonderbarerweise das Umgekehrte der Fall. Je öfter man ein gleiches geistiges Erleben hat, desto schwieriger wird es der Seele, sich in eine solche Lage zu versetzen, um dieses geistige Erlebnis gerade so wieder zu haben. Man muß auch die Methode kennenlernen, durch die ein geistiges Erlebnis wiederholt gemacht werden kann, weil es auf dieselbe Art sich nicht erneuern läßt.

Das dritte, was ich erwähnt habe, ist, daß die eigent­lichen geistigen Erlebnisse so schnell vor der Seele vorüber­huschen, daß man Geistesgegenwart braucht, um sie fest­zuhalten. Sonst huscht das Ereignis so schnell vorüber, daß es schon vorbei ist, wenn man nur die Aufmerksamkeit darauf lenkt. Ich sagte, man müsse sich üben, solche Lagen des Lebens zu beherrschen, wo man nicht lange herumtrödeln und überlegen kann, ob man sich zu dem oder jenem entschließt, sondern wo eine Entschließung rasch notwen­dig ist, wo man rasch zugreifen muß und sicher zugreifen muß. Solche Geistesgegenwart ist notwendig, um geistige Erlebnisse wirklich in den Bereich der Aufmerksamkeit hineinbringen zu können. Ich erwähne diese Eigentümlichkeiten

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des geistigen Erlebens aus dem Grunde, weil sie schon zeigen, wie sehr das Erleben im Geiste verschieden ist von dem Erleben in der äußeren physischen Sinnenwelt und wie wenig es daher eigentlich gerechtfertigt ist, wenn immer wiederum von Nichtkennern behauptet wird, daß es nur die aus der äußeren Sinnenwelt gewonnenen Ideen und Begriffe sind, die der Geistesforscher als Reminiszenz hineinträgt in irgendeine von ihm geträumte geistige Welt. Wer von der Eigentümlichkeit dieser geistigen Welt wirk­lich etwas weiß, der weiß auch, daß sie sich so unterscheidet von der gewöhnlichen Sinnenwelt, daß aus ihr nichts hineingetragen werden kann, sondern daß die Seele eben die Entwickelung besonderer Fähigkeiten braucht, um als Geist einem Geistigen gegenübertreten zu können.

Aber auch sonst sind gewisse Dinge notwendig, die in der Seele desjenigen, der so geistig forschen will, wie es hier gemeint ist, erfüllt werden müssen. Die erste Bedingung ist die, daß die Seele möglichst wenig ausgesetzt ist jener Eigentümlichkeit, die man mit Passivität des Seelenlebens bezeichnen kann. Wer es besonders liebt, sich dem Leben traumhaft hinzugeben, sich passiv zu machen, wie man es nennt, um in einer gewissen traumhaften mystischen Stim­mung die Offenbarungen der geistigen Wirklichkeit in sich hineinfließen zu lassen, der ist wenig geeignet, wirklich in die geistige Welt hineinzukommen. Denn das muß schon festgestellt werden: Auf dem Gebiete des eigentlichen gei­stigen Lebens gibt es der Herr den Seinen nicht im Schlafe! Im Gegenteil, dasjenige, was besonders geeignet macht, in die wirkliche geistige Welt einzudringen, das ist Regsam­keit des Geistes, das ist Aktivität des Geistes, das ist ein gewisser Eifer in dem Verfolgen wirklicher Gedanken, in dem Sichüben an Herstellung von Verbindungen entfernt liegender Gedanken, das ist eine gewisse Regsamkeit in

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schnellem Ergreifen von Gedankenzusammenhängen, das ist eine gewisse Liebe zur inneren geistigen Aktivität. Zwi­schen einer medialen Veranlagung und der Veranlagung für wirkliches geistiges Erkennen ist ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht. Das ist die eine Bedingung, die besonders erfüllt werden muß, wenn wirkliches geistiges Forschen möglich sein soll.

Eine andere Bedingung ist die, daß die Seele eines wirk­lichen Geistesforschers möglichst wenig zugänglich sein darf für Suggerierbarkeit, dafür, sich irgend etwas sugge­rieren zu lassen, daß sie möglichst skeptisch, möglichst kri­tisch gegenüberstehen muß auch den Dingen des äußeren Lebens. Wer sich am liebsten die Dinge, die er im Leben tun soll, von anderen sagen läßt, wer es am liebsten hat, wenn er nicht selber aus seinem freien Urteilsvermögen und aus seiner freien Willensentschließung heraus sich sein Le­ben einrichtet, der taugt nicht viel zum Geistesforscher. Wer weiß, welch große Rolle auch im normalen alltäglichen Leben Suggerierbarkeit spielt, der weiß auch, wie schwer anzukämpfen ist gegen diese allgemein übliche Suggerier­barkeit. Man bedenke nur, wieviel gerade im öffentlichen Leben sich die Menschen suggerieren lassen, wie wenig sie darauf aus sind, zu versuchen, sich in ihrer eigenen Seele die Bedingungen zu verschaffen für selbständiges Urteil und für die Einrichtung der Lebensverrichtungen aus den eigenen Willensimpulsen heraus. Den Menschen, welche eingehen auf die Geistesforschung, weil sie aus ihrem ge­sunden Menschenverstande heraus ein Verhältnis zur gei­stigen Welt gewinnen wollen, wird sehr häufig vorgewor­fen, daß sie blind an den Geistesforscher glauben. Es darf gesagt werden, solche blinden Anhänger kann der Geistesforscher, der wirklich versucht, durch schauendes Bewußt­sein in die geistige Welt einzudringen, sich am allerwenigsten

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wünschen. Und eine Gesellschaft von Menschen, die also einem solchen Geistesforscher anhingen, wäre die Kari­katur einer Gesellschaft, die geeignet wäre, um solche gei­stige Erkenntnis zu pflegen. Im Gegenteil, der wirkliche Geistesforscher muß es erleben und wird es mit Freude erleben, daß gerade diejenigen, die ihm nahetreten, über kurz oder lang auch ihm gegenüber zu einem selbständigen Urteil, zu einer gewissen inneren Freiheit kommen, und daß sie nicht durch blinde Anhängerschaft, durch Suggerierfähig­keit sich zu ihm halten, sondern durch die gemeinsamen Interessen gegenüber der geistigen Welt.

Noch eine besondere Eigentümlichkeit möchte ich heute erwähnen, die Licht werfen kann auf das Verhältnis der gei­stigen Wirklichkeit zur physischen Wirklichkeit, noch eine besondere Eigentümlichkeit im Verhalten der menschlichen Seele zu dieser geistigen Welt. Es wird ja sehr häufig gesagt, es seien Vorurteile, die der Geistesforscher aus der sinn­lichen Welt heraus mitbringt, und durch die er dann irgend­eine erträumte geistige Welt charakterisieren will. Ich habe schon in diesem Vortrage angedeutet: Tritt man wirklich in die geistige Welt ein, so kommt es immer anders. Man kann sich davon überzeugen, daß dasjenige, was einen in die geistige Welt hineinträgt, was einen in der geistigen Welt erfahren und erleben läßt, daß das sich immer anders herausstellt, als man vorher geglaubt hat. Gerade deshalb, weil es sich anders herausstellt, sieht man, daß man es mit einer Welt zu tun hat, die man sich erst dadurch erobert, daß man die Seele für sie geeignet macht, daß man nicht in eine erträumte Welt Reminiszenzen aus der physischen Welt hineinträgt. Aber dazu kommt etwas, was sehr para­dox klingt, was aber derjenige, der aus einer jahrzehnte­langen Erfahrung in bezug auf die Dinge der geistigen Welt spricht, wohl sagen kann. Dazu kommt, daß man noch so

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geschult sein kann im leibfreien Erkennen, daß man noch so geübt sein kann im Hineinschauen in die geistige Welt: Wenn man irgendein besonderes Wesen, einen besonderen Vorgang wiederum ins Auge faßt, insbesondere einen sol­chen Vorgang, der eine Beziehung der geistigen Welt zur äußeren physischen Wirklichkeit darstellt, so wird man sehr häufig die folgende Erfahrung machen: Man bekommt zunächst eine Art geistigen Erlebens, man glaubt eine Wahr­heit zu erkennen über irgend etwas in der geistigen Welt; man wird aber in der Regel finden, daß dieses erste Erleb­nis, das man hat, falsch ist. Daher eignet sich der Geistes-forscher jene Vorsicht an, die ihn dazu führt, schon voraus­zusetzen, daß das erste Erlebnis falsch ist. Indem er dann immer weiter und weiter schürft, stellt sich ihm heraus, warum er auf dem falschen Wege war, und in dem Ver­gleichen des späteren Richtigen mit dem vorherigen Fal­schen ergibt sich ihm etwas, wodurch er erst recht erkennt, worauf es ankommt. Daher wird der Geistesforscher in der Regel erst sehr lange, nachdem er über irgendein Gebiet Forschungen angestellt hat, seinen Mitmenschen die Ergeb­nisse mitteilen, weil er weiß, wie notwendig es ist, gerade auf dem Gebiete des geistigen Lebens das Wahre dadurch zu erkennen, daß man sich erst durch Täuschung und Irr­tum durcharbeiten muß. Diese Täuschung, dieser Irrtum, sie rühren davon her, daß wir ja beim Erforschen des gei­stigen Lebens ausgehen von der sinnlichen Welt. Da brin­gen wir unsere Urteilskräfte, die Art unseres Anschauens aus der sinnlichen Welt in die geistige Welt hinein. Zuerst sind wir immer geneigt, das, was wir so hineintragen in die geistige Welt, anzuwenden. Da kommen dann die schiefen, die Fehlurteile. Aber gerade dadurch, daß man genötigt ist, sich jedesmal aufs neue zu überzeugen, wie man sich anders verhalten muß gegenüber den geistigen als gegenüber

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den physischen Dingen, bemerkt man erst die ver­schiedenen intimen Eigentümlichkeiten des geistigen Er-lebens. So stellt sich - es könnte noch verschiedenes in dieser Beziehung angeführt werden - das geistige Erleben in einer gewissen Weise gegenüber dem gewöhnlichen all­täglichen Erleben allerdings wie etwas Paradoxes hin. Was aber gerade derjenige erkennt, der in die geistige Welt hineinschauen kann, das ist erstens, daß das Ewige, das Unvergängliche der menschlichen Seele sich im gewöhn­lichen Erleben, das durch den Leib vollzogen wird, für das Bewußtsein nicht ausdrücken kann, sich verbirgt, weil der Mensch hier im physischen Leben durch seine Leibesorgani­sation sich nur die Erkenntnis des Physischen verschaffen kann. Daher ist es so notwendig, daß der Geistesforscher streng betont, die Gewinnung von Erkenntnissen des Gei­stigen wird außerhalb des Leibes vollzogen. In dem Augen­blick, wo irgendwie der Leib sich beteiligt an der Gewin­nung solcher Erkenntnisse, wird diese Erkenntnis verfälscht, sie wird sogar verfälscht, wenn sich die Erinnerung, die nur im Leib aufbewahrt wird, daran beteiligt.

Ein anderes, das sich ergibt durch ein unmittelbares Er­greifen des geistigen Lebens, ist dieses, daß man weiß, derjenige, der drinnen steht im geistigen Leben, schließt sich wiederum durchaus von der geistigen Welt, der das Ewige der Menschenseele angehört, aus, wenn er irgendwie seinen freien Willen aufgibt und unter irgendeinem Zwang oder unter einem suggerierten Einfluß dasjenige, was er in der Seele hat, durch seinen Leib in Handlungen oder der­gleichen oder auch nur durch die Sprache zum Ausdruck kommen läßt, wenn nicht alles, was bei ihm durch den Leib zum Ausdruck kommt, durch den Willen vermittelt ist. So ist eine Grundbedingung für das Erleben der geistigen Welt die Anerkenntnis dessen, daß das Leibliche sich nicht

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beteiligen darf bei dieser Erkenntnis. Die andere Grund­bedingung ist die, daß der Mensch versuchen ,nuß, alles dasjenige, was er durch seinen Leib vollführt, aus seiner Urteilskraft, aus seinem freien Willensentschluß heraus folgen zu lassen.

Diese Bedingungen mußte ich vorausnehmen, weil sie uns die Grundlagen abgeben für die abnormen Gebiete des Seelenlebens, die wir nun zu betrachten haben. Wir sehen in dem wirklichen Geisterkennen diejenige Offenbarung des sonst unbewußt Bleibenden, welche den Menschen auf­klären kann über sein ewiges, über sein wirklich freies Wesen in der Seele, und wir können das, was also offenbart wird, gerade dadurch vergleichen mit dem, was durch die abnormen Erscheinungen des Seelenlebens zutage tritt. Noch nicht ganz unter die abnormen Erscheinungen kann man das rechnen, was in der auf- und abwogenden Trau­meswelt an das menschliche Bewußtsein mehr heranschlägt, als daß es wirklich herankommt. Diese Traumeswelt ist auch schon Gegenstand äußerer naturwissenschaftlicher und philosophischer Untersuchungen geworden, ohne daß man sagen kann, daß gerade die Methoden, die heute für die äußere Naturwissenschaft so glänzend dastehen, besonders geeignet wären, in dieses Grenzgebiet des menschlichen Le­bens einzudringen. Aber auch in bezug auf Grenzgebiete, wie wir sie heute noch erwähnen wollen, ist dasjenige, was so recht nur im Sinne der heutigen Naturwissenschaft den­ken will und sich ganz den Vorurteilen, die sich daraus ergeben, hingibt, wenig geeignet, in die Wahrheit der Sache einzudringen. Die heutige Menschheit hat ja zwar vielfach, obwohl sie erklärlicherweise sich für recht wenig autori­tätsgläubig hält, eine gewisse Hinneigung, alles auf Autori­tät hin unter gewissen Voraussetzungen anzunehmen. Wenn von jemand, der überall im öffentlichen Leben als ein großer

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Geist hingestellt wird, einmal ein dickes Buch auch in bezug auf die Erforschung abnormer Seelenerscheinungen herauskommt, dann finden sich so und soviele, die zwar nicht sonderlich viel verstehen von diesen Dingen, die aber dieses Buch loben, und unsere autoritätsfreie Gesellschaft findet dann selbstverständlich, daß dieses Buch etwas ist, worauf man bauen kann.

Unter den philosophischen Abhandlungen über das Traumleben möchte ich ein Buch hervorheben, das ein geist­voller deutscher Gelehrter, Johannes Volkelt, gegenwärtig Professor der Philosophie und Pädagogik in Leipzig, im Jahre 1875 über die Traumphantasie geschrieben hat, als er noch nicht Professor war. Dieses recht wertvolle Buch hängt sich ihm bis heute noch immer an, und ihm ist es wohl mit zuzuschreiben, wenn er auch heute noch nur Nebenprofessor ist. Der außerordentlich bedeutende schwäbische Asthetiker Friedrich Theodor Vischer hat eine sehr schöne Abhandlung über dieses Buch geschrieben. Allein die aka­demischen Vorurteile, die in den letzten Jahrzehnten zu einer gewissen Anschauung von sogenannter Wissenschaft­lichkeit geführt haben, sind schuld daran, daß das, was mit diesem Buche, wenn auch spärlich, inauguriert werden konnte, nicht aufgegriffen worden ist, sondern daß es wie­der verdeckt worden ist von den landläufigen Vorurteilen, die verhindern, in das Traumleben wirklich einzudringen.

Nun werde ich selbstverständlich im Rahmen eines kur­zen Vortrages nicht viel mehr als eine skizzenhafte Cha­rakteristik geben können, aber ich möchte doch auf einzel­nes so hinweisen, daß die Dinge sich geisteswissenschaftlich beleuchten lassen. Jeder kennt das Traumleben, dieses auf-und abwogende, aus dem Schlaf heraufkommende Vorstel­lungsleben des Menschen, und jeder weiß, welches die äußerlichen Eigentümlichkeiten des Traumlebens sind. Ich

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will nur einige davon eingehend charakterisieren. Auf be­sondere Veranlassung hin - das kann man dem Traumleben ansehen - tritt der Traum ein. Man hat es da zunächst zu tun mit sogenannten Sinnesreiz-Träumen. Man braucht sich nur zu erinnern, wie der Traum dadurch entstehen kann, daß man neben sich eine pendelnde Uhr hat. Unter besonderen Bedingungen werden einem die Pendelschläge zu Pferdegetrampel oder zu irgend etwas anderem. Man bildet also im Traum gewisse Sinnbilder aus. Ich möchte das besonders hervorheben; denn auf zahlreiche Eindrücke der äußeren Sinne gründet sich das Traumerleben. Aber das­jenige, was da auf die äußeren Sinne wirkt, wirkt niemals im Traume so, wie es wirkt im gewöhnlichen wachen Tagesleben. Es findet immer eine Umgestaltung des Sinnesein­drucks im symbolisierenden, im sinnbildlichen Sinne statt, in etwas, was eine Umgestaltung durch das Seelenleben ist.

Es ist ja bekannt, wie solche Träume immer wiederum vorkommen. Johannes Volkelt erzählt in seinem genann­ten Buche: Ein Schullehrer unterrichtet im Traum; er er­wartet von einem Schüler, daß er auf eine Frage, die der Lehrer gestellt hat, mit «ja» antwortet. Aber der Schü­ler antwortet nicht «ja», sondern «jo», was manchmal für den Lehrer recht störend und unangenehm sein kann. Der Lehrer erneut die Frage, und da antwortet der Schüler nicht bloß «jo», sondern «i-o», und dann fängt die ganze Klasse zu schreien an: «Feurio». Der Lehrer wacht auf, und drau­ßen fährt die Feuerwache vorbei, und man schreit «Feurio». Dieser Eindruck auf die Sinne hat sich in dieser ganzen komplizierten Traumeshandlung symbolisiert.

Ein anderes Beispiel, das auch von Volkelt stammt - wo es sich machen läßt, werde ich nichts anderes, als was schon in der Literatur verzeichnet ist, anführen - ist dieses: Eine schwäbische Frau besucht ihre Schwester in einer größeren

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Stadt. Die Schwester ist die Frau eines Pfarrers. Die beiden Schwestern hören sich die Predigt an, und siehe da, der Pfarrer fängt zunächst ganz würdig an. Dann aber bekommt er plötzlich etwas wie Flügel und fängt an zu krähen wie ein Hahn. Da sagt die eine Schwester zu der andern: «Das ist aber eine besondere Art des Predigens.» Die Schwester antwortet ihr im Traum: «Ja, so hat es das Konsistorium verfügt; jetzt muß so gepredigt werden.» Darauf wacht die Frau auf, und draußen hört sie einen Hahn schreien. Also, der Hahnschrei, der selbstverständ­lich sonst als trockener, nüchterner Hahnschrei zum Be­wußtsein gekommen wäre, ist so in der Seele umgewandelt worden. Alles andere hat sich um den Hahnschrei herum-gruppiert. Sehen Sie, das sind Sinnesreiz-Träume.

Aber auch aus inneren Reizen können sich die Träume bilden, und wiederum sind es nicht die Reize als solche, die zum Vorschein kommen, sondern das durch die Seele sym­bolisierte, umgestaltete Sinnesbild. Jemand träumt zum Beispiel von einem heißen, kochenden Ofen: er wacht auf mit einem pochenden Herzen. Flugträume, die sehr häufig sind, rühren in der Regel her von irgendwelchen abnormen Erlebnissen, die sich während des Schlafes in der Lunge abspielen und so weiter. Solche Beispiele könnten ja zu Hunderten angeführt werden. Die reine Aufzählung der verschiedenen Kategorien des Traumes könnte noch lange fortgesetzt werden. Obwohl wir auf das Tiefere der Sache nicht vollständig eingehen können, möchte ich noch einiges erwähnen.

Man kann nicht finden, daß die Literatur besonders glücklich war im Auffinden von solchen Elementen in der menschlichen Seele, die zeigen könnten, was da eigentlich in ihr vorgeht, indem sie solche Umgestaltungen der äuße­ren Veranlassung zum Traume vornimmt. Aber diese Frage

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muß einen doch vor allen Dingen interessieren: Was ist es eigentlich in der Seele, was auf eine äußere Veranlassung hin, oder auch auf eine Erinnerungsvorstellung hin, die aus dem Dunkel des Schlafes heraufkommt, solche anders­artigen Vorstellungen anknüpfen läßt? Darauf ist zu sagen: Das, was im gewöhnlichen Tagesleben den Menschen dazu bringt, aus dessen Erfahrungen heraus eine Vorstellung an die andere zu gliedern, das ist es nicht, was eigentlich im Traume wirkt. Ich könnte Ihnen Hunderte von Beispielen aufzählen, die Ihnen beweisen würden, was ich nur ver­gleichsweise durch ein Beispiel belegen kann. Nehmen Sie das folgende Beispiel: Eine Frau träumt, sie habe für ihren Mann zu kochen, manchmal eine schwierige Aufgabe für eine Hausfrau. Nun, sie träumt, sie habe ihm schon alles Mögliche vorgeschlagen. Erster Vorschlag: «Mag ich nicht!» Zweiter Vorschlag: «Mag ich auch nicht!» Dritter Vor­schlag: «Mag ich erst recht nicht! Damit kannst du mir zu Hause bleiben!» Und so weiter. Die Frau ist darüber schon ganz unglücklich im Traume. Da fällt ihr ein: «Wir haben ja auf dem Boden eine gesalzene Großmutter; sie ist zwar etwas zäh, aber sollte ich sie dir nicht morgen kochen?» Auch ein Traum, den Sie in der Literatur finden können. Wer mit Träumen bekannt ist, wird nicht zweifeln, daß der Traum sich so abgespielt hat. Ich könnte dieses Beispiel durch hunderte gleichgeartete vermehren. Sie werden sich unmittelbar sagen müssen: Die Stimmung des Ängstlichen liegt zugrunde. Irgend etwas liegt vor, was der Frau eine ängstliche Stimmung gemacht hat. Diese Stimmung, die gar nichts zu tun zu haben braucht mit der Vorstellung des Kochens und dergleichen, setzt sich in eine solche Traum-vorstellung um. Dies ist nur eine Umkleidung der ängst­lichen Stimmung. Diese aber hat die Seele während des Schlafes nötig, um aus der Angst herauszukommen, sie

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sucht sich über die Angst hinwegzuhelfen, und gerade so, wie Sie über die gesalzene Großmutter gelacht haben, so erfindet die Seele diese zu dem übrigen Trauminhalt in grotesk-komischer Weise sich hinzugesellende Vorstellung, um innerlich die Ängstlichkeit zu überwinden, um in eine ironisierende, humorvolle Stimmung zu kommen. Das ist es, was Sie in den Träumen immer verfolgen können: ein Oszillieren, ein Hin- und Herschwingen von Stimmungen und - wie die Uhr hin- und herpendelt - ein Hin- und Herpendeln zwischen Spannung und Entspannung, zwi­schen Ängstlichkeit und Lustigkeit und so weiter. Immer ist für die Gliederung der Traumvorstellungen maßgebend das, was im Gefühlsleben des Menschen das hervorragend Be­deutsame ist. Nach diesem Gesichtspunkt: Gewisse Span­nungen in der Seele zu überwinden, wird der Traum gestaltet. Aus dieser Notwendigkeit, Spannung in Ent­spannung, Entspannung in Spannung überzuführen, wird erst dasjenige, was als Vorstellung gar nicht besonders be­deutsam ist, geboren. Die Seele zaubert sich etwas vor, was ein Imaginatives sein kann für das, worauf es eigentlich ankommt.

Wenn man das Traumleben in seiner ganzen Breite ver­folgt, so findet man zwei Eigentümlichkeiten, die besonders ins Auge gefaßt werden müssen. Die eine ist, daß im Traumleben dasjenige schweigt, was wir im Leben gewöhn­lich als Logik bezeichnen. Der Traum hat eine ganz andere Regel für die Art, wie er von einem zum andern Gegen­stand übergeht, als die gewöhnliche Logik. Nun werden Sie selbstverständlich einwenden können: Ja, aber manche Träume sind doch so, daß der Traum ganz logisch verläuft. Das ist aber nur scheinbar. Wer diese Dinge wirklich intim beobachten kann, weiß, daß es nur scheinbar ist. Wenn Sie Traumvorstellungen haben, die aufeinanderfolgen in logischer

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Verkettung, so rührt das nicht davon her, daß Sie während des Traumes selbst diese logische Verkettung her­beiführen, sondern es rührt davon her, daß Sie Vorstel­lungen aneinanderreihen, die Sie schon einmal im Leben logisch zusammengegliedert haben, oder die sonst durch irgend etwas im Leben logisch zusammenhängen. Da ist die Logik Reminiszenz, da ist die Logik in den Traum hineingetragen, die Traumhandlung selbst geht nicht nach den Regeln der gewöhnlichen Logik vor sich. Man kann immer sehen, daß ein tieferes, intimeres Element der Seele der Traumhandlung zugrunde liegt. Jemand träumt zum Bei­spiel - ich erzähle einen wirklichen Traum -, er muß zu einem Bekannten gehen, und er weiß, daß dieser Bekannte ihn über irgend etwas ausschelten wird. Er träumt, daß er tatsächlich zur Tür der Wohnung dieses Bekannten kommt. In dem Augenblick ist aber die ganze Situation verwandelt. Als er durch die Tür des Bekannten eintritt, tritt er in einen Keller ein, in dem wilde Tiere sind, die ihn auffressen wol­len. Da fällt ihm ein, daß er doch zu Hause eine ganze Reihe von Stecknadeln hat, und diese Stecknadeln spritzen Säfte aus, durch die diese wilden Tiere getötet werden können. Die Stecknadeln sind auch schon da, und er schießt mit ihnen auf die wilden Tiere. Da verwandeln sich diese in lauter junge Hunde, die er nun sanft streicheln will. -Sie sehen aus diesem Traume, der einen typischen Traumverlauf darstellt, wie es sich wieder darum handelt, die Spannung, die hervorgerufen wird durch eine Ängstlich­keit, hervorgerufen gegenüber dem Freunde, die sich in den wilden Tieren ausdrückt, zu entspannen dadurch, daß die Seele sich vorzaubert die Verwandlung der wilden, grausamen Tiere in liebliche junge Hunde. Sie sehen, das ist etwas anderes als das Logische. Allerdings, ein wichtiger Ein­wand ist da. Wer das Traumleben kennt, weiß, daß folgendes

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schon oft vorgekommen ist: Man hat sich angestrengt, um die Lösung irgendeiner Aufgabe zu finden, bevor man zu Bett gegangen ist, man konnte sie nicht finden; dann träu­men Sie und finden im Traum die Lösung der Aufgabe, so daß Sie sie am Morgen wirklich niederschreiben können. Das wird mit Recht erzählt. Wer solche Dinge nicht richtig untersuchen kann, wird sie immer mißverstehen. Man soll nur ja nicht glauben, daß man die wirkliche Lösung im Traum gefunden hat. Was man wirklich im Traum gefun­den hat, woran man glaubt, sich zu erinnern, das ist irgend etwas ganz anderes. Das ist etwas, was sehr wenig logisch abzulaufen braucht, was aber jene wohltätige Wirkung im menschlichen Gemüte hat, die eintritt, wenn eine Spannung in eine Entspannung überführt wird. Vor dem Einschlafen war der Mensch eben in einer solchen Spannung seines Ge­mütes, daß er die Aufgabe nicht lösen konnte. Er brütete und brütete, es fehlte ihm etwas. Er wurde gesund durch die Art, wie er träumte, und dadurch kam es, daß er beim Aufwachen die Aufgabe lösen kann.

Auch das moralische Urteil schweigt im Traum. Man weiß ja, daß man im Traum allerlei Verbrechen und son­stige Dinge begeht, deren man sich im wachen Tagesleben schämen würde. Man kann einwenden, daß ja gerade im Traum das Gewissen sich regt, ja, daß das Gewissen im Traum sich oftmals in einer ganz merkwürdigen Weise gel­tend macht. Man braucht sich nur an die in Shakespeares Werken vorkommenden Träume zu erinnern, dann wird man finden - Dichter tun solche Dinge in der Regel mit Recht -, daß hingewiesen werden kann auf den Schein, als ob gerade durch den Traum moralische Vorwürfe sich be­sonders zur Erscheinung bringen. Wiederum nur eine un­genaue Beobachtung. Vielmehr ist durchaus richtig, daß wir im Traum herausgerissen sind aus der gewöhnlichen

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moralischen Beurteilung, die wir im äußeren Leben im Zu­sammenhang mit den Menschen erwerben müssen und uns aneignen können. Wenn der Traum uns dennoch scheinbar gerade moralische Vorurteile und moralische Vorwürfe bildlich anschaulich vor die Seele führt, so rührt das nicht davon her, daß wir als Träumende moralisch urteilen, son­dern es rührt davon her, daß wir, wenn wir uns moralisch verhalten, eine gewisse befriedigende Stimmung in der Seele haben, daß wir befriedigt gestimmt sind über etwas, wozu wir moralisch «ja» sagen können. Dieses Befriedigt-sein, nicht das moralische Urteil, das ist es, was im Traum sich uns vor die Seele stellt. Ebensowenig wie Logik ist moralisches Urteil im Traum vorhanden. Es ist eben not­wendig, wenn man wirklich Wahrheit sucht, viel genauer und intimer zu Werke zu gehen, als man es gewöhnlich im Leben und auch in der Wissenschaft versucht. Den groben Methoden, die man gewöhnlich anwendet, ergeben sich solche Dinge nicht recht. Es ist also außerordentlich wichtig, daß weder die Logik noch das moralische Urteil in die Traumwelt Einlaß finden. Wir werden gleich hören, warum das der Fall ist.

Nun möchte ich noch eine Eigentümlichkeit des Traumes hervorheben, welche schon, wenn der Traum nur äußerlich betrachtet wird, darauf hinweisen kann, welche Stellung die Seele zur Welt hat, indem sie träumt. Allerdings kann diese Stellung sich vollständig nur aufklären, wenn sie geisteswissenschaftlich betrachtet wird. Derjenige, welcher den schlafenden Menschen betrachtet, wird sich schon äußerlich sagen können: Der Mensch ist im Schlafe ab­geschlossen sowohl von dem, was aus seinem eigenen Leben her erlebt werden kann, wie von demjenigen, was aus der Umgebung erlebt werden kann. Nun, Geisteswissenschaft zeigt zwar, daß der Mensch, indem er einschläft, als geistigseelisches

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Wesen wirklich in die geistige Welt hineingeht, und im Aufwachen sich wiederum mit seinem Leibe ver­bindet. Allein, man braucht darauf nicht einmal Rücksicht zu nehmen, sondern man braucht sich nur dasjenige, was auch dem gewöhnlichen Bewußtsein vorliegen kann, klar vor die Seele zu führen. Der Mensch ist abgeschlossen von seiner Umgebung, und auch dasjenige, was aus seinem Leibe dem gewöhnlichen Bewußtsein bewußt wird, schweigt wäh­rend des Schlafes. Im Traum wogen zwar Bilder auf und ab, aber ihr Verhältnis zur Außenwelt ändert sich nicht; die Bilder werden gerade so geformt, daß dieses Verhältnis so bleibt. Das Verhältnis zur Außenwelt, dasjenige, was als nüchterne Umgebung, als nüchterne Konturierung der äußeren Eindrücke an den Menschen herantritt, indem er seine Sinne wachend der Außenwelt öffnet, das tritt in den Traum nicht hinein. Eindrücke können zwar, wie wir ge­sehen haben, auf den Menschen gemacht werden. Allein, gerade das, was charakteristisch ist für das, was die Sinne aus diesen Eindrücken machen, das bleibt weg. Das See­lische setzt ein Sinnbild, ein Symbol an die Stelle des ge­wöhnlichen nüchternen Eindrucks. So ändert sich nicht das Verhältnis zur Außenwelt. Das könnte an unzähligen Fäl­len erhärtet werden. Der Mensch bleibt im normalen Traum von der Außenwelt so abgeschlossen, wie er es auch im normalen Schlafe ist, und ebenso von seiner eigenen Leib­lichkeit. Auch dasjenige, was von der eigenen Leiblichkeit aufsteigt, kommt nicht in unmittelbarer Weise zum Aus­druck, wie wenn man in normaler Art mit seinem Leibe verbunden ist. Wenn man zum Beispiel durch eine zu warme Decke zu warme Füße bekommt, so würde man im ge­wöhnlichen wachen Zustande spüren, daß man die Füße zu warm bekommt. Das spürt man im Traume nicht so, sondern man glaubt, daß man zum Beispiel über glühende

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Kohlen oder dergleichen geht. Wiederum ist es die Um­wandlung, die die Seele leistet, worauf es ankommt.

So sehr man sich auch bemühen wird, bloß mit den Mit­teln und Quellen der äußeren Wissenschaft an den Traum heranzukommen, man kann es nicht, aus dem Grunde, weil man den Traum mit nichts vergleichen kann. Der Traum tritt tatsächlich wie eine Art Wunder in die gewöhnliche Welt hinein, man kann ihn nicht mit irgend etwas anderem vergleichen. Das ist das Wesentliche. In die Möglichkeit, den Traum mit etwas anderem zu vergleichen, kommt erst der Geistesforscher. Warum? Er kommt dazu, weil er selbst kennenlernt, was sich ihm ergibt, wenn er in die geistige Welt eintreten kann. Da nimmt er wahr, daß er nicht mehr mit der gewöhnlichen Logik auskommt - wir haben es auch heute wieder erwähnt -, die für die Erklärung des äußeren Sinneslebens gilt. Derjenige, der in die geistige Welt aufsteigt, muß das freie Vermögen bekommen, die Erlebnisse der geistigen Welt in Sinnbildern auszudrücken. Daher habe ich auch im letzten Vortrage die erste Stufe des Erkennens der geistigen Welt die «imaginative Er­kenntnis» genannt. Man weiß dann allerdings, daß die Sinnbilder nicht die Wirklichkeit sind, aber man weiß, daß man durch die Sinnbilder die Wirklichkeit zum Ausdruck bringt. Diese Sinnbilder müssen natürlich nach den sich aus der geistigen Welt ergebenden wahren Gesetzen geformt sein, sie dürfen nicht durch willkürliche Phantasie entstehen. Der Geistesforscher lernt erkennen, wie man - abgesehen von der physisch-sinnlichen Welt - Vorstellungen anein­anderbindet, lernt erkennen, wie man Sinnbilder schafft. Diese erste Stufe des Erkennens der geistigen Welt kann man dann vergleichen mit der unbewußten Tätigkeit, die in den Traumhandlungen vollzogen wird. Da ergibt sich ein Vergleich, und außerdem ergibt sich noch etwas anderes.

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Wer wirklich weiterkommt in der Erkenntnis der gei­stigen Welt, der erlebt nach und nach, daß sich auch seine Träume umgestalten. Sie werden regelmäßiger und regel­mäßiger, aus den verworrenen Dingen, wie der eingesal­zenen Großmutter und dergleichen, werden allmählich Dinge, welche sinnvoll etwas zum Ausdruck bringen, das ganze Traumleben wird sinnvoll durchsetzt. So lernt der Geistesforscher die eigentümliche Artverwandtschaft ken­nen zwischen dem Traumleben und dem Leben, das er zum Behuf der Geistesforschung suchen muß. Dadurch kommt er in die Lage, wirklich sagen zu können, was eigentlich von der Seele träumt, was in Wirklichkeit träumend ist. Denn er lernt noch etwas erkennen zu dem, was ich eben angeführt habe, nämlich wie jene Seelenverfassung ist, in der man sich befindet, während man imaginative Vorstel­lungen hat. Man weiß, man steht da mit der Seele in der geistigen Welt drinnen. Wenn man diese Seelenverfassung, diese besondere Stimmung des Seelenlebens kennt, kann man auch diese Stimmung, diese Verfassung vergleichen mit dem, wie die Seele im Traume gestimmt ist, wie die Seele im Traume in einer bestimmten Verfassung lebt. Aus dieser gewissenhaften Vergleichung stellt sich in der Tat heraus, daß dasjenige, was in der Seele träumt, was wirk­lich in der Seele tätig ist, während der Mensch die chaoti­schen Traumhandlungen abspielen läßt, der geistige, ewige Wesenskern des Menschen ist. Der Mensch ist als Träumen­der in der Welt, der er als geistig-seelisches Wesen angehört.

Das ist das eine Resultat. Das andere möchte ich mit einem persönlichen Erlebnis charakterisieren. Als ich vor nicht langer Zeit in Zürich einen Vortrag über das Traumleben und damit verwandte Gebiete hielt, da hörte ich dann, daß verschiedene Zuhörer, die aus der gegenwärtigen wissen­schaftlichen Disziplin, die man die analytische Psychologie

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oder Psychoanalyse nennt, besonders klug geworden sein wollten, nach meinem Vortrage sagten: «Ja, dieser Mann ist noch in Vorurteilen befangen, über die wir in der Psychoanalyse längst hinaus sind. Er glaubt, das Traumleben als etwas Wirkliches nehmen zu sollen, während wir wissen, daß das Traumleben nur als symbolische Ausgestal­tung des Seelenlebens genommen werden darf.» Ich will mich auf Psychoanalyse hier nicht einlassen, sondern nur erwähnen, daß diese Klugheit nur auf einem grobklotzigen Mißverständnis beruht. Denn es wird dem wirklichen Gei­stesforscher gar nicht einfallen, dasjenige, was sich im Traume darbietet, so, wie es sich darbietet, als unmittelbar wirklich zu nehmen. Er nimmt nicht einmal den Traum in seinem Verlauf, wie ihn der Psychoanalytiker nimmt, un­mittelbar als symbolische Handlung, sondern ihm kommt es auf etwas ganz anderes an. Wer bekannt ist mit dem Traumleben, der weiß: Zehn Menschen und auch mehr können inhaltlich die verschiedensten Träume erzählen, und es kann ihnen doch derselbe Tatbestand zugrunde liegen. Der eine erzählt, er sei auf einen Berg hinaufgegan­gen, und sei dann oben von etwas besonders Freudigem überrascht worden, der andere erzählt, er sei durch einen dunklen Gang gegangen bis zu einer Tür, die habe sich dann unverhofft geöffnet, ein Dritter erzählt etwas ande­res. Die Träume sehen sich in ihrem Verlauf äußerlich nicht im geringsten ähnlich, dennoch gehen sie auf ein ganz gleichgeartetes, wirkliches Erlebnis zurück, nämlich auf die­selbe Spannung und Entspannung, die sich einmal in diesen Bildern, das andere Mal in jenen Bildern symbolisiert. Also nicht auf die Wirklichkeit des Traumes, nicht einmal, wie die Psychoanalytiker meinen, auf die Symbole kommt es an, sondern auf die innerliche Dramatik des Traumes. Man muß imstande sein, aus den bedeutungslosen Bildern in

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ihrer Aufeinanderfolge diese innere Dramatik zu erkennen, die Wirklichkeit, in der die Seele mit ihrem geistig-seeli­schen Wesenskern lebt, indem sie träumt. Diese Wirklich­keit ist eine ganz andere als das, was sich in den Traumbildern zum Ausdruck bringt. Darauf kommt es an. So weist schon der Traum tief hinunter in die unterbewußten und unbewußten Untergründe der Seele. Aber dasjenige, was er ausgestaltet, ist nur eine Verkleidung dessen, was eigentlich, während geträumt wird, wirklich erlebt wird.

Ich muß immer wiederum betonen, daß es mir wahr­haftig nicht darauf ankommt, irgendwelche alten Vorurteile auf irgendeinem Gebiete zu erneuern. Es wird nicht ge­sprochen etwa aus solchen Voraussetzungen heraus, die entnommen sind aus allerlei mittelalterlicher oder orien­talischer sogenannter Geheimwissenschaft, wie sie bei Bla­vatsky und bei solchen, die aus allen möglichen dunklen Quellen schöpfen, vorhanden ist, sondern es liegt durchaus das Bewußtsein zugrunde, daß alles, was hier gesagt wird, aufrechterhalten werden kann gegenüber jedem naturwissenschaftlichen Urteil; wenn sich die Gelegenheit bieten sollte, so kann sie auch benutzt werden. Geisteswissenschaft wird vorgetragen mit vollem Bewußtsein davon, daß wir im naturwissenschaftlichen Zeitalter leben, mit voller Kenntnis dessen, was Naturwissenschaft über das Dasein und seine Rätsel zu sagen hat, aber auch in voller Kenntnis dessen, was sie nicht zu sagen hat über die Gebiete des geistigen Lebens.

Woher kommen nun die Bilder, die den Traumablauf ausmachen? Nun, das ist so: Während derjenige, der wirk­lich leibfrei im geistigen Erleben drinnensteht, die geistige Welt mit ihren Tatsachen und Wesenheiten vor sich hat, hat der Träumende sein Bewußtsein noch nicht so weit auferweckt, daß er diese volle geistige Welt vor sich haben

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könnte. Dadurch stellt sich seine Seele ein auf die Reminis­zenzen des gewöhnlichen Lebens, und dann entsteht der Traum, wenn die Seele heranschlägt an das Leibliche. Der Traum wird nicht im Leibe erlebt, aber er wird durch das Heranschlagen der Seele an das Leibliche verursacht. Daher stellen sich vor den Traumerleber diejenigen Dinge, die seinem Lebenslaufe zugrunde liegen, aber so gruppiert, daß sie jene innerlichen Tendenzen, die ich charakterisiert habe, zum Ausdruck bringen. Es ist also, wenn man charakteri­sieren will, was der Traum eigentlich ist, ein Erleben des seelisch-geistigen Eigenwesens des Menschen. Aber was erlebt wird, ist nicht das Ewige, es ist das Zeitliche. Das Ewige ist es, was am Traum bewußt tätig ist. Das aber, was diese Tätigkeit vermittelt, das ist das Vorübergehende, das ist das Vergängliche. Das ist das Wesentliche, worauf es ankommt, daß das Ewige im Traume als Erlebnis ge­rade das Zeitliche, das Vergängliche hat, dasjenige, was sonst Inhalt des Lebens ist.

Damit habe ich, allerdings skizzenhaft, ausgeführt, was das Wesen des Traumes im Lichte der Geisteswissenschaft ist, und warum dasjenige, was der Traum zum Inhalte hat, so gar nicht ausdrückt dasjenige, was wirklich in der Seele vorgeht, indem Entspannung auf Spannung, Spannung auf Entspannung folgt. Da ist die Seele innerhalb der Welt des Ewigen, da ist die Seele in einem leibfreien Element. Was aber bewußt wird als Umkleidung dieses Erlebens, das rührt von der Verbindung mit den gewöhnlichen Lebens-verhältnissen her.

Ich gehe über zu dem zweiten Gebiet, welches an der Grenze des menschlichen Seelenlebens als unbewußte Er­scheinung auftreten kann, dasjenige, was in dieses Seelenleben hineintritt in der Form der Halluzination, Vision und dergleichen. Selbst Philosophen, die gut urteilen können,

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wie Eduard von Hartmann zum Beispiel, den ich außerordentlich hoch stelle in bezug auf den Scharfsinn seines Urteils, sie sind, weil sie nicht vom geisteswissen­schaftlichen Standpunkt aus den Traum wirklich durch­schauen konnten, verführt worden zu glauben, daß das­jenige, was sich als Bild im Traume vor die Seele stellt, eigentlich gleichartig sei mit dem, was sich durch eine Hallu­zination oder eine Vision als Bild vor die Seele stellt. Aber diese Gebiete sind grundverschieden voneinander. Da­durch, daß der wirkliche Geistesforscher weiß, welche Seelenverfassung vorhanden ist, wenn man in der geistigen Welt drinnensteht, und diese mit der Seelenverfassung des Träumenden vergleichen kann, ist er imstande, gewisse Eigentümlichkeiten des Traumlebens zu würdigen, wie etwa, daß der Traum nicht die Logik aufnimmt. Denn der Geistesforscher weiß, daß dieses sinnliche Erleben nicht be­deutungslos ist, sondern daß es ebenso wie das leibfreie Erleben zwischen Tod und neuer Geburt seine Aufgaben im Gesamtleben des Menschen hat. Dazu gehört zum Bei­spiel, daß wir uns gerade im Umgang mit der sinnlichen Außenwelt die Logik aneignen können, die aus der sinn­lichen Außenwelt in unsere Seele hineinfließt. Ebenso weiß der Geistesforscher, daß auch das moralische Urteil sich unmittelbar im physischen Erleben, im Miterleben der menschlichen Kultur zum Ausdruck bringt. Nicht eine Flucht aus dem Leben, nicht eine falsche Askese kann je­mals für wirkliche Geisteswissenschaft sich ergeben, son­dern volle Anerkennung dieses Lebens, weil Logik und moralische Urteilsfähigkeit, moralische Impulse der Seele einverleibt werden dadurch, daß sie im sinnlichen Leben mit der Außenwelt in Berührung kommt.

Nun handelt es sich darum, daß tatsächlich der Traum, ich möchte sagen, nur etwas hineinleuchtet in das abnorme

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Seelenleben. Geisteswissenschaft zeigt, wie die Seele leibfrei ist im Traum, und die Traumerlebnisse unabhängig sind vom Leibeserleben, ebenso wie sie getrennt sind von der im Wachleben vorhandenen Verbindung mit der Außenwelt. Der Mensch ist wirklich leibfrei im Traum. Ist er es auch in der Halluzination, in der Vision? Nein, das ist er nicht! Denn Halluzinationen und Visionen kom­men gerade durch die Ahnormitäten des physischen Leibes zustande. Niemals kann wirkliches visionäres, halluzinie­rendes Leben in der Seele zutage treten in unabhängigem Erleben von dem Leibe. Es muß immer irgend etwas im Leib gestört, krank sein, unrichtig oder zu schwach funk­tionieren, so daß der Mensch mit seinem Leib nicht die­jenige volle Verbindung eingehen kann, welche dann vor­handen ist, wenn er sich seines Nerven- und Sinnessystems so bedient, daß er wirklich die Außenwelt miterlebt, indem er sich erlebt. Es ist das Eigentümliche, daß, wenn irgendein mit dem Erkennen irgendwie zusammenhängendes Organ erkrankt oder zu schwach ist, dann allerdings eine Erschei­nung wie die Halluzination oder die Vision eintreten kann, die ähnlich ist dem geistigen Erleben, aber doch prin­zipiell davon verschieden. Während das geistige Erleben auf dem leibfreien Zustande beruht, tritt dieses halluzi­nierende oder visionäre Leben dadurch ein, daß irgend etwas krankhaft oder zu schwach ist im Leibe. Was liegt im besonderen dem halluzinierenden, dem visionären Le­ben zugrunde? Nun, das gewöhnliche Vorstellen, wie es im Sinnesleben normalerweise stattfindet, bringt es dazu, unabhängig zu sein von denjenigen Kräften in der mensch­lichen Organisation, die das gewöhnliche Wachstum im Kindesalter hervorbringen, die die inneren Funktionen des Leibes bewirken, den Stoffwechsel, die Verdauung und so weiter. Ich kann darauf heute nicht näher eingehen, wie

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dasjenige, was als Leibesorganisation dem normalen Vor­stellungsleben zugrunde liegt, dadurch entsteht, daß ein Teil der Leibesorganisation herausgehoben wird aus dem Kreise des bloß animalischen Lebens, des bloßen Wachs­tums, der Verdauung, des Stoffwechsels und so weiter. Dar­auf beruht das normale Nervenleben, daß gewissermaßen ein Seelenorganismus wie ein Parasit sich herausgestaltet aus demjenigen, was Verdauung, Stoffwechsel und der­gleichen ist. Wenn nun durch besondere abnorme Zustände irgendein Erkenntnisorgan des Menschen so ergriffen wird, daß nicht der Seelenorganismus allein durch dasselbe wirkt, sondern auch der übrige Organismus mit seiner animali­schen Organisation, eben durch die Krankhaftigkeit oder die Schwäche eines Organs, so ist die Wirkung, daß der Mensch sich nicht unabhängig von Wachstums-, Verdau­ungs- und Stoffwechselkräften dem vorstellenden Leben der Außenwelt widmet, sondern daß dann Halluzinationen und Visionen eintreten. Dasjenige, was in der Vision or­ganisch im Menschen tätig ist, sollte entweder in den Wachs­tumskräften sein, sollte in ihm - verzeihen Sie den harten Ausdruck, aber so ist es - Verdauung bewirken, sollte den Stoffwechsel in seiner feineren Gliederung bewirken. Was in diesem Zustande zutage tritt, ist ein Heraufschlagen des animalischen Lebens in den Seelenorganismus.

Das Halluzinieren, Visionieren ist daher nicht eine Er­höhung des Lebens, ist vielmehr eine Durchsetzung des Lebens mit dem Animalischen, das sich sonst nicht in den Seelenorganismus hineinerstreckt. Es wird das, was ganz anderen Vorgängen dienen sollte, hinaufgetragen in die Erkenntnis, in die Anschauungsvorgänge. Daher ist die Halluzination und Vision immer ein Ausdruck davon, daß etwas nicht in Ordnung ist im Menschen. Zwar ist das­jenige, was da zutage tritt, ein Geistiges, aber ein Geistiges,

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das die Geisteswissenschaft nicht brauchen kann; denn Gei­steswissenschaft kann nur das brauchen, was unabhängig vom Leibe erfahren wird. Sie sehen, wie unbegründet es ist, wenn immer wiederum das Mißverständnis auftaucht, als wenn Geisteswissenschaft irgendwie ihre Erkenntnis gewänne durch Visionen, Halluzinationen und dergleichen. Sie zeigt im Gegenteil, daß diese Zustände irgendwie zu­sammenhängen mit Abnormitäten in der Leibesorgani­sation, und daß sie niemals hineingetragen werden dürfen in die Ergebnisse der Geisteswissenschaft. Niemals sind Halluzinationen und Visionen gleich dem, was als Traum­bild auftritt. Was als Traumbild auftritt, entsteht außer­halb des Leibes und spiegelt sich nur im Leib; was als Hallu-zination und Vision auftritt, entsteht dadurch, daß irgend etwas im Leib gewissermaßen ausgespart ist. Würde es nor­mal funktionieren, dann würde der Mensch mit gesunden Sinnen in der Sinnenwelt drinnenstehen. Dadurch, daß es sich ausspart, kommt das Geistig-Ewige, das unsichtbar bleiben sollte in der Leibesorganisation, gerade durch die Leibesorganisation zum Vorschein. Das ist nicht nur eine physische Erkrankung, das ist eine seelische Abnormität, etwas, was die Bilder aus der geistigen Welt nur trüben, nur verfälschen könnte. Man braucht sich nicht zu wun­dern, daß, wenn irgend etwas herabgestimmt ist im Leib, dann Bilder auftreten. Denn wodurch treten die Sinnbilder auf? Dadurch, daß eben dasjenige, was in normaler Weise dem Stoffwechsel, der Verdauung dient, herabgestimmt wird, und daß sich das im Seelenorganismus als etwas an­deres geltend macht. Wenn es nun mehr, als eigentlich sein sollte, herabgestimmt ist im Menschen, dann tritt eben ab­normes Bewußtsein zutage. Dasjenige, was wir als Sinn­bilder im normalen Bewußtsein haben, ist bedingt durch herabgestimmtes Leibesleben, aber normal herabgestimmtes

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Leibesleben. Ist es mehr herabgestimmt, so erscheint irgend etwas, was nur von dieser Herabstimmung, die eigentlich nicht da sein sollte, herrührt. So kann man sagen, daß das halluzinierende und visionäre Leben ein gehemm­tes Streben im Menschen darstellt. Wenn der Mensch sich von der Kindheit bis ins reife Alter entwickelt, so strebt er eigentlich in seine Leibesorganisation hinein. Er strebt, sein Geistig-Seelisches immer mehr und mehr so zu entwickeln, daß der Leib als völliges Werkzeug der seelischen Betäti­gung gebraucht werden kann. Das wird gehemmt dadurch, das irgend etwas im Leib nicht gesund ist. Wenn der Mensch so heranwächst, daß er sich seines Leibes bedienen kann, wächst er hinein in das, was seine physische Selbständig­keit, seine physische Egoität hier in der Sinnenwelt ist, er wächst in dasjenige Quantum von Egoismus hinein, das notwendig ist, damit der Mensch wirklich ein auf sich ge­stelltes Wesen ist, damit er seine menschliche Bestimmung erfüllen kann. Dieses Quantum von Egoismus muß selbst­verständlich mit der gehörigen Selbstlosigkeit verknüpft sein. Dasjenige, um was es sich handelt, ist, daß der Mensch sein Leben mit den Kräften seines Ichs durchdringt. Kann er das durch irgendwelche Hemmungen nicht, so ist er auf der Suche nach dem Quantum Egoismus, das ihm notwen­dig ist, auf eine krankhafte Weise. Das drückt sich dann im halluzinierenden und visionären Leben aus, das immer darauf beruht, daß der Mensch den für das Leben notwen­digen Egoismus durch seine Leibesbeschaffenheit nicht er­langen kann.

Weiter gehört zu den Grenzgebieten des Seelenlebens dasjenige, was durch Zustände der Katalepsie, der Lethar­gie zum Somnambulismus führt, der verwandt ist mit den mediumistischen Erscheinungen. Ebenso wie der Vorstel­lungsorganismus des Menschen - ich sage ausdrücklich «Vorstellungsorganismus»

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und nicht «Vorstellungsmechanis­mus» - in einer gewissen Weise beschaffen sein muß, damit nicht jene Störung zutage kommen kann, welche ich soeben als halluzinierendes und visionäres Leben charakterisiert habe, so muß für das in der Sinnenwelt normal ablaufende Leben der Willensmechanismus - ich sage Willensmecha­nismus - in einer gewissen Weise beschaffen sein. So wie der Vorstellungsorganismus auf die Art, wie ich geschildert habe, Halluzinationen und Visionen als krankhaftes See­lenleben herbeiführen kann, so kann, wenn der Willens-mechanismus gestört wird, aufgehoben, gelähmt wird, in der Katalepsie, in der Lethargie, im Mediumismus, dadurch der Wille untergraben werden. Der Leib ist zwar nicht geeignet, den Willen unmittelbar hervorzurufen, wenn der Geist auf ihn nicht wirkt, aber der Leib ist geeignet, wenn gewisse Organe stillgelegt werden, wenn der Willensmecha­nismus unterbunden wird, den Willen abzuschwächen, wäh­rend der Geistesforscher - das habe ich heute in der Ein­leitung gesagt - in der Wirklichkeit der geistigen Welt dadurch bleiben kann, daß sein Wille mit voller Bewußt­heit auf seinen Leib wirkt. Wird der Leib in bezug auf den Willen gelähmt, dann wird der Leib zu einem Unterdrücker, zu einem Aufheber dieses Willens, dann wird der Mensch aus derjenigen Welt herausgehoben, welcher er angehört als geistig-seelisches, als ewiges Wesen, und wird eingeschal­tet in die physische Umgebung, die ja auch überall von geistigen Kräften und Entitäten durchsetzt ist. Der Mensch wird dann herausgeworfen aus der wirklichen Welt und wird eingeschaltet in dasjenige Geistige, was immerfort das Physische durchwebt und durchsetzt. Das ist der Fall beim Somnambulismus, ist der Fall beim Mediumismus.

Nun, diejenigen, die in dem Sinn bequem sind gegen­über der Geisteswissenschaft, wie ich das im Eingang des

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heutigen Vortrags erwähnt habe, möchten aber doch auf diese Weise die geistige Welt erforschen. Sie können aber nicht die wirklich geistige Welt erforschen, die der Seele ihr ewiges, ihr unsterbliches Leben verbürgt, sondern kön­nen den Menschen nur zusammenkriegen mit dem, was die physische Umgebung durchdringt. Dasjenige, was da wirkt im Somnambulen, was wirkt im Medium, das wirkt im normalen Menschen auch, nur wirkt es auf eine andere Art. Es klingt zwar sonderbar, aber Geisteswissenschaft liefert das als Ergebnis. Was wirkt eigentlich im Medium? Was wirkt eigentlich im Somnambulen? Wenn wir im gewöhn­lichen Leben stehen, stehen wir mit den anderen Menschen in einer gewissen moralischen Verbindung. Wir handeln aus moralischen Impulsen heraus. Ich sagte, daß diese mora­lischen Impulse gerade mit dem äußeren physischen Leib erzeugt werden. Wir handeln im äußeren Kulturleben, ler­nen schreiben, lesen, lernen dasjenige, was sonst der mensch­liche Wille der äußeren physischen Welt als Geistiges ein­fügt. Mit dem nun, was wir in der Seele für unsere Tätigkeit in Anspruch nehmen, indem wir lesen lernen, indem wir uns sonstige Kulturerrungenschaften aneignen, indem wir in moralische Beziehungen zur Welt treten, mit all dem lebt die Seele des Somnambulen, des Mediums in einer ab­normen Weise zusammen. Diese Tätigkeit, die sonst nur auf moralischem Felde, auf dem Felde des Kulturlebens herauskommt, die drückt sich durch die Herabstimmung des Bewußtseins, durch die Ausschaltung der Seele unmit­telbar in die Leiblichkeit des Mediums oder des Somnam­bulen ein. Während sonst der Mensch im normalen Leben nur durch seine Sinne mit der Umwelt in Berührung steht, kommt beim Somnambulen und beim Medium der ganze Mensch durch seinen Willensmechanismus mit der Umwelt in Beziehung. Dadurch können Fernwirkungen eintreten,

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der Gedanke kann in die Ferne wirken, es können auch räumliche und zeitliche Ferngesichte auftreten und so wei­ter. Es kann aber nur dasjenige, was in der physischen Welt, der wir als physische Menschen angehören, als Gei­stiges enthalten ist, zumeist dasjenige nur, was dem Kul­tur- und dem moralischen Leben angehört, hineintreten in den menschlichen Organismus. Aber es tritt so hinein, daß dieser menschliche Organismus das Seelische ausgeschaltet hat. Dadurch führt dasjenige, was durch das Medium, durch den Somnambulen auftritt, nicht zu dem Geistig-Seelischen im Menschen, sondern zu einer Nachäffung der Wirkungen des Geistigen auf das Leibliche des Menschen. Während im normalen Leben die Seele Vermittler sein muß zwischen dem wirklich Geistigen und dem Leiblichen, wirkt da unmittelbar - aber nur so geartet, wie ich es ge­schildert habe - das Geistige auf den Leib. Die Folge ist, daß der Mensch mit Ausschaltung des Bewußtseins wie zum Automaten wird, und daß doch eigentlich nur das, was äußerlich dem Kulturleben oder dem moralischen Leben angehört, in diesem automatisch werdenden Menschen sich ausdrückt. Dabei werden Sie sehen, daß, zwar in der ver­schiedensten Weise cachiert, maskiert durch den Mediumis­mus und Somnambulismus, auch scheinbar Geistiges zum Ausdruck kommt, aber nur durch ganz gewisse Kombina­tionen und Verbindungen, die hier jetzt nicht erörtert wer­den können, weil das zu weit führen würde. Das Haupt­sächlichste, was auf diesem Wege zum Ausdruck kommt, stammt aus der physischen Umgebung. Gerade diejenigen, die voll auf naturwissenschaftlichem Boden stehen, aber über die hier charakterisierten naturwissenschaftlichen Vor­urteile nicht hinauskommen, möchten auf solche Art, indem sie den Somnambulismus und Mediumismus zu Hilfe neh­men, in diejenige geistige Welt eindringen, der der Mensch

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mit seinem Ewigen und seiner Seele Wesenskern angehört. Da können dann die mannigfaltigsten Irrtümer entstehen.

Ich will einen solchen Irrtum aus den letzten Jahren an­führen, der recht interessant ist, weil er, ich möchte sagen, das ganze Feld charakterisiert. Wir haben es da mit einem in seinem Lande außerordentlich angesehenen Naturfor­scher zu tun, mit einem Naturforscher, der bekannt ist mit allen Schikanen der naturwissenschaftlichen Methoden, der daher auch, wenn er diesem Gebiet nahetritt, durchaus nicht irgendwie leichtfertig zu Werke geht. Ich meine den be­rühmten englischen Naturforscher Sir Oliver Lodge. Es ist ein sehr merkwürdiger Fall, der auch mit den gegenwärti­gen katastrophalen Ereignissen zusammenhängt. Lodge war schon immer geneigt, irgendwie eine Verbindungsbrücke zu schlagen zwischen der äußerlichen, natürlichen Welt und der Welt, der der Mensch angehört, wenn er durch die Pforte des Todes gegangen ist. Aber er wollte auf naturwissenschaftlichem Boden bleiben, was ja für diejenigen Persönlichkeiten charakteristisch ist, die durchaus nicht in die geisteswissenschaftlichen Methoden eindringen wollen. Lodge hatte einen Sohn in den Krieg schicken müssen, der an der französischen Front diente. Siehe da, eines Tages be-kam er aus Amerika einen merkwürdigen Brief. Es wurde Lodge darin mitgeteilt, seinem Sohn stehe eine große Ge­fahr bevor, aber der Geist des verstorbenen Hyers, der zehn Jahre vorher gestorben war, werde seine schützende Hand über den Sohn halten, während er durch diese Ge­fahr gehe. F. Hyers war ja Präsident der «Society for Psy­chological Research» gewesen, ein Mann, der sich mit über­sinnlichen Angelegenheiten beschäftigt hatte, und der Lodge und seine Familie gut gekannt hatte, von dem man also annehmen konnte - wenn man überhaupt annimmt, daß sich irgend etwas in der übersinnlichen Welt im Zusammenhang

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mit dem menschlichen Leben ereignet -, daß er seine schützende Hand über den in Gefahr schwebenden jungen Lodge halten würde. Aber der Brief war recht vieldeutig abgefaßt, so pflegen nämlich solche Briefe zu sein. Nicht wahr, der Sohn konnte in Gefahr kommen, erschossen zu werden, aber gerettet werden, da konnte dann der Brief­schreiber sagen: «Ja, habe ich nicht durch ein Medium die Mitteilung bekommen, daß Hyers seine Hand über den Sohn des Lodge hält? Durch die Hilfe von Hyers ist er aus der Todesgefahr gerettet worden.» Wird er aber er­schossen, so kann der Briefschreiber ebensogut sagen: «Nun ja, Hyers hält im Jenseits seine Hand über ihn.» Wäre ein dritter Fall möglich, so würde auch der dritte Fall mit diesem Briefe getroffen. Man darf eben durchaus nicht un­skeptisch sein, wenn man auf diesem Boden wirklich die Wahrheit erforschen will. Man muß alles vollständig mit kritischem Urteil anschauen. Natürlich, Lodge hat darauf keinen besonderen Wert gelegt, denn das wußte er schon, daß solche Dinge vieldeutig sind. Siehe da, der Sohn fiel. Da bekam er eine zweite Nachricht, daß nun tatsächlich Hyers seine Hand im Jenseits über seinen Sohn hält, und daß sich in England Persönlichkeiten finden würden, die den Beweis dafür liefern sollten. Nun, es werden ja auch solche Dinge schon organisiert. Es fanden sich sogar mehrere Medien, welche in die Familie des Oliver Lodge, die größ­tenteils aus Skeptikern bestand, Zutritt fanden. Da ereig­neten sich nun die verschiedensten Manifestationen. Lodge hat das alles in einem dicken Buche, das aus mehrfachen Gründen sehr interessant ist, ausführlich beschrieben. Die Dinge, die da beschrieben werden, unterscheiden sich größ­tenteils nicht viel von anderen spiritistischen Protokollen, und man brauchte sich nicht sonderlich darüber aufzuregen. Das haben auch die Leute nicht getan. Auch Lodge hätte

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schließlich die Manifestationen nicht beschrieben, wenn nicht etwas anderes dazu gekommen wäre. Weil Lodge be­kannt ist mit allen Schikanen der naturwissenschaftlichen Forschungsweise, so ging er auch in diesem Falle vor wie ein Chemiker, der Untersuchungen im Laboratorium an­stellt, und wandte alle nur denkbaren Kautelen an, um den Fall einwandfrei festzustellen. Man hat daher überall das Gefühl, daß man nach diesem Buche den Fall wirklich beurteilen kann, denn Lodge schildert so, wie ein Natur­forscher schildert.

Neben allerlei anderen Dingen beschreibt er einen Fall, den man als «experimentum crucis» auffassen kann, einen Fall, der ungeheures Aufsehen gemacht hat. Selbst die un­gläubigsten Journalisten - und die pflegen ja immer skeptisch zu sein, ich weiß nicht, ob stets aus einem begründeten Ur­teil heraus - fanden sich irgendwie beeindruckt von diesem experimentum crucis. Es bestand in folgendem: Ein Me­dium, das behauptete, es stünde in Verbindung mit der Seele sowohl von Hyers wie des Sohnes von Lodge, sagte aus, vierzehn Tage, bevor der Sohn an der französischen Front fiel, habe er sich mit einer Anzahl von Kollegen photographieren lassen. Die Photographie sähe so und so aus. Es wird genau beschrieben, wie die Kameraden in der Reihe angeordnet sind, wie der Sohn des Lodge in der un­teren Reihe sitzt, wie er seine Hände hält und so weiter. Dann wird berichtet, daß mehrere Aufnahmen existieren, wieso der Photograph mehrere Aufnahmen hintereinander macht, und dabei die Gruppierung etwas verändert. Die andere Gruppierung wurde ebenso genau angegeben, wie dabei Lodge die Stellung der Hände und der Arme ver­ändert hat, wie er sich zu seinem Nachbar neigt und so weiter. Auch diese Photographie wurde genau beschrieben. Die Photographien waren nicht in England, niemand hatte

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sie gesehen, weder das Medium noch irgend jemand von der Familie noch Lodge selber. Man konnte nur glauben, daß das Medium irgendwie phantasiere, als es die Photo­graphien beschrieb. Aber siehe da, nach vierzehn Tagen kamen diese Photographien an, und man sah, daß sie genau mit den Angaben des Mediums übereinstimmten. Daß dies ein Kreuzexperiment für Lodge und für diejenigen war, die es anging, kann nicht wundernehmen. Dies ist es auch, was das Buch interessant macht. Allerdings wird der wirk­liche Geistesforscher nicht ebenso hineinfallen, wie Lodge selber in einer gewissen Beziehung hineingefallen ist, weil er gerade wegen der gewissenhaften Darstellung des Lodge sich über den Fall ein unabhängiges, objektives Urteil bil­den kann.

Woran liegt es, daß hier einmal etwas auftritt, wodurch ein Mensch, der nicht durch wahre Geistesforschung in die geistige Welt hineinkommen will, auf einem solchen Wege doch etwas findet, was ihn zu der Überzeugung von dem Hineinragen einer geistigen Welt in die physische bringt? Den wirklichen Geistesforscher könnte das nicht zu der gleichen Überzeugung bringen, weil er weiß, worum es sich hier handelt. Er muß sich sogar sehr darüber wundern, daß ein Mann wie Lodge, trotzdem er ein so gewiegter Natur-forscher ist, doch so dilettantisch auf diesem Gebiete ist. Wer auch nur oberflächlich mit diesen Erscheinungen be­kannt ist, vielleicht gar nicht durch selbständige Anschau­ungen, sondern nur aus der Literatur, der weiß, daß bei Somnambulen und Medien eine Beziehung zur Umgebung in der Weise vorhanden ist, wie ich es geschildert habe, daß gewissermaßen der ganze Mensch zu Sinnesorganen umge­wandelt wird und dadurch automatische und zeitliche Ferngesichte auftauchen. Ihre Grundlage ist stets ein krankes oder schwaches Seelenleben. Sie haben nichts zu tun mit

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derjenigen Welt, der der Mensch mit seinem unsterblichen Teil angehört, aber sie haben zu tun mit dem, was als phy­sische, sinnliche Umgebung geistig ist, was sich namentlich darinnen durch den Willen des Menschen zuträgt. Gerade weil Lodge gewissenhaft beschreibt, läßt sich feststellen, daß das Medium nichts anderes als ein Ferngesicht gehabt hat, daß es die Photographien vierzehn Tage vor ihrer An­kunft in London gesehen hat. Das mag manchem wunder­bar genug vorkommen, allein das sind gewöhnliche Er­scheinungen. Jedenfalls ist damit nicht, wie Lodge meint, ein Beweis dafür geliefert, daß Hyers nun wirklich seine Hand über den Sohn des Lodge gehalten hat. Es kann das ja der Fall sein, aber es müßte in leibfreier Geistesforschung untersucht werden. Man sieht, wie groß die Versuchungen und Verlockungen sind selbst für diejenigen, die gewissen­hafte Forscher sind und solchen Erscheinungen mit Vorsicht und Kritik gegenüberstehen, wenn man sich nicht wirklich auf den Pfad der Geisteswissenschaft begeben will. Das­jenige, was durch diese abnormen Erscheinungen, durch die der Mensch zum Automaten gemacht wird, erfahren wer­den kann, darf niemals der Inhalt einer Wissenschaft vom wirklich Übersinnlichen werden, dem der Mensch mit sei­nem ewigen Teil angehört.

Noch vieles könnte man hinzufügen. Es würde in gleicher Weise zeigen, wie diese Grenzgebiete des menschlichen See­lenlebens hinweisen auf etwas, was allerdings ein sonst unbewußt Bleibendes ist, aber durchaus nicht das für den Menschen eigentlich bedeutungsvollste Unbewußte zur Offenbarung bringen kann, die geistige Welt, der der Mensch mit seinem freien unsterblichen Teil angehört. Von all diesen Erscheinungen bleibt nur das Traumleben, als gewissermaßen noch im Normalen drinnenstehend, weil da der Mensch nicht durch sein Leibliches erlebt, sondern

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durch sein Geistig-Seelisches, und damit anstößt an das Leibliche und an das physische Erleben. Daher ist der Mensch auch dem Traumleben gegenüber in der Lage, Kor­rektur in der richtigen Weise zu üben und es in der rich­tigen Weise in die übrige Wirklichkeit orientierend hinein-zustellen, während er nicht imstande ist, dasjenige, was er durch seinen Leib erlebt an Halluzinationen, an Visionen, an Erscheinungen des Somnambulismus und des Mediumis­mus, in normaler Weise kritisch in das übrige Leben hineinzustellen.

Im nächsten Vortrage soll dann eingehender dasjenige behandelt werden, was im Laufe der Kulturentwickelung fortwährend Beseligung und Erhebung in das menschliche Leben hineinträgt: die Kunst. Im Traum erlebt der Mensch die geistige Welt so, daß sich durch das Anstoßen an die Leiblichkeit Sinnbilder gestalten. Auch das, was der wirk­liche Künstler erlebt, und was im Kunst genießenden, im Kunst empfangenden Menschen vorgeht, spielt sich in den unbewußten Regionen des Seelenlebens ab, in denjenigen Regionen, die jenseits des bloßen physischen Erlebens lie­gen. Das wirklich Künstlerische wird hineingetragen aus dem Übersinnlichen in die sinnlichen Regionen des Lebens, nur daß sich dann in der Kunst die Umkleidung mit Bil­dern nicht unbewußt vollzieht. Gerade so, wie beim Träu­menden das eigentlich seelische Erlebnis im Unbewußten bleibt, sich aber offenbart durch dasjenige, was die Seele wiederum unbewußt als Umkleidung hinzufügt zu dem eigentlichen Erlebnis, so wird das übersinnliche Erlebnis des Künstlers und des Kunst Genießenden an dem Kunst­werk hineingetragen in die sinnliche Welt. Aber die Um­kleidung mit dem Bild, die Umkleidung mit demjenigen, was vom äußeren Leben als Imagination benutzt wird, um phantasievoll das übersinnlich Erlebte hineinzustellen in

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die sinnliche Welt, das wird im Bewußtsein durchgeführt. Daß dieses so ist, daß tatsächlich die Kunst eine Botschaft ist aus einer übersinnlichen Welt, daß tatsächlich das Ge­nießen der Kunst ein Heraufheben der Seele zu der über­sinnlichen Welt ist, auf dem Wege der sinnlichen Ausge­staltung, durch sinnliche Bildlichkeit, wird Gegenstand des nächsten Vortrags sein.

Wenn man das, was heute betrachtet worden ist, zusam­menfaßt, so hat man zu sagen: Gewiß, der Mensch wird dadurch, daß ihm diese abnormen Erscheinungen des Le­bens entgegentreten, hingeführt auf das geistige Gebiet. Denn die geistige Welt ist es, die hineinleuchtet in das Leben des Menschen, wenn er sie auch auf eine abnorme Weise erlebt. Aber man soll diese abnormen Erscheinungen ebensowenig künstlich herbeiführen, wie man Krankheits­erscheinungen künstlich herbeiführt, um irgend etwas zu erkennen. Was bleibt von all diesen Erscheinungen zurück, das immer dasteht wie eine lebendige Mahnung? Daß der Mensch den Weg finden möge in das wirkliche Erleben des Geistigen hinein. Es bleibt das merkwürdige Ergebnis, daß wir gerade die Traumwelt durch Geisteswissenschaft schüt­zen können vor dem Verdacht, daß sie etwas zu tun habe mit krankhaften Erlebnissen, obwohl es dazu natürlich leichte Übergänge vom Traum aus geben kann. Aber wenn man sieht, wie der Mensch so durch den Traum gemahnt wird, den Weg zu finden in die wahre geistige Welt, dann stellt sich die Betrachtung dieser scheinbar chaotischen Traumeswelt als ein recht Bedeutungsvolles hin. Dann klopft an das menschliche Leben ein wichtiges Weltenrätsel an, der Traum mit seinen sonderbaren Bildern, die nicht logisch und nicht moralisch durchdrungen sind, die aber ein deutlicher Hinweis auf die geistige Welt selbst sind. So kann man zustimmen einer Besprechung des erwähnten

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Buches von Volkelt durch den geistvollen Ästhetiker und Philosophen Vischer, wo es heißt: «Wenn man den Traum betrachtet mit seiner reichen Armut, mit seinem armen Reichtum, mit seiner genialischen Dummheit, mit seiner dummen Genialität, und ihm in seinem unbewußten Schaf­fen zusieht, dann wird man erkennen, wie er doch hinweist auf dasjenige, was geistig im Menschen wirksam ist, und was gesucht werden kann.» Und Recht hat Vischer, wenn er weiter sagt: «Wer da glaubt, daß dieses Geisterreich des Traumes nicht würdig wäre, zum Gegenstand wahrer For­schung gemacht zu werden, der zeigt dadurch nur, daß er selbst nicht viel Geist in sich hat.» Wenn aber das Traumesreich ein Mahner ist, an die geistige Welt heranzutreten, so will die Geisteswissenschaft diese Mahnung erfüllen. Während der Traum nur Bilder der Vergänglichkeit ge­winnen kann, wenn auch die Seele dabei mit ihrem ewigen Wesenskern tätig ist, kann durch geisteswissenschaftliche Erkenntnis diese in der ewigen Welt lebende Seele sich auch erfüllen mit Bildern, welche die ihrem ureigensten Wesen entsprechende geistige Wirklichkeit zum Ausdruck bringen, und ihr dadurch ebenso, wie ihr durch die Sinne der Platz in der Sinnenwelt angewiesen wird, ihren Platz anweisen als geistig-seelisches Wesen in der geistig-seelischen Wirk­lichkeit.

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DER ÜBERSINNLICHE MENSCH Erster Vortrag, Berlin, 15. April 1918

Menschenwelt und Tierwelt nach Ursprung und Entwickelung dargestelit im Lichte der Geisteswissenschafl

In den drei Vorträgen dieser Woche möchte ich gerne die Ergebnisse der geisteswissenschaftlichen Forschung bespre­chen in bezug auf den Menschen im besonderen, die Ergeb­nisse jener Forschung, welche ja den Inhalt der Vorträge gebildet hat, die ich bisher in diesem Winter hier gehalten habe. In dem heutigen Vortrage möchte ich eine Grundlage schaffen, um das nächste Mal in den Mittelpunkt der Be­trachtung des übersinnlichen Menschen einzutreten und im dritten Vortrage die zwei wichtigsten Fragen, die sich auf das allgemeine Menschenrätsel beziehen, zur Besprechung zu bringen: die Frage der menschlichen Willensfreiheit und die Frage der Seelenunsterblichkeit.

In bezug auf das, was heute zu besprechen ist, bin ich in einer etwas schwierigen Lage, erstens aus dem Grunde, weil insbesondere dem Inhalte des heutigen Vortrages gegenüber in Betracht kommen wird, worauf ich öfter im Verlaufe dieser Auseinandersetzungen aufmerksam ge­macht habe: daß die Ergebnisse der hier gemeinten geistes­wissenschaiflichen Forschung zwar in vollem Einklange stehen mit alledem, was die Naturwissenschaft in den letz­ten Jahrhunderten und bis heute an großartigen Errungen­schaften hervorgebracht hat, daß aber andererseits das, was vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft aus eben im Einklange mit den naturwissenschaftlichen Ergebnissen zu

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sagen sein wird, sich in vollem Gegensatz befindet zu dem, was die Naturforscher oder die, welche naturwissenschaft­liche Resultate heute ausdeuten, selber in bezug auf den Menschen und sein Wesen über diese naturwissenschaftlichen Tatsachen sagen. Auf der einen Seite vollständiger Einklang mit den Tatsachen, auf der andern Seite geradezu ein all­seitiger Widerspruch gegenüber denjenigen, welche über diese Tatsachen heute zu sprechen gewohnt sind, - das ist die eine sachliche Schwierigkeit. Die andere ist die, daß mir nur der Vortrag eines Abends zur Verfügung steht, und daß das, was heute zu besprechen ist, der Gegenstand von min­destens dreißig Vorträgen sein müßte, wenn es ausführlich behandelt werden sollte. So werde ich also nur die Ergeb­nisse skizzenhaft zur Darstellung bringen können und werde dadurch in sehr vieler Beziehung leicht mißverstan­den werden können. Allein, was ich beabsichtige, ist auch heute nicht so sehr die Mitteilung von Einzelheiten, viel­mehr ist es mein Wunsch, eine Empfindung hervorzurufen über die Richtung, welche geisteswissenschaftliches Denken nehmen muß, wenn es sich insbesondere über die Frage der Menschenwesenheit auseinandersetzen will mit den naturwissenschaftlichen Anschauungen der Gegenwart.

Die naturwissenschaftlichen Anschauungen haben ja heute in einer ganz besonderen Art jeder Menschenseele die Frage nahegelegt nach der Beziehung des Menschen zur tierischen Welt und nach allem, was sich aus dieser Beziehung für das Begreifen der Menschenwesenheit selber ergibt. Nahege­rückt worden ist auch durch die Art der Anschauungen, die sich im Laufe der neueren Zeit über diese Frage heraus­gebildet haben, dieses: der Mensch in bezug auf seine Orga­nisation, und das Tier in bezug auf seine Organisation. Was mit Bezug auf diese Frage - man darf sagen mit einem gewissen Recht, denn gegnerisch zur Naturwissenschaft wird

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von mir nicht gesprochen - geradezu stark suggestiv ge­wirkt hat, das ist die Gestalt, welche die rein naturwissen­schaftliche Entwickelungslehre in der letzten Zeit angenom­men hat. Aber man macht sich im Grunde genommen falsche Vorstellungen über die Tragweite und den eigent­lichen Charakter dieser Entwickelungslehre, und zwar aus dem Grunde, weil man die Frage immer eigentlich zu ge­radlinig, ich möchte sagen, zu trivial auffaßt. Man hat so die Vorstellung, als ob durch «streng naturwissenschaftliche Forschung» in der neueren Zeit festgestellt worden wäre die Verwandtschaft des Menschen mit dem Tierwesen, die Entwickelung des Menschen aus der Tierreihe heraus und wiederum innerhalb der Tierreihe selbst die Entwickelung von unvollkommenen zu vollkommeneren Wesen.

Nun ist an diesen Vorstellungen das eine nicht richtig, nämlich zu glauben, jene Anschauung, daß der Mensch in bezug auf seine physische Organisation zusammenhängt mit dem Tierwesen, sei absolut neu. Sie ist durchaus nicht neu. Selbst wenn man davon absieht, daß die Spuren da­von - oder eigentlich mehr als Spuren - sich schon in der Wissenschaft des griechischen Altertums finden, und im Grunde genommen auch schon bei den Kirchenvätern, so liegt doch etwas Bedeutungsvolles darin, daß sich zum Beispiel schon Goethe als ganz junger Mensch winden mußte durch gewisse phantastische Entwickelungsvorstel­lungen, die sich gerade in seiner Zeit geltend machten. Und wer Goethe aus seiner eigenen Lebensbeschreibung kennt, der weiß, wie er sich aufgebäumt hat gegen die Vorstel­lung: Wenn man nur gewisse andere Lebensbedingungen herstellte, dann könnten sich die einen Tiere in die andern, oder gar in Menschen verwandeln. Dagegen bäumte sich Goethe auf, trotzdem sowohl er wie Herder auf dem Boden des Hervorgehens des einen Organismus aus dem andern

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standen, und trotzdem sie Anhänger der «Entwickelungslehre» waren. Wichtig ist dabei also, ins Auge zu fassen, daß nicht die Entwickelungslehre als solche neu ist, son­dern daß im Grunde genommen eine ältere Anschauung eingetaucht worden ist in der neueren Zeit in gewisse stark materialistisch gefärbte Vorstellungen, in Vorstellungen, die auch sonst die menschliche Organisation an die tierische heranbringen. Mehr der Charakter der Ausdeutung, die ganze Art und Weise des Denkens über die Dinge ist eigent­lich das Wesentliche, das in der neueren Zeit aufgetaucht ist. Wenn man dies ins Auge faßt, wird es einem nicht so schwierig werden, den Übergang zu finden zu denjenigen Entwickelungsvorstellungen, die heute hier betrachtet wer­den müssen.

Wer heute meint, mit einer gewissen materialistischen Denkrichtung auf dem festen Boden der Wissenschaft zu stehen, und glaubt, diese Entwickelungslehre charakterisie­ren zu sollen, der beginnt gewöhnlich damit, daß er sagt: In einem großen Gegensatz steht die neuere naturgemäße Anschauung über das Hervorgehen des Menschen aus den übrigen Tierwesen zu der abergläubischen, vorurteilsvollen Art, die noch irgendwie an die mosaische Schöpfungs­geschichte anknüpft. - Nun kann es heute nicht meine Auf­gabe sein, über die mosaische Schöpfungsgeschichte zu spre­chen. Ich glaube, daß sie so, wie sie vorlieg?, vielfach zu Mißverständnissen geführt hat über das, was ihr zugrunde liegt, und daß man es bei ihr in Wirklichkeit mit einer uralten Menschheitsweisheit zu tun hat. Das nur neben­bei. Was wichtig ist heute ins Auge zu fassen, das ist, daß in einem besonders bedeutsamen Punkt die naturwissen­schaftliche Entwickelungslehre in vollem Einklange steht mit der - sei sie richtig, sei sie falsch aufgefaßt - mosaischen Schöpfungsgeschichte; das ist, daß im Laufe der Entwickelung

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der Lebewesen der Mensch gewissermaßen als das voll­kommenste Tier oder sonst etwas auftrat, als die übrigen Tiere ihre Entwickelung schon vor ihm vorausgenommen hatten, daß er gewissermaßen als Menschenwesen nach den Tieren auftritt. Das hat die moderne naturwissenschaftliche Weltanschauung mit der mosaischen Schöpfungsgeschichte gemeinsam.

Das ist das, wogegen gerade die heutige Betrachtung sich im besonderen wenden muß. Und so könnte man sagen: Es wird sich das Neuartige dieser geisteswissenschaftlichen Entwickelungsgeschichte darin zeigen, daß sie gewisser­maßen brechen muß gerade mit dem, was nach allen Seiten, sowohl wissenschaftlich wie sonst, heute wie ein ganz siche­res Resultat ihr entgegentritt. Allerdings, manche von den Vorstellungen, die nur auf dem Boden der hier gemeinten Geisteswissenschaft entstehen können, sind notwendig, wenn Verständnis sich entwickeln soll für solche Dinge, wie sie heute besprochen werden. Notwendig ist zum Beispiel, daß man sich etwas klar wird über solche theoretischen Streitigkeiten, wie sie gang und gäbe sind, wie sie aber verschwinden müssen und verschwinden werden, gerade wenn Geisteswissenschaft in die Menschengemüter sich mehr einleben wird.

Heute wird man noch allgemein verschiedenen Weltan­schauungsrichtungen begegnen, die sich scheinbar wider­sprechen. Da stehen auf der einen Seite jene Menschen, welche die Welt und ihre Erscheinungen materialistisch aus-deuten. «Materialisten» nennt man sie. Auf der andern Seite stehen die «Spiritualisten» - nicht die «Spiritisten» sind gemeint, sondern «Spiritualisten» im guten Sinne der deutschen Philosophie -. Jene vertreten die Auffassung, daß nur das Materielle, das Stoffliche, die Grundlage alles Seins und Werdens ist, und daß das Geistige sich gewissermaßen

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als Ergebnis des Stofflichen und seiner Vorgänge herausbildet. Die Spiritualisten dagegen wenden sich im strengsten Sinne gegen eine solche Auffassung und betonen vor allem, daß im besonderen der «Geist» als solcher im Menschen zu beobachten sei, daß man bei aller Weltbe­trachtung ausgehen müsse von dem «Geist». Der Geistes­wissenschaft, die hier gemeint ist, ist es ganz gleichgültig, ob jemand vom Materialismus oder vom Spiritualismus ausgeht. Das einzige, was diese Geisteswissenschaft ver­langt - verlangt von sich und von andern -, ist das, daß zu Ende gedacht wird, daß wirklich der innere Denk- und Forschungsinhalt zu Ende zu denken ist. Nehmen wir an, es wird jemand durch seine besondere Veranlagung zum Materialisten: Wenn er wirklich das Stoffliche und seine Erscheinungen ins Auge faßt und bis zu Ende geht im For­schen, so kommt er unweigerlich über den Stoff zum Geiste hin. Und wenn jemand Spiritualist ist und sich nicht in den Geist rein theoretisch hineinverbohrt, sondern ihn in seiner Wirklichkeit so ergreift, daß er in diesem Ergreifen des Geistes imstande ist, auch die Offenbarungen des Gei­stes im Stofflichen zu erfassen, hineinzuschauen in die Ge­heimnisse, in denen der Geist im Stoffe wirkt, dann kommt der Spiritualist dahinter, die stofflichen Vorgänge in ihren Grundlagen und Verästelungen zu begreifen.

Der Ausgangspunkt für den wahren geisteswissenschaft­lichen Forscher ist ein ganz anderer. Es handelt sich darum, daß man den inneren Mut hat, wirklich zu Ende zu denken. Aber das Zuendedenken erfordert erstens eine gewisse durchdringende Kraft, welche die Dinge zu Ende denken will, und zweitens eine Befähigung, die Erscheinungen, die man vor sich hat, wirklich ins Auge zu fassen. Mit Bezug auf das Letztere kann man ja merkwürdige Entdeckungen machen. Wer glaubt denn eigentlich heute, daß er mehr auf

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dem Boden der Tatsachen steht? Das wird ja bei jeder Ge­legenheit betont.

Ich habe nun schon öfter darauf aufmerksam gemacht, was eigentlich in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahr­hunderts einmal passiert ist, aber es ist immer interessant, auf diese Tatsache noch einmal hinzuweisen. Die Philosophie Eduard von Hartmanns - ich will sie nicht überall vertreten, aber sie ist ein geistreicher Versuch gewesen, das Geistige gegenüber dem Ansturm der materialistischen Forschung zu retten - versuchte vont Ende der sechziger Jahre ab, die materialistischen Ausdeutungen der naturwissenschaftlichen Forschung zu überwinden. Als die «Phi­losophie des Unbewußten» erschien, waren sich die Naturforscher darüber einig: Das ist ein ganz und gar dilettanti­scher Philosoph, der über die Natur so herumredet und doch eigentlich nichts Rechtes darüber weiß. Es erschienen Gegenschriften gegen die «Philosophie des Unbewußten», die in so dilettantischer und laienhafter Weise die dar­winistischen Forschungsresultate behandelten. Unter diesen Gegenschriften erschien auch eine von einem Anonymus unter dem Titel «Das Unbewußte vom Standpunkte der Deszendenztheorie und des Darwinismus». Der Verfasser dieser Schrift hatte sich zur Aufgabe gemacht, «diesem dilettantischen Gegner des Darwinismus» ganz besonders zu Leibe zu gehen. Haeckel, Oskar Schmidt und andere sprachen sich über diese Schrift alle in dem Sinne aus: Schade, daß sich dieser Anonymus nicht genannt hat; er nenne sich uns, wir betrachten ihn als einen der unsrigen; denn niemand könnte diesem naturwissenschaftlichen Di­lettanten Hartmann besser die Wahrheit sagen, als dieser Anonymus! - Und sie haben dann auch dazu beigetragen, daß die Schrift rasch vergriffen war. Eine zweite Auflage erschien, jetzt mit dem Namen des Verfassers: es war -

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Eduard von Hartmann! - Das war einmal eine Lektion, die notwendig war, und von der alle diejenigen sich be­lehren lassen sollten, die da glauben, daß der immer ein Dilettant sein müsse, der über naturwissenschaftliche Resul­tate nicht gerade wie ein Naturwissenschaftler spricht.

Nun wissen diejenigen Zuhörer, welche bei den früheren Vorträgen anwesend waren, daß ich ein Werk aus der letzten Zeit als ein besonders wertvolles hervorgehoben habe, nämlich «Das Werden der Organismen» von Oskar Hertwig. Ich halte dieses Buch für ein besonders ausgezeich­netes und für besonders charakteristisch für unsere Zeit aus dem folgenden Grunde: Oskar Hertwig, ein Schüler Ernst Haeckels, ist als junger Mann hervorgegangen aus den mehr oder weniger materialistischen Ausdeutungen der dar­winistischen Forschungsresultate.

An dem Buch «Das Werden der Organismen» hat Oskar Hertwig - es ist eine Art Penelope-Problem - alles gleich­sam wieder aufgetrennt, was man glaubte als besondere Errungenschaften der darwinistischen Forschungsresultate hinstellen zu können. «Das Werden der Organismen» ist also ein ausgezeichnetes Buch auf dem Boden der heutigen Naturwissenschaft.

Jetzt ist von demselben Oskar Hertwig eine Schrift er­schienen, die sich mehr mit anderen Problemen beschäftigt; sie heißt: «Zur Abwehr des technischen, sozialen und poli­tischen Darwinismus». Nun bin ich in einer besonderen Lage: Ich werde immer «Das Werden der Organismen» von Hertwig für eines der besten Bücher halten, das über diese Dinge geschrieben ist, und ich werde das letzte Buch Hert­wigs halten müssen für eines der gedankenlosesten, der unmöglichsten Produkte des modernen Denkens. Es zeigt nichts anderes, als wie unbehelflich der moderne Naturforscher wird, wenn er von dem ihm gewohnten Boden

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übergehen soll auf ein anderes Gebiet. Sehr lehrreich ist eine solche Tatsache, und man ist, ich möchte sagen, in einem gewissermaßen tragischen Konflikt, wenn man auf der einen Seite bewundern und auf der anderen Seite radi­kal verurteilen muß. Nun will ich nicht über diese letzte Schrift Hertwigs im allgemeinen und im einzelnen sprechen; nur das eine möchte ich erwähnen:

Ich habe gerade vorhin gesagt: Jeder Naturforscher wird betonen, möglichst auf dem Boden der «Tatsachen» zu ste­hen. Sie finden unter den unzähligen Stellen dieses un­möglichen Buches von Hertwig eine Stelle, die etwa so lautet: Man müsse bewundern, wie die neuere Naturwis­senschaft eingeleitet worden ist durch die Forschungen von Newton, Kopernikus und Kepler über die Himmelserschei­nungen. Sie sei dadurch groß geworden, daß sie sich ge­wöhnt habe, in der Physik, Chemie und Biologie die Dinge genau so zu betrachten, wie Kopernikus, Kepler und New­ton die Himmelserscheinungen betrachteten. Nun bitte ich Sie: Die Betrachtung der Tatsachen, welche unmittelbar um uns herum sich abspielen, der Tatsachen, die jeder vor Augen hat, soll geschehen nach dem Muster desjenigen Ge­bietes, wo uns die Tatsachen möglichst ferne liegen! Ich bin überzeugt, daß Tausende von Lesern über einen solchen unglaublichen Widerspruch hinweglesen. Gerade an einem solchen Widerspruche zeigt es sich, wie unmöglich es einem großen, bedeutenden Forscher ist, so weit nachzudenken, daß diese Forschung auch hinaufgehoben werden kann in das Geistige.

Durch solche und ähnliche Dinge ist es im wesentlichen gekommen, daß eigentlich diese ganze neuere Entwicke­lungstheorie, so großartig und so tief einschneidend sie in ihrem Wesen ist, im Grunde genommen von viel zu gerad­linigen, viel zu abstrakten Vorstellungen ausgeht, die gar

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nicht geeignet sind, an die wirklichen Tatsachen heranzu­kommen, namentlich nicht an die Tatsachen, die von der Naturentwickelung mitsprechend sind für die Lösung des großen Menschenrätsels selbst.

Dieses Menschenrätsel ist ja von vornherein so zu charak­terisieren, daß der Mensch durch seine ganze Stellung in der Welt berufen erscheint, zunächst nicht zu wissen, was er in der Welt darstellt und wie er in ihr dasteht, um erst aus den Tiefen seines Wesens dasjenige zu holen, was ihm Aufklärung geben kann über das, was er eigentlich ist. Das ist ja auch im Grunde der Sinn der geisteswissenschaftlichen Forschung, daß aus den Tiefen des Menschengeistes selbst das heraufgeholt wird, was sonst in diesem Menschengeiste schlummert, heraufgeholt wird erst durch Seelenübungen -nennen wir es so-, was sonst das gewöhnliche Bewußtsein gar nicht anwendet, und daß dadurch erst der Mensch sich fähig macht für das «schauende Bewußtsein». Und erst wenn aus den Tiefen der Menschenseele das heraufgeholt ist, was ich in meinem Buche «Vom Menschenrätsel» das schauende Bewußtsein genannt habe, wo es der Mensch wirklich dann zu tun hat mit dem, was man «Geistes­augen» und «Geistesohren» nennen kann, um eine geistige Welt um sich zu haben, wie sonst die sinnlichen Augen die sinnliche Welt um sich haben, dann erst kann überhaupt an eine Lösung der großen Rätselfragen gegangen werden.

Die heutigen Ausführungen sollen es bekräftigen: Eigent­lich verschläft der Mensch sein Wesen. Ein gut Teil der Vor­träge sollten ja zeigen, daß der Mensch einen Teil seines Wesens verschläft und den Schlafzustand auch in den Wachzustand hinein fortsetzt. Unten in den Tiefen seines Wesens schläft fortwährend etwas, und es muß sein Wesen erst zum Erwachen gebracht werden. Wie man im gewöhn­lichen Tagesleben das braucht, was einem der Schlaf gibt,

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so braucht man für die gewöhnliche Erkenntnis, wenn sie fruchtbar sein soll und Aufschluß geben soll über das, wor­auf sie gerichtet ist, dasjenige, was der Mensch in seinem Wesen eigentlich fortwährend verschläft. Die Tatsachen, die um uns herum sind, sagte ich, haben wir zunächst ins Auge zu fassen. Ganz besonders kommt es darauf an, daß man sich in die Lage versetzt, vom Gesichtspunkte des schauenden Bewußtseins aus den Unterschied von Mensch und Tier sich einmal vor die Seele zu stellen; denn ohne diesen Unterschied wirklich anschauen zu können, kann man auch über Entwickelung und Ursprung von Mensch und Tier zu keiner Ansicht gelangen. Nun will ich skizzen­haft entwickeln, was man vom Gesichtspunkte der Gei­steswissenschaft zunächst über den Unterschied zwischen Mensch und Tier sagen kann.

Die Tierwelt tritt uns für die grobe, äußere Beobach­tung in den verschiedensten Formen zu Tage. Mannigfaltig sind die Tiere gestaltet. In «Gattungen» und «Arten» teilt man daher die Tiere ein. Sie wissen, daß es zahlreiche Phi­losophen gegeben hat, welche der Ansicht waren, was man «Gattung» oder «Art» bei den Tieren nennt - also «Wolf», «Löwe», «Tiger» und so weiter - das seien eigentlich nur zusammenfassende Namen. Was einem in der Wirklich­keit entgegentritt, sei eigentlich immer der «Stoff», der durch seine eigene Konfiguration nur in der verschieden­sten Weise geformt sei; das andere seien Namen. Dem­gegenüber bleibt doch nichts anderes übrig, als einmal für die unbefangene Beobachtung ordentlich ins Auge zu fas­sen, was eigentlich vorliegt. Da muß ich mich immer wieder an ein Bild erinnern, das mein alter Freund, der Pro­fessor Vinzenz Knauer, immer gebraucht hat, wenn von diesen Dingen die Rede war. Er sagte: Diejenigen Leute, welche behaupten, daß es nur Namen seien, die in diesen

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Gattungen und Arten zum Ausdruck kommen, daß es aber im Grunde genommen überall derselbe Stoff sei, der nicht anders wird, ob er in einem Tiger oder Wolf ist, die sollten doch darüber nachdenken, ob es wirklich derselbe Stoff ist, der in einem Lamme und in einem Wolfe ist. Es ist zwar nicht zu leugnen: Physikalisch betrachtet, ist es derselbe Stoff. Aber man sollte einmal einen Wolf einsperren, so daß er für längere Zeit nichts anderes zu fressen bekäme als lauter Lämmer, und man probiere einmal, ob er dadurch von der Lamm-Natur etwas angenommen hat. Da zeigt sich ganz klar, daß das, was den «Wolf» ausmacht, was seine Konfiguration bestimmt, nicht ein bloßer «Name» ist, son­dern etwas, was das Materielle in diese seine Konfiguration einfaßt.

Womit hängt es eigentlich zusammen, was diese ver­schiedenen Tierarten in ihrer Weise gestaltet, konfiguriert? Ich muß gestehen, ich berühre sehr wenig gerne rein per­sönliche Verhältnisse, aber da ich nur skizzieren kann, so ist es notwendig, daß ich eine solche persönliche Bemer­kung mache. Seit etwa dreißig Jahren betrachte ich alles, was die neuere Forschung in der Physiologie in bezug auf diese Fragen hervorgebracht hat, und vergleiche es mit dem, was die geisteswissenschaftliche Forschung zu sagen hat. Es würde ja sehr reizvoll sein, eine Reihe von Vorträgen zu halten, durch die belegt wird, was ich jetzt in bezug auf seine Ergebnisse anführe. Was sich in den verschiedensten Tierformen konfiguriert, was einem entgegentritt in diesen verschiedenen Tierformen, das steht in innigem Zusam­menhang mit dem, was man nennen könnte die Gleich­gewichtsverhältnisse des tierischen Baues. Studieren Sie - aber machen Sie es möglichst genau, denn oberflächliches Studium führt auf diesem Gebiete von der Wahrheit ab -den Bau eines Tieres, aber nicht so, wie er etwa sich bloß

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dem äußeren Auge darbietet, sondern studieren Sie den Bau eines Tieres nach seinen Kräfteverhältnissen: wie an­ders ein Tier sich zu den Schwereverhältnissen und zu den Überwindungen der Schwere verhält, das die Hinterbeine anders gebildet hat als die Vorderbeine in einer Beziehung, wie anders ein Tier auftritt, das Hufe oder Klauen hat und dergleichen. Studieren Sie, wie sich das Tier durch sein Gleichgewicht in die Verhältnisse hineinstellt, die für es gegeben sind, dann werden Sie die innerlichste Beziehung finden zwischen den irdischen Gleichgewichtsverhältnissen und der Art, wie das Tier in diese Gleichgewichtsverhält­nisse hineingestellt ist. Und gerade diese Gleichgewichts­verhältnisse sind radikal anders gestaltet beim Menschen als bei der Tierwelt. Der Mensch hebt sich heraus aus den Gleichgewichtsverhältnissen, in die das Tier hineingestellt ist, dadurch, daß im wesentlichen die Linie, die durch das Rückenmark geht, beim Tier parallel zur Erdoberfläche läuft, beim Menschen im wesentlichen senkrecht zur Erde steht. Ich meine damit nicht die rein äußere Lage, denn selbstverständlich ist auch der Mensch parallel der Erdober­fläche, wenn er schläft. Die Organisation als solche ist beim Menschen so eingerichtet, daß die Schwererichtung der Erde mit der Linie seines Rückenmarkes zusammenfällt. Beim Tier geht die Rückenmarklinie mit der Erdoberfläche par­allel. Dadurch fällt in gewisser Beziehung beim Menschen die Schwerpunktlinie, die durch seinen Kopf geht, zusam­men mit der Schwerpunktlinie des übrigen Organismus. Sein Kopf ruht auf der Schwerpunktlinie des Rumpfes; beim Tier hängt er über.

Dadurch ist der Mensch in bezug auf die Erde in ein ganz anderes Gleichgewichtsverhältnis hineingestellt als das Tier; dadurch ist er in dasjenige Gleichgewichtsverhält­nis hineingestellt, das er sich sogar erst während der Zeit

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seines Lebens selbst gibt, denn er wird geboren in einem ähnlichen Gleichgewichtsverhältnis wie das Tier. Indem sich der Mensch aus den Gleichgewichtsverhältnissen heraushebt, die dem Tiere aufgezwungen sind, hebt er sich her­aus aus sämtlichen Kräften, die den verschiedenen Gattun­gen und Arten zugrunde liegen, und er wird im wesent­lichen eine «Gattung», eine «Art». Er befreit sich gerade von dem, was bei den übrigen Tierwesen der Grund ist der mannigfaltigen Gestaltung; er schafft seine einheitliche Ge­stalt, indem er sich von diesem Bestimmungsgrund befreit durch seine aufrechte Lage. Und alles, was in der mensch­lichen Sprache, im menschlichen Denken zum Ausdruck kommt, hängt innig zusammen mit diesen Gleichgewichtsverhältnissen. Gewiß, gerade die materialistische For­schung in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhun­derts machte hierauf aufmerksam; nur konnte sie diese Tatsache nicht vollständig ausnutzen. Denn gerade wer sich hineindenkt in die feine Konfiguration des Stofflichen, der wird daran sehen können, daß der Stoff der äußeren Natur durch ein Wesen in einer ganz andern Weise auf­genommen, in ganz andere Richtungen hineingebracht wird als bei allen andern. Dadurch hebt sich der Mensch heraus aus der ganzen übrigen Tierreihe. Damit hängt zusammen, daß das ganze menschliche Gleichgewichtsverhältnis ein solches ist, das in vollem Maße im Organismus selbst zu­standekommt, während das des Tieres im Zusammenhange mit der Welt zustandekommt. Nehmen Sie nur das Gröb­ste: das Tier steht auf allen vieren, der Mensch dagegen ist an ein nicht von außen bestimmtes Gleichgewicht ge­bunden, sondern an eines, das ihm in seinem eigenen Orga­nismus auferbaut wird.

Mit diesem andern Gleichgewichtsverhältnis ist nun etwas ganz Bestimmtes verbunden. Der Mensch hat nämlich

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- wer Beobachtung treiben kann, so daß das Geistige auch wirklich in sein Beobachtungsfeld hineinfällt, der kann es beobachten - ein dumpfes, traumähnliches, in das gewöhnliche Tagesbewußtsein nur dumpf heraufleuchten­des Gefühl von diesem Drinnenstehen in der Gleichge­wichtslage. Dieses Gefühl kommt eigentlich nur mit der Dumpfheit eines Traumes, manchmal nur mit der Dumpf­heit des Schlafbewußtseins ins gewöhnliche Bewußtsein herauf. Und als was lebt diese Empfindung des Rubens auf der eigenen Körpergrundlage im gewöhnlichen Bewußt­sein? Diese Empfindung ist identisch mit der Ich-Empfin­dung, mit dem Ich-Gefühl. Was wir im nächsten Vortrag als des Menschen «Geist», der sich zunächst im Ich offen­bart, kennenlernen werden, ergreift sich in der menschlichen Organisation zunächst nicht in etwas anderm, sondern in diesen Gleichgewichtsverhältnissen, die beim Tiere nicht vor­handen sind. Ich sagte, die neuere naturgeschichtliche Ent­wickelungslehre habe etwas Suggestives, so daß man glauben kann, daß alles sich töricht und dilettantisch ausnimmt, was dagegen gesagt wird. Es hat etwas Faszinierendes, wenn gesagt wird, der Mensch habe genau so viel Knochen und Muskeln und so weiter wie ein Tier, wie könnte er da ein anderes Wesen sein? Aber in dem, was der Mensch mit dem Tiere gleich hat, wohnt das «Ich» gar nicht. Das Ich wohnt gar nicht in den Knochen und Muskeln, greift gar nicht da hinein, sondern ergreift sich zunächst in dem Gefühl, und dieses Gefühl ruht in den Gleichgewichtsverhältnissen.

Aber noch etwas anderes. Die Tierwelt ist mannigfaltig gestaltet. In den vielen Formen kommt dies zum Ausdruck. Hat diese mannigfaltige Gestaltung, die also eigentlich in den äußeren Bestimmungsgründen veranlagt ist, in den Schwere- und sonstigen Kräfteverhältnissen des Erdkreises, hat sie gar keine Bedeutung für den Menschen? Dadurch,

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daß sich der Mensch durch sein anderes Gleichgewicht her­ausreißt aus all den Gleichgewichtsverhältnissen, in die das Tier hineinbestimmt ist, hat er seine eigene Gestalt, die wie eine Zusammenfassung der Tiergestalten erscheint. Aber alles, was in den Tiergestalten wirkt, lebt sich trotz­dem in ihm aus. Es ist in ihm, aber es ist Geist. Was als sinnenfällige Erscheinungen über die verschiedensten Tiergestalten verbreitet ist, das ist im Menschen geistig. Was ist es in ihm?

Wieder gibt es die Beobachtung für den, der jene Be­obachtungsmöglichkeit sich angeeignet hat, die in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Wel­ten?» beschrieben ist: ganz dasselbe, was dem Tier äußer­lich die sinnliche Gestaltung gibt, lebt im Menschen, aber als ein übersinnliches bewegliches Element. Es lebt in sei­nem Denken. Was es macht, daß wir über die Dinge denken können, das ist in uns - auf übersinnliche Weise - genau dasselbe wie dasjenige, was draußen in der Tierwelt die mannigfaltigen Arten und Gattungen der Tiere sind. Da­durch, daß sich der Mensch aus der Vielgestaltigkeit der Tiere herausreißt und sich in bezug auf die Schwere seine von der tierischen unabhängige Gestalt gibt, welche die Wohnung des Ich ist, dadurch eignet er sich das, was in der Tierwelt sichtbar ist, unsichtbar an. Das lebt in seinem Denken. In der Tierwelt ist ausgegossen in den mannig­faltigsten Formen, was ausgegossen ist in uns, indem wir die Welt denkend überschauen. Wir verfolgen das, was wir beobachten können, bilden uns Gedanken darüber. Ich weiß selbstverständlich, was alles dagegen eingewendet werden kann. Ich weiß auch den Einwand: Kannst du denn in die Tiere hineinschauen? Kann denn nicht das Tier auch eine Art Denken haben wie der Mensch? Aber wer sich den Goetheschen Grundsatz zu eigen machen kann, daß die

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Erscheinungen die rechten Lehren sind, wenn sie nur richtig beobachtet werden können, der weiß, daß dasjenige, was in den Erscheinungen zur Offenbarung kommt, auch ausschlaggebend ist für die Beobachtung. Das ist eines der wesentlichsten Kennzeichen, daß das, was sinnlich über die mannigfaltigen Tierformen ausgegossen ist, im Menschen übersinnlich lebt. Während er seine Gestalt frei machte von dem Gestalten-Bildenden der Tiere, ist er in der Lage, dies in sein Übersinnliches hineinzunehmen. Die Tiere sind «weiter» in bezug auf die sinnliche Ausgestaltung als der Mensch. Der Mensch hat eine labile Gestalt. Das Tier ist in Übereinstimmung mit dem ganzen Erdenbau gebaut. Beim Menschen ist es anders, bei ihm ist es hereingenom­men in seine eigene Gestalt. Dadurch kommt er dazu, das­jenige, was im tierischen Bau äußerlich in der sinnenfälligen Form zum Ausdruck kommt, geistig zu erfassen.

Schon in diesem Punkt sieht man bereits, woran eigent­lich die neuere Entwickelungslehre krankt. Ich darf sagen: gerade weil ich ein voller Anhänger dieser neueren Ent­wickelungslehre geworden bin, aber versucht habe, sie wirklich zu Ende zu führen, deshalb bin ich darauf ge­kommen, das zu finden, woran sie krankt. Sie stellt gewis­sermaßen alles geradlinig dar: Unvollkommene Tiere, dann vollkommenere, wieder vollkommenere, bis hinauf zum Menschen. Aber so ist die Sache nicht. Wer die Erscheinun­gen unabhängig ins Auge faßt, der kommt darauf, daß diese bloß aufsteigende Entwickelung, die nur vom Un­vollkommenen zum Vollkommenen schreitet, eigentlich einseitig ist; denn ihr fehlt ein wesentliches Element, das da oder dort zwar mitgedacht wird in der neueren Zeit, aber nicht wirklich zu Ende erforscht und auf das einzelne angewendet wird. Man hat es zu tun mit einer fortwäh­rend aufsteigenden Entwickelung und mit einer fortwährenden

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Rückentwickelung. Rückentwickelung würde etwa das bedeuten, was gerade zum Begreifen des Menschen von einer so großen Bedeutung ist, und auch da rate ich Ihnen wiederum, aber ohne Vorurteil, gerade physiologische Dinge zu betrachten.

Wenn man so bei den allgemeinen trivialen Entwicke­lungsvorstellungen stehenbleibt, hat man die Vorstellung, daß der Mensch eben das vollkommenste der Tiere ist, daß sogar seine einzelnen Organe, wenn auch wirklich da oder dort Rückentwickelungen zugegeben werden, im wesent­lichen in aufsteigender Entwickelung zu verstehen sind. Das ist nicht der Fall. Tausende von Tatsachen könnten in dieser Hinsicht angeführt werden. Ich will nur eine strei­fen. Studieren Sie das menschliche Auge und vergleichen Sie es mit den Augen der Wirbeltiere, mit den Augen etwas tieferstehender Tiere: Wenn Sie hinuntergehen in der Tierreihe, werden Sie einen komplizierteren Innenbau finden als beim Menschen. Bei ihm ist das Auge wieder einfacher geworden. Ich will nur erwähnen, daß der Schwertfort­satz und der Fächer, die bei den Augen niederer Tiere vor­handen sind, nicht beim Menschen zu finden sind. Die Ent­wickelung hat sie wieder zurückgedrängt. Das Auge ist beim Menschen ein unvollkommeneres Organ als bei den niedriger stehenden Tieren, ist zurückgebildet. Der ganze menschliche Organismus ist, wenn man ihn wirklich stu­diert, in gewisser Beziehung gegenüber den tierischen Organismen nicht nur vorwärts gebildet, sondern auch rückgebildet, hat die Entwickelung gewissermaßen wieder zurückgenommen. Was ist da geschehen?

Dadurch, daß bestimmte Kräfte ausgeschaltet worden sind, wieder rückgebildet sind, ist der Mensch fähig ge­worden, ein Träger des Geistig-Seelischen zu werden, dieses Geistig-Seelische aufzunehmen. Das, was ich bisher genannt

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habe, ist im wesentlichen nichts anderes als Rückbil­dung, «Devolution», im Gegensatze zur «Evolution». Neh­men Sie das, was dem einzelnen Tier die bestimmte Form gibt, die es hat, und einem anderen Tiere eine andere Form: dieser Gedanke bestimmt durch und durch die ganze Orga­nisation des Tieres. Der Mensch dagegen bildet seine Orga­nisation zurück. Sie kommt nicht so weit, durch und durch bestimmt zu werden, sie kommt zurück auf eine frühere Stufe. Dadurch kann er selbst sich die Gleichgewichtslage geben, die die Natur ihm nicht gibt, dadurch befreit er sich von dem, was die Natur den übrigen Wesen aufzwingt. Der ganze Mensch ist in der Bildung zurückgeblieben; dadurch entsteht das, was im Menschen Organ des Denkens wurde, denn selbstverständlich liegen diesem Organe zugrunde. Was dem Denken zugrunde liegt, ist im wesentlichen da­durch Organ des Denkens, daß es rückgebildet ist, daß es nicht bis dahin gekommen ist, bis wohin die Tierform kommt und äußerlich die Gestalt zum Ausdruck bringt. Der Mensch lebt die Form zurück und kann übersinnlich die Form im Denken ausleben, wie sie das Tier im äußeren Sinnlichen auslebt.

Noch etwas anderes. Wir haben es beim Menschen also nicht bloß mit Evolution zu tun, sondern auch mit Devolu­tion, mit Rückbildung. Und gerade weil der Mensch mehr in Rückbildung ist als das Tier, kann er der Träger eines Geistig-Seelischen überhaupt werden. Mit allem, was ich bisher ausgeführt habe, hängt im wesentlichen etwas an­deres zusammen. Wer wirklich beobachten kann, wie im Tier zum Ausdruck kommt, was - schon nach der Beobach­tung - Organ des Vorstellens sein muß, Organ des Wahr­nehmens, des Empfindens, also die nach vorn gelegenen Teile der tierischen Organisation, der wird finden, daß das, was sich in der Form ausspricht, sich objektiv ausspricht.

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Er wird finden, daß alles, was nach der vorderen Seite der tierischen Organisation gelegen ist, zu tun hat mit dem Vorstellungsleben, Wahrnehmungsleben, Fühlen, und wie das, was nach rückwärts gelegen ist, mit dem Willenselement zu tun hat. Die beiden Seiten stehen natürlich wie­der in Verbindung. Dadurch, daß das Tier in sein Gleich­gewicht hineingestellt ist, gewissermaßen nebeneinander hat, was der Mensch übereinander hat: die Willensorgani­sation einerseits und die Verstandes- und Instinktorganisa­tion andererseits, dadurch ist ein ganz anderer Zusammen­hang im Tier geschaffen zwischen allem Intellektuellen, allem Vorstellungsmäßigen, und allem, was den Willen betrifft. Beim Menschen lagern die Vorstellungsorgane über den Willensorganen. Dadurch ist ein innerer Kontakt ge­schaffen zwischen Willens- und Vorstellungsorganen. Wer nun das seelische Leben zu beobachten versteht, der wird sehen: dieses menschliche Vorstellungsleben ist dadurch charakterisiert, daß sich da hineinerstreckt der Wille. Stu­dieren Sie die Probleme der Aufmerksamkeit, Sie werden sehen: der Wille kraftet da hinein. Und dadurch entsteht die Fähigkeit des abstrakten Denkens, welches das Tier nicht haben kann, weil sein Vorstellen neben dem Willen und nicht über ihm liegt. Und wieder umgekehrt, es kraf­ten zusammen Wille und Vorstellungsleben, so daß auch wieder der Wille beeinflußt wird von dem Vorstellen. Nur weil die Organe des Willens zu den unterbewußten gehö­ren, kommt der Wille selbst nur wie im Schlafbewußtsein zum Ausdruck. Der Mensch hat den eigentlichen Vorgang des Willens so im Schlafbewußtsein wie die anderen Vor­gänge des Schlafbewußtseins. Auch dadurch wird der ganze, dem Menschen eigentümliche Zusammenhang zwi­schen Vorstellen und Wollen hervorgehoben: es wird durch das Wollen aufgehellt das Vorstellungsleben, das beim Tier

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immer in einem dumpfen, traumartigen Zustande ist. Und ebenso ist das Wollensleben beim Tier viel inniger zusam­menhängend mit dem Vorstellungsleben, es fühlt innerlich viel mehr Zusammenhang mit seinem Wollen. Das bedingt wieder, daß sich beim Menschen das freie Gefühlsleben in einer ganz anderen Weise zum Vorstellungs- und Willens-leben verhält, sich viel tiefergehend auslebt als beim Tier. Beim Tier ruht das Gefühlsleben in der Organisation; es ist gewissermaßen nur eine formelle Ausgestaltung des Ge­dankenlebens. Und auf der andern Seite ist das Gefühls­leben beim Tier nur gehemmtes oder ungehemmtes Willensleben, je nachdem es etwas erreichen oder nicht erreichen kann. Das kommt in seinem ganzen Leben zum Ausdruck. Gerade dadurch ist es mit der ganzen äußeren Welt viel mehr in Zusammenhang.

Wenn wir dies ins Auge fassen, können wir etwas an­deres verstehen, was allerdings nur eine sorgfältige Be­obachtung des menschlichen Seelenlebens ergibt. Die Gei­steswissenschaft muß in vieler Beziehung anders vorgehen als die andere Wissenschaft, die die Dinge oftmals vom trivialen Vorstellen aufnimmt und sie dann ablehnt, weil sie nicht darauf kommen kann, wie die Dinge zu erklären sind. Der Geistesforscher wird viel mehr auf das Positive gehen, wird sich nicht damit begnügen, zum Beispiel die Vorstellung der Unsterblichkeit, der Dauer des Seelenwesens aufzunehmen, sondern wird in erster Linie fragen: Wie kommt der Mensch überhaupt dazu, das «Unsterb­liche» als Gedanke oder als Gefühl in sich zu haben? Wie kommt er dazu, daß das Unsterbliche in seinem Seelenleben eine Rolle spielen kann?

Dies zu begreifen, dazu kommt man nur, wenn man in der Lage ist, die Goethesche Metamorphosenlehre so weit auszudehnen, daß man nun wirklich an die Frage herangehen

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kann, inwiefern der Mensch in bezug auf seine hö­here Natur, die durch seine Kopf- und Hauptesorganisation zum Ausdruck kommt, von seiner niederen Natur abhängig ist. Während wir bisher versucht haben, den besonderen Zusammenhang zwischen Denken und Wollen bei Mensch und Tier zu begreifen, muß man jetzt auf das eingehen, was den Menschen mit dem Tiere verbindet in bezug auf etwas, was mit der Entwickelungsfrage in innigem Zusam­menhange steht. Das ist das, was in das tierische und in das menschliche Leben hineintritt durch die zwei Erscheinungen der Konzeption, der Empfängnis - ich sage nicht der Ge­burt -, was eben angesehen wird als die erste Entstehung des Menschlichen, die Verbindung des Männlichen und des Weiblichen, und des Todes auf der andern Seite. Konzep­tion und Tod sind beim Menschen und beim Tier an gewisse Teile des Organismus gebunden; von der Konzeption ist das ja von vorneherein einleuchtend.

Nun handelt es sich darum einzusehen, daß das, was an einem Orte in irgendeiner tierischen Form erscheint - bei den Pflanzen ist es ebenso -, auch an anderen Organsyste­men zum Ausdruck kommt, aber verwandelt. Es kann schon von vorneherein die Aufmerksamkeit darauf gelenkt wer­den: wie wird sich denn beim Menschen und beim Tier das verhalten, was mit Konzeption und Tod zusammenhängt, da man doch den einen Unterschied schon herausgefunden hat, der unmittelbar an die Organisation gebunden ist? Da stellt sich heraus, wenn man wirklich den Erscheinungen und Tatsachen nachgeht und die Dinge sinnvoll betrachtet, daß das, was das menschliche und tierische Haupt ist, eigentlich im Grunde genommen nur höher organisierter, umgewandelter Unterleib ist, so sonderbar es klingt, ge­rade so - erinnern Sie sich an den Vortrag, in welchem an die Goethesche Weltanschauung angeknüpft wurde - wie

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die Kopfknochen umgewandelte Knochen der Rücken­wirbel sind. In bezug auf die physische Gestaltung hat man es damit zu tun, daß die einzelnen Organsysteme Umwand­lungen voneinander sind, wirkliche Umwandlungen, und auch die Betätigungen, die Funktionen der Organsysteme sind Umwandlungen voneinander. Was ist «Wahrneh­men»? Wahrnehmen - es handelt sich um objektive For­schung, und man muß den Dingen geradeweg ins Auge schauen -, durch die Sinne zur Außenwelt in Beziehung treten, ist eine höhere - meinetwillen sagen Sie eine geisti­gere - Ausgestaltung der Konzeption, spezifiziert durch die verschiedenen Sinne, aber Ausgestaltung der Konzeption, der Empfängnis. Dadurch, daß der Kopforganismus ge­wisse andere organbildende Kräfte verkümmern läßt, in die Extremitäten gehen läßt, dadurch gestaltet sich auf der einen Seite der Konzeptionsorganismus zu dem höheren Sinnesorganismus des Hauptes, und so entspricht der fort­schreitenden Entwickelung des Hauptesorganismus die fort­geschrittene Konzeption, die im sinnlichen Wahrnehmen zum Ausdruck kommt. Jedes organische System entwickelt in gewisser Weise den ganzen Organismus; das Haupt alles, was der Unterleib enthält, der Unterleib alles, was das Haupt enthält. Dadurch, daß die organbildenden Kräfte der Extremitäten verkümmert sind, kommt das, was zu ihrem Leben gehört, im Haupte auf geistige Art zum Aus­druck. Das Produktionsvermögen, das Hervorbringungsvermögen ist umgewandelt in das Entwickeln der Gedan­ken. Im Haupt ist das Organ des Denkens einfach dadurch veranlagt, daß gewissermaßen einseitig entwickelt ist das Konzeptionelle, und rückgebildet ist das Produktive, aber das Produktive dadurch, daß es zurückgebildet ist, wieder­um die Grundlage für die Gedanken gibt. Denn ebenso wie Tier und Mensch seinesgleichen durch seinen anderen

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Organismus hervorbringt, so bringt der Mensch auf geistige Weise sich selbst hervor: eben die Gedankenwelt. Die Ge­dankenwelt ist der vergeistigte Mensch, wobei heraufge­nommen ist ins bewegliche Übersinnliche, was sonst in der Außenwelt ausgestaltet ist.

Dieser Gedanke, den ich eben geäußert habe, hat eine große Tragweite, und nur mit einem tiefen Bedauern er-schöpfe ich solche Dinge in einem einzelnen Vortrage. Denn solche Dinge sind das Ergebnis jahrzehntelanger geistiger Forschung. Aber sie müssen einmal ausgesprochen werden, denn es handelt sich schon darum, daß diese Dinge unter die Menschen kommen, damit der, welcher die Möglichkeit hat, darüber nachzuforschen, in den Kliniken und Kabi­netten auch die Kleinigkeiten so erforscht, wie sie erforscht werden müssen, wie sie in die Wirklichkeit hineingehören.

Wer diesen Gedanken in seiner ganzen Tragweite er­fassen kann, der findet auch noch, daß in ihm auch etwas anderes rein organmäßig veranlagt ist. Zwei Momente lernt er im tierischen Leben beobachten: den Moment der Konzeption und den des Todes. Sie liegen auseinander wie Anfang und Ende des tierischen Lebens. Der eine hängt zusammen mit der fortschreitenden Entwickelung: die Kon­zeption, und alles was sich an das Studium der Konzeption anlehnen kann, führt zur Erkenntnis der fortschreitenden Entwickelung. Alles aber, was aus den Verhältnissen des irdischen Lebens heraus den Tod des Tieres bestimmt, hängt zusammen mit der rückschreitenden Entwickelung, mit der Devolution. Man kommt nur, wenn man die in diesen Vor­trägen gemeinte Art von Forschung auf das seelische Leben anwendet, nach und nach darauf, was diese zwei Momente - Konzeption und Tod - für das tierische Wesen, für die ganze tierische Evolution eigentlich sind. Das Tier wird von allem ergriffen, was zusammenhängt mit der Konzeption

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und der darauffolgenden Produktion. Diese Evolu­tion, diese Entwickelung ist die höchste Entfaltung des organischen Lebens. Es ist genauso wie bei einer Steigerung des organischen Lebens, meinetwillen bei Fieberzuständen, daß der gewöhnliche, für sein Wesen richtige Bewußtseins-zustand zurückgedrängt wird. So ist mit der Erregung des organischen Lebens eine Zurückdrängung des Bewußtseins, eine Abdämpfung des Bewußtseins verbunden, und mit allem, was mit der Devolution und rückschreitenden Ent­wickelung zusammenhängt, ist eine Aufhellung des Be­wußtseins, ist der Moment des intensivsten Bewußtseins verbunden. Der Moment der höchsten Aufhellung, des in­tensivsten Bewußtseins - und als Geistesforscher darf ich sagen: ein Moment, wo das tierische Element nahe heran­kommt an das menschliche, man versuche nur einmal, Tiere im Sterben zu beobachten! -, das ist der Moment, wo das Tier stirbt. Diese zwei Momente höchster Verdunkelung und höchster Erhellung des Bewußtseins, Konzeption und Tod, sind beim Tier wie zwei auseinanderliegende Punkte, wie Anfang und Ende.

Beim Menschen ist es anders. Dadurch, daß sich das Haupt in der geschilderten Weise heraushebt aus der gan­zen übrigen Organisation, ist der Mensch so organisiert, daß er fortwährend das Durcheinanderspielen von Kon­zeption und Tod erlebt. Das geht durch das ganze mensch­liche Leben durch. Wir sind so organisiert, daß wir in der Gehirnorganisation, die unserm Denken in seinem Zusam­menhange zwischen Wahrnehmen und Wollen zugrunde liegt, fortwährend, ins Geistige umgesetzt, bei jeder Pro­duktion eines Gedankens - aber wie traumhaft schlafend oder gar unterbewußt - das erleben, was sonst vom Tier nur einmal erlebt wird während der Konzeption. Und an­dererseits spielt dadurch, daß der zum Haupt umgestaltete

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Organismus eben in dem Haupt seinen Geistesorganismus hat, fortwährend in unser Bewußtsein ein Sterben hinein. Wir sterben in jedem Augenblick. Genauer ausgedrückt:

Jedesmal, wenn wir einen Gedanken fassen, wird der menschliche Wille geboren in dem Gedanken, und jedesmal, wenn wir ein Wollen ins Auge fassen, stirbt der Gedanke in den Willen hinein. Das ist das, was Schopenhauer nie begriffen hat. Für ihn wurde auf der einen Seite der Wille zur eigentlichen Realität; daneben verschwand ihm wie zu einer Schein-Welt der Gedanke, weil er nicht verstand, daß Wille und Gedanke so zusammengehören, wie etwa der junge und der alte Mensch, indem der Wille dadurch Wille wird, daß der Gedanke in ihm erstorben ist, und der Wille andererseits dadurch, daß der Gedanke in ihm geboren ist, nun seine Jugend in ihm durchmacht.

Geburt und Tod erlebt der Mensch fortwährend. Im Raume habe ich Ihnen die menschliche Konfiguration ge­schildert durch die Gleichgewichtsverhältnisse. In der Zeit schildere ich sie dadurch, daß ich aufmerksam mache: das geisteswissenschaftliche Resultat besteht darin, daß das­jenige, was beim Tier nur am Anfang und Ende erlebt werden kann, sich beim Menschen durch das ganze Leben hindurchzieht; in einem feinen traumhaften Durcheinander ist in seiner Unterbewußtheit ein fortwährendes leises Er­leben von Konzeption und Tod. Dadurch, daß dies unten in den Tiefen der Menschenseelen lebt, daß es heraufpulst, daß sich der Mensch dumpf dessen bewußt ist, daß er in sich und nicht außer sich Konzeption und Tod trägt, da­durch hat er das Gefühl: Sein Wesen ist über Tod und Ge­burt hinaus lebend, umfaßt mehr als das, was mit der Kon­zeption anfängt und durch den Tod beschlossen wird. Der Mensch trägt Konzeption und Tod in sich. Ich spreche es in kurzen Worten aus. Aber erforschen Sie alles, was gegenwärtig

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Physiologie und Psychologie geben können: Sie werden es bestätigt finden, daß der Mensch das, was beim Tier auf zwei Momente verteilt ist, fortwährend in seinem Leben mit sich trägt. Das erzeugt in ihm die Vorstellung der Unsterblichkeit. Dadurch trägt er die Empfindung, den Gedanken der Unsterblichkeit wirklich in sich. Und erst dann kann man den Zusammenhang von Tier und Mensch ins Auge fassen, wenn man dies berücksichtigt.

Wie steht der Mensch zum Schlusse da? Mehr rück­gebildet, als es beim Tier der Fall ist, und das gibt ihm gerade die Grundlage für sein geistiges Wesen. Prüft man ihn ganz durch, so findet man das Merkwürdige: Wie das Auge rückgebildet ist, so ist eigentlich alles, was in der äußeren Erscheinung da ist, ins Geistige rückgebildet gegen­über dem Tier. Das entfaltet er unter denselben Verhält­nissen, unter denen das Tier sein Wesen, seine Ausgestal­tung entfaltet. Dieselben Verhältnisse wirken auf das Tier, wirken auf den Menschen. Sie wirken auf den Menschen, indem sie ihn gleichsam mit einer «Schale» versehen. Was ich jetzt geschildert habe, ist ja eigentlich das Innere des Menschen. Das ist umgestaltet, weich erhalten so, daß er sein eigenes Gleichgewicht hervorbringen kann, daß er das, was beim Tier die feste Form annimmt, in den beweglichen Formen seiner Gedanken hat. Das alles ist in ihm gelegen. Dadurch steht er der Außenwelt gegenüber wie durch eine Schale abgeschlossen da.

Was da im Menschen entdeckt werden kann, das kann eigentlich erst die Geisteswissenschaft entdecken. Die kann erst durchdringen durch diese Schale. Aber was stellt sich dann heraus? Etwas ähnliches wie beim Gedächtnis. Wir nehmen die Außenwelt wahr, wie sie ist, und verarbeiten sie. Aber wir bringen in der Erinnerung das, was wir von der Außenwelt aufgenommen haben, im späteren Leben

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wieder zum Vorschein. Ich kann heute nicht ausführen, worauf der Organismus der Erinnerung beruht; aber er beruht selbstverständlich nicht auf den Einrichtungen der Körper-Peripherie, sondern auf denen des Körper-Inneren. Geht man nun in einem tieferen Sinne in dasjenige, was die Schale zudeckt, wie man in die gewöhnliche Erinnerung hineingeht - nur daß die gewöhnliche Erinnerung unbe­wußt hervorruft, was der Organismus bewahrt -, geht man bewußt durch das schauende Bewußtsein hinein, dann holt man das herauf, was in der Tiefe der Menschennatur alles das bewirkt, was ich heute beschrieb. Die Schale wird durch das hervorgerufen, wodurch die heutige Tierwelt bestimmt wird. Wie unterscheidet sich davon das, was im mensch­lichen Innern lebt? Das wird für den Geistesschauer wie eine erhöhte, angeschaute Erinnerung; da holt er etwas herauf aus dem Menschen, was wirklich anschaulich wird, was wirklich vor das menschliche Schauvermögen hintritt. So wie vor das gewöhnliche Bewußtsein das hintritt, was die Sinne erlebt haben, so tritt etwas vor das schauende Bewußtsein hin, wenn man sich vertieft in das, was da unten ist. Da kommt dann herauf, daß jene Zeit der Ent­wickelung, welche der Mensch gleichzeitig mit den Tieren verbracht hat - die Zeit der irdischen Entwickelung -, ge­folgt ist einer andern Zeit für den Menschen, in der es noch gar keine Entwickelung der heutigen Tiere geben konnte. Der Mensch hat sich vor der Tierheit entwickelt, aber in einer andern Gestalt selbstverständlich; denn die heutige Gestalt hat er dadurch angenommen, daß er in Verhält­nisse hineingestellt ist, welche die Tiere gebildet haben. Aber was in der «Schale» ruht, führt in der geistigen An­schauung zurück zu einer früheren Gestaltung der Erde, zu einem Zustande, den wir nicht durch geologische Schlüsse verstehen lernen; sondern wenn wir den Menschen verstehen

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lernen, kommen wir zu der Erkenntnis, daß der Mensch älter ist als die Tiere, daß die Tiere später entstan­den. So verwandt sie sind mit den Menschen, sie sind spä­ter entstanden. Denn wir kommen zurück zu einer Form des Planeten, als die Tiere noch nicht vorhanden waren. Da hat der Planet so ausgesehen, daß unter der Einwir­kung seiner Verhältnisse dasjenige sich bilden konnte, was heute geschützt werden muß durch die äußere Schale, wel­che heute der Tierwelt gegenübersteht.

Was ich heute als einen Gedanken auseinandergesetzt habe, das bildet sich bei dem, der geistig schaut, zuerst als ein geistiges Gesicht aus: Man schaut zurück in frühere Ent­wickelungszustände der Erde. Das gibt aber gerade den Impuls, die Entwickelungszustände so anzusehen, wie sie sind, wie sie sein müssen, damit man das sehen kann, was man findet, wenn man erst hinschaut.

Aber da liegen noch andere Verhältnisse vor. Heute ist man ja im trivialen wissenschaftlichen Leben ganz damit einverstanden, die Erscheinungen der Erde so zu betrach­ten wie die Himmelserscheinungen; aber es hat auch etwas gebraucht, daß dieser Gedanke bei der modernen Mensch­heit sich durchsetzte, die so gar nicht autoritätsgläubig sein will, aber dafür die gegenwärtige Wissenschaft als eine unfehlbare Autorität ansieht. Man kann da eine Erfah­rung machen. Wenn Sie nach Mühihausen im Elsaß kom­men, finden Sie ein Denkmal: Oben eine Himmelskugel, davor ein Standbild Johann Heinrich Lamberts, eines Zeit­genossen Kants, der etwas ähnliches, aber etwas viel Geist­volleres ausgedacht hat als die sogenannte Kant-Laplace­sche Theorie. Wenn man noch etwas dazunehmen wurde, was Lambert gedacht hat, so würde man nicht fernstehen dem, was die Geisteswissenschaft heute ist. Aber heute ist man nun so weit, daß durch die Beschlüsse des ehrsamen

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Rates das Denkmal jenes Mannes aufgestellt wird, der be­teiligt ist an der Herstellung der modernen Himmelskunde. Wenn man jedoch hundert Jahre zurückgeht von der Er­richtung des Denkmals, so trifft man da auf etwas anderes. Da war Lambert ein junger Schneiderbub. Einzelne haben geahnt, was in ihm steckt, Kant zum Beispiel nannte ihn das «größte Genie des Jahrhunderts», und der Vater hat Gesuch über Gesuch an den Rat gerichtet, daß der Sohn weiterkommen könnte. Da hat man ihm dann vierzig Fran­ken gegeben, aber nur unter der Bedingung, daß er sich trollt, daß er nicht wiederkommt. Das war vor hundert Jahren. Nach hundert Jahren - die Denkmal-Errichtung! So geht es mit der menschlichen Entwickelung, ein Beispiel unter vielen!

Aber, um auf meinen Ausgangspunkt zurückzukommen: Die moderne naturwissenschaftliche Denkweise hat, äußer­lich betrachtet, mit der mosaischen Schöpfungsgeschichte denselben Gedanken, daß der Mensch nach den Tieren da ist. Dagegen muß die moderne Geisteswissenschaft von ihren Erkenntnissen aus sagen, daß der Mensch den Tieren vorangeht, und daß wir von unserm Erdenzustande zu­rückzugehen haben zu einem solchen Zustande, in dem der Mensch das, was er damals war, nicht geschützt durch die äußere Schale, dadurch nur entwickeln konnte, daß er sich gegenüber den äußeren Verhältnissen exponieren mußte. Da kommt man zurück zu Entwickelungszuständen unse­res Erdenlebens, die sich anders ausnehmen als das, was man Kant-Laplacesche Theorie nennt. Außerlich mag es gut gelten, daß sich ein Urnebelzustand herausgebildet und zusammengeballt hat. Ich habe hier vor einiger Zeit signi­fikante Worte Herman Grimms angeführt: daß einmal spätere Geschlechter viel Mühe haben werden, über die Verschrobenheit der Gegenwart nachzudenken, die sich

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herbeigelassen hat zu glauben, daß aus einem solchen Ur­nebelzustand alles sich herausentwickelt habe, was jetzt da ist. Es wird allerdings noch lange Zeit dauern, bis die Menschheit für eine geistige Erfassung der Dinge so weit reif sein wird, daß man das Menschenrätsel so ins Auge fassen kann, wie es heute dargestellt worden ist. Dann ent­wickelt sich aber ein anderer Entwickelungsgedanke, und ich scheue nicht zurück, zum Schluß etwas zu wiederholen, worauf ich auch schon aufmerksam gemacht habe, weil ich immer wieder und wieder darauf hinweisen muß, von wel­cher Seite her Leben und Bewegung in das wissenschaftliche Denken der heutigen Zeit gebracht werden muß.

Man kann wissenschaftlich sehr richtige Gedanken haben, aber diese können sehr weit abliegen von der Wirklichkeit. Da muß ich immer wieder hinweisen auf jenen Vortrag von Professor Dewar in London in der Royal Institution, worin er ausführte, wie die Erde nach 200 000 Jahren sein wird. Es ist ganz richtig gerechnet und gar nicht zu bezwei­feIn, ebenso wie man auch ganz richtig die Kant-Laplace­sche Theorie errechnen kann. Wie diese, so kann man auch diesen Endzustand der Erde, auf minus 200 Grad Celsius ab­gekühlt, errechnen. Da ist kein Fehler drinnen: Unsere At­mosphäre ist dann wie zu Wasser verdichtet. Dewar führt es in allen Einzelheiten aus, wie dann die Dinge auf der Erde zum Beispiel andere Aggregatzustände angenommen haben werden. Die Milch wird selbstverständlich fest sein. Ich weiß zwar nicht, wie sie dann produziert werden soll; aber sie wird selbstverständlich fest sein. Gewisse Gegenstände werden fluoreszierend sein; man wird mit Eiweiß die Wände bestreichen können und bei minus 200 Grad Cel­sius während der Nacht Zeitung lesen können. Darin ist gar kein Fehler. Nur fragt es sich, ob es dem entspricht, worauf der geisteswissenschaftliche Forscher zu sehen hat:

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Ob es nicht nur «richtig» ist, sondern ob es der Wirklichkeit entspricht, ob das Denken weiß, wo es aufzubören hat, weil es nicht mehr in der Wirklichkeit steht. Nach welchen Me­thoden sind denn diese Dinge alle berechnet? Nach Metho­den, wie etwa diese wäre: Jemand studiert den Magen eines dreißigjährigen Menschen, er verfolgt ihn über drei­hundert Jahre und rechnet aus, nach dreihundert Jahren hat sich der Magen dieses Menschen so und so entwickelt. Das kann er ebenso berechnen wie Professor Dewar den Endzustand der Erde. Der Fehler ist nur der, daß dann der Mensch nicht mehr leben wird, ebenso wie die Erde nicht mehr nach 200 000 Jahren bestehen wird. Und ebenso könnte man zurückrechnen, wie die Erde vor 300 000 Jah­ren ausgesehen hat, denn in derselben Weise kann man auch die Kant-Laplacesche Theorie ausrechnen; aber damals hat die Erde noch nicht bestanden. Es handelt sich darum, daß man unterscheiden lernt wirklichkeitsgemäßes Denken und bloß «richtiges» Denken.

Damit ist außerordentlich viel gesagt. Denn der Ge­danke, den ich ausgeführt habe, daß man durch das Stu­dium des Menschen selbst, wenn man nur in der Lage ist, auf das einzugehen, was den Menschen ausmacht, zu Ver­hältnissen kommt, unter denen die Erde ganz anders aus­gesehen hat, der ist nur zu gewinnen, wenn man in wirk­lichkeitsgemäßes Denken hineintaucht. Das aber ergibt auch die Möglichkeit, einen Gedanken darüber zu haben, wie dieses vor den gegenwärtigen irdischen Verhältnissen durch die äußere Schale, die ich charakterisiert habe, geschützte Menschenwesen den Endzustand der Erde überwinden kann - der ganz gewiß anders sein wird, als ihn Professor Dewar schildert -, damit der Mensch sich hinüberent­wickelt in Zeiten, wo die Erde ganz gewiß anders sein wird, wo die heutigen Tiere nicht mehr vorhanden sein werden.

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Das war heute eine Auseinandersetzung über die Men­schenwelt und die Tierwelt, in bezug auf ihren Ursprung und ihre Entwickelung nach geisteswissenschaftlichen Er­gebnissen dargestellt. Das nächste Mal soll gezeigt werden, wie der Mensch selbst in wiederholten Erdenleben wieder­kehrt, so daß man vollen Grund hat, Lessings Anschauung von den wiederholten Erdenleben wieder anzunehmen. Heute wollte ich eine Grundlage schaffen, um zu zeigen, wie die Geisteswissenschaft zu ganz anderen Anfangs- und Endzuständen unserer Erdentwickelung kommt, und wie in der Tat mit der Meinung gebrochen werden muß: Erst war die Tierwelt da, und auf ihrer Grundlage konnte sich erst der Mensch entwickeln. Der Mensch geht mit seiner Ent­wickelung voran. Diese Dinge wird die Geisteswissenschaft zur Geltung bringen. Eine kleine Vorahnung dieses Ver­hältnisses finden Sie eigentlich nur - wie ich es in meinen «Rätseln der Philosophie» ausgeführt habe - bei einem sehr geistvollen und energischen Forscher des neunzehnten Jahrhunderts, Wilhelm Heinrich Preuss. Da finden Sie einen ersten Anfang von diesen Dingen, aber es bleibt alles mehr oder weniger Behauptung. Erforscht können diese Sachen erst werden, wenn man mit dem schauenden Be­wußtsein in das eindringt, was geistig-seelisch eben der Mensch ist, und wovon die Naturforschung gar nicht spre­chen kann. Denn sie kann nur fragen: Wie steht der Mensch als geistig-seelisches Wesen in Beziehung zur tierischen Or­ganisation? Aber das Höchste des Geistig-Seelischen steht gar nicht zur tierischen Organisation in Beziehung, sondern das steht so zu ihr, daß es die Organisation heraushebt, ganz andere Gleichgewichtsverhältnisse hervorbringt, so daß das Erleben von Konzeption und Tod sich zusammenschiebt in einen Moment, so daß der Mensch durch die Wahrnehmung des kontinuierlichen Erlebens von Konzeption

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und Tod in sich dumpf heraufleuchten hat das Erleben der Unsterblichkeit.

Alles zusammenfassend, darf ich von der heutigen Be­trachtung sagen, sie sollte wieder von einem gewissen Ge­sichtspunkte aus auf das Menschenrätsel hinweisen, das den Menschen immer mehr und mehr beschäftigen muß. Gewisse Menschen haben - und ganz mit Recht - darauf aufmerksam gemacht: Was wird es denn eigentlich sein, wenn einer kommt und das Menschenrätsel oder die Wel­tenrätsel überhaupt einmal löst? Dann wird doch das Leben furchtbar lassig, trage werden; denn gerade in dem Streben nach der Lösung bestünde alles, was aneifernd und an­feuernd auf das geistige Leben wirkt. Und so hat man eine gewisse Besorgnis, daß durch eine Lösung der Welträtsel das Menschenleben träger werden könnte. Wenn Sie aber den Geist nehmen, aus dem heraus der heutige und die andern Vorträge gehalten wurden, so werden Sie sehen, es handelt sich um etwas ganz anderes. Hier wird nicht durch eine Theorie oder einige Sätze, wie es manche glauben, auf die Lösung des Menschenrätsels hingewiesen. Allerdings, wenn wir hinausblicken in die Welten des Universums, sie werden uns räumlich und zeitlich zu einer großen Welt-rätselfrage. Wo ist die Antwort? Wer von dem Geist aus­geht, der diesen Betrachtungen zugrunde liegt, und dort die Antwort sucht, der findet sie nicht in einem Satz, auch nicht in einer Theorie, sondern er findet sie, indem er hin­weist auf die Tatsache, daß aus Raumesweiten und Zeitenläufen rätselhaft etwas zusammengedrängt ist in dem Men­schen selbst. Das Universum gibt uns die Rätselfrage, im Menschen liegt die Antwort. Aber je weiter man vorgeht, desto weitere und tiefere Zeiten bringt man an die Ober­fläche. Indem man immer andere Zeiten anschaut, bringt man am Menschenwesen immer neue Seiten zum Vorschein. Man

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antwortet nicht mit einem Satz, nicht mit einer Theorie, sondern mit dem lebendigen Menschenwesen selbst. Die Raumestiefen und Zeitenweiten stellen dem Menschen die Rätselfrage, aber er selbst ist die Antwort. Wir werden nichts anderes tun können, als dem Menschen die Auffor­derung zu geben: Mensch, erkenne dich selber, denn in dem Grade, als du immer tiefer und tiefer in dich hineinschaust, wirst du auch immer tiefer und tiefer die Antwort finden auf die Rätsel, die dir die Raumesweiten und Zeitenfernen geben. Indem nicht auf einen Satz, nicht auf eine Theorie oder auf eine Wissenschaft hingewiesen wird, sondern auf das Leben selbst und gesagt wird: Die Antwort liegt darin, daß du in dich schaust, - ist die Möglichkeit der Antwort eröffnet, und zwar in dem Maße, wie wir unsere erwachen­den Gedanken und Gefühle in die Zukunft hineinsenden werden. Es wird nicht Lässigkeit im geistigen Leben eintre­ten, denn es werden die Weltenrätsel in immer neuen For­men an uns herantreten, und in immer neuen Formen wird auch die Antwort sich offenbaren. Alles wird an der rich­tigen Ergreifung der Welträtselfrage liegen, daß man nicht nur die Antworten, sondern schon die Fragen in der rich­tigen Weise findet. Dann aber muß die Antwort nicht er­dacht, sondern erlebt sein. Und das Leben selbst ist ein Unendliches.

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DER ÜBERSINNLICHE MENSCH Zweiter Vortrag, Berlin, 18. April 1918

Der übersinnliche Mensch nach den Ergebnissen geisteswissenschaftlicher Forschung

Da der übersinnliche Mensch, insofern er als solcher zugegeben wird, anerkannt werden muß als die tiefste innere Wesenheit des Menschen, so ist es ganz natürlich, daß die Erkenntnis des übersinnlichen Menschen im höchsten Sinne des Wortes menschliche Selbsterkenntnis ist. Aber mit die­ser menschlichen Selbsterkenntnis steht man vor einem sehr merkwürdigen Paradoxon. Man steht auf der einen Seite vor der Notwendigkeit, den Menschen selbst als Übersinn­liches zu erfassen; auf der andern Seite sind alle diejenigen Erkenntnisfähigkeiten, die der Mensch im gewöhnlichen Bewußtsein ausbildet, durchaus an die äußere Sinnlichkeit gebunden. Auch das, was er mit dem Verstande erfaßt, ist, insofern es dem menschlichen Bewußtsein angehört, an die äußere Sinnlichkeit gebunden. Man könnte daher sagen, die menschliche Selbsterkenntnis fordere die Anschauung des Menschen mit Erkenntnisfähigkeiten, die zunächst seinem Bewußtsein völlig ferne liegen. Insofern sich der Mensch seiner Wesenheit als einer übersinnlichen bewußt wird, muß er in einem gewissen Sinne anerkennen, daß alles, was er im Leben vollführt, aus seinem übersinnlichen Wesen entspringt. Auf der andern Seite, könnte man sagen, zeigt sich alles, was in seinem Bewußtsein auftritt, in einem etwas uneigentlichen Sinne in der «Verhüllung» des Sinnlichen. Daher kommt es ja, daß gerade in dem hier gemeinten geisteswissenschaftlichen

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Sinne alles Forschen und auch alles Sprechen über das Übersinnliche so leicht und so häufig mißverstanden wird. Denn die heutigen Betrachtungen werden durchaus zeigen, daß man mit den gewöhnlichen Fähigkeiten des alltäglichen Menschenbewußtseins, auch desjenigen Bewußtseins, das der äußeren Wissenschaft zu­grunde liegt, an die tiefste und damit an die wahre Wesen­heit des Menschen doch nicht herankommen kann. Ja, man muß sogar noch mehr sagen: Jene Art von Erkenntnis, die sich in so großartiger Weise in der neueren Zeit auf den Grundlagen naturwissenschaftlicher Weltbetrachtung her­ausgebildet hat, ist auf gewissen Gebieten eher dazu ge­eignet, irrezuführen in bezug auf das, was menschliche Selbsterkenntnis ist, als diese Selbsterkenntnis in der rich­tigen Weise zu leiten. Denn gerade wenn gutgeschulte naturwissenschaftliche Denkweise der Gegenwart sich her­anmacht an die menschliche Selbsterkenntnis im weitesten Sinne, dann wird man so recht gewahr, wie sie da nur allzu leicht versagen kann. Wir wollen von einem Beispiele ausgehen.

In dem immerhin sehr interessanten Büchelchen «Das unterbewußte Ich» von Louis Waldstein, das in der Wies­badener Sammlung von Schriften über die Grenzfragen des Seelen- und Nervenlebens erschienen ist, da ist von mancherlei die Rede, was auch dem Naturwissenschaftler auffällt, wenn er das menschliche Leben im weiteren Sinne in seiner Entfaltung, in seiner Offenbarung in den ver­schiedenen Verhältnissen kennenlernt. Wir haben in einem früheren Vortrage von den Offenbarungen des Unbewuß­ten, des Unterbewußten gesprochen. Dieses Beispiel, das ich anführen will, ist das eines Naturforschers, und die Art, wie er darüber spricht, ist so recht im naturwissenschaftlichen Sinne gehalten. Der Verfasser dieses Schriftchens will an

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einer bestimmten Stelle darauf aufmerksam machen, wie diese Offenbarungen des unbewußten oder unterbewußten Ichwesens herantreten an das menschliche Bewußtsein, wie dieses unterbewußte Wesen gewissermaßen eine eigentüm­liche, verschwommene Rolle spielt in dem bewußten Wesen des Menschen. Dazu wählt Waldstein das folgende Bei­spiel. Er sagt: Ich stehe vor dem Schaufenster eines Bücherladens, in dem viele Bücher ausliegen. Da ich Naturforscher bin, fällt mein Blick gerade auf eine Schrift über die Mol­lusken. In diesem Moment, als mein Blick auf dieses Buch fällt, muß ich anfangen, so still zu lächeln, und ich bin selbst darüber erstaunt, wie ich dazu komme, da doch eine Schrift über die Mollusken nichts Humoristisches hat. - Er erzählt nun weiter: Ich schließe nun die Augen, um zu er­forschen, was vielleicht in meiner Umgebung vor sich geht. Und wie ich den Blick von dem mich interessierenden Mol­lusken-Buche ablenke, da höre ich in der Tat so ganz in der Ferne, wenn auch nur ganz leise, die Töne einer Drehorgel. Sie spielt die Melodie eines Liedes, welches mir in meiner Knabenzeit gespielt worden ist, um das Tempo anzugeben, als ich meine erste Quadrille tanzte. Damals habe ich mich wenig damit befaßt, sehr stark achtzugeben, welche Sym­pathien oder Antipathien ich gerade dieser Melodie ent­gegenzubringen habe; denn ich war sehr damit beschäftigt, meine Tanzschritte ordentlich zu machen, meine Partnerin in Schwung zu halten, herumzukriegen und so weiter. Da­mals war ich also gar nicht besonders aufmerksam auf das, was mir da musikalisch so halb ins Bewußtsein getreten ist. Und dennoch, daß ich jetzt, wo ich vor dem Mollusken­-Buche stehe, nach Jahrzehnten leise lächeln muß, das be­zeugt doch, daß der Eindruck, den damals jene Melodie gemacht hat, jetzt noch nachwirkt, wo sie von einer Dreh­orgel wieder ertönt; und hätte ich nicht die Augen zugemacht,

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sondern hätte ich mich nur mit dem Erstaunen begnügt, daß ich gerade vor einem Mollusken-Buche lächeln muß, so hätte ich in der Gegenwart auch gar nicht gewußt, wie ich dazu gekommen bin, vor dem Mollusken-Buche zu lächeln.

Man sieht daraus, wie geheimnisvoll in den Unter­gründen des menschlichen Seelenlebens solche Dinge weiter-wirken, wieviel überhaupt am Menschen und im Menschen ist, das nur ganz traumhaft, könnte man sagen, verschwom­men ins Bewußtsein heraufkommt; man sieht daraus, wie schwierig es ist, zu wirklicher Selbsterkenntnis des Men­schenwesens zu kommen. Denn welcher Gefahr setzt man sich eigentlich aus, wenn man Selbstbeobachtung üben will? Doch der Gefahr, daß man es zu tun hat mit allen möglichen unterbewußten Dingen, die man vielleicht vor Jahrzehnten einmal ganz verschwommen aufgenommen hat, die nach­wirken, die nur in den alleruntersten Untergründen der Seele wie eine Stimmung wirken, die dann heraufkommen und dasjenige färben, nuancieren, was man nun an sich selbst beobachtet. Solche Beispiele bringen Waldstein und andere in großer Zahl. Sie finden solche auch in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» angegeben. Solche Beispiele sind sehr geeignet, recht vorsich­tig zu machen in bezug auf das, was man menschliche Selbstbeobachtung nennt. Denn gar mancher stellt sich auf den Boden der Selbstbeobachtung und glaubt, auf diesem auch zu einer wirklichen Erkenntnis des Menschen selbst zu kom­men. Mancher glaubt auch, indem er solche Reminiszenzen aus seinem Unterbewußtsein heraufholt, alle möglichen hellseherischen Entdeckungen zu machen.

Nun kann man ja auch in einer anderen Weise vorsichtig sein. Man kann sich zum Beispiel klarmachen, daß manche, die behaupten, durch ihre übersinnliche Erkenntnis ihres

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Inneren das oder jenes zu durchschauen, diese übersinn­lichen Erkenntnisse in Bildern ausdrücken, die zum Beispiel vom Telegraphen- oder Eisenbahnwesen oder dergleichen hergenommen sind. Daraus würde man also sehen, daß das Übersinnliche mit seinen Bildern gerade gewartet haben mußte, bis die Eisenbahnen erfunden worden sind, um sich zu zeigen. Wer aber nicht leichten Herzens, nicht unkritisch an die übersinnliche Forschung geht, der wird auch leicht wissen können, wie leichtsinnig, wie leichtfertig und un­kritisch auf diesem Gebiete zuweilen verfahren wird, und wie wohltätig es eigentlich ist, daß durch gründliches natur-wissenschaftliches Denken darauf hingewiesen wird, wie solche Inhalte, die manchmal jemand für Offenbarung hö­herer Welten hält, nichts anderes sind als das, was der Betreffende einmal in irgendeiner verschwommenen Weise in einem früheren Lebensalter aufgenommen hat, was da­mals nicht zum Bewußtsein gekommen ist, was sich in vielfacher Weise verändert hat, was er nicht wieder er­kennt, was er aber jetzt für eine Offenbarung hält, die auf übersinnliche Art zustandegekommen ist. In meinem er­wähnten Buche habe ich darauf hingewiesen, wie eigentlich alles auf den Menschen wirkt und wie manchmal in etwas, was der Mensch für eine Eingebung hält, nichts anderes zu suchen ist als die Umformung eines Ladenschildes, das er im Vorübergehen auf der Straße nicht ordentlich angesehen hat, sondern das nur in sein Unterbewußtes eingedrun­gen ist.

Damit weist man hin auf ein Gebiet des menschlichen Lebens, das recht sorgfältig und recht kritisch gerade von demjenigen ins Auge gefaßt werden muß, der ernsthaft sein Forschen auf die übersinnliche Welt ausdehnen will. Aber auf der andern Seite: Dieses ganze Reminiszenz-Wesen, dieses ganze Leben in heraufkommenden, den Menschen

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äffenden unterbewußten Vorstellungen weist auf etwas ganz anderes hin, es ist gewissermaßen die Neben­erscheinung von etwas ganz anderem. Da muß ich heute noch etwas genauer auf etwas zurückkommen, was ich im Laufe dieser Vorträge auch schon erwähnt habe: das Ver­hältnis zwischen dem, was wir das Erinnerungsvermögen der menschlichen Seele nennen, und dem, was wir das ge­wöhnliche Vorstellungsleben nennen. Eine sehr gangbare Art zu denken, die auch in der Wissenschaft, namentlich in der Seelenkunde eine große Rolle gespielt hat, ist ja diese, daß der Mensch, indem er der Außenwelt gegenübertritt, Erlebnisse hat. Diese Erlebnisse rufen Vorstellungen in ihm hervor. Diese Vorstellungen hat er jetzt. Nach einiger Zeit «erinnert» er sich. Nun stellt man sich diesen Vorgang sehr häufig so vor, als ob diese Vorstellungen, die man einmal gehabt hat und die irgendwo in den Untergründen der Seele spazieren gingen, dann wieder, wenn sie erinnert werden, heraufspazieren ins Bewußtsein. Man denkt sehr häufig, mehr oder weniger bewußt oder unterbewußt, daß das, was in der Erinnerung wieder auftritt, nichts anderes sei als dieselbe Vorstellung, die man einmal gehabt hat, und die da unten herumspaziert ist oder geschlafen hat oder sonst etwas, und dann wieder ins Bewußtsein heraufkommt. Wer aber wirkliche Beobachtung auf diesem Ge­biete zu üben versteht, wird diese Art zu denken als etwas recht Kindliches und Laienhaftes ansehen müssen. Denn wenn wir einer äußeren Erscheinung gegenüberstehen, wenn wir ein Erlebnis kleinster oder größerer Art haben, das in uns Wahrnehmungen und durch die Wahrnehmun­gen Vorstellungen hervorruft, so ist diese «Tätigkeit» - ich will es vorläufig so nennen -, die da verfließt in der Wech­selwirkung zwischen uns und der Außenwelt, von einer anderen Tätigkeit begleitet, die für gewöhnlich gar nicht

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in das menschliche Bewußtsein hereinfällt. Diese Tätigkeit ist noch eine ganz andere; sie begleitet die bewußte vor­stellungbildende Tätigkeit und richtet in unserem Men­schenwesen etwas an, was dann zur Erinnerungsbildung führt. Man muß allerdings, um das einzusehen, was ich jetzt meine, richtig beobachten können. Die trivialste Be­obachtung auf diesem Gebiete ist die, wenn Sie den Unter­schied ins Auge fassen zwischen dem Vorstellungsbilden, was einem ganz leicht fallen kann, und dem Memorieren. Denken Sie nur daran, was junge Leute, die zu einem Examen oder dergleichen «ochsen» müssen, alles anstellen müssen, damit sie etwas nicht nur in der Vorstellung haben, sondern es sich auch noch merken können. Da werden manchmal ganz sonderbare Verrichtungen noch nebenbei vorgenommen. Denken Sie an das Spiel, das dabei ver­läuft zwischen den menschlichen Händen und dem Kopfe, wenn jemand etwas ochsen muß. Natürlich ist das nur ein äußeres Zeichen für das, was ich meine. Aber in Wahrheit ist es so, daß während der Tätigkeit, die zum Vorstellen führt, eine andere noch da ist, die gar nicht ins Bewußtsein hereinfällt und die auf unseren Organismus eine Wirkung ausübt, die in etwas ganz anderem besteht, als im Bilden von Vorstellungen. Später, wenn wir uns an das wieder erinnern, was wir einmal vorgestellt haben, dann entsteht diese Vorstellung ganz von neuem; sie entsteht gewisser­maßen aus dem «Zeichen», aus dem «Engramm» - wenn ich diesen Ausdruck gebrauchen darf -, aus der «Einschrei­bung», welche diese das Vorstellungbilden begleitende Tä­tigkeit auf unseren Organismus ausüben kann. Wie wir dem Gegenstande der Außenwelt gegenüberstehen und, nach innen gerichtet, unsere Vorstellung bilden, so stehen wir beim Erinnern unserem eigenen Organwesen gegenüber. Was sich da abspielt, was so verschieden ist von

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unserem Vorstellen, wie der äußere Gegenstand von unse­rer Vorstellung, das wird neuerdings wieder in die Vor­stellung umgesetzt.

Wer die Organisation des menschlichen Geistes und sei­ner Wirksamkeit zu beobachten versteht, der weiß, daß das, was sich als Vorstellung bildet, kommt und vergeht, indem es vorgestellt wird. Und wenn etwas erinnert wird, so ist nicht die Vorstellung da unten schlafend gewesen und tritt wieder herauf, sondern aus etwas ganz anderem, was unten im Organismus vor sich geht, wird neuerdings die Vorstellung gebildet. Worauf ich da hinweisen will, das ist, daß wir in jener Tätigkeit, die ich jetzt als eine beglei­tende anführte, etwas zu sehen haben, was eigentlich neben unserem ganzen bewußten Leben einherläuft, im Unter-grunde unseres bewußten Lebens ist und mit etwas zusam­menhängt, was eben mit den Erinnerungsbildern aus unse-rem Unterbewußten immer herauftaucht. So wie, ich möchte sagen, alles das, was in den Weiten der Welt erscheint, auch seine Begleiterscheinungen hat, die zuweilen selbst wie die Karikatur des Echten auftreten, so ist auch das, was vorhin als Beispiel aus der Schrift von Louis Waldstein an­geführt worden ist, eine solche Begleiterscheinung der ganz normalen regelmäßigen Art, wie die menschliche Wesen­heit in der Gedächtnisfunktion wirkt. Man möchte sagen:

Was unterbewußt vor sich geht, damit der Mensch ein ge­dächtnishabendes Wesen ist, das kommt, wenn es überfließt oder etwas undeutlich, verschwommen bleibt, in solchen Dingen zum Vorschein, wie das ist, daß man aus der Stim­mung heraus die Klänge einer Drehorgel kaum hört und sie dennoch eine Wirkung erzeugen, die einen vor einem Mol­lusken-Buche zum Lächeln bringen kann. Was da vorliegt, das verhüllt eher das, worauf es ankommt, als daß es die Dinge erklärt. Denn worauf es ankommt, ist eine sehr

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normale, für die Menschenwesenheit sehr notwendige Be­tätigung, nämlich das, was dem menschlichen Gedächtnis zugrunde liegt. Das ist etwas, was unser ganzes bewußtes Leben fortwährend begleitet, aber wir richten nicht im gewöhnlichen Leben die Aufmerksamkeit auf dieses Be­gleitende. Das Begleitende liegt in der Einrichtung unserer Organisation.

Es ist nun eine Art Prüfstein für wirkliche übersinnliche Forschung, auf so etwas hinzuschauen wie diese das Ge­dächtnis formende, begleitende Tätigkeit unseres Vorstel­lungslebens. Denn was so fortwährend wie ein normales Wirken im Unterbewußten webt und lebt, das kann in ein Bewußtes zunächst auf einer ersten Stufe umgestaltet wer­den. Und dieses Umgestalten eines Unbewußten in ein Be­wußtes ist eines der Glieder, deren Ausbildung zur wirk­lichen Geistesforschung, zur wirklichen Erforschung des Übersinnlichen führt. Es muß eben zum wirklichen Erfor­schen des Übersinnlichen das, was sonst unterbewußt bleibt, ins Bewußtsein heraufgeholt werden. Dadurch wird es schon ein anderes. Nun besteht das, was in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» als Übungen be­schrieben wird, die man durchzumachen hat, um die Seele in eine solche Verfassung zu bringen, daß sie dem Über­sinnlichen gegenüberzustehen vermag, in vielem. Aber ein Elementares kann man auch dadurch anschaulich machen, daß man zeigt, wie verwandt dieses erste Elementarische mit einer ganz normalen, aber sonst unterbewußt bleiben­den Tätigkeit des Menschen ist. Man muß nur die Tätigkeit, welche da unbewußt, aber ganz normal ausgeübt wird, um das Gedächtnis zu formieren, bewußt ausführen. Dazu ist notwendig, daß man von dem, was sonst bewußt ist, ab­zusehen vermag, daß man also nicht für das Leben, aber um im Geistigen zu forschen, abzusehen vermag von derjenigen

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Tätigkeit, die die gewöhnliche, an die Sinnlichkeit gebundene Vorstellung hervorruft. Man muß sich gewis­sermaßen zurückziehen können von diesem Vorstellen. Das kann man aber nicht, wenn man nicht ein anderes Vor­stellen in der Seele an dessen Stelle rücken kann, wenn man nicht die Seele innerlich so erkraften und erstarken kann, daß ein anderes als das von der äußeren Wahrneh­mung Unterhaltene in der Seele auftritt. Man erreicht die­ses, indem man möglichst selbstgewollte, selbstgebildete Vorstellungen, die überschaubar sind, in den Mittelpunkt des Seelenlebens rückt, indem man also sich zurückzieht vom äußeren Anschauen, mit sich selbst ist und in sein Seelenleben hereinstellt selbstgebildete, überschaubare Vor­stellungen.

Ich sage «überschaubare» Vorstellungen; das ist außer­ordentlich wichtig. Selbstgewollte, selbstgebildete, über­schaubare Vorstellungen müssen es sein aus dem einfachen Grunde, weil eben gerade alles Unterbewußte, alles das, wovon man nicht wissen kann, aus welcher verschwom­menen Wahrnehmung es herrührt, ob es nicht irgendwie die Klänge einer Drehorgel sind, ausgeschaltet werden muß. Man ist aber nie sicher - das sieht man ja aus diesem Beispiel -, daß sich dieses Verschwommene, unterbewußte Weben des Seelenlebens ausschaltet, wenn man nicht in dieses Seelenleben eine Vorstellung hereinstellt, die man wirklich durchschauen kann in dem Moment, wo man sie gebildet, selbst gewollt hat, selbst zusammengestellt hat, so daß man weiß: Jedes Stück dieser Vorstellung ist aus dem unmittelbaren Willen hervorgegangen, den man in diesem Augenblicke entfaltet hat. «Selbst gewollt» bedeutet natür­lich nicht «selbst gemacht»; man kann sich von einem er­fahrenen Geistesforscher solche Vorstellungen geben las­sen, und er wird es sogar am besten wissen können, wie sie

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der Individualität des betreffenden Menschen angepaßt werden können. Darauf aber kommt es an, daß man sie hereinstellt in die Seele, daß man die Vorstellung mit den Gedanken durchströmt und in der Seele erlebt, daß man nichts anderes in der Seele hat als diese Vorstellung. Und darauf kommt es weiter an, daß diese Vorstellungen wo­möglich in sehr beweglicher Art unser Bewußtsein in An­spruch nehmen, daß es in jedem Atom, möchte ich sagen, dieses Vorstellens anwesend ist, daß es dabei ist beim gan­zen Überschauen dieses Vorstellens. Das wird ganz beson­ders erfüllt, wenn man solche Vorstellungen in sein Be­wußtsein hereinnimmt, welche einen anregen, die Gedanken, die man darauf verwendet, beweglich zu machen.

Eine wachsende Pflanze zum Beispiel, die größer und größer wird, das ist eine gute Vorstellung; nicht das Anstarren eines Ruhenden, sondern das, was in Bewegung ist oder was irgendwelche Beziehungen zueinander hat. Dadurch werden wir davor behütet, daß unser Bewußtsein untätig wird, indem es auf die Vorstellung hinstarrt. Denn es kommt für die Erforschung der übersinnlichen Welt darauf an, daß alles, was als Vorbereitung zu dieser For­schung gemacht wird, vom Anfang bis zum Ende voll von dem Bewußtsein durchleuchtet, durchstrahlt ist, daß in keiner Weise das Bewußtsein irgendwie herabgedämpft ist. Daher gehört es zu den ersten Anforderungen des sich vor­bereitenden Geistesforschers, daß er von derjenigen Tätig­keit seiner Seele, die zur Geistesforschung eben hinführen soll - selbstverständlich nicht vom übrigen Leben -, alles ausschaltet, was irgendwie zur Herabstimmung des Be­wußtseins führen kann. Das ist vor allem wichtig, daß in diesem Leben in überschaubaren Vorstellungen - in die­sem «Meditieren», wie man es nennen kann, um einen Ausdruck dafür zu haben; aber wichtiger ist, die Sache anzuschauen,

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als einen Ausdruck dafür zu gewinnen - nichts im Bewußtsein waltet, was es herabstimmen kann. So ist die erste Anforderung, daß alles Träumerische, was aus dem unbestimmten, unbewußten Seelenleben heraufdämmert, alle Gedanken, die so aufsteigen aus dem Innern, dem man sich in einer gewissen geistigen Wollust gern hingibt, gründlich ausgeschaltet wird aus den Vorbereitungen zur geisteswissenschaftlichen Forschung. Ferner muß alles fort, was irgendwie das Bewußtsein im Wahrnehmen herab­stimmen könnte. Es darf also auch nicht einmal innerlich­seelisch dasjenige, was da angestrebt wird, irgendwie etwas zu tun haben zum Beispiel mit dem Anstarren eines leuch­tenden Punktes, durch den man in einen gewissen hypnoti­schen Zustand kommen könnte, oder mit dem, was manche Menschen gerade als eine recht nette Vorbereitung - weil sie dann nicht hübsch dabei zu sein brauchen - für die gei­stige Anschauung empfinden: etwa «Kristallsehen» und der­gleichen. Das Gegenteil von allem, was etwas zu tun hat mit Herabstimmung des Bewußtseins, mit suggestiven oder hypnotischen Zuständen, muß ausgebildet werden, wenn es sich um Vorbereitung zu Geistesforschung handelt. We­der das Traumhafte noch das Hinstarrende darf irgendwie in die Vorbereitungen zum geistigen Forschen hineinkom­men. Daran können Sie sehen: Wenn Sie vielfach von Leuten hören, die auch «Anhänger» der Geisteswissenschaft sind und so etwas charakterisieren, daß man womöglich mit Ausschaltung des Eigenwesens sich so recht an ein träu­merisches «Hingegebensein» verlieren muß, so recht men­schen- und weltverloren hinschwelgt in seinem Bewußtsein, so ist das diejenige «Geisteswissenschaft», die vielleicht sehr viel Behagen verursachen kann, auch sehr viel nette Träumereien, die aber ganz gewiß nicht zum Erforschen der übersinnlichen Welt führt.

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Es muß schon manchmal auf solche Dinge auch aufmerk­sam gemacht werden; denn selbst Leute, die ernsthafte Kri­tiker der Geistesforschung, wie sie hier gemeint ist, sein wollen, verwechseln diese just mit ihrem Gegenteil. Sogar ein Kritiker, der sehr viel Aufsehen gemacht hat, verwech­selt gründlich diese Geistesforschung mit ihrem Gegenteil, und er beschreibt das «Jenseits der Seele» gerade in den­jenigen Erscheinungen, welche nach den Methoden der Geistesforschung alles eher sind als das, was im Gebiete der geistigen Welt lebt. Merkwürdig ist es allerdings, daß ge­rade dieser Kritiker angeführt hat - er führt es als ein Beispiel seines eigenen Seelenlebens an, was doch zuweilen interessiert -, daß er, indem er einen Vortrag hält, so eine Weile fortspricht und dann erst merkt, daß er weiterge­sprochen hat, ohne daß auch die Gedanken mitgegangen sind. Von einem Redner, dem das passieren kann, daß er so zu seinem Publikum spricht, daß die Worte fortfließen, ohne daß die Gedanken sie begleiten, von dem kann man ganz sicher sein, daß er nicht die Spur von dem begriffen hat, was hier mit Geistesforschung gemeint ist.

Man muß natürlich das, was ich jetzt angegeben habe, weiter ausbauen, aber es kommt mir jetzt darauf an, das Wesentliche hervorzuheben. Das Wesentliche und Wichtige dessen, was man auf diese Weise innerlich erlebt, ist fol­gendes: Indem man immer mehr und mehr in der Seele solche Vorstellungen hervorruft und darauf achtgibt, wie sich dann die Seele betätigt, wie sie sich anders betätigt als beim äußeren Wahrnehmen, enthüllt sich einem von einem bestimmten Punkte an die große, bedeutungsvolle Tat­sache, daß man nun mitten drinnen steckt in dem, was solches Meditieren in einem bewirkt hat, daß man mitten drinnen steckt in einer solchen inneren Seelenbetätigung, die sonst unbewußt bleibt und als unbewußte im gewöhnlichen

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Leben zur Gedächtnisbildung führt. Man hat ge­wissermaßen das, was man sonst im Vorstellungsleben erlebt, um eine Stufe hinuntergeschoben. Man hat nicht berücksichtigt, was man sonst im Vorstellungsleben erlebt, und man hat das berücksichtigt, was sonst dieses Vorstel­lungbilden begleitet. Man hat sein ganzes Ich-Bewußtsein um eine Stufe hinuntergeschoben, wo sonst das verrichtet wird, was zur Erinnerung führt, und man lernt auf diese Weise erkennen, was sonst fortwährend unten in der Seele spielt, was man im gewöhnlichen Bewußtsein nicht berück­sichtigt, was aber webt und lebt und einen dazu befähigt, Erinnerungen zu haben. Und was davon abhängt, daß sich der Mensch Erinnerungen bilden kann, das habe ich öfter auch hier gezeigt. Jeder weiß, was es für den Menschen bedeutet, wenn in krankhafter Weise sein Erinnerungsver­mögen für eine Zeit gestört wird. Man lernt erkennen eine Stufe des seelischen Erlebens, die für das gewöhnliche Leben ein Unterbewußtes darstellt, und die doch nicht geleugnet werden kann, weil sie in ihren Wirkungen da ist, die aber, wenn man sich in das einlebt, was man sich so meditierend erweckt hat, eine besondere Erfahrung ist. Und diese Er­fahrung ist für den, der für solche Dinge überhaupt eine Empfindung hat, eine erschütternde. Man macht die Er­fahrung, daß man jetzt, indem man diese unter dem Be­wußtsein liegende Stufe des Seelenlebens erreicht hat, da­mit diejenige Stufe erreicht hat, wo das Gedächtnis lebt und webt, daß man an etwas herangekommen ist im eige­nen menschlichen Wesen, was sonst auch recht unbewußt verläuft, was gewöhnlich niemals eigentlich seinem Wesen nach auch nur annähernd in das Bewußtsein hereintritt. Man lernt nämlich bezüglich dieser erinnerungbildenden Kraft, die man jetzt ihrem Wesen nach ein wenig durch­schauen gelernt hat, eine gewisse Verwandtschaft erkennen

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mit dem, was in uns die Kraft des Wachsens und des Wie­derabnehmens ist, mit alledem, was uns aus unserem or­ganischen Leben heraus wachsend führt von der Kindheit bis zum erwachsenen Menschen, und was unser Leben «ent­wachsen» macht, indem wir von einer bestimmten Stufe an abnehmen. Was alles als organbildende, uns vergrö­ßernde und auch später in uns wirksame Kräfte lebt und webt, was organische Kraft ist, Was Bildungskraft in uns ist, aber auch was in der Pflanze Bildungskraft ist, das lernt man erkennen. Denn während das, was unten webt und lebt und sich in unserem Wachstum zum Ausdruck bringt, recht ferne steht unserem gewöhnlichen Vorstellen, findet man es nahegerückt dem, was nun als erinnerung-bildende Kraft auftritt. Es wächst immer gleich etwas zu­sammen, was sonst in einem ist: zwei Strömungen, die Wachstumskraft, die in einem selbst gestaltenbildende Kraft, und die Erinnerungskraft, die wachsen zusammen zu einem zusammengesetzten Gebilde, das man in sich hat und das man auf diese Weise kennenlernt. Das tragen wir fort­während in uns herum.

Das gewöhnliche Bewußtsein ahnt gar nicht, daß dieselbe Kraft, welche den Menschen vom kleinen Kinde an als Wachstumskraft, als gestaltbildende Kraft begleitet, in einer Steigerung, in einer Verfeinerung dieselbe ist, an die appel­liert wird, indem der Mensch Erinnerungen bildet. Aber es ist doch etwas Zusammengesetztes. Wenn man die Sache kennenlernt, so stellt sie sich als etwas Zusammengesetztes dar. Man lernt nämlich das, was da als Wachstumskraft und als Erinnerungskraft gewissermaßen zusammengebun­den ist, auch wieder voneinander unterscheiden; es ist gewissermaßen eine Zweiheit, die als Einheit zusammenwirkt. Indem man auf die Sache eingeht, entdeckt man: Was man als Erinnerung heraufholt, ist eigentlich ein

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unterbewußtes Wissen, eine tiefere Stufe des Bewußtseins, ein Leben und Weben eines Bewußtseins, in welchem nicht unser gewöhnliches Ich lebt. Aber dieses Bewußtsein durch­dringt das andere in uns, was die Wachstumskraft ist. Diese zwei - Wachstums- und Gestaltungskraft und Erinnerungskraft - lernt man als etwas erkennen, was sich gegenüber­steht, sich nur näher gegenübersteht, als unser bewußtes Wissen und die äußere körperliche Welt. Nur steht unser bewußtes Wissen der äußeren körperlichen Welt ferner; wir können nicht die Brücke schlagen von dem einen zum andern, wir kommen nicht hinüber für das gewöhnliche Bewußtsein. Was wir da heraufnehmen wollen, was wir uns durch Meditationen bewußt machen, das trägt gewisser­maßen seinen eigenen Gegenstand in sich, ist aber doch etwas, was unserem Wissen verwandt ist. Wir lernen eine Zweiheit durchschauen. Diese Zweiheit tritt aber doch, je weiter man in seinem Seelenleben kommt, sehr deutlich, sehr klar vor das schauende Bewußtsein. Man schaut auf diese Weise das, was als Wachstumskraft webt und lebt. Man schaut es - um einen guten alten Troxlerischen Aus­spruch zu gebrauchen - als die wahre menschliche Leiblich­keit gegenüber der physischen Körperlichkeit. In unserem gewöhnlichen Bewußtsein nehmen wir die physische Kör­perlichkeit wahr. Dieses Unterbewußtsein, zu dem wir da herangekommen sind, nimmt diese Leiblichkeit in uns wahr.

Ich habe, um nicht mißverstanden zu werden, in der Zeit­schrift «Das Reich» in der letzten Zeit dasjenige, was in uns lebt und webt als Gestaltungskraft, was nicht von dem gewöhnlichen Bewußtsein wahrgenommen wird, wohl aber von demjenigen, das wirkt und webt im Gedächtnis, den «Bildekräfteleib» genannt. Früher nannte ich es den «äthe­rischen Leib», aber da sich gewisse Leute schon einmal an

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Ausdrücken stoßen, habe ich versucht, mit den Worten näher heranzukommen an das, worum es sich handelt, und habe das, was unserem physischen Leib am nächsten liegt und unser ganzes Leben als die gestaltenbildende Kraft be­gleitet, den «Bildekräfteleib» genannt. Und das, was nun nicht in unserem gewöhnlichen Bewußtsein lebt, was unter diesem Bewußtsein diesem Bildekräfteleib immer nahe steht, und zu dem man vordringt durch die Meditation, das kann man - wenn man nicht scheut, daß dann die Spötter kommen und sich über das, was sie nicht verstehen, weid­lich lustig machen - aus gewissen Gründen den «astralischen Leib» nennen; man kann es aber auch die «Seele» nennen, die da wirkt um eine Schichte tiefer als das gewöhnliche Bewußtsein. Und wie der Chemiker einen zusammengesetz­ten Stoff in die verschiedenen Elemente zerlegt, oder wie der Physiker das, was ihm im weißen Sonnenlicht entgegen­kommt, in verschiedene Farbennuancen gliedert, so haben wir jetzt des Menschen Wesenheit gegliedert in den physi­schen Leib, den man mit den äußeren Sinnen sieht und der der äußeren Wahrnehmung gegeben ist, in den Bildekräfte­leib, der das erste Übersinnliche des Menschen ist, und in den astralischen Leib oder in das Seelenwesen, das nicht nach der Art des gewöhnlichen Bewußtseins, aber unter dem gewöhnlichen Bewußtsein weiß von dem Leben und Weben des Bildekräfteleibes, aber in das gewöhnliche Be­wußtsein nur heraufstrahlt in den Erinnerungsbildern, in den Wogen, die sich als Erinnerungsvorstellungen bilden. Und gewissermaßen für sich herausgegliedert aus alle dem ist dann das, was wie schwimmend auf diesem dreifachen Menschen ist: die eigentliche Ich-Wesenheit, diejenige We­senheit, die nichts weiß von dem, was die Seele in dem hier gemeinten Sinne weiß von dem Leiblichen, die aber sich herausgliedert aus dem Seelischen und dann das gewöhnliche

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Bewußtsein bildet, und die geistig ist. Daß diese Ich-Wesenheit, die zunächst nicht das Geistige wahrnimmt, sondern sich der Werkzeuge der Sinne bedient, um die Um­welt wahrzunehmen und den Menschen selbst mit den Mitteln wahrzunehmen, die auch auf die Umwelt anwend­bar sind, - daß dieses Ich, dieses eigentliche Selbst des Men­schen wieder als ein besonderes Glied abgesondert werden muß von den übrigen Gliedern des Menschen, das stellt sich allerdings erst heraus, wenn man in demjenigen Seelen-Üben, das ich prinzipiell angedeutet habe, etwas weiter vordringt. Ich habe geschildert, wie man selbstgebildete, überschaubare Vorstellungen in die Seele hereinrückt. Da ist es gut, sagte ich, wenn man Vorstellungen nimmt, an denen das Vorstellungsleben selbst beweglich sein muß, und dann versucht zu empfinden, zu erleben, was eben erlebt werden kann in diesem Ruhen in solchen Vorstellungen.

Das sind zwei Dinge. Das eine ist, daß einem bewußt wird, daß es ein solches Weben und Leben, wie es der Ge­dächtnisbildung ähnlich ist, in der Menschenwesenheit gibt. Das andere ist, was man erfährt, wenn man noch besonders innerlich auf dieses Erleben hinschaut. Es ist das geradeso, als wenn man zum Beispiel so vorgehen würde, wie man auf der einen Seite die Vorstellungen bildet, auf der an­deren Seite das Denken bildet, was dann zur Erinnerung wird. Das ist ein besonderes Erleben. Wer es durchmacht, wer sich also im wirklichen Sinne zum Geistesforscher aus­bildet, der weiß, daß dies ein besonderes Erleben ist. Denn ein Element hört von einem bestimmten Augenblicke an auf, in diesem Seelenleben zu walten, das eigentlich sonst immer eine Bedeutung für unser Seelenleben hat: es hört auf das räumliche Element. Wenn Sie sich darauf besinnen, wie alles, was Sie im gewöhnlichen Bewußtsein vorstellen, durchtränkt und durchsetzt ist von irgendwelchen Raumesvorstellungen

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- man kann ja im gewöhnlichen Bewußtsein kaum etwas vorstellen, was nicht mit dem Raume zugleich vorgestellt wird -, dann werden Sie ermessen, wie sehr das gewöhnliche Bewußtsein am Raume hängt. Dieses Erleben, das sich an solche Vorstellungen angliedert, wie ich es ent­wickelt habe, führt allmählich dazu, sich aus dem Raume herausgehoben und sich in bloß zeitlichen Vorgängen, in zeitlichen Prozessen darinnen zu wissen. Das ist wie ein be­deutender Fortgang des menschlichen Seelenlebens: Sich im Strome der Zeit zu wissen, denn das führt dazu, den Strom der Zeit wirklich zu durchschauen. Ich sagte ja: Das Ganze läuft darauf hinaus, die Verwandtschaft des Erinnerungsvermögens mit den Wachstumskräften, die unsere Gestalt-bildung begleiten, zu erkennen. Gerade in dieses Zeitliche wird man hineinversetzt.

Und etwas anderes ist noch besonders wichtig. Ich sagte, es ist ein Zweifaches: Diese Vorstellungen haben - und nun noch besonders achtgeben mit intensiver Aufmerksamkeit darauf, was man da erlebt, wie man das Beweglichwerden des Vorstellungslebens, das bloße Weben in der Zeit, wirk­lich erlebt; denn dann ist man mit seinem Ich in diesem Vorstellungsleben darinnen. Man ist aber nicht nur in einem Vorstellungsleben, sondern überhaupt in einem Leben dar­innen, das durchsetzt ist von den realen, in der Zeit leben­den und webenden Kräften. Dann ist man herangekommen an ein Erleben des Ich, das ganz anders ist als das gewöhn­liche Erleben des Ich. Wer das gewöhnliche Erleben des Ich durch eine sachgemäße Selbstbeobachtung kennt, der weiß, wie eng es gebunden ist an die menschliche Leiblichkeit, und ich habe das letztemal geschildert, an welche Elemente der Leiblichkeit das Ich zunächst gebunden ist: daß es sich um Gleichgewichtsverhältnisse handelt, also um etwas, was in entscheidender Weise in den Raum hineingestellt ist.

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Aber man kann nicht bei diesem Erleben bleiben, sondern man gelangt richtig in den Zeitenlauf hinein.

Was jetzt angedeutet worden ist, wird heute noch von den wenigsten Menschen - auch von denjenigen, die sich fach­lich mit diesen Dingen beschäftigen - irgendwie berücksich­tigt, und man hört Vorstellungen charakterisieren, die heute noch immer in einer Weise hingenommen werden, als wenn sie das Allergewisseste darstellten. So wird von manchen philosophischen Denkern davon ausgegangen, daß unser Ich - das heißt das Ich, welches das gewöhnliche Be­wußtsein hat - dasjenige Ich ist, das man sich als bleibend in allem Erleben von der Geburt bis zum Tode bewahrt. Hat doch ein Philosoph, der allerdings in einer merkwür­digen Weise bei seiner Philosophie zu Werke gegangen ist, den sonderbaren Begriff geprägt, daß dieses Ich, in das man sich, um ein wirklicher Philosoph zu werden, intuitiv hineinversetzen soll, besonders charakterisiert ist durch die Eigenschaft der «Dauer». Ja, er hat sogar den merkwürdigen Satz geprägt, daß niemand zu dem eigentlichen Menschen­wesen vordringt, der nicht diesen Begriff fassen kann: «die Dauer dauert». Während alles Äußere vorübergeht, ist dieses innerliche Ich-Leben, wie er es zu kennen meint, Dauer, reine Dauer. Wenn er sagt: «die Dauer dauert», so hat man dabei die Empfindung, wie wenn jemand charakteri­sieren will «das Holz holzt» oder «das Eisen eisent». Aber wenn ein Philosoph so etwas prägt, so denkt die heutige autoritätsgläubige Menschheit nicht darüber nach, wie es sich eigentlich mit der Logik einer solchen Sache verhält. Aber davon abgesehen, gibt es eine sehr naheliegende Widerlegung dieses sonderbaren Begriffes von dem dau­ernden gewöhnlichen Ich. Dafür ist jede Nacht ein Bei­spiel, wo vom Einschlafen bis zum Aufwachen - mit Aus­nahme der Zeit, in welcher die Träume weben - das

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Ich-Erlebnis aufhört. Jeder traumlose Schlaf widerlegt diese Berühmtheit der Bergsonschen Philosophie. Darum kann es sich nicht handeln, wenn man den Menschen er­kennen will, irgend etwas auf das gewöhnliche Ich-Erleb­nis aufzubauen. Aber man trägt das Ich-Erlebnis in den Zeitenlauf hinein. Und dann, wenn man das Ich in den Zeitenlauf hineinträgt, wenn zu dem andern Erleben des seelischen Unterbewußten und des gestaltbildenden Leibes dieses neue Ich-Erlebnis auftritt, dann gilt das nicht mehr, daß jeder Schlaf dieses Ich-Erlebnis unterbricht, sondern dann gilt ein anderes. Dann stellt sich nämlich heraus, daß mit unserer Ich-Vorstellung auch das Folgende zusammen­hängt.

Ich habe das letztemal darauf hingewiesen, aus welchem dumpfen Erfühlen diese Ich-Vorstellung eigentlich auftritt. Sie muß gewissermaßen angefeuert werden. Im traumlosen Schlaf, vom Einschlafen bis zum Aufwachen, ist sie nicht da. Wodurch wird sie angefeuert? Sie wird angefeuert in dem Moment, wo wir mit unserer Seele wieder an unsere Körperlichkeit herankommen. Unsere Körperlichkeit ist von außen der Erreger desjenigen, was wir als unser Ich im gewöhnlichen Bewußtsein finden. Wir stoßen im gewöhn­lichen Bewußtsein mit unserem Körper zusammen; das regt unsere Ich-Vorstellung an. Diese Ich-Vorstellung darf nicht als etwas Dauerndes angesehen werden. Aber mit dem, was ich jetzt als ein neues Ich-Erleben geschildert habe, verhält es sich ganz anders. Das lebt im Zeitenstrom, es ist aus dem Räumlichen herausgehoben. Das wird gerade angefacht, indem der Mensch das Erleben in dem einen Zeitpunkte - jetzt nicht im räumlichen Zusammenstoßen mit der Körper­lichkeit, sondern im Zusammenstoß mit dem Erleben eines andern Zeitpunktes - entfacht. Dieses Ich-Erlebnis, von dem ich jetzt gesprochen habe, ist damit identisch, daß,

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wenn ich aufwache, ich in geheimnisvoller Weise mit dem Zeitmoment zusammenstoße, in dem ich eingeschlafen bin. Und dieses bildet die Grundlage für das neue Ich-Erlebnis, daß wir uns in verschiedenen, in aufeinanderfolgenden Zeitmomenten erleben, daß wir hinüberschauen über die Zeit, daß wir die Zeit überbrücken, auch wenn sie diskon­tinuierlich ist, wenn der Schlaf sie stört. Das ist das We­sentliche dieses Ich-Erlebnisses. Dadurch, daß wir das Ich einsenken in das Seelische, insofern dieses verwandt ist mit den Wachstumsverhältnissen, dadurch senken wir das Ich selbst in die Wachstumsverhältnisse ein. Wir dringen zu dem vor im Ich, was uns begleitet von der Geburt bis zum Tode; wir dringen ein in den fortdauernden Strom des Ich­-Erlebens. Was sonst von der Philosophie nur erschlossen wird, wovon man nur urteilt, das wird erlebt. Und man wehrt sich sogar dagegen - ich habe das auch schon hier angeführt -, daß Eduard von Hartmann in seinen psycho­logischen Schriften davon redet, daß, wenn man ein Gefühl beobachten will, es dadurch gestört wird und sich verändert.

Wenn Eduard von Hartmann dies bemerkt, so will er gerade ausschließen, daß das Ich leben kann in diesem Zei­tenstrom. Er will gerade damit beweisen, daß für das Er­leben des Ich der Zeitenstrom ihm verloren geht. Er geht aber nicht verloren, sondern wird gerade dadurch gewon­nen. Ja, wer von diesem geisteswissenschaftlichen Gesichts­punkte aus Selbstbeobachtung üben kann, der weiß, wie dieses Erleben des Ich, das in diesem Zeitmoment unseres Daseins da ist, in Wechselverhältnisse tritt zu früheren Zeitmomenten.

Nehmen Sie es nicht als eine Albernheit oder als Renom­miererei, wenn ich ein eigenes Erlebnis meiner allerjüngsten Tage hier anführe. Ich will ein eigenes Erlebnis anführen, das sehr einfach scheint, wenn es erlebt wird, das mir aber

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neuerdings wieder etwas innerlich Erschütterndes war. Ich habe im Jahre 1894 ein Buch abgeschlossen, in welchem ich rein philosophisch darauf aufmerksam gemacht habe, wie das menschliche Denken schon ein Geistiges ist: meine «Philosophie der Freiheit». Ich war, als ich das Buch schrieb, ein junger Mensch von dreiunddreißig Jahren. In dieser jüngst verflossenen Zeit hat sich nun die Notwendigkeit ergeben, dieses Buch für eine Neuausgabe von neuem durchzuarbeiten, wiederum alles durchzumachen, was damals durch meine Seele gezogen ist, und dabei zugleich zu beob­achten, wie sich die Ich-Erlebnisse von jetzt zu den ganz gleichen Ich-Erlebnissen von dazumal verhalten. Wenn man es dazu bringt, zu sehen, wie an dem Wiederdurch­machen des verflossenen Erlebnisses und an diesem Zusam­menkommen mit dem wiedererstandenen Erlebnis etwas ähnliches zeitlich eintritt wie sonst beim Erwachen - eine Beobachtung, die für die meisten Menschen vorüberläuft, die sich an frühere Erlebnisse einfach erinnern und nicht hinschauen können auf alles, was da wiederum wird -, dann kann man gerade an einem solchen Beispiel sehen, wie das Ich angefacht wird geradeso, wie an der Leiblich­keit im Erwachen, indem es mit etwas, was im Zeiten­strome von ihm vorhanden war, wieder zusammentrifft, darauf aufstößt. Wer das nicht beobachten kann, der er­mißt gar nicht, was man erlebt, wenn man das Ich nicht im Strom des Räumlichen darinnenstehend hat, sondern wenn man gezwungen ist, es in Gemäßheit der in der «Philosophie der Freiheit» entwickelten Vorstellungen zu denken, die ja viele Menschen «Abstraktionen» nennen; ich nenne sie die konkretesten, lebendigsten Vorstellungen, weil die «Philosophie der Freiheit» ja lauter lebendige Be­griffe entwickelt. Es ist das vorhanden, was ich nennen möchte das Erleben des Ich in bezug auf die Wechselwir­kung

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des einen Zeitpunktes mit dem anderen. Da beginnt das, was bildhaft genannt werden kann der Übergang zu dem innerlichen musikalischen Erleben der Welt. Es ist, wenn ich es damit vergleichen darf, wie wenn Sie einen Ton einer Melodie in Wechselverhältnis setzen würden zu den anderen Tönen der Melodie, wenn also nicht bloß das entsteht, daß der Ton gewissermaßen die Luft erschüttert, sich an dem Räumlichen erfährt, sondern wenn ein Ton mit dem andern in Wechselwirkung tritt. Anders ist es eigentlich unmöglich, das innere Weben und Leben dieses zunächst höchsten Gliedes der menschlichen Wesenheit ins innere geistige Auge zu fassen, als dadurch, daß man über­geht zu einem solchen musikalischen Erlebnis des einen Zeitpunktes durch den andern.

Dadurch gliedert sich also die gesamte menschliche We­senheit in 1. den physischen Leib, 2. den Bildekräfteleib, den ich charakterisiert habe als das, was im Gedächtnis wirkt, was wie ein unterbewußtes Wissen den Bildekräfte­leib durchgeistigt, 3. das eigentlich Seelische, den astrali­schen Leib, und 4. das Ich. Dann haben wir versucht, indem wir so den Menschen verfolgten von der untersten sinn­lichen Grenze des Körperlichen bis herauf zu dem, was als Geistigstes am Menschen auftritt, zu dem eigentlichenÜber­sinnlichen zu blicken, und damit hat man erst den ganzen, vollen Menschen vor sich. Damit hat man aber auch den Hinweis gegeben auf die Art und Weise, wie erlebt werden muß, damit das wirklich Dauernde im Menschen un­mittelbar innerlich angeschaut werden kann. Da nutzt nicht irgendeine Ausdeutung, irgendeine philosophische Zerglie­derung des gewöhnlichen Ich; da muß dieses Ich in eine andere Sphäre hineingetragen werden, muß unter ganz an­deren Bedingungen neu erlebt werden. Dieses Ich, das man auf diese Weise erlebt, ist zu gleicher Zeit erlebt als ein

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von der räumlichen Körperlichkeit unabhängiges Ich, und es schwingt sich nach und nach, indem es seine Übungen fortsetzt, dazu auf, überhaupt im Zeitenstrome wahrneh­men zu können, dasjenige wahrnehmen zu können, was im Menschen nur zeitlich, nicht räumlich lebt.

Wenn ich für die, welche von solchen Dingen etwas wis­sen, das einfügen darf: Man hat in der Philosophie der Gegenwart darauf aufmerksam gemacht, daß man an das Seelische nicht herankommt, wenn man es substantiell grei­fen will, sondern erst dann, wenn man es als einen Durch­gang durch einen Prozeß nimmt. Besonders hat Wundt darauf aufmerksam gemacht. Allein Wundt hat eben ab­strakt darauf hingewiesen, daß man an das Seelische nicht herankommt, wenn man es als Substanz betrachtet, son­dern daß man es im lebendigen Prozeß zu sehen hat. Aber es handelt sich nicht darum, es sich nur im seelischen Pro­zeß durch abstrakte Begriffe zu vergegenwärtigen, sondern mit dem eigenen Ich unterzutauchen in den seelischen Pro­zeß und diesen Prozeß mitzuerleben. Dann tritt nach und nach das auf, was es möglich macht, diesen seelischen Pro­zeß auch über diejenigen Zeiten hinüber zu verfolgen, in denen er eingespannt ist in das Räumlich-Körperliche. Hat man einmal gelernt, das Erleben des einen Zeitmomentes zusammenstoßen zu lassen mit dem andern Zeitmoment, dann kann man auch allmählich in sich die Fähigkeit heranentwickeln, das innere Erleben des Ich überhaupt anstoßen zu lassen an den Zeitenstrom, wo das Räumlich-Körperhafte erst entstanden ist in der Vererbungsströmung. Dann erweitert sich der Zeitenstrom über das Räumlich-Körperhafte hinaus, dann schaut man in dem Zeitenstrome, in welchem das Ich webt, in das vorgeburtliche Leben und in das Leben nach dem Tode in einer gewissen Weise hinein. Dann tritt für eine neuere Erkenntnis das auf, was ich oftmals

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schon mit einem gewissen Bilde zu vergleichen ver­suchte. Dem, der das durchmacht, was ich jetzt prinzipiell beschrieben habe, dem ereignet sich innerlich etwas, was sich vergleichen läßt mit dem Erlebnis, das wohl Giordana Bruno gehabt haben mag, als er im Beginne der neueren naturwissenschaftlichen Denkweise stand und diese geltend machte. Im wesentlichen haben die Menschen bis Giordano Bruno in den Weltenraum hinausgeschaut, haben das blaue Firmament gesehen und es für eine wirklich gegenständ­liche Grenze des Raumes gehalten. Es war bedeutungsvoll, daß in Giordano Brunos Seele zuerst die Vorstellung auf­tauchte: Da ist eigentlich gar nichts; nur unsere Anschau­ung, nur die Bedingungen unseres sinnlichen Anschauens machen es, daß wir dort eine blaue Schale sehen; in Wahr­heit geht es in die Unendlichkeit hinaus, und wo das blaue Firmament uns erscheint, ist nur eine Grenze unseres An­schauens. Das gilt auch für das Zeitliche. Geburt oder Emp­fängnis und Tod werden für das zeitliche Firmament, in das wir hinausschauen, die Grenze, die uns durch unsere sinnliche Organisation gesetzt ist. Was wir als unsere Welt erblicken, in der wir leben und weben mit unserem Ich, mit unserem übersinnlichen Menschen, das liegt über dieses zeitliche Firmament über den Tod auf der einen Seite, über Geburt oder Empfängnis auf der anderen Seite hin­aus. Und heute stehen wir vor diesem Ruck des mensch­lichen Wissens nach vorn, wo in ähnlicher Weise wie vor Jahrhunderten für das menschliche Vorstellungsvermögen die Illusion des blauen Himmelsgewölbes hinweggerückt wurde, für die menschliche Anschauung die Illusion hinweggerückt wird, daß Geburt und Tod Grenzen seien, über die man nicht hinauskommen könne.

Dieser Sprung muß gemacht werden. Dann eröffnet er dem Menschen die Aussicht in das wirkliche Leben seiner

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übersinnlichen Wesenheit. Dabei muß aber scharf ins Auge gefaßt werden: Wer in der hier geschilderten Art ein Gei­stesforscher werden will, der muß mit höchster kritischer Selbstbeobachtung immer ins Auge fassen können, was ihn abhalten könnte von dem objektiven Hineinkommen in diese geistige Welt. Sehr leicht kann er davon abgehalten werden. Das Hinschimmern und Hinschweben im Hinge­flossensein in die Welt habe ich schon geschildert; das darf natürlich nicht in die Vorbereitung zur Geistesforschung hineinkommen. Aber es ist natürlich gut, möglichst nicht das Gefühls- und Emotionsleben in Anspruch nehmende Vorstellungen für das Meditieren, für die übenden Vorbe­reitungen des Seelenlebens zu verwenden. Wer Vorstellun­gen, die ihn sehr stark erregen, zur Kontemplation, zur Meditation verwendet, der wird sehr leicht in die Täu­schung kommen. Daher wird zur Vorbereitung namentlich zu vermeiden sein, daß religiöse Impulse in die Übungen hineingetragen werden. Religiöse Impulse, die den Men­schen stark erregen, stark in sein Gefühls- und Interessenleben hineinwirken, müssen ausgeschlossen sein. Und son­derbarerweise - es wird ja manchem wenig recht sein - sind diejenigen Vorstellungen die allerbesten, die uns in bezug auf unser Emotions- und Gefühlsleben am allerruhigsten lassen. Wenn man sich in der Mathematik in ähnliche Vor­stellungen hineinversenkt, besonders in solche, die beweg­liches Leben in die Geometrie hineinführen, wo die Figuren verschiedene Gestalten annehmen können, oder in solche Vorstellungen, wie ich sie - mit idealem Gehalt - in der «Phi­losophie der Freiheit» hingestellt habe, dann ist das wohl etwas, was uns auf diesem Gebiete weiterbringen kann. Damit soll durchaus nicht gesagt werden, daß geisteswissen­schaftliche Forschung mit dem religiösen Leben nichts zu tun hat. Aber es handelt sich darum, daß man zu jener religiösen

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Verinnerlichung und Vertiefung, zu der gerade Geistes­wissenschaft auch die Vorbereitung sein kann, am besten dadurch kommt, daß man nicht gleich davon ausgeht, son­dern mit möglichst unemotionellen und uninteressierten Vorstellungen sich auf den Weg des Forschens begibt, und dann, wenn man in der geistigen Welt darinnen ist, kommt einem aus dieser heraus die Anschauung, die schon eine mächtige Hilfe gerade zur religiösen Vertiefung darstellen kann. So sind für diesen Gang des Geistesforschers ganz besonders ins Auge zu fassen Vorstellungen, die nicht zu­sammenhängen mit den Bekümmernissen und Besorgnissen des Lebens, die die Seele nicht so sehr erregen, besonders Vorstellungen, die leicht überschaubar sind. Das sind aber niemals die Vorstellungen, die uns leicht erregen, denn da tritt alles mögliche aus dem Unterbewußten in die Seele herein. Dieses Unterbewußte muß aber vor allem ausge­schlossen werden.

Auf diese Weise dringt man tatsächlich in ein geistiges Erleben hinein, wo man erst jenes Wesen im Menschen fin­den kann, von dem zu sagen ist: es lebt in der Freiheit des Willens, es lebt in dem unsterblichen Seelenwesen. Jeder Mensch trägt es in sich. Aber gefunden werden kann es er­kenntnismäßig nur auf solchen Wegen, wie es geschildert worden ist.

Im nächsten Vortrage will ich gerade von diesem Punkte aus weiterreden über die wichtigen Fragen des menschlichen Seelenlebens: über die menschliche Willensfreiheit und über die Seelenunsterblichkeit, um zu zeigen, wie man von dem, was man auf die heute geschilderte Art als den übersinn­lichen Menschen finden kann, aufsteigt zu einem wirklichen Erfassen des Lebens dieses übersinnlichen Menschen, des Lebens in der wirklichen Dauer, und des Lebens in der Willensfreiheit. Es ist so viel gestritten worden über Willensfreiheit

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und Seelenunsterblichkeit, weil man sich nicht darauf einlassen wollte, erst die Vorbereitungen zu schaf­fen, die nötig sind, um das Feld des menschlichen Erlebens zu betreten, das betreten werden muß, wenn man eine An­schauung gewinnen will von dem, aus dem heraus erst Wil­lensfreiheit sprießt, und worinnen erst das ruht, was durch Geburten und Tode im Menschen geht. Man muß zuerst erkennen lernen, wie im menschlichen Leben das Zeitliche verläuft während dieses Erdenlebens. Dann findet man auch die Wege, über dieses Erdenleben hinauszukommen.

Auf den mannigfaltigsten Gebieten kann eine solche For­schung fruchtbar werden, wenn ihr auch heute noch vieles entgegensteht. Sie kann fruchtbar werden für die wichtig­sten, praktischsten Gebiete des Lebens, zum Beispiel für das Erziehungsgebiet. Das Erziehungsgebiet wird ja, trotzdem man heute dafür modernste Vorstellungen fruchtbar machen will, trotzdem man in dem «Jahrhundert des Kindes» lebt, eigentlich gar nicht von dem Gesichtspunkte aus an­gesehen, der gerade dem Erziehungsleben gegenüber so nahe liegt: von dem Gesichtspunkte des zeitlichen Erleb­nisses der Menschenseele. Wer, wie ich es geschildert habe, von einem Zeitpunkte des menschlichen Erlebens aus einen andern anschauen kann, der findet im menschlichen Seelen-leben ein sich metamorphosierendes Leben, ein sich wan­delndes Leben. Er findet zum Beispiel: Wenn man ein alter Knabe geworden ist, auf frühere Zeiten zurückschaut und dann in noch weiter zurückliegende Zeitpunkte zurückschaut, und wenn man nicht nur äußerlich darauf hinschaut, sondern es innerlich erlebt, dann merkt man, wie sich das innere Seelengebilde wandelt, was aus einem Ge­bilde des Seelenlebens in einem Zeitpunkte wird. Und man merkt: Was im kindlichen Lebensalter vorzugsweise als Wille wirkt, was als Wunsch zum Ausdruck kommt,

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das wirkt im späteren Leben, wenn man älter ist - es ist dann zwar noch da, aber es wird umgestaltet im Gedan­kenleben - in der Lebenserfahrung, die im Gedanken webt. Was wir später als Fünfzigjährige an Lebenserfahrung haben, das ist so umgewandeltes Willensleben des ersten Kindheitslebens. Wie das Blumenblatt der Pflanze im Sinne der Goetheschen Metamorphose äußerlich umgewandeltes grünes Laubblatt ist, aber wie das Laubblatt nicht grün bleibt, sondern rot wird bei der Rose, so verwandelt sich das, was Wunsch ist beim Kinde, in Lebenserfahrungen des späteren Alters. Und umgekehrt: Was das Kind denkt, was in ihm als Gedanke angeregt wird, das verwandelt sich im späteren Leben in Willensenergie. Wenn man also diesen Zusammenhang aus der inneren Lebensanschauung kennt, denken Sie, wie man dann auf das Kind wirken kann!

Wenn du dem Kinde jeden unsinnigen Wunsch erfüllst und es veranlassest, daß es seinen Willen nach allen Seiten zerstäubt, dann machst du es frühzeitig im spä­teren Alter verhältnismäßig idiotisch, weil sich der zer­stäubte Wille nicht umwandeln kann in Lebenserfah­rung, die sich später im ruhigen Gedankenleben zum Ausdruck bringt. - Diese Metamorphose des inneren Le­bens enthüllt sich einem geistigen Anschauen wie sich sonst räumliche Verhältnisse enthüllen. Und ebenso lernt man erkennen, wie man versuchen muß, die Gedanken des Kin­des zu lenken und zu leiten, damit es später nicht ein schlapper, unenergischer Mensch wird, sondern solche Vor­stellungen in sich aufnimmt, die zu einer gewissen Willensenergie führen. Wer etwa glaubt, daß durch Anregung des Willens der Wille, und durch Anregung des Gedanken-lebens die Gedanken stark werden, der ist auf einer ganz falschen Fährte; der kennt nicht das Weben und Leben des

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übersinnlichen Menschen. Hier ist ein Punkt - und wir könnten unzählige anführen -, wo das wirkliche Hinein­dringen in die Realität des Daseins unmittelbar in die Lebenspraxis hineinführt. Wer, wie es die heutige Zeit liebt, bei der rein äußeren Wirklichkeit stehenbleiben will, der gleicht einem Menschen, der ein hufeisenförmiges Stück Eisen vor sich hat und von ihm sagt: das ist ein hufeisen­förmiges Eisen. Ein anderer aber sagt ihm: das ist ein Magnet. Der erstere dagegen meint: Ich sehe nichts davon, ich sehe nur ein Hufeisen, und ich will damit mein Pferd beschlagen. - Er sieht den Magneten nicht! Was aber kann der andere alles machen, der das Unsichtbare hinzurechnen kann zu der Realität! So ist die Welt durchsetzt mit etwas, was als Unsichtbares zu dem Sichtbaren hinzukommt. Aber überall ist die Wirklichkeit erfüllt von einem Strom des Daseins, den man nur erkennt, wenn man ein Verhältnis des Übersinnlichen im Menschen zu dem Übersinnlichen im umliegenden Dasein gewinnt. Daß vieles in unserer Zeit so ganz besonders unwirklichen Eindruck macht, das rührt davon her, daß die Menschen glauben, unmittelbar vor dem Strom der Wirklichkeit zu stehen. Das soll ja «naturwissenschaftliche Anschauung» sein. Aber was in den Tiefen der Wirklichkeit lebt, das sehen sie nicht. Daher können sie vorzugsweise das, was im Menschenleben webt, nicht als ein Wirkliches anerkennen. Wer einen erkennenden Sinn für das hat, was in der Gegenwart vorgeht, wer feineres intimeres Geschehen mit dem katastrophalen Geschehen vergleichen kann, das jetzt zum Menschheitsunglück ge­worden ist, der wird sehr, sehr daran erinnert, wie notwen­dig es gerade in unserer Zeit ist, daß Verständnis für das übersinnliche Verhältnis des Menschen zur Welt wiederum in der Menschheit Platz greift. Fragt man sich: Wie ist es eigentlich gekommen, daß dieses Verständnis nicht da ist?

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dann kann man das etwa in der folgenden Art charakteri­sieren.

Es ist ja nicht da. Es gelten heute Menschen als besonders klug, und sie sind es in gewisser Beziehung durchaus, die ganz fern von der Wirklichkeit stehen. Ich kann Ihnen ein Buch nennen, in dem eigentlich vom Anfang bis zum Ende kein Ton von Wirklichkeit enthalten ist, und das doch im Grunde genommen von seinem Standpunkte aus das Wis­sen der ganzen Welt enthält, denn es ist ein Wörterbuch, noch dazu ein philosophisches: das von Fritz Mauthner, das ja heute insbesondere ein Wissensgötze nicht so sehr der Fachleute ist - die durchschauen ja doch manches, was darin dilettantisch ist -, sondern zahlreicher Laien oder - wenn man das nicht sagen darf - «Journalisten». Wer aber mit Wirklichkeitsinn an dieses Buch herangeht, kann ein eigen­tümliches Gefühl erhalten. Man versuche es nur einmal, mit einem gesunden Sinn für die Wirklichkeit an dieses Buch heranzugehen. Man fange irgendeinen Artikel an, lese ihn durch, komme ans Ende: Man hat sich in einem Kreise gedreht. Es ist, wie wenn man auf etwas gesehen hat, was einen blendete; dann dreht man sich um und blickt wieder hin. Aber man kommt zu gar nichts. Man fragt sich bei jedem Artikel: Wozu ist der eigentlich geschrieben? Es ist für jeden der Wirklichkeit zugeneigten Sinn eine Qual, dieses prätentiöse Buch zu lesen. Und dabei ist es ein sehr gescheites Buch. Ich könnte den Scharfsinn, die Gescheitheit dieses Buches nur außerordentlich loben; aber es ist ein Buch zustandegekommen, bei dem man bei jedem Artikel erinnert wird an den braven Münchhausen, der sich an seinem eigenen Haarschopf aus dem Sumpf herausziehen wollte. Es ist dieses Buch charakteristisch auch für vieles, was in der Gegenwart gedacht wird und seit langer Zeit getan wird, und was die Menschen heraushebt aus der

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Wirklichkeit, aus dem Übersinnlichen. Aber in diesem Übersinnlichen strömt das Geistige, das Wirkliche. Woher ist es also gekommen, daß sich der Mensch aus dem Wirk­lichen herausgehoben hat?

Dem wirklichen Christentum und der wirklichen Reli­giosität kann nichts verständnisvoller gegenüberstehen als das, was hier als Geisteswissenschaft gemeint ist. Aber man nehme die Wirklichkeit, die vielfach zusammenhängt mit der Entwickelung der letzten zwei Jahrtausende, da hat man ein merkwürdiges Sichverbeißen in das: Man muß den Geist «jenseits» der äußeren Natur suchen, muß die äußere Natur als das betrachten, was man meiden muß, wenn man zum Geist kommen will. Gehen Sie in die älteren Jahrhunderte, und Sie werden sehen: Es ist ein Sichzurückziehen von der äußeren Natur und ihren Geheimnissen; es ist ein Suchen eines anderen Weges als durch das, was in der Natur ausgebreitet ist als Geist. Dann kam die Natur­wissenschaft; da traten in bezug auf Naturauffassung andere Notwendigkeiten an das menschliche Bewußtsein heran. Aber die früheren Jahrhunderte hatten dafür ge­sorgt, in der Natur nicht den Geist zu sehen; den wollte man abseits der Natur finden. Jetzt trat sie vor die Men­schen hin: sie war entgeistet! Man durchforschte aber jetzt, was man erst aus der Natur gemacht hat als entgeistete Natur! Das geschieht seit vier bis fünf Jahrhunderten. Und weil man alles aus dieser entgeisteten Natur mit einer ge­wissen Notwendigkeit an den Menschen herankommen sah, so wurde auch der Mensch entgeistet. Die Entgeistung der Natur wurde zum Vampyr an dem Menschengeist. Die Na­tur trat herein in die Wissenschaft und ihre Tatsachen wurden unwiderleglich. Ich habe oft ausgesprochen, welche Bewun­derung der Mensch heute für die Ergebnisse der Naturwis­senschaft haben muß; aber die Natur darf nicht entgeistet

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angesehen werden, sonst wird sie zum Vampyr, sonst kann man nicht mehr finden, was im Menschen lebt und webt als Geist. Dann findet man das, was - die Drehorgel spielt. Und was die Drehorgel spielt, das ist unten im Organischen. Da faßt man nur das organische Weben und Leben, nur die eine Seite des Lebens auf, nicht die andere, von der wir heute ausgegangen sind, die in der Gedächtniskraft schon den übersinnlichen Strom hat.

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DER ÜBERSINNLICHE MENSCH Dritter Vortrag, Berlin, 20. April 1918

Die Fragen der menschlichen Willensfreiheit und der Unsterblichkeit im Lichte der Geisteswissenschaft

Es ist nicht ein zufälliges Zusammenkoppeln der beiden bedeutsamen Rätsel des menschlichen Seelenlebens, die in diesem Vortrag behandelt werden sollen, sondern ich hoffe zu zeigen, daß die umfassende Frage der menschlichen Willensfreiheit und die Frage nach der Seelenunsterblich­keit vom geisteswissenschaftlichen Standpunkte aus innig zusammengehören und am besten zusammen betrachtet werden. Es wird allerdings gerade bei dieser Betrachtung besonders auffallen, daß eine geisteswissenschaftliche Aus­einandersetzung etwas andere Wege einschlagen muß als eine andere wissenschaftliche Betrachtung, aus dem einfachen Grunde, weil eine andere wissenschaftliche Betrachtung - namentlich so wie sie in der gegenwärtigen Zeit üblich sind - zumeist auf die Ergebnisse, die da vorliegen, un­mittelbar hinweisen kann. Eine geisteswissenschaftliche Be­trachtung besonders der Art, wie sie heute gepflogen werden soll, hat nötig, genauer darauf hinzuweisen, wie der For­scher zu seinen Ergebnissen kommt; und in diesem Hin­weis auf den Forschungsweg wird im wesentlichen das gesucht werden müssen, was wie eine Art Beleg, wie eine Art Beweis der Sache zu gelten hat.

Nun wissen Sie, daß auch wissenschaftlich über die Fragen der Willensfreiheit und der Unsterblichkeit verhandelt wor­den ist und wird von den ältesten Zeiten des menschlichen

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Nachdenkens bis in unsere Tage herein. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hat man versucht, diese beiden Fragen geradezu als einer kindlichen Anschau­ungsweise des menschlichen Denkens entsprungen hinzu­stellen. Davon ist man in der letzten Zeit abgekommen. Man ist vorsichtiger geworden, aber die Hauptsache ist nicht anders geworden. Im wesentlichen kann man sagen:

Die philosophischen Betrachter dieser Fragen kommen, wenn sie noch so vorsichtig sind, doch nicht viel weiter als zu einer Art Geständnis, daß die menschlichen Denkmethoden doch eigentlich nicht ausreichen, um über diese Fragen irgend etwas Bestimmtes ausmachen zu können. Ich werde Sie nicht mit einer Überschau desjenigen aufhalten, was in dieser Beziehung vor die Menschen hingestellt worden ist, sondern möchte mein Thema von dem Gesichtspunkte aus betrachten, der in allen diesen Vorträgen hier geltend gemacht worden ist. Nur das eine möchte ich vorausschicken, daß es doch auffällig ist, daß bei immerhin ernster Auf­wendung aller möglichen menschlichen Denkmittel, alles möglichen Scharfsinnes für die gewöhnliche Philosophie nicht viel mehr herauskommt als eine Art Zweifelsucht in diesen Fragen. Das wird Sie, nach den letzten Ausführun­gen, besonders dann nicht verwundern, wenn Sie bedenken, daß die höchsten Offenbarungen des Menschenwesens her­auskommen müssen aus dem innersten Kern dieses mensch­lichen Wesens, und daß dieser innerste Kern des Menschen im Übersinnlichen gesucht werden muß, also in einem Ge­biete, in das die gewöhnlichen Erkenntniskräfte, die an den äußeren menschlichen Organismus gebunden sind, nicht hineinkommen. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn, bevor man in die geisteswissenschaftliche Betrachtung ein­tritt, gerade über diese Fragen keine sonderlichen Lichter aufgesteckt werden können. Die Forscher machen dabei

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immer die Erfahrung, daß sie mit unzulänglichen Erkennt­nismitteln arbeiten. Sie spüren, ohne daß sie sich dessen klar bewußt werden, daß im Menschenwesen, wie es sich darlebt, ein übersinnliches Leben drinnensteckt, daß aber alles, was dieses Menschenwesen mit Hilfe des gewöhn­lichen Organismus betrachten kann, entweder auf die Sin­neswelt gerichtet oder von ihr abgezogen, abstrahiert ist, so daß man sich deshalb mit einer Betrachtung des inner­sten menschlichen Wesenskernes in einer Lage befindet, die man mit derjenigen vergleichen kann, in der sich zum Bei­spiel das menschliche Auge befindet. Das Auge kann die Dinge um sich herum wahrnehmen, aber nicht sich selbst wahrnehmen. Da das Auge ein äußerer Sinnesapparat, also ein äußerer Gegenstand ist, so kann das Auge selbstver­ständlich einen andern Menschen, soweit er ein Sinnesgegenstand ist, beobachten. Aber das eine ist klar: Man ist nur in der Lage, dieses menschliche Auge zu beobachten, wenn man seinen Standpunkt außerhalb dieses Auges neh­men kann. In einer ähnlichen Lage ist der Betrachter des menschlichen Selbst, des menschlichen Seelenwesens in sei­nem Wesenskern. Er müßte sich «außerhalb» des mensch­lichen Seelenwesens befinden, wenn er es beobachten wollte. Und da kann man nicht sagen, daß ein anderer dieses menschliche Seelenleben beobachten kann, denn einem an­dern zeigt sich ja auch nur die menschliche Körperlichkeit. Da genügt es nicht, daß ein anderer die Aufmerksamkeit auf das Seelenwesen richtet; da ist es notwendig, daß der Betrachter seines eigenen Wesens nun wirklich es zustande bringen könnte, aus seinem eigenen Wesen herauszutreten, um es zu beobachten. Vielleicht führt uns ein anderer Ver­gleich dazu, das zu veranschaulichen, was im Gegenstande der heutigen Betrachtung liegen soll.

Es gibt noch eine Möglichkeit, das menschliche Auge zu

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sehen: daß man es im Spiegel beschaut. Aber man hat dann nicht die lebendige Wesenhaftigkeit dieses Auges vor sich, man hat das Bild dieses Auges vor sich. Dieser Vergleich paßt insofern auf das, was ich ausführen will, als man durch die Methoden, welche die Geisteswissenschaft einzu­schlagen hat, um Ansichten zu gewinnen über die heute zu besprechenden Fragen, sich gewissermaßen in eine Lage begeben muß, die das, was man als Mensch in sich und an sich erlebt, zuerst im Bilde zeigt, und daß man mit seinem eigentlichen Menschenwesen sich in eine Lage versetzt, die das, was man sonst als lebendige Wirklichkeit vor sich hat, zum Bilde macht.

Was notwendig ist, um das eigene Menschenwesen zu beobachten, ist durchaus dieses Herausgehen aus der eigenen Wesenheit. Denn auch wenn man die eigene Wesenheit als Bild vor sich haben will, muß man außerhalb des Bildes stehen. Das kann man nur durch diejenigen Forschungsmethoden, von denen ich bei allen Betrachtungen in diesem Winter wie von einem Grundton gesprochen habe: indem man auf die Seele jene inneren Verrichtungen anwendet - man nenne sie «Übungen» oder wie man will -, die dazu führen, das menschliche Seelenwesen aus sich herauszubrin­gen, so daß es sich selbst objektiv gegenüberstehen kann. Ich habe erst im letzten Vortrag einiges von dem ausge­führt, was die Menschenseele mit sich machen muß, um zu diesem Außerhalb-des-Leibes-Leben im Erkennen zu kom­men. Ich brauche das, was ich vorgestern ausgeführt habe, nicht zu wiederholen; ich möchte nur darauf hinweisen, daß ich das, was für die Seele zu tun ist, um das zu erlan­gen, was ich nun gleich beschreiben werde, ausführlich dar­gestellt habe in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», im zweiten Teil der «Geheimwis­senschaft im Umriß» und im Buche «Vom Menschenrätsel».

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Es handelt sich darum, daß das menschliche Seelenleben, wie es im Alltage lebt vom Aufwachen bis zum Einschlafen, verstärkt wird, zum «Aufwachen» gebracht wird, das heißt zu einem Zustande, der sich zum Alltagsbewußtsein so verhält, wie dieses sich zum dumpfen Traumesbewußtsein verhält. Wie man aus dem Traume aufwacht zum vollen Tagesleben, so ist es möglich, zu einem höheren Bewußt­sein aufzuwachen, das ich das «schauende Bewußtsein» ge­nannt habe.

Bringt man es durch Konzentration des Gedanken-, Ge­fühls- und Empfindungslebens dahin, das Seelenleben so zu verstärken, daß man in dieses schauende Bewußtsein eintreten kann, dann ist man zunächst befähigt, von allem abzusehen, was sonst der Alltagsbetrachtung des Menschen im sinnlichen Wahrnehmen gegenübersteht. Über dieses sinnliche Wahrnehmen ist man hinausgerückt. Man lebt in einem andern inneren Seelenwesen, lebt zunächst in dem, was man nennen kann imaginatives Bewußtsein. Ich nenne es imaginatives Bewußtsein, nicht weil etwas Unwirkliches dargestellt werden soll, sondern weil die Seele in diesem Bewußtsein erfüllt ist von Bildern, und zwar zunächst von nichts als Bildern, aber von Bildern einer Realität. Und außerdem, daß die Seele von solchen Bildern erfüllt ist, von denen sie ganz genau sieht, sie sind nicht selbst eine Realität, sondern Bilder einer Realität, weiß die Seele noch, daß sie drinnensteht im realen Weltenzusammenhang, daß sie diese Bilder nicht webt aus irgendeinem Nichts aus be­liebigen Einfällen heraus, sondern aus einer inneren Not­wendigkeit. Diese kommt davon, daß die Seele sich hineinversetzt hat in den realen Weltenzusammenhang und aus diesem heraus in ihrem Bilderschaffen nicht so schafft, wie etwa die bloße Phantasie, sondern daß das, was an Bildern gewoben wird, den Charakter der Realität behält.

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Es ist von ganz besonderer Wichtigkeit, daß man diese erste Stufe des geistigen Erlebens genau ins Auge faßt, denn nach zwei Richtungen hin kann sich ein Irrtum ein­stellen. Das eine ist, daß man verwechseln kann, was hier als imaginative Welt gemeint ist, mit jenen Bildern, die aus dem krankhaften, abnormen Bewußtsein heraufsteigen, mit allerlei Visionärem oder dergleichen. Aber aus dem schon früher hier Entwickelten werden Sie gesehen haben, wie schon in den Arbeiten des Geistesforschers zu dem Wege hin, um in die geistige Welt hineinzukommen, alle die Vorsichtsmaßregeln getroffen werden, die das unbe­stimmte Schwimmen und Schweben in allerlei Visionärem streng abweisen. Die Vision tritt so in die Seele ein, daß man an ihrem Zustandekommen sich nicht beteiligt fühlt. Sie tritt auf als ein Bild, aber man kann sich an dem Zu­standekommen des Bildes nicht beteiligen; man steht nicht drinnen in dem Zustandekommen des Bildes. Daher kennt man den Ursprung nicht. Das visionäre Bild kommt immer bloß aus dem Organismus, und was aus dem Organismus heraus dampft, das ist nicht Seelisch-Geistiges, das ist eine Verhüllung vielleicht eines Geistig-Seelischen. Worum es sich handelt, das ist, genau zu unterscheiden das ganze unbewußte Leben in allerlei Visionen von dem, was der Geistesforscher als imaginatives Bewußtseinsleben meint. Das besteht darin, daß man bei allem, was da an Bildern gewoben wird, so dabei ist, wie nur irgendwie bei dem voll­bewußten, von Gedanken zu Gedanken gehenden Denken. Es gibt keine Möglichkeit, anders in die geistige Welt ein­zudringen, als wenn die Tätigkeit, durch die man hinein­tritt, so vollbewußt ist wie das bewußteste Gedankenleben. Dabei ist nur der Unterschied, daß die Gedanken als solche schattenhaft, abgeblaßt sind, und daß sie erworben werden an äußeren Dingen oder irgendwie aus der Erinnerung

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aufsteigen, während dasjenige, was hier als Imagination gemeint ist, von der Seele selbst gewoben wird in dem Mo­ment, wo es auftritt.

Festzuhalten ist nur, daß auf der andern Seite diese Ima­gination nicht verwechselt werden darf mit dem, was man mit Recht als Phantasie bezeichnet. Was die menschliche Phantasie webt, wird auch aus dem Unterbewußten her­auf gewoben; das bindet sich allerdings - besonders wenn die Phantasie so wirkt wie die Goethes - vielfach an innere Gesetze des wirklichen Lebens. Aber der Mensch steht in dem, was er in der Phantasie webt, nicht so drinnen, daß er sich bewußt ist in seinem Weben. Im Aufbauen des Phantasiegebildes ist er überlassen einer inneren realen Notwendigkeit. In dem imaginativen Erleben aber webt er nicht so wie in der Phantasie, sondern so, daß er sich einer objektiven Weltennotwendigkeit überläßt. Ganz notwen­dig ist es, daß man weiß, daß das, auf Grund dessen zu­nächst der Geistesforscher arbeiten muß, als eine objektive Tatsächlichkeit in seinem Bewußtsein auftritt, weder visio­när ist noch Phantasie ist, sondern daß es durchaus von diesen beiden - ich möchte sagen polarischen - Gegensätzen als etwas in der Mitte stehendes unterschieden werden muß. Man ist tatsächlich mit dem Stehen in dem imagina­tiven Leben in ähnlicher Lage, wie man mit seinem sinn­lichen Menschen vor einem Spiegel steht. Man weiß: der da steht, der steht in einer Wirklichkeit drinnen, er ist eine Wirklichkeit, die sich fühlt als eine solche von Fleisch und Blut, aber von dieser Wirklichkeit geht nichts in den Spiegel hinüber. Im Spiegel ist nur ein Bild; aber dieses Bild ist ein Abbild, und man kennt es in seiner Beziehung zur Realität.

So steht man - allerdings nun in geistig-seelischer Sphäre -, wenn man in entsprechender Weise die Seele dazu gebracht

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hat, in der geistig-seelischen Welt drinnen. Aber man weiß zugleich, daß das erste, was einem entgegentritt, eine Bilder­welt, eine imaginative Welt ist, und man weiß außerdem, daß diese imaginative Welt eine Beziehung zur Realität hat, so wie das Spiegelbild eine Beziehung hat zu dem leibhaftigen, in Fleisch und Blut wandelnden Menschen. Diese imaginative Erkenntnis ist gewissermaßen die erste Stufe, um in die geistige Welt hineinzukommen. Was die Seele in der imaginativen Erkenntnis erlebt, ist eine gewisse Steigerung des gewöhnlichen Seelenlebens, eine Steigerung aus dem Grunde, weil man in jedem Augenblick, da man im imaginativen Bewußtsein lebt, weiß: Wenn man die eigene Tätigkeit unterläßt, wenn man nicht imaginativ forscht, wenn man also das Bewußtsein irgendwie unter­bricht, so hört auch zugleich die Anschauung des Imagina­tiven auf. Das gibt eine besondere Nuance des inneren Bewußtseinslebens, die Nuance, daß das Bewußtsein ge­wissermaßen sich innerlich erkraftet fühlt und außerdem darinnen fühlt in einer fortwährend von ihm selbst aus­gehenden Tätigkeit, einer Tätigkeit, die es nicht unterlassen und der gegenüber das Bewußtsein in keinem Augenblick erlahmen darf. Das gewöhnliche Alltagsbewußtsein wird ja für sein Vorstellen durch die äußeren Eindrücke unter­stützt, kann diesen äußeren Eindrücken sich überlassen und stellt daher an die Seele nicht die Anforderung, in so intensiver Weise zu arbeiten, wie sie arbeiten muß im imaginativen Bewußtsein. Demgegenüber stellt also das imaginative Bewußtsein etwas dar, was im gewöhnlichen Bewußtsein nicht angetroffen wird. Das ist die erste Stufe, zu welcher der Seelensucher kommt, der in die geistige Welt eindringen will.

Eine zweite Stufe ist die, daß nun der so Übende, der gewissermaßen sich selbst zum Werkzeug des Erlebens der

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geistigen Welt Machende aufmerksam sein muß auf das, was er so erlebt mit seinem imaginativen Denken. Er muß die Fähigkeit erlangen, sich nicht nur der Bilder bewußt zu werden, sondern sich auch bewußt zu werden der eben be­schriebenen Tätigkeit, die niemals unterlassen werden darf, während man imaginativ forscht. Er muß gewissermaßen ein erhöhtes, erkraftetes Selbstbewußtsein entwickeln. Da­durch stellt sich aber etwas ganz Besonderes ein. Man ge­langt dadurch eigentlich erst dazu, die ganze Bedeutung der imaginativen Erkenntnis zu fassen. Denn man kann wissen, wenn man die Seele genügend dazu vorbereitet hat:

Mit dem imaginativen Bewußtsein gelangt man eben zu nichts anderem als zu Bildern; man hat nur eine Bilder-welt, gar keine Realität vor sich. Man weiß, es ist eine Bilderwelt, aber eben nur Bild einer Realität. Indem man jedoch dazu gelangt, etwas weiterzugehen in dem geistigen Entwickelungsprozeß, indem man die Aufmerksamkeit der Seele etwas ablenkt von den Bildern und mehr hinlenkt auf die eigene Tätigkeit, auf das erstarkte Selbstbewußt­sein, das sich da entwickeln muß, kommt man zu etwas, was noch weniger dem gewöhnlichen Tagesbewußtsein be­kannt ist als die imaginative Welt. Man kommt nämlich dazu, daß wie durch das Inanspruchnehmen des Selbstbe­harrungsvermögen dieser Kräfte des Haltens die Bilder nach und nach abfluten, verschwinden. Was man erst her­vorgerufen hat, das verschwindet nun nach und nach. Aber es verschwindet nicht die Realität, sondern anstelle der Bilder, die man zuerst geistig-seelisch geschaut hat, tritt etwas, was aus den Bildern sich offenbart, was aus ihnen «spricht». Die Bilder werden gleichsam beseelt; sie sagen einem so etwas, wie die Farben und Töne der äußeren Ge­genstände sagen. Während man zuerst bloß Bilder gehabt hat, taucht jetzt eine geistig-seelische Realität aus den Bildern

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auf, und es tritt eine zweite Stufe des übersinnlichen Bewußtseins ein, für die ich bisher kein besseres Wort ge­funden habe - trotz der Mißverständnisse, die sich daran geknüpft haben - als inspiriertes Bewußtsein. Das tritt ein, wenn die Tätigkeit der Imagination gehalten wird, und so gehalten wird, daß durch die Kräfte des Haltens gewis­sermaßen die Bilder abfluten und das, was als Realität aus ihnen sprechen kann, wirklich zu dem Menschen spricht. Da merkt man etwas außerordentlich Bedeutsames, und es kommt ja bei allen diesen Dingen darauf an, daß man keinen Schritt der Geistesforschung vollzieht, ohne volles Bewußtsein zu entfalten. Man muß sich klar sein über jeden Schritt, den man macht. Alles unbestimmt Mystische, alles Träumerische kann nicht auf dem Boden der Geisteswissen­schaft erwachsen. Wessen man sich bewußt wird, ist das, daß die ganze Bilderwelt, die man zuerst gehabt hat, eigent­lich nur ein Mittel war, um zur Realität vorzudringen. Der Visionär beschreibt seine Bilder. Der imaginativ Erken­nende hat auch Bilder; er wird sie aber nur in der Weise beschreiben, daß er meint, sie sind das Mittel, um zur Rea­lität vorzudringen. Er wird nicht sagen, in den Bildern ist ihm die Realität gegeben, sondern höchstens: In den Bil­dern ist ihm etwas wie Sinnesorgane gegeben. Die Sinnes­organe sind auch etwas, was zur Wirklichkeit führt, aber man schaut es nicht selber an, indem man auf die Wirklich­keit sieht. So schaut man die Wirklichkeit nicht an, indem man die Bilder anschaut oder beschreibt, sondern es müssen die Bilder erst abfluten. Wie das Auge, wenn es nicht voll durchsichtig wäre, wenn es getrübt und selber wahrnehm­bar wäre, nicht eine äußere Realität sehen könnte, so können auch für die imaginativen Bilder nicht geistig-seelische Realitäten auftreten, bevor diese Bilder abgeflutet, Mittel geworden sind, Geistesaugen und Geistesohren geworden

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sind, wenn auch in anderm Sinne als die gewöhn­lichen Augen, um zu sehen, und die gewöhnlichen Ohren, um zu hören. Dasjenige, wozu die Bilder nur das Mittel sind, das ist das, was hinter den Bildern schon steckt. Was durch die Bilder sich nunmehr ausspricht, das ist die geistige Realität.

Aber wiederum ist es ein besonderes Erlebnis, welches das Bewußtsein mit dieser nunmehr erreichten Stufe seiner Erkenntnis hat. In den Bildern ist das Bewußtsein ange­spannt; es muß seine Tätigkeit halten. Und jetzt ist das Bewußtsein in einer gewissen Weise gerade dadurch, daß es die Aufmerksamkeit auf sein eigenes Halten richtet, zu einer umfassenden Einsamkeit gekommen. Mit seiner eige­nen Tätigkeit fällt es allmählich in eine umfassende Ein­samkeit. Die Bilder fluten ab, die Imagination hört auf. Aber was durch die Imagination spricht, demgegenüber verhält sich das Bewußtsein nun mehr passiv, mehr leidend. Was es jetzt aufnimmt, das erkennt es als aus der Wirklich­keit kommend. Es ist in die Lage versetzt, wie wenn von allen Seiten Wirkungen der Wirklichkeit kämen, aber die Wirklichkeit selbst erreicht man nicht. Man steht nicht in der Wirklichkeit drinnen, auch nicht ihr gegenüber.

Und wieder ist es wichtig, daß man sich dessen voll be­wußt ist: Man hat es jetzt mit Erlebnissen, mit Wirkungen der Wirklichkeit zu tun, nicht mit der Wirklichkeit selbst. Um in die Wirklichkeit selbst hineinzukommen, dazu ist ein drittes Bewußtsein nun notwendig, das ich genannt habe intuitives Bewußtsein. Wir werden nachher sehen, warum ich hier an einen bekannteren Ausdruck angeknüpft habe, der auch beliebter ist; aber was auf dieser Stufe mit intuitivem Bewußtsein gemeint ist, das ist etwas anderes, als man gewöhnlich mit Intuition bezeichnet. Denn die hier gemeinte Intuition ist doch ein sehr realer innerer

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Vorgang, ist nicht ein bloßes Gefühl oder eine bloße innere Empfindung. Da handelt es sich darum, daß man noch zu der dritten Stufe des Bewußtseins aufrückt, wo man weder so aktiv, so in einer sich haltenden Tätigkeit wie bei der Imagination, noch so ist, daß von allen Seiten die Eindrücke der Inspiration einfließen. Sondern es muß nun, nachdem schon die Lebendigkeit der Bil­der getilgt ist, auch noch aus dem Bewußtsein ausgetilgt werden, was an Impressionen aus der Inspiration da ist. Das Bewußtsein muß sich durch eine gewisse gestärkte innere Kraft wehren gegen die Inspiration. Es muß gewis­sermaßen vorübergehend - aber eben vorübergehend - in einen Zustand kommen, wo es in dem, wovon es so inspi­riert war, sich selbst verliert. Es muß in die Lage kommen, gewissermaßen sich selbst auszutilgen, in das Inspirierte unterzutauchen, um dann wieder aufzutauchen, aber jetzt aus dem Inspirierten so aufzutauchen, daß es nun erst weiß:

Was durch die Inspiration aufgetreten ist, das ist eine gei­stige Realität. Man muß das, was man mitbringt an inne­rem Erleben, anders ins Bewußtsein fassen als das, was man Fieruntergetragen hat, als man in die Inspiration unter­getaucht ist. Erst das, was man aus der Inspiration heraufgeholt hat, gibt das volle Bewußtsein von der Realität des Inspirierten, und nichts kann als eine geistige Realität gel­ten, was nicht auf diese Weise durch die drei Stufen in das intuitive Bewußtsein eingetreten ist. Dieses intuitive Be­wußtsein wirkt ja erst dann, nachdem sich die Seele in die Inspiration hineinverloren hat. Wie der Mensch sich am Abend, wenn er einschläft, in den Schlaf hineinverliert, um aber am Morgen aus dem Schlaf wieder aufzutauchen, so verliert sich das Bewußtsein ins Inspirierte hinein, aber es behält die Kraft, um wieder aufzusteigen, und bringt sich mit die Nachwirkung des Untertauchens, bringt sich als

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volle Bewußtseinsrealität das mit, was es also in der Intui­tion erlebt hat.

In dem Zusammenwirken von Imagination, Inspiration und Intuition beruht alles, was Erleben oder Erkennen der geistigen Welt ist, und was man aus dieser geistigen Welt heraus redet. Alles, was in diesen Vorträgen hier entwik­kelt worden ist, das ist auf diese Weise hinzugekommen, daß die Seele wirklich die Methoden auf sich angewendet hat, die heute der Mehrzahl der Menschen gänzlich unbe­kannt sind. Denn die Mehrzahl der Menschen weiß über­haupt nichts von diesen Methoden, durch die man dazu gelangt, das Geistige, das so in der Umgebung unseres Gei­stes lebt, wie das Sinnliche in der Umgebung unserer Sinne, wirklich zu erkennen. Ist man aber in der Lage, durch Ima­gination, Inspiration und Intuition in diese geistige Welt einzudringen, dann findet man in ihr auch das geistige Wesen des Menschen selbst. Aber man findet das innerste Kernwesen, das im Menschen lebt, das der Mensch ist und das sich durch die äußere körperliche Organisation nur offenbart, erst dann, wenn man sich selbst außen gegen­übersteht, wenn man also aus dem eigenen Leib herausgetreten ist. Man kommt dazu, tatsächlich sein innerstes Wesen so zu erkennen, daß es sich nur in Bildern, in Ima­ginationen offenbart. Und das äußere Leibliche, worin man sonst gesteckt hat, das wird nun selbst zu einer Imagina­tion des Übersinnlichen, so daß man jetzt erst das kennt, in dem man zunächst drinnensteckt. Man lernt auf diese Weise den Menschen kennen, wie wir ihn heute betrach­ten, indem er dazu Veranlassung gibt durch die beiden bedeutungsvollen Grundfragen der Willensfreiheit und der Unsterblichkeit.

Vor mehr als zwanzig Jahren, im Jahre 1894, habe ich mich bemüht, in meinem Buche «Die Philosophie der Freiheit»

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dem Rätsel der Willensfreiheit beizukommen. Ich habe damals versucht, rein philosophisch zu sprechen, so daß dieses Buch auch von allen den Menschen gelesen wer­den kann, welche die Geisteswissenschaft, wie sie hier vor­getragen wird, für die reine Narretei halten. Ich habe versucht, aus den nächstliegenden, für das gewöhnliche Be­wußtsein geltenden inneren Beobachtungen die Frage der Willensfreiheit zu beantworten, und ich war gedrängt, zu tun, was meist nicht getan wird, wenn philosophisch die Willensfreiheit ins Auge gefaßt wird: den ganzen ersten Teil des Buches einer unmittelbaren, unbefangenen Betrach­tung des menschlichen Denkens selbst zu widmen, nicht der Gedanken. Ich war darauf ausgegangen, einmal zu fragen:

Wie nimmt es sich eigentlich aus, wenn sich der Mensch bewußt wird: Was ist innerlich in der Seele tätig, indem er Gedanken faßt? Ich habe gefragt: Wie stellt sich vor den Menschen selbst seine eigene Denktätigkeit hin? Und ich war damals, obwohl ich die Konsequenzen in diesem Buche nicht gezogen habe, schon genötigt, weil die Sache der Wahrheit gemäß dargestellt werden sollte, darauf hinzu­weisen, daß dieses erlebte Denken - man hat gerade bei den Philosophen nicht verstanden, was damit gemeint war - im Grunde genommen etwas ist, was innerlich so nur auf sich selbst gestellt erlebt wird, daß es sich gar nicht vergleichen läßt mit dem, was im übrigen Seelenleben vor­handen und was in diesem Seelenleben an die menschliche Organisation gebunden ist. Denn der Geisteswissenschaf­ter ist sich durchaus bewußt, daß er ganz auf dem Boden der naturwissenschaftlichen Denkweise steht. Wer das menschliche Seelenleben untersucht, wie es sich im gewöhn­lichen Bewußtsein auslebt zwischen Geburt und Tod, der findet schon, daß dieses Seelenleben abhängig ist - wenn auch in anderer Art, als die Naturwissenschaft heute

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glaubt - von der menschlichen Organisation. Wer aber nun wirklich gewissenhaft und vorurteilsfrei zu Werke geht, der findet, daß zwar alles übrige abhängig ist von der menschlichen Organisation, nicht aber das wirkliche Den­ken. Im Denken kann sich der Mensch aus der Organisation herausheben.

Das beruht darauf - ich will heute weitergehen, als ich damals in jenem Buche zu gehen für nötig gefunden habe -, daß der Mensch in seiner Organisation nicht bloß das hat, was fortschreitende Evolution ist, welche die Naturwissen­schaft einzig und allein ins Auge faßt. Ich habe in den letz­ten Monaten auseinandergesetzt, daß durch solche Auffas­sung die ganze Sache einseitig betrachtet wird, und daß man damit alle die falschen Gesichtspunkte in das natur­wissenschaftliche Denken hineingebracht hat, die heute darin sind. Man hat eben auch auf eine rückläufige Ent­wickelung hinzuschauen, auf eine Devolution. Der mensch­liche Organismus ist wahrhaftig ein wunderbarer Aufbau; er ist nicht nur in einem solchen Leben, das man beschreiben kann mit den Begriffen, welche die Naturwissenschaft heute anwendet, daß das Leben in einer gewissen aufsteigenden Entwickelung verläuft; vielmehr nimmt die menschliche Natur in sich selbst eine rückläufige Entwickelung auf, und am stärksten ist an rückläufiger Entwickelung in dieser menschlichen Organisation alles, was mit den Sinneswerk­zeugen, mit dem Haupt zusammenhängt.

Es wäre sehr verlockend, wenn ich statt eines Vortrages deren vierzig zur Verfügung hätte, auf alles hinzuweisen, was aus der heutigen Wissenschaft streng beweisend dafür angeführt werden könnte, daß die menschliche Organi­sation eine aufsteigende Entwickelung zeigt, daß aber diese aufsteigende Entwickelung selbst sich zurückhält, und daß im Haupt eine rückläufige Entwickelung vorhanden ist.

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Diese drückt sich grob dadurch aus, daß der Kopf das ver­knöchertste am Menschen ist, was am stärksten dasjenige rückgebildet hat, was sonst blühendes, sprießendes Leben ist. Dadurch ist der Kopf gerade das Organ des gewöhn­lichen Bewußtseins, daß in ihm die Entwickelung nicht fortschreitet, sondern zurückgenommen wird. Während in vieler Beziehung das übrige menschliche Leben verglichen werden kann mit strotzender, auf Sättigung beruhender Entwickelung, muß das, was im Haupte geschieht, ver­glichen werden mit einem fortwährenden langsamen Ab­bau der Entwickelung. Die Nerventätigkeit des Kopfes, überhaupt die ganze Tätigkeit des Kopfes und auch der Sinnesapparate beruht darauf, daß der Mensch sich mine­ralisiert in diesem Gebiete seines Seins; er baut ab, es ist ein langsames Sterben, ein Aufnehmen des Sterbens gegen das Haupt hin. Betrachten Sie einmal so den Menschen, wie er in strotzendem, aufwärtssteigendem Leben vor Ihnen steht, und wie er dann jenes absteigende Leben in seine Organisation aufnimmt, seine eigene Zerstörung; so schafft dieser Abbau Platz, und indem er Platz macht, stellt sich an diesen Platz etwas anderes hin, nämlich sein Seelisch-Geistiges. Der Mensch denkt nicht dadurch, daß dieselben Kräfte, die sonst in seinem Wachstum, in seinem sprießen­den, sprossenden Leben wirken, auch im Haupte und über­haupt in der ganzen Denkorganisation tätig sind, nein, er denkt dadurch, daß diese wachsenden, sprossenden Kräfte abziehen, in sich selbst verfallen und dem Platz machen, was sich nun an die Stelle dessen setzt, was sonst im wallenden, wogenden Blute eine Bewußtlosigkeit des übrigen Organismus hervorruft. Wird man einmal einsehen, daß der Mensch sein freies Denken dadurch entwickelt, daß er nicht so gradlinig, wie es die Naturwissenschaft darlegt, die Entwickelung auch in das Haupt hinein fortsetzt, sondern

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daß, um das Denken zu entfalten, die Entwickelung rückläufig werden muß, dann wird man erst den Zusam­menhang verstehen zwischen der menschlichen Organi­sation und dem Denken. Man wird verstehen, wie das Denken in die Organisation eingreift, daß aber, damit es eingreifen kann, die menschliche Organisation erst zurück­gebogen, erst abgebaut werden muß.

Ich weiß, daß ich mit diesen Ausführungen sehr dem widersprechen muß, was die Naturforscher heute sagen; aber ich weiß, daß der, welcher das richtig betrachtet, was die Naturforscher entdeckt haben, in aller Physiologie und Biologie nur lautere Bestätigung dessen finden wird, was ich jetzt nur andeutend sagen kann. Und weil es so ist, deshalb ist der Mensch in jenem eigentümlichen Verhältnis zu seinem Denken, daß es zwar beobachtet wird, aber sei­ner eigenen inneren Wesenheit nach nicht eingesehen wer­den kann, wenn man nicht das einsieht, was ich jetzt aus­geführt habe. Wenn der Mensch sich seinen Vorstellungen überläßt, so kann man genau verfolgen, wie eine Vorstel­lung sich an die andere gliedert, Verwandtes zu Verwand­tem sich gesellt. Man kann verfolgen, wie das, was da so im Verlaufe des Vorstellungslebens auftritt, abhängig ist vom Organismus, wenn man nur tief genug schürft. Die Psycho­logen nennen es Assoziation der Vorstellungen. Diese Asso­ziation der Vorstellungen kann man ruhig den Naturforschern zu untersuchen überlassen, denn sie stellt sich wirklich als das heraus, wobei der Organismus mitzuspre­chen hat. Aber der Mensch weiß auch, daß oft im Leben Augenblicke eintreten müssen, wo er dieser Assoziation nicht ihren Lauf lassen kann; denn es gäbe niemals eine logische Kontrolle über das Denken, wenn man der Asso­ziation blinden Lauf lassen müßte. Man weiß, es ist etwas anderes, wie die Vorstellungen herauffluten und sich zueinander

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gesellen, und etwas anderes, sie nach logischen Gesetzen zu dirigieren, so daß sie «richtig» werden. Sie brauchen nur eines der populärsten Handbücher über die­ses Gebiet zur Hand nehmen, so werden Sie sehen, daß sich die Menschen schon bewußt sind, wie in den rein natur­gemäßen Gang der Vorstellungen etwas eingreift, was nicht dem Organismus angehört. Was da eingreift, das ist das, was nur da sein kann in der menschlichen Wesenheit, wenn sich der Organismus mit seinen Funktionen zuerst zurück­zieht, wenn er zuerst abbaut, wenn er zur Entwickelung die Rückentwickelung hinzufügt.

Ich komme da auf ein Kapitel zu sprechen, das heute auch verpönt ist; aber es wird wohl nicht sehr lange dau­ern, bis eine innere Notwendigkeit die Menschen zu diesem führt. Man braucht sich nur an die bedeutungsvolle Rede erinnern, die in den siebziger Jahren des vergangenen Jahr­hunderts der berühmte Physiologe Du Bois-Reymond gehalten hat über die «Grenzen des Naturerkennens», in der er über die «Welträtsel» sprach. Du Bois-Reymond war in einer gewissen Beziehung geneigt, vorsichtig zu erwägen, nicht mit allen Segeln in den Materialismus hineinzusegeln. Da hat er zwei solcher Erkenntnisgrenzen aufgestellt: das Bewußtsein und die Materie. Er hat ja mit Recht gesagt:

Im materiellen Leben geschieht dasselbe, was im Gehirn geschieht: Wasserstoff-, Stickstoff-, Kohlenstoffatome be­wegen sich nach bestimmten Gesetzen; das aber kommt der Seele zum Bewußtsein, und schon die einfachsten Empfin­dungen, die im Bewußtsein auftreten, kann man nicht aus den Bewegungen der Atome herleiten, kann auch keinen Zusammenhang zwischen den Bewegungen der Atome und den Empfindungen herleiten. Und dann sagt er, und das ist bedeutungsvoll: Wüßte man, was da ist, wo Materie im Raume spukt, so wüßte man vielleicht auch, wie Materie

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denkt. Er weiß zwar nicht, was es ist, wovon er meint, daß es da im Raume «spukt». In einer gewissen Beziehung hat er recht, aber er hat auch recht mit dem, was er für seine Wissenschaft als «Grenzen» meint. Denn mit dem gewöhn­lichen Bewußtsein, mit dem man auch in der gewöhnlichen Wissenschaft steht, entwickelt man Vorstellungen, Empfin­dungen, Gedanken; aber all dieses steht eigentlich recht ferne den Vorgängen im materiellen Leben. Und gerade deshalb konnte Du Bois-Reymond darauf hinweisen: Man weiß nicht, was als Materie im Raume spukt; wüßte man das, könnte man in diese materiellen Vorgänge untertau­chen, so könnte man auch darauf kommen, was mit einem materiellen Vorgange zusammenhängt als geistiges Leben. In einem gewissen Sinne hat er recht, trotzdem seine Denk­weise ganz materialistisch ist: daß man auch mit dem ge­wöhnlichen Denken den Vorgängen des geistigen Lebens ferne steht. Man durchschaut sie nicht, es sind mehr schat­tenhafte Gebilde, man dringt nicht in die Vorgänge hin­unter.

In dem Augenblick, wo man das Seelenleben so ent­wickelt, wie ich es vorhin charakterisiert habe, wo man hinuntersteigt in das imaginative Bewußtsein, da kommt man auch den materiellen Vorgängen - und zwar zunächst denen des eigenen Leibes - näher. Man steht ihnen dann nicht mehr so fern, wie man ihnen sonst steht mit den ge­wöhnlichen schattenhaften Vorstellungen. Das gewöhn­liche Bewußtsein hat schlechterdings kein Mittel, um zu sagen, wie Vorstellungsleben und Gedankenleben zu den Vorgängen im Gehirn stehen. Hypothesen über Hypo­thesen sind aufgestellt worden; aber nirgends ist etwas aufgetaucht, was wirklich in dieser Beziehung befriedigt hätte, abgesehen von gewissen anatomisch-physiologischen Untersuchungen, die aber auch wieder dem wahren Wesen

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der Dinge sehr fern stehen. Indem man aber in ein anderes Bewußtsein rückt, muß man näher rücken dem gewöhn­lichen Vorstellen. Da kommt man zu dem, was heute noch für viele Menschen paradox klingt, was aber erlebt werden kann, und erst erlebt wird durch das imaginative Bewußt­sein. Wer das Denken erleben kann - sonst führt man es nur aus, es wirkt unbewußt -, wer mit dem schauenden Be­wußtsein auf das hinschauen kann, was eigentlich im Den­ken vor sich geht, der kommt damit auch den materiellen Vorgängen näher, er wird eigentlich zu einer Art Mate­rialismus hingetrieben, aber es ist nur ein Materialismus, der in der Materie den Geist findet. Er lernt nämlich er­kennen - mag man auch heute noch darüber lachen, einmal wird man nicht darüber lachen -, daß das, was dem mate­riellen Vorgang im Gehirn zugrunde liegt, eigentlich ein im Gehirn lebendes, nicht ein über den ganzen Leib aus­gebreitetes Hungergefühl ist. Und dadurch entdeckt man den Abbau, die Rückentwickelung. Das lebt sich als Hunger aus, und das Gegenbild des Hungers in der Seele ist das Gedankenleben und die Vorstellung. Es handelt sich also darum, daß ein ganz normaler Vorgang unseres Organis­mus diese Rückentwickelung bewirkt, daß wir während unseres ganzen Wachlebens immer in einem partiellen Hun­ger sind, und diesem Hunger verdanken wir unser Bewußt­sein; und wie wir uns unseres Hungers im Magen bewußt werden, wenn er knurrt, so sind wir uns unseres Denkens dadurch bewußt, daß der Kopf hungert.

Äußerlich tritt da, abgesehen von allem Physiologischen, etwas auf, was gewissermaßen historisch eine Art Beleg für das eben Ausgesprochene sein kann. Sie wissen, daß gewisse Asketen, die allerdings keinen geisteswissenschaft­lichen, sondern einen falschen Weg einschlagen, um zum geistigen Leben zu kommen, auch hungern. Dieses Hungern,

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das aber nicht durch ein normales, sondern durch ein abnormes Leben herbeigeführt wird, ist es, was die Leute dazu führt, sich mehr dessen bewußt zu sein, was in ihnen vorgeht. Das ist es, was in abnormer, für die Geistesfor­schung nicht brauchbarer Weise ein stärkeres Selbstbewußt­sein und damit stärkeres Geist-Erleben hervorruft. Diesem Instinkt, durch Hungererlebnisse Geisterlebnisse zu haben, dem liegt durch Übertreibung der wahren Grundtatsachen zugrunde, daß eigentlich das normale Bewußtseinsleben im Vorstellen und Denken auf einem Hungergefühl, auf einem Hungervorgang des Kopfes beruht. Und wie gesagt, ent­deckt man dieses in innerer Anschauung, dann kommt man darauf, daß dieser rückentwickelnde Prozeß vorhanden ist, daß tatsächlich Abbau zugrunde liegt, und das Denken nicht als eine auf der Fortentwickelung beruhende Tatsache auftritt, sondern gerade auf dem Zurückdrängen des orga­nischen Lebens, an dessen Stelle es sich setzt. Und wenn man dies einmal durchschaut, wenn man dieses Wunderbare des menschlichen Organismus ins Auge faßt, wenn man also nicht bloß so vorgeht, wie es die abstrakten Mystiker machen, die immer wieder deklamieren: Um zur Gotteserkenntnis zu kommen, muß man eins werden mit dem höhe­ren Ich, und so weiter, was aber alles nur Redensarten sind, sondern wenn man wirklich zur Selbsterkenntnis vordringt und die menschliche Wesenheit so ergreift, daß man sagen kann: was in dieser Wesenheit auftritt, ist dem verdankt, was als Hungergefühl im menschlichen Organismus auf­tritt, - wenn man so zum Konkreten vordringt, dann merkt man, daß das, was als Denken im Menschen lebt, kurioser­weise eine unbewußte Inspiration ist. Dadurch kommt die­ses Denken in seinen Wirkungen an den Menschen heran, daß er die bloßen Vorstellungsassoziationen wie etwas Äußeres richten kann, weil eine Inspiration an ihn herantritt,

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die aber unbewußt bleibt. Der Geistesforscher dringt ein in die Tätigkeit des Denkens, in jene Tätigkeit, die dann auftritt, wenn sich der Organismus rückentwickelt, und er erkennt: Man hat es zu tun mit einer Inspiration. Und untersucht man von dem vorhin entwickelten Gesichts­punkte aus, wie ich es beschrieben habe, was dieser Inspi­ration zugrunde liegt, das heißt taucht man unter in die Inspiration und taucht man wieder herauf, dann ist dies der Weg, um das geistig-seelische Wesen des Menschen vor der Geburt oder Empfängnis zu entdecken, zu entdecken, was sich eigentlich verbunden hat mit dem, was in der Ver­erbungsströmung von Vater und Mutter, Großvater und Großmutter und so weiter herunterkommt. Man kommt zu dem, was sich durch die Empfängnis verkörpert; man kommt zu dem, was gegenüber des Menschen Gegenwart im Leibe seine geistig-seelische Vergangenheit ist. Man kommt zu einer unmittelbaren Anschauung des Ewigen im Menschen.

Dann, wenn man bis zur Intuition auf dem soeben ent­wickelten Gebiete vordringt, kommt man sogar zur An­schauung dessen, was als früheres Erdenleben dem gegenwärtigen zugrunde liegt, was in das gegenwärtige aus dem früheren hereinreicht. Das Reden über wiederholte Erdenleben beruht nicht auf etwas, was als Phantastik zu be­zeichnen wäre, sondern auf einer sehr sorgfältig entwickel­ten Forschung, die erst in voller Unabhängigkeit die Seele dazu präpariert, das anzuschauen, was eigentlich in den Seelenerscheinungen selbst vorgeht.

Wenn wir das sinnlichkeitsfreie Denken in imaginativer Erkenntnis zu erfassen suchen, die aber verschwindet, weil dieses Denken selbst Inspiration ist, wenn wir uns dahinein vertiefen, so erfahren wir: Der Mensch war, bevor er den irdischen Leib bezogen hat, in einer geistigen Welt, in die

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er eingetreten ist aus dem vorherigen Erdenleben. Man lernt das kennen, was vor der Empfängnis des Menschen liegt, und dadurch das Ewige. Indem man so das Denken anzuschauen vermag als dasjenige, was gerade das von Va­ter und Mutter Kommende abbaut, was gerade die Devo­lution des sich Fortentwickelnden voraussetzt, lernt man kennen, wie das Leben hier im Leibe die Folge ist des Ewi­gen im Menschen. Es wird sich künftig zu der Betrachtungs­weise, die sonst, wenn auch nur in Glaubensvorstellungen, üblich war, die andere hinzugesellen, die nicht bloß fragen wird: Was geschieht mit dem Menschen nach dem Tode? sondern die die andere Frage hinzufügen wird: Aus wel­chem Zustande des geistig-seelischen Lebens tritt der Mensch heraus, indem er sein Erdenleben hier führt? Die Unsterb­lichkeitsfrage wird in Zukunft viel wichtiger noch sein, weil man zur Erkenntnis kommen wird, wie das Leben hier nur zu begreifen ist als Fortsetzung eines Geistig-Seelischen. Und das Erste, was man entdeckt als eine unbewußte, im­merfort ins Leben hereintretende Inspiration, ist das Den­ken, das sich aufbaut auf Grund der Rückentwickelung.

Dem, was ich eben für die Rückentwickelung des mensch­lichen Hauptes und der Sinnesorganisation angeführt habe, steht wie polarisch ein anderes gegenüber in der mensch­lichen Organisation. Wie alles, was ich jetzt charakterisiert habe, auf einer Devolution beruht, die die Evolution zu­rücknimmt, so stellt alles, was beim Menschen mit der Aus­bildung seiner Extremitäten zusammenhängt - Hände und Füße und alles, was mit ihnen zusammenhängt, also alles, was Fortsetzung der Extremitäten nach innen ist, was sehr viel ist -, ein anderes Extrem dar im Menschen und seinem Organismus. Für den, der Augen hat zu sehen, was rings um ihn herum ist, für den sind die menschlichen Füße und besonders die Hände wahrhaft recht wunderbar geformte

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Dinge, wenn auch jene grobe Betrachtungsweise, die nur die vier Affenhände und, ein bißchen umgeformt, die menschlichen Extremitäten sieht, das Wunderbare der menschlichen Hände und Füße gar nicht bemerkt. Denn was den menschlichen Extremitäten zugrunde liegt, erleidet nicht eine rückgehende Entwickelung, nicht eine Devolution; sondern das zeigt das Eigentümliche, daß es über das Maß der sonstigen Evolution, die der Organismus hat - mit Aus­nahme des Hauptes -, hinausgeht. Die Extremitäten er­leiden eine Überentwickelung, sie fahren hinaus über den Punkt, bis zu dem das Haupt und der übrige Organismus geht, wie der übrige Organismus abbaut, so entwickeln die Extremitäten eine Art Beharrungsvermögen, schießen hin­über über das gewöhnliche Maß. Was physiologisch mit der Evolution der menschlichen Extremitäten zusammenhängt, stellt eine Überentwickelung dar, die über das Maß des Gewöhnlichen hinausgeht, angeschaut durch ein Erkenntnis­vermögen, das sich in drei Stufen aufbaut. Diese Erkennt­nis ergibt in bezug auf die menschliche Organisation, die mit dem Wunderbau der Extremitäten zusammenhängt, daß man dem nur beikommen kann, wenn man zur ima­ginativen Erkenntnis aufrückt. Erst wenn man den Men­schen in bezug auf seine Extremitäten nicht mehr so an­schaut, wie die äußere Physiologie ihn nur anschauen kann, sondern wenn man zu dem geistigen Untergrunde der Ex­tremitäten kommt, dann entdeckt man, wie auch da ein Geistiges drinnensteckt. Aber wie das, was im Denken steckt, sich schon als Inspiration ankündigt - sie ist da ganz rudimentär -, so ist es auch bei den Extremitäten. Aber hier läßt sich das, was da eigentlich heraus will, was die Überentwickelung bewirkt, nur im Bilde ergreifen; es kommt nur so zur Anschauung. Man braucht natürlich bei dieser Erkenntnis nicht beim Bilde stehen zu bleiben, sondern

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man nimmt das Bild und sucht dahinterzukommen. Und da steht ja erst die wahre Wirklichkeit! Man dringt von dem Bilde zur entsprechenden Inspiration vor und zur entsprechenden Intuition. Was entdeckt man da? Man ent­deckt das, was allerdings in einer unbestimmten Art, wie ein dunkles Gefühl - eben als unbewußte Imagination - in jeder Menschenseele vorhanden ist, was aber seiner We­senheit nach durch Inspiration und Intuition ergriffen, das Wesenhafte darstellt, was herausgeht in die geistige Welt, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes schreitet. Da liegt der geistige Teil unserer Zukunft. Dieser Keim ist die Brutstätte desjenigen, was wir nach dem Tode brauchen. Und deshalb ist die Überentwickelung da, weil sonst die Entwickelung mit dem Tode aufhören würde. Das gibt den Grund ab des Darüberrückens, was man braucht, um eine geistig-seelische Organisation Post mortem zu haben.

Der Inspiration steht ja der Mensch ziemlich fern, eigent­lich auch der Imagination. Daher tritt das, was ich jetzt beschrieben habe für die menschliche Organisation, im ge­wöhnlichen Bewußtsein so auf, daß das inspirierte Denken - und jedes wahre Denken ist inspiriert - eigentlich ein Rätsel bleibt. Nur so erklärt es sich, wie es heute ausein­andergesetzt worden ist. Es wird also gar nicht in der Philo­sophie darüber geforscht, sondern man nimmt es hin. Man schreibt Logiken, die da richten das bloße aufsteigende, freibleibende Denken. Aber woher es die Seele hat, daß sie die Logik entfaltet, dahinter kommt man nicht. Dazu kommt man erst, wenn man erkennt, daß die Seele in der geistigen Welt war und sich von dort her die Richtschnur für das Denken mitgebracht hat, und daß das, was wir als Logik entwickeln, gar nicht in der Gegenwart entwickelt wird. Das ist alles Inhalt aus dem Dasein vor der Geburt oder Empfängnis; der ist nicht vergangen. Wir leben das

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ewige Leben, wir sind nicht herausgekommen aus dem ewigen Leben. Das inspiriert uns, wenn wir uns aufschwin­gen zu dem über das bloße Vorstellen hinübergehenden Denken. Das ist ein Beweis, aber den Tatbestand durch­schaut man nicht. Daher kommt man auf diesem Gebiete zu Rätseln, aber nicht zu Antworten.

Schon ein bißchen näher, weil er mit dem Gefühl an die Sache herangeht, kommt der Mensch in der Inspiration. Unterbewußt hat er die Imagination, die in bezug auf die Extremitäten dargestellt ist. Daher reden auch die Philo­sophen wenig über das vorgeburtlich liegende Leben, weil das auf einem höheren Gebiete nur zu erkennen ist, das weniger in das gewöhnliche Bewußtsein herein will. Das dem Imaginativen am nächsten liegende Denken kommt dumpf herauf. Daher redet man viel leichter und viel ge­wöhnlicher von dem, was als Unsterblichkeit bleibt, aber meidet sowohl die Kräfte, die in die Seele herein inspirieren, wie die Kräfte, die wir imaginativ finden, damit die Bilder selbst in die geistige Welt übergehen und aus den Bildern die Vorbereitung für das nächste Erdenleben ge­schaffen wird. Wir gehen mit den Bildern in die geistige Welt hinein. Was wir da hineintragen, das stellt in gewisser Weise unser Zukünftiges dar.

Die Erkenntnisart nun, von der ich gesprochen habe, die da aufsteigt durch die Imagination und Inspiration zur Intuition, die gibt die Möglichkeit, wirklich schon, wie man Spiegelbilder sieht, bildhaft das menschliche Leben zu über­schauen, dabei aber doch in die eigentliche Wirklichkeit dieses Lebens einzudringen. Aber ein Merkwürdiges stellt sich ein, wenn man alles das durchmacht, was zu dem vor­geburtlichen und zu dem nachtodlichen Leben gehört: In­dem man so herauskommt aus der eigenen Leiblichkeit, indem die eigene Leiblichkeit zur Bildhaftigkeit wird, da

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zerflattert, zerstiebt das, was man sonst als Selbsterlebnis des Ich hat. Da ist der gefährliche Moment für die Er­kenntnis, wo das gewöhnliche Ich zerstiebt. Er wird gleich­sam in alle Welt zerstreut, fühlt sich ohne Bewußtsein.

Dieses Gefühl ist eine merkwürdige, bedeutsame Er­kenntnis. Man merkt, daß das, was man zurückgelassen hat, aus dem man herausgegangen ist, gerade für das ge­wöhnliche Ich die Grundlage war. Für das Ich, das der Mensch sein «Ich» nennt im gewöhnlichen Leben, ist die körperliche Organisation die Grundlage. Dieses Ich beginnt mit der Empfängnis, mit der Geburt; später beginnt erst das Bewußtsein dafür. Dieses Ich, dieses unmittelbare Gegenwarts-Ich, ist an den Organismus gebunden; das kann man nicht finden, wenn man aus dem Organismus herausgeht. Darauf beruht aber gerade das Vollbewußtsein dieses Ich. Nun erlebt man aber doch dieses Ich als ein in sich geschlossenes. Es wäre furchtbar, wenn der Mensch das als sein Ich erleben würde, was der Geistesforscher als Ich in seiner Zerstäubung erlebt, wenn er aus dem Leibe heraus ist. Wie erlebt man dieses Ich? So erlebt man es, daß es eben untergetaucht ist; denn wenn es nicht untergetaucht ist in den physischen Leib, dann schläft der Mensch; dann ist das Ich heraus und er erlebt es nicht. Es wird im Leibe erlebt, und zwar in demjenigen Teil der menschlichen Or­ganisation, die nicht die sich rückentwickelnde Hauptesorganisation und nicht die über die Normalentwickelung hinausgehende Extremitätenorganisation ist; sondern es wird im übrigen Teile der menschlichen Organisation durch die Lungen- und Herztätigkeit angeregt. Es wird dadurch angeregt, daß der Mensch in seinem Organismus drinnen­steckt.

Was ist dieses Ich, das sonst zerstäubt? Dieses Ich wird dadurch bewußt, daß es untertaucht in den Organismus.

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Der Geistesforscher erkennt es als unbewußte Intuition. Das ist die Intuition, die gewonnen wird, indem das wahre, sonst gar nicht im Bewußtsein auftretende Ich untertaucht in die Organisation, und zwar in die Mittelorganisation des Menschen. Auf unbewußter Intuition beruht das Be­wußtsein vom Ich. Daher können Sie auch oftmals von «Intuition» sprechen hören, jedoch von Imagination und Inspiration viel weniger. Aber gerade von diesem Höch­sten, das als ein außer dem Leibe sich vollziehender Prozeß der Geistesforschung auftritt, ist ein dumpfes Bewußtsein vorhanden. Das ist es, was Hamerling das «Ichgefühl» nennt. Das strömt herauf aus der Organisation. So ist die Organisation, wie sie sich darlebt. Unbewußt gehen vom sinnlichkeitsfreien Denken Imaginationen in denjenigen Teil der menschlichen Wesenheit, der eingebettet ist in den Extremitätenteil, und gehen von dort hinaus in die Zukunft. Was im gegenwärtigen Ichbewußtsein lebt, das zerstäubt; das wird erst, indem es zukünftig ist, aus diesem Zerstäu­ben befreit. Das sieht man gerade, wenn man die Sache weiter verfolgt. Denn man hat jetzt ein Dreifaches in der Menschennatur, nämlich das, was die drei Glieder des menschlichen ewigen Wesens sind: Das Vergangene, vor der Erdenverkörperung Liegende, das sich in die unbewußte Inspiration des Organismus hereinlebt; dann das, was während des Erdenlebens erlebt wird in der unbewußten Intuition; und drittens das, was vorgefühlt wird als We­senheit des Menschen nach dem Tode in der Imagination. Das sind drei Glieder des menschlichen Wesens, und sie wirken im Menschen immer zusammen. In Wahrheit ist der Mensch nicht das einfache monadenhafte Wesen, von dem diejenigen träumen, die gern alle Erkenntnis nur recht bequem haben wollen, sondern in Wahrheit wirken drei Iche im Menschen zusammen: Das inspirierende, das im

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Denken lebt, das herübergetragen ist aus der geistigen Welt und aus dem vorhergehenden Erdenleben; das intuitive, das in der gegenwärtigen Leiblichkeit lebt; und das ima­ginative, das hinübergetragen wird, wie ein Wagen den Insassen trägt, in die geistige Welt, in die eingetreten wird mit dem Durchgehen durch die Pforte des Todes.

Nun kann beim Menschen das Handeln auftreten, der Willensakt, der innerlich zusammenhängt mit der Extremi­tätenorganisation. Er kann so auftreten, daß er aus der Organisation heraus folgt. Dem trivialen Leben, dem In­stinktleben Freiheit des Willens zuzuschreiben, wäre ja ein Unsinn. Daher habe ich in der «Philosophie der Freiheit» Wert darauf gelegt, daß gefragt werde: Welche Hand­lungen des Menschen sind freie? Denn man entdeckt, daß die aus den Vorstellungsassoziationen kommenden noch nicht freie sind. Der Mensch ist frei für gewisse Hand­lungen, für andere unfrei. Das Freie der Handlung ent­wickelt sich erst aus dem Menschen heraus, und zwar sind, wie ich in der «Philosophie der Freiheit» gezeigt habe, nur diejenigen Handlungen als freie aufzufassen, die aus dem sinnlichkeitsfreien Denken, dem intuitiven Denken auf­treten. Da muß der Mensch etwas entwickeln, um solche Handlungen ins Werk zu setzen, das ihn aus sich herausführt; denn das wirkliche sinnlichkeitsfreie Denken folgt ja nicht aus der Organisation des Organismus, sondern das beruht auf Abbau. Was aus den Trieben folgt, kommt aus der Organisation, was aus den Instinkten folgt, ebenfalls. Der Mensch muß aus sich herausgehen, wenn auch unbe­wußt. Wodurch aber kommt er unbewußt schon im ge­wöhnlichen Bewußtsein aus sich heraus? Wenn er Hand­lungen verrichtet, bei denen er im eigentlichen Grunde seines Menschenwesens recht unbeteiligt ist in bezug auf alles, was Triebnatur, was instinktive Natur ist, wobei er

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den freien Gedanken hat: «es muß geschehen», und sich doch nur fühlt als Werkzeug des Geschehens. Wer wirklich das Menschenleben prüfen kann, der wird finden, wenn er darauf sieht, wie sich solche Handlungen ins Leben hin­einstellen: Sie stellen sich so ins Leben hinein, wie wir uns einer Persönlichkeit gegenüberstellen, die wir lieben. Wenn wir sie wirklich lieben, dann nehmen wir sie, wie sie ist, wir schauen sie an, gehen über uns hinaus. Handlungen, die so angesehen werden können, Handlungen, die zum innersten Impuls die Liebe haben, das sind die freien Hand­lungen des Menschen, wenn diese Liebe getragen ist von der Einsicht, die aufgebaut ist auf sinnlichkeitsfreiem, in­tuitivem Denken. Das habe ich vor fünfundzwanzig Jahren in der «Philosophie der Freiheit» aus der Beobachtung her­aus dargestellt, heute stelle ich es aus der Geisteswissen­schaft heraus dar. So also haben wir in einer freien Hand­lung des Menschen den Dreiklang: Sinnlichkeitsfreies Denken, Abbau, Befehlen dem Organismus - Liebe - Tat. Das ist der Dreiklang, der in einer freien Menschennatur lebt: Freies intuitives Denken, Liebe, Tat. Aber es muß auftauchen im gewöhnlichen Bewußtsein. Es muß gewis­sermaßen das, was ich jetzt beschrieben habe, ihm zugrunde liegen.

Aber der Mensch, der frei handelt, ist deshalb noch nicht ein Hellseher, er ist noch nicht zum schauenden Be­wußtsein gekommen. Wie das geistige Leben hereintritt in Dichter und Künstler, so tritt es in ihn herein durch das, was ich in meinem Buche genannt habe die moralische Phantasie. Würde man in die geistige Welt hineinschauen zu dem geistigen Gegenbilde der moralischen Phantasie, dann hätte man Imaginationen; denn was moralische Im­pulse sind, lebt nicht in uns. Gefühlsmäßig ist der Abglanz davon im Gewissen; anschauend ist der Abglanz davon im

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Bewußtsein die moralische Phantasie, welche die morali­schen Impulse hat. Redet man geistesforscherisch, dann sagt man: Nicht nur in uns liegen die Antriebe zu den morali­schen Impulsen, sondern sie werden entlehnt aus der gei­stigen Welt; aber sie treten ins Bewußtsein herein als mora­lische Phantasie. Das ist es, was der Willensfreiheit des Menschen zugrunde liegt.

Schauen wir noch einmal auf das hin, was in der höhe­ren Extremitätenorganisation, die in die menschliche Or­ganisation hineingeht, zum Ausdruck kommt. Das ist ja nicht für das Leben, das bis zum Tode geht; es enthält ja die Impulse, die nach dem Tode ihre Bedeutung haben. Sie sind vorhanden, leben im Menschen, verrichten also etwas, was über das gewöhnliche Leben hinaus seine Bedeutung hat; sie sind nicht im Organismus begründet. Denn der Organismus muß über sein Maß der Organisation hinaus­gehen, indem er das hervorbringen will. Da bewirkt er etwas. Da bewirkt er etwas im Menschen, was nichts zu tun hat mit einer bloß naturwissenschaftlichen Notwendig­keit, denn diese naturwissenschaftliche Notwendigkeit be­trachtet den Menschen in bezug auf alles, was zwischen Geburt und Tod liegt. Wenn aber das auftritt, was zwar hier wirkt, aber seine volle Realität erst nach dem Tode erhält, dann ist es das «Zukunfts-Ich», wenn wir so sagen dürfen. Und was ergreift dieses Zukunfts-Ich? Ich sagte: das freie Denken. Das Vergangenheits-Ich - der Dreiklang der Iche liegt im Menschen -, das er in die Verkörperung hereinbringt, das in des Menschen Seelenleben hereininspi­riert, das macht es, daß wir überhaupt freies, vom bloßen Vorstellen freies Denken haben, das auch die Antriebe für das moralische Handeln abgibt. Aber das würde passiv bleiben. Das muß jedoch ergriffen werden von lebensvollen Impulsen. Die sind von dem Zukunfts-Ich. In jeder freien

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Handlung lebt sich das aus, was des Menschen unsterbliches Wesen ist. Denn in das gegenwärtige Ich, das durch den Leib lebt, das erst in der Zukunft seine Bedeutung erhält durch das, was sich durch das Geistig-Seelische vorbereitet, in dieses gegenwärtige Ich herein wirkt, es übergreifend, das Zukunfts-Ich mit allen Impulsen, allen tätigen Kräf­ten, die das freie Denken des Vergangenheits-Ich ergreifen. In den gegenwärtigen Menschen wirkt der unsterbliche Mensch im Zusammenklang mit dem Zukunfts-Menschen herein. Dadurch ist der Mensch ein freies Wesen!

Man muß erst darauf kommen, daß in einer freien Men­schentat das unsterbliche Wesen des Menschen liegt, um einzusehen, daß die Naturwissenschaft ganz recht hat, wenn sie von keinen freien Handlungen spricht; denn sie be­trachtet nicht - das ist auch nicht ihre Aufgabe - das un­sterbliche Wesen des Menschen. Aber ehe man dieses un­sterbliche Wesen nicht einsieht, kann man nicht zu dem vordringen, was aus den unterbewußten Tiefen herauf-kommt und in moralischen Handlungen sich auslebt. Der menschliche Wille ist unfrei in diesen seinen Trieben, aber es liegt die Entwickelung zur Freiheit in ihm. Der Mensch ist ein immer mehr sich befreiendes Wesen. Und um so mehr Freiheit erringt er sich, je mehr sich in ihm entfaltet, was als ein ewiger Wesenskern in ihm lebt. Frei sind wir, weil wir unsterblich sind; frei sind wir mit demjenigen Teil unseres Wesens, mit dem wir unsterblich sind.

Das ist der Weg, wie alles das gefunden werden kann, was mit Bezug auf diese beiden Fragen - Willensfreiheit und Seelenunsterblichkeit - die Naturwissenschaft niemals finden kann; und sie wird um so mehr gute Naturwissen­schaft bleiben, je weniger sie Anspruch machen wird, in diese Gebiete einzugreifen. Aber Wissenschaft bleibt es doch, was so in den Geist und in das Geistesleben eingreift.

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Die Menschheit früherer Jahrhunderte und Jahrtausende, die noch ein anderes Seelenleben hatte, brauchte noch nicht diese Wissenschaft. Aber heute nähern wir uns immer mehr der Zeit, wo volle Bewußtheit über das eintreten muß, was dem Menschenleben zugrunde liegt. Der Mensch wird im­mer mehr das brauchen, was ihm die Wissenschaft vom übersinnlichen Leben geben kann. Ich habe oft ausgeführt:

Eindringen in das übersinnliche Leben kann zwar nur der Geistesforscher; aber was er sagt, prüfe man mit dem ge­wöhnlichen Bewußtsein, und man wird es ebenso anneh­men können, wenn man selbst auch nicht Geistesforscher ist, obwohl es jeder heute werden kann. Wenn der Geistes-forscher seine Ergebnisse vor das gewöhnliche Bewußtsein hinstellt, so kann man sie mit dem gewöhnlichen Bewußt­sein verstehen, wenn man sich nur nicht beirren läßt von dem, was zwar auf seinem Boden seine volle Berechtigung hat, was aber immerzu seinen Boden übertritt, wenn es verbieten will, auf andern Territorien zu forschen als auf denen des bloßen Naturgeschehens. Allerdings führt so manches ab von der Geistesforschung, und wer etwa glaubt, daß der Geistesforscher die geringste Anlage zur Phan­tastik haben darf, der irrt sehr. Wer da meint, daß es leicht sei, in die geistige Welt einzudringen, und daß dagegen die gewöhnliche Forschung in Kliniken und Laboratorien schwer ist, der hat keine Ahnung von den wirklichen Ver­hältnissen. Im Grunde genommen ist alles, was auf dem Gebiete der äußeren Wissenschaft an Anstrengungen ge-macht wird, ein Kleines gegenüber dem, was dem wirk­lichen Forschen zugrunde liegt, wenn man in die heute ge­schilderten Gebiete eindringen will.

Aber es ist auch noch notwendig, daß man mit unbefan­genem Auge darauf hinsieht, wie Menschen oftmals glau­ben, unbefangen zu sein, und drinnen stehen in der Befangenheit.

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Ich muß daran denken, wenn ich immer wie­der bei den gebräuchlichen Philosophen sehe, wie sie die heute besprochenen Fragen so behandeln, daß sie immer wieder und wieder sagen: Der Mensch besteht aus Leib und Seele. Sie wissen - den ganzen Betrachtungen dieses Winters lag das zugrunde -, daß man mit der Menschenbetrachtung nicht zurechtkommt, wenn man den Menschen nicht glie­dert in Leib, Seele und Geist. Das macht eigentlich heute nur die Geisteswissenschaft. Aber die Mehrzahl der Philo­sophen redet heute noch nicht von Leib, Seele und Geist, und sie glaubt, vorurteilslose Wissenschaft damit zu trei­ben. Man muß nur wirklich in die Dinge hineinsehen. Wo­her kommt es, daß die Philosophen heute nicht sprechen von Leib, Seele und Geist - und sich selbst die Klarheit darüber trüben? Sie glauben, voraussetzungslos zu for­schen, aber sie folgen in Wirklichkeit dem Achten ökumeni­schen Konzil vom Jahre 869! Sie wissen nur nicht, daß es dem damals aufgestellten Dogma entspricht, daß der Mensch nicht als dreigliedrig angesehen werden darf, son­dern daß man nur reden darf von Leib und Seele, und der letzteren höchstens geisthafte Eigenschaften beimessen darf. Was durch das ganze Mittelalter als ein wahrer Horror da war, das hat sich in die neuere Zeit fortgepflanzt; und wenn heute Wundt von Leib und Seele redet, so glaubt er vorurteilslos zu reden, in Wahrheit befolgt er nur die Richt­schnur des Achten ökumenischen Konzils. So stehen die Menschen unter den Impressionen des Unbewußten. Doch die heutige Menschheit ist ja nicht «autoritätsgläubig», und deshalb gibt sie auch nicht acht, ob die, welche die Autori­täten sind für die nicht-autoritätsgläubigen Menschen, aus solchen Untergründen zu ihren Behauptungen kommen, oder vorurteilsfreie Wissenschaft treiben. Das ist das eine, was sich dem Beobachter darstellt.

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Das andere ist, daß innere Kraft dazu gehört, um zur Imagination aufzusteigen, um das verstärkte Bewußtsein so zu halten, daß es einem nicht fortwährend entfällt. Man darf nicht in den Glauben verfallen, man komme sogleich in die Phantastik hinein, wenn man nicht am Gängelbande der äußeren Wirklichkeit mit seinem Erleben fortschreitet, wenn man aus einer inneren Notwendigkeit heraus, mutvoll, in dem neuen Erleben sich zu stehen getraut, um in den Geist hineinzukommen. Dieser innere Mut fehlt den Leuten, sonst würde die Geistesforschung leichter vor­dringen können. Kleinmut und die Furcht vor der Einsam­keit sind im Unterbewußten unten. Und die, welche diesen Kleinmut und diese Furcht haben, sie treten auf und nennen die Geistesforschung eine Phantasterei und glauben, mit ihren Gründen könnten sie die Geistesforschung wider­legen. Prüft man ihre Gründe, so findet man, es ist un­bewußter Kleinmut, unbewußte Furcht und Ängstlichkeit, die sich über sich selbst hinwegtäuschen und sich betäuben will über die Gründe, die sie gegen die Geistesforschung vorbringt. Aber jeder Geistesforscher weiß, daß der, der sich in die Geisteswissenschaft einlebt in bezug auf das gei­stig Übersinnliche der Menschenwesenheit, zu einem Ver­stehen der Dinge kommen kann. Die Wahrheit findet, trotz aller ihr entgegenstehender Finsternis und wie sehr sie auch angefeindet und verleumdet wird, ihren Weg - wie ein geistvoller deutscher Denker gesagt hat - durch die Mensch­heitsentwickelung hindurch, selbst durch die engsten Ritzen und Felsspalten; sie findet den Weg zur Menschheit. Die Menschheit wird darauf kommen, daß sie ein übersinnliches Wesen ist und zur wahren Selbsterkenntnis, aber auch zum wirklichen praktischen Leben übersinnliche Erkenntnisse immer mehr und mehr brauchen wird. Deshalb darf man, indem man empfindungsgemäß zusammenschließt, was als

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Gesinnung zum Ausdruck kommt, wenn man die heute noch so paradoxen Vorstellungen der Geisteswissenschaft vor ein Publikum hinträgt, wenn es einem ernst ist und man sich nicht um die entgegengebrachten Mißverständ­nisse kümmert, aufmerksam machen auf diese sich durch­setzende Kraft der Wahrheit und auf diesen immer leben­digen Impuls. Und das legt es einem auf die Zunge, nicht als Phrase, sondern als tiefernste Überzeugung: Mag auch das Einzelne, so wie es heute erforscht wird, noch von die­sem oder jenem Irrtum angefressen oder angekränkelt sein; der Impuls der Wahrheit lebt in dem, was durch die gei­steswissenschaftliche Forschung fließen soll. Das fühlt der, der in ihr drinnensteht. Deshalb sagt er es, wahrhaftig nicht als Phrase, sondern als einen Ausdruck des mit dern Geist verbundenen Lebens selbst: Trotz allem - die Wahr­heit wird auch auf diesem Gebiete siegen müssen!

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HINWEISE

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11 Eduard von Hartmann, Seelenlehre: «Die moderne Psychologie. Eine kritische Geschichte der deutschen Psychologie in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts>, Leipzig 1901.

12 Franz Brentano: Zitat aus «Psychologie vom empirischen Stand­punkt>, 1. Bd., S.20, Leipzig 1874.

30 Walther Rathenau (1867-1922), Staatsmann und Industrieller, schrieb u. a. «Von kommenden Dingen>, Berlin 1917, «Zur Kri­tik der Zeit», «Die Mechanik des Geistes>.

35 Rittelmeyer: Friedrich Rittelmeyer (1872-1938), zuerst prote­stantischer Geistlicher, von 1922 an Leiter der Christengemein-schaft, schrieb «Von der Theosophie Rudolf Steiners> in «Evan­gelisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände>, 31. Jg., Heft 33-35, Marburg 1917.

36 Ins Innere der Natur...: Goethes Naturwissenschaftliche Schrif­ten, Bildung und Umbildung organischer Naturen, «Freundlicher Zuruf>, Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, herausgegeben von Rudolf Steiner in Kürschners Deutscher National-Literatur, Bd. I, S. 170.

39 Hertwig: Oskar Hertwig «Das Werden der Organismen», Jena 1916.

Ziehen: Theodor Ziehen «Leitfaden der physiologischen Psycha logie in 15 Vorlesungen>, 2. Aufl., Jena 1893.

41 Du Bois-Reymond: Emil du Bois-Reymond (1818-1896) «Sollte es nicht angemessen sein, daß sie (die Physiologie) endlich, in förmlicher Entsagung, ein für allemal mit der Lebenskraft bräche, wie vor hundert Jahren Gottsohed zu Leipzig in feierlicher Handlung den Hanswurst von der deutschen Schaubühne trieb?>. Über die Lebenskraft. Aus der Vorrede zu den «Untersuchun­gen über tierische Elektrizität vom März 1848», in Emil du Bois-Reymond, Reden, I. Bd., S.21, Leipzig 1912.

47 Ziehen: a. a. O. S. 171.

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51 F. Th. Vischer: frei zitiert nach «Altes und Neues», S.194, Stuu­

gart 1881.

52 Du Bois-Reymond: Emil du Bois-Reymond «Über die Grenzen des Naturerkennens. Die sieben Welträtsel». Zwei Vorträge, Leipzig 1882.

56 Aufsatz in «Das Reich> «Die Erkenntnis vom Zustand zwischen dem Tode und einer neuen Geburt» in «Das Reich», i. Jg., Buch 1 und 4, München 1916/17; jetzt auch in «Philosophie und An­throposophie», Gesammelte Aufsätze 1904-1918, Gesamtausgabe Dornach 1963.

56 Ziehen: a. a. O. S. 172.

61 Kleine Schrifl: Rudolf Steiner «Das menschliche Leben vom Ge­sichtspunkt der Geisteswissenschaft», Dornach 1916.

62 Rittelmeyer: Siehe Hinweis zu S.35.

70 Goethe-Zitat: Sprüche in Prosa, 5. Abt., Psychologische Betrach­tungen («Höchst bemerkenswert bleibt es immer...»)

Hamann: J. G. Hamann (1730-1788).

72 Spicker: Gideon Spidter «Am Wendepunkt der christlichen Welt-periode», Stuttgart 1910, S. 30.

80 Goethe-Zitat: «Das Hirn selbst nur ein großes Hauptganglion. Die Organisation jedes Ganglions wird im Gehirn wiederholt, so daß jedes Ganglion als ein kleines subordiniertes Gehirn an­zusehen ist» (Venezian. Tagebuch 1790). Vgl. Karl von Barde­leben, Goethe als Anatom, Goethe-Jahrbuch, XIII. Band (1892).

«Anschauende Urteilskraft»: Goethe «Anschauende Urteilskraft», s. «Bildung und Umbildung organischer Naturen», Goethes Na­turwiss. Schriften, herausgegeben von Rudolf Steiner, Bd. I,

S. 115.

93 Schiller an Goethe: Brief vom 23. August 1794.

102 Novalis-Zitat: Der genaue Wortlaut bei Novalis: «Die Geister-weit ist uns in der Tat schon aufgeschlossen, sie ist immer offen­bar! Würden wir plötzlich so elastisch, als es nötig wäre, so sähen wir uns mitten in ihr.»

114 Du Bois-Reymond: Siehe Hinweis zu S. 52.

115 F. Th. Vischer über Traumphantasie: Siehe Hinweis zu S. 51.

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122 Pikler: Julius Pikler «Das Grundgesetz alles neuro-psychischen Lebens, zugleich eine physiologisch - psychologische Grundlage für den richtigen Teil der sogenannten materialistischen Ge­schichtsauffassung», Leipzig 1900.

124 Fortlage: Karl Fortlage «Vier psychologische Vorträge>, Jena

1874, S. 29f.

125 Gaswitz: Konnte nicht nachgewiesen werden. Wahrscheinlich handelt es sich um Max Kassowitz (1842-1913), Professor an der Universität Wien, über «Nerven und Seele> in «Allgemeine Bio­logie» IV. Band, Wien 1906.

138 Charles Snyder: «Das Weltbild der modernen Wissenschaft>, Leipzig 1905.

Wallace: Alfred Russell Wallace (1823-1913), bedeutender Na­turforscher.

154 Loeb: Jacques Loeb, Biologe, hielt auf dem ersten Monisten­Kongreß in Hamburg im September 1911 einen vielbeachteten Vortrag über «Das Leben>, Leipzig 1911.

158 J. Crüger: Konnte nicht nachgewiesen werden.

Strümpell: Ludwig Strümpell, (1812-1899) Philosoph und Psy­chologe, schrieb u. a. «Die Natur und die Entstehung der Träume», Leipzig 1877.

J. Freyer: Konnte nicht nachgewiesen werden. Es handelt sich möglicherweise um Joh. H. Frerichs, Verfasser von «Der Mensch:

Traum, Herz, Verstand» 2. Aufl. Norden 1878.

159 Palagyi: M. Palagyi «Naturphilosophische Vorlesungen uber che Grundprobleme des Bewußtseins und des Lebens», Leipzig 1908.

174 Wiesner: Julius Wiesner (1838-1916), Botaniker.

179 Schillers Rede: «Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?» Eine akademische Antrittsrede. Schifler sprach am 26. und 27. Mai 1789, also direkt am Vorabend der Französischen Revolution.

Goethe-Ausspruch: Sprüche in Prosa, 9. Abt.

180 Lamprecht: Karl Lamprecht (1856-1915) Moderne Geschichts­wissenschaft (1905), 2. Aufl., Berlin 1909.

181 Wilson: Woodrow Wilson «Die neue Freiheit>, «Nur Literatur», beide München 1914.

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181 Vortrag in Helsingfors: «Die okkulten Grundlagen der Bhaga­vad Gita», 8. Vortrag, Gesamtausgabe Dornach 1961.

189 Lamprecht: Karl Lamprecht «Deutsche Geschichte», 19 Bde. (1891 bis 1909).

201 Vortrag von Rudolf Steiner: Am 12. Oktober 1905 in Berlin:

Unsere Weltlage (Krieg, Frieden und Theosophie), abgedruckt in «Das Goetheanum», 24. Jg. 1945, Nr.31-34.

205 Burdach: Konrad Burdach (1859-1936) «Deutsche Renaissance, Betrachtungen über unsere künftige Bildung», Berlin 1916.

225 Volkelt: Johannes Volkelt «Die Traum-Phantasie», Stuttgart

1875.

235 Vortrag in Zürich: «Anthroposophie und Sozialwissenschaft»,

14. November 1917 in «Anthroposophie und akademische Wis­senschaften», 4. Vortrag, Zürich 1950.

247 Lodge: Sir Oliver Lodge «Raymond, or life and death», London

1916.

254 Vischer über Volkelt: Siehe Hinweis zu S. 51.

262 Hertwig: Oskar Hertwig «Das Werden der Organismen», Jena

1916; «Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus», Jena 1918.

265 Vrnzenz Knauer: (1828-1894), katholischer Geistlicher und Philo­soph.

276f Vortrag über Goethe: Siehe den 3. Vortrag dieses Bandes.

283 Lambert: Johann Heinrich Lambert (1728-1777), Philosoph, Physiker, Astronom, Mathematiker.

284 Herman Grimm: Grimm über den «Urnebel» in «Goethe» 2. Bd.,

23. Vorlesung, 8. Aufl., Berlin 1903.

285 Dewar: Sir James Dewar (1842-1923), hervorragender Chemi­ker, Dozent an der Royal Institution in London.

287 Preuss: Vgl. über ihn Rudolf Steiners Ausführungen in «Die Rätsel der Philosophie».

291 Walditein: Louis Waldstein «Das unterbewußte Ich und sein Verhältnis zu Gesundheit und Erziehung», Wiesbaden 1908. Der Text von Waldstein ist frei wiedergegeben.

365

302 «Jenseits der Seele»: Max Dessoir «Vom Jenseits der Seele», Stutt­gart 1917. Vgl. Rudolf Steiner «Von Seelenrätseln», Gesamt-ausgabe Dornach 1960.

305 Troxier: I. P. V. Troxier (1780-1866). Vgl. Rudolf Steiner «Vom Menschenrätsel», Gesamtausgabe Dornach 1957.

«Das Reich>: Siehe Hinweis zu S. 56.

311 E. v. Hartmann: Siehe Hinweis zu S. 11.

314 Wundt: Wilhelm Wundt (1832-1920).

321 Mauthner: Fritz Mauthner «Wörterbuch der Philosophie», 2 Bde. München 1910.

323 Schluß des Vortrages: Rudolf Steiner kommt im abschließenden Teil des Vortrages noch auf die Tragödie Friedrich Nietzsches zu sprechen. Doch ist dieses Stück der erhaltenen Nachschrift so ungenau, daß sich der ungefähre Wortlaut seiner Ausführungen nicht mehr rekonstruieren läßt. Außerdem ist es unvollständig. Der Schluß des Vortrages fehlt.

341 Du Bois-Reymond: Siehe Hinweis zu S. 52.

351 Hamerling: Robert Hamerling (1830-1889) «Die Atomistik des Willens», 2 Bde., Hamburg 1891. 357 Achtes ökumenisches Konzil in Konstantinopel: Mit dem 11. Ka­non unter den 27 Beschlüssen dieses Konzils wurde die mensch­liche Wesenheit dogmatisch nur als Zweiheit von Leib und Seele dekretiert. Vgl. hierzu Johannes Geyer «Ein Konzilbeschluß und seine Folgen», in «Die Drei», I. Jg., 10. Heft, Stuttgart Januar 1922.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.