GA 64

Aus SteinerWiki
ansehen im RUDOLF STEINER VERLAG

RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

ÖFFENTLICHE VORTRÄGE

Aus schicksaltragender Zeit

Vierzehn öffentliche Vorträge
Berlin, 29. Oktober 1914 bis 23. April 1915
Nürnberg, 12.März 1915
München, 28. November 1915


GA 64

1959

Inhaltsverzeichnis


7

ZUR EINFÜHRUNG Aus einer Vorrede von Marie Steiner, 1940

Im Jahre 1902 entschloß sich Rudolf Steiner, unserer dem Chaos zusteuernden materialistischen Zivilisation einen neuen Einschlag zu geben durch eine erkenntnismäßig begrundete Darlegung der Geisteswissenschaft. Seine lückenlose Beherr­schung aller kulturellen Wissensgebiete - der physikalischen und Naturwissenschaften, der Mathematik, der Philosophie, der Literaturen, der Geschichte, der Kunst- und Kulturgeschichte -gab ihm die nötige Befugnis, sein Wissen vom Übersinnlichen auf einer festen Grundlage aufzubauen und in die Denkformen der Gegenwart einzukleiden. Allen Einwänden konnte er be­gegnen; denn er hatte sie sich selbst vorher gemacht. Er war in der Lage, die Mängel des gescheiten, aber kurzatmigen Den­kens der Gegenwart aufzudecken. Dadurch zog er sich den Haß der Vertreter materialistischer und konfessioneller Denkrichtungen zu. Denn er hatte sich die Aufgabe gestellt, dem Dogrna des Ignorabimus, der unverrückbaren Erkenntnisgren­zen entgegenzutreten, den Menschen darzulegen, daß die Seele die Forschungswege betreten könne, die weit über das Sinnenfällige hinausgehen, und daß der Erweiterung ihrer Erkenntnismöglichkeiten keineswegs physikalisch-sinnliche Grenzen gesetzt sind. Er wurde der Verkünder einer konkreten geistigen Welt, wurde aber dadurch von den Fanatikem der bloßen Materie und der Wissensgrenzen in Acht und Bann erklärt. Zunächst gedachte man durch Totschweigen ihn unschädlich zu machen. Als dieses Mittel nicht die gewünschte Wirkung erzielte, wurde zur Verspottung und Verleumdung, dann zur

8

Massenagitation gegriffen. Die Verleumdung tobte in einer grotesk ungezügelten, allen Tatsachen Hohn sprechenden Art und konnte ihn deshalb persönlich weder berühren noch errei­chen. Sein Bild strahlte um so heller für alle, die ihn kannten und die vorurteilslos seine Schriften lasen. Aber sie führten zu einem von den Gegnern vorgesteckten Ziele: es gelang ihnen zuletzt, durch fortwährende Agitation und inszenierte Tumulte seine öffentliche Vortragstätigkeit in Deutschland zu unter­binden, die zwei Jahrzehnte lang das erlösende Wort vom Geiste und von den Wegen zur Heilung unserer Kulturschäden vor die europäische Menschheit gebracht hatte.

Berlin war der Ausgangspunkt für diese öffentliche Vortrags­tätigkeit gewesen. Was in anderen Städten in mehr einzelnen Vorträgen behandelt wurde, konnte hier in einer zusammenhängenden Vortragsreihe zum Ausdruck gebracht werden, deren Themen ineinander übergriffen. Sie erhielten dadurch den Cha­rakter einer sorgfältig fundierten methodischen Einführung in die Geisteswissenschaft und konnten auf ein regelmäßig wie­derkehrendes Publikum rechnen, dem es darauf ankam, immer tiefer in die neu sich erschließenden Wissensgebiete einzu­dringen, während den neu Hinzukommenden die Grundlagen für ein Verständnis des Gebotenen immer wieder gegeben wurden.

Es wäre von ungeheurer Bedeutung für die Neugestaltung des menschlichen Denkens und seiner Erlösung aus den Ban­den engherziger wissenschaftlicher oder theologischer Dog­matik, wenn die ganze chronologische Folge dieser während zwei Jahrzehnten in Berlin gehaltenen Vorträge in einer zu­sammenhängenden Schriftenreihe erscheinen und von emp­fänglichen Seelen aufgenommen werden könnte. Eine bedeut­same Erhöhung des moralischen Niveaus müßte daraus erfol­gen und eine Einsicht in das, was sozial not tut, um aus dem menschenmörderischen Chaos der Gegenwart hinauszukommen.

9

Mit der Einsicht in die Möglichkeit einer Durchbrechung der Erkenntnisschranken käme der Mensch zu einer Überschau, die den Geist befreit.

Rudolf Steiner versuchte zunächst, das alt-ehrwürdige Wort «Theosophie», das durch den Dilettantismus Unberufener stark kompromittiert war, wieder zu Ehren zu bringen. Anknüpfend an Jakob Böhme und spätere deutsche Denker, konnte er dies versuchen. Aber die notwendige Distanzierung von dem, was um die Wende des zwanzigsten Jahrhunderts diesen Namen usurpiert hatte, ließ ihn später für seine okzidentalisch-christliche Strömung den Namen wählen - ein zutiefst begründeter Name, da durch Menschenerkenntnis hindurch hier zur Geist- und Welterkenntnis geschritten wird. Meistens jedoch gebrauchte er das schlichte deutsche Wort Geisteswissenschaft. Die Themen geben eine umfassende Über­sicht dessen, was als Kulturerneuerung gewollt und erstrebt war.

Im Frühjahr 1903 beginnt die öffentliche Vortragstätigkeit für Geisteswissenschaft im Berliner Architektenhaus. Im Frühjahr 1904 wurden im Architektenhause Themen behandelt, die den Keim enthalten zu den späteren bahnbrechenden Arbeiten Rudolf Steiners auf pädagogischem und sozialem Gebiet. Sie sind zusammengefaßt unter dem Titel: Theosophische Seelen-lehre. Eine andere Vortragsserie fand statt im Vereinshaus, Wilhelmstraße 118, Berlin. Rudolf Steiner versuchte darin, Aufklärung zu geben über jene Grenzgebiete zwischen sinnliche? und übersinnlicher Welt, welche die Aufmerksamkeit der Wis­senschaft auf sich richten und für Unwissende so viel Gefahren bergen. Er sprach dort über Theosophie und Somnambulismus, Geschichte des Spiritismus, Geschichte des Hypnotismus und des Somnambulismus. Beide Themen waren auch Gegenstand von Vorträgen, die vom April an jeden zweiten Montag im Monat im Architektenhaus gehalten wurden.

10

Die im Herbst 1904 im Architektenhaus gehaltenen Vor­träge. sind vor allem dazu bestimmt, die wissenschaftliche Grundlage der Anthroposophie auszubauen. Es folgte im Frühjahr 1905 die Auseinandersetzung mit den Fakultäten. Im Ok­tober 1905 begann die Vortragsreihe mit einem Vortrag über Haeckel, die Welträtsel und die Theosophie. An Haeckel an­zuknüpfen wurde für Rudolf Steiner Notwendigkeit, war doch Haeckel für die Weltanschauung der Gegenwart eine bestim­mende geistige Macht. Rudolf Steiner würdigte im vollen Maße seine überragende Arbeitsleistung auf naturwissenschaft­lichem Gebiet, lehnte aber andererseits vollkommen den An­spruch ab, den herzhaft und unbekümmert Haeckel erhob, nun auch übergreifen zu dürfen auf das Gebiet der Philosophie und in Fragen der Weltanschauung autoritativ zu wirken. Hier mußte ihm scharf entgegengetreten werden. Das tat Rudolf Steiner mit äußerster Energie und Konsequenz; es hinderte ihn jedoch nicht, in Worten der wärmsten Anerkennung über das Positive in Haeckels Leistung zu sprechen.

Die Themen der weiteren Jahrgänge bilden ein umfassendes Gefüge konsequenten Weiterdringens auf dem Gebiete einer bewußtseinsmäßig erkämpften, geistgetragenen Weltanschauung.

Im Herbst 1919 konnte Rudolf Steiner wieder in Berlin sprechen. Er hielt am 15. September in der Philharmonie seinen Aufsehen erregenden Vortrag über Inzwischen war die Aufmerksamkeit der weitesten Kreise auf ihn gerichtet. Überall wurde von ihm gesprochen. Wenn er redete, waren die größten Säle überfüllt. Stuttgart war unterdessen das hauptsächlichste Feld seiner öffentlichen Wirksamkeit geworden.

Nach Berlin kam er erst wieder zum 15. September 1921, um im großen Saal der Philharmonie einen Vortrag zu halten

11

über «Die Bedeutung der Anthroposophie in Wissenschaft und Leben der Gegenwart>. Diesem folgte im selben Saal am 19. November 1921 ein Vortrag über und am 26. Januar 1922 im Marmor­saal ein anderer über Dieses Hinstellen der Anthroposophie als Antwort auf die Rätselfragen des Daseins erregte überall das größte Interesse, es kam dem stärksten Bedürfnis der Seelen entgegen. Im März fanden Hochschulkurse statt. Die Anthroposophie brach sich Bahn. Sie war im Begriff, ein Kulturfaktor zu werden. Dies zeigte sich besonders am letzten Vortrag, den Rudolf Steiner in Berlin am 12. Mai 1922 im großen Saal der Philharmonie hielt. Das Thema lautete: Der Andrang war ungeheuer, die Köthener Straße mußte gesperrt werden, um den weiteren Zustrom zu verhindern. Der Ausklang war mächtig. Es wagte sich kein Widerspruch hervor. Um so heftiger setzte im geheimen eine unterminierende Gegenaktion ein, und die bekannte Konzertagentur Sachs und Wolff, die nachgesucht hatte, fernerhin die Vorträge in Deutschland zu organisieren, mußte nach eingehender Prüfung der Lage erklären, nicht einstehen zu können für einen gefahrlosen Ausgang der Veranstaltungen. An mehreren Orten hatten Radaubrüder Tumulte inszeniert.

So wurde in dem Augenblick, als sie sich siegreich durchgesetzt hatte, ein gewaltsames Ende dieser einundzwanzigjährigen Vortragstätigkeit bereitet, die als Ziel hatte, die Menschheit vor den Übeln zu bewahren, die über sie hereingebrochen sind. Im Rausch der selbstherrlichen Geschäftigkeit der Vor­kriegszeit, im Brausen der zusammenschlagenden sozialen Wogen während der Kriegs- und Nachkriegszeit wurde die Stimme des warnenden Weisen überhört und dann erstickt. Die Stimme

12

des Lebenden wurde zum Schweigen gebracht. Des Toten Wort wird leben. Es hat die Kraft, Verfall und Tod zu überwinden.

Die Nachschriften der Vorträge konnten von Rudolf Steiner selbst nicht durchgesehen werden. Dazu fehlte ihm die Zeit. Zunächst hatte er sich gegen das Nachschreiben und Verviel­fältigen seiner Vorträge verwahrt. Das gesprochene Wort wäre anders als das geschriebene, pflegte er zu sagen. Es eigne sich nicht zum Nachdruck, es richtet sich stark nach dem, was der Zuhörer dem Sprecher entgegenbringt, gibt Wiederholungen, Verstärkungen oder Verdeutlichungen des schon Gesagten, je nach dem Verständnis, das es findet, - bringt Einfälle des Momentes, deren künstlerischer Ausdruck im Tonfall und in der Wortgebärde liegen. Ganz subtile Gedanken, besonders wenn sie okkulte Wahrheiten betreffen, werden in der Nachschrift leicht durch Weglassung eines Wortes, einer Nuance verscho­ben und von ihrer inneren Wahrheit abgebogen. Wie oft kann der Stenograph der feurigen Sprache nicht nachkommen! Rudolf Steiner litt unsäglich, wenn er sein gesprochenes Wort in den Nachschriften vor sich sah. Er schob sie weg und hat nur in ganz vereinzelten Fällen Korrekturen vorgenommen. Dies geschah für den in Kopenhagen 1911 gehaltenen Zyklus «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit», dann während der Kriegszeit für «Die Mission einzelner Volksseelen», nachher teilweise für den in der Monatsschrift «Die Drei» erschienenen Zyklus: «Der Orient im Lichte des Okzidents. Die Kinder des Luzifer und die Brüder Christi», und einige andere Vorträge.

13

GOETHES GEISTESART IN UNSERN SCHICKSALSSCHWEREN TAGEN UND DIE DEUTSCHE KULTUR Berlin, 29. Oktober 1914

Jahr um Jahr durfte ich in den letzten Zeiten hier, von die­sem Orte aus, über Fragen der Geisteswissenschaft sprechen. Die Vorträge, die um diese Zeit immer begonnen haben, auch in diesem Winter fortzusetzen, scheint mir richtig zu sein. Denn wie sollte nicht gerade in unserer schicksalsschweren Zeit Bedürfnis dazu vorhanden sein, über Angelegenheiten des geistigen Lebens sich zu vertiefen! Vor allen Dingen aber schien es mir notwendig, in den beiden einleitenden Vorträgen, die heute und über acht Tage gehalten werden sollen, den unmittelbaren Ausgangspunkt zu nehmen von dem, was uns jetzt allen so am Herzen liegt. Denn es scheint mir unmöglich, in unserer Zeit über irgend etwas zu sprechen, ohne im Auge zu haben, daß das Wort, das gesprochen wird, heute muß bestehen können vor denen, welche draußen im Westen und im Osten mit ihrem Herzblut eintreten für das, was die Zeit fordert. Wer könnte anders sagen, als daß Worte, die heute wert sein sollen, gesprochen zu werden, im Geiste an diejenigen gerichtet werden dürfen, die sich für unsere Angelegenheiten verbluten. Und wie sollte nicht von den unmittelbaren Zeit eindrücken ausgegangen werden, da wir das Große das Gewaltige erlebt haben, daß gewissermaßen die Welt der Seelen die Welt der Herzen in wenigen Tagen ein neues Antlitz zeigen kann! Eine unendliche Summe von Selbstlosigkeit von

14

Hingabe, von Opferwilligkeit - wir haben sie aufblühen sehen in den ersten Augusttagen, und wir stehen alle unter dem Eindruck der Größe der Zeit.

Wenn ich aber insbesondere von dem Genius ausgehen möchte, der so innig verwachsen ist mit alledem, was er seinem Volke und der Menschheit gegeben hat, der so innig verwach­sen ist mit der ganzen Entwickelung Mitteleuropas; wenn ich ausgehen will von Goethe, so geschieht es vor allen Dingen aus dem Grunde, weil ich glaube, daß ich im Laufe der Jahre, so sonderbar das klingen mag, kein Wort von diesem Orte aus gesprochen habe, das nicht bestehen könnte vor dem Urteile Goethes - wenn auch das, was die Geisteswissenschaft zu sagen hat, nicht immer wörtlich mit dem belegt werden kann, was wir von Goethe kennen. Sein Geist waltet über uns. Und was vor dem Geiste Goethes sich rechtfertigen läßt, das ist es, was ich als Geisteswissenschaft in unserer Gegenwart meine.

Nahe geht es uns ja, wie heute nicht bloß das spricht, was aus unseren Lungen, was aus unserm Herzen kommt; nahe geht es uns, zu vernehmen, wie die Tatsachen eine gewaltige Sprache sprechen. Hinopfern müssen viele heute ihr Leben. Verwundet kommen sie zurück, die uns teuer sind, vom Westen und vom Osten. In diesen Tagen sprechen die Tatsachen von der geisti­gen Welt. Und ich weiß, sie sprechen in den Herzen derjenigen, die draußen auf den Schlachtfeldern das physische Leben zu verlassen haben. Da wird das, was uns mit dem Bleibenden, mit dem Ewigen verbindet, auf dieser Erde hier verbindet, es wird zur unmittelbaren geistigen Realität, mit der sich vor allen Dingen derjenige verbunden weiß, der physisch diese Realität verlassen muß. Volkstum, Volksseele, sie werden recht reale Begriffe; man kann es heute von jenen hören, die zurück-kommen, oder die von den Schicksalsfeldern Berichte nach Hause schicken. - Diejenigen der verehrten Zuhörer, welche die Vorträge der letzten Jahre hier gehört haben, werden wissen,

15

daß ich nur in den seltensten Fällen Persönliches berühre. Heute aber wird der Ausgangspunkt von Persönlichem gestattet sein, da wir doch im Grunde genommen alle in innerster Seele und im innersten Herzen persönlich verbunden sind mit dem, was geschieht, und mit dem, was uns als Früchte in unsern Hoffnungen vorleuchtet aus dem, was sich vollzieht.

Erlebt gewissermaßen habe ich das, was heute Ereignis ge­worden ist, vor Jahren in Österreich. Und wenn heute die Ereignisse besprochen werden - es richten sich ja die Blicke nach Österreich hinüber, von dem gleichsam ausgegangen ist, was uns in diesen schicksalsschweren Tagen Großes und Schmerz-volles erscheint -, so darf ich, da hier Persönliches mit dem allgemein Menschlichen dieser Tage verbunden ist, von diesem - ich möchte sagen - österreichischen Erlebnis ausgehen.

In den siebziger, achtziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts stand ich in Österreich innerhalb derjenigen Gruppe von Menschen, welche als ein Ideal vor sich leuchten sahen, was sich gewissermaßen in diesen Tagen in Mitteleuropa er­füllt hat. Haben auch alle diejenigen, zu denen auch ich damals in Österreich gehörte, vielleicht eine ganz andere Vorstellung gehabt von der Zusammenkettung der Völker Österreichs mit dem deutschen Volke, so lebte doch in zahlreichen Herzen damals als ein Ideal das Zusammengehen der österreichischen Völker mit dem deutschen Volke. Und als ich, der ich noch als Kind mit den Klängen der deutschen Sprachen alles das auf­genommen hatte, was in den sechziger Jahren in den österreichischen Deutschen vorhanden war an Mißstimmung gegen Preußen, besonders über das Jahr 1866, und alles, was damit zusammenhing -, als ich in den siebziger, achtziger Jahren die Wiener Hochschule besuchte, da drangen zunächst Worte eines österreichischen deutschen Professors an mein Ohr, Worte, die mir damals in dem Mittelpunkte des geistigen Strebens Österreichs standen, und die mir und anderen gleichsam die Losung

16

gaben für die Zusammengehörigkeit des geistigen Lebens Mit­teleuropas. Und ich darf Ihnen die Worte vorlesen, welche damals von einem Deutschen Österreichs zu seinen Studenten gesprochen worden sind:

Die Hoffnung, daß die noch übrigen dreißig Jahre unseres Jahrhunderts die Keime geistigen Lebens in Deutschland zu rascher Entwickelung treiben werden, wenn auch zunächst die Dichtung zurücktreten wird, muß uns auffordern, über die jüngste Vergangenheit ins reine zu kommen, um gewissermaßen ohne Aktenrückstand der unmittelbaren Gegenwart gegenüberzustehen.

Wir in Österreich sehen uns gerade bei diesem bedeutenden Wendepunkte in einer eigentümlichen Lage.

Hat die freie Bewegung unseres staatlichen Lebens die Scheidewand hinweggeräumt, die uns bis vor kurzem von Deutschland trennte, sind uns nun durch das Volksschul­gesetz und die neuen Einrichtungen des Unterrichts überhaupt die Mittel in die Hand gegeben, uns emporzuarbeiten zu einem gemeinsamen Kulturleben mit den übrigen Deutschen, so ist gerade jetzt der Fall eingetreten,»

- bitte zu berücksichtigen: es ist dies unmittelbar unter den Nachwirkungen des Jahres 1870 geschrieben! -

«daß wir an einer großen Handlung unseres Volkes uns nicht mit beteiligen sollten. Der Norden hat die Führerschaft in Deutschland übernommen und einen Staat gebildet, aus dem wir ausgeschlossen sind. Im deutschen Geistesleben konnte dadurch eine Scheidewand nicht entstehen. Die Wurzeln desselben sind nicht politischer, sondern kulturgeschicht­licher Natur. Diese unzerreißbare Einheit deutschen Geisteslebens, an dem nicht nur Westösterreich, an dem selbst die Deutschen Ungarns und Siebenbürgens entschieden Anteil nehmen,

17

wollen wir im Auge behalten. Möge auf diesem geistigen Gebiete hüben und drüben gegenseitige Liebe walten. Wir in Österreich wollen mit dem Geistesleben im Deutschen Reiche Hand in Hand gehen und unbefangen anerkennen und nachstreben, wo man uns dort voran ist; im Deutschen Reiche wolle man aber unsere schwere Kulturaufgabe würdigen und ehren und übers Vergangene uns nicht anrechnen, was unser Schicksal, nicht unsere Schuld ist. »

Der Mann, von dem diese Worte stammen, Karl Julius Schröer - er gehört längst nicht mehr zu den Lebenden -, der diese Worte oft und oft zu seinen österreichischen Studenten gesprochen hat, wovon war er in seinem Innersten beseelt? Er selber war ein Deutscher, in Ungarn geboren. Was hielt ihn zusammen mit dem gesamten deutschen Geistesleben? In einem Worte ist es ausgesprochen, was ihn damit zusammenhielt - in dem Worte: Goethe. Denn ganz erfüllt war dieser Mann von Goethes Geistesart. Und Goethes Geistesart, sie wirkte wie das lebendig' Band, wirkte aber auch wie das Feuer, das hinüber-ging von den Deutschen Deutschlands zu den Deutschen Öster­reichs, den Deutschen Ungarns, zu allen Deutschen Europas.

Nun kann man, wenn man von Goethe spricht, leicht einwenden: Zu wie vielen Seelen, zu wie vielen Herzen spricht denn Goethe heute innerhalb des deutschen Volkes schon eine ganz lebendige Sprache? Wird es nicht viele geben, die draußen für deutsches Wesen verbluten und die nicht viel von Goethe wissen?

Darauf kommt es nicht an, wenn man von den leitenden Genien eines Volkes und der Menschheit spricht. Denn mehr als auf irgendeinem anderen Gebiete scheint mir hier das Wort wahr zu sein: Mitteleuropäisches Kulturleben, die deutsche Kultur, an ihren Früchten muß man sie erkennen - und an ihrer reifsten Frucht, an Goethe. Und hinübergewirkt hat Goethe so, daß deutsches

18

Wesen bei vielen Österreichern eben empfunden wurde wie eigenes Wesen. Der deutscheste Dichter Österreichs, Robert Hamerling, sprach ein Wort, welches man gewissermaßen für die, von denen ich eben gesprochen habe, wie eine Art gebrauchen kann, wie eine bedeutungsvolle Devise; denn es ist vielen, vielen in der Zeit, von der ich gesprochen habe, aus der Seele geredet gewesen. «Österreich ist mein Vaterland», sagt Robert Hamerling, Und alle solchen Worte, aber vor allen Dingen solche Gesinnungen, sie waren gesprochen unter dem, was in des Deutschtums Volkssubstanz Goethe wirkte. So darf ich denn auch hier Persönliches als Ausgangspunkt zu allgemein Menschlichem nehmen.

Goethe wurde für mich selber zu einer Art Leitgenius. Immer mehr und mehr erschien er mir als derjenige Genius Mit­teleuropas, der nicht nur das darstellt, was man in Goethes Werken kennenlernen kann, was man in den überreichen Mit­teilungen kennenlernen kann, die wir gerade von Goethes Leben haben; ja, nicht einmal erschien mir Goethe erschöpfend in dem, was er selber vor uns hingestellt hat wie eine lebendige Wesenheit, jene seines «Faust». Sondern so erschien mir stets Goethe, als ob in allem, was wir von ihm aus seinen Mitteilungen, aus seinen Werken, aus dem wissen können, was jetzt schon lebendig in der Kultur Mitteleuropas fortwirkt, ja in der ganzen Kultur der Menschheit, als ob in alledem noch etwas darinnenstecke, was etwas viel Umfassenderes, etwas viel Universelleres ist, etwas, was uns in intimen Augenblicken des Lebens, wenn wir uns mit Goethe so recht beschäftigen, wie aus einem Zauberberg entgegentritt. Wie der alte Barbarossa selber in erneuerter Gestalt mit dem Genius Mitteleuropas - so tritt uns in Goethe ein Wesen entgegen, innig verbunden mit dem, was aus deutschem Geist ausgehend der Menschheits­kultur einverleibt werden soll. Und tiefer, als wir sie heute

19

noch verstehen können, scheinen die Worte zu sein, die am Schlusse des stehen:

Alles Vergängliche

Ist nur ein Gleichnis'.

Das Unzulängliche,

Hier wird's Erreichnis;

Das Unbeschreibliche,

Hier ist es getan.

Faust, nach einem Leben, in welchem sich das immerwährende Streben Mitteleuropas so recht zum Ausdruck bringt, er endet damit, daß seine Seele aufgeht in die geistige Welt Wie ein Hinweis darauf, daß aus faustischem Streben, mit dem sich der Mensch verbindet, hervorgehen müsse der Zusammenhang des Menschen mit der geistigen Welt - so erschien mir Goethes Geistesart. Und erscheinen kann sie einem noch in folgender Weise. Man kann sich Goethe hingeben, all dem Herrlichen dem Großen, was er gesagt hat; man kann mit hingebungsvollem Herzen die ungeheure Weitweisheit des Faust auf­nehmen. Aber man kann auch intimer sich in die Art vertiefen, wie Goethe strebte, in die Art, wie die Menschheits­ und Weltengeheimnisse in seiner Seele wirkten und lebten und wühlten. Man kann sich entschließen, mit ihm zu streben. Dann wird die Seele - wie ich glaube - entrückt, hingewiesen in diejenigen Welten, welche die hier gemeinte Geisteswissenschaft vertritt. - In meinem letzten Buche «Die Rätsel der Philosophie», der zweiten Auflage meiner «Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert», versuchte ich nachzuweisen, wie aus Goethes Geist heraus die Krönung der abendländischen Philosophie gewonnen werden kann. Ich kann heute nur kurz andeuten, worüber ich so oft hier von dieser Stelle aus gesprochen habe.

20

Vertiefen wir uns in Goethes Geist. Wir finden ihn - und wenn wir uns genügend in seine Geistesart vertiefen, steht es nicht einseitig da -, wir finden ihn vor allem bemüht, tief hinunterzusteigen in diejenigen Sphären der Natur, wo die Quellen fließen, wo Natur und Menschenwesen eins sind. Goethes Geist ist so geartet, daß ihm Naturwissenschaft unmittelbar zu religiösem Leben, zu religiösem Wesen wird. Goethe vertiefte sich nicht mit Verstand und Vernunft allein in die Natur; sondern sein ganzes Herz, seine ganze Seele tauchte tief hinunter in die Naturgeheimnisse, so daß ihm das, was ihm Naturgeheimnis war, zugleich Erdenfreundschaft war. Was im Abendlande von jeher erstrebt worden ist: den Zusammenhang zwischen Menschenseele und Natur wiederzufinden, wie er in Griechenland vorhanden war und wie er der modernen Menschheit verlorengegangen ist - durch Goethes Geistesart ist es zu gewinnen. Alle Kräfte Goethes streben nach diesem einen hin. Seine umfassende Einbildungskraft bringt den Verstand, die Vernunft in jene Bahnen, durch welche die Menschenseele zu den Quellen des Daseins dringt, in denen nicht nur äußerliches mechanisches Naturwissen gefunden werden kann, sondern auch solche Weitgesetzlichkeiten, die als die Gedanken der Gottheit selber uns entgegentreten. Mit seiner ganzen Seele taucht Goethe unter in die Tiefen des Seins, wo Wissenschaft zugleich Religion wird, in jene Tiefen, von denen Schiller sagt:

Nehmt die Gottheit auf in euren Willen,

Und sie steigt von ihrem Weltenthron.

So kommt es, daß Goethe nicht nur einseitig Dichter, nicht einseitig Künstler war, daß er Forscher wurde, Naturwissenschafter wurde, weil er das, was die Menschenseele erstrebt, als Ganzes erstreben wollte. Und so erscheint uns die umfassendste,

21

die reifste Natur, die jemals von einem Menschen hingestellt worden ist: die Faust-Natur, aus Goethes Seele her­vorzugehen, jene Faust Natur, die vor der äußeren Wirklichkeit dasteht mit Worten, die heute fast schon trivial geworden sind, denen gegenüber man sich aber auf den Standpunkt stellen muß, von dem aus Goethe sie erlebt hat. So konnte Goethe jene Gestalt schaffen im Faust, welche dasteht vor der äußeren Wirklichkeit mit den Worten:

Habe nun, ach! Philosophie,

Juristerei und Medizin,

Und leider auch Theologie

Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.

Da steh ich nun, ich armer Tor,

Und bin so klug als wie zuvor!

Aber was erleben wir an diesem Faust? - Wir erleben, daß die Seele, die in Zweifel verfallen ist über alle äußere Welt, aus ihrem Inneren heraus sich die Elemente auferbaut, die sie hineinführen in das universelle Dasein - wissenschaftlich, künstlerisch, universell. Und dann erkennen wir, daß in dieser Faust-Natur der Geist Mitteleuropas, vor allem der Geist des deutschen Volkes lebt, und wir erkennen besonders diesen Geist des deutschen Volkes, wenn wir Faust die Worte sprechen hören:

Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles,

Wamm ich bat. Du hast mir nicht umsonst

Dein Angesicht im Feuer zugewendet.

Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich,

Kraft, sie zu fühlen, zu genießen. Nicht

Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur,

22

und dann die gewaltigen, tief in die Seele dringenden Worte:

Vergönnest mir in ihre tiefe Brust

Wie in den Busen eines Freunds zu schauen.

Du führst die Reihe der Lebendigen

Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder

Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.

Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt,

Die Riesenfichte stürzend Nachbaräste

Und Nachbarstämme quetschend niederstreift,

Und ihrem Fall dumpf hohl der Hügel donnert,

Dann führst du mich zur sichern Höhle, zeigst

Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust

Geheime tiefe Wunder öffnen sich.

Man kann diese Worte nicht empfinden, nicht durchdringen, ohne - ich möchte sagen - eins zu werden mit dem, was deut­sche Volksseele ist, diese Volksseele, die mit ihren Gedanken und Empfindungen, mit ihrer Phantasie und Einbildungskraft sich selber hinopfern will auf dem Altare des geistigen Lebens, um auf diesem Altar aufsteigen zu sehen das Feuer, das hinauf-führt in die geistigen Welten. Und wenn wir den Schluß des Faust verfolgen, so können wir nicht umhin, uns zu erinnern, daß uns Goethe durch ihn sagen wollte: Bis zu diesem Auf­stieg in die geistigen Welten, Wo ihm wirklich klar werden kann: «Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis», führt nur der Weg für denjenigen, der sich verjüngt hat. Denn Faust wird uns vorgeführt mit einem Doppel-Leben. Wir sehen ihn zuerst, wie er alt ist, und dann, wie er den Verjüngungstrank genoß und hinaufdringt in die geistigen Welten. - In solchen Zeiten wie den heutigen ist man versucht, die Worte in einer ganz besonderen Tiefe zu sehen. Man hat das deutsche Volk oft mit Hamlet verglichen. Man hat oft das Wort Hamlets

23

«Sein oder Nichtsein> gebraucht, um das Wesen des deutschen Volkes zu charakterisieren. Oh, man hört es aus den Worten und aus den großen Zuversichten, die wir heute aus allem ver­nehmen, dieses ist, das für die Ewigkeit gewahrt ist. Und so erscheint uns Faust wahr­haftig nicht wie ein Skeptiker, sondern wie ein Symbolum. Wir verfolgen das deutsche Volk von den ältesten Zeiten, von denen uns Tacitus in so grandioser Weise erzählt, und finden es in faustischer Weise sich immer verjüngend - immer aber das eine wissend: Können wir jetzt schon «Deutsche> sein? Das können wir jetzt noch nicht sein; das werden wir in ewi­gem Streben! Und wieder hören wir von Faust die Worte:

Wer immer strebend sich bemüht,

Den können wir erlösen;

wie auch die anderen:

Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,

der täglich sie erobern muß.

Und nicht kann der Deutsche so ohne weiteres von Sich sprechen, wie der Engländer von sich sagt, wie der Franzose, wie der Italiener. Denn die Angehörigen dieser Völker wissen, was sie sind, wenn sie das sagen. Der Deutsche weiß, daß das, was ihm als vorschwebt, ein Ideal ist, welches mit den tiefsten Quellen des Geistigen zusammenhängt, daß man ein Deutscher wird und immer wird - und niemals ist. Und so geht das deutsche Streben selber stets hinauf in geistige Welten - wie Fausts Streben

24

sich zuletzt in seiner Seele erhebt von Stufe zu Stufe in Wel­ten, welche Goethe so wunderbar dargestellt hat. Wenn auch von Goethes Darstellung in vielen deutschen Herzen jetzt noch wenig mit Bewußtsein vorhanden ist: die Kraft, welche in Goethe lebte, sie lebt heute in Mitteleuropa. Und es ist gewiß nicht übertrieben, wenn wir sagen: Goethes Genius kämpft mit in den Seelen, in den Herzen, in den Adern derjenigen, die im Westen, die im Osten stehen. Für den Geisteswissenschafter wird das alte griechische Märchen Wirklichkeit, daß die wertvollsten Genien eines Volkes dann, wenn das Schicksal dieses Volkes sich entscheidet, geistig unter den Mitkämpfern sind. Für den, der wirklich Goethe kennt, ist es ohne weiteres klar, daß alles, was die abendländische Kultur hervorgebracht hat, was wir abendländische Kultur nennen können, in Goethe Person geworden ist, universelle Persönlichkeit geworden ist, in Goethe neugeboren worden ist, so daß fortan der, welcher mit der Kultur geht, berührt sein muß von Goethes Genius. Das gibt uns den Glauben, daß insbesondere in unserer Zeit Goethes Genius über uns waltet.

So war es bei österreichischen Deutschen, die das Wort «Goethe» hörten mitten in der Zeit jener Kämpfe, da die österreichischen Völker noch nicht an der Seite des deutschen Brudervolkes kämpfen durften. Das war es, was zugleich den Zug enthielt, den ich selber nach Deutschland empfand. Und nur andeuten möchte ich als ein Persönliches die tiefste Befriedigung, die ich fühlen durfte, als ich sechseinhalb Jahre hindurch mitarbeiten durfte an der großen Weimarischen Ausgabe, welche Goethes gesamtes Geistesgut der Menschheit brin­gen sollte. Und seit jener Zeit war es unabänderlich mein Drang, weiterzukommen in der Erfassung des Goetheschen Genius. Und da darf ich hinweisen auf eine Persönlichkeit, von der ich hier von diesem Orte aus auch schon gesprochen habe, eine Persönlichkeit, welche gewissermaßen im letzten Drittel

25

oder in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts Goethes Geistesart im deutschen Geistesleben voll vertrat:

auf Herman Grimm. Ein Ereignis im deutschen Geistesleben waren Herman Grimms Vorlesungen, die er in den siebziger Jahren an der Berliner Universität über Goethe gehalten hat. Ich will nicht sagen, daß ich jedes Wort in diesen Vorlesungen Herman Grimms vertreten kann; aber bedeutsamer als seine Worte war das Bewußtsein, welches in Herman Grimm lebte.

Gleich in seiner ersten Vorlesung sprach er über das Ver­hältnis Goethes zum geistigen Leben Deutschlands in folgender Weise:

«Goethe hat im geistigen Leben Deutschlands gewirkt, wie eine gewaltige Naturerscheinung im physischen gewirkt hätte. Unsere Steinkohlenlager erzählen von Zeiten tropischer Wärme, wo Palmen bei uns wuchsen. Unsere sich aufschließenden Höhlen berichten von Eiszeiten, wo Rentiere bei uns heimisch waren. In ungeheueren Zeiträumen vollzogen sich auf dem deutschen Boden, der in seinem heutigen Zustande so sehr den Anschein des ewig Unveränderlichen trägt, kapitale Umwälzungen. Der Vergleich also läßt sich ziehen, daß Goethe auf die geistige Atmosphäre Deutschlands gewirkt habe etwa wie ein tellurisches Ereignis, das unsere klimatische Wärme um so und soviele Grade im Durchschnitt erhöhte. Geschähe dergleichen, so würde eine andere Vegetation, ein anderer Betrieb der Landwirtschaft und damit eine neue Grundlage unserer gesamten Existenz eintreten.»

So war es für Herman Grimm selbstverständlich, daß er in Goethes Geistesart dachte. Man möchte sagen, jedes Wort von Herman Grimm kann uns zeigen, wie man in Herman Grimm gleichsam den geistigen Statthalter Goethes in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts sehen kann. Goethes Genius selber wirkte durch Herman Grimm hindurch. Und

26

Herman Grimm war überzeugt - und darin zeigte sich wieder so recht Goethes Geistesart in ihm, daß Hunderte von Jahren noch notwendig wären, um Goethe voll zu verstehen und voll zu würdigen, was er in seiner Geistesart ist. Daher wußte Herman Grimm selber, daß das, was er über Goethe zu sagen hatte, überholt werden mußte, wenn diese Geistesart Goethes einmal richtig verstanden würde. So erscheint uns auch Herman Grimms Schilderung Goethes wie eine Schilderung von außen. Es ist etwas Eigenartiges, sich in Herman Grimms Schilderun­gen über Goethes Geistesart und Goethes Schöpfungen zu vertiefen. Ausgebreitet ist vor Herman Grimm das soziale, politische und geistige Leben Deutschlands, und er schaut inner­halb desselben Goethe, wie er mächtig dahinschreitet und durch seinen Genius tief in die Verhältnisse Deutschlands auf wissenschaftlichem, politischem und künstlerischem Gebiete eingreift. Aber wir schauen ihn so «von außen» an. Herman Grimm war sich dessen selbst bewußt, und es kommt ihm die Empfindung, daß Zeiten kommen müssen, in denen man sich erst innerlich mit Goethes Art verbinden müsse, und daß noch Unendliches von Goethe kommen werde.

In unseren schicksalsschweren Tagen dürfen wir uns der Gedanken Herman Grimms erinnern, wenn wir von Goethes Geistesart sprechen. Ich habe gleich in der Einleitung zu mei­nem Vortrage auf Karl Julius Schröer hingewiesen. Unvergeßlich wird mir ein Wort aus dem Munde dieses Mannes sein, das damals, als Schröer in Wien über Goethe sprach, wie ein zündender Funke in meine Seele fiel. Er begann einen Vortrag, in dem er auseinandersetzte, was die Eigenheit des deutschen Geistes ist, wie deutsche Kunst, deutsche Phantasie - Goethesche Kunst, Goethesche Phantasie - gegründet ist auf der tief­sten Wahrheit des Seins; und man möchte sagen: ein weites Feld blitzartig beleuchtend, sagte der Goetheaner Karl Julius Schröer: Der Deutsche hat ästhetisches Gewissen! Viele Fragen

27

werden dem Deutschen aus seiner faustischen Natur her­aus Gewissensfragen. Und so werden ihm auch die größten Ereignisse, denen er gegenübersteht, - jene Ereignisse, von denen Goethe sagt, daß sie im Zusammenhange stehen mit dem «großen gigantischen Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt» -, vor allem zu Fragen vor seinem Gewissen. Dieses Gewissen in seine Seele aufzunehmen, war Herman Grimm bestrebt. Daher hat er vieles gesagt, was man gern wiedersagen möchte in diesen Tagen, in denen wir gegenüber den Stimmen aus der ganzen Welt, gegenüber alledem, was uns jetzt von überallher zugerufen wird, vor allen Dingen nichts anderes fragen wollen als eben das Gewissen: ob wir vor dem bestehen können?

Was sagt sich, aus Goethes Denkungsart heraus, das deutsche Gewissen in Herman Grimm?

Ich glaube, es sind bedeutungsvolle Worte, die er sagt, Worte, welche besonders in unseren Tagen bedeutungsvoll werden können:

«Die Solidarität der sittlichen Überzeugungen aller Men­schen ist heute die uns alle verbindende Kirche. Wir suchen leidenschaftlicher als jemals nach einem sichtbaren Ausdrucke dieser Gemeinschaft. Alle wirklich ernsten Bestrebungen der Massen kennen nur dies eine Ziel. Die Trennung der Nationen existiert hier nicht mehr. Wir fühlen, daß der ethischen Weltanschauung gegenüber kein nationaler Unterschied walte.»

Das durfte aus Goethes Geistesart heraus gesagt werden im Jahre 1895, aus Goethes Geist heraus, der wie kein anderer die Eigenschaft hatte, liebevoll unterzutauchen in alles Menschliche, auch in alles Nationale.

«Wir alle würden für unser Vaterland uns opfern,» und hier sind bedeutungsvolle Worte:

«den Augenblick aber herbeizusehnen oder herbeizuführen, wo dies durch Krieg geschehen könne, sind wir weit entfernt.

28

Die Versicherung, daß Friede zu halten unser heiligster Wunsch sei, ist keine Lüge. durchdringt uns.>

Wer das Wesen Mitteleuropas kennt, er weiß, daß dies wahre Worte sind, Worte, welche vor dem, was soeben das «deutsche Gewissen» genannt wurde, bestehen können! Und hinleitend auf das, was uns Goethe, der lebendige Goethe, noch werden kann, sind die folgenden Worte Herman Grimms:

«... Die Menschen als Totalität anerkennen sich als einem wie in den Wolken thronenden unsichtbaren Gerichtshofe unterworfen, vor dem nicht bestehen zu dürfen sie als ein Un­glück erachten, und dessen gerichtlichem Verfahren sie ihre inneren Zwistigkeiten anzupassen suchen. Mit ängstlichem Bestreben suchen sie hier ihr Recht.»

Wie universell, wie liebevoll eingehend auf das, was all-gemein menschlich ist, spricht aus Goethes Geist heraus Her­man Grimm im Jahre 1895:

«Wie sind die heutigen Franzosen bemüht, den Krieg gegen Deutschland, den sie vorhaben, als eine sittliche Forderung hinzustellen, deren Anerkennung sie von den anderen Völkern, ja von den Deutschen selber fordern.»

Hören wir aus diesen Worten nicht die Versicherung, welche in Mitteleuropa lebte, daß dieses niemals hätte aus sich heraus, um seinetwillen, den Krieg herbeiführen können? Hören wir aber nicht auch das Bewußtsein heraus, der ehernen Notwendigkeit gegenüberzustehen? «Wir alle würden für unser Vaterland uns opfern; den Augenblick aber herbeizu­sehnen oder herbeizuführen, wo dies durch Krieg geschehen könnte, sind wir weit entfernt.» Das wissen wir, daß dies wahr ist! Und deshalb wissen wir, daß bei dem Volke, in welchem diese Gesinnungen lebten, die Ursache und die «Schuld» für die heutigen Ereignisse nicht gefunden werden kann. Aber mit Blindheit waren die Goetheaner nicht geschlagen. Daß der

29

Krieg doch kommen werde, wußten sie. «Wie sind die heu­tigen Franzosen bemüht, den Krieg gegen Deutschland, den sie vorhaben, als eine sittliche Forderung hinzustellen, deren Anerkennung sie von den anderen Völkern, ja von den Deut­schen selber fordern!>

Schon zu Goethes Zeiten wurde von Goethes gegenständ­lichem Sinn gesprochen, von seiner liebevollen Art, in die Menschen, aber auch in die Dinge unterzutauchen, mit der eigenen Seele sich mit allem zu verbinden. Ein bedeutender Psychologe seiner Zeit, Heinroth, hat das Wort von der gegenständlichen Denk- und Anschauungsweise Goethes gebraucht. Diese Gegenständlichkeit führt eben zu derjenigen Welt­anschauung, welche man als «Goethesche Weltanschauung» bezeichnen kann, und an der niemand wird vorbeigehen können, der die Kultur der neueren Zeit in sich aufnehmen will. Im Grunde genommen: man war eigentlich nicht weit davon entfernt, derlei Dinge anzuerkennen.> Goethes Geistesart - ist sie denn so unbekannt geblieben? Ich möchte auf Worte hin­weisen, die gesprochen worden sind und die uns zeigen können, wie Goethes Geistesart nicht eigentlich so unbekannt geblieben ist -, auf Worte, wie etwa die folgenden:

«Woods (des Engländers) Aufsatz war der Vorläufer der noch epochemachenderen homerischen Forschungen Wolfs; und die griechischen Ideale von Kunst und Leben wurden für Goethe und Schiller in Weimar, wie im Falle Herders die Ideale urzeitlichen Gesanges, die Instrumente, auf welchen der deutsche Geist zu einer Musik sich emporspielte, die neu und doch zugleich im tiefsten Grunde sein eigen war.»

Merkwürdige Worte noch, mit Bezug auf die Franzosen und Engländer:

«Der hochbegünstigten Auslese unter Descartes und Newtons Landsleuten war der Geist der Wissenschaft fraglos bekannt; aber der leidenschaftliche Drang nach Wissen wurde

30

dem modernen Europa, falls überhaupt, vor allem durch Tausende von deutschen Forschern gelehrt...»

.... Die Einbildungskraft, das Gefühl, der Wille machten ihr Recht, neben der Vernunft oder über sie hinaus gehört zu werden, geltend, und unter ihrem umgestaltenden Druck wurde das Weltall tiefer, weiter und wundervoller. Das Irrationale wurde als eine Quelle der Erleuchtung anerkannt; Weisheit wurde vom Kinde und der Blume geholt; Wissenschaft, Philosophie und Dichtung kamen einander nahe. Bei uns in England schuf diese Wiederbelebung der Einbildungskraft eine edle Dichtung, ließ jedoch die Wissenschaften und die Philosophie fast unberührt.

Einer der Schlüssel zum Verständnis der ganzen Periode ist die Tatsache, daß, während in England und Frankreich die poetischen, philosophischen und wissenschaftlichen Bewegungen größtenteils in getrennt liegenden Kanälen dahinflossen, sie in Deutschland einander berührten und völlig ineinander aufgingen. Wordsworth sang und Bentham rechnete; Hegel aber fing den Genius der Dichtung im Netz seiner Logik; und der Gedanke, welcher entdeckt und erklärt, und die Einbildungskraft, welche Neues hervorbringt, sie wirkten in fruchtbarer Harmonie zusammen in dem Genius Goethes.>

Das sind Worte, denen man ansieht, daß man etwas verspürt von Goethes Geistesart. Im Jahre 1912 sind diese Worte gesprochen, und wo? Sind sie renommistisch irgendwo in

31

Deutschland gesprochen? Nein! Sie sind gesprochen in Man­chester, von Herford, dem Engländer, der damit hinweist auf deutsches Geistesleben. Und sie sind gesprochen worden, so sagt uns die Vorrede des Buches, in dem sie erschienen sind

- ein lesenswertes Buch in unseren schicksalsschweren Tagen! -, um den Zeitungsleuten etwas beizubringen von dem, was zum besseren Verständnisse dessen hinführen kann, was deutscher Genius ist. Ich überlasse es jedem, angesichts der neueren Ereignisse zu beurteilen, wieviel diese Zeitungsleute davon gelernt haben. Aber noch etwas steht in diesen Vor­trägen. Es steht dort, wo über Goethe gesprochen worden ist und unmittelbar fortgefahren wird, ein bedeutungsvoller Satz:

wahr, gründlich, treu.>

So im Jahre 1912 in Manchester gesprochen. Wir dürfen uns darauf berufen, daß wir etwas verstehen von dem, was ist; und wir dürfen sagen - besonders angesichts des Ortes, wo die'se Wotte stehen -, daß wir etwas von Goethe gelernt haben! - Eine Vorrede ist dem Buche vorangedruckt, aus der ich Ihnen auch einige Worte mitteilen möchte. Lord Haldane - vielleicht kennen Sie aus den Diskussionen der letz­ten Tage diesen Namen - sagt dort:

32

Warum schreibt Lord Haldane diese Worte? Auch darüber spricht er sich aus, denn er sagt:

«Der Einfluß wahrer Kenntnis kann allein des Mißtrauens Wolken verscheuchen und uns von der Last befreien, uns gegen Angriffe zu rüsten, die in Wirklichkeit keiner von uns im Sinne hat.>

Nun also! Ich brauche nichts hinzuzufügen zu dem Licht, das auf unsere schicksalsschweren Tage von dieser Seite her geworfen wird. Aber sie geben uns gewissermaßen aus der Internationalität des deutschen Wesens heraus das Recht, uns an Goethe zu halten, in Goethe Trost und Hoffnung, bei Goethe auch Beistand zu finden in diesen schicksalsschweren Tagen. Da finden wir vor allen Dingen - und ich könnte heute auf vieles, vieles hinweisen - bei Goethe ein Wort. Oh, ich mußte oft in den letzten Tagen und Wochen an dieses Goethe-Wort denken! Daß geschossen worden ist auf die Kathedrale von Reims - so wurde in der Welt verbreitet. Ich glaube nicht, daß ich irgend jemandem gegenüber in der Ver­ehrung der einzigartigen, wunderbaren Kathedrale von Reims nachstehe. Ich habe sie gesehen im Jahre 1906; ich habe sie bewundert. Aber ich habe auch gesehen, wie diese Kathedrale brüchig geworden ist, und es schnitt mir ins Herz, als ich mir sagen mußte: Keine dreißig Jahre mehr, und sie wird nicht mehr so dastehen können, wie sie jetzt dasteht. Aber wir hör­ten, daß auf diese Kathedrale geschossen worden sein soll

- ich will die Tatsache gar nicht untersuchen -, und viel wurde darüber geredet. Da mußte ich denn einer Goethe-Idee, eines Goethe-Gefühles mich erinnern. Aus Goethes Geistesart heraus ist das Wort gesprochen, das so tiefen Eindruck machen kann: Was wären die unzähligen Sterne, was wären alle Him­mel, wenn sie nicht zuletzt in ein menschliches Auge hinein-leuchten, wenn sie nicht in einer Menschenseele sich spiegeln und von einem Menschenherzen aufgefaßt würden? Wer

33

Goethes Geistesart versteht, der weiß, daß es ein höheres Kunst­werk gibt als alle Kathedralen, daß es ein höheres Kunstwerk gibt als alle Kunstwerke von Menschen, wenn er sie auch noch so sehr bewundert; er weiß, daß es das Götterkunstwerk des Men­schen gibt! Und dann darf, wenn es auch paradox klingen mag, einer verbildeten Menschheit doch das Folgende gesagt werden: Wenn der Krieg eine Notwendigkeit ist und da sein muß, und es wird geschossen auf das größte Kunstwerk, das größer ist als alle Kathedralen, dann empfindet man es - im Goetheschen Sinne - als eine Heuchelei, wenn darüber gejam­mert wird, daß Kugeln auch auf Kathedralen fallen können! Noch einmal, weil es mit den Zeitereignissen zusammen­hängt, lassen Sie mich auf das I,and Rücksicht nehmen, von dem heute so viel geredet wird: auf Österreich. Vorerst aber möchte man eine Frage aufwerfen; denn von den richtigen Fragestellungen hängt es in vieler Beziehung ab, ob man rich­tige, treffende Antworten bekommt.

Viel wird von der «Schuld> an dem jetzigen Kriege gespro­chen; viel wird davon gesprochen: da oder dort sei der jetzige Krieg angezündet worden. Aber eine Frage, meine ich, kann entscheidend sein, und sie muß wichtig werden - die Frage:

Wer hätte diesen Krieg verhindern können? Daß er einmal kommen mußte, ist eine andere Frage. Ich spreche jetzt nur von seinem unmittelbaren Anfang in unserer Zeit, und da gibt es auf diese Frage keine andere Antwort als die: Verhindern hätte ihn können einzig und allein die russische Regierung! Das steht fest. Aus allem, was sehr leicht zu wissen ist, kann sich der Mensch heute diese Antwort geben.

Nun aber noch einmal zu dem Ausgangspunkte. Jener Gruppe von Leuten, von denen ich vorhin gesagt habe, daß ihnen wie ein Ideal das Zusammengehen der Deutschen Österreichs mit denen des Deutschen Reiches voranleuchtete, tönte immer wieder in den Jahren, als sich das vorbereitete,

34

was jetzt Ereignis geworden ist, ein Wort entgegen, welches Bismarck gesprochen hat, ein Wort, das mit überlegenem Humor gesprochen ist, aber - ich möchte sagen - ein Schick­sal einschließt. wurden von Bismarck eine Anzahl von Menschen genannt, die damals nicht mitgehen wollten mit der Sendung, welche von dem Berliner Kongreß im Jahre 1878 dem österreichischen Staate in Bosnien und in der Herzegowina aufgetragen wurde. Herbstzeitlose - warum? Wir hatten damals in Österreich ein Parlament, dessen Führer ein großer, ein bedeutender Mann war. Herbst hieß er. Er sah mit vielen das höchste Ideal politischer Wirksamkeit in dem parlamentarischen System Englands. Aus diesem parlamenta­rischen System konnte man sehr vieles ableiten. Unter anderem leiteten die Herbstianer etwas ab, was sie mit einer großen Virtuosität vertraten: daß man Bosnien und die Herzegowina nicht für sich in Anspruch nehmen dürfte. Bismarck nannte diese Menschen «Herbstzeitlose» mit Anspielung auf ihren Führer, weil er die Aufgabe der Zeit verbunden sah mit dem, was damals Österreich in Bosnien und Herzegowina auszufüh­ren hatte.

Wie war denn das zustandegekommen?

Rußland hatte damals mit dem Streben fortgefahren, seine Machtsphäre über die Balkanländer auszudehnen. Frankreich und England waren ja die Hauptgegner dieser Bestrebung. Heute muß man sich daran erinnern, weil nur der Zusammen-hang der Tatsachen ein richtiges Gefühl in unser Herz senken kann, wer es denn war, der damals gegen Rußland auf dem Berliner Kongreß Österreich die Sendung in bezug auf Bos­nien und Herzegowina aufgetragen hatte? England und sein Vertreter auf dem Berliner Kongreß, Lord Salisbury! England betrachtete es damals als eine Notwendigkeit der neueren Zeit, daß Österreich seine Machtsphäre über Bosnien und Herzego­wina ausdehne. Und die, welche keine Herbstzeitlosen waren,

35

sondern damals behaupteten, in der Sprache Englands die Sprache der neueren Zeit - der Zeit-Menschen, nicht der Herbstzeitlosen - zu vernehmen, konnten nicht mitgehen mit den Herbst-Leuten in Österreich, sondern sie mußten sich der modernen Forderung fügen: Österreichs Machtsphäre nach Bosnien und Herzegowina auszudehnen. Da ist das, was später geschehen ist, eine Folge von dem, was sich damals abgespielt hat, und eingelebt hat es sich in diejenigen Menschen, welche damals, man möchte sägen, den österreichischen Geist mit dem modernen Geist verbinden wollten.

Nun, ein schönes Goethe-Wort ist auch jenes, das er sprach, als er einmal über eines der ältesten Gesteine der Erde, über den Granit, sich äußerte. Da sagte er, daß ihn immer wieder und wieder die Natur mit all ihrer Konsequenz anzöge, weil sie ihn über die Inkonsequenz der Menschen und ihrer Hand­lungen hinwegführe. - Das beherrscht Goethes ganze Geistes-art: innere Konsequenz. Und diese innere Konsequenz in Goethes Stil beachtet, gibt Sicherheit der Seele, gibt echte, wahre Ziele der Seele. Man muß sich erst nach und nach zu dieser Konsequenz hinaufranken, wenn sie die Konsequenz im Handeln der Menschen werden soll.

Wenn man nun Goethes Denkweise auf diejenigen angewen-der denkt, die sich ihr deutsches Ideal in Österreich bildeten:

was sollen diese über die Konsequenz, beziehungsweise In­konsequenz der Menschen denken, wenn sie erfahren müssen, daß Österreich bei seiner Lebensfrage - Fortsetzung dessen, was von englischer Politik auf dem Berliner Kongreß 1878 gewollt worden ist - auf den Widerstand der südslawischen Elemente stößt, dadurch Rußland herausfordert - und Eng­land an der Seite Rußlands findet? Was hätte denn eigentlich geschehen sollen, um es der englischen Politik rechtzumachen? Was sie im Jahre 1878 wollte - oder etwas anderes? In der Geschichte stehen die Tatsachen in innigem Zusammenhang;

36

sie setzen sich konsequent fort. Und recht muß doch wohl der haben, der in der Laße ist, seine Handlungen nach dieser Kon­sequenz einzurichten! Dürfte nun vielleicht der österreichische Deutsche zu den Urhebern seiner Mission betreffs der Süd­slawen sich hinwenden, und Bismarcks Wort aufnehmend, den Ausdruck «Herbstzeitlose> etwas erweitern? Auch dies scheint Goethes Geistesart in unseren Tagen zu sein: die Konsequenz der Ereignisse, an die wir in unseren eigenen Tagen gebun­den sind.

Wenn wir uns wieder zu Goethe wenden und zu dem, was er im Innern seiner Seele war, so finden wir, daß er diesen inneren Zusammenhang zwischen der Menschenseele und den QLlellen allen Seins aus dem Grunde unablässig gesucht hat und ihn deshalb so anschaulich, so hinreißend in seinem «Faust» dargestellt hat, weil er wußte, daß ein Himmlisches, ein Geistig-Göttliches in die Menschenseele hereinleuchtet, und daß dieses Himmlische, dieses Geistig-Göttliche größer ist als das, was Menschen mit ihrem Verstande, mit ihrer schwa­chen Vernunft umfassen können. Das ist gerade das Faust-Problem: Gott in der Seele zu empfinden, den schaffenden, den wirkenden, den in der Geschichte redenden Gott. - Es braucht nicht immer mit Goethes Namen verbunden zu sein, was Goethes Geistesart ist; aber «an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen>. Ich sagte, es ist anwendbar auf die Kultur des deut­schen Volkes, und die reifste, die herrlichste, die unvergäng­lichste Frucht dieser Kultur ist Goethes Geistesart. Das aber, was in der Wurzel dieser Kultur zu schauen ist, was an der Wurzel dieser Kultur zu empfinden ist, das sehen wir überall dort, wo uns Deutschtum, Deutschheit in ihrer Unmittelbar­keit entgegentritt.

Wiederum fragen wir diese Deutschheit, die zugleich Goethesche Art ist, gegenüber etwas anderem, was immer wieder und wieder auftaucht. #SE064-037

von Deutschland verletzt>, hören wir immer wieder und wie­der sagen. Es ist hier nicht meine Aufgabe, militärische Not­wendigkeiten zu erörtem; denn wer die Verhältnisse kennt, der weiß, um welche militärischen Notwendigkeiten es sich in diesem Augenblicke handelt. Aber etwas anderes kommt in Betracht. Da tönt es herüber von jenseits des Kanals: Ja, weil ihr diese Neutralität Belgiens verletzt habt, waren wir aus moralischen Gründen gezwungen, den Krieg mit euch zu beginnen!

Erstens: ich möchte durchaus nicht zu denjenigen gehören, bei denen man mit Recht betroffen ist von dem Wort, das so oft gesprochen wird -: daß, wenn diese oder jene Tatsachen da oder dort eintreten, solche Leute dann gewöhnlich hinter­her die Klugen sind und sagen, das hätte man seit langem gewußt. Aber man darf sagen, daß diejenigen, welche sich in diesem Falle mit den öffentlichen Angelegenheiten beschäf­tigten, wohl wußten, daß dieser Krieg einmal kommen werde, und daß England dann unter Deutschlands Feinden zu finden sein werde. Wie die Dinge auch hätten kommen können: sie lagen so, daß sie so kommen mußten. Aus diesem Grunde kann man nicht viel geben auf die jetzige moralische Ent­rüstung Englands - obwohl ich nicht über die Neutralitäts­verletzung Belgiens sprechen will. Aber über die moralische Entrüstung will ich aus Goethes Geistesart heraus sprechen.

Goethe hat darauf hingewiesen, daß, wenn die Menschen-seele sich an den Quellen des Ewigen findet, sie dann auch die ewigen Notwendigkeiten in sich hereinleuchten sieht. Und Schiller hat, wie so oft, aus Goethescher Gesinnung heraus ein Wort geprägt: Nehmen wir an, es sei mit der Neutralitätsverletzung Belgiens ein Unrecht geschehen. Wer wäre Richter? Der, welcher in Goethes, in Schillers Denkatt denkt, antwortet: Ihrem Urteile wird sich die deutsche Geschichte

38

unterwerfen müssen. Aber nie hätte Schiller aus Goethes Geist heraus gesagt: -Herman Grimm hat davon gesprochen, wie nahe Bismarck Goethe stand. Daher darf im Zusammenhange mit dem eben Ausgeführten an ein Bismarck-Wort erinnert werden; denn man darf sagen, es steht im Zusammenhange mit dem über und «Weitgericht».

Es war im Jahre 1866, als von hoher Stelle Bismarck nahe­gelegt wurde, Österreich zu strafen, weil es der einzig Schul­dige in dem Rivalitätskampf mit Deutschland war. Und Bis­marck soll die Worte gesprochen haben:

Ich wollte diese Worte vorausschicken, weil ich glaube, daß sie als Unterlage dienen können, wenn der Ruf von der mora­lischen Entrüstung Englands über die Neuttalitätsverletzung Belgiens durch Deutschland ertönt. Wir würden aus Goethes Geistesart heraus solchen Stimmen gegenüber sagen: Ihr habt nicht eines Richteramtes zu walten, sondern ihr treibt eure Politik! Und wie es auch sei: aus Politik und aus den politi­schen Notwendigkeiten heraus ist von seiten Deutschlands in Belgien dasjenige geschehen, was geschehen mußte. Wenn ihr aber die Neutralität Belgiens verteidigen wollt, so tut ihr es nicht aus Moral, sondern aus politischen Gründen. Und wie Deutschland aus politischen Gründen mit der Neutralität Bel­giens nach seinem Ermessen verfahren mußte, so mußtet ihr aus politischen Gründen in eurer Weise mit dieser Neutralität verfahren!

Wenn so gesprochen wird, dann empfindet man das, was mit einem englischen Urteile übereinstimmt, das ich schon mitgeteilt habe: #SE064-039

bezeichnen: wahr, gründlich, treu.> - Wahr ist es, daß die Staaten im Kriege ihre Politik vertreten und nicht die Moral. Gründlich ist es, im Jahre 1914 die Konsequenzen von dem­jenigen zu ziehen, was im Jahre 1878 eingeleitet worden ist. Ob es treu ist, gegen jemanden aufzutreten, wenn er das, was ihm 1878 übertragen worden ist, im Jahre 1914 fortsetzt, das mögen diejenigen verantworten, die von der ihrer Politik sprechen.

Ich wollte weder auf das eingehen, was sich gewissermaßen mit der Tagespolitik berührt; denn getreu müssen wir gerade in unseren schicksalsschweren Tagen daran festhalten, was Bis­marck gesagt hat: daß die, welche zu Hause bleiben müssen, in gewisser Beziehung hübsch schweigen sollen, wenn die Er­eignisse draußen auf dem Felde sprechen. Ich wollte auch nicht über dieses oder jenes bei Goethe sprechen. Das aber wollte ich sagen, was von Goethe ausgehend in unsere Herzen und Seelen hereintönen kann, wenn wir gegenüber so schick­salsschweren Ereignissen der physischen Welt, wie es die heu­tigen sind, die Notwendigkeit empfinden, als wahr zu halten:

daß alles Vergängliche doch nur ein Gleichnis ist, daß das Un­zulängliche - im Geistigen allein Erreichnis wird, daß dort allein das Unbeschreibliche getan wird. Ich weiß es, wie ge­rade in diesen Tagen für jene, die draußen im Felde stehen, der Hinblick auf die geistigen Welten dasjenige war, was sie brauchten, wonach sie dürsteten. Und ich habe sie gehört, die Versicherungen, welche von denjenigen ausgingen, auf die es doch heute ankommt, - die Versicherungen, daß der Krieg eine deutliche Sprache spricht, aber eine Sprache über das gei­stige Leben, über die Realität des geistigen Lebens. Man kann in diesen Tagen die Gefühle studieren, jene Gefühle: Und

40

nicht nur für die, weiche draußen stehen im Osten und im Westen, sondern auch für jene, welchen das Schicksal etwas anderes bestimmt hat, ist Wir wenden den Blick nach Osten - und dürfen auch dort sagen: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Einer der bedeutendsten russischen Intellektuellen sei herausgehoben, der besonders mit dem Geistesleben des neunzehnten Jahrhun­derts gerungen hat: Alexander Herzen. Wie ist er verknüpft mit dem geistigen Ringen der Zeit? Betrachten wir die Seele Herzens, des russischen Intellektuellen. Wir werfen eine Frage auf: War er berührt von Goethes Geistesart? Wer von ihr

41

berührt ist, glaubt an die ewigen Dinge, an Menschenzukunft und Menschenwert, an das Gegründetsein des Menschlichen im Göttlichen; und wenn er siegt, glaubt er noch mit Goethes Faust an die Verjüngung des menschlichen Wesens - und aus allem Zweifel und aus aller Bedrängtheit über die Misere des Daseins fließt ihm noch Hoffnung, faustische Hoffnung. -Herzen machte sich bekannt mit dem intellektuellen Leben Westeuropas. Ihm schien einer der aufgeklärtesten Geister der westlichen Kultur John Stuart Mill zu sein. Hören wir, was er über Mill sagt:

«Er übertrieb durchaus nicht, wenn er von der Einengung des Verstandes, der Energie sprach, von der Abgeschliffenheit der Persönlichkeiten, von der beständigen Verflachung des Lebens, vom beständigen Ausschließen allgemein-menschlicher Interessen aus dem Leben, von der Reduzierung desselben auf die Interessen des kaufmännischen Comptoirs und des bürger­lichen Wohlstandes. Mill spricht unumwunden davon, daß auf diesem Wege England zu China werden wird - und wir setzen hinzu: und nicht allein England.»

Und weiter sagt Herzen:

«Vielleicht allerdings rettet uns eine Krisis vor dieser chinesischen Auszehrung. Aber woher dieselbe kommen soll, und wie - das weiß ich nicht, und weiß auch Mill nicht.»

Und nun ruft Herzen aus:

«Wo ist jener mächtige Gedanke, jener leidenschaftliche Glaube, jenes heiße Hoffen, das den Körper härter und die Seele in jene krampfartige Verzückung treibt, die weder Schmerzen noch Entbehrungen fühlt und festen Schrittes zum Richtpflock und zum Scheiterhaufen geht? Seher am Euch! Was vermag die Völker zu erheben?»

Solche Fragen richtet der russische Intellektuelle an die Kul­tur Europas. Welcher Schluß darf gezogen werden? Nun, die Antwort, welche die heutige Zeit gibt, sie haben sich diejenigen,

42

welche an Goethe glaubten, in ihrer Seele gegeben. Daher sind sie mit dieser Seele, mit der Seele Herzens, so verbunden mit den großen Ereignissen der Zeit. Und wenn auch die, welche da Goetheaner sind, niemals die Frage hätten aufwer­fen können: Mereschkowski, ein anderer Intellektueller Russlands unserer Zeit, sagt in dem Buche, in welchem er auch über Herzen sich ausspricht, folgendes:

«Die letzte Todesvision Herzens ist - Rußland als und die russische bäuerliche Gemeinde als Retterin der Welt. Seine alte Liebe nahm er für neuen Glau­ben, aber begriff, so scheint es, in letzter Stunde, daß auch die­ser letzte Glaube - Täuschung war. Wenn indessen auch der Glaube ihn trog, so trog ihn doch die Liebe nicht; in seiner Liebe zu Rußland lag ein gewisser richtiger Ausblick: nicht die bäuerliche Gemeinde, sondern die christliche Gemeinschaft wird vielleicht in Wahrheit zu dem Glauben, den die jungen Barbaren dem alten Rom bringen sollen.

Einstweilen indessen stirbt er - ohne jeden Glauben!» So sagt er von Herzen

«Fahr wohl, verderbtes Rom! ... Fahr wohl, du Heimatland.> Warum diese Heimatlosigkeit, wenn wir nach Osten blicken, bei den besten Intellektuellen? Man möchte sagen: an einer

43

Blöße, die sich Mereschkowski in seinem letzten Buche, «Der Anmarsch des Pöbels>, gibt, kann man es erkennen, was noch im Osten mangelt. Auf Seite 25 dieses Buches sagt er:

«Wenn Goethe von der Französischen Revolution spricht, so beugt er sich plötzlich zur Erde, wie wohl durch einen bösen Zauber ein Riese erdrückt werden und zum Zwerge zusain­menschrumpfen mag; aus einem hellenischen Halbgott wird er zum deutschen Bürger und - der Schatten des Olympiers sei mir gnädig - zum deutschen Philister, zum , zum Geheimen Rat des Herzogs von Weimar und anständigen Sohne des anständigen Frankfurter Krämers.»

Wir sehen die Blöße; wir sehen den Intellektuellen, der an Goethe nicht herankam, der sich fragt: «Wie sprach Goethe gegenüber der Französischen Revolution?> und sich zur Ant­wort gibt: «Aus einem hellenischen Halbgott wird er zum deut­schen Bürger und - der Schatten des Olympiers sei mir gnä­dig - zum deutschen Philister, zum , zum Geheimen Rat des Herzogs von Weimar und anständigen Sohne des anständigen Frankfurter Krämers.> Es wurde dieser Goethe aber zu demjenigen, der die größte Revolution, welche die Menschheit erlebt hat, die Revolution der menschlichen Seele auf ihrem Wege zum Göttlichen hin, in seinem «Faust» hingezaubert hat. Und die richtige Würdigung dieses Hin­gezauberten ist das, was die moderne Kultur verstehen muß, wenn sie nicht im Menschen die Glaubenslosigkeit, das «Fahr wohl, du Heimatland», sondern wenn sie Zuversichtlichkeit und den Glauben an das göttliche Leben im Menschen ent­zünden will. Was sehen die Intellektuellen des Ostens in der Kultur des Westens? Nun, an dem, wodurch der Westen seine Blüte erlangt hat, gehen sie in der geschilderten Weise vorbei! Aber so wahr in unseren Adern das alte Griechentum, das alte Römertum lebt, so wahr in unsere Adern das Christentum der ersten Jahrhunderte eingedrungen ist, so wahr wird der Mensch

44

des Ostens einst jenes Kulturgebiet in seinen Adern tragen, welches durch Goethes Geist die Sonne erlangt hat. Der Mensch aber wehrt sich am meisten gegen das, dem er zum Schluß doch verfallen muß; denn er haßt, was notwendiger­weise über ihn kommen muß. Nicht das ist in der Zukunft der Menschheit der russischen Seele beschieden, was sie bis jetzt aus dem Byzantinismus erlangt hat oder was sie an äußerer Kul­tur aus dem Westen bekommen hat, sondern was an Griechen­tum, an Römertum und an erstem Christentum in den höch­sten Völkern Mitteleuropas Lebensblut geworden ist. Aber übersprungen kann nichts werden! In Goethe ist neu erstan­den, was an Griechentum, an Römertum und an erstem Chri­stentum in der Kultur Mitteleuropas lebt. Und in dem, was von dem Osten herüberkommt, erblicken wir noch das kind­liche Sichwehren, das Unverständnis gegenüber dem, was von den Seelen aufgenommen werden muß. Und wir beginnen zu verstehen - das ist auch Goethes Geistesart - und dann mit wissender Zuversicht und mit wissendem Vertrauen in die Zukunft zu sehen, wenn gefragt wird: Warum bekriegt man uns vom Osten? - Auch darüber gibt Mereschkowski uns Ant­wort, indem er über Tschechow spricht:

«Keine Zeitalter, keine Völker - als gäbe es inmitten der Ewigkeit nur das Ende des neunzehnten Jahrhunderts und in der Welt nur Rußland. Unendlich scharfäugig und hellhörig in bezug auf alles Russische und Zeitgenössische, ist er fast blind und taub für das Fremde und Vergangene. Er sah Rußland klarer als sonst jemand, aber übersah Europa, übersah die Welt» -und wir fügen hinzu: Der russische Intellektuelle Meresch­kowski, er übersah Goetheanismus, Goethes Geistesart!

Aber welch ein Verjüngungsquell, welch eine Hoffnung auch in schweren Tagen Goethe ist, das wird einem ganz klar, wenn man weiß: notwendigerweise mußte das Abendland

45

durchgehen durch eine Epoche von Materialismus. Wer nur den Materialismus zu sehen in der Lage ist, kann verzweifeln; aber inmitten des Materialismus erhebt sich eine solche Gei­stigkeit, die sich in Goethes Geistesart zusainmenfassen lassen kann! Wahrhaftig, der Deutsche hat es bewiesen: er nimmt mit Liebe, mit Hingebung das auf, was russische Geistesart ist. Aber er muß auch Verständnis demjenigen entgegenbringen, was russische Geistesart noch nicht ist. Merkwürdige Worte -von denen Gorki sagt, sie seien grausam, aber wahr - sind es, welche uns zeigen, daß sie von einem russischen Intellektuel­len ausgesprochen sind, der nicht berührt ist von Goethes Geistesart. Gorki sagt:

«Ja, was ist er dir denn, dieser Mensch? Verstehst du? Er nirnmt dich am Kragen, zerdrückt dich unter dem Nagel wie einen Floh! Dann mag dir ja leid um ihn sein! Jawohl! Dann magst du ihm ja deine ganze Dummheit offenbaren. Er wird dich für dein Erbarmen auf sieben Foltern spannen, deine Ein­geweide wird er sich über die Hand wickeln und dir alle Adern aus dem Leibe zerren, einen Zoll pro Stunde. Ach du ... Erbarmen! Bete zu Gott, daß man dich ohne alles Erbarmen einfach durchprügeln möge, und Schluß! ... Erbarmen! ... Pfui!»

Grausam, aber wahr - sagt Gorki. - So spricht derjenige, der erst noch zu warten hat auf das, was ihm Goethes Geistes-art zu sagen hat.

Diese Geistesart Goethes enthält selber etwas, was dem Ver­gänglichen, dem Gleichnis des Lebens gegenüber, ein Ewiges, ein in jeder Zeit Unbeschreibliches ist, weil es ein immer Wachsendes, ein immer neue Hoffnungen aus sich Erzeugen­des ist. Und spricht man in diesen Tagen von dem, was als guter Genius über Mitteleuropa waltet, was das Vertrauen be­gründet, das so fest in den Seelen der mitteleuropäischen Menschheit wurzelt, so darf man davon in Mitteleuropa so

46

sprechen, daß es in Goethe zum universellen Menschheitsblut geworden ist. Und indem man hinblickt auf das, was in den kämpfenden Mitteleuropäern lebt, was mit ihnen lebt seelisch-geistig, was dort auch in ihrem Blute lebt, dann darf man sagen: Es ist Geist von Goethes Geist, und es wird bestehen, solange Goethes Geist besteht! Dann fühlt man auch wie eine Hoffnung, wie einen Trost in diesen schicksalsschweren Tagen jenes Wort, das Schleiermacher, auch aus Goethes Geistesart heraus, geprägt hat. Denn es ist eine Wahrheit: Schleiermacher hat es aus Goetheschem Geist heraus geprägt, weil er wußte, daß mit Goethes Geistesart Erkenntnis und Anschauung der geistigen Welt verbunden ist, und daß das, was im deutschen Volke lebt, selber ein Ewig-Geistiges ist. So kann man trost­voll, hoffnungssicher im Sinne Schleiermachers sagen: «Es weht wie ein Hauch des mitteleuropäischen Geistes, des Goethe-Geistes, auf die Reihen derjenigen, auf die heute die Geister hinschauen, weil der Menschheit Schicksal in ihnen begründet wird.» So raunt es in unseren schicksalsschweren Tagen, daß wir es mit erhöhter Kraft und mit erhöhter Zuversicht aus­sprechen dürfen, weil wir wissen: Es lebt auch in zahlreichen Herzen, die draußen bluten, das schicksalsschwere Wort, das Schleiermacher-Wort, das auch ein Goethe-Wort ist, weil es in seinem Sinne geprägt ist:

«Deutschland ist noch da, und seine unsichtbare Kraft ist ungeschwächt» - und wir fügen hinzu: unverwüstlich!

47

DAS VOLK SCHILLERS UND FICHTES Berlin, 5. November 1914

Wie wir in unserer schicksalsschweren Zeit auf diejenigen hinblicken, welche draußen stehen im Osten und Westen und mit ihrem Blut, mit ihrer Seele eintreten für das, was unsere Zeit fordert, wir haben es heute vor acht Tagen im Vortrage gesehen. Auch in diesem Vortrage gedenke ich nicht das Wort zu verletzen, das Bismarck in bezug auf diejenigen ausgespro­chen hat, die zu Hause geblieben sind. In einer Zeit, in wel­cher auf anderen Feldern und in anderer Weise als durch das Wort noch über der Menschheit große Schicksale entschieden wird, darf das Wort sich nicht in ungehöriger Weise hinein­mischen in die Entscheidungen, die in anderer Weise herbei­geführt werden müssen. Allein das, was draußen spricht und was zu unseren Herzen spricht, es löst überall, wo wir hinblicken, Vertrauen, Hoffnung und Zuversicht aus; es löst aus in einer so wunderbaren Weise Hingebung, Selbstlosigkeit.

Nun, man spricht in unserer Zeit da, wo der Grundton des Sprechens in mehr materialistischer Weise gefärbt ist, als es hier sein kann, viel von Vererbung, von vererbten Eigenschaf­ten. Heute, angesichts des Großen, was draußen geschieht, kann man leichter ins Geistige, ins Spirituelle übersetzen, was auf einem mehr materialistischen Gebiete heute von Ver­erbung gesprochen wird. Was lebt draußen in den Taten der­jenigen, die für ihr Volk bluten? und was soll in den Herzen derjenigen leben, die in echter Weise verbunden sein wollen mit der großen schicksalsschweren, schicksalstragenden Zeit?

48

Man wird heute vielleicht nicht auf Mißverständnis stoßen, wenn man das Wort in einem höheren Sinne noch gebraucht: wenn man auf die realen Mächte hinweist, welche von den großen Vorfahren ausgehen, und die weiter­wirken, die wie ein Zauberhauch die Reihen durchwehen; wenn man darauf hinweist, daß in den Taten der Krieger das­selbe lebt, was da lebte in den großen Genien des mitteleuro­päischen Volkes. Und man wird vielleicht auch nicht auf Miß-verständnis stoßen, wenn man es auszusprechen wagt, daß mit diesem Leben etwas Reales gemeint ist, daß es sich wirklich nicht nur so verhält, wie es im griechischen Märchen aus­gedrückt ist: daß die Kraft der großen Vorfahren in der un­mittelbaren Gegenwart wie segnend über den Gegenwärtigen lebt, sondern daß dieses Reale durchzieht und durchpulst Blut und Seelen. Und da wir als Menschen mit voller Besinnung und Erkenntnis doch eigentlich in dem leben sollten, was auch geistig um uns herum ist, so dürfen vielleicht heute aus der Reihe der großen Mitteleuropäer zwei Persönlichkeiten heraus-gegriffen werden, die gewissermaßen der Gegenwart noch nahe liegen, zwei Genien, deren einer ganz gewiß übergegan­gen ist in Herz und Seele der mitteleuropäischen Bevölkerung, während der andere gleichsam vor uns dastehen kann, in sei­nem Geisteswesen ausdrückend das Größte, das Höchste dieser mitteleuropäischen Bevölkerung. Wenn auch heute wieder gesagt werden darf, daß es vielleicht viele gibt, die heldenhaft mitwirken in dieser Zeit und doch wenig wissen von Schiller, noch weniger von Fichte, so kann uns doch beseelen, daß die-selbe Kraft, die im Heldenblute draußen fließt, es ist, welche in Schiller, in Schillers &höpfungen und in Fichtes großer An­eiferung seines Volkes geflossen ist. Wahrhaftig, nicht um sentimentale Empfindungen in Ihren Herzen heraufzubeschwö-ren, sondern weil ich glaube, daß in der Tat etwas Charakteri­stisches darin liegt, daß das deutsche Volk so gern intim mit

49

den wichtigsten Augenblicken seiner Großen verbunden sein will, möchte ich hinweisen auf die letzten Momente des irdi­schen Lebens der beiden großen Genien, von denen heute gesprochen werden soll.

Schiller - so ging er durch die Todespforte, daß der letzthin erwähnte große Deutsche Herman Grimm von &hillers Tode sprechen konnte: Der jüngere Voß führt uns förmlich hinein in Schillers Sterbezimmer. Wir sehen, wie Schiller lebte mit der höchsten Aufwendung der Kräfte des Geistes und der Seele; wir wissen, daß er sich bis zu dem Lebensalter, das er ja leider nur erreicht hat, aufrecht erhalten konnte, indem der Geist und die Seele einen ungeheuren Sieg über den Leib erfochten haben. So sehen wir, daß in den letzten Tagen, als der Leib schon in gewisser Beziehung dem Tode übergeben war, diese Seele noch heldenhaft verbunden ist mit all dem Großen, was sie gedacht, gesonnen und geschaffen hat zeit seines Lebens, und wir fol­gen an der Hand des jüngeren Voß hinein in das Sterbezim­mer Schillers; wir sehen die letzten Augenblicke des großen Genius. Wir sehen, wie sein Geist im matten Leibe noch hin neigt zu seinen großen Idealen; wir sehen, wie er sich dann in das Sterbezimmer hinein sein jüngstes Kind reichen läßt, wie er aus den Augen, aus denen so viel Großes die Welt an-geblickt hat, dieses Kind anblickt, ihm tief in die Augen schaut, es dann wiederum seinen Pflegern übergibt und dann offen­bar - das ahnen wir - einen Blick ins tiefste Innere seiner Seele tut, von dem wir ja sagen können: Gewiß, der jüngere Voß hat recht, wenn er sagt, Schiller mochte gedacht haben, daß er diesem seinem jungsten Kinde noch viel im Leben hätte sein können. Aber symbolisch darf uns diese Handlung an­muten, dahingehend, daß wir empfinden: Wenn Schiller in unser aller Augen geschaut hätte und sich dann abgewendet hätte in sein eigenes Inneres, denkend, daß er vieles, vieles

50

auch uns zu sagen hätte, dann fühlen wir uns als seine Erben in einem ganz anderen Sinne als nur die Erben seiner Werke und dessen, was er selber gesagt hat; dann fühlen wir uns mit seinen innersten Lebensregungen verbunden, so verbunden, dass wir wissen: wir müssen, wenn wir seines Wesens sein wollen, wenn wir seiner würdig sein wollen, uns selber aus denselben tiefsten Lebensregungen heraus zum Leben und zur Welt stellen wollen, Geist sein wollen von seinem Geist!

Und Fichte - in schwerer Zeit versucht er das, was er aus den tiefsten Gründen seiner philosophischen Natur gewonnen hatte, zu prägen und zu kleiden in Worte, die er in der Zeit deutscher Erniedrigung, deutschen Elendes zu seinen Deutschen gesprochen hat, um sie aufzurichten und ihnen Größe einzu­hauchen für das weitere Leben des Volkes. Und ganz verbun­den war er mit alledem, was dann wieder zu den Befreiungs­kämpfen seines Volkes geführt hat. Und es ist etwas Wunder­bares, nun hinzublicken auf die letzten Augenblicke Fichtes. Er hatte ja oftmals darüber gesonnen, ob er nicht etwa selber hinausziehen sollte in die Schlachtfelder; er hatte dann aber gefunden, daß er ein anderes Schwert besser führen könne zum Heile seines Volkes: das Schwert des Wortes - und er hat es in tapferer Weise getan. Aber seine Frau - sie war eine treue Pflegerin derer, die in den Schlachten gekämpft haben -brachte ihm das Lazarettfieber nach Hause, und er wurde davon ergriffen. Während seiner letzten Augenblicke war es, da brachte ihm sein Sohn die Nachricht von dem Rheinübergang der Deutschen und von dem damaligen Stadium des Befrei­ungskampfes. Und nun sehen wir, wie einer der größten Philo­sophen, der die gewaltigsten, aber auch die kristallklarsten Ge­danken geprägt hat, sich auslebt in seinen Fieberphantasien -aber charakteristisch sind diese Fieberphantasien. Er sah sich in den letzten Augenblicken seines Lebens im Geiste mitten unter den Kämpfenden. Und was er aus der tiefsten Wurzel

51

der Lebensregungen heraus der Welt und dem deutschen Volke glaubte geben zu können, was er zu Deutschlands Erlösung hätte tun können, das tönte aus der Seele des großen deut-schen Philosophen in den Fieberphantasien; ein Augenblick, der uns tief ergreifen kann. Die Arznei wurde ihm gereicht. Er wies sie von sich mit den Worten: «Laß das, ich bedarf keiner Arznei; ich fühle, daß ich genesen bin!>

Wie Kämpfer selber stehen sie da, die beiden großen Genien, Kämpfer für ein Bestes, das die Welt hervorgebracht hat, und verbunden zugleich sehen wir die beiden, Schiller und Fichte, mit allem, was die Zeit, die uumittelbare Gegenwart fordert.

Und nun wenden wir uns hin zu den beiden Großen; ver­suchen wir an ihnen zu erkennen, was - um diesen Fichteschen Ausspruch zu gebrauchen - in des Deutschen tiefster Lebens­wurzel sprießt. Wenden wir uns hin zu Fichte, um uns gewis­sermaßen einmal vor Augen zu führen, was wir für uns selbst zu sagen haben - wenn auch zunächst nicht für andere in die­ser viel getrübten Zeit -, wenn uns von so vielen Seiten Urteile über die europäische Kultur entgegentönen, die aus Quellen stammen, die ganz gewiß nicht deutsches Wesen und deut­schen Geist hervorkehren. An Fichte kann man es kennen­lernen, das Volk, das jetzt so vielfach ein Barbarenvolk ge­schimpft werden soll.

Drei Fragen stellte Fichte, als er vor seinem Volke sprechen wollte von dem, was dieses Volk aufrichten könne; und wir müssen uns klar sein, daß, als Fichte damals seine so begeistern­den «Reden an die deutsche Nation» hielt, dies in einer an­deren Zeit als der heutigen geschah, in einer Zeit mit einem anderen Charakter. Drei Fragen stellte Fichte, die heute -höchstens mit einem einzigen Zwischensatze - nicht mehr in derselben Weise gestellt werden können. Aber gerade an diesen drei Fragen Fichtes ist ungeheuer viel auch für die Gegenwart zu lernen. Die erste Frage ist:

52

Wenn wir von dem zweiten Teile dieser Frage absehen, so müssen wir sagen: es ist unmöglich, diese Frage heute so zu stellen; denn Fichtes Nachkommenschaft hat bewiesen, daß es eine deutsche Nation gibt. Ebenso kann seine zweite Frage heute nicht mehr gestellt werden:

Und die dritte Frage lautet:

«ob es irgendein sicheres und durchgreifendes Mittel für diese Erhaltung gebe, und welches dieses Mittel ist? »

Nun, hier habe ich Jahr um Jahr von den Angelegenheiten des geistigen Lebens der Menschen gesprochen. Und wahr­haftig: gerade in bezug auf das, was über dieses geistige Leben des Menschen gesprochen wurde, war ich davon überzeugt, daß es die Fortentwickelung ist von dem, was schon vor Fichtes, vor Schillers und anderer Seelen stand. Fichte versuchte damals das Mittel zu finden, um die Deutschen herauszuführen aus der Unterdrückung und dem Elend, das Mittel für einen Deut­schen, seiner selbst gewahr zu werden, um aus der tiefsten Wutzel der Lebensregung heraus zu wirken. Eine vollständige Umändetung der Erziehung wollte Fichte haben; und aus der Art, wie das deutsche Volk sich ausdrückt in der «Sprache», wollte er erkennen, in welcher Weise es zu den anderen Kul­turwelten stehe. Es ist heute nicht die Möglichkeit vorhanden, sich auf die Art einzulassen, wie Fichte diese Fragen ausgeführt hat; darauf kommt es an, daß die Kraft, die uns heute in Mitteleuropa beseelen und beleben kann, dieselbe ist wie in ihm. Wir werden heute weder in der Art des deutschen Volkes Wesen aufsuchen, daß wir es, wie Fichte, in der Sprache aus-gedrückt suchen, obwohl wir die ganze Bedeutung der Sprache

53

gewiß würdigen wollen; ebensowenig wollen wir heute von jenem Erziehungssystem Fichtes sprechen, das ja damals nicht ausgeführt werden konnte. Aber wir dürfen darauf aufmerksam machen, daß aus den Lebensregungen heraus, aus denen Fichte damals für die Selbstwahrung seines Volkes seine gesprochen hat, der Geist tönt, der -fortentwickelt - echte, wahre Geisteswissenschaft gibt. Das können wir schon entnehmen aus so mancherlei, was vielleicht nicht immer genügend beachtet wird, wenn man sich heute diesen so wunderbaren Reden Fichtes an die deutsche Nation hingibt. Reden wir doch heute davon - und es ist oftmals von diesem Orte aus darüber gesprochen worden -, daß es nicht nur die materialistische Wissenschaft, die materialistische Er­kenntnis gibt, welche den Menschen so betrachtet, wie er sich zwischen Geburt und Tod entwickelt; daß es nicht nur jene Erkenntnis gibt, welche passiv sich den äußeren Erscheinungen hingibt und sich ihr Urteil bildet nach dem, was im Sinne die­ser Erkenntnis aus der Außenwelt gewonnen wird. Sondern sprechen wir doch davon, daß es eine tapfere, eine aktive Er­kenntnis gibt, die es wagt, die «innersten Wurzeln der mensch­lichen Lebensregungen>, wie das Wort Fichtes lautet, zu fas­sen, um den Menschen dort zu ergreifen, wo er mit seinem Wesen hinausragt über Geburt und Tod, wo er nach Lessings großer Idee das ergreift, was von Leben zu Leben in der phy­sischen Wirklichkeit geht. Eine Erkenntnis gibt es, die durch tapfere, mutige Ergreifung der inneren Kräfte der Seele sich aufschwingt zu dem, was noch nach dem Tode herabschaut auf des Menschen physische Wirksamkeit und auf seinen Leich­nam selbst; eine Wissenschaft gibt es, welche die Seele wirk­lich ergreift, jene Wissenschaft, welche ebenso zum Göttlichen führt wie die äußere Wissenschaft zum Natürlichen. Denn erfaßt man mit der äußeren Wissenschaft, mit der Natur­wissenschaft, den äußeren materiellen Menschen, dann findet

54

man, wie der Mensch aus allen Kräften der Natur hervorgeht, gleichsam als Blüte der Natur; erfaßt man den Menschen mit der Geisteswissenschaft, so wird man gewahr, wie die Seele mit ihren tiefsten Wurzeln zusammenhängt mit dem Gött­lichen, mit dem im Geistigen Webenden und Lebenden. Wenn wir auch nicht mehr auf Fichtes Standpunkt in bezug auf seine einzelnen Äußerungen stehen können: darauf können wir ste­hen, was als Gesinnung, als Artung in seinem Denken lebt. So finden wir es selber, wie die Grundnuance, der Grundton geisteswissenschaftlicher Erkenntnis in den Reden liegt, durch die er in seinem Volke Begeisterung wachrufen wollte; wenn er die Worte ausspricht:

«Zeit und Ewigkeit und Unendlichkeit erblickt sie (die Philosophie, die er meint) in ihrer Entstehung aus dem Er­scheinen und Sichtbarwerden jenes Einen, das an sich schlecht­hin unsichtbar ist, und nur in dieser seiner Unsichtbarkeit er­faßt, richtig erfaßt wird.»

«Alles als nicht geistiges Leben erscheinende beharrliche Dasein ist nur ein aus dem Sehen hingeworfener, vielfach durch das Nichts vermittelter leerer Schatten, im Gegensatz mit welchem und durch dessen Erkenntnis als vielfach ver­mitteltes Nichts das Sehen selbst sich erheben soll zum Er­kennen seines eigenen Nichts und zur Anerkennung des Un­sichtbaren als des einzig Wahren.»

Es ist hier öfter darauf aufmerksam gemacht worden, wie die Seele sich in jenem innersten Wesen erfassen kann, in dem sie gewahr wird, was über den Tod hinausgeht. Dann darf sie

- nicht von einer passiven, sondern von einer aktiven Wissen­schaft aus - davon sprechen, wie der Mensch nach dem Tode von diesem seinem ewigen Wesenskern aus in einem höheren Bewußtsein herabschaut auf seine Leiblichkeit. Merkwürdig ist etwas in Fichte, das wie eine Ahnung in ihm lebt. Wir können uns von jemandem, in dessen tiefsten Seelenwurzeln

55

nicht schon die Ahnung einer solchen geistigen Erkenntnis lebt, die gerade aus seinen Ahnungen hervorgehen kann, wir können uns von ihm kaum denken, daß er ein Gleichnis ge­braucht, wie Fichte es gebraucht. Von einer neuen Erziehung seines Volkes spricht er; davon, wie die Menschen lernen sol­len, sich in etwas hineinzufinden, was die Menschen bisher nicht erlebt haben, und worin sie sich nur schwer hineinfinden können, weil es schwierig ist gegenüber dem Gewohnten, das man ablegen muß. Und Fichte schildert nun, wie es in diesem Volke ist, wenn es sich verjüngen soll und zurückblicken wird auf sein altes Sein, aus dem es - nach seinem Ideal - gleichsam herausschlüpfen soll; und er spricht so, daß das Gleichnis, das er gebraucht, wie aus der modernen Geisteswissenschaft der unmittelbaren Gegenwart herausgenommen ist. Indem er das Volk anregen will, sagt er:

«Die Zeit erscheint mir wie ein leerer Schatten, der über seinem Leichname, aus dem soeben ein Heer von Krankheiten ihn heraustrieben, steht und jammert, und seinen Blick nicht loszureißen vermag von der ehedem so geliebten Hülle, und verzweifelnd alle Mittel versucht, um wieder hineinzukommen in die Behausung der Seuchen. Zwar haben schon die beleben­den Lüfte der anderen Welt, in die die Abgeschiedene einge­treten, sie aufgenommen in sich, und umgeben sie mit war­mem Lebenshauch, zwar begrüßen sie schon freundliche Stim­men der Schwestern und heißen sie willkommen, zwar regt es sich schon und dehnt sich in ihrem Innern nach allen Rich­ningen hin, um die herrlichere Gestalt, zu der sie erwachen soll, zu entwickeln; aber noch hat sie kein Gefühl für diese Lüfte oder Gehör für diese Stimmen, oder wenn sie es hätte, so ist sie aufgegangen in Schmerz über ihren Verlust, mit wel­chem sie zugleich sich selbst verloren zu haben glaubt.>

Wahrhaftig, man meint, daß dieser Vergleich hergenommen ist aus dem, was die moderne Geisteswissenschaft zu sagen hat

56

über das Erleben der Seele! Und dann stehen wir, man möchte sagen, noch viel vor Fichte, als er vor sich selbst stehen konnte, so daß wir sagen: Ja, in dieser Persönlichkeit regt sich etwas von dem, woran wir festhalten wollen als einer geistigen Erkenntnis von dem wahren Wesen des Menschen.

Und wie suchte derjenige, der in seinem geistigen Leben, wenigstens gewisse Zeit hindurch, mit Fichte in inniger Ver­bindung lebte, wie suchte Schiller ebenso wie Fichte, nur in seiner Art, nach dem innersten Quell der seelischen Lebens-regungen zu kommen!

Oh, es ist heute, trotzdem Schiller unserem Volke so ans Herz gewachsen ist, noch gar nicht vollständig erkannt, welche Früchte die Kräfte getragen haben, die in Schillers und Fichtes Volk sind. Und man möchte sagen: wir haben mit unserer Erkenntnis nachzukommen dem, was sich jetzt schon in so herrlicher Weise auf den Schlachtfeldern in West und Ost erweist; denn das sind dieselben Kräfte, die spirituell in Schil­ler zur Erhöhung gekommen sind. Unablässig suchte Schiller

- um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen - in der mensch­lichen Natur gegenüber dem, wäs der Alltagsmensch, was der Mensch ist, der mit den Dingen der äußeren Welt lebt, der diese Dinge der äußeren Welt in sich aufnimmt und verarbei­tet -, unablässig suchte er gegenüber diesem Menschen den, wie er ihn nennt, «höheren Menschen», der in jedem lebt. Und es gehört zu den größten Kulturgütern, was Schiller gerade in bezug auf das Suchen dieses höheren Menschen zum Ausdruck gebracht hat in seinen «Briefen über die ästhetische Erzie­hung». - Ich habe mir im letzten Vortrage erlaubt, darauf auf­merksam zu machen, daß man sich in anderer Weise zum Deutschtum bekennt und rechnet, als die Angehörigen der andern Nationen sich zu ihrem Volkstum verhalten: man ist Russe, man ist Franzose, man ist Engländer, aber man wird immerfort Deutscher; das heißt, man sucht nach einem Ideal,

57

das noch erhöhbar ist; man sucht etwas Höheres, als was in den gewöhnlichen Menschen lebt. Und so sucht Schiller in sei­nen Ästhetischen Briefen auszudrücken, wie auf der einen Seite der Mensch bis zum vollsten Erfassen seiner innersten Lebens­regungen - was sein höherer Mensch ist - nicht kommt, wenn er nur der äußeren Welt, nur dem äußerlich Realen lebt. Wie ein Sklave, der unter den Antrieben der äußeren sinnlichen Notdurft lebt, sagt Schiller, ist ein solcher, der nur den äußeren Anregungen gemäß lebt. Aber auch derjenige ist für Schiller kein Vollmensch, der nur hinneigt zum abstrakten Denken, der sich nur der Vernunftnotwendigkeit unterwirft. Auf der einen Seite sieht Schiller die Vernunftnotwendigkeit, auf der anderen Seite die sinnliche Notwendigkeit. Den Menschen aber sucht er im Alltagsmenschen, der sich so ausleben kann, daß er zu der veredelten Natur so hinzublicken vermag, daß ihm das sinnliche Leben entgegenkommt mit dem Ausdrucke der schö­nen Geistigkeit, an den aber auch die Vernunft herandringt. Der nur ist ihm ein Vollmensch, der mit derselben Lebendig­keit, mit dem Sinn für das Schöne sich dem Geistigen gegen­überzustellen vermag wie der andere der Sinnlichkeit. Und aus der mittleren Stimmung, die sich daraus ergibt, glaubt Schiller die Art herleiten zu können, die einen höheren Menschen aus dem alltäglichen Menschen hervorzaubern kann. Daß aber der Mensch dies müsse, das findet Schiller als das höchste Ideal des Menschen, und damit ist er wieder einer der großen Anreger wahrer geisteswissenschaftlicher Erkenntnis, welche mit allen ihren Kräften suchen will, was als höherer Mensch im Men­schen lebt, und die nicht anders kann, wenn sie im wirklich modernen Geiste dies suchen will, als anzuknüpfen an die Im­pulse, wie sie zum Beispiel aus Schillers Ästhetischen Briefen fließen können. Gerade das, was ich mir in dem Vortrage heute vor acht Tagen zu sagen erlaubte: wie man als Deutscher stets wird> wie man als Deutscher gar nicht einseitig den

58

sucht, sondern den Menschen, der über alle Nationalität hinausgeht, der alle Nationalität als etwas betrachtet, was zum äußeren Menschen gehört, - das tritt uns so schön in dem ent­gegen, wonach Schiller gestrebt hat, was er auszudrücken suchte in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Men­schen und was im Grunde genommen zum Ausdruck kommt in all den Kunstwerken, die Schiller vor sein Volk hingestellt hat, und die dem Volke so ans Herz und in die Seele gewach­sen sind.

Und Fichte - prägt er einen einseitigen Begriff, eine ein­seitige Idee des Deutschtums? Nein! können wir sagen; er prägt einen universellen Begriff des Deutschtums, einen Be­griff, von dem wahrhaftig gesagt werden kann: Der Deutsche will immer werden; und er glaubt, daß man nur dann im voll­sten Sinne des Wortes ein Deutscher sein kann, wenn man im vollsten Sinne des Wortes Mensch ist. Daher das schöne Wort in Fichtes «Reden an die deutsche Nation>, dieses wun­derbare, beherzigenswerte Wort:

«Der Grundsatz, nachdem sie» - was immer die Fichtesche Philosophie ist - «diesen zu schließen hat, ist ihr vorgelegt; was an Geistigkeit und Freiheit dieser Geistigkeit glaubt und die ewige Fortbildung dieser Geistigkeit durch Freiheit will, das, wo es auch geboren sei und in welcher Sprache es rede, ist unseres Geschlechts, es gehört uns an, und es wird sich zu uns tun.>

Wer so denkt, gehört uns an und wird sich zu uns tun. Das ist Schillers, das ist Fichtes Art: Deutscher zu werden dadurch, daß man im umfassendsten und universellsten Sinne des Wor­tes den höheren Menschen im Menschen sucht, der den Weg sucht zu dem, was dem äußeren Menschen fremd, der dadurch Mensch und groß ist, daß er alles Große und zu Liebende auch bei andern Menschen anderer Nationalitäten zu lieben vermag. Und das sucht Schiller als ein ganzer Deutscher, indem er die

59

Worte, die erst lange nach seinem Tode herausgekommen sind, sprechen durfte nicht nur im Angesichte des deutschen Volkes, sondern der ganzen Kulturmenschheit:

Ihm» - dem Deutschen - «ist das Höchste bestimmt, und so wie er in der Mitte von Europens Völkern sich befindet, so ist er der Kern der Menschheit, jene sind die Blüte und das Blatt.

Er ist erwählt von dem Weltgeist, während des Zeitkampfes an dem ewigen Bau der Menschenbildung zu arbeiten, zu be­wahren, was die Zeit bringt.

Daher hat er bisher Fremdes sich angeeignet und es in sich bewahrt.

Alles, was Schätzbares bei andern Zeiten und Völkern auf­kam, mit der Zeit entstand und schwand, hat er aufbewahrt, es ist ihm unverloren, die Schätze von Jahrhunderten.

Nicht im Augenblick zu glänzen und seine Rolle zu spielen, sondern den großen Prozeß der Zeit zu gewinnen. Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag der Deutschen ist die Ernte der ganzen Zeit.»

So haben sie gesprochen. Und in ihrem Sinne - in dem Sinne, daß man als Deutscher stets wird und weiterstrebt und niemals bei dem schon Errungenen bleibt, können wir Schü­ler, Nachfolger dieser Großen werden. Wörtlich auf diese un­sere Vorfahren zu schwören, kann nicht unsere Art sein. Das aber kann unsere Art sein: aus denselben innersten Lebens-regungen heraus, aus denen sie geschaffen haben, zu ver­suchen, unsere Zeit zu verstehen, weiter zu wirken und zu arbeiten. Und indem wir so den Blick auf diese großen Vorfahren

60

hingelenkt haben, fragen wir uns nun - wenn auch viel­leicht im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts und bis in un­sere Zeit herein manches anders geworden ist, als es diese gro­ßen Genien sich unmittelbar in ihrem Bewußtsein vorgestellt haben: Ist aus diesen Impulsen, welche sie gegeben haben, etwas geflossen, was diesen Impulsen entspricht? Gibt es etwas in Mitteleuropa, an dem man erkennen kann Geist von Schil­lers Geist, Seele von Fichtes Seele?

Nun, es wird zweifellos nicht gerade leicht, in der unmittel­baren Gegenwart von dem zu sprechen, was das eigene Volk verwirklicht hat, was in ihm lebt. Und Sie werden es verstehen, daß man in gewisser Weise davor zurückschrecken mag, gerade in unseren schicksalsschweren Zeiten nur im entferntesten zu dem zu kommen, was wie eine Selbstcharakteristik - wenn auch nur wie eine Selbstcharakteristik des Volkes erscheint. Daher will ich einen andern Weg wählen, damit nicht gesagt werden kann, daß dieses «Barbarenvolk» geschimpfte Volk Selbstiob und Eigenliebe treibe. Ich möchte einen Weg wäh­len, durch den wir wie in einem Echo vernehmen können, was aus dem Volke Schillers und Fichtes geworden ist. Wählen wir einmal Worte, die gesprochen worden sind - in englischer Sprache - von dem großen Amerikaner Emerson, Worte, die also nicht unsere Worte sind. Emerson, der große Amerikaner, sprach über das Wesen des deutschen Volkes in der nach­Schillerschen, nach-Fichteschen Zeit die folgenden Worte - wie gesagt: nicht einmal in deutscher Sprache -, indem er das­jenige sagte, was er über Goethe zu sagen hatte:

«Eine Erscheinung vornehmlich, die Goethe mit seiner gan­zen Nation gemein hat, macht ihn in den Augen des franzö­sischen wie des englischen Publikums zu einer ausgezeichneten Erscheinung,»

- also wie gesagt: eine Eigenschaft, welche Goethe mit der ganzen Nation gemeinsam hat! -

61

«daß sich alles bei ihm nur auf die innere Wahrheit basiert. In England und Amerika respektiert man das Talent, allein man ist zufriedengestellt, wenn es für oder gegen eine Partei seiner Überzeugung nach tätig ist. In Frankreich ist man schon entzückt, wenn man brillante Gedanken sieht, einerlei, wohin sie wollen. In all diesen Ländern aber schreiben begabte Män­ner, soweit ihre Gaben reichen. Regt, was sie hervorbringen, den verständigen Leser an und enthält es nichts, was gegen den guten Ton anstößt, so wird es genügend angesehen. Soviel Spalten, soviel angenehme und nützlich verbrachte Stunden. Der deutsche Geist besitzt weder die französische Lebhaftig­keit noch das für das Praktische zugespitzte Verständnis der Engländer noch endlich die amerikanische Abenteuerlichkeit; allein, was er besitzt, ist eine gewisse Probität, die niemals beim äußerlichen Schein der Dinge stehenbleibt, sondern immer wieder auf die Hauptfrage zurückkommt: Wo will das hin? Das deutsche Publikum verlangt von einem Schriftstel­ler, daß er über den Dingen stehe und sich einfach darüber ausspreche.

Geistige Regsamkeit ist vorhanden: wohlan: wofür tritt sie auf? Was ist des Mannes Meinung? - Woher? - woher hat er alle diese Gedanken?>

Dies, sagt Emerson, verlange das deutsche Publikum von dem, der zu ihm sprechen will, der für es etwas sein will. Ein anderes Wort Emersons - wir dürfen es wie ein Echo dessen, was aus den Impulsen Schillers und Fichtes hervorgegangen ist, anhören:

«Die Engländer sehen nur das Einzelne und wissen die Menschheit nicht nach höheren Gesetzen als ein Ganzes auf-zufassen... Die Deutschen denken für Europa.»

- Der englisch Sprechende in Amerika sagt dies! -«... Die Engländer ermessen die Tiefe des deutschen Genius

nicht.>

62

Und was ist aus diesen Gründen, die hier Emerson für sich selber anführt, geworden? Auch darauf gibt er die Antwort. Wieder sind es seine Worte, die ich vorlesen will:

- Emerson spricht hier in Anknüpfung an die deutsche Na­tion, wenn er auch über Goethe spricht -«das Haupt und der Inhalt der deutschen Nation, nicht weil er Talent hat; sondern die Wahrheit konzentriert ihre Strahlen in seiner Seele und leuchtet aus ihr heraus. Er ist weise im höchsten Grade, mag auch seine Weisheit oftmals durch sein Talent verschleiert werden. Wie vortrefflich das ist, was er sagt, er hat etwas im Auge dabei, das noch besser ist... Er hat jene furchterweckende Unabhängigkeit, welche aus dem Ver­kehr mit der Wahrheit entspringt.»

So der englisch redende Amerikaner über das, was aus den Impulsen derer geworden ist, die der mitteleuropäische Mensch als seine großen Genien ansieht.

Nun, ein Satz aus Emersons Auseinandersetzungen darf sich in unserer jetzigen Zeit ganz besonders tief in unser Bewußt­sein eingraben, der Satz, wo Emerson sagt: «Die Engländer ermessen die Tiefe des deutschen Genius nicht.» Es ist selbst­verständlich, daß man, wo von geistiger Erkenntnis gesprochen wird, sich darüber klar ist, daß niemals, wenn man vom «Men­schen» spricht, die Rede davon sein könne, daß dieser Mensch mit seiner Nationalität identifiziert werden darf. Was geistige

63

Angelegenheiten sind, das sind Angelegenheiten der ganzen Menschheit; da gibt es keine Unterschiede von Nationen und Rassen. Also nicht von Individuen ist die Rede; sondern wenn wir, wie wir es jetzt tun wollen, den Blick auf das hinlenken, was die deutsche Nation von Schiller und Fichte hat, so ist das etwas, was über dem Nationalen ist, was anational, was göttlich-ewig ist. Und war man denn - so dürfen wir vielleicht die Frage gerade in unserer Zeit stellen, in der uns so viel Ab­trägliches zu Ohren kommt, gerade von jenseits des Kanals herüber -, war man denn immer dieser Meinung? Wir dürfen fragen: Erscheint uns gegenüber dem, was heute gesagt wird, das in kühleren Tagen Gesagte als weniger bezeichnend?

Nun, eine Merkwürdigkeit liegt vor. Und wenn Sie auch nicht auf das ausführliche Buch - oder die Bücher - von Miss Wylie eingehen wollen, das, von Lord Haldane mit einer Vor­rede versehen, auch in deutscher Sprache erschienen ist, so können Sie sich doch in die Ausführungen Miss Wylies ver­tiefen, wenn Sie die beiden Sonderhefte der «Süddeutschen Monatshefte> zur Hand nehmen, jene braunen Hefte, die auf jedem Bahnhof zu haben sind. Ich will nur eines aus dem herausgreifen, was eine Engländerin ganz kurze Zeit vor dem Ausbruch des gegenwärtigen Krieges über das Volk Schillers und Fichtes gesagt hat; und ihre Worte dürfen zitiert werden, weil sie acht Jahre in Deutschland gelebt hat und das Volk kennengelernt hat, von dem Emerson sagt, daß man es eben in den englisch sprechenden Ländern nicht kennt. Kennen­gelernt hat Miß Wylie nicht nur, was deutsches Geistesleben unmittelbar ist, sondern sie hat auch kennengelernt, wie sich deutsches Geistesleben ausnimmt in Krankenhaus, Schule, Uni­versität und Industrie. Sie sagt:

«Wir lesen viel vom neuen Deutschland und seinem neuen Geist. Aber es gibt kein neues Deutschland und keinen neuen Geist. Das bestehende ist das gereifte Werk von Generationen,

64

das, was von jeher war. Geblendet durch den plötzlichen Glanz von Deutschiands Wohlstand, sind wir geneigt, zu vergessen, daß es selten, außer eben an Wohlstand, einen andern als einen der allervordersten Plätze unter den Nationen eingenommen hat. In Religion und Philosophie hat Deutschland geleuchtet zu einer Zeit, wo ringsum alles dunkel war; in der Literatur hat es einen epochemachenden Impuls gegeben; in der Musik hat es von jeher dominiert.»

- Das ist Echo! Wir sagen es nicht von uns selbst. -Vor vierzig Jahren kämpfte Deutschland um seine Existenz. Und es kämpft noch heute darum. Es ist völlig falsch, zu glau­ben, Deutschland stände schon auf seinem Höhepunkt. Es kämpft einen stillen, aber entschlossenen Kampf gegen mäch­tige Rivalen, deren Macht und Erfahrung schon vor Genera­tionen gewonnen wurde... An jeder Grenze und über dem Wasser sitzen die Gegner, kommerziell und politisch, und war­ten gespannt auf den Moment, wo Deutschland nur ein wenig nachläßt, um darüber herzufallen und es unterzukriegen. Deutschland weiß das ganz genau.»

So sagt die Engländerin. Ja - sie weiß es! Aber auch andere haben es gewußt. Ich habe das letztemal von einem Buche gesprochen, «Deutschland im neunzehnten Jahrhundert>, von Herford, das hervorgegangen ist aus Vorlesungen, welche an der Universität in Manchester gehalten worden sind und durch welche diejenigen belehrt werden sollten, die nichts

65

wissen - namentlich, wie es in dem Buche selber ausgespro­chen ist: die «Presseleute> - über das, was deutsches Wesen ist. Ich darf auch heute, wenn auch nur weniges, gerade aus diesem Buche anführen, was gleichsam als Ermahnungen über deutsches Wesen in Manchester im Jahre 1912 - also auch vor kurzer Zeit - gesagt worden ist, weil es sich auf die rea­len Verhältnisse der alletunmittelbarsten Gegenwart bezieht. So sprach man davon in Manchester:

«Im großen und ganzen ist es außer Frage, daß die Errich­tung des Deutschen Reiches dem Frieden der Welt förderlich gewesen ist. Diese Erklämng wird denen seltsam erscheinen, die von nichts etwas wissen als von den Ereignissen der Gegenwart und für welche die Geschichte nichts anderes ist als ein ewig sich verändernder blendender Kinematograph. Die Geschichte sollte aber doch etwas mehr sein. Ihr ziemt es, das Licht der Vergangenheit auf der Gegenwart wirres Getriebe scheinen zu lassen, und in jenem höheren Lichte werden Dinge, welche verletzend erscheinen, ein natürliches Ansehen gewinnen. Denn wenn wir in die Vergangenheit blicken, so finden wir,»

- in Manchester ist es gesprochen,in englischer Sprache! -«daß unsere Vorfahren Frankreich mit weit größerer Furcht betrachteten, als die wildesten Lärmschläger heute Deutsch-land fürchten. Und die Furcht unserer Voreltern hatte ihren guten Grund....

Es läßt sich also, um alles zusammenzufassen, zeigen, daß die Gründung des Deutschen Reiches ein Gewinn für Europa gewesen ist»

- in Manchester ist das gesprochen! -der Jahre 1866 bis 1871 machten ein für allemal der Möglich­keit, Raubkriege gegen die bis dahin unbeschützte Mitte von Europa zu unternehmen, ein Ende und beseitigten damit eine Lockung zum Kriege, welche in früheren Jahrhunderten Frankreich

66

so oft auf falsche Bahnen gelockt hatte; sie setzten das deutsche Volk instand, seine bis dahin verkütumerten politi­schen Fähigkeiten zu entwickeln, und sie halfen dazu, auf sicherer Grundlage ein neues europäisches System zu errichten, welches vierzig Jahre lang den Frieden erhalten hat.»

- So im Jahre 1912 in Manchester in englischer Sprache ge­sprochen! -«Dieser Segen ergab sich aus der Tatsache, daß die deutsche Einheit auf einen Schlag zustande brachte, was Großbritannien trotz all seines Aufwandes von Blut und Geld nicht hätte be­wirken können, nämlich das Gleichgewicht der Kräfte in so entschiedener Weise zu sichern, daß ein großer Krieg zum gefährlichsten aller Wagnisse wurde.> Also man hat einigermaßen erkannt, daß doch etwas Wah­res an dem ist, was ich mir in dem Vortrage vor acht Tagen anzuführen erlaubte mit den Worten Herman Grimms: daß der Deutsche sich zwar jederzeit für sein Vaterland opfern wird, wenn die Zeit es ihm gebietet, daß er aber den Augen­blick nicht herbeisehnen oder herbeiführen würde, wo dies durch Krieg geschehen kann. Und angesichts dessen, daß wir dies auch wie ein Echo von außen hören, dürfen wir auch den Blick auf das wenden, was unsere unmittelbare Gegenwart ist. Daher bitte ich Sie nun, - ich möchte sagen: um unsere Emp­findungen auf die Art zu lenken, wie wir das anzusehen haben, worin wir in diesen schicksalsschweren Zeiten hineingestellt sind -, sich an das zu erinnern, was sich zugetragen hat in den Tagen Ende Juli und in den ersten Augusttagen, was hinläng­lich bekannt ist. Ich möchte in einer eigenartigen Weise zu charakterisieren versuchen, wie sich die Ereignisse darstellen können; mit Worten, in welchen zum Ausdruck gebracht wer­den könnte, was ein unbefangener Betrachter Mitteleuropas

- oder mögen die andern auch sagen: ein «befangener> Be­trachter - über die Art hätte empfinden können, wie dieses

67

Mitteleuropa zu dem großen Kriege steht. Dies wollen wir uns einmal vor die Seele führen. Ich will es mit folgenden Worten versuchen.

Wir erinnern uns daran, was an Zeitungsstimmen schon im Frühling dieses Jahres von Rußland zu uns herübergekommen ist. Man konnte daran sehen, wie allmählich eine Art von preßkampagne in Petersburg anfing, durch welche die deutsche politik angegriffen wurde. Diese Angriffe steigerten sich wäh­rend der darauf folgenden Zeit bis zu starken Forderungen eines Druckes, den wir auf Österreich üben sollten in Sachen, wo wir das österreichische Recht nicht ohne weiteres angrei­fen konnten. Man konnte in Deutschland dazu die Hand nicht bieten; denn wenn wir uns Österreich entfremdeten, so gerie­ten wir, wenn wir nicht ganz isoliert sein wollten in Europa, notwendig in Abhängigkeit von Rußland. Wäre eine solche Abhängigkeit erträglich gewesen? Man hatte früher glauben können, sie könnte es sein, weil man sich sagte: wir haben gar keine streitigen Interessen; es ist gar kein Grund, warum Ruß­land je die Freundschaft uns kündigen sollte. Wenn man mit russischen Freunden spricht von dergleichen Auseinander­setzungen, so kann man ihnen nicht gerade widersprechen. Die Vorgänge zeigten aber, daß selbst ein vollständiges In-Dienst-Stellen unserer Politik - für gewisse Zeit - in die russische uns nicht davor schützte, gegen unseren Willen und gegen unser Bestreben mit Rußland in Streit zu geraten.

Ich glaube, diese Worte könnten zeigen, was ein Mensch der Gegenwart zur Charakteristik des Frühiings und des Som­mers sagen könnte. Aber diese Worte habe ich gar nicht zu­sammengestellt; ich habe sie gar nicht verfaßt. Ich habe sie nur etwas verändert. Diese Worte hat nämlich Bismarck am 6. Fe­bruar 1888 im Deutschen Reichstage ausgesprochen, als er eine Wehrvorlage zu vertreten hatte und ausführen wollte, daß diese Wehrvorlage nicht im Interesse eines Angriffskrieges,

68

sondern im Interesse des Friedens sei. Und jetzt will ich Ihnen seine Worte vorlesen:

«... wie allmählich eine Art von Preßkampagne in Peters­burg anfing, ich persönlich in meinen Absichten verdächtigt wurde. Diese Angriffe steigerten sich während des darauffol­genden Jahres bis 1879 zu starken Forderungen eines Druckes den wir auf Österreich üben sollten in Sachen, wo wir das österreichische Recht nicht ohne weiteres angreifen konnten. Ich konnte dazu meine Hand nicht bieten; denn wenn wir uns Österreich entfremdeten, so gerieten wir, wenn wir nicht ganz isoliert sein wollten in Europa, notwendig in Abhängigkeit von Rußland. Wäre eine solche Abhängigkeit erträglich ge­wesen? Ich hatte früher geglaubt, sie könnte es sein, indem ich mir sagte: wir haben gar keine streitigen Interessen; es ist gar kein Grund, warum Rußland je die Freundschaft uns kün­digen sollte. Ich hatte wenigstens meinen russischen Kollegen, die mir dergleichen auseinandersetzten, nicht geradezu wider­sprochen. Der Vorgang betreffs des Kongresses enttäuschte mich, der sagte mir, daß selbst ein vollständiges In-Dienst-Stellen unserer Politik (für gewisse Zeit) in die russische uns nicht davor schützte, gegen unseren Willen und gegen unser Bestreben mit Rußland in Streit zu geraten.»

Das charakterisiert die Kräfte, die nicht in einem Jahre, sondern die seit jener Zeit vorhanden waren und die der­jenige, der wußte, was glimmt und glüht in Europa, wohl kannte. Wer so den geschichtlichen Zusammenhang betrach­tet, der wird aus der Übereinstimmung allein dessen, was man heute empfinden kann, mit dem, was Bismarck damals aus­gesprochen hat, einsehen können, daß es unmöglich gewesen wäre, selbst bei einem «vollständigen In-Dienst-Stellen der deutschen Politik der russischen Interessen», den Streit mit Rußland zu vermeiden. Ich denke, solche Art Geschichts­betrachtung spricht vieles, vieles. Und aus welcher Stimmung

69

heraus waren schon damals diese Worte geflossen? War es etwa Herman Grimm allein, der davon sprach, daß Deutsch­land, daß der Deutsche als solcher den Frieden will, daß er auch seine Rüstung in den Dienst des Friedens stellen will? Bismarck sagte damals in derselben Rede schon, was man auch bedenken sollte: er habe auf dem Berliner Kongreß im Jahre 1878 für Rußland so viel getan, daß er dafür den höchsten rus­sischen Orden mit Brillanten bekommen müßte - wenn er ihn nicht schon gehabt hätte. Dennoch mußte er diese Worte spre­chen, die er damals gesprochen hat. Und über die Stimmung, aus der heraus sie geflossen waren, hören wir ihn auch sprechen:

«Mit der gewaltigen Maschine, zu der wir das deutsche Heerwesen ausbilden, unternimmt man keinen Angriff. Wenn ich heute vor Sie treten wollte und Ihnen sagen - wenn die Verhältnisse eben anders lägen, als sie meiner Überzeugung nach liegen -: - ja, meine Herren, ich weiß nicht, ob Sie das Vertrauen zu mir haben würden, mir das zu bewilligen. Ich hoffe nicht.»

laas alles ist geeignet, wirklich die Überzeugung zu bekräf­tigen, wie im Grunde genommen Deutschland einen Krieg nur dann wollte, wenn er aus den europäischen Notwendig­keiten hervorgeht, und daß es weit, weit davon entfernt war, den Krieg um des Krieges willen irgendwie zu wollen. Dann aber möge man entscheiden, ob diese Stimmen - also auch

70

diese Stiname über die unmittelbaren äußerlichen Ereignisse -dem entsprechen, was deutsches Geistesleben ist. - Ich kann nicht umhin, auch noch von einem andern Eindruck, den deut­sches Geistesleben an einem gewissen Punkt machte, ein paar Worte zu sagen.

Wir haben es in diesem Sommer gehört, wie ein Mann wahrhaftig nicht harte Worte genug - ich sage harte Worte -finden konnte, um nun auch das deutsche «Barbarentum> ab­zukanzeln. Derselbe Mann hat früher einmal drei Geister an-geführt, die ihn zu seiner Weltanschauung am meisten, oder wenigstens viel, gebracht haben: den Mystiker Ruysbroek, den Amerikaner Emerson und den deutschen mystischen Dichter Novalis. Eine merkwürdige Frage legt sich dieser Mann vor der unter denen, die ihn zu seiner geistigen Anschauung hinaufgeführt haben, ganz besonders auch von dem deutschen mystischen Dichter Novalis spricht - die Frage: Was ist schließlich selbst alles, was in Shakespeares Dramen steht, was da verhandelt wird zwischen den einzelnen Personen und was von Person zu Person spielt, was ist das gegenüber dem, was in vielen anderen Dichtungen lebt? Denn nehmen wir an - so meint er - es käme von einem anderen Planeten ein Geist zu uns, der unter ganz anderen Verhältnissen lebte als die Erden-seelen: würde er sich im geringsten für das interessieren, was die Personen in Shakespeares Dramen erlebten? Müßten wir ihm nicht etwas ganz anderes bieten, was in der Regel im All-tage gar nicht zum Ausdruck kommt, etwas, was aus der Men­schenseele heraus wirkt, wenn er nur uns beachten sollte? Und dann besinnt er sich, wie ihm ein deutscher mystischer Dich­ter - Novalis - etwas gebracht hat, was von dem spricht, wor­über er am liebsten schweigen möchte, wovon er aber glaubt, daß die Seele eines andern, der aus einer anderen Welt her­unterkommt, darin etwas Mitteilenswertes erblicken müßte. Und also spricht der Betreffende von Novalis, dem deutschen

71

rnystischen Dichter, der so etwas in seiner Seele hat, was, als aus dem Innersten des Menschenwesens kommend, selbst einem erdenfremden Geist gewiesen werden könnte, wenn die­ser danach fragte:

«Wenn es aber anderer Beweise bedürfte, so würde sie> - das heißt: die Seele wahrscheinlich - «ihn unter die führen, deren Werke fast ans Schweigen rühren. Sie würde die Pforte des Reiches öffnen, wo einige sie um ihrer selbst willen liebten, ohne sich um die kleinen Gebärden ihres Körpers zu küm­mern. Sie würden zusammen auf die einsamen Hochflächen steigen, wo das Bewußtsein sich um einen Grad steigert und wo alle, welche die Unruhe über sich selbst plagt, aufmerksam den ungeheuren Ring umschweifen, der die Erscheinungswelt mit unseren höheren Welten verknüpft. Sie würden mit ihm zu den Grenzen der Menschheit gehen; denn an dem Punkte, wo der Mensch zu enden scheint, fängt er wahrscheinlich an, und seine wesentlichsten und unerschöpflichsten Teile befin­den sich im Unsichtbaren, wo er unaufhörlich auf seiner Hut sein muß. Auf diesen Höhen allein gibt es Gedanken, welche die Seele billigen kann, und Vorstellungen, welche ihr ähneln und die so gebieterisch sind wie sie selbst. Dort hat die Mensch­heit einen Augenblick geherrscht, und diese schwach erleuch­teten Spitzen sind vielleicht die einzigen Lichter, welche die Erde dern Geisterreiche ankündigen. Ihr Widerschein hat für-wahr die Farbe unserer Seele. Wir empfinden, daß die Leiden­schaften des Geistes und des Körpers in den Augen einer höheren Vernunft den Klängen von Glocken gleichen würden; aber in ihren Werken sind die genannten Menschen aus dem kleinen Dorfe der Leidenschaften herausgekommen und haben Dinge gesagt, die auch denen von Wert sind, die nicht von der irdischen Gemeinde sind.»

So sagt ein Mann, nachdem er einen Eindruck empfunden hat von Novalis und sich über Novalis aussprechen will. Das

72

ist derselbe Mann, der jetzt in einer eigentümlichen Weise

- Sie werden es ja meistens kennen - über Deutschtum und deutsches Wesen sich ausgelassen hat: Maurice Maeterlinck. Wenn wir hören, daß so etwas von Maeterlinck gesprochen worden ist, können wir dann nicht sagen, daß er eigentlich sein Wesen recht «wesentlich> ausgewechselt hat? Könnte man nicht sogar sagen, seine jetzigen Worte klingen so, daß man von ihnen sagen könnte: In Wahrheit ist es schwer, seine Seele zu befragen und ihre schwache Kinderstimme inmitten der unnützen Schreier zu vernehmen, die sie umgeben? Man möchte ihn wahrhaftig selber zu diesen unnützen Schreiern zählen, gegen welche schwache Kinderstimmen nicht aufkom­men können. Aber ich habe auch diese Worte von Maurice Maeterlinck genommen; denn es sind seine eigenen Worte die er auch bei der angeführten Gelegenheit spricht: «In Wahrheit ist es schwer, seine Seele zu befragen und ihre schwache Kinderstimme inmitten der unnützen Schreier zu vernehmen, die sie umgehen.»

Wir haben versucht, dasjenige ein wenig zu ergründen, was Schiller und Fichte von ihrem Volke wollten. Und wir haben versucht - wenn auch nur im Echo - zu erkennen, inwiefern diese Impulse sich verwirklicht haben. Man spricht heute viel von allerlei Gefühlen, die nun in diesen Deutschen sein sollen gegen die anderen Völker, mit denen sie im Kriege sind; man spricht zum Beispiel von Haßgefühlen, welche die Deutschen haben sollen gegen die Russen, gegen die Engländer, auch gegen die Franzosen. Wahrhaftig, nach den Worten, die ich heute und das letztemal gesprochen habe, wird mir das, was ich jetzt zu sagen habe, nicht als eine undeutsche Gesinnung ausgelegt werden, sondern als eine solche, die aus den wahren Gründen der Geisteswissenschaft fließen muß. Denn ich glaube: wenn wir auf die innersten Wurzeln der Lebeosregung beim Deutschen hinblicken, dann sind diese Haßgefühle, diese

73

Verachtungsgefühle gegenüber den anderen Völkern alle nicht wahr! Mag auch in den jetzigen Tagen gar manches Wort gesprochen werden, was wir vielleicht selbst innerhalb des Deutschen , den höheren Menschen im Menschen sucht, so sagt Fichte selber, er gehört zu uns! Und unablässig sucht der Deutsche über die engen Fesseln seiner Nationalität hinauszukommen. Daher glaube ich nicht, daß es mehr als über den Alltag hinausgehen kann, wenn von andern Gefühlen als von Gefühlen der Hingebung auch zu dem Wertvollsten bei andern Völkern heute gesprochen wird. Und dürfen wir nicht auch dafür Belege anführen?

Oh, wir dürfen glauben, daß das, was als höchste Frucht des deutschen Geisteslebens zum Vorschein gekommen ist, auch wirklich in der primitivsten deutschen Natur lebt. Haßt der Deutsche die Engländer in Wirklichkeit? Ich möchte sagen:

nein. Ich möchte sogar das paradoxe Wort prägen: Der Deutsche hat bewiesen, daß er sogar die Engländer mehr liebt als sie sich selber. Nehmen wir einmal ernsthaft das Wort: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Wie hat der Deutsche Shake­speare gepflegt? Man vergleiche, was Shakespeare innerhalb des deutschen Geisteslebens für eine Bedeutung gewonnen hat

- gegenüber dem, was er in England geworden ist. Man kann dann sagen: Wir sehen die Neuauferweckung Shakespeares im deutschen Geistesleben. Der Deutsche hat Shakespeare mehr gepflegt als der Engländer - wenn dies auch auf der Spitze des Gesagten ist. Aber wie gesagt wurde, daß in dem Tornister eines jeden Soldaten der Marschallstab stecke, so steckt diese Gesinnung in der Seele des einfachsten Deutschen, wenn sie auch dadurch, daß jetzt der Deutsche von allen Seiten bedroht ist, ein wenig gesucht werden muß. - Aber wir können auch in die neuere Zeit gehen. Wir haben von Goethe gesprochen.

74

Goethe gehört auch zu denen, die mit liebevollster Gesinnung sich in das, was allgemein Menschliches ist, bei allen Nationali­täten und zu allen Zeiten hineinversenkt hat. Wir sehen ihn untertauchen in das, was ihm so teuer war, in das alte Grie­chentum, wir sehen dieses Untertauchen sinnhildlich dar­gestellt im zweiten Teil des «Faust», in der Vereinigung des Faust mit der Helena, als Sinnbild für die Vereinigung der zwei nationalen Elemente. Und Goethe läßt aus dieser Vereini­gung etwas hervorgehen: den Euphorion, der uns nach alle­dem, was wir schon über den Faust sagen konnten, als etwas erscheinen kann, was mit Goethes Menschheitsideal zusam­menhängt. Eine merkwürdige Gestalt ist dieser Euphorion. Gedenken wir an Worte des Euphorion, die uns tief, tief ge­rade heute in unseren Tagen in die Seele hereinklingen kön­nen. Euphorion sagt:

Nein, nicht ein Kind bin ich erschienen:

In Waffen kommt der Jüngling an!

Gesellt zu Starken, Freien, Kühnen,

Hat er im Geiste schon getan.

Nun fort!

Nun dort

Eröffnet sich zum Ruhm die Bahn.

Dann weiter:

Und hört ihr donnern auf dem Meere?

Dort wiederdonnern Tal um Tal,

In Staub und Wellen Heer dem Heere,

In Drang um Drang zu Schmerz und Qual!

Und der Tod

Ist Gebet;

Das versteht sich nun einmal.

Und dann:

Sollt ich aus der Ferne schauen?

Nein! Ich teile Sorg und Not!

75

Wer schwebte Goethe vor, als er diesen Extrakt des Mensch­heitlichen vor seine Seele hinmalen wollte? Byron, der große englische Dichter, war ihm Vorbild zu dem, was er in seinem Zuweilen könnte es ja scheinen, als ob sich der Deutsche auch dazu hinreißen ließe, seine Eigenart gegenüber Fremden hervorzukehren. Dann muß man nur wissen, wie er in diesem Hervorkehren immer etwas liegen hat, was sich gegen irgend etwas wehren will. Es sind Worte, die Friedrich Schlegel einmal gesprochen hat, als Paris einen großen Eindruck auf ihn machte: «Paris wäre eigentlich eine wunderbare Stadt, nur sind zu viele Franzosen darin.» Gewiß, auch solche Worte sind gesprochen worden. Aber auch anderes liegt vor. Da liegt besonders etwas vor, was symptomatisch andeutet, wie der Deutsche wenigstens drinnen stehen will im ganzen Kultur­leben. Das liegt vor, als Schiller hinblickte auf eine große Ge­stalt der Weltgeschichte. Auch andere haben auf diese Gestalt der Weltgeschichte hingeblickt: Shakespeare, Voltaire - ein Engländer, ein Franzose. Ich meine die Und so suchte er sie hinzustellen, diese für ihn zur Himnaelsbotin, zur Botin der geistigen Welt gewordene Persönlichkeit. Man hat es vielfach getadelt, daß Schiller die Gestalt der Jungfrau von Orleans geschaffen hat. Heute sollte man sich gegenüber der Art, wie der Deutsche sich in das Kul­turleben hineinstellt, daran erinnern, wie Schiller versucht hat, sich in alles hineinzuleben, was ihm aus dem Französischen

76

wie ein Geschenk des Himmels gekommen ist, um es zu ver­körpern, was aber in der Beurteilung des deutschen Geistes verbunden ist mit Kampf und Streit und Sieg. Man glaubt es nicht, wenn man nicht deutsch denkt, daß sich in der Seele ver­einigen können Mut und Kampfsinn und Hineingestelltsein in den Streit - und daß dennoch im Herzen die Menschlichkeit bewahrt werden kann. Das wollte Schiller gerade zum Aus­druck bringen. Wovon nicht deutsch Denkende sagen: es wäre gar nicht möglich, von dem müssen wir sagen: Im Grunde ge­nommen ist es möglich bei jedem Deutschen, wenn wir die deutsche Natur bei den Wurzeln ihrer Lebensregung betrach­ten. Anders nämlich als viele andere stellt sich der Deutsche zu Kampf und Krieg, und es liegt in ihm - manchmal dunkler oder klarer - daß er denjenigen, mit dem er zu kämpfen hat, nur wie einen Feind im Duell zu behandeln hat. Nicht haßt er ihn; er stellt sich ihm gegenüber und ist am frohesten, wenn er ihn in höchster Menschlichkeit anrühren kann. Ich möchte sagen: eine so recht deutsche Eigenschaft suchte Schiller in die Jungfrau von Orleans hineinzugeheimnissen. Der, welcher weiß, was die Jungfrau von Orleans gewesen ist, wird es natür­lich finden, daß Schiller also von ihr ergriffen werden konnte selbst zu einer Zeit, in welcher der Deutsche gar keine Ver­aulassung gehabt hat, französischen Geist zu verherrlichen. Aber Schiller hat auch - und darum ist er wieder der größte Impulsgeber für das deutsche Geistesleben geworden - in sein Drama das Weben der Kräfte des Unsichtbaren hereingenom­men. Und so weben sie herein wie in dem unsichtbaren Wesen, in Talbot, der als schwarzer Ritter erscheint. Man hat es viel­fach getadelt; aber Schiller konnte nicht anders, als daß die ewigen Geistesmächte auch in sein Drama hereinspielen. Daher repräsentiert er so recht diejenige Eigenschaft, die urdeutsch ist: keinen Unterschied zu machen von Nation zu Nation da, wo es auf das Größte, auf das Höchste im Menschenleben ankommt.

77

Darum sagte ich: ich glaube es nicht, wenn man heute von Haß- und Antipathiegefühlen der Deutschen gegen die an­deren Völker spricht, daß diese Gefühle bis in die innersten Wurzeln der deutschen Lebensregungen gehen. Man braucht deshalb nicht blind und stumpf zu sein gegenüber dem, was alles zutage tritt; aber man weiß zu unterscheiden zwischen dem, was sich von außen an den Menschen herandrängt - und was der Mensch mit seinem höheren Menschen zu überwinden sucht. Und auch Schiller steht dem äußeren, dem praktischen Leben nicht so fern, daß wir sagen müßten, er wäre blind gewesen gegenüber dem, was die Außenseite der verschiedenen Nationen wäre. Er hat ein Gedicht «Der Antritt des neuen Jahrhunderts» geschrieben; darin lesen wir die bedeutungsvollen Zeilen, die uns auch heute wieder in unserm gegenwärtigen Leben recht nahe liegen:

Zwo gewalt'ge Nationen ringen

Um der Welt alleinigen Besitz;

Aller Länder Freiheit zu verschlingen,

Schwingen sie den Dreizack und den Blitz.

Gold muß ihnen jede Landschaft wägen

Und, wie Brennus in der rohen Zeit,

Legt der Franke seinen eh'rnen Degen

In die Waage der Gerechtigkeit.

Seine Handelsflotte streckt der Brite

Gierig wie Polypenarme aus,

Und das Reich der freien Amphitrite

Will er schließen, wie sein eignes Haus.

Das sind auch Schiller-Worte, die erklangen, trotzdem Schil-ler zu denjenigen gehörte, die in echt deutscher Weise den

78

Grundsatz pflegen wollten: das Menschliche nicht im Nationa­len zu suchen, oder vielmehr - man kann es auch so aus­drucken: das Menschliche in jedem Nationalen zu suchen. luarum darf man sagen, daß es wahr sein kann, daß etwas, was Schiller und Fichte für ihr Volk ersehnt haben, gerade auch aus unseren schicksalsschweren Tagen als die schönste Frucht hervorgeht: Der Deutsche hat es oft gesagt, daß er mit anderen Nationalitäten zusanunenzuleben versteht. Und wenn wir heute auf ein Land blicken, das unmittelbar an Deutschland angrenzt, und das nicht nur in äußerlicher Beziehung, sondern bis in das Innerste des menschheitlichen Verhaltens hinein es verstanden hat, neutral zu bleiben, wenn wir auf die Schweiz schauen, auf jene Schweiz, in welcher Fichte in Pestalozzi die Wurzeln zu seiner deutschen Nationalerziehung genommen hat, so dürfen wir sagen: Wir sehen an diesem Musterlande der Nationali­täten, daß es möglich ist, daß der Deutsche mit anderen Natio­nen durchaus zusammenzuleben versteht. Wer Schweizer Leben zu verfolgen vermag, der weiß, daß es den Bewohnern dieses Landes, wo in mustergültiger Weise drei Nationen zusammen­leben, von der allergrößten Wichtigkeit ist, daß sie dem Geiste nach das, was für ihr Staatsgebiet das wahrhaft innerste Inter­esse ist, den Geist der Neutralität, aufrechterhalten können. Man sollte aber den Geist der Neutralität achten und daran denken, daß die Schweizer durchaus aus ihrer eigenen gesunden Urteilskraft heraus wissen, welches die historische Mission des deutschen Geistes ist. Und begreifen sollte man, daß es dort die Empfindlichkeit in berechtigter Art verletzen kann, wenn man ein Gebiet, dem es gerade für die unmittelbare Gegenwart bedeutungsvoll ist, daß es auf dem Standpunkte ehrlichster Neutralität steht, zu sehr mit dem überschwemmt, was man heute die «Aufklärungsliteratur» nennt. Derjenige, glaube ich, der über des Deutschen Sendung so spricht, wie ich es getan habe, darf auch auf solches aufmerksam machen.

79

So dürfen wir nun sagen: Wie ein Echo können wir es hören, was die Impulse Schillers und Fichtes gewirkt haben. Stellen wir noch einmal kurz zum Schluß vor unser Seelenauge die Worte, welche Emerson von Goethe gesprochen hat: «Die Welt ist jung, große Männer der Vergangenheit rufen zu uns mit freundlicher Stimme. Wir müssen heilige Schriften schreiben, um den Himmel und die irdische Welt aufs neue zu vereinen. Das Geheimnis des Genius ist, nicht zu dulden, daß eine Lüge für uns bestehen bleibt, alles, dessen wir bewußt sind, zu einer Wahrheit zu machen, im Raffinement des moder­nen Lebens, in Kunst und Wissenschaft, in den Büchern und in den Menschen Glauben, Bestimmtheit und Vertrauen zu er­wecken und zu Anfang wie am Schluß, mitten auf dem Wege, wie für endiose Zeiten, jede Wahrheit dadurch zu ehren, daß wir sie nicht allein erkennen, sondern sie zu einer Richtschnur unseres Handelns machen.»

In der Betrachtung des deutschen Lebens, das aus solcher Gesinnung, wie diejenige Fichtes und Schillers ist, zum wahren geistigen Erkennen hinstrebt, entringen sich Persöniichkeiten, wie Emerson eine ist, solche Worte. Und dann verstehen wir, wie - gewissermaßen wie aus dem Elementaren heraus - auch in Bismarcks Rede vom Jahre 1888 dasjenige sich ausdrückt, was innig verbunden ist mit diesem Suchen des höheren Menschen

80

im Alltagsmenschen. Was ist da innig verbunden? Ich habe schon im Beginne des Vortrages gesagt, als ich darauf hin­wies, wie zum Schluß die besten deutschen Genien den Weg zur Geisteswissenschaft weisen: Wie der äußere Mensch in der äußeren Natur ruht, so ruht das, was als höherer Mensch im Menschen gefunden werden kann, was von Leben zu Leben geht, was selbst im Laufe der Erdenleben von einer Nationali-rät zur andern geht - das ruht im göttlichen Allsein. Und ver­bunden fühlt sich der Mensch, wenn er die Wurzeln seines innersten Menschen erfaßt, mit dem Gotte, dessen Wesen die Welt durchwebt und durchpulst. Und Schiller und Fichte, sie sprechen von jenem Gotte, von dem dann auch Bismarck spricht, indem er in seiner elementaren Weise in der schon er­wähnten Rede den Deutschen die Worte zurief:

«Wir können durch Liebe und Wohlwollen leicht bestochen werden - vielleicht zu leicht -, aber durch Drohungen ganz gewiß nicht! Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt; und die Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frie­den lieben und pflegen läßt. Wer ihn aber trotzdem bricht, der wird sich überzeugen, daß die kampfesfreudige Vaterlandsliebe, welche 1813 die gesamte Bevölkerung des damals schwachen, kleinen und ausgesogenen Preußen unter die Fahnen rief, heut­zutage ein Gemeingut der ganzen deutschen Nation ist und daß derjenige, welcher die deutsche Nation irgendwie angreift, sie einheitlich gewaffnet finden wird und jeden Wehrmann mit dem festen Glauben im Herzen: Gott wird mit uns sein!»

Der Deutsche hat von jeher versucht, diesen seinen Gott im Geistigen zu suchen. Der Deutsche hat versucht - ich habe es schon letztesmal angedeutet - in Goethe, jene Faust-Gestalt zu schaffen, von der man nicht sagen kann, sie sei «deutsch» oder «französisch», «englisch», «russisch» oder «amerikanisch»; von der man aber sagen kann, daß sie menschlich ist, und die doch nur aus deutschem Geist entspringen kann. Ich habe auch

81

darauf hingewiesen, wie man als Deutscher immer wird. Gleich neben seinen «Faust» stellt Goethe aber die Gestalt des Mephi­stopheles hin, die Einkörperung des Bösen, vor allem der Un­wahrheit. So darf der Deutsche in seinem Bewußtsein hin­schauen auf die Gegenüberstellung von Faust und Mepistophe­les - und, erkennend seine Mission in der Welt, wie sie Emer­son ausspricht, darf er betonen: Es ruht in jedem Deutschen, wohin wir auch deutsches Wesen zu tragen versuchen, das Bewußtsein, das in den Faust-Worten zum Ausdruck kommt:

«Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn!» Das sind Worte, die gesprochen sind aus dem Geist heraus, der in Wirklichkeit jede Nationalität in ihrem wahren Werte achtet und einsehen will und keine haßt. So kann der Deutsche auch ruhig hinsehen zu einem der letzten großen Vorfahren, zu Bismarck selber und zu dem Wort: «Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt.» Und er kann, auf diesen großen Staatsgenius hörend, wie aus dem geistigen Gebiete heraus gewisse Worte vernehmen, die dennoch - man muß Bismarck nur kennen -echt bismarckisch sind: «Es ist ja unzweifelhaft, daß die Dro­hungen und die Beschimpfungen, die Herausforderungen, die an uns gerichtet worden sind, auch bei uns eine ganz erheb­liche und berechtigte Erbitterung erregt haben, und das ist beim Deutschen recht schwer, denn er ist dem Nationalhaß an sich unzugänglicher als irgendeine andere Nation; aber wir sind bemüht, sie zu besänftigen, und wir wollen nach wie vor den Frieden mit unseren Nachbarn.» Wer daher den Deutschen kennt, der sucht tiefer, wenn er bei ihm das finden will, was er verachten, was er hassen könnte. Goethe hat gesucht; aber er hat nicht einen Menschen hingestellt, sondern neben dem Faust hat er den Mephistopheles hingestellt! Wo immer Men­schen leben - ihr Menschliches werden wir suchen, gleich­gültig welcher Nationalität sie sind. Aber blind werden wir nicht sein dürfen gegenüber dem, was in den Menschen lebt

82

von dem Geist der Unwahrheit. Gerade in unserer Zeit, wo so Herbes und Unwahres an unsere Ohren klingt, dürfen wir noch sagen: es ist, wie wenn wir Bismarcks Worte vernehmen würden. Er war ja immer bestrebt, die Gegner nicht zu ver­achten, sondern ihnen gerecht zu werden, zum Beispiel als er, im Kriege mit den Franzosen lebend, auf das altfranzösische, auf das fein-französische Wesen, mit dem er so gern ver­handelte, hinwies. So war es auch bei Gelegenheit der schon erwähnten Rede, wo er sagte: «Die Tapferkeit ist ja bei allen zivilisierten Nationen gleich; der Russe, der Franzose schlagen sich so tapfer wie der Deutsche.» Wahrhaftig, der Deutsche sucht nicht bei den andern, was er etwa hassen, ablehnen müsse oder wogegen er Antipathie haben müsse. Er ist geistig ver­anlagt; er sucht nach dem Geistigen, - wie Goethe in seinem Faust nach dem Geistigen der Lüge in Mephistopheles suchte. Und so können wir zum Schluß wohl aussprechen, wie wenn wir Bismarck selber vernehmen würden und er uns aus den Reichen des Geistes zuraunte: Wenn wir hören, daß Unwahres gesprochen wird im Westen, Nordwesten und Osten, so sollen wir uns nicht dazu verleiten lassen, Persönlichkeiten, Nationali-täten zu hassen und zu verachten; denn wie es wahr ist, daß der Deutsche, wenn er sich in seinem höheren Menschen er­greift, das allgemein Menschliche findet, das überall über die Erde hin zu finden ist, wo Menschenantlitz erscheint, so ist es auch wahr, daß der Deutsche den Gegenstand seines Hasses erst durch die geistige Betrachtung finden muß. Wahr ist es:

wie der Deutsche mit seinem Gotte sich vereinigt fühlt in sei­nem innersten, in seinem heiligsten Menschen, so kann er auch nur da, wo er haßt, wo er zu hassen sich erlaubt, in die tieferen Wurzeln bis zum Geistigen gehen. So ist es wahr, in gewisser Beziehung tief wahr: Der Deutsche fürchtet den Gott, aber sonst nichts in der Welt. Aber gegenüber alledem, was uns ent­gegentönt, ich möchte sagen, von allen Windrichtungen her,

83

darf auch das Wort geprägt werden, das sich schon wahr er­weisen wird, wenn man einmal die Wurzeln des deutschen Wesens klarer als heute ins Auge fassen wird:

Der Deutsche haßt im Grunde genommen keine Nationali­tät, keinen Menschen, insofern diese auf dem physischen Plan leben. Der Deutsche haßt allein - wenn davon gesprochen wer­den soll - den Geist der Lüge und der Unwahrhaftigkeit; denn er liebt und will lieben den Geist der Wahrhaftigkeit allüberall, wo er gefunden werden kann!

84

DIE MENSCHENSEELE IN LEBEN UND TOD Berlin, 26. November 1914

In den beiden ersten Vorträgen, mit denen ich diesen Winter­vortragszyklus begonnen habe, versuchte ich aus den Impulsen heraus, welche uns die großen Zeitereignisse geben können, innerhalb deren wir leben, Betrachtungen anzuknüpfen an das Wesen der deutschen Geisteskultur, wie sie sich in ihren großen Persönlichkeiten darlebt. Was ich durch diese Betrachtungen versuchte durchleuchten zu lassen, war, daß es im Wesen dieser Geisteskultur liegt, sich immer mehr und mehr zu durchdrin­gen mit dem Bewußtsein der Wirklichkeit des geistigen, des ewigen Daseins. Gewissermaßen ein Spezialkapitel aus dem, wozu es geisteswissenschaftliche Betrachtung bis in unsere Zeit herein gebracht hat, werde ich heute zu geben versuchen, um damit eine Grundlage zu gewinnen für das, was den Inhalt des morgigen Vortrages bilden soll: eine Betrachtung über das Wesen der europäischen Volksseelen. Dadurch möchte ich dann andeuten, wenigstens mit einigen Zügen, welche der Geisteswissenschaft entnommen sind, was diese letztere von ihren Gesichtspunkten aus zum Verständnisse dessen zu sagen hat, was jetzt um uns herum vorgeht.

Die Betrachtung, die heute über die Menschenseele in Leben und Tod angestellt sein soll, sie liegt ja zu jeder Zeit als eines der größten Lebensrätsel dem Menschen nahe - in unserer Zeit wohl ganz besonders - wo wir die Frage nach Leben und Tod in so gewaltiger Weise an uns herantreten sehen, wo so Un­zählige von dieser Frage durch die Realität des Daseins intensiv

85

berührt werden, wo wir sehen, daß - gleichsam durch die Tatsachen - die edelsten Söhne des Volkes diese Frage in jeder Stunde ihres Daseins gestellt erhalten. Ich habe in den Vor­trägen, die ich im Verlaufe der Jahre hier halten durfte, öfter darauf aufmerksam gemacht, wie wir in der Zeit stehen, in welcher solche Fragen wie die nach dem Wesen der mensch­lichen Seele, nach dem Schicksal der menschlichen Seele und des Menschen überhaupt und ähnliche Fragen einrücken in eine wissenschaftliche Betrachtungsweise, in eine Betrachtungs­weise, welche durch die Entwickelung jenes anderen wissen­schaftlichen Gebietes gefordert wird, das in den letzten zwei bis vier Jahrhunderten eine so große Vollendung erhalten hat:

des naturwissenschaftlichen Gebietes. Das, was gewußt werden kann über das Seelisch-Geistige, in richtig wissenschaftlicher Weise neben dasjenige hinzustellen, was naturwissenschaftlich für die Menschheit erobert worden ist, das ist öfter hier als die Aufgabe der Geisteswissenschaft bezeichnet worden; und es ist auch gesagt worden, daß es nicht wundernehmen darf, wenn diese geisteswissenschaftliche Betrachtungsweise heute noch von der größten Mehrzahl der Menschen abgelehnt wird. Die­ses Schicksal teilt ja diese geisteswissenschaftliche Betrachtung mit alldem, was neu in die menschliche Geistes- und Kultur-entwickelung eintreten will, und sie teilt es auch mit der Na­turwissenschaft selber, die in der ganz gleichen Weise zu ihrer Zeit aufgetreten ist, die Gegnerschaft über Gegnerschaft ge­funden hat, und die erst beweisen mußte - aber nur durch Jahrhunderte es erst beweisen konnte -, was sie für die Mensch­heitentwickelung zu leisten berufen ist. Allerdings in ganz anderer Weise muß sich geistige Betrachtung zu dem stellen, was wir Wissen und Wissenschaft nennen, als die Naturwis­senschaft. Gerade damit geistige Betrachtung im echten, besten Sinne wissenschaftlich zu nennen ist, muß sie anders vorgehen, muß sie in anderer Weise an den Menschen herankommen als

86

das, was das Wesen naturwissenschaftlicher Betrachtungsweise ausmacht. In der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise wenden wir zuerst den Blick hinaus auf die Tatsachen der Na­tur und des Lebens, und aus der Fülle des Mannigfaltigen, das da auf uns eindritigt, erkennen wir die Gesetze des Lebens. Was durch die Sinne auf uns eindringt, das wird in uns inne­res seelisches Erlebnis, das wird in uns Gedanke, Begriff, Idee, Aber wer fühlte nicht, daß mit diesem Aufsteigen von der vollinhaltlichen Betrachtung der äußeren Mannigfaltigkeit zu der Klarheit - aber auch zu der Abstraktheit - der Ideen und Naturgesetze die Menschenseele mit ihren inneren Erlebnissen sich eigentlich von dem, was man Realität, was man Wirklich­keit nennen könnte, entfernt? Wir haben die volle Fülle der Natur vor uns; wir bemächtigen uns ihrer in der Wissenschaft, aber wir fühlen, wie im Grunde genommen dünn, man könnte sagen wirklichkeitsleer gegenüber der äußeren Wirklichkeit, die Begriffe und Ideen sich darstellen, die für uns die Natur­gesetze enthalten. Und so steigen wir auf von der Fülle der äußeren Wirklichkeit, die uns vor den Sinnen ausgebreitet liegt, zu dem - ich möchte sagen - ätherisch dünnen Seelen­erlebnis, das wir haben, wenn wir uns der Naturgesetze in unserer Ideenwelt bemächtigt haben. Da entfernen wir uns gewissermaßen von der Natur und ihrer Fülle; aber wir stre­ben nach dieser Entfernung, denn wir wissen, daß wir die Natur und ihre Gesetze nur erkennen können, wenn wir uns von ihr entfernen. Das ist das Höchste, das wir anstreben in der Wissenschaft: das innere Seelenerlebnis in den Ideen und Gedanken.

Genau den umgekehrten Weg muß die Geistesforschung einschlagen, wenn sie Wissenschaft sein soll. Dasjenige, was letzte Konsequenz des inneren Erlebens der Wissenschaft in bezug auf die äußere Natur ist, das ist Vorbereitung - ledig­lich Vorbereitung - zu der Erkenntnis des Geistigen, des Seelischen;

87

und es wäre ein völliger Irrtum, wenn man glauben wollte, daß Geisteswissenschaft auf dieselbe Weise vorgehen könnte wie die Naturwissenschaft. Was die Naturwissenschaft als Letztes erstrebt, das ist für die Geisteswissenschaft Vor­bereitung: leben im innern Seelenerlehnis, aufgehen in dem, was die Seele innerlich stark macht und was sie nicht aus der äußeren Natur haben kann. Kurz, Wissen und Wissenschaft kann nur Vorbereitung sein zu dem, wozu man zuletzt konunt:

zum Anschauen, zum Wahrnehmen der geistigen Welt. Man könnte sagen: In der Naturwissenschaft strebt man Wissen und Wissenschaft an; in der Geisteswissenschaft bereitet man sich durch Wissen und Wissenschaft vor zu dem, was an die Seele herankommen soll, und alles, was man an Wissen und Wissenschaft haben kann, bleibt im Grunde genommen in der Geisteswissenschaft eine innere Angelegenheit für die Seele. Aber was die Seele, der Geist durchlebt, das führt nicht zu einem bloß Subjektiven, was nur die Einzelseele des Menschen angeht, sondern es führt zu dem, was real, was wirklich ist, so wie die äußere Natur nur wirklich ist.

Ich habe ja öfter auf die Art und Weise aufmerksam ge­macht, wie diese Vorbereitung zum Anschauen, zum wirk­lichen inneren Erleben der geistigen Wirklichkeit beschaffen ist. Ich will es von einem gewissen Gesichtspunkte aus auch heute wieder tun.

Nur durch diese Vorbereitung hindurch kann man die Seele immer weiter und weiter bringen, so weit bringen, daß sich für sie zuletzt das, was geistige Wirklichkeit ist, um sie herum ausbreitet. Die Natur verlassen wir; die ist da. Wir gehen zum Geiste vorwärts. Die geistige Wirklichkeit müssen wir suchen. Wir können nicht von ihr ausgehen, sie ist zunächst nicht da; wir können uns nur für ihre Anschauung vorbereiten. Wenn wir uns aber, innerlich erlebend, für ihr Anschauen vorberei­ten, dann tritt sie uns wie eine Gnade, aus der geistigen Dämmerung

88

heraus sich breitend, entgegen. Wir müssen uns ihr Anschauen erwerben.

Das Erste, was notwendig ist, um gewissermaßen die mensch­liche Seele in ihrer Wirklichkeit zu erleben, ist ein innerliches

- nicht Aufpassen, nicht Denken bloß, sondern ein innerliches Erleben desjenigen, was wir sonst nur wie einen Widerschein der äußeren Wirklichkeit haben: der Gedankenwelt, der Ge­fühlswelt - dessen, was wir sonst in uns verspüren, wenn wir uns der äußeren Natur gegenüberstellen, und was wir wie ein Abbild der Natur betrachten, wie eine Vorstellung, in die die Natur hineinbegeben ist. Das müssen wir, indem wir den Blick von der äußeren Wirklichkeit völlig abwenden, indem wir uns blind und taub machen gegenüber der äußeren Sinneswirklich­keit, stark und intensiv erleben; so erleben, daß wir es als ein­zige innere Wirklichkeit intensiv anwesend sein lassen in der Seele. Der Naturforscher will ein Naturgesetz als Gedanken aus der äußeren Sinneswirklichkeit herausziehen. Der Geistes-forscher gibt sich einem Gedanken, oder auch einem gefühl­durchdrungenen Gedanken, im inneren Erleben hin; er läßt gleichsam, indem er weder das Auge noch das Ohr in die äußere Wirklichkeit hinaussendet, das innere Durchwebt- und Durchwirktsein der Seele aufsteigen und wendet die inten­sivste Aufmerksamkeit diesem inneren Erleben zu; er vergißt sich und die Welt und lebt nur in dem, was er gleichsam in sei­nem leeren, aber wachen Bewußtsein aus den Tiefen des See­lenlebens heraufsteigen läßt. Und da tritt das Eigentümliche ein: Der Gedanke, dem wir uns in unendlich gesteigerter Auf­merksamkeit durch lange Zeit hindurch hingeben, dieser Ge­danke, je stärker er durch unsere innere Kraft wird, um so schwächer wird er gerade in bezug auf das, was er enthält; er wird immer durchsichtiger und durchsichtiger, wird immer ätherischer und ätherischer. Man könnte sagen: Je stärker sich der Geistesforscher anstrengt, um in dem Gedanken anwesend

89

sein zu lassen, was man innere Gedankenkonzentration nennt, desto mehr schwindet der Inhalt des Gedankens dahin. Je mehr wir uns bemühen, den Gedanken fest, gleichsam sichtbar wer­den zu lassen, wenn wir uns ihm hingeben, desto mehr führt dieses Hingeben dazu, daß er immer mehr und mehr in sich erlöscht, daß er wie in einem Nebel sich auflöst und dann völlig aus dem Bewußtsein entschwinden Man könnte auch sagen, einen Grundsatz dieses inneren Erlebens damit aus­drückend: je mehr der Gedanke in seiner Schärfe in der Seele erlebt wird, je mehr er durch unser eigenes Zutun an Energie gewinnt, desto mehr erstirbt er in der Seele. Gleichsam epi­grammatisch ausgedrückt können wir sagen: Damit der Ge­danke das Ziel der Geistesforschung erreicht, muß er in der Seele sterben; und indem er stirbt, macht er ein inneres Schick­sal durch, macht er das Schicksal durch, das auch der Keim hat, der in die Erde gesenkt wird, um zu verfaulen: aber aus seinem Verfaulen geht die Kraft zu einer neuen Pflanze her­vor. Indem der Gedanke in uns erstirbt in der Gedankenkon­zentration, erwacht er zu einem ganz andersartigen Leben; und nicht eher entdeckt man dieses andersartige Leben, als bis der Gedanke in innerer scharfer Konzentration erstorben ist. Man muß aufhören zu denken, um die Seelenpflanze, das, was aus dem Gedanken hervorgeht, in sich aulkeimen zu lassen.

Und was geht dann aus dem Gedanken hervor?

Es ist in der menschlichen Sprache schwierig auszudrücken, was so aus dem Gedanken hervorgeht, weil ja die menschliche Sprache für die äußeren Sinneserlebnisse geschaffen ist, und nicht schon für die innerlichen Seelenerlebnisse. Man kann da­her in gewisser Beziehung nur andeutend die inneren Erleb­nisse ausdrücken, die in Betracht kommen. - Indem der Ge­danke, energisch gemacht, hinstirbt, erfühlt die Seele innerlich eine aufkeimende Kraft, eine Kraft, derer sie sich bewußt wird und von der sie in dem Augenblick, da sie sich ihrer bewußt

90

wird, weiß: Das ist geistig-seelische Kraft; das ist etwas, was nicht an deinen Leib gebunden ist; etwas, was du in dir trägst, ohne daß du dazu der Vermittelung deines Nervensystemes und deines Gehirnes bedarfst. Aber indem man also nicht den Gedanken, sondern die Kraft des Gedankens erfaßt, entsteht

- wie durch eine innerliche Notwendigkeit - die Frage, die man sich wie mit einem Blitzschlag vorlegt: «Wohin ist der Gedanke gekommen? Er war ja im Grunde genommen du selbst, indem du dich in scharfer Gedankenkonzentration an ihn hingegeben hast. Du lebtest in dem Gedanken, und indem er sich aufgelöst hat und gestorben ist, hat er dich mit sich hinweggetragen. Wo ist er hingekommen? und wo bist du nun angekommen?> - Man muß hier einen Vergleich wählen. So wie wir die Gedanken in uns tragen, die wir uns von der äußeren Natur machen, so wie wir wissen, wir haben die Ge­danken, so nehmen wir unmittelbar einen Zustand in uns wahr, durch den wir uns sagen: Der Gedanke, so wie du ihn gehabt hast, ist in deiner Gedankenkonzentration erstorben; aber er ist dadurch zu einem anderen Leben erwacht - und hat dich mitgenommen. Du wirst jetzt von ihm gedacht in der geistigen Welt!

Das ist ein erschütterndes, großes, ungeheuer bedeutsames Erlebnis im Leben des Geistesforschers, Denn nur so kann man in die geistige Welt aufsteigen, daß man sich von ihr erfaßt fühlt - wie der Gedanke, wenn er lebendig wäre, sich von uns erfaßt fühlen würde. Und nicht anders kann man im Grunde genommen Unsterblichkeit erleben, als daß man durch seine innere Seelenentwickelung zu appellieren vermag an die unsichtbaren geistigen Wesenheiten, die immer über uns wal­ten - so wie die Naturwesen sichtbar um uns walten - und indem wir an unsere Beziehungen zu diesen geistigen Wesen appellieren, die in dem Augenblick, da der Gedanke hin-schwindet, anfangen ihn für sich zu nehmen und uns zu denken.

91

Jetzt beginnt man zu wissen: innerhalb der geistigen Welt sind Wesenheiten, deren Dasein hinausgeht über die bloße Natur; wie wir Menschen mit unsern Gedanken denken, so denken unser geistiges Wesen, so denken den Inhalt unserer Seele diese höheren Genien. Die halten uns, die tragen uns; und dadurch, daß wir in ihnen sind, ist unser über unser leib­liches Dasein hinausgehendes unsterbliches Wesen bedingt. Wir sagen uns durch die Geisteswissenschaft: Können wir uns nicht selber halten im Tode, entfällt uns dasjenige, was wir uns im Dasein zwischen Geburt und Tod als inneres Erleben durch die äußere Natur haben schaffen können, so gehen wir durch die Pforte des Todes durch und sehen dann aus den Ergebnissen der Geisteswissenschaft, daß dasjenige, was an uns unabhängig ist vom Leibe, im Grunde genommen Gedanke von höheren Wesenheiten ist.

Nicht so ist es, daß das, was wir geistige Welt nennen, sich in einer ähnlichen Weise wie die äußere Natur um uns herum ausbreitet - was viele erwarten. Die äußere Natur steht vor uns; wir stehen vor ihr, und wir schauen sie an. Indem wir in die geistige Welt aufsteigen, ist das anders. Da dringt die gei­stige Welt in unser eigenes Erleben, das wir erst umgewandelt haben, hinein; da denken wir nicht über die geistige Welt, da müssen wir innerlich erleben, wie wir gedacht werden. Wir sind gegenüber der geistigen Welt in der gleichen Lage wie unsere Gedanken über die äußere Wirklichkeit gegenüber unse­rer Seele. Das ist im Grunde genommen das Überraschendste gegenüber der äußeren Wirklichkeit. Es ist die Erfahrung der geistigen Wirklichkeit, die umgekehrt ist gegenüber der der sinnlichen Wirklichkeit, daß wir uns sagen: Gegenüber der geistigen Wirklichkeit, wenn wir sie wirklich erfahren, fühlen wir uns so, wie sich die Natur uns gegenüber in der sinnlichen Wirklichkeit fühlen müßte; wir denken nicht über die gei­stigen Wesenheiten; wir erleben, daß wir, wenn wir uns zu

92

ihnen erhoben haben, von ihnen gedacht und gehalten wer-den. Wir werden, wenn man das pedantisch wissenschaftlich ausdrücken will, Objekt der geistigen Welt. Wie wir Subjekt sind gegenüber der äußeren Naturwirklichkeit, so werden wir Objekt gegenüber der geistigen Welt. Und wie die äußere Naturwirklichkeit uns als Objekt gegenübersteht, so erheben wir uns zu einem Erleben der geistigen Wirklichkeit, in wel­chem wir selber Objekt sind; denn die geistige Wirklichkeit tritt uns als Subjekt - oder als eine Vielheit von Subjekten -entgegen.

Dieses innere Erleben wird sehr häufig, aber stets nur von denen, die es nicht kennen und die keinen Willen haben, auf dasselbe einzugehen, als etwas Subjektives hingestellt, als eine rein persönliche Angelegenheit. In gewisser Beziehung ist der Einwand, der damit gemacht wird, ganz richtig. Denn was man auf der ersten Stufe der Geistesforschung kennenlernen kann, hat einen subjektiven Charakter; das trägt eine persön­liche Nuance in all den Kämpfen, den inneren Überwindun­gen, die man dabei durchzumachen hat. Und man kann gegen­über diesen ersten &hritten allerdings berechtigterweise den Einwand machen: Der Forscher hat die Aufgabe, die Grenzen der menschlichen Erkenntnis abzustecken, und er sollte sich bewußt sein, daß dasjenige, was über die allgemeinen Grenzen hinausgeht, die uns durch die äußere Natur gezogen sind, im Grunde genommen nur subjektive Erkenntnis sein kann. Der Einwand ist berechtigt, und keiner wird ihn so sehr anerken­nen wie der Geistesforscher; aber er gilt nur bis zu einer gewissen Etappe, und zwar aus dem Grunde, weil in Wirklich­keit alles, was man bis dahin subjektiv, persönlich durch­machen kann, nur Vorbereitung ist. In dem Augenblick, wo die Vorbereitung genügend ist, tritt uns die objektive geistige Wirklichkeit wie durch eine Gnade, die als Kraft über uns kommt, selbst entgegen. Das, was als Vorbereitung durchgemacht

93

wird, kann im Grunde genommen für die verschie­densten Menschen ganz verschieden sein; wo sie aber zuletzt ankommen, das ist für alle dasselbe. Auch der Einwand wird oft gemacht, daß die Geistesforscher das, was sie mitteilen, gewöhnlich subjektiv gefärbt mitteilen; der eine sagt so, der andere so über die Tatsachen der geistigen Welt aus. Das ist ganz richtig, aber nur deshalb richtig, weil viele nicht das­jenige mitzuteilen wissen, was sich durch die erwähnte Gnade darbietet, sondern weil es noch ihr Persönliches, ihr Subjek­tives ist, was sie mitteilen, weil sie es nicht dahin gebracht haben, den Punkt zu erreichen, wo der Geistesforscher vor einer geistigen Welt ankommt, welche so objektiv vor ihm steht, wie die Naturbilder objektiv vor der Menschenseele auf­treten. Was gegenüber der geisteswissenschaftlichen Forschung eingewendet wird - ich habe das oft hier gesagt -, dessen Be­rechtigung sieht der Geistesforscher selber am allerbesten ein.

Wenn die geistige Welt nach genügender Vorbereitung von dem Geistesforscher erreicht ist, dann weiß sich dieser Geistes­forscher erlebend in einer unsichtbaren, übersinnlichen Welt. Sein Wissen hat aufgehört, für ihn Bedeutung zu haben. Es ist dieses Wissen durchaus in Erleben, in unmittelbarstes Darinnenstehen vollinhaltlich übergegangen. Und nun tritt für den Geistesforscher das ein, was unmittelbare Wahrheit für ihn wird. Er weiß: Jetzt lebst du in der Welt, in welcher du im Verlaufe von vierundzwanzig Stunden immer drinnen bist; du lebst jetzt in der Geistigkeit, in dem seelischen Dasein, in dem du dich sonst stets - aber unbewußt - im Schlafe befin­dest. Man lernt durch die Geistesforschung den Zustand des Schlafes kennen, lernt erkennen, daß in diesem die Menschen-seele wirklich außerhalb ihres Leibes ist, daß sie gleichsam den Leib vor sich hat, wie man sonst nur die Gegenstände der äußeren Natur vor sich hat. Wodurch lernt man das erken­nen? Dadurch, daß man jetzt wirklich in einem Zustande sich

94

befindet, in dem man sonst während des Schlafes ist, nur in ganz entgegengesetzter Weise. Im Schlafe ist es so, daß das Bewußtsein herabgedrückt ist, daß sich Dunkelheit um uns herum ausbreitet. Jetzt aber kann man als Geistesforscher die­sen Zustand anschauen, weil man ihn erlebt - aber nicht un­bewußt, wie im Schlafe, sondern bewußt. Man weiß: Man ist, indem man aus dem Leibe herausgekommen ist - denn man kommt aus dem Leibe bewußt heraus -, innerlich vereint mit der geistigen Welt; naan ist Eins geworden mit der geistigen Welt. - Und jetzt beantwortet sich die Frage: Warum ist denn gewöhnlich die Seele im Schlafe so, daß sie sich ihrer nicht bewußt ist? Warum ist sie außerhalb ihres Leibes in dem dumpfen, finsteren Zustande? Diese Frage beantwortet sich für den Geistesforscher dadurch, daß er jetzt erkennen kann, was durch seine Vorbereitung weggeschafft ist in seinem inne­ren Seelensein, und was da ist für die Seele, wenn sie im Schlafe ist. Denn der Geistesforscher kommt durch seine Vor­bereitung auf einem Kampffelde, auf einem inneren Kampf-felde an, und man kann nur schwer Worte finden, um aus­zudrücken, was mit einer ungeheuren Intensität, mit einer inneren Tragik an den Menschen herankommt, wenn er es dahin bringen will, daß er den Gedanken zum Auslöschen und zum Wiederaufblühen in einer anderen Sphäre bringen kann. Was sich da in der Menschenseele geltend macht, und was wie bis zu einem Zerreißen der menschlichen Seele führen kann, ist, daß dann, wenn man sich nicht gehörig überblickt, eine innere Opposition, eine innere Rebellion gegen das auf­tritt, was man innerlich tut. Denn in dem Augenblick, wo der Gedanke sich innerlich auslöscht, empfindet man: je mehr man sich herauslebt aus seinem eigenen Bewußtsein heraus in das Bewußtsein der unsichtbaren geistigen Wesenheiten, die im Unsichtbaren walten, desto mehr werden auch innere Kräfte wach, die die heftigste Opposition führen gegen dieses

95

Aufsteigen aus einem Bewußtsein heraus in ein anderes. Man fühlt etwas kommen, was nicht will, daß man es tut. Und jenes innerliche Uneinswerden, jenes Sichaufbäumen gegen die eigene Tat wird der tragische innere Kampf, den jede eigent­liche Geistesforschung intensiv auszufechten hat. Alle Worte sind zu schwach, um das, was so durchlebt werden muß, wirk­lich zum Ausdruck zu bringen. Denn wenn man so, sich inner­lich fühlend, gleichsam sich selbst weggenommen fühlt, wenn man sich hinaufgehoben fühlt in eine andere Sphäre, dann macht sich jene Opposition geltend, welche sagt: Und alles, was man mit einem ungeheuren Willen an innerem Tatprotest aufbringen kann, das macht sich geltend wie eine Opposition gegen dieses Aufgehen.

Das nächste ist nun: Herr zu werden über jene innere Oppo­sition, über das, was da aus den Tiefen der Seele hervorgeht. Man muß es erst finden, was die Möglichkeit bietet, um aus diesem Zustande herauszukommen. Wenn man es gefunden hat, dann ist es das Zweite, was zu der Gedankenkonzentration hinzutreten muß, was gleichsam unter dem zweiten größten geistigen Gesetz der Entwickelung der menschlichen Seele steht.

Man fragt sich: Was rebelliert denn eigentlich in dir? Was ist es, was wie ein furchtbarer Rebell sich aufbäumt? Und gerade so, wie man an den Gedanken anknüpft, indem man ihn hat und ihn zum Verschwinden und zum Wiederaufleben in einer anderen Sphäre bringt, so muß man auch jetzt an das anknüpfen, was man schon hat. Und das, was man hat, woran man anknüpfen muß, das ist das, was man das menschliche Schicksal nennen kann. Dieses menschliche Schicksal, es tritt so an uns heran, daß wir seine inneren Schläge - ob im Guten oder Schlimmen - wie von außen an uns herankommend erleben.

96

Wie weit sind wir beim menschlichen Erleben davon entfernt, dasjenige, was das Schicksal ist, als etwas anderes zu nehmen, als was uns «zufällt», was im besten Sinne der «Zu-fall> ist? Aber man kann beginnen, es anders zu nehmen. Und indem man so beginnt, das Schicksal anders zu nehmen, wird man zum Geistesforscher Man kann damit anfangen, sich zu fragen: Was bist du denn eigentlich in bezug auf dein Schick­sal? Man kann in seine Vergangenheit, die man in der Jugend oder in den Jahren, die man bisher durchlebt hat, zuruckblik­ken und das Schicksal überblicken; man kann auf die ein­zelnen Ereignisse dieses Schicksals, soweit man ihrer habhaft werden kann, im rückblickenden Nachforschen schauen, und man kann sich die Frage stellen: Was wärest du denn eigent­lich, wenn dich dieses Schicksal mit all seinen «Zufällen» nicht getroffen hätte? Und wenn man dieser Frage, die jetzt allerdings eine persönliche sein muß, intensiv zu Leibe geht, so merkt man: Wie auch die Schicksalsschläge liegen mögen, ob sie gut oder schlimm sich angelassen haben - was wir jetzt sind, das sind wir durch alle die guten und bösen Schicksals­schläge; wir sind im Grunde genommen nichts anderes als das Ergebnis dieses unseres Schicksals. Man fragt sich: Was bist du denn anderes, als das Ergebnis dieses Schicksals? Hätte dieses oder jenes dich nicht betroffen, so hätte es deine Seele nicht durchschüttelt und durchtüttelt, und so wärest du nicht, was du jetzt bist. Und wenn man dann sein gesamtes Schicksal in dieser Weise überblickt, dann findet man, daß man mit seinem jetzigen Ich und seinem ganzen Erleben im Grunde genommen mit dem Schicksal so zusammenhängt wie die Summe in einer Addition mit den einzelnen Summanden und Addenten. Wie die Summe in einer Addition nichts anderes ist als das, was durch die einzelnen Addenten zusammenfließt, so sind wir im Grunde genommen nichts anderes als die Summe aller guten und bösen Schicksalsschläge, die wir durchgemacht

97

haben, und wir wachsen, indem wir eine solche Be­trachtung anstellen, mit unserem Schicksal zusammen. Das erste Gefühl, dem wir uns dann hingeben können, ist: Du bist Eins mit deinem Schicksal. Und während man sich früher abgesondert hat von seinem Schicksal, während man sich frü­her getrennt hingestellt hat als ein besonderes Ich, fließt jetzt das besondere Ich in den Strom dieser Schicksalsereignisse hin­ein. Aber es fließt so hinein, daß es nicht nur in dem Strom der Gegenwart wie ein Ergebnis dasteht; sondern indem man nach und nach dieses Zusammenfließen erlebt, nimmt das Schicksal unser Ich - das, was wir sind - gleichsam mit. Wir sehen zurück auf den Ablauf der Schicksalsschläge, und wir finden, indem wir auf unser Schicksal sehen, darin unsere eigene Tätigkeit; wir wachsen in das Werden unseres Schick­sals hinein. Wir fühlen uns nicht nur Eins mit unserm Schick­sal, sondern wir wachsen nach und nach so in unser Schicksal hinein, daß wir uns mit dem Schicksal und seiner Tat ver­einigen. Und nun gehört es wieder zu den bedeutsamen, inneren großen Erlebnissen, daß wir uns, auf einen Schick­salsschlag zurückblickend, nicht sagen: er hat uns getroffen, er ist uns durch einen Zufall zugestoßen, sondern daß wir uns sagen: In diesem Schicksal haben wir schon gesteckt; dadurch haben wir uns zu dem erst gemacht, was wir heute sind.

Eine solche Betrachtung kann nicht nur in Gedanken, in Ideen und Vorstellungen angestellt werden. Jeder Schritt sol­cher Betrachtung erfüllt sich mit innerer gefühlsmäßiger, lebensvoller Seelenwirklichkeit. Das Zusammenwachsen mit dem Schicksal wird erlebt; das Ich dehnt sich aus über das Schicksal. Und was sich ausdehnt - man lernt es erkennen als etwas ganz anderes denn Gedanke. Als das andere Seelen-element lernt man es erkennen, das in uns vorhanden ist, als den Willen, der vom Gefühl getragen ist. Den Gedanken füh­len wir, indem er sich konzentriert, ersterben und als eine

98

Kraft aufgehen in einer fremden Geisteswelt, von der wir gleichsam gedacht werden; unser Wille, unser gefühlgetra­gener Wille wächst in die Zeitenweiten zurück, wächst sich aus, so daß er mit unserem Schicksal zusammenfällt, wird im­mer stärker. Indem wir uns mit unserem Schicksale Eins füh­len, erleben wir nicht das Sterben in den Gedanken, sondern ein immer Lebendiger- und Lebendigerwerden des Willens. Während der Wille zunächst in dem einzigen Punkte unserer Gegenwart konzentriert ist, und wir ihn in unsere Taten und Worte ausfließen lassen, dehnt er sich, wie von einem kleinen Keimpunkte, in dem Zeitenstrom zu dem aus, was nach rück­wärts leuchtet, was uns selber gewissermaßen geschaffen hat. Unser Wille - das ist das zweite Gesetz, das hier in Betracht kommt, - indem er sich also hingibt an das Schicksal, sich verliert an das Schicksal, wird innerlich immer stärker und stärker, immer kräftiger und kräftiger. Er geht aus dem Zu­stande, in dem wir ihn sonst immer haben, in einen ganz anderen Zustand über.

Der Gedanke erstirbt, um in einem neuen Dasein wieder aufzuleben. Mit dem Willen stehen wir so da, daß er in einem bestimmten Augenblick tot ist gegenüber unserem Schicksal; er ist tot gegenüber den Zufällen des Schicksals. Leiten wir den Willen in innerer Meditation über unser Schicksal hin, so wird er - indem er sich hinopfert und gleichsam immer ergebener wird gegenüber unserem Schicksal, indem er er­kennt, daß wir in unserem Schicksal selber leben - immer stärker und stärker. Der Gedanke geht über von seiner Stärke zu seinem Ersterben und zum Wiederaufblühen in einer anderen Sphäre; der Wille geht über von seiner Augenblicks-wirkung zu einer ungeheueren Breite, indem er der Träger unseres gesamten Schicksals wird. Und hier ist es, wo das Erleben sich wirklich ausdehnt in ein Gebiet, das dem äußeren Erleben nicht zugänglich ist. Dem äußeren Erleben ist nur

99

zugänglich das Gebiet bis zu den Erlebnissen, wo das Bewußt­sein erwacht ist, wo das äußere Erinnern beginnt: im dritten, vierten Jahre des Menschen. Wenn wir uns aber wirklich mit unserem Willen durchleben, so daß wir unser Schicksal nicht mehr wie ein Fremdes, wie etwas was «draußen> steht, be­trachten, dann bleiben wir auch nicht mehr - und mit der Zeit entwickelt sich dieses innere Erlebnis - mit dem Bewußt­sein der Seele in unserem gegenwärtigen Leben stehen. Dann blicken wir zurück in weite, weite Fernen, blicken zurück in Zustände unserer Seele, welche unserer Geburt - oder Emp­fängnis - vorangegangen sind, blicken hin auf Zeiten, in welchen unsere Seele selbst in der geistigen Welt gelebt hat, bevor sie in das physisch - irdische Dasein hineingetreten ist, schauen zurück auf einen Zustand der Seele, wo sie sich Kräfte vorbereitet hat, um unseren Leib zu ergreifen. Indem wir den Willen also zubereiten, daß wir das Entgegengesetzte von dem durchmachen, was in der Gedankenkonzentration erlebt wird, ergreifen wir unser eigenes, über Geburt und Tod hinaus-liegendes Leben. Wenn wir den Gedanken ergreifen wollen, müssen wir uns losmachen von der äußeren Wirklichkeit, müssen wir für die äußere Sinneswirklichkeit blind und taub werden, müssen uns ganz in uns zurückziehen; dann wird der Gedanke so verwandelt, daß wir selbst gedacht werden von höheren Bewußtseinen. Mit dem Willen müssen wir das Ent­gegengesetzte vornehmen: müssen uns in das verbreiten, was sonst nur außer uns stehend ist. Mit dem Gedanken gehen wir in uns hinein; mit dem Willen gehen wir aus uns heraus, gehen in unser Schicksal hinein und finden durch den Durch­gang durch unser Schicksal den Weg in die geistigen Welten, wo wir der Wirklichkeit unserer Seele nach in der umfassend­sten Wirklichkeit drinnenstehen, in jener Wirklichkeit, die uns auch schon ergriffen hat, bevor wir zum leiblichen Dasein heruntergestiegen sind.

100

Was ich so - scheinbar theoretisch - ausführe, ist nur die Schilderung der inneren Erlebnisse, welche der Geistesforscher durchzumachen hat, um zu der Erkenntnis der geistigen Welt aufzusteigen, um zum Anblick der geistigen Welt zu kom­men. In bezug auf die äußere Natur geht die Natur voraus, und das Wissen folgt nach; in bezug auf die geistige Natur geht das Wissen - das heißt was so verläuft wie ein Wissen -als Vorbereitung voran; der Anblick folgt nach. Und nun er­kennen wir uns in dem, was im Grunde genommen immer in uns lebt, was aber die Menschheit auch wird wissenschaft­lich betrachten müssen, wenn die Kulturentwickelung geistig weitergehen soll; damit aber dies durch die fortschreitenden Kräfte der Entwickelung in das Bewußtsein hereintreten kann, muß das wissenschaftliche Ergreifen dieser Vorgänge voran-gehen. Selbstverständlich - man sollte das gar nicht zu erwäh­nen brauchen - «machen» wir nicht das seelische Erleben, indem wir es so geisteswissenschaftlich erfassen; sondern wir nehmen dasjenige in uns wahr, was immer in uns ist. Aber wie in der Naturerkenntnis das Erleben und die Erkenntnis sich aus dem Anschauen herausentwickelt, so muß sich in der Geisteswissenschaft aus dem Wissen über die geistigen Vor­gänge die Anschauung der geistigen Welt herausentwickeln, wenn die Menschheitentwickelung vorwärts gehen soll. Und was man erkennt, ist dasjenige, was unabhängig ist von dem äußeren physischen Leib, was diesen gleichsam anzieht, indem es aus der geistigen Welt in die physische herabsteigt.

Aber auch im gewöhnlichen Alltagsleben leben wir uns aus dem Leibe heraus, indem wir - aus Gründen, die hier schon öfter erörtert worden sind - abwechselungsweise immer im Laufe von vierundzwanzig Stunden in den Schlafzustand übergehen. Und wenn wir den Schlafzustand betrachten, können wir die Frage aufwerfen: Warum dämpft sich das, was in das geistige Be­wußtsein sonst hereingeht, während des Schlafes ab? Warum

101

ist dann Finsternis um uns herum? Und wir erkennen dann durch Geisteswissenschaft eben in dem Augenblick, wo die Seele sich durch wirkliche Vorbereitung in Gedankenkonzen­tration und Meditation selber kraftvoll ergreift, wie diese Kraft in den Leib hineingeht, und wir erkennen auch, weil wir dann die innere, unsterbliche Kraft erfassen, was sie im gewöhn­lichen Schlaf verdunkelt, was es unmöglich macht, daß man die geistige Wirklichkeit im Schlaf anschaut, wenn man aus dem Leibe heraus ist. Wenn man dies prüft, wenn man die geistige Wirklichkeit anschaut, die sonst verfinstert ist, so merkt man: Da ist in der Seele ein Übermaß von Wunsch vor­handen, ein Überwuchern von Begierden, ein gefühlsmäßiges Durchdrungensein intensivsten Wunschlebens, ein viel stär­keres Wunschleben, als dann vorhanden ist, wenn die Seele wieder in den Leib untertaucht und aufwacht. Und was wünscht die Seele im Schlafe? Das ist durch die geisteswissen­schaftliche Forschung anzuschauen: Im Schlafe begehrt die Seele in intensiver Weise wieder unterzutauchen in den phy­sischen Leib, in das, was sie verlassen hat. Und indem der Wunsch, in den Leib wieder unterzutauchen, in der Seele überwältigend stark ist, löscht dieser Wunsch, wie ein Nebel­gebilde die Klarheit überzieht, für die Seele das aus, was sie sonst, als der geistigen Welt angehörig, wahrnehmen wurde:

das Bewußtsein höherer Wesen und ihr Erleben, ihr - der Seele - Enthaltensein in höheren Wesen - und ihr Enthalten - sein in diesen vor Geburt und Tod. Weil aber die Seele die Kräfte braucht, welche ihr aus der geistigen Welt allein kom­men können, wie der Leib die Kräfte braucht, die aus der Atomenwelt kommen können, so muß sie immer wieder in die geistige Welt untertauchen; weil sie aber immer wünscht, in den Leib unterzutauchen, so bleibt ihr Bewußtsein für die geistigen Vorgänge ausgelöscht, auch dann, wenn sie leibfrei im Schlafe ist. Was der Mensch in seinem Leibe erlebt, das

102

wird er niemals ohne diesen Leib zunächst unmittelbar erleben können. Was er in diesem Leibe erlebt, das ist, daß die geringe Kraft, die er in seiner Seele hat, um das Geistige unmittelbar anzuschauen, überwuchert wird im gewöhnlichen Leben durch die Begierde nach dem Leibe, und daß diese Kraft im Leibe. wo die Seele diese Kraft hat, immer stärker und stärker wird. Die Seele lernt im Leibe Bewußtsein, Selbstbewußtsein zu entwickeln. Das ist das Wesentliche dieses Leibeslebens. Die Seele macht dieses Leben im Leibe durch, nicht wie in einem Kerker, nicht wie eine Gefangenschaft, sondern wie etwas, was ihr zum Gesamterleben notwendig ist. Denn die Seele kann das, was sie sein soll, nur werden, und dieses Erleben geht über von einem dumpfen zu einem hellbewußten. Die bewuß­ten Kräfte aber werden zuerst im Leibe angeregt. Wenn die Seele gleichsam ihre Befriedigung hat, widmet sie sich dem Überschattetwerden von der Bewußtheit. Die Bewußtheit gehr als eine Kraft in sie über. Und dann - das wird ja insbeson­dere durch die Geisteswissenschaft klar -, wenn die Seele im Leibe das «Bewußtwerden» erlebt, dann behält sie das Nach. erlebnis dieses Bewußtseins. Da tritt etwas in Kraft, was höher ist als die gewöhnliche Erinnerung, aber doch ähnlich ist der gewöhnlichen Erinnerung. Wir erinnern uns im Leben durch unser gewöhnliches Gedächtnis an das, was wir an Erlebnis­sen durchgemacht haben; das können wir wieder in die Seele heraufrufen. Was die Seele im Leibe erlebt: diese Aufhellung des Bewußtseins, dieses Durchkraften mit dem Bewußtsein, diese Erinnerung des Selbstbewußtseins, das tritt beim Geistes­forscher - wenn er das durchmacht, wovon ich gesprochen habe -, so auf, daß er in seiner Seele das Erlebte im Leibe an­wesend hat wie in einer Erinnerung. Das müssen wir festhalten.

Der Geistesforscher lebt hinauf in eine geistige, höhere Welt; er wird gleichsam Gedanke höherer Wesenheiten. Aber indem er sich durchdringt mit dem, was die Geistesforschung

103

geben kann, wird das, was sonst Rebellion wird, zu einem solchen inneren Erlebnis, daß er jetzt, indem er sich in die geistige Welt hinauflebt, wie mit einer Erinnerung an sein Leibesleben behaftet bleibt. Jetzt weiß er: dieses Leibesleben gehört doch zu dir. Und jetzt streift sich durch die Erinne­rung, die man sich durch die Ausbreitung über das Schicksal errungen hat, diese Rebellion ab. Man weiß: jetzt ist man nicht dem geistigen Tode in der geistigen Welt ausgesetzt. Denn wie man auch in die Bewußtseine höherer Wesenheiten aufgehen mag: man lebt sich so hinauf, daß die Gedanken zwar erfaßt werden von den höheren Wesenheiten, aber wir in der Kraft des inneren Erlebens bleiben; wir erhalten uns, wir behalten uns, wenn wir uns in die höheren Bewußtseine hinaufleben, wie sich die Gedanken in dem Bewußtsein der höheren Wesenheiten erhalten. Was wir als Erinnerung im Gedächtnis behalten, ist nicht Wirklichkeit, bevor wir es nicht aus dem Gedächtnis heraufholen. Wie es da unten im dump­fen Unterbewußtsein ist, interessiert es zunächst den Men­schen nicht; da hat es keine Realität. Deshalb nannte ich das, als was sie der Geistesforscher dann hat, etwas wie eine höhere Erinnerung, die doch der Erinnerung ähnlich ist. Es ist, wenn wir uns in die Bewaßtseine höherer Wesenheiten hinaufleben, wie wenn alle unsere Gedanken selbständige Wirklichkeit be­hielten, und der Strom unserer Erlebnisse nicht bloß für unser Gedächtnis wie ein Strom ist, der da ist, daß wir ihn in die Erinnerung hinaufziehen, sondern wie wenn die Erlebnisse in ihrer eigenen geistigen Wirklichkeit in ihm schwämmen. So leben wir uns durch das Erlebnis, das angedeutet worden ist, durch die Erinnerungen in eine höhere Welt hinauf, aber diese Erinnerungen sind wir selber, in unserm eigenen Erinnern uns erfassend. Es ist kaum etwas anderes wie ein Gleichnis, aber es drückt den Tatbestand aus, wenn man sagt: Indem die Seele durch Meditation, durch Gedankenkonzentration und durch

104

Willensausgießung über das Schicksal sich weiterentwickelt, wird die Menschenseele etwas für diejenigen Wesenheiten, die sie aufnehmen in ihr Bewußtsein, und die sie halten in den Regionen, in denen sie lebt nach dem Tode und vor der Ge­burt. Aber wie die Gedanken nur ein Dasein haben, das von uns geborgt ist, so leben wir uns hinauf in die «Gedanken-schaft> der höheren Bewußtseine, und indem diese auf uns zurückblicken, blicken sie zurück als auf selbständig geblie­bene Wesenheiten. Indem wir uns in unserm Schicksal er­griffen haben, erhalten wir uns in dem Bewußtsein höherer Wesenheiten.

Alles, was ich so ausdrücke, ist nur das Wissen über den Tatbestand, der für die Seele immer da ist. Denn was der Geistesforscher so erlebt, ist nichts anderes als das Wissen über das, was die Seele erlebt, wenn sie durch die Pforte des Todes über die äußere Realität hinausgeht. Aber wie die äußeren Naturgeschehnisse vor sich gehen, ohne daß wir zu­nächst von ihnen wissen, so geht auch der Tod an uns vor­über und macht die Seele zu dem, wozu er sie machen muß. Aber im Verlaufe der Menschheitsentwickelung muß der Mensch wissen lernen, was der Tod aus der Seele macht; durch die Geisteswissenschaft muß er sich Wissen aneignen über das, was man nennt: den Zugang zu dem Rätsel des Todes. Deshalb hat man das, wozu der Geistesforscher in seiner inneren Seelenentwickelung kommt, mit einem gewissen Recht «ein Hinkommen bis an die Pforte des Todes» genannt. Schon aus der Betrachtung, die über den Schlaf angestellt wurde, zeigt es sich, daß die Menschenseele in dem rein geistigen Dasein «durchdumpft> ist von der Begierde nach dem Leibe. Wenn sie durch die Pforte des Todes geht und sich loslöst von dem Leibe, bleibt sie nicht durchdumpft von dieser Be­gierde. Sondern indem sie sich dem Leibe entzieht, wird sie geheilt von der Begierde nach dem Leibe, es drängt sich die

105

Begierde aus der Seele heraus, und das Zusammensein mit der geistigen Welt lebt sich in der Seele aus. Die Seele lernt sich erleben in der geistigen Welt. Aber sie wäre unselbständig, wenn sie nicht durch den Tod hindurchgegangen wäre. Durch den Tod muß die Seele hindurchgehen, weil er die größte Tatsache, das größte Erlebnis für sie ist. Wie wir durch die Geburt untertauchen müssen in den Leib, so müssen wir aus dem Leib herausgehen, durch den Tod durchgehen, müssen sterben, um durch das Erlebnis des Todes, des Sterbens, uns als ein Selbst in der geistigen Welt zu erfassen. Wir werden zu einer Erinnerung höherer Bewußtseine, indem wir das Gegen­wartsbewußtsein abstreifen, das wir im Leibe haben; und nach dem Tode steht uns das, was uns unser Selbst gibt, in einer anderen Weise gegenüber, als es uns gegenübersteht in der Form unseres Selbstes zwischen Geburt und Tod. Zwischen Geburt und Tod stehen wir so im Leben darinnen, daß wir unser Selbst verlieren, wenn das Bewußtsein herabgedämpft wird, daß wir das verdunkeln, was wir im Schlafe erleben. Gleichzeitigkeit ist vorhanden zwischen uns und unserm Leib, aber auch zwischen uns und unserm Selbstbewußtsein. Nach dem Tode wird das anders. Was im gewöhnlichen Leben zwi­schen Geburt und Tod gleichsam das gewöhnliche räumliche Verhältnis ist zu unserem Raumesleib, das wird nach dem Tode zu einem Verhältnis zu unserm Zeitensein. Nach dem Tode blicken wir zurück auf das, was wir im Leibessein durch­gemacht haben, und in diesem Zurückblicken, in dieser Rück­schau, in diesem Verbundensein mit dem Leibessein fühlen wir unser Selbstbewußtsein, fühlen wir uns als Selbst. Zeitlich wird da das Verhältnis zu unserm Selbst. Indem wir hinblicken auf unsere geistige Umgebung, gehen wir auf in die höheren Wesen, in die wir uns einleben. Wir behalten unsere Selbstän­digkeit, unser volles Selbstbewußtsein nach dem Tode, indem wir mit unseren Erinnerungen untertauchen in das verflossene

106

Leibesleben - so wie wir jeden Tag untertauchen in das Raumes-Sein, um zu unserem Selbstbewußtsein zu kommen.

So geht die Menschenseele durch das volle Erleben durch, welches den Tod mitumfaßt, zu welchem der Tod gehört wie etwas, was notwendig ist; denn zum Selbstbewußtsein in der geistigen Welt gehört das Erleben des Todes in der Sinnes­welt. Darnit können wir zu gleicher Zeit darauf hindeuten

- aber eben nur hindeuten; in den folgenden Vorträgen dieses Winters wird das genauer ausgeführt werden -, wie sich dieses Erlebnis des Todes darstellt. Gewiß: unmittelbar, indem der Mensch durch die Pforte des Todes schreitet, wird er sich dessen unbewußt bleiben, was er erlebt. Aber indem er sich weiter in die geistige Welt einlebt, stärkt er sich mit den Kräften, die ihm aus der geistigen Welt erfließen können, und reinigt sich von den Kräften, welche ihm zwischen Geburt und Tod als Begierde nach dem Leibe das geistige Bewußtsein durchdumpfen; und in diesem innerlichen Sichklären von der Dumpfheit erwächst ihm der Rückblick in das eigene Selbst, und damit erwächst ihm dann auch die Einsicht in die geistige Welt. Es tritt gleichsam das Erlebnis nach dem Tode so auf, daß die Erinnerung an das Todeserlebnis nach und nach erst in der Menschenseele sich ergibt, indem der Mensch nach dem Tode in die geistige Welt eindringt. Dann aber, beim jedesmaligen Rückblicken auf das Erdenleben, ist es für den Menschen so, daß sein Selbstbewußtsein ebenso aufhlüht, wie beim gewöhnlichen Erwachen das Selbstbewußtsein innerhalb der Sinneswelt aufblüht

Dieses, was hier ausgeführt worden ist, man kann es selbst­verständlich nicht äußerlich beweisen. Deshalb ist es für die­jenigen, die sich auf den wahren Beweis von der geistigen Welt nicht einlassen wollen, sehr leicht, Einwendungen zu machen. Wer da fordert, daß die geistige Welt ebenso bewie­sen werden solle wie die Tatsachen der äußeren Naturwissenschaft

107

und ihre Gesetze, und wer dann, wenn das nicht mög­lich ist, der Meinung ist, daß alles Reden über eine geistige Welt nur ein subjektives Reden sei, dem muß erwidert wer­den: So kann die geistige Welt nicht zur Allgemeinheit spre­chen, daß man das Experiment, die Beobachtung macht, die jeder anstellen kann. Deshalb bleibt aber Geisteswissenschaft doch nicht ein bloßes subjektives Gerede, sondern etwas, was für die Allgemeinheit Wert und Bedeutung hat; denn es bestehen die Methoden, die Verrichtungen der Seele, die jeden Menschen dazu führen, wenn er sie durchmacht, in die geistige Welt einzudringen. Wenn daher jemand sagt: «deine geistige Welt ist mir nicht klar; beweise sie mir nach den Methoden der äußeren Naturwissenschaft>, so muß ihm erwidert wer­den: Den Beweis mußt du dir selber holen, indem du das, was auf jede Menschenseele anwendbar ist als die von der Geistes­wissenschaft angegebenen Methoden, auf deine Seele anwendest! Was ich heute nur in allgemeinen prinzipiellen Zügen aus­einandersetzen konnte über den Gedanken, sein Ersterben und sein Wiederaufleben in einer anderen Sphäre, über die Ver­breitung des Willens über das Schicksal, wie er da im einzel­nen wirken muß, das habe ich ausführlicher dargestellt in mei­nem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Wel­ten?>, das jetzt, vielfach umgearbeitet, in neuer Auflage erschie­nen ist; und ich habe auch versucht, es in anderer Weise dar­zustellen in dem Buche «Die Rätsel der Philosophie>, das jetzt als eine zweite Auflage meiner «Welt- und Lebensanschau­ungen im neunzehnten Jahrhundert» erschienen ist mit einem «skizzenhaft dargestellten Ausblick auf eine Anthroposophie> als ein Ergebnis der gesamten geistig-philosophischen Ent­wickelung des Abendlandes.

Noch einmal sei es betont: Geisteswissenschaft gibt nicht etwas, was nicht auch ohne sie da wäre - wie Naturwissen­schaft auch nicht etwas gibt, was nicht ohne sie da wäre. Aber

108

dadurch, daß der Mensch etwas weiß, ist vorausgesetzt, daß die Tatsachen des Wissens erst da sind. Wenn aber die Tat-sachen ins Bewußtsein aufgenommen werden, wird die Geistes­wissenschaft der Menschenseele das geben, was die Seele mit Stärke und Kraft ausrüstet, wie sie es in der Zukunft brauchen wird. Ein Bewußtsein ihres Zusammenhanges mit der gei­stigen Welt hat die Seele gewiß auch in der Vergangenheit gehabt. Aber die Menschheit entwickelt sich weiter und wei­ter. Und zu dem, was die Seele zu ihrer inneren Kraft brau­chen wird, was sie zum Bewußtsein ihrer selbst bringen wird, werden immer mehr die Ergebnisse der geisteswissenschaft­lichen Forschungen gehören, wird gehören eine wirkliche Er­kenntnis der geistigen Welt, der Welt der Seele, die nur durch Forschung vermittelt werden kann, wie die Erkenntnis der Natur auch nur durch Forschung vermittelt werden kann. Durch diese geisteswissenschaftliche Forschung wird der Men­schenseele das vermittelt, was die Erinnerung ausdehnt über den Horizont hinaus, über den sie sonst allein schweifen kann. Das kann heute nur angedeutet werden. Indem der Wille sich ausdehnt über das Schicksal und der Mensch eins wird mit dem Schicksal, und indem der Wille im Menschen zu solcher Stärke heranwächst, daß er ergreift, was Schicksalsschläge im guten und bösen sind, und weiß: das alles habe ich selbst gebildet -, wächst die Erinnerung zuruck über frühere Erleb­nisse, wächst auch in jene Zeiten hinein, welche frühere menschliche Erdenleben darstellen. Nur angedeutet kann das werden, was in späteren Vorträgen ausgeführt werden soll:

Innig zusammenhängend mit der Ausdehnung des Willens über das Schicksal ist die Erkenntnis, daß der Mensch nicht nur ein Erdenleben vollbringt, sondern daß dieses eine Leben das Ergebnis früherer Erdenleben ist, daß diese Zubereitung des Willens des Schicksales in früheren Erdenleben geschehen ist. Und so stellt sich in unserem Bewußtsein dar, daß dasjenige,

109

was wir jetzt mit dem Willen ergreifen, Ursache ist für spätere Erdenleben, in spätere Erdenleben hinüberwirkt.

Gerade in der geistigen Kultur Mitteleuropas sind immer die Etappen hervorgetreten, durch welche hervorragende Führer-geister in ihren Seelen diesen Zusammenhang des mensch­lichen Seelenerlebens mit der geistigen Welt erfaßt haben. Und wenn heute gesagt worden ist: Die Menschenseele kann durch Konzentration des Gedankens diesen Gedanken zum Ersterben und zum Wiederaufleben in einer höheren Welt bringen, dann kann hingewiesen werden auf einen Geist, auf den ich bereits in den früheren Vorträgen aufmerksam machte:

auf Johann Gottlieb Fichte. Geisteswissenschaft hatte er noch nicht. Aber er stand so im deutschen, mitteleuropäischen Gei­stesleben darinnen, daß er aus der Art und Weise, wie er sich in das Geistesleben hineingestellt fand, wie aus einem elemen­taren, impulsiven Bewußtsein heraus die Sicherheit des Drin­nenstehens der menschlichen Seele in der Ewigkeit erschaute. An vielen Stellen seiner Werke hat Fichte ausgesprochen, was ihm herausklang, was er gefühlt hat vom Drinnenstehen der Menschenseele in der Welt eines höheren Bewußtseins; aber man kann vielleicht keine Stelle finden, wo er diesen Zusam­menhang der Menschenseele mit der Ewigkeit intensiver aus­spricht als in seiner Appellation an das Publikum, in welcher er sich gegen die falsche Anschuldigung des Atheismus wehrte. Dort sagt er - indem er wie im Hinblick auf das, was äußere Natur ist, was im Raumesleben entsteht und vergeht, diese äußere Natur als «Du» anspricht, und das Ich, das zum Erfas­sen seiner selbst kommt, als das «Ich> anspricht - dort sagt er die folgenden Worte:

«Du bist wandelbar, nicht ich; alle deine Verwandlungen sind nur mein Schauspiel, und ich werde stets unversehrt über den Trümmern deiner Gestalten schweben. Daß die Kräfte schon jetzt in Wirksamkeit sind, welche die innere Sphäre

110

meiner Tätigkeit, die ich meinen Leib nenne, zerstören sollen, befremdet mich nicht; dieser Leib gehört zu dir, und ist ver­gänglich, wie alles, was zu dir gehört. Aber dieser Leib ist nicht Ich. Ich selbst werde über seinen Trümmern schweben, und seine Auflösung wird mein Schauspiel sein. Daß die Kräfte schon in Wirksaankeit sind, welche meine äußere Sphäre, die erst jetzt angefangen hat, es in den nächsten Punkten zu wer­den -, welche euch, ihr leuchtenden Sonnen alle, und die tau­send mal tausend Weltkörper, die euch umrollen, zerstören werden, kann mich nicht befremden; ihr seid durch eure Ge­burt dem Tode geweiht. Aber wenn unter den Millionen Son­nen, die über meinem Haupte leuchten, die jüngstgeborene ihren letzten Lichtfunken längst wird ausgeströmt haben, dann werde ich noch unversehrt und unverwandelt derselbe sein> der ich jetzt hin; und wenn aus euren Trümmern so viele Male neue Sonnensysteme werden zusammengeströmt sein, als eurer alle sind, ihr über meinem Haupte leuchtende Sonnen, und die jüngste unter allen ihren letzten Lichtfunken längst wird ausgeströmt haben, dann werde ich noch sein, unversehrt und unverwandelt, derselbe, der ich heute bin.>

Diese Überzeugungen werden nicht bloß theoretisch er­kannt; diese Überzeugungen werden erlebt. Und das wollte ich zur Empfindung und zum Gefühl im letzten meiner Vorträge hier bringen, daß gerade das mitteleuropäische, das deutsche Geistesleben dasjenige ist, welches die besten, die schönsten, die energischsten Keime zu diesem Erleben enthält. Daher ist es auch, daß aus diesem Geistesleben selber das Bewußtsein erfließen mag von seiner Bedeutung in der Welt, und daß jetzt, wo in dem äußeren Erleben Mitteleuropas auch dieses Geistesleben vor die Frage nach Sein oder Nichtsein hin-gestellt wird, dieses Geistesleben aus der unmittelbaren Er­kenntnis seiner selbst es wissen kann, wozu es berufen ist, und wie es leben muß, und wie es nicht untergehen darf, weil es

111

notwendig ist, um das Band zu bilden zwischen der Menschen­seele und den Ewigkeiten. Dann fließt insbesondere aus die­sem Geistesleben heraus jenes Bewußtsein, das gleichsam in intensiver Form sieht, wenn man jetzt den Blick hinwendet auf alle - wir dürfen schon sagen - Heldennaturen, die zwi­schen Leben und Tod im Strom der heutigen Ereignisse drin­nenstehen. Wir blicken auf die große Rätselfrage, auf die große Schicksalsfrage, die uns heute aus der Zeitepoche heraus gestellt ist - auch in dieser Form, wie sie uns die heutigen Ereignisse stellen -: auf die Frage nach Leben und Tod. Und indem wir vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft aus hinschauen auf das, was im Menschenleibe lebt, so lebt, daß es sich im Bewußtsein höherer Wesenheiten geborgen wissen darf, daß es als die lebendige, selbständige Erinnerung sich aufbewahrt glauben darf, dann, wenn dieser Leib zerstört wird, - das, was da lebt, das ist es, was uns heute vor die Seele treten muß da, wo wir so viele Leiber hinsinken sehen im Opfer, im großen Opfer der Zeit.

Da fragen wir uns denn: Werden den Zeitereignissen gegen­über, gerade vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft aus betrachtet, die Ereignisse der Seele gleichsam real sich auf­drängen demjenigen, dem der Tod durch die Ereignisse der Zeit abgefordert wird, abgefordert wird zumeist in jungen Jahren? Wir blicken auf zu dem, dem der Tod im Opfer-dienste der Zeit abgefordert wird, wir sehen hin auf das, was wir geisteswissenschaftlich erfassen als ein Seelisches, wie auf ein Maß von Kräften, und wir wissen: Dem, was im Leibe lebt, wird der Lebensfaden abgerissen in blühender Jugend, in einer Zeit, wo die Seelen- und Geisteskräfte noch lange erleben könnten. Aber wahrhaftig, wenn wir diese Geisteskräfte er­kannt haben durch die Geisteswissenschaft, dann wissen wir, daß sie lebendig bleiben, daß sie übergehen in eine geistige Welt, in einen neuen Zusammenhang hinein, wenn sie sich

112

aus dem alten loslösen. Und wenn wir dann denken, wie wir selber Erinnerungen werden und Gedanke werden in höheren Bewußtseinen, dann wird uns gerade dieser heute so tragisch vor das Auge tretende Zeitentod so vieler in einem höheren Lichte erscheinen. So daß wir die Kräfte, die wir vom Leibe genommen sehen, hinaufdringen sehen in höhere Bewußt-seine - und herabschauen sehen diese höheren Bewußtseine auf das physische Erdenleben. Mit ihren gestärkten Kräften haben sie aufgenommen alles, was der Mensch ihnen hin-geopfert hat. Und weil die höheren Bewußtseine es sind, die uns geistig die Nahrung, die Kräfte für die Befruchtung der Seele, die Erhaltungs- und Lebenskräfte bieten, wie die phy­sischen Kräfte uns die physische Nahrung bieten, deshalb kön­nen wir auf diejenigen, welche heute durch die Zeitereignisse mit dem Opfertode in die geistige Welt gehen, hinaufschaiieu als auf etwas, was in der Zukunft stärkend und kräftigend hin­unterschauen wird auf das, was sich auf dem physischen Erden-plane vollzieht. Einen realen, einen wirklichen Sinn bekommt es, wenn gesagt wird: Die Hinopferung auf dem &chlachtfelde bekommt einen Sinn durch die ganze Entwickelung der Mensch­heit. Und erklärlich wird das, was damit gemeint ist, wenn wir wissen: Wie wir als physische Menschen der Natur gegen­überstehen, und sie uns ihre Nahrung gibt, so geben wir uns selber den Geistern und Göttern zur Nahrung; sie selber aber geben uns, was wir brauchen zur Nahrung und zur Kräftigung der Seele. Und wenn junge Kräfte, die auf dem Schiachtfelde sterben oder an den Folgen ihrer Verwundung hinsiechen, den Leib verlassen, dann sind diese jungen Kräfte Erfrischungs­kräfte für die Menschheitevolution der Zukunft.

Dann wird es sehr real, wenn der sich auf dem Schlacht-felde Opfernde von dem Bewußtsein durchdrungen ist, daß er nicht bloß stirbt, sondern in seinem Tode auflebt und leben wird - anders, als wenn er einen anderen Tod gestorben wäre,

113

leben wird für das Heil und für die kräftige Zukunft der Menschheit. Wir blicken auf den Sinn dieser Opfertode hin, indem wir erkennen, wie die Saat gestreut wird für das Ge­deihen der Menschheit in der Zukunft, und indem wir wissen, wie das Bewußtsein den Krieger durchdringen darf, daß er heute seinen Tod, daß er heute sein Verwundetenschicksal er­lebt, daß er aber die Kräfte bewahrt behält, durch welche er in aller Zukunft vereint bleiben wird mit dem, wofür er stirbt.

Aus aller Sentimentalität herausgerissen, in die einfache Wirklichkeit hineingestellt wird das, was sonst so leicht nur symbolisch oder figürlich genommen werden könnte. So stellt sich gerade eine solche geistige Betrachtung, wie wir sie heute angestellt haben über das Leben der Menschenseele im äuße­ren Dasein und auch im übersinnlichen Dasein, wie ich glaube, im rechten Sinne rechte Impulse schaffend, in dasjenige hin­ein, was wir heute als das «Zeitenschicksal» erleben. Und wenn eininal bei einem bedeutsamen geistigen Erlebnis ein Dichter

- Robert Prutz - von den idealen Taten seines Volkes schöne Worte gesprochen hat, so dürfen wir diesen Worten, vom Ge­sichtspunkte der Geisteswissenschaft aus, im Hinblick auf die Zeitereignisse einen noch tieferen Sinn geben. Hinblickend auf das, was die menschliche Seele erlebt im Leben und im Tode, können wir fragen: Welches ist der Sinn der Tode, der Lei­den, die uns jetzt von der Zeit abgefordert werden? Und da dürfen wir heute, noch vertiefend den Sinn der Robert Prutz­schen Worte, jedem, der da mitfühlen, der miterleben wird, was heute die Zeit fordert, sagen, was er - Robert Prutz -einem weniger in die Weltgeschichte einschneidenden Ereig­nis gegenüber sagte:

Es gilt dem kommenden Geschlechte,

Es gilt dem künftgen Morgenrot,

Der Freiheit gilt es und dem Rechte,

Es gilt dem Leben und dem Tod!

DIE SEELEN DER VÖLKER Berlin, 27. November 1914

#G064-1959-SE114 - Aus schicksalstragender Zeit

#TI

DIE SEELEN DER VÖLKER

Berlin, 27. November 1914

#TX

Auch das Thema des heutigen Abends ist aus den Impulsen entsprungen, die unsere Zeit geben kann. In unserer Gegenwart, da so viele Völker miteinander im Kampf liegen, scheint wohl der Seelenblick des Menschen aufgefordert zu sein, auf das hinzuschauen, was an Kräften, an Wesenhaftigkeiten in den einzelnen Völkern lebt; und insofern von diesen Kräften, von diesen Wesenhaftigkeiten in den Völkern als von den Volksseelen gesprochen werden kann, soll heute davon gespro­chen werden.

Nun ist es in unserer Zeit ja schon schwierig im geisteswis­senschaftlichen Sinne, wie es hier geschehen soll, von der Einzel-seele des Menschen zu sprechen, weil der vielfach verbreiteten materialistischen Zeitströmung gegenüber die wirkliche, innere, wahrhaftige Wesenheit der Einzelseele nicht ganz leicht auf­rechtzuerhalten ist, weil diese Wesenhaftigkeit bezweifelt, ge­leugnet wird. Noch ferner als das Leben der Einzelseele aber liegt dem naturalistischen, dem materialistischen Denken - dem­jenigen Denken, das heute vielfach meint, das Seelisch-Geistige in seiner wahren Bedeutung ablehnen zu müssen, weil es auf dem festen Boden der Naturwissenschaft stehen will - noch ferner liegt ihm das, was mit dem Ausdruck Volksseele be­zeichnet werden kann. Soll denn Volksseele etwas anderes sein

- sagt die naturalistische Denkweise - als der Zusammenfluß alles dessen, was sich aus den Einzelseelen heraus kundgibt, was eine gewisse Gemeinschaft von Menschen zusanamenhält,

115

was aber nur einen wirklichen Bestand in den einzelnen mensch­lichen Individuen hat? &hon im ersten Vortrage, den ich mir in diesem Winter zu halten erlaubte, bemerkte ich, daß die großen Ereignisse unserer Zeit, die Hinopferung so vieler Seelen, den Blick doch auf die Volksseelen als auf etwas Reales lenkt. Ob es ihm mehr oder weniger bewußt ist: der welcher sich hinopfert, gefordert von dem Schicksal der Zeit, er ver­steht doch unter seinem Opfer, das er der Volksseele bringt, etwas Reales, etwas Wirkliches, etwas was lebt, was innerliche Wesenhaftigkeit hat. Philosophen selbst unserer, der eigent­lichen geistigen Betrachtung so abgeneigten Zeit, wenn sie tie­fer in die Verhältnisse der Geschichte, in die Verhältnisse des menschlichen Zusammenlebens einzugehen versuchen, können doch nicht vorbeikommen an der Idee einer Gemeinschaft-seele, an der Idee der Volksseele mit anderen Worten. So hat denn Wundt, der Leipziger Philosoph, der jetzt so groß an­gesehen wird und dem man wahrhaftig nicht nachsagen kann, daß er zu einer geisteswissenschaftlichen Betrachtung Neigung habe, doch nicht anders können, als in dem Gemeinschaftgeist etwas Reales zu sehen, dem er einen Organismus, ja sogar eine Persönlichkeit beilegt. Solche Dinge machen aufmerksam, daß der, welcher sich mit philosophischen Dingen beschäftigt, sich doch wenigstens nähern muß dem, was die Geisteswissenschaft gibt, und daß es im Grunde genommen nichts anderes ist als die Unbekanntschaft mit der Geisteswissenschaft, wenn man meint, daß das geistige Leben und die geistige Wirklichkeit nur ein Anhängsel der äußeren Wirklichkeit sei. Einen gewis­sen Organismus sieht auch Wundt in dem, was durch Sprache, Sitte, religiöse Anschauung innerhalb eines Volkes zusammen­lebt, und sogar das sagt er, daß sich darin eine gewisse Persön­lichkeit auslebt. Aber zu einer eigentlichen geisteswissen­schaftlichen Betrachtung hat es die äußere Philosophie bis heute doch nicht gebracht. Dazu ist notwendig, daß man von

116

Grundlagen ausgeht wie die, auf welche im gestrigen Vortrage aufmerksam gemacht worden ist.

Darauf ist hingewiesen worden, daß es eine Entwickelung der menschlichen Seele durch Anspomung innerer Kräfte durch Überwindung innerer Kämpfe gibt, durch die sich die menschliche Seele vorbereitet, um das Geistige, die geistige Welt zu schauen, und wodurch sich die Seele hinauflebt zu der Erfahrung, die dann so ausgedrückt werden muß, daß man sagt: Man erlebt sich innerhalb der geistigen Welt wie einen Gedanken höherer geistiger Wesenheiten; so wie unsere Ge­danken in uns leben, so erlebt man sich durch seelische Ent­wickelung wie einen Gedanken höherer geistiger Wesenheiten. Und darauf ist aufmerksam gemacht worden, wie das, was das eigentliche Geistig-Seelische im Menschen umfaßt, was im gewöhnlichen Schlafe vom Einschlafen bis zum Aufwachen außerhalb des menschlichen Leibes lebt, durch diese seelische Entwickelung durchklärt, durchleuchtet wird; so daß der Mensch sich wirklich in demjenigen drinnen weiß, worin er sonst un­bewußt vom Einschlafen bis zum Aufwachen lebt, daß er da­mit in seinem eigentlichen geistigen Sein und damit in seinem eigentlichen höheren Sein sich lebend weiß, wie er sich sonst mit seinem physischen Dasein in der äußeren Natur weiß. Aber es ist auch aufmerksam gemacht worden, warum der Mensch im dumpfen Schlafesleben seine Seele nicht mit dem Bewußtsein des geistigen Seins durchleuchten kann. Wir haben gesagt, daß ihn vom Einschlafen bis zum Aufwachen die Be­gierde erfüllt, wieder unterzutauchen in seinen physischen Leib; und diese Begierde wirkt wie durchnebelnd, wie durch­trübend dasjenige, was sonst da wäre, wenn die Seele im Schlafe leibfrei geworden ist, um im Schoße der geistigen Welt zu ruhen. Denn man kann sagen: die Geisteswissenschaft begreift, wie die Seele ein Selbständiges, sich leibfrei Wissen-des sein muß, und sie weiß auch, wie die Seele in dem Zustande,

117

in welchen sie jeden Tag mit dem Einschlafen ein­treten kann, von diesem Zustande nichts wissen kann, da ihr Bewußtsein herabgetrübt ist. Aber indem so der Geistesforschet die Eigenart, die Wesenheit der leibfreien menschlichen Seele kennenlernt, lernt er noch in anderer Weise kennen, was es bedeutet: beim Aufwachen wieder unterzutauchen in den menschlichen Leib. Und hier muß eine bedeutsame Erkenntnis der Geisteswissenschaft, ein bedeutsames Resultat der Geistes-forschung ausgesprochen werden.

Der Geistesforscher erlebt bewußt dieses Untertauchen in den physischen Leib. Wie er es dahin bringt, dasjenige in sich bewußt zu erleben, was im Schlafe unbewußt ist, so erlebt er auch die Art, wie die Seele, wenn sie wieder in den Leib untergetaucht ist, in diesem Leib lebt. Und er weiß: wie die Seele im Schlafe in ihrem Bewußtsein getrübt ist, so ist sie, wenn sie untergetaucht ist in den Leib und in diesem lebt, man könnte sagen, wacher, als sie durch ihre eigenen Kräfte sein kann. Wie sie im Schlafe in ihrem Bewußtsein dumpfer ist, als sie durch ihre eigenen Kräfte sein könnte, wegen der in ihr vorhandenen Begierde, so ist sie während des Tageslebens wacher, heller, durchleuchteter, als sie es durch eigene Kraft sein könnte. Durch ihr Untertauchen in den Leib kann sie teil­nehmen an dem, was sie im Leibe erleben kann; aber es gibt dieses Untertauchen ein wacheres Erleben als durch die Kraft, welche sich die Seele selbst mitbringt.

Da zeigt sich dann dem Geistesforscher die Wahrheit des Satzes, daß alles, was uns in der äußeren Welt als bloß phy­sisch entgegentritt, vom Geistigen durchdrungen ist, daß in allem Physischen im Grunde genommen Geistiges lebt. Und wie der Mensch in sein inneres Seelenlicht eindringt, so taucht er unter in seinen Leib und weiß, daß er nicht bloß Leib ist, sondern daß er durchgeistigt und durchseelt ist; und in dem Seelenhaften, das er wahrnimmt, indem er in seinen Leib

118

untertaucht, ist das, was ein wirkliches - nicht nur persön­liches, sondern was ein überpersönliches Geistesleben führt, was wir nicht antreffen, wenn wir in demjenigen aufleben, was wir zwischen Einschlafen und Aufwachen durchleben, in welchem wir aber aufleben, wenn wir in den Leib untertau­chen. Wir treffen in unserem Leib unter vielem andern Gei­stigen dasjenige an, was Volksseele genannt werden kann. Diese Volksseele durchgeistigt, durchseelt unsern Leib. Mit unserm Leib ist uns nicht nur körperliche Materialität ge­geben; sondern mit unserm Leib, den wir zwischen Geburt und Tod als unser Werkzeug benutzen, ist uns auch das ge­geben, was unsern Leib durchseelt, und was nicht einerlei ist mit unserer eigenen persönlichen Seele. Was sich mit unserer eigenen persönlichen Seele vereinigt, indem wir in den Leib untertauchen, das ist das, was Volksgeist, Volksseele ist. Wir verlassen gewissermaßen jedesmal mit dem Einschlafen auch die Wohnstätte der Volksseele, der wir angehören. - Der Gei­stesforscher - ich habe öfter darauf aufmerksam gemacht -fürchtet sich nicht vor dem Vorwurf des Dualismus, welcher dem widersprechen würde, wenn er darauf auf­merksam macht, daß der Mensch eine Zweiheit ist, daß er sich jedesmal beim Einschlafen aus einer Einheit in eine Zweiheit spaltet; gerade so wenig fürchtet er sich davor, wie der Che­miker sich vor dem Vorwurfe des Dualismus fürchten würde wenn er von dem Wasser sagt: es besteht aus Wasserstoff und Sauerstoff. In den Menschen, insofern wir sie als äußere phy­sische Gestalten betrachten, lebt nicht nur die einzelne Seele, die von Leben zu Leben geht, die in wiederholten Erdenleben sich immer wieder verkörpert; sondern in dem, was als phy­sische Gestalten herumgeht, lebt noch anderes Seelisches, leben die wirklichen, von Bewußtsein durchdrungenen Volksseelen. Nur sind die Volksseelen in anderer Art von Bewußtsein durchdrungen als die einzelnen Menschenseelen; und damit

119

wir uns eine Vorstellung machen können, wie andersartig diese Volksseele ist, sei in folgender Weise darauf aufmerksam gemacht.

Der Mensch steht, indem er sich der äußeren Wirklichkeit gegenübersieht, ihr so gegenüber, daß er je nach seiner ganzen Charakteranlage, je nach der ganzen Nuancierung seines See­lenlebens sich entweder in der Beobachtung der Dinge gleich­sam hingegeben hat an das Gegenständliche der Außenwelt, oder er lebt so, daß er wenig Neigung hat, den Blick über den Horizont der Außenwelt zu lenken, daß er mehr mit dem, was in der eigenen Seele lebt, was dort auf- und abwogt, zusam­menleben will. Dieser Gegensatz tritt uns ja entgegen, wenn wir unsern Blick auf Goethe und Schiller richten. Goethes Denken, das man ein «gegenständliches» mit Recht genannt hat, ruht auf den Dingen, verbreitet sich über die Dinge; das lebt so, daß Goethe mit den Dingen lebt und gleichsam ihre Geistigkeit einatmet, wie eine geistige Atemluft. Schillers Blick war so, daß er weniger auf den Umkreis der Dinge gerichtet, sondern mehr der Seele selbst zugekehrt war, dem, was da innerlich pulst, auf- und abwogt. Das, was durch die Geschichte hinlebt als Volksseele, das ist so geartet, daß für diese Volks-seele nicht die Außenwelt da ist, die für die einzelne Menschen-seele da ist. Wie für uns die Dinge in der Natur ringshenim da sind, so sind wir selber für die Volksseele da. Unsere See­len, die immer beim Aufwachen in die Leiber einziehen, sind gleichsam die Beobachtungsobjekte der in uns einziehenden Volksseele, wie die Gegenstände der Natur unsere Beobach­tungsobjekte sind. Indem wir in den Leib untertauchen, wer­den wir - man kann nicht sagen - erblickt, aber willensmäßig durchpulst von der Kraft und Tätigkeit der Volksseele. Die Volksseele richtet sich auf uns.

Aber nun kann der Unterschied eintreten, daß sich die Volksseele mehr auf das richtet, was in den Leib einzieht als

120

in die individuelle Menschenseele. Es kann gleichsam - wie ich es an dem Beispiel der individuellen Menschenseele bei Goethe klargemacht habe in bezug auf die Natur - der Wil­lensimpuls der Volksseele in uns mehr die Einzelseele ergrei­fen, kann mehr sich hingeben der Einzelseele; oder es kann die Volksseele mehr in sich leben, wie ich es an Schiller erläu­tert habe, kann mehr dem leben, was sie als ihr eigenes Gut mit Hilfe der menschlichen Leiblichkeit erleben kann. So sehen wir ein Persönlichkeitsbewußtsein in der Volksseele, für das gleichsam unsere Seelen das sind, was die Natur für uns ist. -Noch manches andere könnte in Anlehnung an gewisse Eigen­tümlichkeiten der menschlichen Seele über die Volksseelen und ihre Eigenartigkeiten gesagt werden. Aber man wird be­greifen: so wie die einzelnen menschlichen Seelen mannigfal­tig verschieden sind, sich mannigfaltig verschieden zur Welt verhalten, je nachdem mehr oder weniger der Blick nach innen oder nach außen der Seele eingeprägt ist, so werden sich auch die Volksseelen in verschiedener Weise zu den Menschenseelen die sie in den Völkern umfassen, verhalten können. Und die Art und Weise, wie sich die Volksseelen zu den einzelnen Menschenseelen verhalten, das gibt den Verlauf der Geschichte gibt den Verlauf dessen, was eigentlich geschieht. So nuaneie­ren sich die Volksseelen, so leben sie unsichtbar in dem, was wir menschliche Geschichte nennen. Und ich möchte nun

- wenigstens für einige wirklich reale Volksseelen - darzustel­len versuchen, was die Geistesforschung über das Wesen der Volksseelen zu sagen hat. Diejenigen der Zuhörer, welche die für engere Kreise berechneten Vorträge gehört haben, werden wissen, daß eine solche Darstellung nicht erst durch den gro­ßen Moment der Zeit herausgefordert ist, sondern daß ich diese Dinge immer in der gleichen Weise als Ergebnis der Geistesforschung über die Volksseelen vorgebracht habe - viele Jahre hindurch, bevor die Impulse der gegenwärtigen Zeit die

121

Seelen neuerdings hinlenken, das, was in den Völkern lebt, genauer ins Auge zu fassen.

Wenn wir die Volksseelen betrachten, wie sie sich in der Geschichte ausleben, so könnten wir weit in der Menschheits­entwickelung zurückgehen, so wie diese Menschheitsentwicke­jung durch die Geistesforschung enthüllt wird. Wir wollen nur bis zu dem Punkte in der Weltentwickelung der Mensch­heit zurückgehen, der gewissermaßen das, was uns heute am meisten interessieren wird, für die Gegenwart noch aufzuhel­len geeignet ist. Eine besondere Art der Volksseele können wir verfolgen, wenn wir bis in das alte ägyptische Leben zurück­gehen, das verwandt war mit dem alten chaldäisch-babylonisch­assyrischen Leben, zu jenem Leben, welches dem griechischen, dem römischen Leben in der Menschheitsentwickelung voran-gegangen ist. Der Geistesforscher spricht nun von wirklichen Volksseelen, die sich in dem, was ägyptisch-chaldäisch-assyrisch­babylonisches Leben war, so auslebten, wie sich im mensch­lichen Körper die individuelle Seele auslebt. Nicht nur sym­bolisch spricht man davon, daß diese Volksseelen Organismus und Persönlichkeit haben; sondern so wahr im einzelnen menschlichen Leibe eine persönliche, selbstbewußte Seele sich auslebt, so wahr lebt sich in dem, was sich geschichtlich in den Ereignissen innerhalb der Völker vollzieht, eine im Über­sinnlichen erfaßbare, wirklich selbstbewußte Volksseele aus in der Art, wie es angegeben ist; so daß man bewußt in diese Volksseelen untertaucht, wenn man die Seele für die Bewußt­heit vorbereitet, so wie es gestern angegeben worden ist.

Das Eigenartige nun der Volksseelen, die dem ägyptischen, dem babylonisch-assyrisch-chaldäischen Leben zugrunde lagen, ist, daß diese Seelen in hohem Maße - wie es höchstens nur noch annähernd im asiatischen, afrikanischen Volksleben vor­handen ist - ein eigenes Leben führten, so daß man sagen kann, daß sich die Volksseelen wenig den individuellen Einzelseelen

122

der Menschen hingaben. Die individuelle Einzelseele der Menschen, indem sie ihr Leibesleben führte, identifizierte sich in einer gewissen Auslöschung der Individualität mit dem was die Volksseele war. Die Volksseele lebte sich viel mehr aus in dem, was die Menschen vollbrachten, als sich die ein­zelnen Menschen ausleben konnten. Und das bedingt das Eigen­artige der ägyptischen und der chaldäisch-babylonisch-assyri­schen Kultur.

Von den Volksseelen zeigt die Geisteswissenschaft, daß sie, weil sie im Unsichtbaren leben, verwandt sind mit aller Gei­stigkeit, die alle Materialität durchzieht. Indem sich der Mensch in der neueren Zeit mehr in seine Seele zurückgezogen hat, ist ihm die Natur erst der andere Pol dazu geworden, das, was wie «entseelt» dasteht, was sich ihm nicht überall als von Geist und Seele durchzogen zeigt. Wenn der alte Agypter, wenn der alte Chaldäer die Welt ansah, dann sah er noch in einem viel höheren Maße, als das später der Fall sein konnte, in dem Gang der Gestirne, in der Bewegung der Himmelskörper, auch in den Bewegungen, die sich in Wolken und Wasser abspielen, in dem Entstehen des Landes aus dem wäßrigen Elemente heraus - überall sah er den Ausdruck für das Geistige im Materiellen. So wie der Mensch, wenn er einem andern ins Gesicht blickt, in den Bewegungen und Veränderungen des Gesichtes den Ausdtuck der Seele sieht, so sah der in der geschilderten Weise mit seiner Volksseele vereinigte Ägypter und Chaldäer in dem, was man heute «astrologisches» An­sehen der Welt nennt, ein Ergebnis davon, wie aus allem Äußeren, aus allem Materiellen die Physiognomie des Innern, des Geistigen spricht. So wurde der Himmel, so wurde die ganze Welt durchseelt; oder vielmehr, indem die Volksseele noch in dem Menschen sprach, sah dieser durch alle Gesten der Natur, durch alle äußere Physiognomie der Natur hin­durch ein Geistiges.

123

Darin gerade bestand nun der innere Fortschritt der Mensch­heit, daß im Laufe der Zeit an Stelle des Wirkens der ägypti­schen und der chaldäischen Volksseele die griechische und die römische Volksseele traten. Die griechische, die römische Volks­seele unterscheiden sich von der ägyptischen und chaldäischen dadurch, daß sie weniger mit sich selbst beschäftigt sind, daß sie sich liebevoll hingeben der menschlichen Individualität. So dämmert zum ersten Male in dem Griechentum das auf, was man charakterisieren kann als eine Bewahrung der mensch­lichen Individualität, auch wenn diese in den Schoß der Volks­seele untertaucht; und ein Ergebnis dieser besonderen Be­ziehung der Einzelseele zur Volksseele ist alles das, was an Größe in der Kunst, in der Dichtung, in der Philosophie die griechische Volksseele hervorgebracht hat.

Ich muß nun, damit diese Betrachtung völlig verständiich sein kann, kurz einen Blick einschalten auf die einzelne menschliche Seele. Die Geisteswissenschaft ist schon einmal nicht in der Lage, sich diese menschliche Seele so primitiv, so einfach vorzustellen, wie dies die äußere Wissenschaft tut. Für den Geistesforscher ist die menschliche Seele zwar eine leben­dige Einheit, die sich im Ich-Leben auslebt. Aber so wahr wie das Licht durch das Prisma sich gleichsam in verschiedene Far­ben gliedert - vom Rot, Gelb durch das Grün zum Blau, Vio­lett hin -, so gliedert sich im Menschen durch das Zusunen­leben mit der äußeren Wirklichkeit, die gleichsam das «Prisma» der Menschenseele ist, das einheitliche Seelenleben der Men­schen in drei - man möchte sagen - hauptsächlichste Äuße­rungen. Diese bezeichnet man in der Geisteswissenschaft als Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und als Be­wußtseinsseele. Es ist leicht, kinderleicht, über solche Gliede­rung der Menschenseele zu spotten, vom System jener Wissen­schaft her zu spotten, die da glaubt, auf dem wahren Boden echter Wissenschaftlichkeit zu stehen. Aber ebenso wahr wie

124

man zur Erkenntnis des Lichtes nicht kommen kann, ohne das Licht im Verhältnis zur Materie des Prismas zu betrachten und es sich spalten zu sehen in die ganze Skala der Regen­bogenfarben, ebensowenig kommt man zur Erkenntnis der einzelnen Seele, wenn man nicht das Seelenlicht sich spalten sieht im Verkehr mit der Außenwelt in die einzelnen Strahlen des Seelenlichtes: in den Strahl der Empfindungsseele, in den-jenigen der Verstandes- oder Gemütsseele und in den der Be­wußtseinsseele. Schauen wir auf die Empfindungsseele, so müs­sen wir sagen: die Seele entwickelt sich als Empfindungsseele, wenn sie mehr in ihrem Innern lebt, wenn gleichsam ihre eigenen Seelenkräfte, auch wenn sie im Leibe leben, sich von der Außenwelt loszulösen versuchen. Wie bei dem durch das Prisma zerlegten Licht das stärkere Licht im Gelb-Roten lebt, so lebt die Seele in der Empfindungsseele ein stärkeres Seelen-leben aus. Die Bewußtseinsseele dagegen lebt sich so aus, wie sich das Licht auslebt da, wo es am meisten geschwächt wird, wo es der Finsternis ähnlich wird: im Blau-Violett. So lebt sich die Bewußtseinsseele in den Erlebnissen aus, welche mehr sich loslösen von dem seelischen Innenleben, welche mehr dasjenige erleben, was ihnen der Körper durch seine Kräfte und Eigen­tümlichkeiten geben kann. Und zwischen beiden, zwischen der Bewußtseinsseele und der Empfindungsseele, die eigentlich das seelische Leben mit seinen Trieben, Instinkten, Leidenschaften und Impulsen in sich hat, unberührt von der Bewußtseinsseele, die ganz und gar waltet in ihrer Gebundenheit an den Leib -, zwischen beiden lebt die Verstandes- oder Gemütsseele, lebt ein Leben, welches sich zum gesamten Seelenleben etwa so verhält, wie sich das zwischen dem Rot und Violett stehende Grün verhält auf der einen Seite zu dem Rot-Gelben und zu dem Blau-Violetten auf der andern Seite. Wie der Physiker nicht hinter die Natur des Lichtes kommen kann, ohne das Licht in seine Farben auseinanderzulegen, so kann der geisteswissenschaftliche

125

Forscher nicht zur Erkenntnis des mensch­lichen Seelenlebens kommen, wenn er es nicht in die einzelnen prismatischen Strahlen der Empfindungsseele, der Verstandes-oder Gemütsseele und der Bewußtseinsseele auseinanderlegt.

Dieses Auseinanderlegen des Seelenlebens in die einzelnen Strahlen lebt sich aber nicht überall, an allen Orten, in der gleichen Weise aus. Und hier muß wieder darauf aufmerksam gemacht werden, daß der Mensch nicht überall über die Erde hin in gleicher Weise von Leben zu Leben geht. Es ist schon öfter hier gesagt worden, daß die Seelen, welche heute erschie­nen sind, auch in ihren früheren Leben durchgemacht haben zum Beispiel die ägyptisch-chaldäisch-babylonische Zeit und die griechisch-römische Zeit, und so Gelegenheit gehabt haben, die verschiedenen früheren Kulturen zu durchleben. Aber innerhalb des geschichtlichen Werdens lebt sich die Menschen-seele nicht überall in der gleichen Weise aus. Sondern man muß sagen: das Ausleben der Seele hängt davon ab, wie die Seele, wenn sie in den Leib untertaucht, zu den Ansprüchen stehen kann, wie sie zum Beispiel die Volksseele macht. Eine solche Volksseele, wie sie zum Beispiel im alten Agypterturn, im alten Chaldäertum vorhanden war, die ist besonders gün­stig der Entwickelung der menschlichen Empfindungsseele; so daß wir eigentlich das kraftvollste Ausleben der Empfindungs­seele bei den menschlichen Individualitäten innerhalb der alten ägyptischen, der alten chaldäisch-babylonischen Zeit haben. Die besondere Art, wie diese Volksseelen in sich beharrten und den Leib zubereiteten, war so, daß sie den Leib durchdrangen mit ihrer Wesenheit, so daß bei jenen Völkern durch die Ras­senkonstitution des Leibes die Seele nach der Nuance der Emp­findungsseele sich ausleben konnte. So sehen wir, wie das kräf­tigste, das intensivste Ausleben der menschlichen Individualität in der Empfindungsseele unter dem Einfluß der ägyptischen, der chaldäischen Volksseele geschieht.

126

Wenn wir in der geschichtlichen Entwickelung nun herauf­steigen zur griechischen und dann zur römischen Kulturent­wickelung, die einander in gewisser Beziehung ähnlich sind obwohl sie in anderer Weise Gegensätze sind, so finden wir, daß sie der einzelnen Menschenseele gestatten, insbesondere das zur Ausbildung zu bringen, was man die Verstandes- oder Gemütsseele nennt. Das Leben der Verstandes- oder Gemüts-seele lebt sich dar in der griechischen Kunst und Dichtung, lebt sich dar im römischen Rechtsleben als in dem, was nicht von der einzelnen Individualität abhängig ist, sondern von dem Hereinleben der Volksseele in die griechischen und römischen Leiber zustande gekommen ist. So haben wir im Grunde ge­nommen in historischer Zeit drei, durch die Volksseelen scharf voneinander getrennte Entwickelungsgebiete der Geschichte:

wir haben die Arbeit der ägyptischen, der chaldäischen Volks­seele so, daß die Menschenseelen, welche damals von neuem in Leibern erschienen, besondere Gelegenheit hatten, ihre Emp­findungsseelen auszubilden; im griechischen und römischen Leben sind die Volksseelen so geartet, daß die einzelnen menschlichen Individualitäten ihre Verstandes- oder Gemüts-seele zum Ausleben bringen konnten; und jetzt leben wir in einer Zeit - aus der Geistesforschung ergibt sich als der Be­ginn dieser Zeit das fünfzehnte, sechzehnte Jahrhundert -, in welcher die Menschheitsentwickelung Gelegenheit hat, beson­ders die Bewußtseinsseele auszuleben. Das Ausleben dieser Be­wußtseinsseele wird durch die Volksseelen der Gegenwart besonders begünstigt. Aber diese Zeit, welche die unsrige ist, muß uns besonders interessieren. Denn im allgemeinen hat unser Zeitalter die Aufgabe, die Bewußtseinsseele auszubilden. Das heißt, die Volksseelen stellen sich die Aufgabe, die Leiber so zu durchdringen, daß die Seele, indem sie in dem Leib lebt, durch diesen die Möglichkeit hat, sich an den Leib zu binden, daß sie den Leib möglichst als ein der Seele dienendes Werkzeug

127

benutzt. Daher ist unsere Zeit diejenige, welche die äußere Wissenschaft, die äußere Beobachtung ausbilden konnte. Weil in dem Zeitalter der Ausbildung der Bewußtseinsseele in viel höherem Maße, als es früher der Fall war, die Seele an den Leib gebunden ist, entstand in unserem Zeitalter der Drang und die Neigung, die äußere Sinneswirklichkeit zu beobachten, mit welcher der Leib durch die Sinne zusammen­hängt; es entstand der Drang, Wissenschaften, Kulturströmun­gen zu begründen, die vorzugsweise auf das Zusanamenleben der Seele mit dem Leibe abzielen. Man durchschaut als Gei­stesforscher als ein Berechtigtes der neueren Zeit die Entwicke­lung der Bewußtseinsseele, das Heraufkommen des Materialis­mus, das Hinausschauen durch den Leib in die Welt der Sin­nesdinge und der Sinnestatsachen. Wiederum aber ist das, was so, ich möchte sagen, als die Hauptfarbe ausgegossen ist über das Leben der modernen Völker, nuanciert. Und die Nuancen werden dargestellt durch das Leben der einzelnen Volksseelen dieser neueren Zeit. Hier ist es nun interessant, vom Gesichts­punkte der Geisteswissenschaft aus wenigstens einige dieser Volksseelen einmal vor den Seelenblick hinzustellen.

Da haben wir, wenn wir ein Beispiel wählen wollen, die Volksseelen der südlichen Völker: die italienische, die spa­nische Volksseele. Indem der Geistesforscher sich in das zu versenken versucht, was das Wesen der italienischen, der spa­nischen Volksseele ist, dieser wirklichen, lebendigen Wesen­heiten, ist er gezwungen, Rücksicht zu nehmen auf ein Gesetz der Weltentwickelung, das in der äußeren Wissenschaft wenig bekannt ist und wenig geschätzt wird. Gestern aber ist auf die­ses Gesetz von einem andern Gesichtspunkte aus schon hin­gewiesen worden. Es ist gesagt worden: wenn der Mensch durch die Pforte des Todes gegangen ist, also im Grunde genommen in die übersinnliche Welt eingetreten ist, und in den höheren Wesenheiten auflebt. dann steht er in bezug auf

128

das, was er im Leibe erlebt hat, zu diesen übermächtigen Wesenheiten so, wie er hier zu seinen Erinnerungen gestanden ist. Er blickt zurück zu seiner leiblichen Verkörperung, und das gibt ihm , wie ihm im Leibesleben morgens beim Aufwachen das Untertauchen in den physischen Leib Selbstbewußtsein gibt. So sehen wir, wenn wir in die geistige Welt aufsteigen, wie für den Zeitenlauf ein ähnliches Verhältnis eintritt, wie es zwischen Seele und Leib für die Raumeswelt vorhanden ist. Mit unserm Leib sind wir räum­lich verbunden: für unsere Seele stellt sich ein Verhältnis her­aus, das zeitlich ist. Wir leben, wenn wir geistig geworden sind, nachdem wir durch die Pforte des Todes gegangen sind, mit unseren Erinnerungen zusammen. Dieses Zusanamenleben mit den Erinnerungen im Geistigen ist dasselbe wie das Zu­sanamenleben des Leiblichen mit dem Seelischen im Physischen. Das führt uns zu dem Gesetz der Periodizirät im Geistigen. Was wir selbst durchmachen, indem wir uns zum Geistigen erheben, ist Gesetz für die geistigen Welten. Die geistigen Wesenheiten erleben nicht nur jene Aufeinanderfolge im rhyth­mischen Verlauf, die wir erleben zwischen Schlafen und Wa­chen, sondern sie erleben verschiedene Bewußtseinszustände innerer Erlebnisse in der Periodizität der Zeiten. Dann nur versteht min das Walten der Volksseelen, wenn man auf die­ses Gesetz wirklich in entsprechender Weise reflektieren kann. Studiert der Geistesforscher zum Beispiel die italienische Volks­seele - bei der spanischen ist es ähnlich -, dann erscheint ihm da etwas, was mit seinem Bewußtsein zurückblickr in die alte ägyptisch-chaldäische Zeit. Wie der Mensch sein Bewußtsein, sein Selbstbewußtsein im physischen Dasein angefacht erhält durch das Untertauchen in den Leib, wie er sein Selbstbewußt­sein nach dem Tode durch den Rückblick auf seine Erden-erlebnisse erhält, so besteht ein Wechselverhältnis zwischen dem, was als Volksseelentum im italienischen Volke auftaucht,

129

mit dem ägyptisch-chaldäischen Volksgeist. Der italienische Volksgeist blickt zurück auf seine Erlebnisse als ägyptisch­chaldäischer Volksgeist; er taucht mit seiner Seelenwesenheit unter in den ägyptisch-chaldaischen Volksgeist, wie wir beim Aufwachen in den Leib untertauchen, wenn wir unser Selbst­bewußtsein erhalten. Das Gesetz der Periodizität herrscht, rhythmisch abgestuft, in der Folge zwischen dem, was im alten ägyptisch-chaldäischen Leben der Volksgeist bewirkte, und was der Volksgeist im Italienert'im auslebt, bis in unsere Gegenwart herein. Was die Geisteswissenschaft, rein aus der Geistesforschung heraus, auf diese Weise ableitet, das bewahr­heitet sich - man möchte sagen - bis in alle Einzelheiten, wenn man den Blick auf die Art richtet, wie sich der Volks­geist auslebt, in den jede einzelne Menschenseele eingebettet ist.

Aber die Zeit ist fortgeschritten. Der Volksgeist hat nicht die Eigentümlichkeiten behalten, wie er sie im alten ägyptisch­chaldäischen Leben hatte. Im Laufe der Entwickelung - darauf ist schon aufmerksam gemacht worden - hat sich die Seele verinnerlicht; daher tritt ihr die Natur jetzt als etwas ent­gegen, was ihr nicht mehr in derselben Weise durchgeistigt erscheint wie in der ägyptisch-chaldäischen Zeit. Was die Seele im alten Agyptertum, im alten Chaldäertum unter dem Einfluß der Volksseele erleben konnte, das erlebt wie in einem Wiederaufleben desselben Volksgeistes die italienische Volks­seele - aber verinnerlicht. Und wie könnte uns das klarer zu-tage treten, als wenn wir hinblicken auf eine der größten Schöpfungen des italienischen Geisteslebens? Müssen wir nicht vermuten, daß eine solche Schöpfung, wie sie sich im Ägypter­tuine herausstellt als die Anschauung der Himmelskörper drau­ßen in der Welt, uns im italienischen Leben wieder entgegen-tritt, nur mehr verinnerlicht, mehr seelisch, mehr hereingenom­men in die menschliche Individualität? Das müssen wir ver­muten in der Geisteswissenschaft; die Wirklichkeit bietet es

130

uns dar in Dantes . Was der Ägypter als Durchgeistigung der ganzen Welt geschaut hat, Dante schafft es wieder, aber jetzt verinnerlicht. Das alte Volksseelen­tum lebt wieder auf, erlebt eine Erinnerung an frühere Zeiten In dem Zusanamenwirken seelischer Wesenheiten im ägyptisch­chaldaischen Volksgeist und im italienischen Volksgeist sehen wir, wie sich abspielt das innerliche Überpersönlichkeitsbewußt-sein der Volksseele. Ein Wiederaufleben, eine Art rhythmi­scher Wiederholung des alten ägyptischen Volksgeistes ist die italienische Volksseele. Und dieses Aufleben ist nun wieder, wenn auch in verinnerlichter Weise, besonders günstig der Empfindungsseele der einzelnen menschlichen Individualität, die im Schoße dieser Volksseele lebt. Wie während der ägyp­tisch-chaldäischen Zeit die Empfindungsseele sich besonders unter der Gunst der Volksseele entwickeln konnte, so erlebt sich erneut als Empfindungsseele, aber jetzt verinnerlicht mit einer neuen Farbennuance, die Seele in der italienischen Volks­seele. Und so sehen wir die Volksseele darlebend, daß sie bei denjenigen Menschenindividualitäten, auf die sie gerichtet ist, wie die Menschenseele auf die Natur gerichtet ist, hervorruft alle Kräfte der Empfindungsseele. Man wird alles, was Italien an großartigen Schöpfungen hervorgebracht hat, die in der menschlichen Empfindungsseele wurzeln, begreifen, wenn man weiß, wie die Volksseele in dem italienischen Leibe wirkt. Man wird bis in die Einzelheiten hinab das Wirken Raffaels, das Wirken Michelangelos begreifen, insofern ihr Wirken aus dem Wirken der Volksseele heraus ist, wenn man weiß, welche Nuance die einzelne menschliche Seele einnehmen muß unter dem Einfluß der Volksseele. Empfindungsseelenkultur ist die italienische Kultur unter dem Einfluß der Volksseele.

So hat jede Volksseelenkultur ihre besondere Mission; so wird ihr auferlegt, gleichsam mit besonderer Intensität, mit besonderer Durchkräftigung eine besondere Nuance des Seelenlebens

131

zum Ausleben zu bringen. Das hat nichts zu tun mit der Entwickelung der einzelnen individuellen Seele. Aber die volksqualität, in die sich die einzelne Seele zu einer gewissen Zeit einlebt, stellt sich so dar, daß sie mit besonderer Intensi­tät eine besondere Farbe des Seelenlebens zur Entwickelung bringt.

Ebenso wie - ich bitte das, was ich auseinanderzusetzen habe, ganz ohne die Gefühle von Sympathie und Antipathie, rein als wissenschaftliche Darstellungen anzusehen -, ebenso wie in der italienischen Volksseele die alte ägyptisch-chal­däische Volksseele auflebt und ausprägt, was sie früher schon ausgeprägt hat, nämlich den Empfindungsseelencharakter, so lebt sich in der französischen Volksseele das alte Griechentum aus, nuanciert durch das Römertum. Nur lebt sich das Grie­chentum in einer solchen Form aus, daß die Seele, welche im Schoße des französischen Volkes als individuelle Seele lebt, weniger das Leibliche durchdringt, sich freier von dem Leib­lichen macht, als es während der griechischen Zeit der Fall war. Und wie die griechische Volksseele besonders günstig war dem Ausleben der Verstandes- oder Gemütsseele, so wird beim Wiederaufleben des Griechentuins in der französischen Volksseele wieder besonders die Verstandes- oder Gemütsseele gepflegt. Nun aber ist es so, daß der innere Bewußtseins-zustand dieser Volksseele darauf beraht, daß eine Art Erinne­rung im Bewußtsein der französischen Volksseele sich abspielt, die zurückblickt auf das, was in der griechischen, in der römi­schen Volksseele durchgemacht worden ist. Es ist schwierig, aber wirklich für den wahren Verlauf der Geschichte von un­endlicher Wichtigkeit, in dieser Weise auf die innere Struktur und die Eigentümlichkeit dessen hinzublicken, was sich im Volksseelengemüt, im Volksseelenbewußtsein abspielt. Ver­standes- oder Gemütsseele - das ist dasjenige, was insbeson­dere der französischen Volksseele eigen ist. Im Griechentum

132

hat sie in der Losgerissenheit vom Leibe diesen noch als äußere Schönheit geformt, als Seelisches, was uns noch im Körper­lichen erscheint. Bei der Verinnerlichung im Franzosentum et­scheint diese Volksseele uns in anderer Form. Nicht mehr geht dasjenige, was Volkstum ist, unsnittelbar über in Leibesform in Raumesform, wie beim Griechen in seiner Plastik, sondern es lebt sich aus in einem ätherisierten Leibe, der ein Gedanken-leib nur bleibt, der nur innerlich vorgestellt wird. Darauf be­ruht im Grunde genommen der ganze Grundcharakter der fran­zösischen Volksseele. Sie nimmt die menschlichen individuel­len Seelen so in ihren Schoß auf, daß sich diese gezwungen fühlen, ihre inneren Kräfte so zu entwickeln, daß sich diese in der Außenwelt kräftig vorstellen. Wie stellt man sich in der Außenwelt kräftig vor? Wenn der Volksgeist nicht, wie es im Griechentum der Fall war, plastisch ausleben kann, was vom Geist in den Leib übergeht, dann kommt es zum bloßen Bilde dessen, was der Mensch in seiner Phantasie ausgestaltet von dem, was als Geist im Leibe ist. Daher kann die französische Volksseele sich nur ein innerliches Bild vom Menschen machen ist geeignet, auf dasjenige am meisten zu geben, was man von sich ausmalt in der Welt, als was man sich vorstellt, was man sein will in der Welt: das, was man immer genannt hat seine Gloire, was man von sich selber in seiner Phantasie trägt.

Das ist der Grundcharakter des Franzosentums aus seiner Volksseele heraus. Daher kommt es diesem Franzosentum dar­auf an, diese Vorstellung der Welt aufzudrängen, was die Volksseele in der Phantasie des einzelnen Geistes geschaffen hat. So arbeitet die Verstandes- oder Gemütsseele in Bildern, die sie sich in der einzelnen Individualität macht. Wir dürfen daher vermuten, daß die besondere Größe dessen, was die Ein­zelseele unter dem Einfluß der Volksseele sein kann, sich in demjenigen zeigt, wo die Volksseele ganz besonders in der Verstandes- oder Gemütsseele zur Entwickelung kommen kann.

133

Sie lebt sich ganz besonders aus in den Schöpfungen der ein­zelnen menschlichen Seelen, die für sie die Werkzeuge sind, wo das von dem Verstande belebte Gemüt sich in die Erschei­nungen der Welt vertieft. Das vom Verstande belebte Gemüt hat die Tendenz, die Eigentümlichkeit, sich frei zu machen und frei zu schalten. Das wi?d sich besonders zeigen auf dem Ge­biete, wo man frei schaltet mit dem Verstande, mit dem Ge­müt. Daher erscheint die französische Kultur auf ihrer Höhe, wo dies besonders der Fall sein kann: auf der einen Seite in Moliére, auf der anderen Seite in Voltaire - in Voltaire der von dem Gemüt durchsetzte trockene Verstand, in Moliére das von dem Verstand getragene Gemüt. Da erscheint uns eine Volksseele in ihrer besonderen Charakteristik, wo wir hin-blicken auf Äußerungen dieser Volksseele, die ihr unmittelbar so entsprechen, daß sie das geben, was die einzelne individuelle Seele als ihre Farbe herausentwickeln kann. Und wie bei alle­dem die ganze französische Kultur etwas ist wie eine Rück­erinnerung an das Griechentum, das kann derjenige hinläng­lich studieren, der sich ein wenig einläßt auf den inneren Ver­lauf der französischen Kultur.

Sehen wir uns in dieser Beziehung die französischen Dich­ter an als die Nuancierung der französischen Volksseele, so finden wir überall, daß die Volksseele - nicht der einzelne Franzose - zaückblickt auf das Griechentum. In dem, was der einzelne Franzose tut und dichtet und denkt, kommt dieses Zurücksehen auf das Griechentum zum Ausdruck. So sehen sie zurück, daß immer gefragt wird: Was haben die Griechen ge­tan, um ein richtiges Drama zustande zu bringen? Was hat Aristoteles darüber gesagt, wie ein richtiges Drama beschaffen sein muß? Da entstehen die Diskussionen über die Einheit­lichkeit des Dramas in Ort und Zeit. Das wirkt sogar noch auf Lessing zurück. Das Drama will man so machen, daß es dem Ideale des griechischen Dramas entspricht. - Und man

134

möchte sagen: was die Geistesforschung wirklich erfühlt, das zeigt sich bis in die einzeinsten Nuancen hinein. Der Grieche sprach von dem Griechen - wenn er also von sich sprach -eigentlich so, daß er vollbewußt sich selber eigentlich als den Repräsentanten der Menschheit hinstellte. Alle andern waren für den Griechen «Barbaren». Das hatte für den Griechen eine besondere Berechtigung, weil er im idealen Sinne die Durch­dringungen des Geistes in der äußeren Form hatte. Aber das lebt nun auf in der Rückerinnerung in der französischen Volksseele. Da taucht es wieder auf; aber weil es eine «Erin­nerung> ist, und nicht jede Erinnerung ihre Berechtigung hat

- denn es taucht auch manche Erinnerung auf, die nicht mehr ihre volle Berechtigung hat -, so wirkt es jetzt deplaciert. Bis zu dem Scheltworte «Barbaren», das jetzt in aller Welt Munde ist, sehen wir so das Wiederaufleben des Griechentums in der französischen Volksseele.

Wie nun die französische Volksseele besonders die Pflege der Verstandes- oder Gemütsseelenkultur begünstigt, so ist es die britische Volksseele, der in der neueren Zeit die besondere Aufgabe übertragen ist, die Bewußtseinsseele als solche zu pfle­gen. Die Ausbildung der Bewußtseinsseele tritt in der Mensch­heitsentwickelung als etwas ein, was keine Wiederholung ist. Der italienische Volksgeist wiederholt, in anderer Art, die Er­lebnisse des ägyptisch-chaldäischen Volksgeistes; der franzö­sische Volksgeist wiederholt ebenso den griechisch-römischen. Der britische Volksgeist dagegen tritt als etwas Junges, als etwas Neues in die neuzeitliche Entwickelung ein, und er ist im schärfsten Maße der Ausdruck der neueren Zeit, insofern dieselbe zeigt, wie die Seele auch einmal jenes Stadium durch­machen muß, wo sie sich innig durchdringt mit dem Leibes-leben. Der britische Volksgeist ist so geartet, daß er das Zu­sammensein mit dem Leibe am allermeisten begünstigt; daher begünstigt er auch das, was durch den Leib vermittelt wird

135

und was insbesondere durch den Leib in die Seele hereinkom­men kann. Und mit dieser Mission der Pflege det Bewußt­seinsseele hängt zusanamen die Mission des Materialismus, die einmal in die Menschheitsentwickelung hereintreten mußte. Man kann sagen, daß dem britischen Volksgeist übertragen ist, den Materialismus besonders zum Ausdruck zu bringen. Die einzelne Menschenseele ist davon mehr oder weniger unab­hängig, aber Volksseelencharakter ist es. Wir werden gleich noch auf die Eigentümlichkeit der britischen Volksseele zurück­komatsen; wir müssen aber, um zu beleuchten, was zu den Auf­gaben der Volksseelen gehört, einen Blick werfen auf die­jenige Volksseele, die in Mitteleuropa waltet, die man die deutsche Volksseele nennt. - Es ist vielleicht nützlich, hervor­zuheben: was ich jetzt sage, das sage ich nicht erst jetzt, wo es vielleicht unter dem Einfluß der kriegerischen Ereignisse ent­standen sein kann, sondern was ich jetzt sagen will, das habe ich schon immer gesagt.

Die deutsche Volksseele, der deutsche Volksgeist ist beson­ders geeignet, nun weder die Empfindungsseele noch die Ver­standes- oder Gemütsseele noch die Bewußtseinsseele in der einzelnen Nuancierung herauszuheben; sondern die deutsche Volksseele ist besonders geeignet, dasjenige zum Ausdruck zu bringen, was man nennen könnte die Einheit der Seele, die in allen drei Seelengliedern lebt. Ich sage das wahrhaftig nicht, um irgendeinem Volke ein Lob zu erteilen; sondern ich sage es ohne Sympathie und Antipathie, in aller Objektivität, weil es die geisteswissenschaftliche Forschung so ergibt - wie es das Experiment mit dem Prisma ergibt, wenn sich das Licht im Roten oder Grünen offenbart. Es ist eine objektive Tat­sache: wie die italienische Volksseele die Empfindungsseele, die französische Volksseele die Verstandes- oder Gemütsseele, die britische Volksseele die Bewußtseinsseele begünstigt, so begünstigt die deutsche Volksseele das Ich des Menschen, das

136

heißt dasjenige, was sich als der individuelle Seelenkern des Menschen in seinem Erdenleben auslebt, was sich vereinigt und liebevoll untertaucht in den Leib beim Aufwachen, und was sich wieder lostiacht von dem Leibesleben mit dem Ein-schlafen; was sein will Freund und Pfleger dessen, was uns in der äußeren Welt entgegentritt, was aber auch sein will Freund und Pfleger dessen, was sich zum Geiste erhebt. Daher konnte ich im ersten Vortrage sagen: Die deutsche Volksseele ist das, was dem einzelnen Individuum, der einzelnen Seele am mei­sten die Möglichkeit gibt, unterzutauchen in alle Tiefen des Ich, wo man suchen kann, was Menschenherzen bewegt, was Menschenherzen schmerzt oder in Seligkeiten führt. Damit hängt zusanamen, wie diese deutsche Volksseele leicht mißver­standen werden kann; damit hängt das zusammen, was eigentlich begreiflich sein kann: daß man in der Gegenwart überall ein solches Mißverständnis demjenigen entgegenbringt, was diese deutsche Volksseele eigentlich ist, die nicht - wie die britische Volksseele - sich auslebt in dem äußeren Leibe, die nicht un­mittelbar sich der Mission des Materialismus hingibt, weil das gar nicht ihrer Natur entsprechen kann; sondern die auf der einen Seite ebenso in die Betrachtung der äußeren materiellen Welt hineingeht, der sie sich nicht entzieht, wie sie sich auf der anderen Seite der Betrachtung des Geistes hingibt, um aus jenen Tiefen heraus zu schöpfen, aus denen der Meister Eck-hart, Jakob Böhme, Goethe, Fichte geschöpft haben - was aus der geistigen Welt heraus geschöpft werden kann wie im Zwie­gespräch mit derselben, wenn man abgewandt ist von der äuße­ren Welt und mit sich allein ist. Daher kann gesagt werden:

Wenn auch die individuellen Seelen, die in die anderen Volks-seelen eingebettet sind, wenn sie von dem Volksseelentuin ab­gewandt sind, in dasjenige eintauchen können, was der Geist ist, so ist schon durch sein Volksseelentum der deutsche Geist immerzu fähig, in die geistigen Regionen erhoben zu werden.

137

Herauswachsen müssen erst die Seelen der anderen Völker aus dem Volksseelentum, wenn sie sich zur Zwiesprache mit der geistigen Welt erheben wollen; das Volksseelentum selber aber enthält die Töne des Geistes, kündet vom Geiste, indem es spricht mit der individuellen Einzelseele der mirteleuropäischen Bevölkerung. Und weil sich Volksseelen in charakteristischen Erscheinungen äußern, weil sie uns entgegentreten da, wo sie Menschen durchdringen, Menschen sich zu Werkzeugen aus­ersehen, um etwas Charakteristisches hervorzubringen, so kön­nen wir daran das Wesen des Volksseelentums besonders stu­dieren. Gleichsam wie Bestätigungen erscheint uns, wenn wir den Fortgang des Volksseelentums verfolgen, dasjenige, worin sich als in charakteristischen Symptomen die Kräfte der Volks-seelen äußern. Und man kann gewiß das Charakteristische der Volksseelen dann studieren, wenn man die einzelnen Volks-seelen auf ihrer Höhe betrachtet.

Nun besteht wohl kaum ein Zweifel, daß uns für die bri­tische Volksseele als eine charakteristische Äußerung, als eine ihrer größten Erscheinungen das eigenartige Werk Shake­speares, der «Hamlet», vorliegt; und daß uns für die deutsche Volksseele als das Ergebnis der intimsten Zwiesprache eines Deutschen mit dem deutschen Volksgeist Goethes «Faust» vorliegt. Welch ein charakteristischer Unterschied zwischen Shakespeares Wie tritt uns der Hamlet entgegen?

Wir haben gesagt, es sei die Mission des britischen Volks-geistes, die Bewußtseinsseele, die gebunden ist an die äußere Leiblichkeir, in die äußere geschichtliche Entwickelung einzuführen.

138

In der letzten Zeit sind von mir erschienen « Die Rät­sel der Philosophie> als zweite Auflage meiner «Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert». Vor vier­zehn, fünfzehn Jahren sind diese letzteren schon erschienen; jetzt sind sie wesentlich erweitert über die ganze abendlän­dische Philosophie hin. Damals, beim ersten Erscheinen, ver­suchte iCh, als ich die englische Philosophie darstellte, einen charakteristischen Ausdruck zu finden, ein Wort, welches die englische Philosophie ganz besonders charakterisiert; und es ergab sich mir damals als ein charakteristischer Ausdruck für die englische Philosophie der, daß sie eine Zuschauerphilo­sophie ist. Zuschauer wird man - besonders bei John Stuart Mill ist das auseinandergesetzt - dadurch, daß man mit seiner Seele sich in den Leib hineinsenkt, und von dem Leibe aus die Welt sich abspielen läßt. Man vergleiche damit die Fich­tesche Philosophie: sie ist keine Zuschauerphilosophie; sie ist eine «Lebensphilosophie>, etwas was nicht dem Leben zu­schaut, sondern sich Eins macht mit dem Leben. Das ist der kolossale Unterschied der deutschen von der englischen Philo­sophie; und das ganze Wirken der britischen Volksseele ist so, daß sie den Menschen zum Zuschauer macht, weil sie ihn insbesondere in der Ausbildung der Bewußtseinsseele, zum Zuschauen, begünstigt. Der Mensch ist da, indem er die Be­wußtseinsseele besonders ausgebildet hat, außerhalb der Er­scheinungen; er schaut sie an, wie man durch den Leib die Erscheinungen anschauen kann. - Darin ist nun Shakespeare besonders groß, daß er - fern, wie der objektive Beobachter dem Leben gegenübersteht - so den Erscheinungen des Lebens gegenübersteht und das Leben so schildert, daß wir sehen:

er schildert es als Zuschauer und beschreibt das, was er mit dem objektiven Blick von außen erlebt. «Zuschauerweltanschau­ung», aus der Volksseele heraus! Wahr ist es: wenn der indi­viduelle menschliche Geist - dieser Bewußtseinsseelen - Geist -

139

mit dieser besonderen Eigentümlichkeit, die er aus der Volks­seele erhält, an das menschliche Innere herangeht, dann sieht er das Äußere, wie es sich abspielt. An das Innere kommt er nicht heran! Besonders charakteristisch muß es sein, daß er nicht herankommt an das Innere. Er ist groß in der Darstel­lung dessen, wo sich das äußere Leben abspielt, und gigantisch groß ist darin Shakespeare. Aber wo es darauf ankommt, durch die äußere Physiognomie auf das Innere zu schauen, da kommt das heraus, was der Zuschauerstandpunkt gibt. Da sehen wir denn, wie - aus dem britischen Volksgeiste heraus in künst­lerischer Größe dargestellt - dieser Zuschauerstandpunkt gegenüber dem Inneren so dasteht, wie der Zweifler an dem Geist, der Skeptiker dasteht. Daher ist es keine Herabwürdi­gung Shakespeares, wenn man sagt, daß der Geist dasteht wie etwas Gespensterhaftes. Da sehen wir, wie das Geistige er­scheint im Äußeren: gespensterhaft. Man beachte, wie der Geist von Hamlas Vater erscheint: er erscheint eigentlich nicht wie ein Geist, sondern wie ein Gespenst. Dar Ge­spenstergläubige ist ja im Grunde genommen ein spiritueller Materialist; er möchte den Geist so sehen wie der Mate­rialist, welcher von dem Geist verlangt, er müsse vor ihm irgendwie in dünner Materie auftreten. So sehen wir im Hamlet den Geist von Hamlets Vater in solcher Gespenster­haftigkeit auftreten. Das kommt in der Verwirrung über das Auftreten des Geistes zum Ausdruck. Aber wie der materia­listische Geist nur bis zum Gespenst sich erheben kann, so kommt ihm überhaupt die ganze Geisterlehre in Verwirrung. Daher sehen wir, daß, während vorher alle den Geist gesehen haben, zum Beispiel im Gespräch mit der Mutter, Hamlet allein den Geist sieht. Einmal ist der Geist eine objektive Erscheinung, dann wieder ist er ein bloß subjektives Gespenst. Und nun blickt dieser Zuschauermensch hin auf das, was innerlich sein soll, - Hamlet soll ja ein Charakter sein, der auf

140

das hinblickt, was in der äußeren Welt vorgeht, - und wir empfangen nun von Hamlet jenen großen klassischen Mono­log, in welchem an die Geisteswelt die Frage gestellt wird:

Sein oder Nichtsein? was folgt da nach dem Tode? Erst Wa­chen, dann schlafen, Bilder, Träume; dann wieder der Zweifel:

es ist noch kein Wanderer zurückgekehrt aus diesem Iiiunde, in das wir mit dem Tode gehen - alles ganz in der Art, wie der inaterialistische Geist vorgeht, wenn er sich vertiefen will in die Geisterwelt - und es nicht kann. Deshalb ist es, daß alle die, welche, idealistisch oder sonstwie geartet, nicht recht heranwollen an den Geist, eine innere Verwandtschaft mit der Hamletnatur fühlen. Herman Grimm sagt daher einmal - für viele ganz mit Recht -, daß die Menschen, wenn sie sich zu tief in die Fragen über ihren eigenen geistigen Zustand ver­senken, sich wie am Rande eines Abgrundes fühlen und ver­spüren, daß sie, wie Hamlet, sich in den Abgrund hinunter-stürzen müßten. - So antwortet der, welcher wie Shakespeare von der Volksseele inspiriert ist, aber mit seiner Seele so aus ihr herauswächst, daß er die Vergeistigtheit der Volksseele dar­stellen will; so antwortet er aus der Volksseele heraus, daß er den Charakter des Hamlet so vor uns hinstellt, daß die Brücke zur geistigen Welt doch abgebrochen ist und daß der Abgrund zwischen Hamlet und der geistigen Welt erfüllt ist durch Ungewißheit über Ungewißheit. Selbst da, wo in einer hohen künstlerischen Vollendung, die in ihrer Art von ihr selbst sonst nie erreicht ist, die britische Volksseele zu uns spricht, zeigt sie ihre Mission, das Äußere zu beobachten und stehenzubleiben vor dem Abgrund des Übersinnlichen.

Und wir schreiten herüber, um an einer einzelnen Erschei­nung das Hervorstechende der Vertiefung der deutschen Volks­seele zu charakterisieren, die insbesondere dem Leben des Ich, der Einheit der Seele günstig ist - wir schreiten herüber zu Goethes Faust. Fühlt sich da die Seele auch am Rande des

141

Abgrundes, in den sie hineinstürzen müßte? Nein! Da tritt uns entgegen Faust, für den gar kein Zweifel ist an der geistigen Welt, sondern der, sich heraussehnend aus aller sinnlichen und geschichtlichen Wirklichkeit, die er durchgemacht hat, geistig

- Auge in Auge - dem Geiste gegenübersteht, dem der Geist erscheint, und für den gar kein Zweifel ist, daß der Mensch, der sich in die Rätselfragen des Daseins versenkt, nicht zu-grunde gehen kann, sondern über den Abgrund hinüber die Vereinigung mit dem Geist finden muß. Und nun vergleiche man das ganze Schwanken, das Stehen Hamlets am Abgrunde, wie es sich ausdrückt in dem großen Monolog «Sein oder Nichtsein» mit der Frage an die Geisterwelt «schlafen, träu­men?» - man vergleiche es mit dem, wozu Faust im ersten Teile der Dichtung kommt, wo er dem Geiste gegenübersteht:

Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles,

Warum ich bat. Du hast mir nicht umsonst

Dein Angesicht im Feuer zugewendet.

und dann:

Dann führst du mich zur sichern Höhle, zeigst

Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust

Geheime, tiefe Wunder öffnen sich.

Das ist Vereinigung mit dem Geist! In solcher Vereinigung, in solcher Anschauung des Geistes hat die Frage: ob Schlafen oder Träumen? keinen Platz, sondern allein, was im zweiten Teile der Dichtung heraustritt, das völlige geisterfüllte Hinein-dringen des Faust in die geistige Welt, und die Sicherheit, die zu gewinnen ist, daß der menschliche Geist, wenn er durch die Todespforte schreitet, sich mit der geistigen Welt ver­einigt. Da besteht nicht die ungewisse Frage über Sein oder Nichtsein; da ist die Sicherheit, daß die Seele in dieser Welt hier schon Bürger der geistigen Welt ist, und daß sie, wenn

142

sie durch die Pforte des Todes geht, Seelenauge in Seelenauge gegenübersteht dem erhabenen Geist, der uns, wenn wir uns im Leben genügend in ihn vertiefen, alles gibt, worum wir ihn bitten. Da ist aber auch keine gespensterhafte Anschauung der Geisterwelt, denn an der Szene in der Hexenküche sehen wir, wie das Gespensterwesen mit Humor, mit der nötigen Ironie behandelt wird. Da ist der Geist, der dem Faust gegen­übertritt, Mephistopheles, nicht gespensterhaft, sondern so ge­dacht, daß man ihn nicht anders darstellen kann, als indem man ihm menschliche Gestalt gibt. Wie unsinnig wäre es, wenn der Geist, wie bei Hamlets Vater, nur für den Einen sichtbar wäre oder einmal zu sehen wäre und dann wieder nicht! Das rührt davon her, daß wir im Faust auf sicherem Boden stehen.

Solche Gestalten wie diejenige des Faust, sie leben sich aus dem Volksgeist, aus der Volksseele heraus. Der Mensch hat ja im Goetheschen Faust nur ein Abbild von dem, was eigent­lich geschehen ist. Aber indem Goethe seinen Faust geschaf­fen hat, war die ganze Volksseele tätig; sie schuf sich in dem Buche, schuf nicht nur etwas, was in Goethe lebte, sondern was lebendig ist im Geistigen. Und Goethes Faust ist nur ein Abbild von einem Geschöpfe der deutschen Volksseele, die im Geistigen schwebt, und die nur erst im Anfange ihres Wir­kens ist, wovon Goethe sehr wohl wußte. Es ist uns Faust das, wovon wir wissen, daß es ein Abbild ist einer unversieglichen Kraft und Wesenheit, die der Zukunft entgegenlebt. Und so wahr Goethe den Faust als einen Keim geschaffen hat, so wahr ruht in der deutschen Volksseele Kraft, Keimeskraft, die immer weiter wirkt und werden muß, wie auch Faust uns erscheint als einer, der immer streben muß, bei dem alles Streben erst ein Anfang ist.

Um auf das Charakteristische des deutschen Volksgeistes hinzuweisen, sei noch eine Eigentümlichkeit desselben erwähnt.

143

Ich sagte: wenn wir den französischen Volksgeist be­ttachten, so sehen wir, wie er eine Rückerinnerung an das alte Griechentum ist. Diese Rückerinnerung ist etwas, was man gleichsam wie auf jeder Seite der französischen Kultur sehen könnte, aber was unter der Schwelle des Bewußtseins tätig ist, was nicht ins Bewußtsein hereindringt. Der französische Volks­geist formt die einzelne Seele so, wie sie sein muß unter dem Einfluß dieser Rückerinnerung; aber das kommt nicht ins Bewußtsein herein. Wirkt er auf die einzelne Menschenseele so, daß das Ich den Ich-Charakter trägt, dann muß - da man nur mit dem Ich Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemüts-seele und Bewußtseinsseele zusammenfassen kann - dasjenige, was sich als Zusanamenklang der einzelnen Seelenglieder aus-lebt, ins Bewußtsein hereintreten, während das Wesen der Erinnerung ein solches ist, daß es den Volksgeist mit früheren Kulturzeiten zusammenbindet. Wir sehen, wie in einer ganz anderen Weise als beim Franzosentum, in einer sehr merk­würdigen Weise das Griechentum in den deutschen Volks­geist hereintritt. Will die Griechenheit da, wo eine besonders charakteristische Stelle ist, in den deutschen Volksgeist hinein­treten, und soll durch das Hereintreten das einzelne Indi­viduum beeinflußt werden, dann muß sich das bewußt ab­spielen, was sich im Franzosentum nur unterbewußt vollziehen kann und dort nur als eine künstlerische Diskussion zutage tritt; beim deutschen Geist, der ein Spiegel dessen ist, was eigentlich das tief Historische ist, muß es ins Bewußtsein des Menschen hereintreten, der sich insbesondere von der Volks­seele inspirieren läßt. Und nun sehe man, wie im zweiten Teile des Faust, in der Verbindung des Faust mit Helena, auf dem physischen Plane - im Bewußtsein - die Vereinigung mit dem Griechentum auftritt! Das ist nicht ein bloßes Herein-treten in die Verstandes- oder Gemütsseele; das ist ein Herein-treten in das Ich. Faust wird mit seinem ganzen Menschentum

144

dem Griechentum gegenübergestellt. Bewußt feiert er den Zusanamenklang mit einer frülieren Zeit. - Ich kann selbst­verständlich nur einzelne Hindeutungen geben. Aber die ganze Geschichte empfängt Licht, wenn wir in dieser Weise das Walten der Volksseelen betrachten, die so die Menschen-geschichte in ihrem Austauschen durchfluten und durchwellen.

Wenn wir noch einmal die deutsche und die britische Volks­seele zusammenstellen, so könnten wir mancherlei Erscheinun­gen anführen, welche den Ich-Charakter der deutschen Volks­seele auf der einen Seite und den Bewußtseinsseelen-Charakter der britischen Volksseele auf der anderen Seite zeigen wurden. Das hat sogar vieles bewirkt von den Eigentümlichkeiten der neueren Kulturentwickelung. Es hat zu meinen eigenen Auf­gaben gehört, zu zeigen, wie bei Goethe aus den Tiefen der Menschenseele heraus eine Evolutionslehre geboren wird, wie er versuchte, die ganze Reihenfolge der Organismen in ihrem Hervorgehen von den einfachsten bis zu den vollkommensten darzustellen aus den Tiefen des Ich heraus. Wie Goethe das hinstellt, wie eine wirkliche Naturwissenschaft aus Goethes Seele hervorgeht, das entspringt ebenso dem - man darf sagen -«Gespräch Goethes mit der deutschen Volksseele», wie ein anderes einem Wechselgespräch mit der britischen Volksseele entspringt. Weil Goethe so tief in das Wesen der Dinge hin-untersteigt, um eine Entwickelungslehre aus der menschlichen SeeLe heraufzuholen, deshalb bleibt die aus der Ich-Kultur herausgeborene Goethesche Form der Entwickelungslehre für viele so unverständlich; sie konnte sich nicht so rasch ver­breiten. Da erfaßt im neunzehnten Jahrhundert der britische Volksgeist die Entwickelungslehre, und er gab das, was Goethe aus der Tiefe des Ich hervorgeholt hatte, nun hervorgehend aus der Bewußtseinsseele als den äußerlichen «Kampf ums Dasein» im Darwinismus. Was Goethe hinstellte, innerlich sich entwickelnd, das stellt der Daiwinismus äußerlich dar;

145

und weil wir schon einmal im Zeitalter des Materialismus leben, so hat die gesamte Kulturmenschheit weniger gern die aus der Tiefe der Ich-Kultur heraufgeholte Entwickelungs­lehre Goethes angenommen, sondern lieber diejenige Form, welche Darwin aus der britischen Volksseele herausgebracht hat. - In einem gewissen Punkte stehen wir heute noch mit­ten drinnen in dieser Ablehnung der Ich-Kultur, nämlich in bezug auf das, worüber heute noch alle schimpfen, die Fach­männer auf diesem Gebiete zu sein glauben. Denn Goethe hat auch eine «Farbenlehre» geschaffen, die nur der versteht, welcher sie aus dem menschlichen Ich-Charakter heraus ein­sehen kann. Die Menschheit aber hat diese aus der Tiefe der Ich-Kultur stammende Farbenlehre Goethes zurückgewiesen und hat die vom britischen Volksgeist aus der Bewußtseins-seele heraus inspirierte, mehr materialistische Farbenlehre Newtons angenommen. Doch die Zeiten werden kommen, wo die Menschen erkennen lernen werden, daß in Goethe vieles liegt, was die Menschen noch werden annehmen müssen. Und nur in Parenthese erlauben Sie mir zu sagen: Es mag ja Ein­zelnen gelungen sein, Orden und Ehrenzeichen zurückzuschik­ken; aber dann erst wird die richtige Würde getroffen sein, wenn nicht nur Orden und Ehrenzeichen, sondern wenn auch die materialistische Form der Entwickelungslehre und die materialistische Form der Farbenlehre der britischen Volks­seele zurückgeschickt sein wird.

Derjenige, dessen Volksseele so inspiriert, daß seine Inspi­ration wie ein Zwiegespräch der Volksseele mit dem mensch­lichen Ich selber ist, er lebt so, daß er sich in den wichtigsten Momenten seines Lebens bewußt ist, für einen Inhalt zu wir­ken, im äußeren Leben einen Inhalt zu bekräftigen. So hat Goethe einen Inhalt bekräftigt, der ihm in seiner Intuition in der Seele aufging, indem er seine Entwickelungslehre be-gründete. Wer aber nicht von den Tiefen des Ich aus, sondern

146

von der Bewußtseinsseele aus - äußerlich - auf die Welt hin-blickt, der sieht in dem äußeren Verlauf nur den Kampf ums Dasein. Ein jeder sieht eben seine innere Natur in das Äußere hinein. Es kann sich jetzt jeder ausmalen, was die gegen­wärtigen Ereignisse sein können für diejenigen, die vom deut­schen Volksgeist inspiriert sein können, und für die, welche vom britischen Volksgeist inspiriert sind. Dieser letztere Volks­geist redet vom Kampf ums Dasein. Und während der deutsche Volksgeist so inspiriert, daß man im Gegner den .

Nun habe ich schon in dem ersten Vortrage wenigstens mit einigen Worten auf das hinzuweisen versucht, was uns etwa in der russischen Volksseele entgegentreten kann. Es ist heute nicht mehr die Zeit dazu, um gerade auf diese Volksseele weiter einzugehen; das sehr Merkwürdige dieser Volksseele soll aber doch hervorgehoben werden. Bei ihr ist das Eigen­tümliche, was sogleich in die Augen fällt, daß sie im Grunde genommen am allerwenigsten zu dem geeignet ist, was sie jetzt tut: zu dem äußeren Kampf, zu dem äußeren Krieg. Es gibt ein charakteristisches Buch, «Der Anmarsch des Pöbels», von dem hier schon erwähnten Mereschkowski. Am Schlusse dieses Buches ist die Rede von dem Eindruck, den er von der Hagia Sophia, der gewaltigen Konstantinopeler Kirche, be­kommen hat. In der Schilderung dieses Eindruckes allerdings ist die Stimmung enthalten, welche die russische Volksseele haben muß, wenn sie sich selbst versteht; und Mereschkowski schließt damit, daß er, als er sich ganz dem Eindruck dieser Sophien-Moschee überließ, die Stimmung zum Gebet bekam, daß er versucht wurde, für sein Volk zu beten:

147

«Die Hagia Sophia - hell, traurig und durchflutet vom bernsteinklaren Lichte des letzten Geheirunisses - hob meine gefallene, erschreckte Seele. Ich blickte auf zum Gewölbe, das dem Himmelsdome gleicht, und dachte: da steht sie, von Menschenhand erschaffen, sie - die Annäherung der Menschen an den dreieinigen Gott auf Erden. Diese Annäherung hat bestanden, und mehr noch, wird dereinst kommen. Wie sollten, die an den Sohn glauben, nicht zum Vater kommen, der die Welt bedeutet? Wie sollten die nicht zum Sohne kommen, die die Welt lieben, welche auch der Vater also liebte, daß er seinen Sohn für sie hingab? Denn sie geben ihre Seele hin für ihn und ihre Freunde; sie haben den Sohn, weil sie die Liebe haben, nur den Namen kennen sie nicht.

Und es trieb mich, für sie alle zu beten, in diesem zur Stunde heidnischen, aber einzigen Tempel der Zukunft zu beten um die Verleihung jener wahren, sieghaften Kraft an mein Volk: um den bewußten Glauben an den dreieinigen Gott.»

So wie wir auf den deutschen Volksgeist, vermittelt in sei­nem Repräsentanten, dem Faust, hinblicken als auf einen, der mitten im Werden ist, so erblicken wir die russische Volks­seele als etwas, was noch hinwartet auf das, was kommen soll. Die ganze Stimmung kann da nur die des Aufblickens in die Zukunft sein, des Noch-nicht-gefunden-Habens in der Gegen­wart. Dann aber, wenn sich diese russische Volksseele bewußt ist, was in ihr lebt, und was noch in den Tiefen ihrer Natur ruht und noch heraufgeholt werden kann, dann wird sie wis­sen, daß sie mit der Innenentwickelung ihre Mission erfüllt, daß sie im Grunde genommen ihre Mission am besten dann erfüllt, wenn sie ihre stärkste Eroberung im Innern macht, indem sie herausholt, was in ihren Tiefen ist, und was aller-dings einmal großen Wert haben wird für die Menschheits­kultur. Nicht ohne weiteres barbarisch kann man sie nennen,

148

aber eine Volksseele, die erst später werden wird, was sie werden muß, und die jetzt erst in einem kindlichen Alter ist. Ich weiß, wie unvollkommen diese Charakteristik der russi­schen Volksseele ist, weil ich sie wegen der Kürze der Zeit nur mit ein paar Worten schildern konnte. Aber man muß sagen: gerade wenn die russische Volksseele dasjenige äußer­lich zum Ausdruck bringt, was sie jetzt ist, wenn sie nicht die erwartungsvolle Stimmung - was Mereschkowski darstellt als die Gebet-Stimmung, die in den Tiefen der Volksseele ruht -zum Ausdruck bringt, dann ist sie so, daß sie nur zu einem Störer der Entwickelung der Geisteskultur und der Mensch­heitskulrur überhaupt wird. Wenn sie sich nach außen wendet dann erscheint sie so, als ob sie das Entgegengesetzte von dem täte, was ihr eigentlich zukommt.

Daher die Empfindung, die wir haben können, wenn wit nach Westen blicken: so furchtbar auch die gegenwärtigen Ereignisse sind - sie gingen mit Notwendigkeit aus den Im­pulsen dieser westlichen Volksseelen hervor. Gegenüber der russischen Volksseele haben wir dagegen die Empfindung, daß es diesem Volke, dieser Volksseele, ganz und gar arn wenigsten ansteht, sich gegen die westlichen Volksseelen zu wenden, die eigentlich ihre Lehrmeister sein müssen, wenn sie sich richtig versteht. Nur weil man in den letzten Jahren wenig verstan­den hat, um was es sich hierbei handelt, hat man manches überschätzt, was von dieser Seite gekommen ist.

Man könnte in der Charakteristik der Volksseelen noch viel weiter gehen. So könnte man sagen: die menschliche Seele, die sich im Ich erfaßt, steht in einem innigen Verbande zu den drei Seelengliedern Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und Bewußtseinsseele; bald lehnt sie sich auf, die individuelle Seele, gegen die Einflüsse der drei Seelenglieder, bald lehnen sich die drei Seelenglieder gegen sie auf. Wie uns die einzelne individuelle Seele darstellt die Beziehungen zwischen

149

den drei Seelengliedern und dem menschlichen Ich, so stellen sich uns dar die Ausdrücke, die Beziehungen der ein­zelnen europäischen Seelen zur gesamten europäischen Seele. Die äußeren Ereignisse sind nur die Projektionen dessen, was sich auch in der Menschenseele an Kämpfen der Seelenglieder gegen das Ich finden kann. Aber dieses Ich, es versenkt sich in die einzelnen Seelenglieder, es stellt sich in ein Verhältnis zu denselben, und auch da könnten wir durch die äußeren Tatsachen eine Bestätigung dessen finden, was uns die Geistes­wissenschaft durch innere Erforschung darstellt.

Zur Empfindungsseele neigt das Ich so hin, daß es sich sehnt nach Befruchtung, nach Durchsaftung mit den Erleb­nissen der Empfindungsseele. So sehen wir aus Europens Mitte die deutsche Volksseele untertauchen in die italienische Emp­findungsseele. Das können wir verfolgen durch die ganze Geschichte hindurch; gehen wir bis zu Dürer und zu anderen Künstlern zurück, so sehen wir, wie sie sich in die italienische Volksseele versenken. Weiter können wir beobachten, wie Goethe nicht eher glücklich ist, als bis sich seine Sehnsucht nach Italien erfüllt hat. Das ist einerseits der Austausch des Ich mit der Empfindungsseele, andererseits der Austausch der deutschen Volksseele mit dem italienischen Volksgeist. Ver­folgen wir die Geschichte weiter, so finden wir, wie sich das einzelne Ich auch mit der Verstandes- oder Gemütsseele aus­einandersetzen muß. Sehen wir doch, wie bis weit in die neuere Zeit herein die Auseinandersetzungen der deutschen Volksseele mit der französischen Volksseele stattfinden; sehen wir doch, wie Leibniz, der deutscheste Philosoph, seine Werke noch in französischer Sprache schreibt und wie der Begründer von Preußens Größe, Friedrich der Große, fast ausschließlich in französischer Kultur lebte. Das kann uns zeigen, wie der deutsche Geist wirklich geneigt ist, international zu sein, sich in allen einzelnen Nationalitäten auszuleben. Und wie dies

150

sein Grundcharakter ist: sich in allem auszuleben, so sehen wir ihn auch sich mit der britischen Volksseele auseinander­setzen, indem er bis heute die Goethesche Entwickelungslehre nicht angenommen hat, sondern die Darwinsche, und ebenso nicht die Goethesche Farbenlehre, sondern die Newtonsche. Daran kann man sehen, wie tief der deutsche Volksgeist mit dem britischen verbunden ist. Wenn dagegen heute die bri­tischen Stimmen auf das deutsche Wesen besonders erbost sind, so kann dem im Grunde genommen aus der Tiefe der deutschen Volksseele heraus nicht mit dem gleichen Hasse erwidert werden, den er, der britische Volksgeist, der deutschen Volksseele entgegenbringt; er haßt aus dem bloßen Materialis­mus heraus. Auf diesem Standpunkte wird die deutsche Volks. seele nicht stehenbleiben können; sie wird sich mit dein Materialismus auseinandersetzen müssen. In der Gegenwart wird sie sich mit ihm auseinandersetzen durch äußere Waffen­gewalt in den Kämpfen, die ihr aufgedrängt worden sind, und sie wird sich in der Zukunft mit ihm auseinandersetzen durch die Befreiung des Spirituellen, des Geistigen, innerhalb der Epoche des Materialismus. So blicken wir von den äußeren Zeitereignissen aus auf das hin, was sich von Europens Mitte heraus offenbart.

Ich glaube nicht, daß es unnötig ist, sich so in die Grund-natur der Volksseelen zu vertiefen. Denn mir scheint, daß aus dieser Beleuchtung der Volksseelen heraus auch das Licht strömen kann, welches Klarheit über das bringt, was uns heute in den großen Schicksalsereignissen entgegentritt. Man kann auf Schritt und Tritt die gegenwärtigen Ereignisse als eine Notwendigkeit aus den gegenseitigen Verhältnissen der Volks-seelen heraus empfinden, wenn man sich in diese Volksseelen vertieft; und das Verständnis der Ereignisse ist doch die rechte Auseinandersetzung. Und wenn es wahr ist - und gewiß ist es wahr! -, daß die Ereignisse, die wir draußen im Westen

151

und Osten erleben, solche sind, daß wir von ihnen sagen müs­sen: sie mussen, weil sie so gewaltig sind, eine neue Zeit­epoche einleiten - was sich aus den gegenwärtigen Ereignissen herausentwickeln wird, das wird eine neue Phase des Men­schengeistes sein, denn nur eine neue Phase des Menschen-geistes wird mit so gewaltigen Opfern erkämpft werden kön­nen -; so wahr das ist, so wahr müssen wir auch daran glau­ben, daß mancherlei von dem, was bisher mit geringen Opfern erreicht worden ist, in der Zukunft mit größeren Opfern er­reicht werden muß. Denn die Opfer der Geisteswissenschaft, auf welche ich gestern hindeutete mit Bezug auf die Entwik­kelung der menschlichen Seele, sind wirklich größer als alle Opfer, die auf äußere Experimente und äußere Beobachtungen verwendet werden. Man wird daran denken müssen, daß auch das Erleben einer anderen Wissenschaft, die durch große Opfer erkämpft wird, sich anschließen muß an das, was so glorreich, aber auch so schmerzlich heute eingeleitet wird. Und wenn ich im gestrigen Vortrage darauf aufmerksam machen durfte, wie aus den unverbrauchten Leibern, die jetzt hingeopfert werden, die Kräfte sich vereinigen mit den Wesenheiten der geistigen Welt und ihre Kräfte herunterschicken werden in die Welt, die sich hier geschichtlich abspielt, so darf heute dieses Bild, das aber einer Wirklichkeit entspricht, vielleicht dadurch ergänzt werden, daß gesagt wird: Ja, wir leben in eine Zeit hinein, in der viele den ersten Anfang einer neuen Weltenwesenheit des Menschengeistes und seiner Entwicke­lung herbeiführen müssen aus Blut und Tod heraus, aus Ge­fahren und Leiden heraus; aber die, welche also zu tun beru­fen sind, sie werden in entsprechender Weise ihre Opfer nur dann im rechten Sinne gebracht wissen in der Zukunft, wenn sie auf eine Menschheit herunterschauen können, welche die Zeit, die angebrochen ist, in würdiger Weise zu durchleben versteht. Ist es der Volksgeist, der Blut und Tod von unserer

152

Gegenwart fordert, so wird es der Volksgeist sein, der in der neuen Zeit, die dadurch eingeleitet wird, eine neue Form des Lebens fordern - wird. Diejenigen von uns wird sie fordern

- das wird zu spüren sein für die zukünftige Menschheit -, welche ihre jungen Seelenkräfte von ihren Leibern lösen müs­sen zur Anspornung der neuen Menschheit. Diejenigen aber, welche sich Leben und Gesundheit bewahren werden, sie wer­den erfühlen müssen, daß das Kind des menschlichen Geistes­lebens, das aus Wunden und Blut und Tod geboren ist, Pfleger braucht, die in richtiger Weise die Inspiration der Volksseele zu empfangen wissen. Und keiner wird die deutsche Volks­seele verstehen, der nicht ihre Sprache verstehen wird. Diese Sprache wird nicht die Sprache des äußeren materiellen Lebens sein; diese Sprache wird sein die Sprache des Geistes. So möge denn das Zeitenwesen, das sich gebiert aus Blut und Wunden und Tod, eine Menschheit antreffen, die sich durch starke, durch kräftige Entfaltung menschlicher Geisteskraft würdig erweist, rechte Pflegerin zu sein des neuen, so schwer erkämpf­ten, so schwer errungenen Zeitenlebens!

153

DIE GERMANISCHE SEELE UND DER DEUTSCHE GEIST Berlin, 14. Januar 1915

In den Vorträgen, die ich bisher in diesem Winter hier habe halten dürfen, versuchte ich einige Andeutungen zu geben über Charakterwesenheiten der deutschen Entwickelung und ihrer Beziehung zu der Entwickelung anderer Nationen Europas. Heute möchte ich mit gestatten, in aphoristischer Weise eini­ges Charakteristische zu geben über die seelische und die gei­stige Entfaltung des germanisch-deutschen Wesens, dies alles im Hinblick auf unsere schicksaltragende, schwere Zeit. Mor­gen werde ich dann versuchen zu zeigen, was die Erkenntnisse der Geisteswissenschaft den Menschen in glücklichen, aber auch in ernsten, schmerzlichen und auch leidvollen Stunden des Lebens sein können, insbesondere auch mit Rücksicht­nahme auf unsere Zeit.

Die Betrachtungen, welche hier gegeben werden sollen, wer­den vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft ausgehen - ein Gesichtspunkt, der hier öfter erwähnt worden ist, der heute noch recht wenig in der Öffentlichkeit anerkannt oder gar gebilligt ist. Diejenigen aber, welche dieser Geisteswissenschaft nahestehen, fühlen aus ihren Erkenntnissen heraus, wie sie nicht nur das Leben bereichern und erhöhen kann, sondern wie sie Aufklärung verschaffen kann über intime, wichtige Zusammenhänge des Lebens - und nicht nur des Lebens des einzel­nen Menschen, sondern auch des Lebens der Völker, der Men­schenzusammenhänge, des menschlichen Zusammenlebens.

154

Allerdings: gleich im Ausgangspunkte einer Betrachtung über das Völkerleben muß hingewiesen werden auf Erkennt. nisse der Geisteswissenschaft, die hier in verflossenen Vortragszyklen öfter erwähnt worden sind, die aber herangezogen wer­den müssen zum Verständnis der heutigen Betrachtung. Hingewiesen muß werden auf Erkenntnisse der Geisteswissenschaft, die zu den am allerwenigsten anerkannten und gebilligten ge­hören: auf Erkenntnisse, die uns sagen, daß am Ausgangspunkte einer jeden Volksentwickelung das Seelenleben in ganz besonderen Formen verläuft, daß überhaupt die Ursprünge der Men­schen auf Erden ein ganz anderes Seelenleben zeigten als un­sere Gegenwart. In unserer Zeit mit ihrer materialistisch ge­färbten Weltanschauung kann dies selbstverständlich heute noch nicht anerkannt werden. Man stellt sich ja vor, daß des Menschen Ausgangspunkte auf der Erde in ganz primitiven See lenzuständen liegen, in Seelenzuständen, die man sich ge­genwärtig, man möchte sagen, so tierähnlich als möglich zu denken bemüht. Die Geisteswissenschaft zeigt uns etwas wesentlich anderes. Sie zeigt uns, daß im Ausgangspunkte der Menschheitsentwickelung auf der Erde - und hereinreichend noch in die Ausgangspunkte einer jeden Volksentwickelung - ein hellseherisches Verhalten der Seelen liegt. Das heißt, daß im Beginne dieser Menschheitsentwickelung und auch der Volksentwickelungen die Menschenseelen nicht nur in Zustän­den leben, durch die sie mit ihren Sinnen die äußere materielle Wirklichkeit schauen und mit ihrem Verstande sich von der­selben Ideen, Begriffe und Vorstellungen bilden, sondern daß die Seelen fähig sind, in anderen Zuständen zu leben, in Be­wußtseinszuständen, die nicht die unseres gewöhnlichen Tageslebens sind, die aber auch nicht diejenigen unseres chaotischen Traumlebens und noch weniger die des bewußtlosen Schlafes sind. In Bewußtseinszuständen lebten die Menschen zu Beginn der Volksentwickelungen, in denen die Seelen fähig waren, imaginatives

155

Hellsehen zu entwickeln, das heißt in sich in einen Zusammenhang zu kommen mit der geistigen Wirklichkeit um uns herum, mit derjenigen Wirklichkeit, die kein Auge sehen kann, die kein Ohr hören kann, die nicht zu begreifen ist mit dem an die Sinne und an das Gehirn gebundenen Verstand, und deren Wahrnehmungen nicht von außen wie die Sinnes­eindrücke in unsere Seele hineindringen, sondern in Bildern in der Seele aufsteigen, aber in Bildern, die nicht Traumbilder sind, sondern die Realitäten der geistigen Welt wiedergeben, jene Realitäten, die ursachend und wirkend hinter der Sinnes-welt liegen. So also gibt es beim ursprünglichen Menschen Zu­stände des Bewußtseins, in denen er sich im Zusammenhange weiß mit einer geistigen Welt, in denen diese geistige Welt in ihm in Bildern aufsteigt.

Allerdings kann in diesen früheren primitiven Menschheits-zuständen diese hellsichtige Einsicht in die geistigen Welten nur dadurch erreicht werden, daß noch wenig dasjenige ent­wickelt ist, was wir menschliches «Selbstbewußtsein> nennen, das Bewußtsein des Lebens in der Persönlichkeit. Die Zeiten der alten Hellsichtigkeit entsprechen einer Seelenverfassung, in welcher die Seele noch nicht wie jetzt vollverstehend zu sich «Ich» sagen konnte, in der sich die Seele noch nicht als Indivi­dualität, als Persönlichkeit fühlte, sondern als einen Teil eines großen geistigen Weltorganismus, wie ein Glied des gesamten Kosmos. So also war das Persönlichkeitsbewußtsein in jenen alten Zeiten getrübt, dämmerhaft. Dafür aber breitete sich in gewissen Zeiten vor der Seele ein Tableau von Bildern aus, welche in die Seele hereingeworfene Abschattierungen der gei­stigen Welt waren. Und wenn wir auf die Ausgangspunkte der einzelnen Volksentwickelungen hinblicken, so verstehen wir eigentlich diese Volksentwickelungen nur, wenn wir bis zu dem Punkte der Entwickelung eines Volkes zurückzugehen ver­mögen, in welchem die Menschenseelen, die innerhalb dieses

156

Volkes stehen, noch etwas wenigstens von dieser hellseherischen Erkenntnis haben; wenn wir also in Zeiten zurückgehen, in denen ein imaginatives Wissen von der geistigen Welt vor-händen ist. Wir lernen die einzelnen Völker, wir lernen die Seelen der Völker, die Geister der Völker kennen, wenn wir die verschiedene Art betrachten, wie sich die Völker aus die­sen ursprünglichen hellseherischen Zuständen herausentwickeln zu denjenigen, die dann höhere, weitergehende Kulturstufen bedeuten. Denn diese Entwickelung vom Zustande des ur­spränglichen Hellsehens zu den höheren Kulturstufen hin, welche bei vollem Persönlichkeitsbewußtsein der Menschen errungen werden, diese Entwickelung ist für die einzelnen Völ­ker verschieden, und die Wesensart der Völker hängt davon ab, wie sich die Völker von dieser angedeuteten primitiven Kultur­stufe zu einer höheren hinaufentwickeln.

Da haben wir ein charakteristisches Beispiel an dem alten Griechenvolke, und ihm ähnlich sind die meisten orientali­schen Völker, und in gewisser Weise auch die Völker der alten italischen HalbinseL Ein solches Volk wie die Griechen ver­steht man erst vollständig, wenn man sich klar ist, daß dieses Volk übergeht von den ursprünglichen bildhaften Eindrücken einer geistigen Welt zur Ausbildung derjenigen Weltanschau­ung, die uns in seiner Mythologie, in seiner religiösen Vor­stellung gegeben ist. Es ist das heute noch wenig anerkannt, allein die Anfänge sind auch schon in der äußeren Wissen-schaft gegeben, die zu der Anschauung führen, wie sie hier eben angedeutet worden ist. Ludwig Laistner hat in seinem schönen Buche darzustellen versucht, wie alle alten Mythen, alle alten Göttervorstellungen, besonders auch diejenigen der Griechen, gleichsam schon in die Phan­tasie übergegangene Umbildungen früherer heilseherischer Vor­stellungen sind. Und wenn wir auf die alte griechische Götter­welt hinblicken, so verstehen wir sie nur dann, wenn wir sie

157

als umgebildete Vorstellungen der übersinnlichen Welt auf­fassen, die noch im Zustande des alten Heilsehens gewonnen worden sind. Aber dieses Volk, also die Griechen, hat die Um­bildung der Vorstellungen des alten Hellsehertums in die mythische Weltanschauung und sogar die Umbildung der mythischen Weltanschauung in die philosophische Weltanschau­ung so erlebt, daß es als Volk gleichsam jugendlich diese Um­bildung durchgemacht hat. Auf einer jugendlichen Stufe der Volksentwickelung wurde im alten Griechenland der Um-schwung durchgemacht von dem alten hellseherischen durch das mythische zum philosophischen Weltanschauungsverhältnis. Daneben entwickelt sich dann bei den Menschen eines solchen Volkes das, was im Persönlichkeitsbewußtsein enthalten ist, was den Menschen hinstellt als eine Persönlichkeit, als eine Individualität; es entwickelt sich alles dasjenige, was das gemüt-hafte, das persönliche, das herzhafte Element des Menschen ist. Das entwickelt sich nebenher in dem gewöhnlichen Be­wußtseinszustand, und der Mensch ist dann nur in der Lage, das gemüthafte, das herzhafte Element auf die alltäglichen Verhältnisse des Lebens anzuwenden. Dadurch, daß er in dem alltäglichen Verhältnis des Lebens in dem gewöhnlichen Be­wußtseinszustand lebt, kann er sich - in einer anderen Gemüts-art - den geistigen Verhältnissen zuwenden. Dadurch treten in sein Bewußtsein zwei Welten: eine, in der er mit seinem Ge­müthaften in den alltäglichen Verhältnissen lebt, und eine, die ihn mit seinem Geistigen hinaufhebt in die geistige Welt; und er stellt sich dann als eine Individualität mit seinem gemüt-haften Empfinden dem gegenüber, was er von demjenigen herstammend hat, was von seinem Hellsehen in die mythischen, in die philosophischen Vorstellungen übergegangen ist. Es er­scheint dann das, was die philosophischen Vorstellungen aus­macht, als etwas, was ihm wie eine Offenbarung gegeben ist, zu dem er aufblickt, mit dem er aber nicht so verbunden ist,

158

daß jede Faser des Gemütes, des Willens, auch unmittelbar irn Erschaffen der Weltanschauung mit dieser Weltanschauung zu­sammenhängen würde.

So ist es bei der Seelenentwickelung eines solchen Volkes, wie es das griechische war, eines Volkes, das gleichsam im jugendlichen Zustande das durchgemacht hat, was man nennen kann den Übergang heilseherischer Erkenntnis in die Welt­anschauung, durch welche man die Zugehörigkeit der Seele zu jenen Mächten erkennt, die über Leben und Tod erhaben sind.

Ganz anders ging die Entwickelung vor sich bei jenen Völ­kern, die als die germanischen Völker um den Beginn unserer Zeitrechnung herum von Osten, von Norden her an die Gren­zen des griechischen, des römischen Reiches heranstürmten. Auch bei diesen Völkern finden wir selbstverständlich eine hellseherische Erkenntnis im Ausgangspunkte ihrer Entwicke­lung; auch bei ihnen gab es Zeiten, in denen die Seele durch die Bilder der hellseherischen Imaginationen hingeneigt war zur geistigen Welt. Aber die Seele verlor diese hellseherischen Imaginationen, wie sie diese bei allen Völkern verliert, so auch bei den germanischen Völkern; denn die ganze Menschheit muß durch einen Entwickelungszustand durchgehen, der nur für die physische Welt bestimmt ist, der nur zur Aufnahme von Vorstellungen über die physische Welt bestimmt sein kann. Die einzelnen germanischen Völker verloren in einem gewissen Zeitpunkt - und dieser fällt ziemlich genau zusam­men mit dem Heranstürmen an das römische Reich - nicht nur die Fähigkeit, in dem ursprünglichen traumhaften Hell-sehen in die geistige Welt hineinzuschauen, sondern sie ver­loren auch nach und nach während der Völkerwanderung, während ihres Anstürmens gegen das römische Reich, das Ver­ständnis für das, was die Seele haben kann von einem solchen Wissen aus dem alten Hellsehertum heraus. Und man kann sagen: es hängt damit zusammen, daß diese Völker sämtlich

159

während ihrer Jugendlichkeit den Zustand ihrer hellseheri­schen Erkenntnis durchmachten, daß sie aber in ihr späteres Lebensalter, gleichsam in das kräftige Mannesalter, nicht einen Übergang hineinbringen konnten von dem ursprünglichen hellseherischen Erkennen zu ihren späteren Weltanschauungen. So geht bei diesen Völkern die Entwickelung der Weltanschau­ung gleich über von den kindlichen Zuständen zu dem - ich möchte sagen - «reiferen» Volkszustande. In dem kindlichen Zustande ist bei herabgedämmertem Bewußtsein das vorhan­den, was hellseherische Erkenntnis war; da ist auch herab­gedämmert die volle Empfänglichkeit der Völker für die My­then, die sich aus dem alten Hellsehen herausgebildet haben. Diese Mythen sind höchstens als Traditionen einem äußeren Verstehen erhalten. Dafür hat sich bei diesen Völkern ein Per­sönlichkeitsbewußtsein entwickelt, ein festes Gebautsein auf die Individualität des Lebens. Es hat sich bei ihnen dasjenige ge­festigt, was die Eigenschaften des Gemütes sind, was die un­mittelbaren Charaktereigenschaften sind, und durch welche Gemüts- und Charaktereigenschaften der Mensch im alltäglichen Leben steht. Und weil jetzt in dieses gewöhnliche, alltägliche Leben nicht die alten hellseherischen Vorstellungen herein-reichen, so muß das Gemüt, müssen die Willensimpulse, müs­sen selbst die Charakterimpulse die Sehnsucht entwickeln, aus sich heraus die Kraft zu finden, um den Zusammenhang mit der geistigen Welt zu fühlen, zu erleben, zu erfahren. Aus den gleichsam dumpfen Kräften des Gemütes heraus entwickelt sich daher bei diesen Völkern die Sehnsucht nach den göttlich-geistigen Welten. Und nicht so wie die Griechen können sie jetzt auf etwas hinblicken, was in ihre Seelen hereinleuchtet als Entwickelungsprodukt der alten hellseherischen Vorstel­lungen; sondern sie entwickeln ein tiefes Gemüt, ein Gemüt, das allerdings für die Erfassung der gewöhnlichen Verhältnisse des Tages tief ist, das aber zugleich die tiefste Sehnsucht nach

160

den geistigen Grundlagen des Lebens empfindet. Im reifen Mannesalter stehen diese Völker der Germanen da in der Zeit, die wir angedeutet haben, stehen so da, daß ihr Gemüt nach religiöser Vertiefung der Weltanschauung strebt, daß aber nicht mehr die alten Vorstellungen des früheren Heilsehens in das Gemüt hereintönen.

So entwickeln sich, während die germanischen Völker an die Völker des Südens heranstürmen,in den Anfangszeiten der germanischen Welt, unabhängig von den Weltanschauungs­vorstellungen, die persönlichen Charaktereigenschaften, die starken, mutvollen Eigenschaften des Willens, des Gemütes. Einen Abglanz dieser Seelenverfassung finden wir vor allen Dingen in jener wunderbaren Dichtung, welche sich würdig neben die größten Dichtungen aller Zeiten stellt, neben die homerischen Epen, neben die Kalewala der Finnen: im «Nibe­lungenlied>. Wie uns dieses Nibelungenlied überkommen ist, so zeigt es uns Menschen, von denen aus wir nicht mehr klar hinschauen können auf das, was sie mit den alten hellseheri­schen Vorstellungen zusammenhält. Dafür sehen wir bei ihnen tief hinein in die Kämpfe, in die Überwindungen, welche die Seele durchmacht, um sich im Leben zurechtzufinden. Aber wenn wir uns genau die Art der Darstellung des Nibelungen-liedes ansehen, dann werden wir gewahr, wie Reste des alten hellseherischen Vorstellens noch in das Leben dieser Menschen hereinragen, aber wie diese Reste so gestaltet sind, daß sie gleichsam zugeschnitten sind, um dem alltäglichen Leben der Menschen und weiter auch dem geschichtlichen Leben der Menschen zu dienen. Das werden wir zum Beispiel gewahr, wenn wir vernehmen, wie die, welche die Gattin des hörnernen Siegfried werden soll, das ganze Unglück, das über den herein­brechen soll, der einmal ihr Gatte werden soll, ahnend erschaut, indem sie im Traume einen weißen Falken sieht, auf den sich zwei Adler herabstürzen und ihn mit den Klauen töten. Und

161

dann wieder, als Siegfried ihr Gatte geworden ist, und Hagen vor der Ermordung des Siegfried steht, da sieht sie, wie zwei mächtige Berge über ihren Gatten Siegfried zusammenstürzen.

- Was aus den alten heliseherischen Vorstellungen geblieben ist, ist nicht mehr hinreichend, um den Menschen über das gewöhnliche Vorstellen hinauszuführen; aber es gliedert sich so in sein Leben ein, daß der Mensch daran das lernt, was ihm im Großen und Kleinen bevorsteht. Auch in anderer Weise ragen diese alten Vorstellungen noch herein, so zum Beispiel wenn wir das nehmen, was an die älteren Überlieferungen über das Nibelungenlied sich anschließt: wenn wir sehen, wie Sieg­fried den Drachen tötet, sich in dem Blute des Drachen badet und dadurch die Hornhaut erwirbt, so daß er unverletzbar ist

- bis auf die Stelle zwischen den Schultern, wo ein Lindenblatt hingefallen ist, und die dann jene Stelle ist, wo ihn Hagen später ermordet. - So haben wir das Hereinragen des alten Zu­sammenhanges mit der geistigen Welt in das Leben der ger­manischen Völker; aber dieses Hereinragen dient der Art und Weise, wie sich der Mensch in das Leben der physischen Welt hineinstellt.

So sehen wir, wie diese germanischen Völker zunächst be-rufen sind, ich möchte sagen, unter Darangabe ihres selbst-erfahrenen Zusammenhanges mit der geistigen Welt die Eigen­schaften des Gemütes, des Charakters, auch die Eigenschaften der starken Individualität auszubilden, wie auch jene Eigen­schaften zu entfalten, welche Seele an Seele ketten, Seele an Seele im physischen Leben binden und lösen. Die Impulse der Dankbarkeit, der Treue und alles dessen, was vom Gemüte des Menschen ausstrahlt, sehen wir für die Seele des alten Ger­manen so hervorragend geschildert im Nibelungenliede dadurch, daß bei denen, die zur Abfassung des Nibelungenliedes mit­gewirkt haben, ein dunkles Bewußtsein davon vorhanden war, wie der Mensch aus seinen Zusammenhängen mit der geistigen

162

Welt herausgeholt ist und mit all den Eigemhhaften seiner Seele fest in die physische Welt hineingestellt worden ist.

Damit aber haben wfr einen Grundchaiakterzug des germa­nischen Seelenlebens mit einigen Strichen hingestellt, jenes Seelenlebens, welches in so eigentümlicher Art persönliche Tiefe, charakterologische Tiefe überall zeigt - und zugleich jene tiefe, tiefe Sehnsucht nach den geistigen Welten, die Be­friedigung will, aber diese Befriedigung zunächst wie ein tra­gisch leidvolles Sehnen und Hoffen empfindet, weil die alten, aus dem Hellsehertum geborenen Vorstellungen die starke Kraft über das menschliche Gemüt verloren haben.

Nun ist es höchst bemerkenswert, in welcher Weise die Völ­ker des Südens - und in welch anderer Weise die germanischen Völker des Nordens zu dem der Welt geschenkten Christen-rum vermöge dieser Seelenverfassung sich verhalten mußten. Machen wir uns klar, daß die Völker des Südens mit ihren aus den alten hellseherischen Vorstellungen berausgeborenen Weltanschauungsideen dieses Christentum empfangen mußten. Sie mußten es in dem, was es ihnen offenbarte, vergleichen mit dem, was sie wußten, oder wenigstens wovon sie die be-stimmte Überzeugung haben konnten, daß man es einmal durch unmittelbare Erfahrung gewußt habe. Eine Sehnsucht, wie sie heute selbstverständlich ist, und wie sie bei den germanischen Völkern sich entwickelte: eine Sehnsucht nach den geistigen Welten, eine - ich möchte sagen - tragische Sehnsucht, den Schleier zu durchdringen, welcher den Menschen von den gei­stigen Welten abtrennt, eine solche Sehnsucht konnte es ja bei denjenigen Völkern im Grunde genommen gar nicht geben, welche ein unmittelbares Wissen davon hatten, daß eine gei­stige Welt vorhanden war, weil sie in besonderen Bewußtseins-zuständen mit diesen Welten in Zusammenhang waren. Was daher eine Weltanschauungssehnsucht ermöglicht, wie sie das Gemüt innerlich bewegt, und wie sie den ganzen Menschen

163

stimmen kann, das lernt man insbesondere an den Völkern des Nordens kennen. Daher konnten auch die Völker des Südens das hereinkommende Christentum nur so aufnehmen, daß sie es mit dem Charakter verglichen, den ihre alten, aus dem früheren Hellsehen herausgeborenen Vorstellungen hatten; daß sie es betrachteten wie etwas, was dem Menschen von außen gegeben ist, dem sich das menschliche Gemüt hingibt. Überall sehen wir, wie auch bei diesen Völkern eine zweifache Welt auflebt:

eine Welt, an die das Gemüt hingegeben ist für das alltägliche Verhältnis, für das historische Verhältnis - und die Welt der früher gegebenen, aus dem alten Hellsehernain herausgebore­nen Vorstellungen, die jetzt durchglänzt und durchleuchtet ist von den Offenbarungen des Christentums.

Anders, ganz anders wirkte aber das Christentum auf die Seelen der germanischen Völker, auf jene Seelen, in deren tief­stem Innern Sehnsucht, tragische Sehnsucht nach den geistigen Welten lebte. Zu diesen Seelen kam jetzt dasjenige, was das Christentum den Seelen zu geben vermag, es kam alles das von unendlicher Wärme, von das Gemüt und das Herz Bewegen-dem, was in die Seelen aus dem Christentum hereinströmen kann. Und daß es innig verwandt war mit dem, was die tief­sten Impulse in den Seelengrundlagen waren, womit der Mensch im Alltäglichen lebt, das wurde empfunden, wenn man das Leiden des Erlösers anschaute, wenn man das Myste­rium von Golgatha anschaute. Und so empfanden diese Seelen, als wenn das, was ihnen da aus der äußeren Welt geoffenbart war, etwas wäre, was sich aus der Seele selbst gebiert, was im Grunde genommen die Seele nur nicht gewußt hat, aber was sie in ihten Tiefen lange, lange vorher erlebt hat. Wie ein innerliches Element nahmen die Germanen das Christentum auf, wie eine intime Angelegenheit der Seele selber, nicht wie eine äußere Offenbarung. Und den großen Unterschied, der sich für ein gefühlsmäßiges, für ein gemütsmäßiges Auffassen

164

der Welt daraus ergab, den kann man insbesondere ermessen, wenn man das Verhäitnis des Menschen zur Natur und zur Umwelt betrachtet, indem man einmal auf die südlichen Völ­ker blickt, die das Christentum aufnahmen, und wenn man dann auf die germanischen Völker sieht. Dieses Christentum, es lenkte die Seelen - alle Seelen - hin nach dem Ewigen, nach dem, was aus der Sphäre des Kosmischen herabgekommen ist und was in die menschliche Geschichtsentwickelung eingetre­ten ist. Es war ein anderes, was sich da offenbarte, als das­jenige, was man in der Natur, im äußeren Leben empfinden und erfahren konnte. Daher entwickelte sich bei den südlichen Völkern eine eigentümliche Naturanschauung, etwas, was oft genannt worden ist, eine gewisse Verachtung der Natur; es entstand eine Anschauung der Natur, als wenn diese von geringerem Wert wäre für das Leben, einen Abfall bedeutete von den göttlich-geistigen Welten. Und es entwickelte sich der Glaube, als wenn man nun Abkehr halten müsse von dem Leben, fremd werden müßte der Natur und dem Leben rings-herum. Radikal ausgedrückt, könnte man sagen: es entwickelte sich eine Art Geringschätzung des natürlichen Daseins und des Menschenlebens in der physischen Welt.

Wie anders standen die germanischen Völker zur Natur! In ihnen lebte etwas, was aus der charakterisierten Entwickelung ihrer Seelen hat kommen müssen. Als der Zusammenhang mit den alten hellseherischen Vorstellungen herabgedämmert war, da waren sie ja angewiesen auf das Zusammenleben mit der Natur und mit den Menschen. So entwickelten sie die Charak­tereigenschaften, die Gemütseigenschaften, die sich an Natur und Menschenleben entzünden konnten, in intensivster Art. Sie sahen hinein in die Natur, sie sahen und empfanden alles, was man fühlen kann an Freude über die Natur, und auch wie man über die Natur trauern kann - über die Natur, wie man sie sich herrlich entwickeln sieht in jedem Frühling, oder

165

wenn man die helle Morgenröte sieht, und wie man sie wieder herabsinken sieht, wenn wir die Sonne versinken sehen in der Abendröte, oder wenn Herbst und Winter hereinbrechen. Aber auch mit dem Menschenleben konnten sie aus ihrer Gemüts-verfassung heraus einen besonderen Zusammenhang empfin­den. Dieses Menschenleben stellte sich ihnen ja so dar, daß für sie gleichsam nicht mehr lebendig war, was dieses Menschen­leben zusammenhielt mit den Kräften, die aus den geistigen Welten heraus durch dieses Menschenleben pulsen und wellen. Eine gewisse tragische - man könnte sagen - «Trauerstim­mung> entwickelte sich bei diesen Völkern aus dieser An­schauung des Natur- und Menschenlebens; und wir sehen ausgegossen über die Götteranschauung der alten germani­schen Seelen diese Trauerstimmung, diese Klagestimmung. Spricht ja der Dichter des Nibelungenliedes es selber aus, daß er für seine Zuhörer entwickeln will, wie Leid aus Freude folge. Endet doch diese Dichtung des Nibelungenliedes in Leid, in Untergang, in Not und Mord und Tod! Wie Leid von Freude käme, das wollte der Dichter dieses Liedes ent­wickeln. Und wenn wir den germanischen Götterhimmel über­blicken, so sehen wir, wie die Germanen auf ihre Götter hin-schauten als auf die, welche einst die «Götterdämmerung> er-fahren werden, welche einstmals nicht ihre Herrschaft wie sonst erleben werden, sondern die miteinander im Kampfe liegen werden, so daß einer den anderen tötet. Mit Trauer-stimmung, mit tragischer Stimmung sahen die alten Germa­nen auf die der Natur und dem Menschenleben zugrunde lie­gende Götterwelt hin. Das ist eine andere Stimmung als die, welche man, radikal ausgedrückt, die Natur herabsetzend und geringschätzend nennen kann. Das ist ein Leben, innig verbun­den mit der Natur, ein Zusammenleben mit der Natur, aber ein Leben, welches über das Dasein, das sich über Natur- und Menschenschicksal offenbart, trauert, das Natur- und Menschenschicksal

166

liebt, aber glaubt, durch diese Liebe Leid- und Klageimpulse erleben zu müssen.

Das ist der große, gewaltige Unterschied in der Naturauf-fassung des Südens und des Nordens. Und so können wir uns hineinfühlen in die germanische Seelenverfassung, und kön­nen zunächst auf diejenigen hinblicken, die unter den Ger­manen gleichsam die Vorposten waren der europäischen Mis­sion der germanischen Völker, das heißt auf diejenigen ger­manischen Stämme, die in größerer oder geringerer Anzahl zuerst mit den Völkern des Südens zusammengestoßen sind:

die Westgoten, die Ostgoten, die Vandalen, die Longobarden. Auf sie sehen wir hin; und mögen uns die Äußerlichkeiten dieser Völker noch so barbarisch erscheinen: wir sehen - wenn wir nur sehen wollen - auf dem Grunde des Gemütes, auf dem Grunde der Natur- und Lebensauffassung jene Charaktereigen­schaften, die jetzt eben charakterisiert worden sind. Und mit diesen Charaktereigenschaften, mit dieser Natur- und Lebens­auffassung zogen sie ein in die Völker des Südens von Europa und in dasjenige, was aus diesen Völkern des Südens und des Westens wurde. Und wir wissen es ja: diese Völker, die eben genannt worden sind, sie gingen auf in die Völker des Südens und des Westens. Die romanische Kultur entstand.

Aber wenn wir diese romanische Kultur recht betrachten, was finden wir dann in ihr? Wir finden in ihr dasjenige, was noch dämmerhaft fortlebte an alter, aus dem Hellsehertum herausgeborener Weltanschauungsstimmung, und wir finden dies durchzogen und durchwebt und durchpulst von dem, was die einzelnen germanischen Stämme, die in den Weltenvor­gängen bis auf den Namen verschwunden sind, haben ein­fließen lassen; und alles, was sich im Westen und im Süden von Europa als romanische Kultur entwickelte, das hat in sich auf seinem Grunde das germanische Seelenhafte, wenn es auch dann übertönt worden ist von der Fortsetzung der alten römischen

167

Kultur. Und nur dann versteht man das romanische Ele­ment, wenn man weiß, daß es von untergegangener germani-seher Seelenwelt lebt. Man versteht die schöpferischen Geister der italienischen Kultur, man versteht die wunderherrliche ita­lienische Musik, selbst Geister wie Augustinus und Johann Scotus Erigena, wie auch die großen Künstler der großen ita­lienischen Renaissance und des Quattrocento, man versteht selbst Dante nur, wenn man sich darüber klar ist, daß die Substantialität des Seelenhaften dieser alten germanischen Völ­ker aufgegangen ist in das, was dann im Außenwerke über­tönt worden ist von der fortlaufenden Strömung der alten römischen Kultur. - So haben wir die ersten Vorposten der germanischen Seelenwelt in diesen Völkern, die sich gleichsam hingeopfert haben im Fortschritt der äußeren Geschichte. Und nur aus der Vermischung des alten römischen Seelenhaften mit dem Geschilderten des germanischen Seelenhaften sind die Kulturen des Südens und des Westens im wesentlichen ent­standen und haben sich dann weiterentwickeln können. Was in diese Kulturen übergegangen ist, können wir nennen eben das «germanische Seelenhafte>, das sich so entwickelt hat, wie es angedeutet worden ist.

Nun stand dieses germanische Seelenhafte insbesondere der christlichen Offenbarung so gegenüber, daß es dieselbe als ein Fertiges empfing, etwas was in feste Formen geprägt worden ist im Vergleiche mit den überkommenen Weltanschauungs­vorstellungen des Altertumes. Daraus entwickelte sich ein Nebeneinanderstehen, eine Zweiheit desjenigen, was geistige, religiöse Offenbarungen, was Weltanschauungsvorstellungen sind; und als gleichsam andere, als zweite Innenwelt entwickelte sich das Gemüthafte, das Seelenhafte, was aus dem Germanen­tum herübergekommen war. Entweder nahm dieses letztere die christlichen Offenbarungen wie ein Äußeres auf, oder es ent­wickelte sich später innerhalb des romanisch-germanischen

168

Elementes aus dem Seelenhaften - das noch mit Innerlichkeit demjenigen gegenüberstand, was das Christentum zu geben hatte - das Kritische. Das rein Verständige entstand, das dann in Voltaire seinen besonderen Höhepunkt erfahren hat.

Man möchte sagen: es war in der Weltgeschichte vor-bestimmt, daß ein Teil des germanischen Seelenhaften für den Süden und Westen Europas geopfert werden mußte; der floß in jene Völker ein. Ein anderer Teil aber blieb zurück in Europens Mitte, und dieser hatte die besondere Aufgabe, das Seelenhafte dieser Völker fortschreiten zu lassen durch die weitere Entwickelung der Seele zum Geistigen. Denn wir haben bisher im Grunde genommen nur das germanische See­lenhafte geschildert. Aber während die anderen, die Vortrup­pen des Germanentums, als Seelensubstantialität nach dem Süden und Westen Europas abgehen, sehen wir in der Mitte Europas einen Kern von germanischem Seelenhaftem zurück­bleiben. Und wie entwickelt sich dieser Kern? Er steigert das, was als Charaktereigenschaften, als Gemüthaftigkeit bei den Völkern Germaniens aufgetreten ist, und was durch das Chri­stentum durchleuchtet und durchwärmt worden ist, ins Gei­stige hinauf; denn das Geistige ist die höhere Entwickelung des Seelischen. Und indem sich das Seelische zum Geistigen heraufentwickelt, muß sich das Geistige, weil das Christentum das Herrschende ist, in den Zeiten bis in das dreizehnte, vier­zehnte Jahrhundert herauf so entwickeln, daß dadurch noch ein intimeres Verhältnis zu demjenigen geschlossen wird, was die Seele selbst intim erlebt, und was sich im Christentum offenbart.

Schon im neunten Jahrhundert sehen wir das erste Herauf-glänzen des Geistigen aus dem germanischen Seelenhaften in jenem wunderbaren Gedicht, das im Sachsenlande entstan­den ist: in dem «Heliand». Wir sehen in dem Heliand das Leben des Christus Jesu geschildert; aber wir sehen es so

169

geschildert, wie wenn der Christus Jesus als einer der germani­schen Heerkönige durch die Welt zieht, ganz germanisches Wesen hat er angenommen; und die ihm folgen, seine Jünger, sie nehmen sich in diesem Gedichte aus wie germanische Lehnsleute. Ganz in das germanische Volkselement aufgenom­men ist da das Christentum; wiedererstanden, wiedergeboren ist die christliche Legende aus den Seelen der Menschen Mittel­europas im Heliand. Und wir fühlen es, daß jetzt an einem besonderen Punkte dasjenige auftritt, was sich schon im alten Gotentum gezeigt hat, aber dann wieder vergangen ist: daß die germanische Volksseele darauf angewiesen ist, das Chri­stentum nun nicht von außen zu empfangen wie die roma­nische Welt, sondern das, was an dem Christentum, an den christlichen Impulsen erlebt werden kann, aus sich selbst her­aus zu erzeugen, in sich selbst zu erleben. Daher wird im Heliand die Geschichte, die sich mit dem Leben des Christus Jesus abgespielt hat, so erzählt, als wenn sie sich in Mittel­europa, im Mittelpunkte des Germanentums abgespielt hat. So erzählt der Verfasser, als wenn er Ereignisse seiner Heimat schildern wollte, und nicht nur in der Form, sondern in der ganzen Art, in die Beschreibung der Örtlichkeiten und so weiter.

Dann sehen wir, wie das Heraufschreiten des Seelenhaften in das Geisterhafte uns weiter entgegentritt in jener wunder­baren Blüte deutschen Geisteslebens, die wir als die mittel­alterliche deutsche Mystik ansprechen, die da beginnt mit Meister Eckhart und Johannes Tau/er, die eine besondere Aus­gestaltung erlangt bei Paracelsus, dann weiterschreitet in Valentin Weigel und Jacob Böhme und schließlich ihren Höhepunkt erreicht in den wunderbaren Sprüchen des Angelus Silesius, der im siebzehnten Jahrhundert in Schlesien lebte, vom Jahre 1624 bis zum Jahre 1677. Hier an dieser deutschen Mystik sehen wir, zunächst bei Meister Eckhart und Johannes

170

Tanier und dann bei den andern, die ihre &hüler geworden sind, wie unmittelbar das Seelenhafte übergeht in die Geist-erfassung.

Wie stehen diese Geister zu dem, was sie ihren «Gott> nen­nen? So stehen sie zu dem, was sie ihren Gott nennen, daß sie überwinden wollen, von sich abstreifen wollen alles das, was in der einzelnen Persönlichkeit, in der einzelnen Individualität fühlt und will und denkt, daß sie sich nur als ein Instrurnent fühlen wollen, durch welches der Gott selber spricht und fühlt und denkt und will. Bis ins Wort, bis in ein schönes Wort hinein ist diese Empfindung ausgedrückt: entwerden wollen sie, das heißt abstreifen wollen sie, was man nennen kann: Ich fühle durch meine Persönlichkeit so und so, ich denke durch meine Persönlichkeit dies und das, ich will aus meinen Im­pulsen heraus. Nein! das möchten diese Geister nicht. Was sie ihren Gott nennen, was sie auch als den Gott empfinden, der durch das Mysterium von Golgatha durchgegangen ist, von ihm möchten sie, daß er ihr Gemüt, alle ihre inneren Kräfte ganz erfüllt, ganz durchgeistigt, daß die Seele ganz erfüllt von ihm werde, so daß nichts Eigenes in ihr lebt, sondern daß sie ganz von dem Göttlichen erfüllt ist, und daß das Göttliche in ihr will, und sie nur eine Hülle dieses Göttlichen sei. So wol­len sie sich in die geistige Weltordnung hineinstellen, daß sie sagen können: Wenn meine Hand sich bewegt, so weiß ich, daß es der Gott in mir ist, der die Kraft entfaltet zum Be­wegen der Hand; wenn ich denke - der Gott ist es, der in mir denkt; wenn ich fühle und will - der Gott ist es, der in mir fühlt und will; ich will ablehnen alles, was Eigenleben in mir ist, und will nur in mir den Gott walten lassen! Und sie erwarteten alles von der Gnade, die sie überstrahlen kann, wenn sie ihre Seele leer machen und sich überstrahlen lassen von der Gnade des Gottes, die in sie einfließen kann. Davon erwarteten sie die Vervollkommnung ihrer Seelen.

171

Was erleben wir an diesen Persönlichkeiten? Das erleben wir: was sich wie eine Natureigenschaft der menschlichen See­len ausnimmt, das alte germanische Gemütsleben, das alte ger­manische Gefühlsleben, was erst noch erfüllt war von dem Iloffen und dem Sehnen nach der geistigen Welt, das durch­dringt die christlichen Impulse mit derselben Impulsivität, mit der es früher das äußere physische Erleben durchdrungen hat. Was der Mensch in der äußeren physischen Welt ist, das wächst bei diesen Meistern zusammen mit dem inneren Er­leben des Gottes und der göttlichen Weltordnung. Bis zu einem solchen Grade wächst es zusammen, daß zum Beispiel der Meister Eckhart in einem wunderschönen Spruche, den ich vorlesen will, diese Stimmung der Seele, wo wir das See­lische ins Geisterfassende übergehen sehen, mit den Worten charakterisieren konnte: «Hast du Gott lieb, dann kannst du tun, was du willst, denn dann willst du nur das Ewige und das Eine, was Gott auch will, und was du tust, das tust du in Gott, und Gott tut es in dir.» Dieses Sicheinswissen mit dem Gott ist es, was uns da entgegentritt, wo aus der germanischen Seele der deutsche Geist geboren wird. Und dieses innerliche Erleben des Geistes, diese tätige Anwesenheit des Geistes in der Seele - 0, sie leuchtet uns so wunderbar, in so herrlicher

- ich sage - in so wunderherrlicher Weise entgegen aus den schönen poetischen Sprüchen des Angelus Silesius des sieb­zehnten Jahrhunderts, in seinem «Cherubinischen Wanders­mann>. Wie an einem Höhepunkte der Seelenentwickelung, die in den Geist hineinsteuert, stehen wir da. - Ich kann nicht umhin, einige dieser Sprüche dieses in Schlesien lebenden deutschen Mystikers, der mitbeteiligt war an der Geburt des deutschen Geistes aus dem germanischen Seelenhaften heraus, Ihnen vorzulesen:

172

Daß Gott so selig ist

und leber ohn' Verlangen,

Hat er sowohl von mir,

als ich von ihm empfangen.

Wie einig weiß sich eine Seele mit ihrem Gott, die so spre­chen kann, daß sie zu sagen versteht: Gott ist so selig und ohne Verlangen aus dem Grunde, weil er in mir die Seligkeit erleben kann, weil er sie ebenso von mir empfängt als ich von ihm. Allerdings, dabei darf nicht mehr an dasjenige Ich ge­dacht werden, das an den Eigensinn des Lebens gebunden ist, sondern an das Ich, welches sich ganz durchpulst und durch-wärmt weiß von dem, was der Gott will - wie ich es eben von dem Meister Eckhart vorgelesen habe. Ein anderer Spruch heißt:

Ich selbst bin Ewigkeit,

wann ich die Zeit verlasse,

Und mich in Gott und Gott

in mich zusammenfasse.

Welch inniges Durchdringen des menschlichen Ich mit der Gottheit erzeugt hier das Gefühl, daß das Ich lebt in dem

Gefühl, daß es selbst den Gott erfaßt in der Ewigkeit! Und nun die Frage:

Wie ist mein Gott gestalt't?

Geh, schau dich selber an,

Wer sich in Gott beschaut,

schaut Gott wahrhaftig an.

Einheit des menschlichen Wesens mit dem Göttlichen. Und so ganz - ich möchte sagen - trunken von dem Zusammen-hange der Menschenseele mit dem, was im Mysterium von Golgatha lebt, mit dem, was in den Impulsen des Christen­tums lebt, ist der nächste Spruch:

173

Das Kreuz zu Golgatha

kann dich nicht von dem Bösen,

Wo es nicht auch in dir

wird aufgericht't, erlösen.

Das heißt, der Mensch muß in sich erleben alles, was er erleben kann, wenn er nachfahlt, nacherlebt alles, was in dem Miterleben, in dem Miterfahren der Leiden und der Über-windungen des Erlösers vor sein geistiges Auge treten kann. Und ganz besonders tritt uns dieses Ewigkeitsbewußtsein in zwei Sprüchen des Angelus Silesius entgegen, in Sprüchen, von denen man sagen möchte, es sei einer der größten Glücksfälle des Lebens, daß diese Sprüche jemals in der deutschen Sprache ausgesprochen worden sind. Der eine:

Ich sterb' und leb' auch nicht:

Gott selber stirbt in mir:

Und was ich leben soll,

lebt er auch für und für.

Hinblicken auf den Tod, Anschauung des Todes - und wissen:

«nicht ich sterbe, sondern der Gott stirbt in mir>, das heißt nichts anderes als wissen, daß der Mensch lebendig durch die Todespforte geht. Denn wenn er weiß, daß der Gott in ihm lebt, dann weiß er auch, daß der Tod dann für die Erkenntnis überwunden ist; denn wissen, daß der Gott in mir stirbt, heißt wissen, daß ich nicht sterbe; denn der Gott stirbt nicht. So wußte einmal einer der deutschen Mystiker die größten Rätsel des Lebens in die konzisesten Worte zu fassen. Und ebenso tief ist ein anderer Ausspruch des Angelus Silesius:

Die Liebe, welche sich

zu Gott in dir beweist,

Ist Gottes eigne Kraft,

sein Feuer und heil'ger Geist.

174

Nicht ich bin es, der da spricht - so sagt Angelus Silesius -, nicht ich bin es, der da liebt; Gottes Sprache, Gottes Liebe in mir, das ist es, zu dem ich «entwerden> kann. Das heißt, daß sich göttliches Leben in meine Seele senkt und meine Seele ausfüllt, wenn ich versuche, rnich selber zu entwerden, Hülle nur zu sein für das, was als göttlich-geistiges Leben in die Seele hereinkommen kann.

Und die Kräfte, die also in die deutsche Geistesentwickelung eingezogen waren, sie wirkten fort, und wir sehen sie wieder auftauchen dort, wo der deutsche Geist seinem Volke die bis­her tiefsten Impulse eingepflanzt hat. Wir sehen in der Zeit, die wir die deutsche klassische Zeit nennen, die Sehnsucht ent­stehen nach dem tiefsten Erleben des eigenen menschlichen Geistes, nach dem Hervorsuchen alles dessen, was der Mensch im Geiste erleben kann, und nach dem Ausgestalten dessen, was der Menschengeist erleben kann, zu einer Weltanschau­ung. Wir sehen es heraufdämmern bei Geistern wie Lessing, wie Herder; wir sehen es zu einer Höhe sich erheben bei Goethe und Schiller und bei den deutschen Philosophen Fichte, Schelling und Hegel. Und was sehen wir da als des deutschen Volkes tiefste Kraft, indem sie hinzublicken sucht auf ein historisch Überkommenes, aber auch auf das, was nur durch die äußere physische Anschauung der Welt gegeben werden kann? Sie sucht nach der Wahrheit, zu der die Menschenseele ver­anlagt ist, nach der sie in ihren Tiefen sucht; und sie kommt dazu, aus dem Geiste heraus alles, was durch die ganze Welt­geschichte wellt und wallt, in einer neuen Form erkennend wiederzugebären. Und in diesem Sinne gibt Lessing einen Ab­riß des ganzen menschlichen Strebens und Forschens in der Schrift, die zugleich den Abschluß seines Lebens kennzeichnet:

«Die Erziehung des Menschengeschlechts». Darin stellt er dar, wie durch das geschichtliche Werden hindurch göttlich-geistige Kräfte gehen, wie die ganze Geschichte eine erzieherische

175

Arbeit von seiten göttlich-geistiger Mächte ist, und wie sich als der größte Impuls in den Fortschritt der Erdentwickelung der christliche Impuls hineinstellt. Da aber dämmert auch im deutschen Geistesleben etwas auf, was erst nach und nach in der Zukunft seine volle Ausgestaltung finden kann, was in der Gegenwart erst geisteswissenschaftlich wieder begriffen werden muß - die Erkenntnis: wie frühere Geschichtsepochen zusam­menwirken mit späteren, wie herübergetragen werden kann, was sich der Mensch in früheren geschichtlichen Epochen er­obert hat, in spätere Epochen. Und Lessing, indem er aus­drücklich sagt: er scheue sich nicht anzuerkennen, daß eine größere Wahrheit deshalb nicht für eine mindere gehalten werden braucht, weil sie im Laufe der Entwickelung zuerst aufgetreten ist und in Zeiten, als die Menschheit noch nicht durch die Vorurteile der Schule verdüstert war - Lessing kommt zu der Anerkennung, daß die Seele des Menschen in wiederholten Erdenleben lebt, daß das vollständige Leben der Menschenseele so verläuft, daß sie in immer neuen Erdenleben wiederkehrt, und daß zwischen zwei Erdenleben ein Dasein in einer rein geistigen Welt verfließt, wo die Seele die Kräfte umwandelt, die sie im letzten Erdenleben erlangt hat, um dann wiederzukehren und in spätere Epochen hinüberzutragen, was sie sich in früheren erworben hat. Dadurch wird ein fort-laufendes Wirken der Entwickelung geschaffen, an dem die Menschen selber beteiligt sind.

Dann sehen wir, wie durch Herder der Geist, der sich in sich selber erfaßt, der zu solcher religiöser Inbrunst in den deutschen Mystikern zu gedeihen versuchte, wie dieser Geist, durchleuchtet und geklärt, das ganze Natur- und Menschen­leben durchdringen will. Ein großes, herrliches Werk ist es, welches Herder in seinen «Ideen zu einer Philosophie der Ge­schichte der Menschheit» geschaffen hat, wo er schildert, wie in allem Geist lebt, Geist, den er findet, wenn er in die Tiefen

176

seiner Seele hinunterschaut, der aber zugleich des Menschen ewige Gelassenheit, des Menschen ewige «Eingelassenheit» und ewiges Ruhen im ewig-göttlichen Dasein verbürgt.

Und wir sehen dann, wie in Goethe - um noch einmal das Werk zu erwähnen, das auch schon in früheren Vorträgen eine Rolle gespielt hat -, wie dieses Werk «Person» wird, indem Goethe den «Faust» geschaffen hat: das Streben, des Menschen Seelenleben durch die eigene Kraft zu verbinden mit dem, was in den geistigen Welten ruht und schafft und wirkt. Und da­neben hat Goethe in der Figur des Mephistopheles dem Faust alles gegenübergestellt, was an Hindernissen vorhanden sein kann, um den Menschen von diesem Streben abzuhalten. Zu­letzt aber muß sich der Mensch die Freiheit erringen, wo ihm aus der anderen Welt das Wort entgegentönen kann: «Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.»

Weiter sehen wir dann den großartigen Versuch des deut­schen Nationalphilosophen Johann Gottlieb Fichte, der in Deutschlands schwersten Zeiten jene herzeindringenden Töne fand, die er in seinen «Reden an die deutsche Nation» zurn Ausdruck brachte. Wir sehen Fichte vor uns dastehen mit sei­nen Ideen, welche aus dem menschlichen Ich heraus, das sich aber von vornherein durchdrungen weiß mit allen Gottes- und Geistesimpulsen, eine ganze geistige Welt erschaffen, eine Welt, für welche die physische Welt nur das Material sein soll, um sich zu verwirklichen. Einen der kühnsten philosophisch­spirituellen Versuche sehen wir in der Philosophie des Fichte. Eine Philosophie ist das, die von vornherein davon überzeugt ist, daß der Mensch nicht nur seine fünf Sinne und dazu sei­nen gewöhnlichen Verstand hat, sondern daß er noch einen höheren Sinn hat, einen Sinn, durch den eine geistige Welt unmittelbar erlebt wird, wodurch sich der Mensch eins weiß mit dem göttlich-geistigen Leben, und sich in der äußeren Wirklichkeit nur ein Material schafft, um in demselben arbeiten

177

zu können. Man möchte sagen: was uns noch in einem dumpfen seelenhaften Streben bei Meister Eckhart, bei Johan­nes Tauler, ja selbst noch bei Jacob Böhme und Angelus Sile­sius entgegentritt, das wird lichte Klarheit in der Philosophie Fichtes, lichte Klarheit deshalb, weil hier zwar das Gemüt das tonangebende Element der Seele ist, aber sich klärt zu licht-vollen Ideen, die eine geistige Welt umspannen und bekennen wollen: Im Ich lebt die gesamte geistige Welt. So wie Angelus Silesius sich in seinem Ich Eins wissen wollte mit seinem Gott, mit dem ganzen göttlichen Wirken und Leben, so war es für Fichte von vornherein klar: Wenn ich wirklich an diejenige Stelle meines Ichs gelange, wo sich dieses Ich in seinem tief­sten Grunde erfaßt, dann bin ich bei Gott, dann schaffe ich nicht nur irgendeine Weltanschauung, sondern eine solche, die der Gott in mir schafft. Und einer der kühnsten, der mutigsten Gedanken ist ein Fichtescher Gedanke. Er ist bei Fichte nicht so ausgesprochen, wie ich ihn jetzt aussprechen will; aber alles, was Fichte gesagt hat, kann in die Worte zusammengefaßt werden: Wenn das menschliche Ich mit seinen Kräften, mit dem was es ist, abhängig sein soll von irgend etwas, sei es die Außenwelt, sei es das Gehirn, sei es der Leib oder was immer, dann ist es an etwas anderes gebunden; dann ist es nicht das­jenige, was das göttlich-geistige Wesen in sich selber erleben kann. Dieses Ich muß nicht in sich anderes Wesen sein, son­dern es muß sich immer wieder und wieder schaffen; und sich schaffen muß die wichtigste Tätigkeit des Ich sein. So empfin­det Fichte. Des Ich tiefstes Wesen erkennen wollen heißt für Fichte, in jedem Augenblicke wissen, daß man dieses Ich schafft. Würde es sich für einen Augenblick verlieren, so hätte es die Kraft, sich immer wieder und wieder zu schaffen. Als schöpferisch erfaßt Fichte dieses Ich. Dadurch ist es ein un­mittelbares Abbild, ein wirkliches Ebenbild der geistigen Gottheit.

178

Was Fichte so als innersten Kern der Seelensubstanz im menschlichen Wesen, das mit seinem Gotte vereinigte Ich, finden wollte, das legt Hegel auseinander in - wenn auch ab­strakten - Ideen, die wiederum eine Welt umspannen sollten, und die zugleich die innere Schaffenskraft der Welt darstellen sollten. Hegel sagte sich: wenn der menschliche Geist wirklich dazu gelangt, die reinen, lichterfüllten Ideen in sich leben zu lassen, so ist es nicht nur der einzelne menschliche Geist, der an das Gehirn gebunden ist, der dann denkt; sondern dann ist es die in dem Menschen lebende höhere Kraft, die die Welt durchleuchtende Gotteskraft; dann denkt Gott im Menschen. Es kommt für Hegel nur darauf an, sein Denken soweit zu klären und zu kondensieren, daß es hinweggelangt ist über alles, was an eine äußere Welt gebunden ist, und wirklich bei dem reinen Gedanken, den Gott in der Seele denkt, angekommen ist. Dieses Streben ist Hegels philosophisches Streben.

Damit hat zunächst die deutsche Geistesentwickelung die Stufe des «Geistes» in der vorläufig höchsten Weise erfaßt. Es ist eigentümlich, daß hier, gleichsam in höchster Spannung der Geistesentwickelung, ein Punkt erreicht worden ist, an dem man nicht festhalten konnte, von dem man später gleichsam wieder heruntergefallen ist; so daß in bezug auf alles, was später gefolgt ist, wirklich das gilt, was Hegel einmal gesagt hat: Nur einer hat mich verstanden, und selbst der hat mich mißverstanden. Es war eine Höhe, zu der sich eben wenige hinaufschwingen konnten und noch wenigere sich halten konnten.

Was war mit Hegels Philosophie erreicht - und was noch nicht?

Erreicht war, daß das Bewußtsein in der Seele entwickelt war, daß die germanische Seelenentwickelung zum deutschen Geistesleben so weit vorgeschritten war, daß man erkannt hatte: der Mensch vermag in sich die Geisteswelt nur nachzuleben,

179

wenn er Entwickelung sucht, wenn er hinaufzusteigen sucht in geistige Welten, von denen einst die Völker ausgingen, als sie noch altes Hellsehen hatten. Aber Hegel war stehen-geblieben bei Begriff und Idee. Denn er konnte sich nicht sagen: Begriffe und Ideen sind noch an den menschlichen Leib gebannt; ich muß vorschreiten zu dem, was außerhalb des menschlichen Leibes als Erleben da ist. - Wie es möglich ist, daß die Menschenseele dazu gelangt, ein solches Erleben außerhalb des Leibes zu erreichen, davon ist hier öfter die Rede gewesen; davon wird morgen weiter die Rede sein, indem zu­gleich gezeigt werden soll, wie ein solches Erleben und Er­kennen dem Menschen in ernsten und glücklichen Stunden des Lebens vorwärts helfen kann. Aber in Hegel ist schon das Bewußtsein erreicht, wie im Menschen im äußeren Dasein der Geist lebt, wenn er es auch nur an den trockenen, nüchternen Ideen zeigen konnte. Und wenn auch Hegel nur ein Weltbild hinmalen konnte, das sich in trockenen, nüchternen Ideen aus-lebt, weil es sich nicht aus der Inspiration heraus zu dem Er­fassen des wirklichen Lebens im Geiste erhebt, so ist aber doch die Linie, die wirkliche Richtung zum Erfassen des Geistes in der Hegelschen Philosophie innerhalb des deutschen Geistes­lebens gegeben. Und wenn wir hinblicken auf die Impulse, die so, den Geist erlebend, in der germanischen Seele vorhanden sind, und wenn gefragt wird: «ist es ein Ende, wie sich die Dinge so dargestellt haben?» dann können wir sagen: nein! das ist kein Ende; das ist - man möchte sagen - erst eine Etappe des Anfanges. Mit Hegels Philosophie ist etwas erreicht, von dem man sagen muß: kann man sich in sie vertiefen und die Seele zu einem innerlichen Werkzeug der Ideen machen, dann entwickelt sich die Seele weiter. Es muß also der deut­schen Seele die Weltmission übertragen sein, von der abstrak­ten Idee, von dem Erfassen der Gedanken und Ideen, die Natur und Menschenwesen in der Natur durchwallen, wiederum hinaufzusteigen

180

zu dem unmittelbaren lebendigen Erfassen und Erfahren im Geiste und in der geistigen Welt. In einer Etappe seines Anfanges sehen wir den deutschen Geist, und wir ver­stehen, warum er an einer solchen Etappe seines Anfanges sein muß: weil er sich so herausentwickelt hat, daß er, ausgehend von dem auf sich selbst gestellten Gemüt, zunächst in seinem Innern dasjenige erfassen mußte, was die Weltenrätsel ent­rätseln muß. Deshalb wird dieser deutsche Geist so schwer ver­standen. - Es ist eigentümlich, wenn man zum Beispiel ver­nimmt, daß der geistvolle Pole Adam Mickiewicz im Jahre 1843 in Paris einen Vortrag gehalten hat, in welchem er aus-führte: Die deutschen Schüler haben von Hegel gar nicht ge­wußt: glaubt Hegel an einen unsterblichen Menschen? glaubt er an den wahren christlichen Gott? Mickiewicz meinte, daß die Hegeische Philosophie so wenig sich zu diesen Rätseln des Lebens erhebe, daß man gar nicht erkennen kann, ob sie überhaupt von diesen Dingen sprechen will. Und er tut den Ausspruch: die polnischen und französischen Journalisten haben Hegel viel besser verstanden als die Schüler Hegels; denn -so meint er - diese polnischen und französischen Journalisten hätten eben gewußt, daß Hegel von dem unsterblichen Men­schen und von dem wahren christlichen Gott nichts gewußt habe. - Wie unverständig redet der sonst helle Mickiewicz über Hegel! Warum konnten die französischen und polnischen Journalisten so leicht Hegel «verstehen»? Eben deshalb, weil die Journalisten in seichten Gewässern steuern und nicht er­kennen, daß man bei Hegel tief, tief hinuntersteigen muß, daß da die Fragen sich spannen, daß sie dann tiefer und tiefer ge­stellt werden müssen, und daß da der Geist, über den man sonst verfügt, nicht dahin kommt, aus den gegebenen Begriffen bei Hegel die Perspektiven zu ahnen, aus denen die großen Rätsel des unsterblichen Gottes gelöst werden müssen. Nichts anderes hat Mickiewicz mit dem eben Angeführten ausgesprochen,

181

als was zu charakterisieren ist mit einem Ausspruche des alten Satirikers Lichtenberg, den ich anführen will, indem ich ihn mit den Ausführungen Mickiewicz' zusammenbringen will:

«Wenn Bücher und ein Kopf zusammenstoßen, und es klingt hohl, so braucht nicht gerade das Buch daran schuld sein.> Das ist es, worauf es ankommt: daß das deutsche Geistes­leben im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts gelernt hat, einen Anfang zu machen zur wahren Geisteswissenschaft, einen Anfang zur lebendigen geistigen Erkenntnis, einen solchen An­fang, der in sich selber die Kraft des Fortschrittes, die Kraft zur Vollendung trägt. Was folgt uns aus dieser Betrachtung -und aus dieser letztgenannten Konsequenz der Betrachtung für das Wesen des deutschen Geistes? was folgt für uns daraus -so, daß wir es in unsere Empfindungen hereinnehmen können, in die Empfindungen, die wir in diesen schicksaltragenden schweren Tagen hegen können, wo für deutsches Geistesleben, für deutsches Geisteswesen in Ost und West soviel teures Blut und soviel Kraft verbraucht wird? Was folgt daraus?

Wir sehen die kontinuierliche Fortentwickelung der germa­nischen Seele zum deutschen Geist; wir sehen den deutschen Geist in einer Anfangsetappe, sehen die Keime, die da sind und die Versprechen, daß er noch auf Höhen steigen muß, die schon implizite in ihm liegen, und die nicht getötet werden dürfen, sondern die sich entwickeln müssen, weil sie zu seinem Wesen gehören. Einzelne Menschen können sterben, bevor sie ihr Leben voll ausgelebt haben. Menschen können sterben in den Jugendjahren ihres Daseins, weil sie wiederkehren in an­deren Erdenleben, und weil außerdem für das irdische Kultur­leben andere an ihre Stelle treten können. Unvollendete Men­schenleben können sich im äußeren physischen Dasein abspie­len. Unvollendete Völkerleben nicht! Denn wenn ein Volk, bevor es seine Mission erfüllt hat, hingemordet würde oder in seiner Existenz beeinträchtigt würde, dann tritt nicht eine andere

182

Volksindividualität an seine Stelle. Völker müssen sich ausleben! Völker müssen den Kreislauf ihres Daseins - nicht nur das Kindes- und Mannesdasein, sondern ihr Dasein bis in die höchste Vollendung hin erreichen. Der deutsche Geist, das deutsche Geistesleben steht nicht an einem Ende, nicht vor einer Vollendung; sondern es steht an einem Anfange. Ihm ist noch viel zugeteilt. Wenn Feindeswünsche, die nach dem Entgegengesetzten gehen, sich von allen Seiten gegen die Exi­stenzmöglichkeiten des deutschen Volkes, der mitteleuropä­ischen Welt erheben, dann muß es dieses sein, was der mittel­europäischen Welt, was dem deutschen Volke die Kraft zum Widerstande gibt, die Kraft gibt, die Keime lebendig zu erhal­ten, die wir in seine Seele gelegt finden gerade dann, wenn wir diese Seele in ihrer ganzen lebendigen Entwickelung betrach­ten. Und der Glaube an die Sieghaftigkeit des deutschen Le­bens, er braucht nicht ein bloßer blinder Glaube zu sein; er kann hervorgehen aus der lebendigen Erkenntnis des deutschen Wesens, aus jener lebendigen Erkenntnis, welche da zu der An­schauung kommt, daß das deutsche Leben fortleben muß, weil das deutsche Wesen in der Weltenentwickelung seine Mission erfüllen muß, weil nichts da sein würde, was die rein äußere materialistische Weltanschauung erheben würde zu jener ideell­sten spirituellen Höhe, deren Intention im deutschen Wesen liegt. Wahrhaftig: in diesem deutschen Geistesleben liegt das, was einstmals die bloße materialistische Weltanschauung her-ausführen wird zur Anschauung der spirituellen Welt. Und daß die besten Geister es geahnt haben, daß ein Anfang und nicht ein Ende des deutschen Geisteslebens gegeben ist, das sehen wir bei allen großen Geistern, wie sie die Impulse dieses Geisteslebens ausgesprochen haben. Der in diesen Vorträgen öfter erwähnte Herman Grimm sah einstmals - diese Stelle ist in seinen Goethe-Vorlesungen - auf dasjenige hin, was die ma­terialistische Weltanschauung in der Gegenwart aus der Welt

183

gemacht hat. Er sieht hin auf die Kant-Laplacesche Theorie, die einen großen Weltennebel an den Ausgangspunkt unserer Weltentwickelung stellt; dieser Nebel verdichtet sich zu einem großen Gasball, der auf irgendeine Weise anfängt sich zu drehen, und auf diese Art entsteht neben den anderen Planeten auch unsere Erde; auf der Erde entwickelt sich im Laufe der Zeit auf eine Weise, man weiß nicht wie, Geist und Leben, und später wird dann - nach dieser Theorie - wenn die Erde erstorben ist, alles Leben und aller Geist in die Sonne zurück­fallen. Unvereinbar mit dem, was aus den Quellen des deut­schen Geisteslebens herauskommen kann, ist für Herman Grimm eine solche materialistische Anschauung über die Welt-entwickelung. Deshalb drückt er sich in seinen Goethe-Vor­lesungen mit dtastischen Worten über eine solche Darstel­lung aus:

«Es kann keine fruchtlosere Perspektive für die Zukunft ge­dacht werden, als die, welche uns in dieser Erwartung, als wis­senschaftlich notwendig, heut aufgedrängt werden soll. Ein Aas­knochen, um den ein hungriger Hund einen Umweg machte, wäre ein erfrischendes appetitliches Stück im Vergleiche zu diesem Schöpfungsexkrement, als welches unsere Erde schließ­lich der Sonne wieder anheimfiele, und es ist die Wißbegier, mit der unsere Generation dergleichen aufnimmt und zu glau­ben vermeint, ein Zeichen kranker Phantasie, die als ein histo­risches Zeitphänomen zu erklären die Gelehrten zukünftiger Epochen einmal viel Scharfsinn aufwenden werden.»

Was für eine Hoffnung kann uns aus einer solchen Betrach­tung des deutschen Geistes, wie sie heute angestellt worden ist, erfließen? Wir haben gesehen, wie sich das germanische Seelen-hafte herausentwickelt hat aus dem alten Hellsehen; wir haben dieses Seelenhafte sich weiterentwickeln sehen zum deutschen Geist, dessen erstes Aufglänzen sich in der deutschen Mystik zeigt; wir haben diesen deutschen Geist weiter sich entfalten

184

sehen zu dem Anschauen des Faust, zu dem Geist Goethes, Schillers und der anderen, und wir können heute sehen, wie er sich in einem Durchdringen der Welt weiterentwickeln wird bis zu den QLlellen des Geistigen hin, an denen die Menschen-seele, wenn sie sich nur tief genug erfaßt, wirklich teilnehmen kann. So den deutschen Geist ansehen, gibt eine Zuversicht, daß unbesiegbar die deutsche Kraft sein muß; eine Zuversicht gibt es uns, die nicht auf einem bloßen blinden Glauben be-ruht, sondern die unser Trost und unsere Hoffnung sein muß in diesen schicksaitragenden schweren Tagen.

Lassen Sie mich am Schlusse dieser Betrachtung das, was sich wie eine Konsequenz daraus ergibt, in die folgenden Worte zusammenfassen:

Der deutsche Geist hat nicht vollendet,

Was er im Weltenwerden schaffen soll,

Er lebt in Zukunftssorgen hoffnungsvoll,

Er hofft auf Zukunftstaten lebensvoll; -

In seines Wesens Tiefen fühlt er mächtig

Verborgnes, das noch reifend wirken muß. -

Wie darf in Feindes Macht verständnislos

Der Wunsch nach seinem Ende sich beleben,

So lang das Leben sich ihm offenbart,

Das ihn in Wesenswurzeln schaffend hält!

185

GEIST-ERKENNTNIS IN GLÜCKLICHEN UND ERNSTEN STUNDEN DES LEBENS Berlin, 15. Januar 1915

In dem gestrigen Vortrage erlaubte ich mir darauf aufmerk­sam zu machen, wie in dem Ringen und Streben der deutschen Geistesentwickelung die Keime einer wirklichen Geisteswissen­schaft enthalten sind, die uns die Zukunft bringen soll, die aus der Gegenwart heraus sich gebären soll. Und zwar versuchte ich anzudeuten, daß in jener geistigen Arbeit, in jenem geistigen Streben, das nötig war, um zu den Ideen, zu den Vorstellungen und Anschauungen zu führen, die im deutschen Geistesleben in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hervor-getreten sind, daß in diesem Streben und Ringen die Vorberei­tung liegt zur Anerkennung dessen, was allerdings in unserer Gegenwart noch wenig anerkannt werden kann - aus begreif­lichen Gründen, die ja in diesen Vorträgen hier öfter ausein­andergesetzt worden sind. Handelt es sich ja darum, daß man zu dieser Geisteswissenschaft nur durch eine Entwickelung der­jenigen Kräfte der menschlichen Seele kommen kann, die zu­nächst für den Menschen selber in dieser Seele verborgen sind, daß man dazu nur kommen kann, wenn durch energische in­nerliche Gedankenarbeit - durch sogenannte Konzentration und Meditation - aus dem menschlichen Innern jene Kräfte herausgeholt werden, die einst in mehr dämmerhaften Zustän­den des Bewußtseins zu dem gestern erwähnten Hellsehen führten, die im Ursprunge der Menschheit und der Völker in

186

den Seelen vorhanden waren, und die durch bewußte Gedan­kenarbeit wieder hervorgeholt werden können. Dann aber tre­ten sie als bewußte Kräfte in der Seele auf, so daß diese Zustände des Hellsehens, offenbarend die Verhältnisse der geistigen Welt, vollbewußt und unter Wahrung der menschlichen Individualität an die Seele herantreten, so wie die Verhältnisse der materiellen Welt an die Menschenseele herantreten. Jene Meditationen, Konzentrationen, jene innere Arbeit der Seele im Vorstellungs-, Empfindungs- und Willensleben, die für eine solche Entwickelung der Seele nötig sind, sie haben oft den Gegenstand der Vorträge hier gebildet. Heute kann nicht wie­der davon gesprochen werden. Denn heute möchte ich darauf hindeuten, wie die Ergebnisse dieser, durch eine geistige Arbeit zu erringenden geistigen Erkenntnis zur Erhöhung der Lebens-energie, zur Kräftigung und Erstarkung des menschlichen Le­bens in ernsten und glücklichen Stunden des Lebens führen können.

Es ist ganz natürlich und selbstverständlich, daß für das zum materialistischen Denken hinneigende Bewußtsein unserer Zeit es absurd, paradox, vielleicht lächerlich erscheint, wenn Geistes-forschung heute davon spricht, daß der Mensch nicht nur aus demjenigen bestünde, was die äußere Wissenschaft - Biologie, Physiologie usw. - von diesem Menschen erkennt, und was die auch nur an die äußeren Tatsachen sich haltende sogenannte Psychologie erkennt; sondern wenn diese Geistesforschung be­hauptet, daß der Mensch in Wahrheit aus einer Reihe von Gliedern zusammengefügt ist, von denen das physisch Mate­rielle, das Körperliche des Menschen nur eines ist, während die andern Glieder - eben nur durch die erwähnte Geist-Erkennt­nis wahrnehmbar - im Unsichtbaren, Übersinnlichen walten und von dort aus an den Menschen tätig sind. Wie gesagt:

ganz natürlich ist es, daß heute noch vielleicht darüber ge­spottet wird, daß man dagegen polemisiert, daß der Mensch

187

nicht nur den physischen Leib habe, der ihm in der Sinneswelt zu den äußeren Taten und dem äußeren sinnlichen Wahr­nehmen dient, sondern daß er feinere Glieder, geistigere Glie­der der Menschennatur habe. Daß der Mensch außer dem phy­sischen Leibe zunächst einen sogenannten ätherischen Leib habe, einen feineren Leib, Wenn heute eine äußere wissenschaftliche Anschauung von diesen höheren Gliedern der Menschennatur nicht sprechen kann oder nicht sprechen will, sie nicht anerkennen will, so gleicht eine solche Nichtanerkennung etwa der Nichtanerken­nung der Luft von seiten eines Menschen, der nur das mit den physischen Augen Sichtbare und dasjenige, was sich von dem Sichtbaren auch mit den physischen Händen angreifen läßt, gelten lassen will. Denn so wie wir die Luft als physische Ma­terie einatmen und ausatmen in kurzen Zeiten, so atmen der physische und der ätherische Menschenleib mit dem Aufwachen den astralischen Leib und das Ich ein; und mit dem Einschlafen werden sie wieder ausgeatmet, - wenn wir das Wort #SE064-188

die geistige Welt hinein mit dem Einschlafen den astralischen Leib und das Ich. Und fruchtbar wird nun diese Geist-Erkennt. nis, wenn sie in entsprechender Weise im Leben angewendet werden kann, wenn die Menschenseele sich von ihr durch­dringen kann und das Lehen in ihrem Lichte betrachten kann.

Wir werden als Menschen getragen von dem Strome des Lebens. Wir fahren zwischen unserer Geburt und unserem Tode gleichsam dahin in diesem Strome des Lebens. Von einem Ver­gleiche möchte ich ausgehen, der dieses Dahinfahren im Strome des Lebens veranschaulichen soll. - Wenn wir in einem Eisen­bahnzuge sitzen und so hinfahren und zum Fenster hinaussehen, dann erscheint es uns zunächst, namentlich wenn wir das Fah­ren in der Eisenbahn noch nicht gewohnt sind, wie wenn die Bäume und die Häuser an uns votüberziehen würden, sich an uns vorüberbewegen würden. - So etwa lebt der Mensch, fort-reisend die Lebensreise mit seinen Weltanschauungen und Lebensempfindungen, gegenüber dem Glück und dem Unglück, gegenüber Erfolgen und Mißerfolgen des Lebens. Denn wie wirken Glück und Unglück, Erfolge und Mißerfolge auf die menschliche Natur? Wie die menschliche Natur zunächst durch das, was sie aus der physischen Welt ziehen kann, veranlagt ist, so wirken Glück und Unglück, Erfolg und Mißerfolg in der Weise, daß sie gleichsam unsere Weltempfindung, unser Da­seinsgefühl immer mit sich reißen, daß uns in unseren Gefüh­len und Empfindungen die Welt selbst vorüberzuziehen scheint, je nachdem wir in ihr Leid oder Schmerz erfahren. Und wie wir uns erst gewöhnen müssen an das Dahinfahren in der phy­sischen Welt, um während dieses Dahinfahrens den richtigen Gesichtspunkt zu haben gegenüber dem, was draußen nur scheinbar sich an uns votüberbewegt, so ist es am Menschen, den richtigen Gesichtspunkt zu gewinnen, um im Lebensstrome so dahinzufahren, daß er mit seinem Weltgefühl, mit seiner

189

Daseinsempfindung ruhig zu bleiben vermag - ruhig in der geistigen Welt, wenn Glück und Leid, wenn Erfolg oder Miß­erfolg ihm die Weltempfindung, das Daseinsgefühl in Bewe­gung, in scheinbarer Bewegung zeigen wollen.

Nun müssen wir allerdings berücksichtigen, daß die Mensch­heitsentwickelung in einem steten Fortschritt ist, daß Epoche nach Epoche in dieser Menschheitsentwickelung aufeinander folgen, daß immer neue und neue Erfahrungen in diese Mensch­heitsentwickelung eintreten, und daß daher auch die Seele in den verschiedenen Epochen der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit Verschiedenes erfahren muß - und nach ihren Erfahrungen in verschiedener Weise auch mit ihren Lebens­empfindungen und mit ihrem Daseinsgefühl sich zu dem gan­zen Leben stellen muß. Daher ist es, daß der Mensch der Ge­genwart ein anderes Verhältnis zur Welt braucht, als dasjenige war, welches in abgelebten Zeiten die Menschenseele zur Welt haben konnte, um innerliche Befriedigung, Ruhe im Daseins­strome zu finden. Nun zeigt uns die Geisteswissenschaft, daß in den Menschenseelen der Gegenwart eine gewisse Summe, eine Art Fonds von Kräften geistigquellenden Lebens ruht, die herauswollen aus dieser Menschenseele, so herauswollen, daß sie nicht in der Seele verborgen bleiben, sondern vor das menschliche Bewußtsein hintreten, so daß der Mensch sie nicht nur wie einen inneren Drang, wie eine innere Pressung fühlt, sondern sie hinstellen kann in seine Vorstellungswelt, in seine Ideenwelt. Denn mit welcher Gesinnung spricht eigentlich die Geisteswissenschaft zu den Menschen? Nicht so spricht sie, als wenn sie Kunde bringen wollte aus fremden Gebieten des Da­seins, gleichsam aus unbekannten Ländern, sondern sie spricht von der Gesinnung aus, daß sie im Grunde genommen zu jeder Seele nur dasjenige sagen will, was in den Tiefen dieser Seele selbst ruht. Und der Geistesforscher ist im Grunde genommen davon überzeugt. daß in allen, allen Menschen dasjenige vorhanden

190

ist, was er nur in Worte zu kleiden, in äußere Begriffe und Ideen zu bringen versucht, daß er den Menschen gar nichts anderes za sagen hat, als was sie schon in sich tragen. Die ganze Geisteswissenschaft, wenn sie mit rechter Gesinnung vom Gei­stesforscher vor die Menschheit gebracht wird, will nichts an­deres geben, als was im tiefen Grunde einer jeden Menschen. seele ist; nur eine Aufforderung an die Menschenseele ist diese Geisteswissenschaft, dasjenige aus sich herauszuholen, was auf dem Grunde einer jeden Seele ruht.

So können wir sagen: in diesen tiefen Gründen der Men­schenseele ruht eine ganze Summe von Kräften, die, wenn sie in das menschliche Bewußtsein heraufgeholt werden, erst zei­gen, was den Menschen im Innern bewegt, was ihn im Innern durchseelt. Wahrhaftig: reicher, inhaltsvoller ist der Mensch als er sich selber oftmals vorstellt.

Nun besteht ein merkwürdiges Gesetz in bezug auf das Ver­hältnis des Menschen zu seiner Erkenntnis und Weltenwahr­nehmung, ein Gesetz, das einem, wenn man es kennt, tiefe Auf­schlüsse geben kann über manches Rätsel der menschlichen Seele. Um das in der einfachsten Weise klarzumachen, will ich noch einmal auf die Tatsache zurückgreifen, die durch die Gei­steswissenschaft erforscht werden kann: daß der Mensch mit jedem Einschlafen sein höheres Wesen - sein Ich und seinen astralischen Leib - in eine geistige Welt hineinsendet. In die­ser geistigen Welt vermag er zunächst nichts wahrzunehmen. Aber das, was er in diese geistige Welt hineinschickt, enthält wirklich, wenigstens einen großen Teil desjenigen - und ist zum großen Teil aus dem zusammengesetzt, - was die Geistes­wissenschaft für das tagwache Leben aus den tiefen Quellen des Daseins hervorholen will. Der Mensch ist nur im Alltags-leben so eingerichtet, daß ihm Bewußtlosigkeit zudeckt, was in seiner Seele ruht, wenn er im schlafenden Zustande außer­halb seines physischen Leibes und Atherleibes ist; und wenn

191

er beim Aufwachen sein Ich und seinen astralischen Leib hin-einträgt in den physischen Leib und Atherleib, dann werden dieses Ich und dieser astralische Leib von dem ausgefüllt, was an Eindrücken aus der äußeren Wahrnehmung kommt, was die materielle Welt uns überliefert. Die Seele ist dann hingegeben an die Außenwelt; und wie in der Nacht die Bewußtlosigkeit dasjenige herabdämmert, was in den Tiefen der Seele ruht, so ist es während des Tages das, was uns an Eindrücken von der materiellen Außenwelt kommt. Aber es ruht in den Tiefen der Seele wirklich alles, was die geistige Wissenschaft dem Men­schen zum Bewußtsein bringen will. - Es herrscht nun ein Ge­setz, ein wichtiges, wesentliches Gesetz, von dem man allmäh­lich erkennen wird, daß es im Grunde genommen das ganze Dasein beherrscht: Dasjenige, was in einem Zustande segens-voll sein kann, das kann verderblich wirken, wenn es in einem anderen Zustande, gleichsam an einem anderen Orte sich gel­tend macht.

In dem, was dem Menschen für sein materielles Bewußtsein verborgen bleibt, ruhen unsichtbare übersinnliche Kräfte. Sie ruhen in dem, was der Mensch im &hlafe in die geistige Welt entläßt, rumoren in diesem Innern, bringen dem Menschen in seinem Verhalten Unsicherheit, Richtungslosigkeit im Leben. Werden diese Kräfte heraufgeholt in die Bewußtheit, werden sie umgewandelt in bewußte Erkenntnisse, Begriffe und Vor­stellungen, dann werden sie segensreich, dann werden sie heil­sam, dann geben sie dem Menschen Richtung und Ziel, Ruhe und Sicherheit im Leben. Es ist das ein eigentümliches Gesetz, und es ist zuzugeben, es ist ein schwierig einzusehendes Gesetz. Aber wahr ist es doch: wenn das, was die Geisteswissenschaft gibt, dem geistigen Erkenner tiefe Befriedigung gewähren kann, wenn es in sein Bewußtsein tritt, so ist es ein unsicher machen­des Element, eine unsicher machende Kraft, wenn es nur un­ten, unbewußt, in den dunklen Regionen der Seele ruht. Ruht

192

es unbewußt in diesen Regionen, was die Geisteswissenschaft zur lichten Erkenntnis erheben will, dann bleibt es ohne Ein­fluß auf das menschliche Ich; dann wallt und wogt es im Un­terbewußten, dann kann es keinen Einfluß haben auf das, was der Mensch erlebt an Glück und &hmerz, an Erfolgen und Mißerfolgen. Dann kann der Mensch nur denjenigen Teil sei­nes Wesens in Erfolge und Mißerfolge, in Glück und Schmerz hineinbringen, der mitgeht mit Glück und Schmerz so, daß die Seele im Glück sich verliert, daß sie im &hmerz versinkt, durch ihre Erfolge betäubt, durch ihre Mißerfolge schmerz-erfüllt wird. Dann geht die Seele überall mit, dann schaukelt und schwimmt sie im Strome des Lebens. Wird aber das, was da unten in den dunklen Regionen der Seele an Erkenntnis-kräften über die geistige Welt ruht, in das Ich heraufgeholt, so daß dieses Ich die geistigen Erkenntnisse mitnehmen kann, wenn das Leben uns lächelt im Glück, wenn das Leben uns Schmerz und Leid bereitet, dann schaukelt und schwimmt das Ich nicht mehr im Glück und Unglück in dem Strom des Lebens; dann trägt es ein gestärktes Inneres in das Glück und Unglück, in Schmerz und Leid hinein, und Glück und Schmerz werden dann anders erlebt.

Wir müssen uns allerdings etwas über das Wesen von Glück und Leid, von Erfolg und Mißerfolg zum Bewußtsein bringen, wenn wir die Anwendung des eben Charakterisierten richtig ins Auge fassen wollen. Was eigentlich bringen Glück und Unglück dem Menschen?

Innerlich verstehen, was der Mensch erlebt im Glück, beim Erfolg, in heiteren Stunden des Lebens oder im Schmerz und in traurigen Stunden, die Mißerfolge ihm bringen -, richtig erkennen kann man das eigentlich gar nicht, wenn man nicht darauf Rücksicht nimmt, daß der Mensch aus dem physischen Außenteil und aus dem geistig-seelischen Innenteil besteht. Was ist das Glück, was ist das Leben im Erfolg?

193

Was im Menschen an seinen Wesensgliedern zusammen-gefügt ist, das bekommt in bezug auf die feineren Verhältnisse eine andere Zusammensetzung im Glück - und im Lei& Wenn wir Glück erleben, wenn die Seele in dieses Glück hinein-taucht, oder auch wenn sie in ihre Erfolge untertaucht, was geschieht dann mit der Menschennatur? Dann reißt sich gleichsam das, was in der Menschennatur sonst ruht, aus dem Inneren heraus, verfolgt das, was von außen an Glück und Erfolg in uns eindringt; der Mensch entfremdet sich seinem Innern, er hört auf bloß in sich zu sein. Der Mensch geht in ein Fremdes ein. Dieses Sichfremdwerden, dieses Außersich-kommen ist das, was gleichsam wie der eine Pendelausschlag des menschlichen inneren Erlebens im Glück sich uns dar­stellt. Wenn der Mensch Schmerz erlebt, wenn er Mißerfolge hat, dann zieht das Geistig-Seelische, gleichsam den Schmerz, die Mißerfolge fliehend, sich tiefer in das Innere zurück, als es im regulären Daseinsverhältnis mit diesem Inneren zusammen-leben müßte; es ist dann so, als ob das Geistig-Seelische sich gleichsam zusammenkrampft, so daß der Mensch sich nicht, wie im Glück und Erfolg, an die äußere Welt verliert, sondern sich gerade in sich zurückzieht. Und da nun der Mensch so veranlagt ist, daß er nur im harmonischen Zusammenilange mit der Welt seine Ruhe und seine Befriedigung finden kann, so bringt ihn sein zusammengekrampftes Innere ebenso aus seiner Harmonie mit dem Leben heraus, wie er durch das Auf­gehen in Glück und Erfolg seinem Wesen entfremdet wird. Das ist der andere Pendelausschlag des menschlichen Innen-lebens zu dem Leben in Glück und Erfolg: dieses ganz in sich leben wollen, daß man die Welt flieht, weil sie Mißerfolg, Schmerz über uns ausgießen will. Allerdings ist es zum gesam­ten menschlichen Erleben notwendig, daß der Mensch diese zwei Pendelausschläge hat; es handelt sich nur darum, wie er sie erlebt. Wenn er sie nicht erlebt, dann sucht er sie sogar.

194

Und ich will, einfügend in diese Betrachtung, zeigen, wie er diese Entfremdung suchen kann, die wir im naturgelnäßen Gang im Glück erfahren, wo also der Mensch nicht mehr in sich ist, wo er aufgehen will in einem Element, das seinem eigentlichen Ich entfrerndet ist.

Das ist dann der Fall, wenn der Mensch sich nicht gestehen will, was in diesem Ich eigentlich enthalten ist, wenn er in das Bewußtsein nicht in Wahrheit das heraufkommen lassen will, was in diesem Ich enthalten ist, sondern dafür in ein anderes Element eintaucht und sich betäubt über die Wahrheit des Ich durch ein Ruhen in der äußeren Welt. Diese Betäubung kann gesucht werden, und sie wird gesucht. Und wir sehen

- lassen Sie mich dies einfügen - gerade in unserer Zeit die traurigsten Beispiele eines solchen Suchens, eines solchen Sich­entfremdens und Sicheinlebenwollens in das, was nicht dem Ich angehört, weil man dieses Ich in seiner wahren Gestalt sich nicht eingestehen will. So kann es sein, daß ganze Men­schenmassen von einem solchen Gefühl ergriffen werden, sich betäuben zu wollen mit etwas anderem, als was das Ich eigent­lich sagt. Nehmen wir einmal an, das Ich einer Anzahl von Menschen hätte durch Jahrzehnte hindurch gesagt: «Revanche wollen wir haben für das, was uns genommen worden ist -Revanche unseretwillen», und es käme ein Augenblick, wo man sich nicht gestehen will, was im eigentlichen Ich ruht, wo man darüber hinauszukommen sucht, dann sucht man etwas, um sich zu betäuben - und sagt nun nicht: «Wir wol­len Revanche haben», sondern dann sagt man: «Wir wollen kämpfen für Freiheit und Recht der Völker! » Das ist nichts anderes als das Suchen nach dem Extrem des einen Pendel-ausschlages: der Betäubung. Oder man singt durch Jahrzehnte oder noch länger: «Rule Britannia», «herrsche Britannien», und wie die Fortsetzung, die ja hinlänglich bekannt ist, lau­tet -, und man will sich das in einem bestimmten Augenblicke

195

nicht eingestehen: man sagt dann nicht, was in der innerlichsten Gestalt des Ich ruht, sondern man findet es nötig, aus seinem Wesen herauszugehen, indem man sagt: Man kämpfe für Freiheit und Recht der Völker!

Wie Epidemien kann über ganze Menschenmassen diese Sucht hereinbrechen, sich zu betäuben in dem, was außerhalb ergriffen wird, weil man in seinem Ich nicht bleiben will. Aber der Mensch findet nur seine Richtung, seine Sicherheit im Leben, wenn er nicht nur in seinem Ich zu bleiben vermag, sondern wenn er sein Ich hineinzutragen versteht in alles Glück, in alles Leid, in alle Erfolge, in alle Mißerfolge. Die Festigung dieses Ich, die innere Sicherung und Durchkraftung des Ich erlangen wir, wenn wir hervorholen, was das Ich un­sicher macht. Und unsicher macht es die in den dunklen Regionen der Seele unten bleibende Erkenntnis der geistigen Welt, die da unten ruht und sich wie ein schaukelnder Kahn gestaltet, solange sie unten in den Tiefen der Seele ist, die aber Sicherheit im Leben gibt, wenn sie gleichsam an einem ande­ren Ort - in das Bewußtsein - heraufgeholt wird. Und es zeigt sich das Seltsame, daß wir auf die Frage: Warum suchen wir Geisteswissenschaft? nicht antworten können: «Um uns an dieser Geisteswissenschaft zu befriedigen, um die Freude der Erhebung an dieser Geisteswissenschaft zu haben>; sondern darum müssen wir diese Erkenntnisfähigkeit ins Bewußtsein heraufholen, weil wir sie in unserem Unterbewußtsein schon haben, aber weil sie dort nicht bleiben darf. Und je mehr wir uns anstrengen, Erkenntnisse über die geistige Welt in uns zu haben, desto mehr werden wir finden, daß - ob uns nun diese geistige Erkenntnis Freude oder Leid bereitet - aus unserm Inneren etwas anderes wird. Denn es ist leicht vorzustellen, daß, während dieses unbewußte Innere sonst erfüllt ist von den Kräften, die als Geisteswissenschaft hervorkommen kön­nen, dieses unser unterbewußtes Innere leer wird in dem Maße,

196

als wir uns bewußt durchdringen mit dem, was uns die Gei­steswissenschaft zu gehen vermag. Es ist wirklich der Vergleich berechtigt, wenn wir sagen: Es ist, wie wenn wir aus einer Luftpumpe die Luft herauspumpen wollen: Wir machen den Raum des Rezipienten leer, und andere Luft kann in ihn hin­ein. So kann Anderes in unsere Seele hinein, wenn wir sie leer machen von dem, was wir in unser Bewußtsein heraufholen.

Und was kann dann in die Seele hinein? Diejenigen Kräfte können dann in unsere Seele hinein, mit denen diese Seele ihrem eigentlichen Charakter nach verbunden ist. Denn machen wir unsere Seele leer von dem, was in die Bewußtheit herauf will, so öffnen wir die nun leer gewordene Seele den Eingrif­fen der göttlich-geistigen Impulse, die unsern Willen durch-glühen, die unser Gefuhl erwärmen mit den Kräften, die aus den göttlich-geistigen Impulsen hervorquellen und uns Sicher­heit im Leben geben, so daß wir uns im rechten Augenblick sagen: Dahin sollst du dich wenden, so sollst du auffassen, was im Leben als Glück und Freude, als Schmerz und Leid an dich herantritt. Daher wird der Mensch bemerken, daß es nicht so sehr darauf ankommt, was als Geisteswissenschaft an uns herantritt, sondern was durch die Geisteswissenschaft aus unse­rer Seele wird. Wir können emsig die Seele verfolgen und werden bemerken: Indem du dich anstrengst, diese Erkennt­nisse in deine Seele heraufzubringen, wird etwas ganz anderes aus deiner Seele, als was sie früher war. Momente treten ein, die früher nicht da waren, in welchen die Seele fühlt: Wenn wir Geisteswissenschaft pflegen, dann benehmen wir uns in bezug auf unser Inneres gleichsam so, wie sich der

197

benimmt, der einen Strom regulieren will: er geht nicht an das Wasser direkt heran, um es irgendwohin zu leiten, denn damit würde er wenig weit kommen; sondern er geht zunächst an die Erde heran, sucht sie an einer Stelle leer zu machen, sucht einen Erdspalt zu machen, durch den der Strom dann gehen kann. So verhält es sich auch mit unserer Seele. Was uns Lebenssicherheit, Lebensharmonie, was uns eine ruhige Lebens-auffassung in Glück und Leid bringen kann - wir können nicht so da herangehen, wie wenn wir an das Wasser direkt herangehen würden; aber wie das Wasser von selbst in den Raum strömt, den wir ihm in der Erde bereitet haben, so strö­men die geistigen Kräfte von selbst ein in den Willen und in das Gemüt, wenn wir ihnen das Bett bereiten. Und das Bett bereiten wir ihnen, wenn wir aus den Seelengründen heraus­holen, was sonst das Eindringen der göttlich-geistigen Welt verhindert - was aber dieses Eindringen nicht mehr verhin­dert, wenn wir es in das Bewußtsein heraufholen. Daher ist es, daß wir durch das Studium der Geisteswissenschaft nicht nur etwas erkennen, nicht nur etwas erfahren, sondern daß wir im wirklichen Sinne des Wortes verwandelt werden, weil das, was sonst in unsere Seele nicht hinein kann, dann in sie hinein-fließt und wir gewissermaßen als den Erfolg des Studiums der Geisteswissenschaft ein inneres Starkwerden, ein inneres Durch-kraftetwerden der Seele verspüren.

Durch was durchkraftet werden? Durch was stark werden? Wir können es nicht in jedem Augenblicke fühlen. Aber wir können es so gewahren, daß, wenn wir einem Glück entgegen­treten, das uns sonst betäuben, uns gefangennehmen könnte, wir zwar dieses Glück erleben, es voll durchmachen, aber uns selbst dann mit der verstärkten inneren Seele, mit unserm durchkrafteten Innenwesen in dieses Glück hineintragen; daß wir einen Schmerz zwar ebenso traurig erleben, aber unter-tauchen können in diesen Schmerz, unser Ich in ihn hineintragen

198

und uns nicht zu entfremden brauchen von der Welt, indem wir unser Ich in diesen Schmerz hineintragen.

Man muß etwas tiefer in die Geisteswissenschaft hinein­schauen, wenn man den ganzen Umfang dessen erkennen will, was eine solche Veränderung gegenüber dem Glück oder dem Leid für das Leben eigentlich bedeutet. Denjenigen Zustand, der in der Menschenseele als das - wenn das Wort nicht miß­verstanden wird - Hellsichtigwerden der Seele eintritt, kann man ansehen wie ein Aufwachen, indem man durch dieses Aufwachen in eine Welt tritt, von der man nichts gewußt hat, solange man nur die Anschauungen über die physische Welt und die Verstandesurteile über diese Welt hatte. Nehmen wir nun an, ein Mensch würde, während er in Glück und Erfolg drinnen steht, plötzlich so «aufwachen». Denken wir uns also einen Menschen, der bisher nur gewohnt war, die physische Welt anzuschauen und auf sich wirken zu lassen, also in diese physische Welt untertaucht ohne die Kraft, welche ihm die Geisteswissenschaft geben kann; und stellen wir uns vor, ein solcher Mensch würde mitten im Erfolge aufwachen, die gei­stige Welt würde da sein. Was würde er dann sehen?

Ein solches Aufwachen kann ein tief finsterer Augenblick werden in dem sonst gerade glückerfüllten Leben. In einem solchen Augenblick tritt das vor die Seele, was charakterisiert worden ist: das Entfremdetwerden der Seele vor sich selber. Und was der Mensch im Glück, im Erfolg genossen hat, was er eben noch durchgemacht hat, das sieht er gleichsam versin-ken, und so versinken, daß er es nicht halten kann, weil er die Kraft nicht hat, es zu halten. Daß wir im Leben uns verlieren, wenn wir, ohne Geist-Erkenntnis, ins Glück und in den Erfolg hineinsteuern, das kann durch ein solches Aufwachen ganz besonders vor unsere Seele treten. Denn diejenigen Momente

- das erkennt man durch die Geisteswissenschaft -, die wir in Glück und Erfolg erringen, können nur dann zu wirklich stärkenden

199

Kräften unseres ewigen, durch die Pforte des Todes in die Ewigkeit übergehenden Ich werden, wenn wir uns nicht verlieren, sondern uns im Erleben des Glückes erhalten. Geistes­wissenschaft ist nicht dazu angetan, dem Menschen das Glück zu versauern oder zu verargen; kein Quentchen von Glück und Freude will die Geisteswissenschaft dem Menschen nehmen oder abschwächen. Worauf sie aber hindeuten will, ist, daß das Glück, welches ohne den charakterisierten Zusammenhang mit der Welt durchlebt wird, sich nicht verbinden kann in seinen Wirkungen mit den tiefsten Kräften unseres Ich. Denn für den, welcher so durch die Welt geht, daß er - ohne Geist-Erkenntnis - ungestärkt ist in bezug auf sein Ich, kommt wei­ter nichts aus dem Glück heraus als nur die Sehnsucht nach neuem Glück, und aus diesem wiederum nur Sehnsucht nach weiterem Glück. Er nimmt nicht aus dem einen Glückserleb­nis die stärkenden Kräfte mit für alles folgende Leben. Wer aber in das Glück diejenigen Kräfte hineinträgt, die sich ihm erschließen, wenn er geistige Erkenntnis sucht, der saugt aus dem Glück erhaltende, belebende Kraft, die er in sein Ich hineinträgt, weil er es durch die Geisteswissenschaft gestärkt hat; und er trägt, was ihm Glück und Erfolg geben können, für alle Ewigkeiten mit sich.

Und ähnlich ist es mit dem Schmerz, mit Leid und Miß­erfolg. Wieder können wir von jener Geist-Erkenntnis aus­gehen, die uns Antwort gibt auf die Frage: Was stellt sich dem Menschen dar, wenn er im Momente des größten Schmerz­erleidens plötzlich aufwachen würde, wenn er schauen würde, was als geistige Welt da ist? Er würde dann sehen die Wir­kung des Zurückzuckens von der Welt, des krampfhaften Sich­zusammenziehens; er würde sehen Verfinsterung desjenigen, was um ihn herum ist. Geistige Verfinsterung würde der Mensch wahrnehmen, wenn er ohne Geist-Erkenntnis plötzlich auf­wachen würde. Diese Verfinsterung verwandelt sich wiederum

200

für den, der eine durch Geisteswissenschaft gestärkte Seele in den Schmerz hineinträgt; anders wird für ihn das Aufwachen, Licht ist es um eine solche Seele. Und also geistbewußt den Schmerz durchlebend, wird die Seele Sieger über den Schmerz, über alle Mißerfolge, und es geht die Frucht des Schmerzes, des Mißerfolges aus solchem Erleben für die Seele hervor. Diese Frucht ist Erhöhung der Erkenntnis, ist Durchdringting der Erkenntnis mit dem Bewußtsein von dem geistigen Leben.

Weil es so ist, deshalb habe ich öfter hier in diesen Vor-trägen ein Erlebnis, eine Erfahrung angeführt, die der Geistes-forscher durchmachen kann. Glück und Freude kommen ja im Grunde genommen immer - oder wenigstens meistens - von außen an unsere Seele heran. Sie sind wie etwas, was uns ent­gentritt. Indem wir bei unserm Schmerz, bei unserm Leid in unserm Erleben aufgehen, ziehen wir uns in uns selber zurück. Das Glück m&hten wir erhaschen, den Schmerz m&hten wir fliehen; aber wir könnten ihm nur entfliehen, indem wir uns in uns selber zusammenkrampfen. Nun könnte man denjeni­gen, der einige Geist-Erkenntnis in seiner Seele aufgesammelt hat, fragen: Was möchtest du in deinem Leben lieber missen:

was du an Glück und Freude erlebt hast - oder was du an Schmerz und Leid, ja an Mißerfolgen selbst erfahren hast? Und der Geist-Erkennende wird darauf zur Antwort geben:

Dankbar, herzlich dankbar bin ich den geistigen Welten, daß sie mir mein Glück und meine Freude gesendet haben; soll ich aber wählen, was ich lieber in meinem Leben missen würde

- Glück oder Schmerz, so würde ich lieber das Glück missen; denn ich kann dem Glück zwar viel verdanken, was mir aber an Licht über die Welt geworden ist, das verdanke ich meinen durchlebten Mißerfolgen; und was ich mit meiner Erkenntnis geworden bin, das bin ich durch meine erlebten Schmerzen ge­worden, und im wahren Sinne des Wortes muß ich sagen: Ge­funden habe ich mich durch meine Schmerzen, harmonisch

201

hingeordnet zur Welt habe ich mich durch meine Schmerz-erlebnisse!

So gründlich lernt der Mensch umerkennen über Schmerz und Glück, wenn er sein Verhältnis zur geistigen Erkenntnis gewonnen hat. Und wenn wir uns fragen: Was also ist es, was, man möchte sagen, wie ein Lebenselixier, wie eine lebendige Kraft des Lebens in die Seele dadurch einfließt, daß der Mensch die geistig-göttlichen Kräfte in die Seele einströmen läßt und sie mit geistiger Erkenntnis erfüllt? so können wir sagen: Es fließen ein in die Seele Ruhe, Gleichgewicht und Sicherheit -solche Ruhe, solches Gleichgewicht, solche Sicherheit, daß nun dadurch Glück und Leid, Erfolge und Mißerfolge etwas ganz Neues werden für das Leben.

Was werden sie? - Nun, das Glück wird, weil wir durch das Glück unsern Zusammenhalt mit der Außenwelt haben, eine Stärkung unseres ganzen Wesens; in unser Gefühl, in unser Gemüt und in unsere Willensimpulse fließt das Glück ein. Wir verdämmern uns nicht das Glück, wir versauern es uns nicht; wir verachten nicht das Glück. Wir nehmen es hin - dank-bar - aus den Händen der Weltenmächte, aber wir durch-schreiten es so, daß wir ewige Früchte am Baume des Glückes pflücken, Früchte für unsern Willen, Früchte für unser Ge-mut. Und wer in die Lage kommt, also das Glück zu genießen, er kann erfahren, daß er an diesem Glück wahrhaftig nicht weniger erlebt als derjenige, der geistunbewußt das Glück durchmacht. Feiner und intimer sind die Glückserlebnisse; fei­ner und intimer deshalb, weil sie uns gleichsam die Fenster geben in eine geistige Welt hinein, weil sie zur Vermittelung jener Stärkung unserer Seele werden, die uns aus den geistigen Welten kommen kann.

Und wenn wir also in den Schmerz untertauchen? Wahr­haftig, nicht ein sentimentales Trostmittel für des Lehens Schmerzen soll Geisteswissenschaft werden; nicht zum Flachling

202

kann die Geisteswissenschaft den Menschen machen. Was uns Schmerz bereitet, das muß uns Schmerz bereiten, das ist heilsam; denn es stählt der Schmerz das Leben, es stählt der Schmerz die Kraft. Also nicht über den Schmerz hinwegheben will die Geisteswissenschaft. Im Gegenteil; man wird noch tie­fer in ihn hineindringen, man wird sein Wesen so recht aus­kosten müssen, gerade wenn man geisterkennend geworden ist. Aber wie uns aus dem Glück die Stärkung des Willens und des Gemütes kommen kann, so wird aus dem Schmerz heraus-dringen die Stärkung der Erkenntnis, die Sicherheit der Er­kenntnis, und die Stärkung und Sicherheit eines anderen Teiles des Gemütes, mehr, als es durch das Glück sein kann. Wie der, welcher als Märtyrer über den Schmerz des Lebens dahinstirbt, uns wunderbar ergreifend den Sieg des Lichtes über die Finster­nis des Lebens zeigt, so nimmt der Mensch, indem er sein geist-bewußtes Ich in den Schmerz hineinträgt, selber wahr, wie das geistbewußte Ich sich erhebt über den Schmerz, aber, indem es sich über ihn erhebt, immer leuchtender und leuchtender wird und sich mit jenem Lichte erfüllt, das da eine Leuchte ist im Lebenssturm und im Daseinskampf.

Nicht Erkenntnis allein gibt uns die Geisteswissenschaft. Was sie uns gibt, das ist zunächst nur Ursache. Die Wirkung ist aber ein durch Lebensgleichgewicht und Lebensruhe ge­stärktes Ich, die Gewinnung eines ruhenden Poles in der Er­scheinungen Flucht. Das Wichtigste aber ist die Lebensenergie, die uns Geisteswissenschaft gibt, und das Bewußtsein, durch das wir uns sagen: Durch deine Anstrengungen in der Geistes­wissenschaft erlangst du nicht nur das, was sich dir zuletzt dar­stellt als Erkenntnis; du hast Erkenntnis angestrebt, aber du hast sie nur hervorgeholt aus den Tiefen deiner Seele, weil du die Seele leer haben wolltest; und jetzt zeigt sich dir, daß sie voll wurde, daß das göttlich-geistige Leben gnadenvoll in die Tiefen deines Wesens einströmt, dich sicher macht und harmonisch

203

im Leben. Damit ist als Wirkung der Geisteswissenschaft eine tief religiöse Stimmung gekennzeichnet, ein Gefühl, für das die Seele durchwallende Göttliche in dieser Seele. Und wir werden erfüllt von Dankesstimmung, von einer fortdauernden Gebetsstimmung dem gegenüber, was die Welt durchquellt, wenn wir die Seele freigemacht haben für das, was in sie ein-strömen kann, wenn wir erkennen, wie das Göttliche, wenn wir ihm die Stätte bereitet haben, wirklich eins wird mit unserer Seele - ganz nach den Forderungen eines Meister Eckhart, eines Johannes Tauler, Jacob Böhme, Angelus Silesius. Und in­dem wir uns so in eine erwartende Stimmung versetzen, gleich­sam in die Leerheit unserer Seele, bereiten wir uns die Mög­lichkeit, daß in den Lebensintuitionen, Lebensinspirationen das­jenige unser Gemüt durchwärmt und durchpulst, was uns das Rechte tun läßt. Wir erkennen uns als Werkzeug der Welten-geister, die zu uns in ein Verhältnis treten wollen. Das aber gibt dem Leben Reichtum und Sicherheit, die unverlierbar sind.

Was ist es denn, was da in unsere leere Seele hereinzieht? Was ist das, was die Seele in ihrem Wesen verbindet mit dem, was eben ihres Wesens ist? Das Göttlich-Geistige zieht in sie herein. Dann erst kann die Seele des Göttlich-Geistigen bewußt werden. Denn unbewußt bleibt es in der Tiefe des Schlafes, wenn Ich und astralischer Leib ausgeatmet sind, unbewußt bleibt es auch im Wachleben, weil es dann übertönt, über-leuchtet wird von den äußeren Eindrücken des physischen Da­seins. Wenn aber Geist-Erkenntnis uns erfüllt, dann werden wir lebendig des ewig Lebendigen in unserer Seele gewahr, und dann finden wir den Weg, um in der rechten Weise zusam­menzuwachsen mit dem, was uns im Leben durch den Lebens-strom hindurchträgt.

Was aber trägt uns seelisch durch den Lebensstrom hin­durch? Ein Wort deutet es uns an, ein Wort, inhaltsschwer:

das menschliche Schicksal. Wie fassen wir, solange wir nur an

204

den Äußerlichkeiten des materiellen Daseins haften, solange wir nur diese Äußerlichkeiten zusammenfassen wollen mit dem kombinierenden, an das Gehirn gebundenen Verstand, wie fas­sen wir da das Schicksal auf? Wir fassen es auf als etwas, was uns trifft, was an uns herankommt; wir reden von den «Zu­fälligkeiten> des Lebens. Schon in einern der letzten Vorträge wurde hier erwähnt, wie sich schon, ohne daß man an die Gei­steswissenschaft heranstreift, diese Zufälligkeiten des Lebens ausnehmen. Wenn wir uns in irgendeinem Momente des Le­bens prüfen, was wir eigentlich sind, was wir geworden sind, und dann in unserm Leben zurückblicken bis zu einem gewissen Zeitpunkt nach unserer Geburt, dann finden wir, daß wir das, was wir sind, dadurch geworden sind, daß gewisse Schicksals-zufälle über unser Ich gekommen sind. Da haben wir vielleicht einmal während unserer Jugend rechte Mißerfolge gehabt: Als wir eine gewöhnliche Aufgabe der Schule zu lösen hatten, haben wir sie nicht lösen können, oder wir haben sie falsch gelöst; dadurch aber, daß wir sie falsch gelöst haben, hat dies für uns diese oder jene Folgen gehabt. Diese Folgen haben sich aber tief in unsere Seele eingegraben; sie sitzen jetzt noch, im Alter, in unserer Seele drinnen. Daß wir in einem bestimmten Falle des Lebens einen raschen Entschluß fassen können, das ist aber die Folge dessen, was uns früher Mißerfolg gebracht hat. So haben wir dadurch unsere Kräfte stärken können. Was wir jetzt sind, das verdanken wir dem, was uns schicksalsmäßig zugefal­len ist.

Wenn wir diese Erkenntnis verfolgen, so können wir schon, ohne die Geist-Erkenntnis zu streifen, die Identifizierung des Lebens, unseres Ich, mit dem Schicksal finden. Wir sind unser Schicksal; denn unser Schicksal hat uns zu dem gemacht, was wir sind. Erweitern wir diese Erkenntnis zu dem geisteswissenschaft­lichen Erkennen, daß wir in Glück und Leid unser Ich in die Schicksalszufälle heraustragen, dann treten wir in die Schicksalszufälle

205

ein. Und während wir sonst bei Glück und Leid finden:

Wir müssen uns gleichsam von Glück und Leid absondern, wir dürfen nicht untergehen in ihm, so werden wir nun, wenn wir unser Schicksal, alles, was uns schicksalsmäßig trifft, betrach­ten, gerade das Gegenteil finden: Es hat an uns und durch uns selbst herankommen müssen! Denn alles, was das Schicksal gemacht hat, ist innig mit unserm Ich verbunden. Allmählich geschieht für unser Bewußtsein eine Vereinigung mit dem Schicksal: Wir wachsen mit dem Schicksal zusammen, wir tra­gen unser Ich in den Gang unseres Schicksals hinein. Wir kommen los von uns. Wir treten ein in unser Schicksal, wir gehen hinaus in den Gang der Welt. Wir werden Eins mit dem Gang der Welt, treten ein in den Strom des Lebens sel­ber; wir gehen selbstlos auf in dem, was wir sonst nur mit Sympathie und Antipathie betrachten. Während wir sonst mit Sympathie einen Glücksfall, mit Antipathie einen Unglücks­fall betrachtet haben, werden wir von nun an dem Schicksal gegenüber wissen: Da bist ja du selbst drinnen, und wärest du nicht da drinnen, so würdest du nicht geworden sein, was du jetzt bist!

Was ich eben ausgeführt habe, das ist leichter gesagt, als im Leben durchgeführt. Wenn aber der Mensch sein Ich hinein-trägt in den Lauf des Schicksals, dann wird die Schicksalsfrage zu etwas ganz anderem, als sie sonst im gewöhnlichen Leben ist. Dann wird sie zu etwas Lebendigem im Leben, dann facht sie in uns Kräfte an. Wie die Erkenntnis unsere Seele leer macht und göttlich-geistige Kräfte in uns einfließen können, so daß wir uns selbst erkraftet fühlen können, so fließt jetzt

- während das Ich sonst leer war für die Schicksalsfälle -dadurch, daß wir unser Ich in das Schicksal hinaustragen, in dieses Ich dasjenige hinein, was durch Tod und Geburt geht, was uns in frühere Erdenleben zurückführt und uns zeigt, wie dieses jetzige Erdenleben der Ausgangspunkt neuerer Erdenleben

206

ist. Kein anderer Weg ist es, durch den der Mensch Eins werden kann mit seiner ewigen Natur und Wesenheit, die durch Geburten und Tode geht, als der, Eins zu werden mit dem Strome des Schicksals, Eins zu werden durch die Erkennt-nis, daß wir uns unser Schicksal oftmals schon zubereitet haben, und daß wir uns unser Schicksal für dieses Dasein zubereitet haben in den früheren Leben. Wir werden Eins mit dem, was uns im Innern der Seele mit dem Geist verbindet. Während wir sonst ein Mensch sind, der gleichsam auf einem unend­lichen Meere in einem Kahne schwimmt und nichts weiß als das, was in diesem Kahne oder in seiner nächsten Nähe vor sich geht, erfährt der Mensch durch Geist-Erkenntnis, daß in diesem Meere nicht nur der eine Kahn ist; sondern vielc Kähne sieht er nach der einen Richtung, viele Kähne nach der andern Richtung, und er weiß dann, daß sein Leben in diesem einen Kahne - zwischen Geburt und Tod - für eine gewisse-Zeit währt, daß er aber dann, enthoben den Kräften, die ihn an das Leben in diesem Kahne fesseln, ein Leben in der gei­stigen Welt durchmacht, nach einiger Zeit aber wieder in einem anderen Kahne ist -, wie er weiß, daß er vorher in einem anderen Kahne war. Wie man unsicher wäre, wenn man nur an den einen Kahn sich gefesselt fühlte, wie man aber sicher wird, wenn man weiß, man kann zu bestimmter Zeit von dem einen Kahn in den andern fliehen, so wird das Leben in dem ewigen Strome des Daseins sicher, wenn wir uns in dieser Weise in das Schicksal hineinstellen, daß wir uns in unserm Ich mit dem Schicksal identifizieren. Was wir im Leben erfahren, was als unser Karma, als unser Schicksal an uns herantritt, es wird zu demjenigen, was wir im Leben gewor­den sind. Wir lernen die Schicksalsfrage erkennen als die Ver­vollkommnungsfrage unserer Seele. Wir sagen uns dann: Er­lebst du Leid, Schmerz, Mißerfolg, so durchdringen diese Lei­den, Schmerzen, Mißerfolge deine Seele, machen sie stärker in

207

jenem Teil, wo die bewußten Kräfte sind, und du gehst mit der gestärkten Seele durch die Todespforte durch und trittst Init den gestärkten Kräften in ein anderes Leben ein. Ist die Schicksalsfrage sonst eine solche, die uns Dunkelheit über das Leben ausbreitet, so wird sie eine Vervollkommnungsfrage für unsere Seele, sobald wir sie mit Geist-Erkenntnis durchdrin­gen; und über das Leben ergießt sich innere Ruhe, wenn wir also an die Schicksalsfrage heranzutreten vermögen. Man kann sagen: Was im Leben an den Menschen herantreten kann, was das Leben notwendig von den Menschen fordert, all das erscheint in einem neuen Lichte, und alledem tritt der Mensch mit einer neuen Kraft entgegen, wenn er den Eintritt der göttlich-geisti­gen Kräfte in seine Seele dadurch ermöglicht, daß er den bewußten Teil der Kräfte seiner Seele mit Geist-Erkenntnis ausfüllt. Daher ist Geist-Erkenntnis nicht bloße theoretische Erkenntnis, nicht etwas, das wir nur in Begriffen und Ideen aufnehmen; sondern indem wir sie in Begriffen und Ideen aufnehmen, machen wir unsere Seele zu etwas anderem. Wir «beweisen» nicht die Unsterblichkeit der Seele durch die Gei­steswissenschaft, sondern wir bereiten, indem wir uns der Geisteswissenschaft hingeben, die Seele so vor, daß sie sich in ihrer lebendigen Natur erlebt und so ihr Unsterbliches erlebt. Ein neues Leben, ein auferwecktes Leben gibt Geisteswissen­schaft der Menschenseele.

In einigen kurzen Strichen versuchte ich zu zeigen, daß die Geisteswissenschaft wie ein wirkliches Lebenselixier der Seele werden kann. Und wer da den Gang des deutschen Geistes-lebens verfolgt, kann durch die innere Natur und Weseüheit dieses Geisteslebens selber erkennen, daß dieses Geistesleben eine Vorbereitung ist, um zur Anerkennung einer wirklichen, lebendigen Geisteswissenschaft zu kommen. Es ist das, was gestern als germanische Seelenhaftigkeit, als deutsches Geistes­leben dargestellt worden ist, gleichsam ein Turnier der geistigen

208

Kräfte, uan zu demjenigen hinzukommen, was noch errungen werden kann - was insbesondere dadurch errungen werden kann, daß die ganze Volksseele sich gestärkt hat, in-dem sie zuerst danach gestrebt hat, solche Erkenntnisse, Vor­stellungen und Ideen zu gewinnen, von denen gestern gespro­chen worden ist. Eine Stärkung zu einem neuen Leben war dies alles. Aber im Leben steht alles in einem lebendigen inne­ren Zusammenhang. Daher darf der Glaube als berechtigt an­gesehen werden, daß dasjenige, was als eine vorbereitende, zum Leben stärkende Geist-Erkenntnis im deutschen Geistes­leben hervorgetreten ist, was da an die Seele ausbildenden Kräften sich gezeigt hat, daß es nicht nur etwa in deutscher Philosophie und Literatur lebt, sondern daß es lebt in den innersten Wurzeln der deutschen Volkskraft. Das ist ja das Eigenartige der deutschen Volkskraft, daß sie uns, wo wir die deutsche Kunst, die deutsche Literatur, die deutsche Philo­sophie verfolgen, niemals so erscheint, als ob sie nur ein Schaum an der Oberfläche des Lebens wäre, sondern wie wenn sie immer wieder aus den Untergründen, aus den Bodenstän-den des Lebens hervordringen würde. Wir können auf die feinsten Leistungen des deutschen Geisteslebens blicken, wie es uns zum Beispiel in verfeinerter Weise bei Novalis entgegen-tritt, wir werden immer finden: Es geht ein Strom von diesem verfeinerten Leben hinunter bis in die Wurzeln des Volkstums. Hegelsche Philosophie ist gewiß für die meisten Menschen eine Geistesübung, die sie fliehen, weil es schwierig ist, sich in die kristaliklaren, kristallkalten Gedankengänge hineinzu-finden; aber so kristallklar und kristallkalt diese Gedanken­gänge auch sind, es gibt einen Weg von dem, was so abstrakt erscheint, bis hinunter zu den Wurzeln des Volkstums, aus dem jene Kräfte fließen, die im Osten und Westen unsere Hoffnung ausmachen auf eine völlige Rettung der deutschen Existenz gegen die anstürmenden Feinde. In einem lebendigen

209

Organismus - und ein solcher lebendiger Organismus ist das, was wir als deutsches Geisteswesen bezeichnen -, gehört alles zusammen. Und wenn gesagt wird, daß auch andere Völker jetzt einig sind, so muß immer betont werden, was schon früher öfter hier betont worden ist: Was uns oft als dasselbe auf den verschiedenen Gebieten des Daseins entgegentritt, ist nicht immer dasselbe. In demjenigen, worauf wir hoffen, im deut­schen Wesen, was das deutsche Wesen jetzt eint und stärkt und zu selbstlosem Tun aufruft, in dem lebt - wenn auch noch unbewußt - jene Kraft, die hervorsprudeln soll in dem lebenweckenden und lebenfördernden Geist-Erkennen; und weil diese Kraft darin lebt, unbewußt, ahnungsvoll, so haucht sie jetzt den Zauberhauch der Einheit in der Tat des deutschen Volkes aus. Daher dürfen wir hoffen, daß diese Einheit in der Tat das zeitigen werde, wohin in seiner Keimeskraft der deutsche Geist will. Und nichts anderes ist es, wohin der deutsche Geist will, als in Einheit erkennen physische und geistige Welt, in Einheit erkennen und in Einheit ordnen aus der Geist-Erkenntnis heraus alles Leben, der geistigen Welt wie der physischen Welt.

In Einheit erkennen - 0, es heißt dies viel! Viel auch in den äußeren Lebensgebieten. In schweren, ernsten Zeiten leben wir. Es werden auch Zeiten wiederkommen müssen, in denen wir unter anderen Verhältnissen leben, in denen die Men­schen wieder friedevoll, aber hingegeben dem Ringen nach geistigen Gütern leben werden, demjenigen hingegeben, was doch schließlich im Leben den größten Teil der Zeit erfüllen muß. Und Kraft wird da sein müssen, so stark, wie die jetzige Kraft ist, wenn die Kultursonne richtig wärmen soll, die sich aus jener Dämmerung entwickeln muß, die wir jetzt durchleben. Was für Menschen können dann da sein, wenn die Menschheit sich ein wenig mit Geist-Erkenntnis durchdringt, wenn sie ein wenig zusammenfaßt das Geistige mit dem Physischen?

210

Wir blicken hin auf das, was jetzt so schmerzlich an unsere Seelen herantritt, blicken hin auf so viele, die durch Schmerz und Leid und Tod gegangen sind, deren Seelen wir schon in denjenigen Welten wissen. zu denen wir durch Geist-Erkenntnis aufblicken. Aber wir lernen gemäß den Forderungen unserer Zeit, gemäß den Forderungen der Menschenseele in unserer Zeit in diese geistigen Welten hineinblicken. Schon einmal wurde dies angedeutet, was hier in Betracht kommt. Wenn wir den Blick hinwenden auf alle die, welche in der Blüte ihres Lebens, in treuer Liebe zu ihrem Volkstum durch die Pforte des Todes gegangen sind, dann schauen wir auf eine Summe unverbrauchter Kräfte, jener unverbrauchten Kräfte des Gemütes und des Willens, welche die Betreffenden noch hätten im Leben anwenden können, wenn sie nicht durch die Ereignisse unserer Pflichtenzeit frühzeitig durch die Pforte des Todes gegangen wären. Sehen wir sie an, diese ganze Summe der in der physischen Welt unverbrauchten Kräfte, die sich noch hätten entwickeln können in den Kräften derer, die hinweggerafft wurden durch die schweren Ereignisse der Zeit. Ist das, was diese Menschen noch hätten erleben können, wenn sie jetzt nicht frühzeitig durch die Pforte des Todes gegangen wären, ist das nun nicht mehr da? ist es verloren?

Wenn wir hinaufsehen würden in die geistigen Welten nur mit demjenigen, was unser physisches Anschauen gibt, so würde uns keine Antwort auf diese Frage. Wenn wir aber in Einheit zusammenzufassen wissen zu einer Lebenskraft die Weltanschauungen der geistigen und der physischen Welt, dann schauen wir in die geistige Welt hinein, und dann wis­sen wir, daß diese Kräfte nicht verloren sind, daß sie durch das Dasein strömen, und daß für künftige Zeiten, für ganze Generationen, für ganze Epochen diejenigen ihre Kräfte hin­gegeben haben, die frühzeitig jetzt durch die Pforte des Todes gegangen sind. Und vereinigt mit diesen Kräften werden wir

211

in Zukunft das Erdenwirken schauen, die geistige Welt sich in Einheit zusammenschließend mit der physischen, werden ein neues Verständnis dafür gewinnen, wie in unseren leeren, durch Geist-Erkenntnis leer gewordenen Seelen die Kräfte ein­fließen, die scheinbar jetzt verloren sind. Die Menschen der durch Geist-Erkenntnis gestärkten Zukunft werden durch diese Geist-Erkenntnis die Möglichkeit haben, nicht verloren sein zu lassen die scheinbar jetzt verlorenen Kräfte. Sondern die verlorenen Kräfte werden fortwirken im Zeitengeschehen; und in dem, was die Menschen in künftigen Tagen tun werden, wird leben an Kräften, was auf den Schlachtfeldern der heu­tigen Zeit durch die Todespforte geströmt ist - aber bewußt, nicht wie frühere Zeiten unbewußt. Unbewußt haben dieses Dasein ihrer Verstorbenen die Völker in früheren Zeiten ge­habt, solange die Völker Reste des alten Heilsehens noch gehabt haben. Merkwürdig kann es uns berühren, wenn wir hören, wie im Jahre 378 die Goten zum Kampf gegen die Römer zogen: während zu Beginn der Schlacht auf römischer Seite ein unartikuliertes Geschrei erscholl, stimmten die Goten Schlachtenlieder an, in denen sie sangen für den Ruhm und die Ehre ihrer unsichtbaren Toten. Bewußt haben sie sich geführt gesehen von ihren Toten; Verständnis haben sie ge­habt für das ewige Fortwirken des Unsichtbaren. Dieses Ver­ständnis wird die Menschheit wiedergewinnen - jetzt aber auf bewußte Weise; und durch dieses Verständnis wird auch, aus­gebreitet in diesem ganzen großen Leben, Sicherheit und Lebensertragsamkeit sich entwickeln. Indem also die Seelen der Mütter, der Väter, der Brüder, der Schwestern, aller der Übriggebliebenen in der physischen Welt zu denen hinblicken werden, die ihnen in ihrem Schmerz entrissen worden sind, werden sie hinblicken als zu wahrhaft Lebendigen, als zu sol­chen, die aus den Engen ihres leiblichen Daseins ihre Kräfte ausgegossen haben in das allgemeine Menschheitsdasein; und

212

unverloten werden die Toten sein, weil man sie empfinden wird als im allgemeinen Menschendasein lebendig Fortlebende. Ein solches wird die Geisteswissenschaft auch in der einfach­sten Menschenseele wirken können. Denn Geisteswissenschaft ist ein Lebenselixier; Geisteswissenschaft ist richtunggebend für das Leben und harmonisierend für die Seele; Geisteswissenschaft ist dasjenige, was uns haltend, uns in Freude und Leid, in Erfolge und Mißerfolge, in Glück und Unglück hineinzutragen vermag, weil sie uns aus dem Göttlichen das­jenige zu geben vermag, wofür wir unsere Seelen leer ge­macht haben. Seelen, die sich durch Geist-Erkenntnis leer ge­macht haben, sie werden auch leer sein für das Einfließen des­sen, was von den durch die Todespforte gegangenen Geistern

- der Gefallenen - in diese Menschenseelen und Menschenherzen hineinströmen kann. Nur Seelen, welche ihr Inneres nicht also leer gemacht haben, werden sich verlieren müssen in Schmerz und in Leid, das die großen Ereignisse der Gegen­wart so vielen einzelnen bereiten müssen. Menschen aber, welche durch die Geist-Erkenntnis gestärkt hindurchgehen, werden finden, daß ihrer leergewordenen Seele von den Göt­tern wiederum zurückgegeben wird, was ihnen leiblich die Erde genommen hat. Sie werden verstehen die Sprache des Geistes, der nach dem Tode lebendig zu ihnen spricht, wenn sie haben aufhören müssen, hinzuhören mit dem physischen Ohr auf die liebe Sprache des teuren Angehörigen.

Also Herz und Sinn, Leben und Wesen stärkend, soll die Geisteswissenschaft nicht nur durch die menschliche Vernunft und den menschlichen Verstand gehen, sondern sie soll durch die menschlichen Herzen gehen, soll durch alles gehen, was die menschliche Seele erfüllt. Und gerade Geisteswissenschaft kann das für denjenigen auch, der sich als den Alleraufgeklär­testen wissen will. Sie kann uns die Sicherheit gehen, daß wir Hoffnungen haben können, lichtvoll hindurchzugehen durch

213

all das, was uns jetzt also ernst umgibt. Und alles, was sich uns gerade an ernsten Betrachtungen ergeben kann, dürfen wir ja zuspitzen auf den Ernst und auf die große Würde unserer Zeit. Wir dürfen auch die heutige Betrachtung gleich­sam zusammenfassen in ein Gefühl, durch das wir mitleben möchten mit all denen, die heute im Kampfe stehen und die vielleicht schon durch die Todespforte gegangen sind - zu­sammenfassen in eine Sprache, die dem einen bewußt, dem andern unbewußt - allen Toten aber bewußt sein kann. Wir können hinblicken, hoffnungsvoll, auf diejenigen Zeiten, welche der Menschheit zu ihrem Fortschritt, zu ihrem Heil kommen müssen - kommen müssen als Früchte dieser unserer gegenwärtigen Zeit. Wir können hinblicken auf das, was der Menschheit auch wieder friedenvolle Tage bringen werden, friedenvolle Tage, in denen durch die Welt, durch die Men­schenseelen und Menschenherzen das wallen wird, was aus der Gesamtheit der göttlich-geistigen Segenskraft zum Menschen-heil, zum Menschenfortschritt und zur Menschenstärkung flie­ßen kann. Die Menschen werden handeln, beseelt und durch­kraftet von diesen die Welt durchwellenden und durchwo­genden göttlich-geistigen Mächten. Aber wir können in diese Zukunft mit dem erhebenden Gefühl blicken, das uns aus der Geisteswissenschaft heraus die Antwort gibt auf eine bange Frage der Zeit: Was wird dann leben bei allen, die da wirken werden einstmals in einer friedenvollen Zeit, in welcher man die Künste und das Wissen und die Macht des Friedens pfle­gen wird? Und wir werden wissen können, daß in alledem, was dann die Menschen tun werden, dasjenige leben wird, was jetzt so zahlreich an Menschenkraft, die noch jugendlich in die Zukunft geblickt hat, auf den Feldern im Osten und Westen durch die Todespforte geht!

Ist das nicht auch eine Lehre für das Ertragen des Lebens in Glück und Leid, wenn wir hinschauen auf Tod und Leid in

214

unserer ernsten Zeit und wissen dürfen, daß aus diesem Tod und Leid Kräfte, unsichtbare Kräfte hervorgehen, die gerade in den friedenvollsten Zeiten der Zukunft walten werden zum Heile und zum Fortschritt der Menschheit? Denn Kräfte wer­den hervorgehen, mit denen sich diejenigen verbinden werden, die dann auf der Erde zu wirken haben werden, die zusam­menzufassen haben werden das sichtbare und das unsichtbare Werden, um zu wirken unter Brüdern nicht nur in der sicht­baren, sondern auch in der übersinnlichen Welt, und die wiederum - geistig - diejenigen Herzen gewonnen haben werden, welche sie in unserer ernsten Zeit verloren haben.

Das scheint mir auch ein Lebenselixier zu sein! Stärkend und kräftigend kann es in unserer Kraft und in unsere Adern fließen, gerade in unserer Zeit, in welcher wir ein solches Lebenselixier nötig - wahrhaftig! sehr nötig haben. Und fas­sen wir den eigentlichen inneren Sinn der Geisteswissenschaft, so wissen wir, daß dieses Lebenselixier kommen muß. Denn was auch das äußere Leben bringt: nicht mit dem, was das äußere Leben bringt, ist dieses Lebenselixier verbunden, son­dern mit dem, was wir in unserm innersten Wesen durch unsere eigene Kraft werden können, sein können. Und was wir uns durch die tiefstinnerste Anstrengung unseres eigent­lichen inneren Grundwesens erworben haben, das geht uns als Menschen nicht verloren, nicht in Zeit, nicht in Ewigkeit. Das nimmt uns kein Leid, kein Schmerz - und nicht der Tod!

215

DIE TRAGENDE KRAFT DES DEUTSCHEN GEISTES Berlin, 25. Februar 1915

Auch an diesem Abend möchte ich innerhalb dieses Vortragszyklus auf allgemeinere Verhältnisse der deutschen Wesen­heit einen Blick der Darstellung werfen, weil es mir scheint, daß in unserer großen, aber auch schmerzlichen und leidvollen Zeit geisteswissenschaftliche Betrachtungen in einer gewissen Beziehung eine Art ethischer Verpflichtung haben, und weil außerdem das wahrhaftige menschliche Empfinden danach steht, gerade vom geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkte aus den Horizont der Schicksalsereignisse, innerhalb welcher wir stehen, zu beleuchten. Es wird sich allerdings am heutigen Abend mehr darum handeln, gewissermaßen das durch die Geisteswissenschaft gegebene «Empfindungslicht» auf gewisse Vorgänge im deutschen Geistesleben und auf das Verständnis, das diesem Geistesleben entgegengebracht wird, fallen zu lassen. Morgen werde ich mir dann wieder erlauben auf ein spe­zielleres geisteswissenschaftliches Thema einzugehen.

Wenn man auf diejenigen Erscheinungen im deutschen Geistesleben hinblicken will, die insbesondere in der letzten Zeit, wie so recht den ganzen Charakter dieses Geisteslebens ausdrückend, vor uns stehen können, so ist eine derselben die­jenige, auf die schon in diesen Vorträgen öfter hingedeutet worden ist: Herman Grimm, der große deutsche Kunsthisto­riker, der die Kunst aus den tiefsten Quellen dessen heraus betrachtet hat, was deutsches Geistesleben mit allen seinen

216

Impulsen in seiner Seele gegossen hat. In einem der Vorträge dieses Winters erlaubte ich mir, gewissermaßen Herman Grimm zu nennen. Wie er mit allem, was er hervorbrachte, in dem lebte, was - in Goethe sich konzen­trierend - als deutsches Wesen, als Wesen in der deutschen Volksseele enthalten war, was sich dann hineinergossen hat in den Strom deutschen Geisteslebens - so ist Herman Grimm in gewisser Beziehung eine repräsentative Persönlichkeit des deutschen Geisteslebens von der zweiten Hälfte des neunzehn­ten Jahrhunderts.

Nun sind nicht ganz zwei Jahre, bevor Herman Grimm gestorben ist, Aufsätze aus seiner letzten Lebenszeit erschienen, denen er den zusammenfassenden Titel «Fragmente> gegeben hat. In der Vorrede zu diesen Fragmenten sagt er ein außer-ordentlich charakteristisches Wort. Er weist darauf hin, daß diese einzelnen, manchmal sehr kurzen Aufsätze über diese oder jene Fragen der deutschen oder der auswärtigen Kultur einem Ganzen seiner geistigen Weltauffassung entspringe. Und Herman Grimm erwähnt, daß er die Absicht gehabt habe, diejenigen Vorlesungen, die er über diesen Gegenstand fünfzig Jahre hindurch an der Berliner Universität gehalten, zu einem Buche zusammenzufassen, welches das Wachstum und das ganze Werden des deutschen Wesens in geistiger Be­ziehung darstellen sollte. Er macht aber zugleich darauf auf­merksam, wie er jedesmal, wenn er zu der einzelnen Vor­lesung schritt, sich genötigt fand, das, was er sich erarbeitet hatte, wieder umzuarbeiten. Und nun sagt er, das müßte ein letztes Mal geschehen, wenn diese Vorlesungen zu einem Buche über das gesamte deutsche Geistesleben zusammen­gefaßt werden sollten; er wisse nicht, ob er noch dazu kom­men würde in seinem Leben, denn dieses Umarbeiten erfor­dere viele Mühe und viele Zeit. Aber - und nun kommt das

217

Charakteristische - dieses Ganze des deutschen Geisteslebens stehe vor seiner Seele, und die einzelnen Aufsätze, die er ver­öffentliche, will er so aufgefaßt wissen, wie wenn sie heraus­gegriffene einzelne Teile desjenigen wären, was als ein Ganzes vor seiner Seele steht.

Herman Grimm ist nicht mehr dazu gekommen, das ange­deutete Buch zu schreiben. Er ist ja nicht ganz zwei Jahre, nachdem er diese herausgegeben hat, im Jahre 1901 gestorben. Er hatte eigentlich schon in seiner Jugendzeit vor, eine gesamte geistige Entwickelungsgeschichte der euro­päischen Völker zu schreiben. Und wenn wir nun in Betracht ziehen, wie er wiederum - das hat er öfter betont - aus dieser Gesamtdarstellung des europäischen Geisteslebens heraus die einzelnen Hauptglieder, die er gegeben hat, verstanden wissen wollte - seine große Schrift über Homer, seine Biographien eder Monographien über Michelangelo und Raffael und end­lich sein Werk über Goethe -, wenn wir dies berücksichtigen, so tritt uns etwas außerordentlich Charakteristisches entgegen. Wir haben es eigentlich zu tun mit etwas, was in Herman Grimms Seele lebte, was niemals in der Gestalt, wie es in seiner Seele lebte, wirklich von ihm dargestellt worden ist, aus dem aber - man kann sagen - jede einzelne Zeile, die er geschrieben hat, jedes einzelne Wort, das er in seinem Leben gesprochen hat, hervorgegangen ist. Und wenn man nun die ganze Art, wie Herman Grimm über Kunst, über das deutsche Kulturleben spricht, ins Auge faßt, dann tritt noch etwas Be­sonderes zu dem eben Gesagten hinzu. Herman Grimm ist immer bestrebt, für das, was er ausspricht, mit seiner ganzen Seele, mit seiner ganzen ungeteilten Persönlichkeit einzutre­ten; und wer den Drang hat, alle Dinge klar zu haben, wer einen Darstellungsgang liebt, welcher von Urteil zu Urteil beweisend vorschreitet, der kommt bei Herman Grimms Darstellung nicht zu seinem Recht. Man möchte sagen: Alles,

218

was er geschrieben hat, quillt unmittelbar aus seiner gesamten Seele hervor, und man hat eigentlich als Beweis für die Wahr­heit nichts anderes als das Gefühl, das einen überkommt: der Mann, diese Persönlichkeit hat im weitesten Umfange viel er­lebt bei den Dingen, die er darstellt; und sein Er/eben gibt er. So quillt das Einzelne, was er darstellt, aus einem Ganzen her­aus, das im Grunde gar nicht da ist.

Was ist es nun, was in Herman Grimm lebt? Was ist es, was uns die Überzeugung beibringt: alles Einzelne quillt aus einem Ganzen hervor? Was ahnen wir gleichsam als einen Geistesschatten hinter all den Einzelheiten, die Herman Grimm darstellt, die er der Welt gegeben hat?

Was man da ahnt, was einen durchdringt in dem, was von Seite zu Seite seiner Bücher schreitet, ich möchte es bezeich­nen: es ist die tragende Kraft des deutschen Geistes, jenes deutschen Geistes, der wirklich für diejenigen, die ihn voll ver­stehen, nicht nur wie irgendein Abstraktes dasteht, das man mit Begriffen, mit Ideen zusammenfaßt, das man in Vorstel­lungen ausdrückt, sondern der wie ein lebendiges Wesen durch die ganze deutsche Geschichte wirklich empfunden wird; wie ein Wesen, das man so empfindet, wie wenn man Zwiesprache hielte in seiner Seele mit diesem Wesen und sich von ihm inspirieren ließe für alles einzelne, was man zu sagen hat. So daß man im Grunde genommen, sobald man ein solches Er­lebnis hat, nichts anderes braucht als die Gewißheit, daß dieser Geist als Inspirator dahintersteht - und man hat etwas ge­geben, was seinen guten «bewiesenen> Grund hat. Dieses We­sen, von dem man sagen kann, es sei der lebendige deutsche Geist, tritt langsam und allmählich an die deutsche Entwicke­lung heran; aber es tritt in der bestimmtesten Weise in das Bewußtsein der besten Geister ein.

An einer bemerkenswerten Stelle können wir diesen deut­schen Geist, diesen tragenden deutschen Geist besonders charakteristisch

219

finden. Das ist da, wo einer der besten, einer der geistvollsten Deutschen, Johann Gottfried Herder, versucht hat das Gesaintleben der Menschheit in seiner Entwickelung dar­zustellen. Herder, dieser große Vorgänger Goethes, ging im Grunde genommen früh daran, den Blick hinschweifen zu las­sen über alle Entwickelung der Völker, um ein Gesamtbild zu bekommen von den Kräften, von den Wesenheiten, die in dieser Entwickelung der Völker leben. Und was er dann hat zustande bringen können als eine Darstellung seiner Ideen über diesen Entwickelungsgang, er hat es ja zusammengefaßt in seinen tritt uns ein Tableau, ein Gang durch die Entwickelung der Menschheit in der Weise entgegen, daß wir verspüren, daß in allen einzelnen Erschei­nungen und Geschehnissen Wesenheiten, Kräfte leben, die alle voll lebendig auf Herders Seele wirken. Schon in ziemlich früher Jugend wandte sich Herder gegen die geschichtliche Betrachtungsweise Voltaires. Er konnte voll anerkennen, daß Voltaire einer der geistreichsten Männer war; aber was er in dessen Geschichtsbetrachtung fand, war, daß diese ganze Be­trachtung zuletzt ausmündete in eine Summe von Ideen, die gleichsam durch die ganze Geschichte hindurch walten. Dem-gegenüber wandte Herder ein, daß Ideen nur immer wieder Ideen bewirken. Das wollte Herder nicht, daß man nur von den in der Geschichte wirksamen sprechen solle. Er wollte von dem sprechen, was weniger abstrakt, was leben­diger, konkreter ist als die Geschichtsideen. Davon wollte er sprechen, wie unsichtbare lebendige Wesen hinter allem ge­schichtlichen Geschehen stehen. So sagt er einmal etwa: Was die äußeren geschichtlichen Ereignisse sind, das hat eigentlich im Grunde für den Menschenbetrachter nur einen Wert, wenn man die dahinter wirksamen Geister, geistigen Kräfte in Be­tracht zieht, aus denen das durch die Sinne Wahrnehmbare

220

erst klar hervorgeht; denn was sich äußerlich abspielt, ist nur wie eine Wolke, die entsteht und vergeht, hinter der aber das ganze Walten des durch die Menschheitsgeschichte gehenden Geistes liegt, das man zu betrachten hat.

Langsam und alirnählich stieg die deutsche Entwickelung zu einer solchen grandiosen Geschichtsbetrachtung auf. Man kann sagen, daß eine solche Geschichtsbetrachtung schon im alten Griechenland veranlagt war. Wir finden dort schon Anklänge daran, Sehnsuchten, ein solches Gesamtbild der menschlichen Entwickelung zu geben. Solche Bestrebungen treten dann aber wieder zurück; und erst später finden wir dann, wie in Ita­lien im fünfzehnten Jahrhundert neue Ansätze nach dieser Richtung kommen, wie auch im Westen Europas, in Frank­reich, in England. Man beginnt Zusammenhänge im geschicht­lichen Werden der Menschheit zu suchen. Aber diese Zusam­menhänge werden in einem gewissen materialistischen Sinn gefaßt. Man macht das, was im Ablauf der Geschichte geschieht, vom Klima, von geographischen Verhältnissen und allerlei anderem abhängig. Erst als der deutsche Geist sich dieser umfassenden Geschichtsbetrachtung bemächtigte, kam - man möchte sagen - wirklich lebendiger Geist in sie hinein. Und in Herders Seele entstand ein Bild, welches zusammenfaßt das Naturgeschehen und das dieses Naturgeschehen als Höchstes krönende Menschengeschehen. Herder wandte zuerst den Blick darauf hin, wie sich die Naturwesen entwickeln und wie dann der Geist, der auf untergeordneter Stufe in der Natur wirkt, sich im Menschen zu einer charakteristischeren Geltung bringt. Dieser Geist, den Herder - für ihn bewußt - aus dem Wesen der Allgottheit hervorgehen läßt, er wirkt in der Natur, aber er durchwirkt auch die menschliche Seele. Und was der Mensch in der Geschichte vollbringt, ist für ihn nicht bloß eine Summe von aufeinanderfolgenden Geschehnissen, sondern es hat Be­deutung dadurch, daß der Mensch auf der Erde den zusam­menhängenden

221

Plan der göttlich geistigen Wesenheiten durch das, was er tut, selber fortsetzt.

Es liegt Größe darin, wenn Herder den Menschen in seinem Erdenwirken einen nennt. Darin ist wieder etwas von den Ideen und Empfindungen und Gefüh­len der deutschen Mystik, die den Gott unmittelbar in der menschlichen Seele selber wirksam sucht. Herder sucht den Gott in der Geschichte, wie er sich darstellt in den Taten, die in der geschichtlichen Entwickelung sich abspielen. Gott selber tut, was die geschichtliche Entwickelung ist; und der Mensch, insofern er von dem Gotte durchdrungen ist, ist der Gehilfe Gottes. Es baut sich für Herder zunächst die ganze Natur auf, dann das Menschenreich und darauf das Reich höherer Geister; und er tut den bedeutsamen Ausspruch: Der Mensch ist ein Mittelgeschöpf zwischen Tier und EngeL Herder stellt also den Menschen in die Gesamtentwickelung so hinein, daß der Mensch als ein unmittelbarer Ausdruck, als eine Offenbarung der gött­lichen Geistigkeit erscheint. Und wenn man bei Herder, der kein systematisierender Philosoph war, dem es fern lag, irgend­welche abstrakten Ideen aufzubauen, wenn man bei ihm nach­forscht, wie er dazu gekommen ist, mit unsäglichem Fleiß und mit wahrhaft genialischer Umschau ein Gesamtbild der Ent­wickelung zu entwerfen, durch das sich die Taten der Men­schen zusammenfassen lassen mit den Taten in der Natur, so muß man sagen: Es ist eine Gotteskraft, die Herder selbst be­seelt. Er ist sich bewußt, daß die göttlichen Gewalten, die in der Geschichte walten, in ihm selber leben. Es ist die ttagende Kraft des deutschen Geistes in Herder, die ein Gesamtbild der menschlichen Entwickelung und auch der Naturentwickelung entwirft.

ist ja das Zauberwort geworden, das für die Weltanschauung unserer Tage so bedeutungsvoll erscheint. In jenen Tagen, da Herder lebte, da Goethe seine Jugend verbrachte,

222

um sich durch Herder und andere hinaufzuranken zu der vom deutschen Geiste getragenen Weltanschauung, da trat die Idee, die Vorstellung von der Entwickelung in das deutsche Geistesleben ein. Unendlicher, tiefer war diese Idee der Ent­wickelung, als sie von der materialistischen Weltanschauung genommen wird. Denn in dem, was als «sich entwickelnd» angesehen wird, sah der deutsche Geist eben den Geist wirk­sam; und in jedem einzelnen Naturprodukt sah er, insofern die Entwickelung in Betracht kommt, Geist als den Architekten, den Träger, den Vollbringer der Entwickelung. Daher konnte er die Idee, die den Geist als sich entwickelnd zeigt im Men­schenwerden, vor allen Dingen fruchtbar in die Geistes­geschichte, in die ganze Entwickelungsgeschichte einführen.

Und da steht neben Herder als einer der großen Wegweiser im geistigen Leben Winckelmann da, der zuerst die Kunst­geschichte in jene Strömung brachte, welche man nennen kann:

die von dem deutschen Geiste getragene entwickelungs-geschichtliche Weltbetrachtung. Goethe sagt über Winckel­mann, den ersten deutschen Kunstbetrachter: Winckelinann, ein zweiter Kolumbus, hat die Entwickelung und das Schick­sal der Kunst, als an die allgemeinen Gesetze der Entwicke­lung gebunden, in ihrem Sinken und Steigen mit der Kultur und den Schicksalen des Volkes gleichen Schritt haltend, ent­deckt.

So sehen wir, wie durch diese Geister - schon durch Lessing ist es ja geschehen - Geist in allem Werden geschaut wird als der eigentliche Träger, als die eigentliche Substanz der Ent­wickelung. Und diese Weltanschauung führt unmittelbar zu einem Sich-getragen-Wissen vom Geiste, zu einem Getragen-werden vom Geiste. Das aber durchdringt die Seele mit Zu­versicht, mit innerer Kraft. Man möchte sagen: in alledem lebte schon eine Ahnung davon, daß dieser deutsche Geist mit all seinem Idealismus die Keime enthält zu einer wirklich wissenschaftlichen

223

spirituellen Weltbetrachtung, der die Menschheit entgegengehen muß. Denn wenn man bedenkt, daß die Geistes­wissenschaft ein Wissen von der Welt anstrebt, das dadurch erreicht wird, daß die Seele ihre inneren, in ihren Tiefen schlummernden Kräfte entwickelt, so daß sie dazu kommt, mit den Organen des Geistes oder - um die Worte Goethes zu ge­brauchen - mit den Geistesaugen und Geistesohren das zu schauen, was als Unsichtbares hinter dem Sichtbaren wirkt und webt, - wenn man das bedenkt und sich dann eines gewissen Ausspruches Herders erinnert, dann kommt die Zuversicht über die Seele: die Menschheit wird einmal der geistigen Weltbetrach­tung teilhaftig werden. Denn wie schön erklingt Herders Aus­spruch: Das Menschengeschlecht wird nicht vergehen, bis der Genius der Erleuchtung die Erde durchzogen. Immerzu war Her­ders Blick gerichtet auf das in allem Sinnlichen waltende intime Weben und Wesen des Geistigen. Jeden Menschen - nicht bloß die großen geschichtlichen Persönlichkeiten - betrachtet Herder so, daß die Gedanken nicht bloß von unserm Gehim erfaßte Gedanken sind, sondern etwas Lebendiges, Wesendes und Webendes. Und wenn sie dazu geeignet sind, von dem Zeitengeiste ergriffen zu werden, um dem Strom des Ge­schehens einverleibt zu werden, dann redet Herder von den­jenigen Menschen, die durch solche Gedanken auf ein ganzes Zeitalter gestaltend wirken: Oft leben und wirken diese - die Genies - in der größten Stille; aber einer ihrer Gedanken, den der Geist der Zeiten auffaßt, bringt ein ganzes Chaos der Dinge zur Wohlgestaltung und Ordnung.

Man kann niemals, wenn man diese Dinge ins Auge faßt, sagen, sie seien einem bloß abstrakten philosophischen Nach-denken entsprungen; denn sie stehen nicht isoliert da als die Eindrücke einer Persönlichkeit, sondern sie stehen da wie orga­nisch verbunden mit dem fortlaufenden Strom des deutschen Geisteslebens, und zwar immer so, daß man die Persönlichkeiten,

224

die sie aussprechen, die dadurch ihre Gesinnung offen­baren, als inspiriert ansehen muß von der ttagenden Kraft des deutschen Geistes. Und diese tragende Kraft des deutschen Geistes wird wohl tief empfunden von denjenigen auch in der neuesten Zeit, die von ihr eine Ahnung haben. Aufgenom­men wird das, was so als diese tragende Kraft des deutschen Geistes gefühlt wird, nicht bloß in einer abstrakten Philo­sophie; aufgenommen wird es in das tiefste Fühlen der Seelen.

So zum Beispiel, wenn der im Jahre 1891 verstorbene Paul de Lagarde - wieder einer der deutschesten Geister - einmal folgendes gesagt hat - ganz charakteristisch für die ganze Art und Weise, wie er zu dieser tragenden Kraft des deutschen Geistes steht: er fühlt, daß dieses Sprechen von Vaterlandsliebe im Grunde genommen eine so intime, heilige Sache ist, daß er sich be­schämt fühlt, davon zu sprechen; aber er fühlt auch: spricht er davon, so kann es in empfängliche Gemüter fallen.>

Man braucht nur einen solchen Ausspruch, der wirklich das deutsche Charakterwesen im eminentesten Sinne zeichnet, sich vor die Seele zu führen, und man kann daraus entnehmen, wie

225

der Deutsche, wenn er sich innerhalb des deutschen Volks­wesens so recht darinnen fühlt, sein Verhältnis denken und empfinden muß zu seinem Volksgeist, in dem sich für ihn die göttliche Geistigkeit der Welt überhaupt ausspricht, wie er ihn empfindet als ein lebendiges Wesen, dem er sich nähert - auch mit der Erkenntnis - nur in Ehrfurcht. Lagarde ist einer, der in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts aus tiefer Gelehrsamkeit, aber auch aus tiefem, seelenvollem Empfinden heraus über Deutschtum Mannigfaltiges gesprochen hat, über Quellen des Deutschtums, über Aussichten des Deutschtums. Er ist einer derjenigen, die nicht müde werden, immer wieder und wieder darauf hinzuweisen, daß das Wesen der Deutsch­heit in dem Geistigen ruht, in dem, was als der allem gemein­same Geist durch die ganze deutsche Entwickelung geht. Mit dem, was eine materialistische Ansicht beim Volkswesen als - Worin Lagarde, einer der deutschesten der Deut­schen, das deutsche Wesen sucht, das ist die tragende Kraft des deutschen Geistes, in die sich derjenige versenken kann, der deutsches Wesen in sich zu empfinden und zu verwirk­lichen versteht. Immer wieder und wieder werden die besten Deutschen nicht müde, zu erklären, wie man das Wesen des Deutschen nur durch Geistiges ausdrücken und offenbaren kann.

Wenn man solche Betrachtungen anstellt, wird einem der deutsche Geist zu einem immer konkreteren, immer wirklicheren

226

Wesen. Man fühlt ihn fließen durch den Strom des deut­schen Lebens, insbesondere durch den Strom des deutschen Geisteslebens; und man versteht dann, wie der Deutsche im Laufe seiner Entwickelung das Bedürfnis empfand, sein eige­nes Wesen in der Gegenwart immer mehr und mehr zu berei­chern an dem, was in älteren Zeiten der deutsche Geist schon hat aus seinen Quellen hereinströmen lassen in das deutsche Volkstum.

So finden wir, wie, an Goethe sich anlehnend, die deutschen Romantiker, gleichsam das alte deutsche Wesen erneuernd, sich vertiefend nicht nur ins Volkslied, sondern in das gesamte deutsche Geisteswesen, um es in sich aufzunehmen und in ihrer Seele zu beleben, um so das, was dem Deutschtum als Ganzes eigen ist, in der eigenen Seele wirken zu lassen. Und dann sehen wir wieder, wie sich die deutsche Entwickelung in den Gebrüdern Grimm inspirieren läßt von dem, was deut­sches Wesen in alten Zeiten hervorgebracht hat. Wir sehen, wie die Brüder Grimm zum Volke hinabsteigen und sich die alten Märchen erzählen lassen, um sie zu sammeln. Und was liegt in dieser Sammlung deutscher Märchen, die wirklich so hundertfältige Eindrücke überliefern, die unmittelbar aus dem Volksgemüt herausgenommen sind? Nichts anderes liegt in ihnen als die tragende Kraft des deutschen Geistes!

Und wie wirkt sie fort, diese tragende Kraft des deutschen Geistes?

Wir haben es ja insbesondere sehen können an den Leistun­gen des schon genannten Herman Grimm. Oftmals, wenn man diese feinen, vornehmen, diese umfassenden Kunstcharakte­ristiken Herman Grimms auf die Seele wirken läßt, wenn man namentlich manche ungemein intime Feinheiten, die in diesen Schriften liegen, ins geistige Auge faßt, muß man sich fragen:

Wie kam denn diese Persönlichkeit dazu, die Seele so ela­stisch, so geschmeidig zu machen, daß sie untertauchen konnte

227

in die tiefsten Geheimnisse künstlerischen Wirkens und künst­lerischen Schaffens? Und ich glaube, es kann eine andere Ant­wort nicht geben, als die, welche aus den Hinweisen folgt, wie Herman Grimm, bevor er an die Betrachtung der Menschheits­kunst gegangen ist, sich selber dichterisch, künstlerisch aus­gesprochen hat. Denn dieses Aussprechen ist für die tragende Kraft des deutschen Geistes ganz besonders charakteristisch. Ich möchte nur auf ganz weniges hinweisen.

Da haben wir gleich als erste der in dem Bande «Novellen> vereinigten Geschichten und Dichtungen Herman Grimms eine, die da heißt ; eine Geschichte, die wie gewöhnlich, wenn man novellistisch darstellt, nur so gebraucht wird, daß diejenigen Vorgänge ins Auge gefaßt werden, die sich vor den Augen der Menschen abspielen, die man unmit­telbar auffassen kann mit dem Vorstellungsvermögen, das an den Leib gebunden ist. Herman Grimm stellt zunächst meister­haft auch das dar, was sich in der äußeren Welt vollzieht:

stellt dar eine weibliche Persönlichkeit, von der tief angezogen wird eine männliche Persönlichkeit; aber durch ihre Charakter-anlage und ihr ganzes Wesen stößt diese weibliche Person­lichkeit die männliche zurück. Die Einzelheiten auszuführen, würde jetzt zu weit gehen. Es kommt also dazu, daß die männ­liche Persönlichkeit Selbstmord begeht. Die weibllche Persön­lichkeit bleibt zurück. Und sie fühlt nun nach dem Tode des Mannes, der sie geliebt hat, nicht bloß Schmerz, Leid; nein, es greift etwas ein in ihr Seelenleben, das unmittelbar übersinn­licher Art ist. Bei einem Freunde bringt sie eine Nacht zu, bei jenem Freunde, bei dem der Selbstmord ihres Geliebten vorgegangen war. Sie fühlt sich beunruhigt. Sie ahnt zunächst nicht den Grund dafür. Dann aber sagt sie, daß sie nicht allein im Zimmer schlafen könne; der Freund solle sie überwachen. Und als er sie überwacht, zeigt es sich, daß sie eine Vision hat, von der der Dichter deutlich zeigt, daß er damit mehr ausdrücken

228

will als ein bloßes Spiel der Phantasie. Zur Tür des Schlafzimmers kornmt herein die Geistgestalt des Verstorbe­nen. Und wenn man nachforscht, was Herman Grimm mit die­ser Erscheinung eigentlich zum Ausdruck bringen will, so ist es das, daß er sagen will: Mit dem, was sich hier vor der Men­schen Erdenaugen abspielt, ist das Geschehen noch nicht er-schöpft; sondern geistige Faktoren, geistige Wesenheiten grei­fen ein ins physische Geschehen; und wenn der Tod eingetre­ten ist, so ist don in der geistigen Welt und wirksam für den, der dafür empfänglich ist, dasjenige vorhanden, was durch die Pfone des Todes gegangen ist.

Herman Grimm ist damit ein Novellist, der unmittelbar in seine novellistische, in seine künstlerische Darstellung die gei­stige Welt hereinscheinen läßt. Oftmals ist es hier in diesen Vonrägen dargestellt worden, was das eigentlich ist, was da dieser zuruckgebliebenen Geliebten erscheint. Es ist das, was der Ätherleib des betreffenden Verstorbenen genannt werden kann, was sich zeigen kann in der Gestalt des Verstorbenen für den, der dafür empfänglich ist. Doch nicht alle Menschen sind dafür empfänglich.

Herman Grimm hat ferner einen Roman geschrieben, «Un-überwindliche Mächte», der als kulturhistorischer Roman und auch sonst in der Geistesgeschichte der Menschheit große Be-deutung hat, aber leider viel zu wenig beachtet ist. Auch hier stirbt der Geliebten hin der Geliebte. Und als sie Heilung sucht in einem One des Südens, siecht sie in dem Gedenken an den Geliebten immer mehr dahin und stirbt zuletzt. Ihren Tod beschreibt nun Herman Grimm in einem Schlußkapitel der «Unüberwindlichen Mächte» in einer ganz einzigen Weise. Er beschreibt, wie sich aus ihrem Leibe heraushebt eine Geist-gestalt, die entgegeneilt dem Geliebten. Wiederum schließt Herman Grimm die Darstellung nicht ab mit den auf der Erde sichtbaren Ereignissen, sondern er bringt zusammen, was äußerlich

229

den Sinnen, was dem Verstande sichtbar ist, mit dem Übersinnlichen, das sich über den Tod hinaus fortsetzt.

Ich würde solche Beispiele nicht anführen, wenn sie nicht durchaus dem entsprächen, was die Geisteswissenschaft über diese Dinge zu sagen hat. Selbstverständlich kann man nicht Künstler als Belege für die Geisteswissenschaft anführen. Aber wenn man solche Beispiele als Belege für das anfühn, was die Geisteswissenschaft der Menschheit zu bringen hat, so kann es insofern geschehen, als in einem solchen Geiste wie Herman Grimm, der sich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahr­hunderts künstlerisch betätigte, die werdende Geisteswissen­schaft liegt. Er ist zwar noch nicht in der Lage, die Geistes­wissenschaft als solche auszusprechen, aber künstlerisch stellt er die Dinge so dar, daß man wahrnimmt: die Geisteswissen­schaft will aus der tragenden Kraft des deutschen Geistes her­aus ihren Einzug halten in die geistige Kultur der Menschheit.

Herman Grimm - das geht aus seiner ganzen schriftstelle­rischen Tätigkeit hervor - hat sich selber im Grunde genom­men nie gestehen wollen, worauf es eigentlich beruht, daß er solche Darstellungen gab. Er hatte eine gewisse Scheu, diese Dinge, die er nur in der intimsten, künstlerisch-geistigsten Weise anfassen wollte, in gewöhnliche Begriffe hineinzubrin­gen. Aber wenn er nicht in der Lage war, diese Dinge so anzu­fassen, wie die Geisteswissenschaft heute über sie sprechen kann, und diese Dinge doch von ihm sachgemäß - man möchte sagen «fachmännisch» - dargestellt werden, was lebte dann in ihm? Die tragende Kraft des deutschen Geistes - die war sein Inspirator! Und so finden wir als ein recht reales Wesen diesen deutschen Geist mit seiner tragenden Kraft, und wir müssen unsern geistigen Blick auf ihn hinlenken, wenn wir deutsches Wesen überhaupt kennenlernen wollen.

Nun hat Goethe einmal ein sehr bedeutsames Wort gespro­chen, welches berücksichtigt werden müßte, wenn von dem

230

Verhältnis des deutschen Geistes zu dem einzelnen Deutschen die Rede ist, wenn von dem die Rede ist, wie deutsches Wesen unmittelbar in deutschen Landen - man möchte sagen - lebt, lebt vor den Augen der Menschen, wenn diese ihre Augen hingerichtet sind auf irgendwelche Persönlichkeiten und irgend­welche Menschen innerhalb der deutschen Lande. In einem vertraulichen Gespräche der letzten Jahre hat Goethe zu sei­nem Sekretär Eckermann gesagt: «Meine Sachen können nicht populär werden; wer daran denkt und dafür strebt, ist in einem Irrtum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne Menschen, die etwas Ähnliches wollen und suchen und die in ähnlichen Richtungen begriffen sind.»

Damit ist etwas Bedeutsames ausgesprochen. Man möchte sagen: es ist im Wesen der Deutschheit gelegen - um dieses Wort Fichtes zu gebrauchen -, den deutschen Geist wirklich als ein Lebendiges zu empfinden und die Gesamtheit des deut­schen Wesens, die Einheit des deutschen Geistes als ein Be­sonderes noch zu erleben neben demjenigen, was sich äußer­lich als deutsches Leben zeigt. Die Gesamtheit des deutschen Wesens ist deshalb nicht minder real; sie kann wenigstens für einen jeden vorhanden sein. Daher der Drang des Deutschen, die einzelnen Erscheinungen der Welt im Zusarumenhange mit der ganzen Welt- und Menschheitsentwickelung zu betrach­ten. Haben wir doch in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts einen innerhalb der deutschen Gaue Österreichs lebenden Dichter, der - man möchte sagen - durch die ganze Welt gegangen ist, um aus den verschiedensten Kulturgeistern heraus den einzelnen Menschen aus dem Gesarutgeiste zu begreifen. Ich meine Robert Hamerling, der in seiner Dich­tung «Aspasia> versucht, den griechischen Gesamtgeist durch den einzelnen Menschen sprechen zu lassen; der dann ver­sucht, das unmittelbar persönliche deutsche Wesen in seinem «König von Sion» darzustellen; der weiter versucht, den

231

eigentlichen Geist des französischen Revolutionsherdes in sei­nem Drama «Danton und Robespierre> zum Ausdruck zu brin­gen und schließlich den Geist unserer Zeit in seinem «Homun­kulus> grandios, umfassend durch eine Dichtung wiedergeben will. Immer ist es das Bedürfnis Hamerlings, den einzelnen Menschen im Zusammenhange mit dem darzustellen, was als geistiges Weben und Werden und als eine Summe geistiger Wesenheiten den Strom des menschlichen Geschehens belebt und durchzieht. Der Blick auf ein Ganzes, auf ein lebendiges Geistiges über den einzelnen Erscheinungen durchwebt die deutsche Geistesarbeit da, wo sie in ihren allerintensivsten Er­scheinungen auftritt.

Daher ist es aber für den, der - man möchte sagen - nicht viel weiter als ein paar Meter über seine Nase hinaussieht und irgend etwas betrachtet, was Deutschheit auf einem be­schränkten Gebiete ist, für ihn ist es so ungeheuer schwierig, das deutsche Wesen zu begreifen; denn man begreift es nur, wenn man den Zusammenhang der deutschen Seele mit den durch die Welt webenden geistigen Wesenheiten, die sich im deutschen Geiste zur Offenbarung bringen, wirklich betrachtet. Und das ist neben manchem, was schon in diesen Vorträgen erwähnt wurde, der Grund, warum dieser deutsche Geist, warum dieser tragende deutsche Geist so mißverstanden wer­den kann, warum er jetzt so geschmäht und so beschimpft wird. Man muß sich da fragen: Wie steht dieses deutsche Geistesleben zu dem Geistesleben anderer Völker?

An einem charakteristischen Beispiele möchte ich heute erörtern, anknüpfend gerade an eine ausgesprochene Gelegen­heit, wie schwierig es dem Deutschen ist, der sich verbunden fühlt mit dem deutschen Geist, sich voll verständlich zu machen, wenn die Anwendung dessen, was er aus dem deutschen Geiste fühlt, an einer einzelnen Erscheinung geltend gemacht werden soll.

232

Man hat in der letzteren Zeit vielfach davon gesprochen, daß das altgewordene, das schon etwas dekadent gewordene französische Geistesleben eine Art Verjüngung erfahren hat, daß es unter den jungen Franzosen Menschen gibt, welche nicht mehr mitgehen mit dem offiziellen Franzosentum. Und in vielen Kreisen, denen hoffentlich dieser Krieg die Augen mehr öffnen wird, als sie sie früher offen gehabt haben, hatte man angefangen in diesem jungen Franzosentum etwas zu sehen, was nun den deutschen Geist viel besser verstehen werde als das offizielle Paris und das offizielle Franzosentum. Man hatte hingewiesen auf charakteristische Erscheinungen innerhalb des Jungfranzosentums. Da ist in der Tat gar man-ches zu finden, was - man möchte sagen - ganz bedeutsam ist. Es gibt junge französische Geistesrichtungen, die nicht zufrie­den sind mit dem eigentlichen offiziellen Frankreich - das aber das Frankreich ist, welches gegenwärtig mit Deutschland im Kriege liegt.

Was sagen solche jungen Franzosen? - Nur ein kurzes Bei­spiel möchte ich dafür bringen, indem ich anführe, was Léon Bazalgette geäußert hat:

«Eine der Freuden, die uns die nationalistischen Markt­schreierbuden spenden, besteht in der schönen Offenheit, die durch die jungen und alten Anhänger, die sich zu ihnen drän­gen, gesteigert wird. Eine Offenheit, die die unsrige ermutigt und von uns, den Zuschauern, einige angemessene Erwiderun­gen fordert.

Man sehe, wie sie sich vor Befriedigung aufolähen, wenn sie die Worte aussprechen: (drei Jahre des Bestehens - verkünden sie - das Kind ist pausbäckig und spielt schon mit kleinen Soldaten>, , . Sie begleiten sie mit sol­chen Gesten, daß keiner der versammelten Maulaffen sich irren kann; das bedeutet doch wohl den Ausdruck ihrer Hoffnung,

233

daß sich bald die Gelegenheit bieten möge, die Sohne der Besiegten die königlichen Freuden der genie­ßen zu lassen.

Das sind die Männer, die die ganzen Tatkräfte eines Vol­kes ablenken möchten, um sie in die Begeisterung jener noch unbekannten Tugend zu ergießen: in den Haß. In einem Zeit­alter, wo die ganze Welt bebt von Tätigkeiten, ehrgeizigen Bestrebungen, Träumen und neuen Wünschen, die die Gren­zen überschreiten, da besteht ihr einziges Sinnen und Trach­ten, auf das sie stolz sind, darin, mit Faustschlägen einen alten Nachbarschaftsstreit zu schlichten. Oh, arme Eingebildete, die ihr außerstande seid, andere Formen des Heldentums herauf­zubeschwören als die . Arme kleine Leidenschafts-narren, die ihr keine geeigneteren Wünsche hegt, um euren Tätigkeits-Heißhunger zu stillen ...

... Im Namen welcher großen Idee - einer dieser Ideen, für welche zu allen Zeiten fast kein Mensch gezögert hat, sein Leben hinzugeben, - würden wir mit Deutschland Krieg füh­ren? Steht etwa unsere Freiheit auf dem Spiel? Leben wir unter dem Joch oder werden von ihm bedroht? Handelt es sich um Länder, die zu zivilisieren sind, indem man sie annek­tiert, oder um Völker, die man der Sklaverei entreißen muß? Nein, es handelt sich einzig und allein um den Versuch, Ge­biete wieder zu erobern, die uns gehörten und die wir in einem Kriege verloren haben, Gebiete, von denen die gute Hälfte nicht französischer als deutsch ist...; und noch weniger han­delt es sich um die Wiedereroberung dieser Gebiete an sich als darum, eine alte Rachsucht zu stillen. Das ist die , in deren Namen dieses Land, das sich nur zu gern den Titel eines (bekannte Melodie> beilegt, Krieg anfangen würde.>

Man war - man möchte sagen - etwas wohltätig berührt in gewissen Kreisen über manche Stimmen, die von den jungen

234

Franzosen herübertönten, von jenen jungen Franzosen, von denen man sagte, daß sie ein neues Frankreich begründen wollten. Und einer derjenigen, die vorzugsweise auch von gewissen Deutschen vor dem Kriege zu diesen jungen Franzo­sen gerechnet wurden, die ein neues Frankreich hervorbringen werden, ist Romain Rolland, der einen großen Roman ge­schrieben hat, «groß> im Sinne der räumlichen Ausdehnung, denn er hat sehr viele Bände. Es ist zunächst interessant, den Blick darauf zu werfen, wie man bei uns in gewissen Kreisen, wenn das auch vielleicht noch kleinere Kreise waren, gerade über diesen Roman des Romain Rolland gedacht hat.

Ein Kritiker hat sich nicht entbrechen können, zu sagen, dieser Roman «Jean Christophe> - der deutsche Name ist Johann Christof Kraft - sei die bedeutendste Tat, die seit dem Jahre 1871 zur Aussöhnung von Deutschland und Frankreich geschehen ist. Die Zahl derjenigen war eigentlich gar nicht gering, die da sagten: Man sehe an diesem Roman «Jean Christophe>, wie gerade einer jener jungen Franzosen mit Liebe, mit inniger Liebe das Deutsche anschaut, wie er zu den­jenigen gehöre, die unmöglich machen werden, daß in Znkunft diese beiden Völker in Unfrieden leben werden.

Es hat sich ja nicht nur dieses als eine trügerische Hoff­nung gezeigt, sondern noch etwas anderes: Jener Romain Rolland gehört zu denjenigen, die mit Maeterlinck, Verhaeren und so weiter sogleich, als der Krieg begonnen hat, in einer recht wenig bescheidenen Weise über Deutschland und deut­sches Wesen sich ausgesprochen haben. Nun ist es aber doch interessant, ein wenig hinzuschauen, wie eigentlich dieser Mann, Romain Rolland, von dem so viele von uns sagten, daß er deutsches Wesen so gut verstehen könnte, daß er wirklich aus dem innersten Kern der deutschen Volksseele und des deutschen Geistes heraus dasjenige erfaßt habe, was tragende Kraft des deutschen Geistes ist -, wie dieser Mann deutsches

235

Wesen aufgefaßt hat. Ich weiß sehr wohl, daß nicht nur Fran­zosen etwas «Barbarisches> - das Wort ist ja heute gebräuch­lich - in dem finden werden, was ich nun zu sagen habe; aber ich bin mir wohlbewaßt, daß ich keine wahren ästhetischen Empfindungen verletze, indem ich das sage, was ich sagen muß, unbeeinflußt von mancherlei Urteilen, die gerade in der angedeuteten Richtung über diesen Roman gefallen sind.

Was die Leute ganz besonders begeistert hat, ist, daß der Franzose einen Deutschen darstellt, Johmn Christof Kraft, der aus deutschem Wesen - wir werden gleich sehen: wie -herausgewachsen ist und der, nachdem er seine Jugendzeit in Deutschland zugebracht hat, nach Frankreich geht, um dort seine weitere Entwickelung zu finden. Man sieht darin eine ganz besondere Überbrückung des Gegensatzes zwischen deut­schem und französischem Wesen. - Nun müssen wir uns, um das, was zu sagen ist, voll zu verstehen, allerdings erst das Grundgerüst dieses «Jean Christophe» vor die Seele führen.

Ich weiß, welches Ansehen die Kritiker haben, die ihre Meinung über diesen Roman dahin ausgesprochen haben: die Gestalt dieses Jean Christophe sei eine solche, wie sie unmittel­bar aus dem Leben herausgegriffen ist; kein Zug - so emp­fände man - könnte in dieser Zeichnung anders sein. Aber ich muß doch sagen: Dieser Jean Christophe erscheint mir als ein recht unverdauliches Ragout, in seinem Charakter recht un­harmonisch zusammengeschweißt aus Charakterzügen des jun­gen Beethoven, Wagner, Richard Strauß und Karl Marx. Die Verehrer des Jean Christophe mögen es mir verzeihen, aber der Eindruck ist so. Dieser Jean Christophe wächst auf - er ist nur in die Gegenwart versetzt - so ähnlich, wie Beethoven aufgewachsen ist. Man erkennt alle Züge des jungen Beethoven wieder - aber zur Karikatur verzerrt - bis in alle Einzelheiten, aber so, daß überall das Leben des jungen Beethoven als ein grandioses Kunstwerk erscheint, das Leben des Jean Christophe

236

dagegen als eine Karikatur. Nun hat ja der Dichter nicht die Aufgabe, wenn er Anklänge an Historisches gibt, diesem Historischen treu zu sein. Alle Einwände, die in dieser Be­ziehung von Kritikern etwa gemacht werden, kann ich mir selber machen; dennoch muß ich dies sagen: Der Jean Christophe wächst auf in einer Umgebung, die - nach der An­sicht vieler Leute - ein Bild des deutschen Wesens gibt. Da werden vorgeführt der Großvater, die Großmutter, der Onkel und andere, die seine Freunde sind. Er wächst so auf, daß das deutsche Wesen, aus dem er herauswächst, als das größte Hin­dernis seiner sich entwickelnden Genialität empfunden wird. Deutsches Wesen wird ja zum Beispiel folgendermaßen dar­gestellt. Wie auch Beethoven ist der junge Jean Christophe eine Art früher Komponist; er macht schon in jungen Jahren Kompositionen. Der Vater, der ein Trunkenbold ist, fühlt sich gedrängt, dieses frühreife Talent der Welt vorzuführen. Dieser Vater ist ein Sekretär, Diener eines kleinen deutschen Fürsten. Die besondere Deutschheit dieses Vaters wird kulturhistorisch nun dadurch dargestellt, daß er, als er ein Konzert mit dem jungen, sieben- bis achtjährigen Jean Christophe plant, wobei auch der Fürst anwesend sein soll, darüber nachdenkt, wie er den Knaben anziehen soll. Da kommt er zuletzt auf eine ganz schlaue Idee; aus der «kulturhistorischen Idee echten wahren Deutschtums> heraus ist das geschildert: Er läßt ihn lange Hosen und einen Frack anziehen, dazu eine weiße Binde, so daß der Knabe ein achtjähriger kleiner Mann ist. Ich will nun nicht erzählen, weil es ja zu weit führen würde, wie sich diese deutsche Unternehmung später abspielt. Ich will auch nicht im einzelnen schildern, wie er an allem Ekel empfindet, was die ganze deutsche Umgebung bietet, diese Umgebung, die mit «Liebe> - nach der Ansicht mancher Leute - gezeichnet ist und die ein getreues Bild des deutschen Wesens geben soll. Als er es aber gar nicht mehr in dieser Umgebung aushalten

237

kann, fühlt er sich gedrängt - wie es in dem Buche heißt -sich inspirieren zu lassen von dem lateinischen Geist. Er geht also nach Paris. Dort findet er einen Freund, der in vielem ein deutliches Abbild von Romain Rolland selber ist. Das ist derjenige, der zum Ausdruck bringt, was das junge, sich neu gebärende Franzosentum für die Zukunft verspricht; er ist es, der diesem wirren Kopf, dieser Puppe, die zusammengeschweißt ist aus dem jungen Beethoven, Wagner, Richard Strauß und anderen, einige Ordnung im Gemüte beibringt. Das ist die «Liebe», mit der ein deutscher Charakter, Jean Christophe, nach der Ansicht gewisser Leute gezeichnet ist. Es macht dann auch Jean Christophe in Paris - wir merken jetzt einige Züge von Richard Wagner - Verschiedenes durch. Und als er den Freund verliert, wendet er sich weiter nach dem Süden, macht manche Erlebnisse durch, die hart ans Verbrecherische gren­zen, die ihn sogar zum Selbstmord führen, der dann nur miß­glückt. Und nachdem nun dieser Jean Christophe, der in sei­ner deutschen Umgebung nicht hat gedeihen können, durch lateinisches Wesen durchgegangen ist, kommt er in einem einsamen alten Dorf gleichsam zu sich selbst; er erobert sich den eigenen Geist. Die Ewigkeit geht ihm auf.

Nun wollen wir nur ein paar Proben der gar liebevollen Versenkung in das deutsche Wesen einmal auf uns wirken lassen, die dem Roman entnommen sind. Da wird zum Bei­spiel der Vater, der nachgezeichnet ist dem Vater Beethovens, Melchior, charakterisiert. Ich weiß selbstverständlich, daß jemand sagen kann: Du nimmst aus einem Roman Worte her­aus, die ja nicht eigentlich die Meinung des Autors wieder­geben müssen. Allein die künstlerische Komposition dieses Romanes entspricht durchaus nicht dem, was schon Schiller gefordert hat in den wunderschönen Worten, die er über den «Wilhelm Meister» geschrieben hat, und was wirklich zu der künstlerischen Komposition eines Romanes zugehört. Als

238

Goethe deswegen geradelt worden ist, daß gewisse Eigenschaf­ten der Persönlichkeiten in seinem Roman nicht ganz mora­lisch vorkämen, sagte Schiller: «Wenn die Leute Ihnen nach­weisen können, daß das Unmoralische aus Ihrer eigenen Seele kommt, dann haben Sie einen ästhetischen Fehler gemacht; wenn es aber aus den Personen kommt, dann sind Sie in jeder Beziehung gerechtfertigt.> - Diese goldene Kunstregel ist auch etwas, was dann in die tragende Kraft des deutschen Geistes übergegangen ist. Die besten Kunstwerke, die wir in Deutsch­land finden, sind wirklich unter dem Einflusse dieser Schiller­Goetheschen Gesinnung geschrieben. Bei Romain Rolland aber trifft man fortwährend, fast auf jeder dritten Seite, auf Aus-führungen, denen man es anmerken kann, daß es der Autor ist, der da spricht, und nicht die Personen. Daher ist es in diesem Falle nur eine Ausrede, wenn eingewendet wird, man dürfe nicht das, was gelegentlich - man kann nicht einmal sagen, daß es die Personen aussprechen -, sondern was ge­legentlich der Personencharakteristiken der Autor sagt, charak­teristisch finden für die Art, wie sich der Autor in das deutsche Wesen versenkt hat. Der Vater Melchior wird zum Beispiel in der folgenden Weise gezeichnet:

«Er war ein Schönredner, gut gebaut, wenn auch ein wenig plump, und der Typus dessen, was in Deutschland als klas­sische Schönheit gilt: eine breite ausdrucklose Stirn, starke regelmäßige Züge und ein lockiger Bart: ein Jupiter vom Rheinufer.>

Dann zur Charakterisierung von Melchiors Freunden, wie sie sich bei dem Vater versammelten und dort miteinander spielten und sangen:

«Zuweilen sangen sie gemeinsam im vierstimmigen Män­nerchor eins jener teutschen Lieder, die, eins wie das andere, mit feierlicher Einfalt und in platten Harmonien sich schwer-fällig - gewissermaßen vierfüßig - fortbewegen. »

239

Liebevolle Schilderung des deutschen Wesens! Ich will es nur zur Charakteristik anführen. Dann kommt ein Onkel Theodor in dem Roman vor, der allerdings des Großvaters Stiefsohn ist; der wird in der folgenden Weise geschildert. Ich will nichts dagegen sagen, daß einzelne Personen in dieser Weise dargestellt werden, sondern wende mich nur dagegen, daß diese Schilderung ein Kulturbild des deutschen Wesens sein soll; denn man merkt heraus: Romain Rolland mischt fort­während das hinein, was ihn juckt, damit er es über das deutsche Wesen sagen kann. Von diesem Onkel Theodor wird gesagt:

«Er war Teilhaber eines großen Handelshauses, das geschäft­liche Verbindungen mit Afrika und dem äußersten Osten unterhielt. Er stellte ganz den Typus eines jener Deutschen neuen Stils dar, die mit Vorliebe den alten Idealismus der Rasse spöttisch verschmähen und siegestrunken mit Kraft und Erfolg einen Kultus treiben, der beweist, daß sie nicht ge­wohnt sind, unter diesem Zeichen zu leben. Da es aber un­möglich ist, die jahrhundertalte Natur eines Volkes plötzlich zu ändern, kam der zurückge drängte Idealismus immer wieder in der Sprache, im Benehmen, in den moralischen Anschau­ungen, in den Goethezitaten anläßlich der geringsten häus­lichen Begebenheiten wieder zutage; und so entstand durch das bizarre Bemühen, die ehrbaren Prinzipien des alten deutschen Bürgertums mit dem Zynismus dieser neuen Laden-Condottieri in Einklang zu bringen, ein sonderbares Gemisch von Gewis­senhaftigkeit und Eigennutz, ein Gemisch, das einen recht widerlichen Geruch von Heuchelei an sich hat, - die darauf hinausläuft, aus deutscher Kraft, Geldgier und Jnteressensucht das Symbol alles Rechtes, aller Gerechtigkeit und aller Wahr­heit zu gestalten.»

Liebevolle Schilderung! Es wird dann eine junge Adlige, in die sich Jean Christophe verliebt, als ein Typus eines jungen deutschen Mädchens geschildert. Minna heißt sie:

240

«Übrigens war Minna bei aller Sentimentalität und Romantik ruhig und kühl. Trotz ihres aristokratischen Namens und des Stolzes, den ihr das Wörtchen «von» einflößte, hatte sie das Gemüt einer Meinen deutschen Hausfrau - ->

und dann heißt es weiter:

«Minna, dies naiv-sinnliche deutsche kleine Mädchen, kannte sonderbare Spiele. »

Und um jetzt auszuführen, kulturhistorisch, was besonders charakteristisch für das deutsche Wesen sein soll, wird an­geführt, daß sie auch das verstand: Mehl auf den Tisch auszu­breiten, gewisse Gegenstände hineinzubringen, die man dann mit dem Munde zu suchen hatte.

Nun soll gezeigt werden, warum das deutsche Wesen so un­leidlich für Christof wird; und man kann dazu wieder nur sagen: es juckt den Verfasser, was er selbst über die Deutschen empfindet, zum Ausdruck zu bringen. Es soll geschildert wer­den die Unwahrhaftigkeit, das Pharisäerhafte in dem deut­schen Idealismus, in jenem Idealismus, von dem Romain Rol­land meint, daß er nur erfunden sei, weil man die Wahrheit unbequem findet und deshalb zum Ideal hinsehe; man lügt über die Wahrheit und nennt es Idealismus. So hätten die Deutschen die Eigenschaft, die Menschen nicht ruhig anzu­schauen, sondern sie zu «idealisieren», sich über ihre wahren Eigenschaften hinwegzulügen. Diese Eigenschaft hätte sich auch Christof angeeignet, aber sie sei ihm immer ekelhafter geworden:

«Nachdem er sich nun einmal zur Überzeugung gebracht hatte, daß sie» - gewisse Menschen - «ausgezeichnet seien und ihm gefallen müßten, gab er sich als echter Deutscher alle Mühe, zu glauben, daß sie ihm wirklich gefielen. Aber es ge­lang ihm durchaus nicht: ihm fehlte jener willfährige germa­nische Idealismus, der nicht sehen will und auch nicht sieht, was ihm zu entdecken peinlich wäre, aus Furcht, die bequeme

241

Ruhe ihres Urteilens und das Behagen ihres Lebens zu stören.» «Deutscher Idealismus» aus dem Grunde erfunden, um sich das Behagen des Lebens nicht zu stören! Nun wird wiederum ein junges Mädchen, in das sich Jean Christophe selbstver­ständlich auch verliebt, geschildert, ein Urbild von Häßlich­keit, «die kleine Rosa». Man fühlt förmlich aus dem Roman heraus, wie ihr die Nase kaum richtig im Gesichte steht und anderes mehr; aber es wird aus einet liebevollen Kulturschil derung über sie gesagt:

«Die Deutschen sind in bezug auf physische Unvollkom­menheiten von einer glücklichen Nachsicht: sie bringen es fertig, sie nicht zu sehen; sie können sogar dahin kommen, sie mit wohlwollender Phantasie zu verschönen, indem sie un­erwartete Beziehungen zwischen dem Gesicht, das sie sehen wollen, und den herrlichsten Exemplaren menschlicher Schön­heit herausfinden. Es hätte nicht allzu großer Überredungs­gabe bedurft, um den alten Euler» - den Großvater der Rosa -«zu der Erklärung zu veranlassen, daß seine Enkelin die Nase der Juno Ludovisi habe.>

Aber nachdem er so an seiner eigenen Person die Lügen­haftigkeit des deutschen Idealismus erprobt hat - man hat das ja bei bekannten «Genies» immer wieder erlebt; aber daß es charakteristisch für deutsches Wesen sein sollte, daß es eine besondere Eigenschaft des Deutschen sein soll, die Menschen zu «idealisieren», hat man früher nicht geglaubt -, kommt er nun auch dazu, daß im Grunde genommen alle deutschen Musiker einen Haken hätten, irgendwo stimmte etwas nicht; das hinge auch mit dem deutschen Idealismus zusammen! Und nun kommt er darauf, daß er bedeutsamer sein muß als alle übrigen. Zur Charakteristik darüber einige Worte über Schu­mann:

«Aber gerade sein Beispiel führte Christophe zu der Er­kenntnis, daß die schlimmste Falschheit der deutschen Kunst

242

nicht dort lag, wo die Künstler Empfindungen ausdrücken wollten, die sie nicht fühlten, sondem vielmehr dort, wo sie zwar Gefühle ausdrückten, die sie empfanden - die aber in sich gefälscht waren. Die Musik ist ein unerbittlicher Spiegel der Seele. Je naiver und vertrauensvoller ein deutscher Musiker ist, um so mehr zeigt er die Schwächen der deutschen Seele, ihren unsicheren Grund, ihre weiche Empfindsamkeit, ihren Mangel an Freimut, ihren ein wenig hinterhältigen Idealismus, ihre Unfähigkeit, sich selbst zu sehen, zu wagen, sich ins Ge­sicht zu schauen.>

Nun, da er ja nur ein wiedergekommener Beethoven ist

- der natürlich nach Wagner lebt - und ein Genie werden soll, wie es noch nicht dagewesen ist, so muß er seinen Ärger auch über Wagner ausdehnen. Und da werden dann allerlei liebevolle Dinge - man kann wirklich nicht sagen: Johann Christof in den Mund gelegt, was verzeihlich wäre; sondern sie werden immer so ausgedrückt, daß sie sich von der Person des Johann Christof absondern und zu etwas werden, was von dem Autor selber die absolute Färbung erhält. So wird über Richard Wagner, mit Bezug auf Lohengrin und Siegfried, gesagt:

«Deutschland ergötzte sich an dieser ältlich-kindlichen Kunst, dieser Kunst losgelassener Bestien und mystisch-quakelnder Mädelchen.>

Nun, ich möchte sagen, noch eingehender wird in so liebe­voller Weise das deutsche Wesen charakterisiert. Davon auch eine Probe:

«Besonders seit den deutschen Siegen taten sie alles, um Kompromisse zu schließen, einen widerlichen Mischmasch aus neuer Macht und alten Grundsätzen zustande zu bringen. Auf den alten Idealismus wollte man nicht verzichten: das wäre eine Tat des Freimuts gewesen, zu der man nicht fähig war; man hatte sich, um ihn den deutschen Interessen dienstbar zu

243

machen, damit begnügt, ihn zu verfälschen. Man folgte dem Beispiel Hegels, des heiter doppelzüngigen Schwaben, der Leip­zig und Waterloo abgewartet hatte, um den Grundgedanken seiner Philosophie dem preußischen Staat anzupassen,> -es darf vielleicht doch gesagt werden, daß das grundlegende Werk Hegels, «Die Phänomenologie des Geistes> - davon ver­steht aber Romain Rolland wahrscheinlich sehr wenig, wenn er sagt, daß die Hegelsche Philosophie nach Leipzig und Wa­terloo entstanden ist - während des Kanonendonners der Schlacht von Jena, also im Jahre 1806, geschrieben ist und schon die gesamte Philosophie Hegels enthält -«und änderte jetzt, nachdem die Interessen andere geworden waren, auch die Prinzipien. War man geschlagen, so sagte man, Deutschlands Ideal sei die Menschheit. Jetzt, da man die andern schlug, hieß es, Deutschland sei das Ideal der Menschheit. So-lange die andern Länder die mächtigeren waren, sagte man mit Lessing, daß die Vaterlandsliebe eine heroische Schwäche sei, die man sehr gut entbehren könne, und man nannte sich Welt-bürgen Jetzt, da man den Sieg davontrug, konnte man nicht genug Verachtung für die Utopien aufbringen:

als da sind Weltfrieden, Brüderlichkeit, friedlicher Fortschritt, Menschenrechte, natürliche Gleichheit; man sagte, das stärkste Volk habe den andern gegenüber ein absolutes Recht, während die andern als die Schwächeren ihm gegenüber rechtlos seien. Es schien der lebendige Gott und der fleischgewordene Geist zu sein, dessen Fortschritt sich durch Krieg, Gewalttat und Un­terdrückung vollzog. Die Macht war jetzt, da man sie auf sei­ner Seite hatte, heilig gesprochen. Macht war jetzt der In­begriff alles Idealismus und aller Vernunft geworden. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß man sagen, daß Deutsch-land Jahrhunderte lang...>

das ist vielleicht das einzige, was die Leute an Deutschland suchen, um der Wahrheit die Ehre geben zu wollen! -

244

«so sehr darunter gelitten hatte, Idealismus ohne Macht zu be-sitzen, daß es nach soviel Prüfungen wohl entschuldbar war, wenn es jetzt das traurige Geständnis ablegte, es bedürfe vor allem der Macht, wie immer sie beschaffen sein möge. Wieviel verborgene Bitternis aber lag in solchem Bekenntnis des Vol­kes eines Herder und Goethe! Und welcher Verzicht, welche Erniedrigung des deutschen Ideals lag in diesem deutschen Sieg! - Und, ach, dieser Verzicht fand nur allzu viel Entgegen­kommen in der beklagenswerten Neigung aller besten Deut­schen, sich unterzuordnen.

«Was den Deutschen charakterisiert», sagte Möser schon vor mehr als einem Jahrhundert, «ist der Gehorsam.»

Und Frau von Staël:

«Sie parieren ordentlich. Sie nehmen philosophische Ver­nunftgründe zu Hilfe, um das Unphilosophischeste auf der Welt zu erklären: den Respekt vor der Macht und die Gewöh­nung an Furcht, die den Respekt in Bewunderung verwandelt.» Christof fand dies Gefühl beim Größten und beim Kleinsten In Deutschland wieder - vom Wilhelm Tell an, dem bedäch­tigen, kleinen Spießbürger mit den Lastträgermuskeln, der, wie der freie Jude Börne sagt, um Ehre und Angst miteinander in Einklang zu bringen, vor dem Pfahl des «lieben Herrn Geßler» mit gesenkten Augen vorbeigeht, damit er sich darauf berufen könne, daß der nicht ungehorsam ist, welcher den Hut nicht sah -, «bis hinauf zu dem ehrenwerten siebzigjährigen Pro­fessor Weiße, einem der meistgeachteten Gelehrten der Stadt, der, wenn ein Herr Leutnant an ihm vorüber kam, ihm eil­fertig den Fußsteig überließ und auf den Fahrdamm hinunter-ging».

Und weiter heißt es:

«Im übrigen trug Deutschland in der Tat die schwerste Sün­denlast Europas. Wenn man den Sieg errungen hat, ist man dafür verantwortlich; man ist der Schuldner der Besiegten geworden.

245

Man übernimmt stillschweigend die Verpflichtung, ihnen vorauszuschreiten, ihnen den Weg zu weisen. Der sieg-reiche Ludwig XIV. brachte Europa den Glanz der französi­schen Vernunft. Welches Licht hat das Deutschland von Sedan der Welt gebracht?» -

Dies also ist die liebevolle Schilderung. Doch ich darf nichts vergessen und darf, um nicht ungerecht zu sein, nicht ver­schweigen, daß doch auch an einer Stelle etwas von liebevoller Schilderung des deutschen Wesens aus diesem Roman klar und deutlich entgegenleuchtet. Das ist da, wo sich einmal ein deut­scher Professor einer kleinen Stadt - selbstverständlich heißt er «Schulz» - für die Jugendwerke des Johann Christof begei­stert, die von allen andern verkannt werden. Johann Christof ist einmal in der Lage, den alten Professor zu besuchen. Da finden sich noch zwei andere Bekannte ein, und da gibt es dann - neben dem, daß Johann Christof zum Entzücken der drei Leute seine Werke vorführt - ein Gelage, ein riesiges Mittagsgelage. Dabei hat dann Salome (!), die Köchin des alten Professors, der längst Witwer ist, ihre besondere Freude, wie alle essen können. Und es wird nun wirklich «kulturhisto­risch-treu» und «liebevoll» ein Stück deutschen Wesens ge­schildert.

Salome, um zu sehen, wie die da drinnen ein Stück deut­schen Kulturwesens genießen, schaute durch die Türritze; und was sie sah, darüber heißt es:

«Es war wie eine Ausstellung der unvergeßlichen, ehrlichen, unverfälschten deutschen Küche mit ihren Düften aller Kräu­ter, ihren dicken Saucen, ihren nahrhaften Suppen, ihren vor­bildlichen Fleischgerichten, ihren monumentalen Karpfen, ihrem Sauerkraut, ihren Gänsen, ihren Haustorten, ihren Anis-und Kammelbroten.»

Man braucht sich nicht zu verwundern, wenn Johann Chri­stof, nachdem er das alles durchgemacht hat, «heraus will» aus

246

dieser Umgebung, da seine Genialität eben in diesem Milieu nicht gedeihen kann. Aber von Frankreich weiß er eigentlich nichts, dieser Johann Christof. Er ist ganz ungebildet, eben nur ein großer Musiker. Da er aber nichts weiß, wird sein Gehen nach Frankreich in folgender Weise charakterisiert:

«Instinktiv (da er Frankreich nicht kannte!) aber schauten seine Augen nach dem lateinischen Süden. Und zu allererst nach Frankreich. Nach Frankreich, der ewigen Zuflucht aus deutscher Wirrnis.»

In Frankreich bekommt er seinen Freund Olivier. Der setzt ihm ein Licht auf über das junge Franzosentum. Und viel­leicht hat das diesseits des Rheins so entzückt, was diese jun­gen Franzosen über die Deutschen sagen. Olivier unterrichtet Johann Christof über die besondere Auffassung des jungen Franzosentums über das Wesen des offiziellen Paris und über das, wogegen er früher ebenso polemisiert hat wie die andern:

«Die Besten unter uns sind abgesperrt, sind Gefangene auf unserm eigenen Boden... Niemals wird man wissen, was wir gelitten haben, wir, die am Genius unserer Rasse hängen, die wie ein heilig anvertrautes Gut das Licht, welches wir von ihm empfingen, bewahren und es gegen den feindlichen Atem, der es verlöschen möchte, verzweifelt verteidigen; und dabei stehen wir allein, fühlen rings um uns die verpestete Luft jener Metöken, die sich gleich einem Mückenschwarm auf unser Denken gestürzt haben und deren widerliche Larven unsere Vernunft benagen und unser Herz beschmutzen; von denen, deren Mission es wäre, uns zu verteidigen, unsern Vorgesetz­ten, unsern blöden oder feigen Kritikern, sind wir verraten; sie umschmeicheln den Feind, um sich Verzeihung dafür zu erwirken, daß sie unseres Geschlechtes sind; von unserm Volk, das sich nicht um uns kümmert, das uns nicht einmal kennt, sind wir verlassen ... Welche Mittel haben wir, um uns ihnen verständlich zu machen? Wir können nicht bis zu ihnen gelangen ...

247

Und das ist das Schwerste. Wir wissen, daß wir unserer Tausende in Frankreich sind, die dasselbe denken; wir wissen, daß wir in deren Namen sprechen, und wir können nichts tun, um gehört zu werden! Der Feind besetzt alles: Zeitungen, Zeitschriften, Theater... Die Presse flieht jeden Gedanken oder läßt ihn nur zu, wenn er Vergnügungsinstrument oder Partei-waffe ist. Intrigen und Literatencliquen lassen den Durchgang nur dem frei, der sich wegwirft. Elend und Überarbeitung drücken uns zu Boden. Die Politiker, die einzig darauf bedacht sind, sich zu bereichern, interessieren sich nur für das käuf­liche Proletariat. Die gleichgültige und eigennützige Bürger­schaft schaut unserem Sterben zu. Unser Volk kennt uns nicht; selbst die, welche gleich uns kämpfen, gleich uns von Schwei­gen umhüllt sind, wissen nichts von unserem Dasein, und wir wissen nichts von dem ihren... Unseliges Paris! Gewiß, es hat auch Gutes gewirkt, indem es alle Kräfte französischen Den­kens in Gruppen ordnete. Aber das Übel, das es geschaffen hat, steht dem Guten mindestens gleich; und das Gute selbst wandelt sich in einer Epoche gleich der unseren in Böses. Es genügt, daß eine Psendo-Elite Paris an sich reißt und die un­geheure Glocke der Öffentlichkeit läutet, um die Stimme des übrigen Frankreichs zu ersticken. Weit mehr noch: Frankreich verwirrt sich selbst; es schweigt bestürzt und drängt seine Ge­danken ängstlich in sich selbst zurück ... Früher habe ich unter all dem sehr gelitten. Jetzt aber, Christof, bin ich ruhig. Ich habe meine Kraft, habe die Kraft meines Volkes verstanden. Wir müssen nur warten, bis die Überschwemmung vorüber-zieht. Frankreichs feinen Granit wird sie nicht benagen. Unter dem Schlamm, den sie mit sich treibt, will ich ihn dich fühlen lassen. Und schon treten hier und dort hohe Gipfel zutage...»

Mehr braucht man ja eigentlich nicht, um dasjenige Fran­zosentum zu charakterisieren, welches jetzt den Krieg gegen Deutschland führt. Nun aber - ich möchte sagen - gibt es

248

noch Schöneres. Dieser Roman ist also erschienen. Er ist ja auch ins Deutsche übersetzt worden. Ich möchte Ihnen nun noch ein paar Worte eines deutschen Kritikers dieses Romanes vorlesen, die in Form eines Briefes, der in einer Berliner Zei­tung abgedruckt war, an Romain Rolland gerichtet waren.

«Die Vollendung Ihres ist für mich noch mehr ein ethisches Ereignis ah ein literarisches ... Gobineau, Maeterlinck, Verhaeren und selbst Verlaine haben in Deutsch­land ihren lebendigen Ruhm, ihre wahrhafte Wirkung eher gehabt als in Frankreich, und nichts wäre gerechter, als daß auch Sie bei uns früher voll gewürdigt würden als in Ihrer Heimat, denn wie keines gehört Ihr Buch nach Deutschland, in das Land der Musik. Es ist in vielem ein deutsches Buch, ein Entwickelungroman wie der , wie der ... Die deutsche Musik, die Deutschland die Welt gewonnen hat, hat auch Sie zum Fürsprecher erkürt, sie war es, die Sie zur deutschen Sprache führte und Sie Goethe lieben ließ, dem Sie in Ihrem Werke vielfach ein Denkmal der Liebe und Verehrung gesetzt haben ...

Ich finde mich selbst verwirrt, wie vielfach ich Ihnen eigent­lich danken muß. Der Mensch, der Genießer, der Künstler, der Deutsche, der Weltfrohe in mir, jeder drängt sich vor und will Ihnen ein Wort sagen. Aber ein andermal ein Wort soll der Künstler über diesen Roman sprechen, ein andermal der Genießer, und der Mensch will warten, bis er Ihnen wieder die Hand drücken darf. Heute soll nur der Deutsche danken; denn ich habe das Gefühl, die französische Jugend ist uns näher ge­worden durch dieses Buch, das mehr getan hat als alle Diplo­maten, Bankette und Vereine.»

Dies als eine Probe vor allen Dingen dafür, wie die tra­gende Kraft des deutschen Geistes mißverstanden werden kann, und wie die schmerzlich großen Ereignisse, die wir durchleben müssen, nach vielen Seiten hin augenöffnend wirken

249

müssen, wahrhaftig: augenöffnend wirken müssen. Und verzeihen Sie, wenn ich ganz zum Schluß etwas vorbringe, was wie persönlich aussieht, was aber nur an Persönliches an­knüpft, weil ich es heute gerade erfahren habe.

Die geisteswissenschaftliche Richtung, der wir angehören, stand vor Jahren in einem gewissen Verhältnis zu einer theo­sophischen Bewegung, welche in England und in Indien ihren Sitz hat. Es wurde diese Bewegung nach und nach so absurd, daß es mit wirklichem Wahrheitsgefühl nicht mehr vereinbar war, irgendwelche Gemeinschaft mit vielem dieser englisch-indischen theosophischen Bewegung zu haben. Viele Jahre vor diesem Krieg erfolgte daher eine absolute Trennung von ihr. Wir wurden damals genügend auch gerade von deutschen Anhängern jener Bewegung geschmäht; man kann vielleicht auch stärkere Worte gebrauchen. Aber man hätte gedacht, daß die Sache jetzt vorüber sei und daß nicht gerade jetzt ein An­laß sei, darauf wieder zurückzukommen. Aber die Präsidentin dieser englisch-indischen Bewegung hat sich bemüßigt gefun­den, gerade jetzt wieder auf diese Sache zurückzugreifen und uns Deutsche zu charakterisieren. Und sie tut es mit den fol­genden Worten, die nicht aus persönlichen Rücksichten hier vorgebracht werden, sondern um zu zeigen, wie man von einer gewissen Seite her fähig ist, das, was wir als Deutsche aus unserem Wahrheitsgefühl heraus tun mußten, nun auf solche Weise zu charakterisieren:

.... Jetzt wenn ich rückwärts blicke, im Lichte der deut­schen Methoden, wie der Krieg sie uns offenbart, erkenne ich, daß die langandauernden Bemühungen, die theosophische Or­ganisation einzufangen und einen Deutschen an ihre Spitze zu setzen -, der Zorn gegen mich, als ich diese Bemühungen ver­eitelte -, die Klage, daß ich über den verstorbenen König Eduard VII. als den Beschützer des europäischen Friedens ge­sprochen hatte, statt dem Kaiser die Ehre zu geben -, daß alles

250

das ein Teil war der weit ausgebreiteten Kampagne gegen England, und daß die Missionare Werkzeuge waren, geschickt gebraucht durch die deutschen Agenten hier> - in Indien -, «um ihre Pläne durchzusetzen. Wenn sie hätten verwandeln können die Theosophische Gesellschaft in Indien mit ihrer großen An­zahl von Verwaltungsbeamten in eine Waffe gegen die bri­tische Regierung und sie dazu hätten erziehen können, empor-zuschauen zu Deutschland als zu ihrer geistigen Führerin - statt einzustehen, wie sie es immer getan hat, für den gleichwerti­gen Bund zweier freier Nationen: so hätte sie allmählich ein Kanal für Gift in Indien werden können.»

Das also sind wir, mit englisch-theosophischen Augen an­gesehen, in unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung. Aber ich darf sagen - verzeihen Sie diese Bemerkung; Sie wissen ja, daß ich nicht gern persönliche Bemerkungen mache -, ich kann die Versicherung geben, daß ich keineswegs die Absicht gehabt habe, das alles zu tun, und vor allem nicht die Absicht hatte, die deutsche geisteswissenschaftliche Bewegung zu ver­lassen. Denn solches lebte nicht in mir und lebte, wie ich glaube, auch nicht in vielen anderen, die sich mit dem deut­schen Geiste und seiner tragenden Kraft verbunden wissen, -was in Johann Christof gelebt hat, der durch seinen Instinkt aus Deutschland hinausgetrieben worden ist. Denn wenn es auch schwierig ist, die unmittelbaren Erscheinungen, auf die gerade das unverständige Auge des Reisenden Rolland gerich­tet ist, in Zusammenhang mit der tragenden Kraft des deut­schen Geistes zu finden, so muß man doch sagen: Die Wahr­haftigkeit des deutschen Wesens wird es immer mehr und mehr - gerade durch die Erfahrungen unserer schicksaltragen­den Zeit - möglich machen, die Brücke zu schlagen zwischen dem, was wir im Alltagsleben erleben, und dem, was die tra­gende Kraft des deutschen Geistes ist. Und wenn uns geschil­dert werden all die Gestalten in Johann Christofs Umgebung,

251

aus der ihn sein «Genie» heraustreibt, dann darf vielleicht zum Schlusse jetzt - ohne Überhebung selbstverständlich -etwas gesagt werden.

Ich will ja jetzt nicht einen Ausländer zitieren. Aber ich darf einen heranziehen, der schon längst tot ist, der im Jahre 1230 gestorben ist und der sich seinerseits auch darüber aus­gesprochen hat, ob denn ein deutsches Genie durchaus durch seine Umgebung herausgetrieben werden müsse aus alle dem, was da in ihr lebt an Minnas und Rosas mit schiefen Nasen, die der deutsche Idealismus als die Nase der Juno Ludovisi kennt. Vielleicht nicht mit einem Genie wie Johann Christof, aber mit einem, von dem wir aus dem Zusammenhange mit der tragenden Kraft des deutschen Geistes wissen, daß es ein deutsches Genie war. Mit einem solchen deutschen Genie dür­fen wir vielleicht doch - ohne Überhebung - einen Augen­blick zusammen denken: mit Walther von der Vogelweide. Und wir dürfen es uns zugestehen: nicht mit Johann Christof, dem Helden, den Romain Rolland gezeichnet hat, ist zu be-urteilen, wie deutsche Männer und deutsche Frauen auf ein Genie wirken, sondern eben mit einem Geiste wie Walther von der Vogelweide. Mit seinen Worten seien denn diese Be­trachtungen geschlossen, an die sich morgen ein spezieller geisteswissenschaftlicher Vortrag anschließen soll.

Walther von der Vogelweide wird nicht durch seinen Instinkt aus Deutschland fortgetrieben; er muß anders denken über die, unter denen er lebt. Ich weiß ja nicht, wie diese, wenn sie unter Romain Rollands Finger gerieten, geschildert würden; aber Walther von der Vogelweide sagt von ihnen

- und das scheint mir auf besseres Verständnis zu deuten, als Romain Rolland es verrät -:

252

Deutsche Mann sind wohlgezogen,

Gleich den Engeln sind die Weib getan,

Wer sie schilt, der ist betrogen,

Anders könnt ich nimmer sein verstahn.

Tugend und reine Minne,

Wer die suchen will,

Der soll kommen in unser Land, da ist Wonne viel.

Lange möge ich leben darinne!

253

WAS IST AM MENSCHENWESEN STERBLICH? Berlin, 26. Februar 1915

Über die Frage nach dem Sterblichen und Unsterblichen des Menschen möchte ich in den zwei Betrachtungen sprechen, von denen der heutige Abend, der erste, des Menschen Sterb­lichkeit hauptsächlich gewidmet sein soll, und der zweite Vortrag der nächsten Woche von des Menschen unsterblichem Wesen handeln soll. Wir leben ja in einer Zeit, in welcher der Materialismus, wenn er auch in unsern Tagen mehr oder weniger schon im Rückgange begriffen ist, doch weite Kreise ergriffen hat. Und wenn man sich auch über diese Tatsache dadurch täuschen will, daß man das Wort Materialismus viel­fach verpönt, - die Denkweise und Gesinnung, die Nuance von Weltanschauung ist doch in fortwährendem Zunehmen begriffen, welche mit dem Worte Materialismus richtig be­zeichnet werden muß.

Nun hat der Materialismus auf die Frage im Grunde genommen eine recht, recht einfache Antwort. Er hat die Antwort: Arn Menschenwesen ist eben alles sterblich. Man braucht ja nur gewissermaßen auf die Bibel der neueren materialistischen Zeit, auf David Fried­rich Strauß' «Alter und neuer Glaube> hinzuweisen, um dies zu erhärten. Zwar wird David Friedrich Strauß' «Der alte und der neue Glaube» heute nicht mehr in solchem Maße gelesen, als das noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Aber das ist weniger aus dem Grunde, weil man sich aus den innersten Impulsen, die David Friedrich Strauß' Materialismus beherr­schen, zurückgezogen hat, sondern es ist mehr deshalb, weil in

254

unserer schnellebigen Zeit ein Buch ja kaum einige Jahrzehnte zu überleben in der Lage ist.

Wir können uns die Frage vorlegen und müssen sie uns angesichts alles desjenigen, was innerhalb der heutigen mate­rialistischen Weltanschauung zutage getreten und verhandelt worden ist, vorlegen: Kann der Materialismus dem Menschen in bezug auf seine berechtigten geistigen Fragen irgendeine Antwort geben, oder kann der Materialismus den Beweis lie­fern, daß die Fragen, die eine geisteswissenschaftliche Welt­anschauung aufwerfen muß, unberechtigt sind, daß sie sich gewissermaßen auf nichts beziehen? - Wenn man, sehr ver­ehrte Anwesende, weiß, wie tief verankert die materialistische Weltanschauung in demjenigen ist, was vielen Menschen heute als das einzig wahrhaft Wissenschaftliche gilt, dann muß man diese Fragen mit einer ganz besonderen Intensität aufwerfen. Denn innerhalb der heutigen Wissenschaft, besser gesagt inner­halb der Anschauung, die sich für viele aus der heutigen Wis­senschaft ergibt, liegen starke Impulse, die gegen die Wissen-schaft vom Geiste einnehmen. Es liegen in dieser heutigen Wissenschaft viele Machtmittel, die ins Feld geführt werden können gegen so manches, was der eine oder andere von dieser oder jener Seite her gegen die materialistische Welt­anschauung einzuwenden hat. Wer dasjenige, was durch die sogenannte naturwissenschaftliche Weltanschauung, die be­hauptet, einzig und allein auf dem Boden wahrer, wirklicher Tatsachen zu stehen, heraufgekommen ist, wirklich über­schauen kann, der muß sich sagen: Nur dann kann eine geistes-wissenschaftliche Weltanschauung, wie sie hier in diesen Vor­trägen immer wiederum vertreten wird, gewachsen sein den Anforderungen der gegenwärtigen Naturwissenschaft, wenn sie sich im vollsten Sinne des Wortes mit dieser Naturwissen­schaft so auseinanderzusetzen versteht, daß diese Naturwissen­schaft dabei zu ihrem vollen Rechte kommt.

255

Mit denjenigen Einwendungen, die heute noch von vielen Seiten gemacht werden, wird, das muß durchaus zugegeben werden, die Naturwissenschaft im Grunde genommen recht leicht fertig; wenigstens insofern fertig, als sie mit ihren Grün­den gegen die Unsterblichkeit der menschlichen Seele bei den­jenigen leicht durchdringen wird, welche von vorneherein in ihrem Gemüte Anlagen mitbringen, das freie Wirken des Geistes, unabhängig von dem Materiellen, abzuleugnen.

Geisteswissenschaft, das ist ja öfters betont worden, will sich hineinstellen in den geistigen Kulturprozeß unserer Zeit, und sie will dieses auf Grundlage - das darf wohl gesagt werden -einer völligen Umänderung, einer völligen Erneuerung des­jenigen, was gewohnte Denkmanieren, gewohnte Vorstellungs-arten der Menschen sind. Gerade aus diesem Grunde, weil Geisteswissenschaft an etwas appellieren muß, welches in den weitesten Kreisen heute unbekannt, wirklich unbekannt ist, auch in denjenigen Kreisen, die es zumeist bekämpfen, deshalb ist es so schwierig, diese Geisteswissenschaft der Zeitbildung wirklich einigermaßen begreiflich zu machen.

Von dem, was man heute gewohnt ist, philosophische Denk-weise zu nennen, unterscheidet sich Geisteswissenschaft ganz grundsätzlich. Philosophische Denkweise, die vor allen Dingen zu ihren Ergebnissen kommen will durch Vernunfterwägtiai­gen, durch bloße Begriffsverbindungen, durch Schlußfolgerun­gen und dergleichen, - philosophische Denkweise, wie sie heute vielfach aufgefaßt wird, sie ist nicht imstande, dasjenige zu ergreifen in der menschlichen Natur, was wirklich durch die Pforte des Todes geht, was wirklich zu leben vermag un­abhängig von der Leiblichkeit, von der Körperlichkeit.

Für die Geisteswissenschaft ist aber diese rein philoso­phische, auf Begriffe und Vorstellungen der äußeren Welt sich stürzende Anschauungsweise von vornherein etwas - verzeihen Sie den etwas trivialen Vergleich -, es ist diese, rein auf Vernunftgründen,

256

wie man oftmals sagt, bauende Philosophie etwas, was ebensowenig zu wirklichen Ergebnissen über das geistige Leben kommen kann, ebensowenig den Geist herein-bekommen kann in die menschliche Erkenntnis, wie der Mensch sich ernähren kann dadurch, daß er sich selber ißt. Geradeso wie der Emährungsprozeß ergreifen muß irgend etwas, was außerhalb seines Gefüges steht, wenn er der menschlichen oder der tierischen Organisation dienen will, so muß das menschliche Erkennen etwas ergreifen, was außerhalb der bloßen Begriffs- und Ideenverbindung und Ideenverket­tung liegt, wenn die wahren Erkenntnisbedürfnisse des Men­schen befriedigt werden sollen. Gerade da, wo der Materialis­mus in gewisser Weise, ich möchte sagen, am krassesten, aber auch am ehrlichsten hervorgetreten ist, bei David Friedrich Strauß' bringt also David Friedrich Strauß unter den man­cherlei Beweisen über die menschliche Unsterblichkeit, die er da abkanzeln will, auch den Goetheschen Gedanken von der Unsterblichkeit. Er greift diesen Gedanken auf und benimmt sich dabei ganz merkwürdig. David Friedrich Strauß gesteht zwar zu, daß Goethes Unsterblichkeitsgedanke etwas Heroisches habe, aber er kanzelt dann doch dieses Heroische ab - man möchte das Wort gebrauchen, das Nietzsche für David Friedrich Strauß geprägt hat - wie ein rechter Philisten Goethe hat nicht einen,

257

sondern viele Aussprüche über die menschliche Unsterblichkeit getan. Für Strauß kommt nur der eine, den ich jetzt erwähnen will, in Betracht.

Goethe steigt der Gedanke auf, daß die menschliche Seele, wenn sie sich selbst zu erfassen versucht, in sich gewahr wird, wie sie Anlagen und Befähigungen hat, welche sie durchaus nicht in einem Menschenleben zur vollen Entwickelung und Entfaltung bringen kann; und nun kommt Goethe aus der Tiefe seines Wesens und zugleich aus dem, was ich gestern «die tragende Kraft des deutschen Geistes> nannte, das Wort herauf: Wenn die Natur mir solche Anlagen verliehen hat, welche nicht in diesem Leben befriedigt werden können, so ist sie verpflichtet, mir nach dem Tode ein anderes Leben an­zuweisen, wo diese verschiedenen Anlagen wirklich zur Ent­faltung kommen können.

Nun, erstens macht Strauß gewissermaßen eine Art Witz, indem er sagt: Vielleicht sei ja die Natur dazu verpflichtet; aber wer sage uns denn, daß die Natur diese Verpflichtung auch hält? Aber noch etwas anderes wendet er ein. Er sagt:

Widerspricht denn nicht die gesamte Naturwissenschaft der Anschauung, daß alle Anlagen, welche innerhalb der Wesens-reihen der Natur zutage treten, auch wirklich entwickelt wer­den? Könnte es denn nicht sein, daß allerdings in der Men­schennatur Anlagen sich entwickeln, die nicht zur letzten Ver-vollkommnung, nicht zur Ausbildung kommen? Und nun sieht es allerdings sehr logisch aus, wenn David Friedrich Strauß sagt: Daß nicht alle Anlagen zur Entfaltung kommen, das könne man ja sehr deutlich an den Fischkeimen sehen, wie Tausende von Fischkeimen entstehen und wie wenige davon sich entwickeln. Es könne aber jedem klar sein, der einmal über Felder oder durch Gärten gegangen ist und gesehen hat, wieviel Apfel gefallen sind und vergehen, ohne daß sie zu ihrer Entfaltung kommen.

258

Nun kann man sagen: das ist alles gewiß richtig und das schaut so aus, als ob es überzeugend sein könnte. Aber man muß dann, wenn man das Denken etwas universeller in sich gestaltet, auf den Einwurf kommen: ja, gehen denn alle Äpfel zugrunde? Fallen sie alle, bevor sie entwickelt sind, vom Baum? Oder, kommen gar keine Fischkeime zur Entfaltung?

- Zeigt also nicht gerade die Natur dadurch doch, daß sie es im Grunde auf die wirkliche letzte Entfaltung aller Keime ab­gesehen hat? - Wenn dann der Mensch in sich bemerkt, daß gewisse Anlagen in ihm sind, welche nicht innerhalb seines Lebens bis zum Tode zur Entfaltung kommen, dann müßte ja - nach Straußscher Logik - bei jedem Menschen die Ent­faltung derartiger Anlagen nicht erreicht werden. Das zeigt uns aber das Leben durchaus nicht. David Friedrich Strauß aber zeigt uns, daß er nicht zu Ende denken kann. Allerdings, das ist ihm noch nicht genug, sondern er findet noch etwas anderes. Man braucht nicht einmal zwischen den Zeilen zu lesen, sondern es steht ziemlich grobklotzig da, was ich nur in ein bißchen andere Worte übersetzen will. David Friedrich Strauß sagt etwa so: Im Grunde genommen ist ja der Goethe­sche Ausspruch nicht einmal richtig. Denn betrachtet man den alten Goethe, so findet man ganz klar, daß Goethe alle seine Anlagen eigentlich zur Entfaltung bringen konnte. Dann macht er uns darauf aufmerksam, daß eigentlich jeder Mensch durchaus, richtig betrachtet, finden wird, daß seine Anlagen zur Entfaltung kommen. - Wenn Strauß nur ein wenig beschei­dener gewesen wäre, so würde ihm vielleicht der Gedanke aufgegangen sein, daß vielleicht Goethe doch ein größeres Recht gehabt hat, von unvollendeten Anlagen zu sprechen in der Menschennatur, die erst ihre Entfaltung suchen, als Strauß.

So können wir aus diesem Beispiel ersehen - und es könn­ten Hunderte und Tausende solcher Beispiele angeführt wer­den -, wie gewissermaßen ein allgemeiner Gang der bloßen

259

philosophischen Spekulation, auch wenn sie eine materiali­stische Färbung hat, durchaus nicht auf etwas anderes kommt, als daß sie in einen leicht widerlegbaren Widerspruch aus­läuft, der sich selbst zerstört vor der universell betrachtenden Seele.

Wenn man sich fragt, wie der Mensch eigentlich dazu kommt, es so schwierig zu haben, über das Unsterbliche in seiner Seele zu sprechen, so muß man sich allerdings die Ant­wort geben: Der Mensch lebt zwar zwischen Geburt und Tod, wie wir gleich sehen werden, durchaus in dem, was in ihm sterblich ist, was in seinem Wesen vergänglich ist. Und man möchte sagen: nur leise und intim tritt auf dasjenige, was im Menschenwesen unsterblich ist, tritt das unsterbliche Teil zu­tage. Ja, man kann sagen, so leise und intim tritt dieses Un­sterbliche auf, daß im gewöhnlichen Leben die menschliche Seele nicht die Kraft, die Ausdauer, vor allen Dingen aber nicht in einem höheren Sinne entwickelte Aufmerksamkeit genug hat, um zu beobachten, was sich da intim und leise als das Unsterbliche in ihr ankündigt.

Wenn wir die menschliche Seele betrachten in ihrem Leben, so wie sie sich äußert, so tritt sie uns gewissermaßen in drei Äußerungsweisen entgegen: als denkende Seele, als fühlende Seele, als wollende Seele. Nun ist ja hier in diesen Vorträgen öfter auseinandergesetzt worden, daß der Weg der Geistes­wissenschaft in die geistigen Welten hinein darin besteht, daß in den Tiefen der Seele liegende Kräfte aus ihr hervorgeholt werden, um Denken, Fühlen und Wollen zu einer hohen Aus­bildung, zu einer schärferen intensiveren Betätigung zu brin­gen als derjenigen, in der sie gewöhnlich sind, damit sie durch diese Ausbildung, durch diese Betätigung zu Organen werden können, die den Menschen nicht nur befähigen, das Physische zu ergreifen, sondern ihn befähigen zum Ergreifen des Gei­stigen, das überall um uns herum ist. Nun geht aber die

260

gewöhnliche Betrachtung, die sich über das Sterbliche und Unsterbliche im Menschenwesen klar werden will, zumeist davon aus, daß sie dieses Sterbliche und Unsterbliche der Seele betrachtet und sich nun fragt: Ist in diesem Denken, Fühlen und Wollen irgend etwas zu finden, was verrät, daß der Mensch aus dem Sterblichen ins Unsterbliche etwas hinein-zutragen vermag?

Da muß ich anknüpfen an dasjenige, was ich in einem der Vorträge dieses Winters schon gesagt habe über die Entwicke­lung der eben angedeuteten menschlichen Fähigkeiten zur geisteswissenschaftlichen Forschung, um auszuführen, inwie­fern gefunden und nicht gefunden werden kann im Denken, Fühlen und Wollen dasjenige, was das Sterbliche im Menschen von dem Unsterblichen unterscheiden läßt. Als einer der Wege in die geistige Welt hinein wurde ja hier oft bezeichnet das­jenige, was man die Konzentration des Gedankenlebens, des Denkens nennt. Nur kurz will ich darauf aufmerksam machen, worin diese Konzentration besteht und wozu sie führt. Wenn wir irgendeinen Gedanken, am besten einen solchen, den wir uns selbst gebildet haben, also nicht einen Gedanken, den die äußere Welt in uns anregt, - wenn wir einen solchen von uns selbst gebildeten Gedanken in den Horizont unseres Bewußt­seins hineinstellen, wenn wir alles dasjenige vergessen, was um uns und was sonst in uns lebt, und nur eins werden mit diesem einen Gedanken, wenn wir eine gewisse Zeit ganz in diesem einen Gedanken nur leben können, dann können wir alles das­jenige, was wir an Seelenkräften sonst auf die gesamte Betä­tigung des Menschen verwenden, auf diesen einen Gedanken hinwerfen, dann wird der immer stärker und stärker gemacht; dann fließt unser ganzes Wesen mit diesem Gedanken zusam­men, wir konzentrieren uns auf diesen Gedanken. Dieses Er­lebnis tritt ein als die Folge der geisteswissenschaftlichen Erfahrung, die aber dadurch herbeigeführt wird, daß man

261

nicht müde wird, immer wieder und wiederum einen Gedan­ken in den Mittelpunkt seines Bewußtseins zu stellen und sich ganz mit ihm zu identifizieren. Denn man muß oft jahrelang diese innere Energie und Ausdauer, diese gespannte Aufmerk­samkeit auf einen Gedanken verwenden. Wenn man auch der Vorsicht halber sagt, man darf diese Sache nicht übertreiben, so muß doch eine kurze Zeit täglich einer solchen Übung gewidmet sein; wenn man aber je nach seinen Anlagen, je nach dem, wie das Gefüge der Seele nach dem Erlebnis des Menschen ist, sich einer solchen Übung hingegeben hat, be­kommt man eine gewisse Erfahrung, man kommt in ein ge­wisses Erlebnis hinein. Bis zu einem gewissen Punkt verstärkt sich dieser innerlich konzentrierte Gedanke; er wird immer heller und heller; der eine Gedanke ergreift uns immer mehr und mehr, nimmt uns immer mehr und mehr in Anspruch, und wir fühlen uns, indem wir uns konzentriert haben, so, daß wir vergessen können die Welt, wir fühlen uns immer stärker und stärker drinnen in diesem Gedanken. Aber gerade wenn wir uns stark fühlen in diesem Gedanken, fühlen wir zugleich, wie dieser Gedanke uns gleichsam entschwindet, und wie mit diesem Gedanken die Kraft, unser Denken in dieser Weise anzuwenden, gleichsam erstirbt. Wir fühlen uns mit diesem Gedanken so, wie wenn der Gedanke und damit wir selbst von Mächten, die um uns herum leben, hingenommen würden; wie wenn unser Denken sich uns verdunkelte von einem gewissen Momente ab. Das alles muß selbstverständlich durch­aus ein seelischer Prozeß bleiben, dann allein ist er ein gesun­der Prozeß. Es ist heute nicht die Zeit dazu, zu erwähnen, daß alle Einwände, die von der Pathologie, von der Psychopatho­logie gemacht werden, das Richtige durchaus nicht treffen, wenn sie sagen, daß der Mensch sich auf diese Weise in Illu­sionen und Selbstsuggestionen hineinarbeiten würde, daß er zu Vorstellungen kommen müsse, die krankhafter Natur seien.

262

Man braucht nur die betreffenden Kapitel meines Buches Wenn man eine solche Erfahrung, wie sie hier angedeutet worden ist, durchgemacht hat, hat man noch ein anderes Ge­fühl. Und alle diese Erlebnisse, die dazu führen, daß man in die geistige Welt wirklich seinen Einzug halten kann, sind intimer Art, sind feine, leise Vorgänge der menschlichen Seele. Indem man bis zu dem angedeuteten Punkte gekommen ist, fühlt man, wie wenn dasjenige, was man bisher als die mensch­liche Denkfähigkeit angesprochen hat, dasjenige, was in uns denkt, was die Kraft, die Macht zu denken hat, - wie wenn das aus uns hinausginge und zur Welt hinginge, wie wenn

263

man es zunächst verlöre und wie wenn man selbst mit ihm in die objektive Welt hinaus entrückt würde. Solche Erfahrungen muß man machen; man muß sie machen so, daß man sie wirk­lich in ihrer Realität, in ihrer Wirklichkeit für den Menschen kennenlernt, sonst kann man über sie nicht in einem wahr­haftigen Sinne sprechen. Damit der Mensch aber nicht stehen bleibt bei dieser Erfahrung, als ob ihm nur dasjenige, was bis­her in ihm als das Gedankliche gelebt hat, entrissen würde und er mit diesem Gedanklichen, das ihm entrissen wird, hin­aus in die Welt entrückt würde, damit er nicht stehen bleibt bei diesem Erlebnis - denn es würde dieser Erkenntnisprozeß einfach ihn in ein Nichts verfallen lassen -, muß ein anderes dazu kommen. Ich habe es öfter hier geschildert unter dem Namen Meditation.

Eine Meditation ist auch hier schon angedeutet worden, -eine Meditation über etwas, wovon wir gewohntermaßen als von etwas sprechen, was außerhalb des Menschen ist, von dem wir aber, wenn wir nur das einzelne Menschenleben anschauen, sehen können, wie innig es mit dem Menschen verknüpft ist. Wenn wir hinblicken auf dasjenige, was wir in diesem Leben zwischen der Geburt und unserem jetzigen Lebenspunkt durch-lebt haben und was wir als unser Schicksal zusanamenfassen, dann sind wir gewohnt zu sagen: dieser oder jener Schicksals­schlag hat uns da oder dort getroffen. Aber bei einer ge­naueren Überlegung kann es sich schon für das gewöhnliche Leben zeigen, wie einseitig ein solcher Ausspruch ist. Wenn man sich prüft: Was bist du denn heute? Was kannst du heute? Welche Fähigkeiten trägt deine Seele? - dann müssen wir hinblicken auf dasjenige, was wir durchgemacht haben. Wir suchen meistens den Zusammenhang nicht; suchen wir ihn aber, so klärt er uns auf, was wir eigentlich im gegen­wärtigen Moment sind. Er klärt uns auf darüber, wie wir diese oder jene Fähigkeiten nicht haben würden, wenn uns dieser

264

oder jener Schicksalsschlag, Schicksalszufall vor zwanzig oder dreißig Jahren oder mehr nicht getroffen und uns hingelenkt hätte, uns diese Fähigkeiten anzueignen. Hätten wir sie aber nicht, so würde unser Selbst im Konkreten etwas ganz anderes sein. Wir bestehen ja mit unserem Selbst aus unseren Fähig­keiten, unseren Kräften. Sie werden aber uns zugetragen durch dasjenige, was unser Schicksal ist. Wenn man diesen Gedan­ken zu Ende denkt, dann sagt man sich: Wir sind viel inniger verbunden mit dem, was unser Schicksal ist, als man gewöhn­lich glaubt. Man wächst in sein Schicksal hinein mit dem Intimsten, mit dem Ich. Und man kommt endlich zu dem

Gedanken: Im Grunde genommen ist dein Selbst dadurch geworden, daß dir diese oder jene Schicksalsschläge, die guten oder die schlimmen, zugestoßen sind; aber du bist aus ihnen geworden. Das, was du jetzt bist, lag in deinem Schicksal. Unser Ich geht aus uns hinaus, geht in unser Schicksal herein. Wenn man in einer solchen Weise wirklich dasjenige, was man gewöhnlich Schicksal nennt, durchfühlen lernt, wenn man sich wirklich vollständig damit verbindet, so gelangt man dazu, jetzt nicht das Denken, wohl aber den Willen auf das ganze Schicksal auszudehnen und sich zu sagen: Wenn du dich erkennen willst, wie du jetzt bist, mußt du deinen Willen aus­bilden. In bezug auf deinen gesamten Schicksalszustand mußt du dir sagen: Du bist, der du jetzt bist, weil dein Ich zu dem geworden ist, was es jetzt ist. Wir sind in dem Schicksal voll drinnen. Das heißt: Wir verstehen, daß wir uns, wenn wir uns jetzt wollen, in unserem Schicksal wollen müssen, mit anderen

Worten: daß ich es selbst bin, der in dem Schicksal waltet, webt und west.

Dasjenige, was uns schlcksalsmäßig geschehen ist, von dem lernen wir sagen: Wir haben es uns selbst zugefügt; wir waren in jedem einzelnen Schlage unseres Schicksals darin. Der Wille des Menschen - das kann wiederum nur die Erfahrung zeigen -

265

wird dadurch, daß er so sein Schicksal als mit seinem eigenen Wesen voll identisch ergreift, daß er seinen Willen, indem er sein Schicksal will, ganz besonders verstärkt, - der Wille des Menschen wird, indem er so erstarkt wird, zu dem­jenigen, was sich nun auf eine andere Art, als das vorher beim Denken charakterisiert worden ist, gewissermaßen loslöst von dem Menschen, wie er dasteht vor anderen. Während wir das Denken durch die Konzentration aus uns herausgetrieben haben, gelingt es uns bei einer solchen Verstärkung des Wil­lens, wie sie geschildert worden ist in dem Ergreifen des Schicksalsgedankens, daß wir in etwas hineingehen, was außer uns liegt, was, wie wir sagen, uns zufällt. Wir treten in etwas ein mit unserem Willen, das wir sonst der Außenwelt zu-schreiben. Wenn wir so den Willen stählen, ihn stärken, inten­siv machen, dann kommt es dazu, daß wir eine zweite geistes-wissenschaftliche Erfahrung machen. Sie besteht darin, daß der sich verstärkende Wille sich nun wiederum wie selbständig macht von unserem Wesen und nachzieht dem Denken, das aus uns herausgegangen ist. Und dadurch sind wir imstande, dieses Denken, welches zu ersterben droht infolge der ersten Erfahrung, vom Willen aus zu verstärken.

Was geschieht mit dem Denken, das auf einem gewissen Punkte schattenhaft geworden und bis zum Ersterben gekom­men ist? Es wird erfüllt mit Inhalt, es bekommt Substan­tialität, indem wir den Willen dem Denken nachsenden, uns gewissermaßen mit dem zweiten Teil unserer Wesenheit dem Denken nachsenden. Wenn so Denken und Wollen entrückt werden aus unserem Wesen, dann kommen wir dazu, das­jenige zu erreichen, was heute allerdings für die zeitgenös­sische Weltanschauung kaum zuzugeben ist, - wir kommen dazu, außerhalb desjenigen zu sein, worin wir sonst im wachen Zustand leben. Wir sind selbst hinausgegangen mit unserem Denken und Wollen; wir stehen real außer uns. Und dasjenige,

266

in dem wir sonst immer sind, wird für uns ein Objekt, wird etwas, was außerhalb von uns ist, wie der Tisch oder irgendein Gegenstand außerhalb des sinnlichen Leibes ist. Wir schauen zurück auf den sinnlichen Leib, auf die Lebensverhält­nisse, die dieser Leib durchgemacht hat. Wir schauen auf das Räumliche und das Zeitliche unseres Menschenwesens zurück. Wir lernen kennen dasjenige in uns, was sich abgesondert hat von dem, was sterblich ist.

So beantwortet sich für den Geistesforscher die Frage: Was ist am Menschenwesen sterblich? - so, daß er sagen muß: Das­jenige, was dann übrig bleibt, wenn er den durch dieses Er­greifen der Schicksalstatsachen verstärkten Willen mit dem im Weltenall durch Gedankenkonzentration verstobenen Denken vereint, vermählt und sich in seinem so im Geist ergriffenen Wesen außer sich fühlt, erblickt, dann ist dasjenige, was in uns sonst zu leise ist, das Ewige, das Unsterbliche, - das ist so weit verstärkt, daß wir es erleben, daß wir uns darinnen wis­sen, daß wir uns, aber außerhalb unseres Leibes, darinnen wis-sen. Und dann fangen wir erst an, es zu bemerken. Wir fan­gen aber auch an zu bemerken, was das gewöhnliche Denken, Fühlen und Wollen, kurz das gewöhnliche Seelenleben eigent­lich ist.

Wenn wir das gewöhnliche Denken, wie es angeregt wird durch die äußerlich-sinnliche Natur, wie es verläuft gebunden an den Prozeß unseres Gehirns, ins Auge fassen, dann ist es für denjenigen, der in dem eben angedeuteten Sinne geistes-wissenschaftlich die Welt zu betrachten imstande ist, etwas, was durchaus nicht so, wie es sich uns im sterblichen Leibe darstellt, zu unserem Unsterblichen gehört Das merkt man, wenn man in seiner wahren Wesenheit außerhalb des sterb­lichen Leibes steht. Denn dann merkt man: alles was dieser sterbliche, dieser physische Leib eigentlich ist - ich möchte einen Vergleich anwenden, der nicht bloß ein Vergleich ist,

267

sondern der auf die Wahrheit hindeutet -, man erkennt: dieser physische Leib ist ein Spiegel, welcher imstande ist, dasjenige zu spiegeln, wovon der Mensch im gewöhnlichen Leben nichts weiß, wovon er nur wissen kann, wenn er es sich gleichsam herausschält aus dem Leiblichen, wovon er nur dann etwas weiß, wenn er in seinem Unsterblichen dem Leib gegenüber­steht. Er weiß, daß der Leib nur ein Spiegel ist und daß die Gedanken in einem gleichen Verhältnis zum Leibe stehen wie die Spiegelbilder zum Beschauer. Geradeso, wie wenn man an der Wand eine Anzahl von Spiegeln hätte und vorüberginge an den Spiegeln und seine eigene Gestalt ansieht, solange man da ist, wie man sich aber nicht mehr sieht, wenn man nicht da ist, und wieder sieht, wenn man wieder da ist, - so sieht der Mensch dasjenige, wovon er zwar lebt, wovon er aber nichts weiß, wenn er im Leibe ist und ihm der Leib sein eigenes Wesen zurückwirft. Und nur so lange sind die Gedan­ken da in der Form, wie wir sie im gewöhnlichen Leben haben, als der sterbliche Leib sie spiegelt. Aber etwas anderes ist dasjenige, was denkt; etwas anderes ist es, was die unmittel­bare Tätigkeit ausübt, die sich spiegelt als Gedanke im sterb­lichen Leibe.

Man kann nicht, wenn man das menschliche Denken unter­sucht, sagen, man könne in diesem Denken etwas finden, was irgendeinen Aufschluss geben könnte über die Unsterblichkeit; denn diese Gedanken sind Spiegelbilder, die hervorgerufen werden durch den sterblichen Leib. Und das, was unsterblich ist, das steht jetzt nicht vor dem Spiegel, sondern spiegelt sich in den Gedankenformen. Was vor dem Spiegel steht, das heißt in unserem Falle in dem Spiegel lebt, was ist denn das? Gibt es eine Möglichkeit, überhaupt mit einem menschlichen Worte dies auszudrücken? Ja, die Möglichkeit gibt es. Aber dasjenige, was hier an diesem Punkte ausgedrückt werden soll, das beob­achtet der Mensch nicht; denn er ist zufrieden, wenn er zur

268

Orientierung in der Außenwelt seine Gedanken ergreifen kann, in seinen Gedanken leben kann. Daß in diesem Gedanken etwas lebt, was man als den Willen innerhalb der Gedanken zu bezeichnen hat, als den Willen, der da tätig ist, - das wird der Mensch gewöhnlich gar nicht gewahr, oder wenn er es gewahr wird, macht er eine Schlußfolgerung, wie es Schopen­hauer getan hat. Dann hat er kein unmittelbares Anschauen, dann ergreift er sich nicht in diesetn willentlichen Denken, im denkenden Wollen, in dem, was er ist, sondern in dem, was ihm dieses denkende Wollen gibt, nämlich in den Gedanken, die aber nur Spiegelbilder sind. Nur dann, wenn der Mensch es dazu gebracht hat, jene Vermählung zu vollziehen zwischen Denken und Wollen, wie ich es beschrieben habe, dann sind die Seelenkräfte so stark, daß alles Denken durchzogen er­scheint von einer übersinnlichen menschlichen Wesenheit, die willensartiger Natur ist, aber so, daß sie ihre wahre, willens­artige Natur zeigt, gespiegelt als Gedanken. So wahr es wirk­lich unser Antlitz ist, wenn wir uns im Spiegel sehen, so wahr spiegeln wir uns in unseren Gedanken; aber es ist nicht das­jenige, was wir sind, in diesem Spiegelbild. Das, was wir sind, das spiegelt sich eben so, daß wir niemals dem Leben nach, der Kraft nach, in dem Denken erfassen können, was hinter dem Denken steht und wovon das Denken nur eine Abspiege­liing ist. So wenig wie das Spiegelbild länger dauert, als wir vor dem Spiegel stehen, so wenig dauert dieses Denken im mate-riellen Leib länger, als es angeregt wird durch das eigentliche Unsterbliche in uns, das sich in den Gedanken spiegelt.

Ein anderes zeigt sich uns bei dem gewöhnlichen Wollens­prozeß, bei dem Prozeß, durch den wir unsere Handlungen begehen, unsere Glieder regen. Während wir im Denken nicht bemerken, daß als das Wesentliche darin das sich Spiegelnde hinter dem Denken steht, bemerken wir im Handeln, in den Aktionen, die wir vollbringen, nicht, daß hinter dem Willen

269

des Menschen überall etwas ist, was ganz gleich ist unserer Gedankenwelt, ganz gleich ist demjenigen, was sich in den Gedanken spiegelt. Man hat nur deshalb so viel streiten kön­nen in der Philosophie über die Freiheit des Willens, weil der Mensch den Willen nicht kennenlernt, so wie er wirklich ist. Er lernt von dem Willen nur die Kraft kennen, aber nicht die in der Kraft wirklich darin webende lebendige Wesenheit. Und im Willen ist die lebendige Wesenheit gedanklicher Na­tur. Sehen Sie, so leise, so intim, so verborgen in der äußer­lichen sinnlichen Welt ist dasjenige, was das eigentliche Un­sterbliche im Menschen ist, daß sich im gedanklichen Prozeß das Gedankliche verbirgt, daß im Willensprozeß nicht einmal bemerkt wird, daß jeder kleinste Willensprozeß abhängig ist von dem, was sich im Gedanken spiegelt, was aber gar nicht bemerkt werden kann. Erst dann bemerkt man es, wenn man in der geschilderten Weise den Gang des Schicksals betrachtet; wenn man den Willen stärkt, so daß er vermählt wird, außer uns stehend, außer dem sterblichen Menschen, wie ich es geschildert habe, mit dem Gedanken. Dann merkt man, wie der Wille mit dem Gedanken vereint ist, dann merkt man die beiden Seiten, die uns im Leben immer getrennt entgegen­treten als Gedanke und Wille, vereinigt; denn man hat sie erst zur Vermählung gebracht. Man lebt dann in einem Ge­danken-Willensprozeß. Dann aber hat man erst dasjenige er-griffen, was über den Tod hinausgeht, was durch die Pforte des Todes geht. Und man kommt darauf, welchen Fehler, wel­chen ungeheuren Fehler diejenigen gemacht haben, die oft­mals in rein philosophischer Weise über die Unsterblichkeit der menschlichen Seele nachgedacht haben. Diejenigen, die über diese Unsterblichkeit der menschlichen Seele nachgedacht haben, sie haben sich immer an etwas halten wollen, was doch in einer gewissen Weise ähnlich ist demjenigen, was in der Sinnlichkeit oder im sinnlichen Denken lebt. Man hat von

270

einer Substanz der Seele gesprochen, hat nach etwas gesucht, was wiederum wie eine feine Materialität durch die Pforte des Todes geht. Daß man das Ewige im Menschen erfassen muß außerhalb des Leibes und daß man dazu ganz neue Be­griffe und Vorstellungen braucht, die keine äußere Wahrneh­mung, kein an das Gehirn gebundenes Denken geben kann, das wird der Menschheit durch die Geisteswissenschaft auf­gehen. Daß gewissermaßen gerade in demjenigen, das nichts Ähnliches hat mit dem Sinnlichen, das Unsterbliche besteht, das ist es, was allmählich wird begriffen werden müssen.

Geahnt sind solche Dinge immer worden; wissenschaftlich erhärtet werden sie von der Gegenwart aus in die Zukunft hinein werden. Schiller sagt:

Schwatzet mir nicht so viel von Nebelflecken und Sonnen!

Ist die Natur nur groß, weil sie zu zählen euch gibt?

Euer Gegenstand ist der erhabenste freilich im Raume,

Aber, Freunde, im Raum wohnt das Erhabene nicht.

So hat er darauf hingewiesen, daß man aus dem Räumlichen hinausgehen muß, um zu demjenigen zu kommen, was das eigentlich Geistige ist. Nun allerdings, für denjenigen, der materialistisch denkt, hört dort gerade, wo das Unsterbliche beginnt, die Wirklichkeit auf; und da für ihn dort, wo das Unsterbliche beginnt, die Wirklichkeit aufhört, so kann er zu keinem Begriff von dieser Unsterblichkeit kommen. Wir mer­ken ja wiederum an David Friedrich Strauß, dem Repräsen­tanten des Materialismus in der neueren Zeit, wie merkwürdig gedacht wird in bezug auf diese Dinge. David Friedrich Strauß hat eine sehr geringe Meinung von Kirchenvätern. Das sind für ihn abgetane Leute; aber er erinnert doch an einen dieser abgetanen Leute, an einen dieser Kirchenväter, der ihm gefal­len hat. Er drückt sich etwas merkwürdig über diesen aus,

271

zwar etwas grob, aber doch in gewissem Sinne geistvoll. Diese Charakteristik gibt David Friedrich Strauß hauptsächlich aus dem Grunde, weil jener Kirchenvater gesagt hat: - Das ist auch die Über­zeugung von David Friedrich Strauß: Unkörperlich ist nur dasjenige, was nicht ist. Man kann ebensogut sagen: was un­räumlich ist; aber .

Das ist dasjenige, was für die Weltanschauung unserer Zeit noch ganz besondere Schwierigkeiten macht. Diese Welt­anschauung unserer Zeit meint ja, um zu verstehen dasjenige, wozu man überhaupt kommen kann, sei es durchaus notwen­dig, daß an ihr bekannte Begriffe angeknüpft werde. Die Denkgewohnheit unserer Zeit verlangt, daß man vom Gei­stigen spricht mit solchen Begriffen, welche sie schon kennt. Sie will nicht zu unbekannten Begriffen geführt werden, son­dern sie will etwas haben, was sie schon kennt. Man soll auf etwas hinweisen, was sie schon kennt. Das haben alle Philo­sophen getan, die von einer Seelen-#SE064-272

da ein Übergang der Bewegung der ersten Kugel auf die Be­wegung der zweiten. Derjenige aber würde etwas ganz Ab­surdes denken, der sagen würde: Ich kann mir das gar nicht denken, daß die Bewegung der zweiten Kugel von der Bewe­gung der ersten Kugel abhängt. - Aber genau ebenso absurd denkt derjenige über die Seele, der sich nicht vorstellen kann, daß das Seelisch-Geistige etwas anderes ist als das, was in sei­ner Wesenheit an Körperliches erinnert. Geradeso wie es wäre, wenn man verlangen würde, daß die erste Kugel von ihrer Substanz etwas in die zweite hineinschickt, damit etwas da ist in der zweiten, - so wäre es, wenn man verlangen würde, daß in dem Leben, das die Seele nach dem Tode antritt, dasjenige wäre, was man finden kann schon in den Erlebnissen, die die Seele durchmacht, indem sie im Leibe ist, nur durch diesen Leib.

Aber es ist auch notwendig, die Schwierigkeit einzusehen, welche der Geisteswissenschaft entgegensteht, nämlich daß diese Geisteswissenschaft tatsächlich nicht nur von Dingen reden muß, die über die Sinneswelt hinausgehen, sondern neue, andere Begriffe, als man sie hat, den Menschen zumuten muß, um dieses Geistige zu begreifen; daß die Begriffe bereichert werden müssen, daß nicht bloß herumgeredet werden darf mit denselben Begriffen und Ideen. Daher ist oft dasjenige, was die Geisteswissenschaft hat, für denjenigen, der auf dem Stand­punkt der heutigen Denkgewohnheiten steht, unbegreiflich, weil er eigentlich nur Worte hört, die phantastisch klingen, zusammengeprägt erscheinen, und weil er sich nicht darauf einläßt, auf dasjenige einzugehen, was der Geistesforscher her-nimmt aus seinen Erfahrungen. Denn wenn der Geisteswissen­schafter diese Dinge lebendig aus der geistigen Welt geholt hat, sind sie begreiflich für die Urteilskraft. Verstehen kann man dasjenige mit der gesunden Urteilskraft, was der Geistes-forscher aus der geistigen Welt geholt hat. Es braucht dazu nicht jeder ein Geistesforscher zu sein; man braucht nur vorurteilslos

273

zu prüfen, was der Geistesforscher zu geben vermag, und man wird es einsehen können. Derjenige, der da sagt, es könne unmöglich jemand zugeben, daß das wahr ist, was der Geistesforscher sagt, ohne selber ein Geistesforscher zu wer­den, - wer so sagt, der soll nur auch behaupten, es könne nie­mand durch irgendwelche Schlußfolgerungen belegen, daß einer ein Dieb ist, wenn er nicht selbst den Diebstahl ausgeführt hat. Solche Dinge scheinen absurd, wenn man sie ausspricht; aber vor einer universellen Logik sind sie um so richtiger. Vor allen Dingen aber wird eines der Menschheit völlig klar werden, wenn die geisteswissenschaftlichen Ergebnisse dieser Mensch­heit einmal begreiflich werden, wenn man einmal anfangen wird, über die Dinge vorurteilslos nachzudenken, - eines wird klar werden: daß allerdings etwas ist in dieser menschlichen Natur, was schon im alltäglichen Leben ein Weben und Leben bloß im Geistigen ist. Da ist es, allein deuten kann man es nur in der richtigen Weise mit Hilfe der Geisteswissenschaft. Etwas ist in unserem alltäglichen Leben vom Aufwachen bis zum Einschlafen, was durchaus geistiger Natur ist; aber der materialistisch Denkende wird es nicht gelten lassen: - das ist der Prozeß, den wir durchmachen in unserer Erinnerung. Wenn wir uns an etwas erinnern, wenn wir hinschauen auf ein Er­lebnis, das wir in früherer Zeit gehabt haben, dann ist dieses Erinnern, dieses Hinlenken unserer Seelenkräfte auf etwas, was sich nicht mehr abspielt, ein durchaus geistiger Prozeß; den vollführt die Seele nur im Seelisch-Geistigen.

Man wird das nur zugeben, wenn man die Natur des Gei­stigen schon begriffen hat. Denn selbstverständlich kann man von dem gegenwärtigen Stand der Naturwissenschaft aus leicht sagen: Ja, Bewegung verwandelt sich in Wärme, das zeigt uns die physikalische Forschung; warum sollten sich nicht die äußeren Vorgänge in uns in Empfindung und Denken ver­wandeln? - Gewiß, sie tun es sogar. Sie tun es dadurch, daß

274

sie Prozesse hervorrufen, die der Spiegel sind, in dem sich unser Wesen spiegelt. Da kann man sagen: die Naturwissen­schaft hat ganz recht. Dadurch, daß man sich voll auf den Bo­den der Naturwissenschaft stellt und nicht sie bekämpft, dann aber daneben die geistigen Erfahrungen geltend macht, - nur dadurch kommt man vorwärts. So könnte nun jemand sagen:

Also sind die geistigen Prozesse eine Umwandlung der äuße­ren Prozesse. Wie Bewegung in Wärme, so verwandelt sich dasjenige, was außen in der Welt ist, in das, was in uns ist. Das war aber nur so lange geltend, solange man nicht nach­weisen konnte, daß, wenn wir eine Bewegung in Wärme ver­wandeln, immer etwas zurückbleibt, das da ist, immer da ist. Das ist Wärme geblieben, ist nie etwas anderes als Wärme. Das zeigt sich demjenigen, der nun wirklich von außerhalb seines Leibes den körperlichen Prozeß verfolgt, der verfolgt, was der Leib eigentlich kann. Dem zeigt sich, daß zwar, wenn wir wahrnehmen in der Außenwelt, der Prozeß, der ausgebaut wird durch die Sinne und sich fortsetzt im Gehirn, eine Fort­setzung des Außenprozesses ist, daß das aber nicht richtig ist in bezug auf dasjenige, an das wir uns erinnern. Und gerade an diesem Punkt wird die immer weiter und weiter fortschrei­tende Naturwissenschaft geradezu zeigen, daß, indem hin-gelenkt wird die Aufmerksamkeit auf die körperlichen Pro­zesse, niemals aus den körperlichen Prozessen heraus irgendwie der Prozeß der Erinnerung, der ein rein geistiger Prozeß ist, entstehen könnte. Gerade auf streng naturwissenschaftliche Weise wird gezeigt werden können, daß nicht dasjenige, was körperlich in uns vorgeht, wenn wir uns erinnern, der geistige Prozeß ist oder mit demselben mehr zu tun hat, als die Feder­striche auf dem Papier mit dem etwas zu tun haben, was ich lese. Indem ich ein Wort, das aus gewissen Strichen besteht, vor mir habe, lese ich nicht, indem ich das Wort anschaue und meine Gedanken nachaeichnen, sondern dadurch, daß ich mit

275

diesem Zeichen einen Sinn verbinde durch etwas in mir, was mit dem auf dem Papier nichts zu tun hat. So wird man darauf kommen, daß der Erinnerungsprozeß, der sich im Körper ab­spielt, so wenig etwas zu tun hat mit den körperlichen Prozes­sen wie mein Leseprozeß mit den Formen auf dem Papier. Die Erinnerung wird sich als ein geistiger Prozeß darstellen, der sich in das physische Leben hineinstellt. Dann aber wird man auch erkennen, daß uns schon in das gewöhnliche phy­sische Erdenleben zwischen Geburt und Tod die Wesenheit hineingestellt ist, die wir im höheren, intensiveren Sinne erfas­sen müssen, wenn wir auf das Unsterbliche hinschauen wol­len. Wenn der Materialismus fragt: Was ist am Menschen sterb­lich? und darauf antwortet: Alles, was der Mensch hier in der Sinneswelt erfährt! -, so kann ihm auch die Geisteswissen­schaft sagen: Ja, du hast recht; alles dasjenige, was der Mensch hier in der Sinneswelt erfährt, ist am Menschenwesen sterb­lich. Aber ebenso wie ein Ereignis in unserem physischen Le­ben vorbeigeht und wir uns in einem späteren Zeitpunkt rein durch das geistige Wesen unserer Seele erinnern, wie also die­ses frühere Ereignis im geistigen Prozeß erhalten ist, so ist es mit unserem Seelischen. Solange wir nach einer «Seelensub­stanz> suchen, sind wir nicht imstande, auch nur heranzu­rücken an dasjenige, was im Menschenwesen unsterblich ist. Sobald wir wissen, daß dasjenige, was in unserem gewöhn­lichen sterblichen Menschen gar nicht beachtet wird, weil es ist, wie wenn ein Mensch vor einem Spiegel steht und nur sein Spiegelbild sieht, sich nur im Bilde kennt, - sobald wir wissen, daß das, was nicht beachtet wird im gewöhnlichen Leben, von dem wir nichts wissen im gewöhnlichen Leben, was wir nur wie im Bilde kennen, - daß gerade das nach unserem Tode die Erinnerung an das Erdenleben zurückbehält und darin lebt, können wir auch begreifen: Das, was wir hier sind, es geht als Tatsache, als dasjenige, als was es hier lebt,

276

unter, es ist sterblich im Menschen. Dasjenige, was der Seele bleibt, der im Leben sich nicht kennenden Seele, das ist die Erinnerung, die sich hineinstellen wird in die Erlebnisse, die dann der Mensch in der rein geistigen Welt nach dem Tode durchmacht.

Erst wenn man anfängt zu begreifen, welch rein seelisch-geistiger Prozeß die Erinnerung ist, erst dann deutet man auf dasjenige hin, was sich über den Tod hinaus fortsetzt. Die Er­innerungskraft lebt hier schon in der Denk- und Willensbil­dung und verrät sich hier als Geistiges. In der Erinnerung, die in uns lebt, tragen wir nicht als Seelensubstanz, sondern als Kraft über die Pforte des Todes dasjenige voll hinüber, was wir im Leben zwischen der Geburt und dem Tode sind. Jedem, der sich nicht zur Geisteswissenschaft aufschwingt, entschwin­det sofort die Möglichkeit, sich etwas zu denken bei dem, was gesagt worden ist, aus dem Grunde, weil er gar nichts mehr hat, an das er sich nach seinen Vorstellungen erinnern kann. Denn er hat bei allem, was er sich denken kann, im Auge, er müsse etwas Substantielles haben, was er schon kennt. Er will nicht dazu kommen, daß er nur als Gabe der Erinnerung etwas hat, was er nicht kennt.

So ist uns tatsächlich in der Erinnerung etwas von dem gegeben, was uns zu den sonst unbekannten Begriffen des See-lischen Prozesses hinführt, der sich als ein Unsterbliches von dem Sterblichen loslöst, so daß wir es anerkennen müssen. Und so zeigt sich uns noch in etwas anderem bei dem geistes­forscherischen Prozeß, daß wir gewissermaßen uns selbst stär­ker ergreifen müssen, damit sich die Kräfte des Begreifens ausdehnen über dasjenige, dem sonst keine Aufmerksamkeit zugewendet wird, um in die geistige Welt einzutreten. Wir können uns zum Beispiel ein Ideal vorhalten, das erst erreicht werden soll, das ebensowenig in der Gegenwart da ist wie ein verflossenes Erlebnis. Dann stehen wir auch zu diesem Ideal in

277

einem rein seelischen Prozeß. Der Materialist wird sich zwar mit einer Art Wollust in einer gewissen Sackgasse verlieren; er wird wollen, daß die Seele zu einem Ideal in einem körper­lichen Verhältnis steht. Das wirkliche Verhältnis zu einem Ideal ist aber ein rein geistiges. Nur derjenige kann das ver­stehen, der weiß, daß auch die Erinnerung ein rein geistiger Prozeß ist.

Nun erlebt der Mensch allerdings am Ideal zumeist das, daß er nicht voll warm, geschweige denn feurig werden kann gegenüber dem Ideal. Es bleibt etwas Kaltes, auch wenn er es verehrt. Er wird höchstens warm, wenn er unmittelbar in einem Prozeß darinnensteht, wo das Ideal in der Außenwelt in irgendeiner Weise lebt, wo er mitgehen kann mit dem Ideal. Aber wenn das Ideal in seiner Seele rein wie ein Gedanke auferweckt wird und er dann vollinhaltlich Gefühle und Wil­lensimpulse nur mit dem Ideal verbinden kann, so daß er auch seinen Willen darauf richtet, und wenn er dies öfter macht, wenn er zu der Konzentration auch diese Willens-übungen fügt, - dann entwickelt sich in der Seele allmählich ein Gefühl dafür, daß wir nicht nur eine Anschauungs- und Erinnerungskraft haben, sondern daß wir auch etwas haben, was zwar willensartiger Natur ist, was man aber bezeichnen kann als Vorerkenntnis künftiger Ereignisse. In der Men­schenseele liegt durchaus etwas von prophetischem Charakter. Nicht bloß irgendeinem Aberglauben ist dieses zuzuschreiben. Geisteswissenschaft zeigt, daß diese prophetische Gabe beim Menschen deshalb außerordentlich schwer nur in Erscheinung tritt, weil der Mensch im physischen Leibe verwenden muß die Kräfte, die ihn sonst vorfühlend dasjenige erkennen lassen würden, was an ihn heranrückt; er muß diese Kraft verwen­den zum Aufbau der Leiblichkeit; sie fließt da hinein, wird verwandelt. Weil wir den vergangenen Lebensprozeß schon durchgemacht haben, sind wir imstande, dasjenige, was wir

278

daraus zurückbehalten haben an Wachstuiskräften, seelisch­geistig als Erinnerungiktaft anzuwenden. Indem wir im phy­sischen Leibe der Zukunft entgegenieben, müssen wir die Kraft, die wir brauchen, um den Leib zu erhalten, im phy­sischen Leibe anwenden. So ist es sehr schwierig, gewisse Kräfte, allerdings nicht in der Weise, wie es sich die Men­schen vorstellen, sondern in einer viel intimeren und leiseren Weise, kennenzulernen. Sie sind im Menschen vorhanden. Die Geistesforschung kann sie aber so kennenlernen, daß sie dadurch begreifen lernt, daß in dem, was unsterblich in der Menschenseele ist, etwas liegt, was wirklich dieses Inhaltvolle der Seele durch den Tod hindurchträgt, hineinträgt in die Zu­kunft. Derjenigen Kraft selbst, die den Menschen durchträgt durch die Pforte des Todes, wird der Mensch durch diese Gei­steswissenschaft wirklich inne.

So kann Geisteswissenschaft nicht so bequem, wie man es wohl denkt, antworten auf die Frage: Was ist am Menschen­wesen sterblich? Aber sie zeigt den Weg, wie man hinfinden kann, um dasjenige zu erkennen, was am Menschenwesen sterblich ist, indem sie zeigt, was als das Unsterbliche, un­beachtet von der gewöhnlichen Aufmerksamkeit, im Menschen lebt, und wie dieses Unsterbliche gewissermaßen das eigene, gewöhnliche Leben zwischen Geburt und Tod als etwas Objek­tives überschauen kann. Es kann dies aber nur dann sein, wenn der Mensch dazu kommt, anzuerkennen, daß seine Wesenheit ein in sich Geschlossenes ist, außerhalb des Leiblichen, daß dieses Geschlossene von außerhalb des Leibes eigentlich auf den Leib wirkt. Wie der Mensch, der vor dem Spiegel steht, auf das Spiegelbild wirkt, so wirkt die wahre Wesenheit der Seele auf das Leibliche, daß sich zurückspiegelt für dieses Erdenleben, was sie ist. Weil wir von unserem wahren Wesen im Erdenleben nur ein Spiegelbild haben, das nur so lange da sein kann, als das Gespiegelte vor dem Spiegel steht, ist im

279

Grunde genommen dasjenige, was wir unmittelbar als gegen­wärtig im Erdenleben erleben, der sterbliche Teil. Dasjenige, was ihm zugrunde liegt als Sterbliches, lernt der Mensch ken­nen als dasjenige, worin sein Unsterbliches wie in seinem Werkzeug - nicht sage ich in seiner Hulle, sondern in seinem Werkzeug - wohnt.

Auf diese Weise kommt man dazu, die Frage: Was ist am Menschenwesen sterblich? in vollem Einklang mit der gegen­wärtigen Naturwissenschaft zu beantworten. Und das wird für die Zukunft der geistigen Entwickelung von einer ungeheuren Wichtigkeit sein. Es wird deshalb von ungeheurer Wichtigkeit sein, weil der Naturforscher immer hinweisen kann, wenn man ihm von einer selbständigen Seele, von der Seelensub­stanz redet, immer sagen kann: Ja, sieh dir doch diese Seele an; sie wächst mit dem Wachstum des Leibes, des Gehiins, sie wächst mit dem Älterwerden. Wenn der Leib erkrankt und ab stirbt, ist die Seele nicht mehr da. Aus den äußeren Erschei­nungen die Seele bloß erschließen, das macht nicht möglich, gegen Tatsachen etwas einzuwenden. Das Seelische muß erkannt werden auf einem Felde, das außerhalb der Tatsachen liegt. Man muß in der Lage sein, zu allen berechtigten Einwänden ja zu sagen, nicht nein zu sagen. Und Geisteswissenschaft kann das. Wenn daher diejenigen, die da glauben, auf dem festen Boden der Naturwissenschaft zu stehen, kommen und sagen: Das wissen wir! Das wissen wir! Das wissen wir! Da darfst du uns nicht mit der Geisteswissenschaft kommen! -, dann tritt der Geisteswissenschafter vor sie hin und sagt:

Nichts, aber auch gar nichts, bis zum letzten, was du sagst, leugnet die Geisteswissenschaft; denn was du kennst, was die Naturwissenschaft kennt, das ist am Menschenwesen sterblich. Nichts leugnet die Geisteswissenschaft dir ab, nur zeigt sie, daß es einen Weg der menschlichen Erkenntnis gibt zu etwas anderem, als du kennst. - Dann ist der Naturforscher gezwungen,

280

nicht mehr mit logischen Gründen zu kämpfen, sondern er muß einem schon verbieten, daß man noch etwas anderes weiß, als er weiß. Dann hat er nur diesen einzigen Einwand. Und das ist wirklich der einzige Einwand, der von der Natur­wissenschaft kommen kann. Nicht widerlegen kann man die geisteswissenschaftliche Weltanschauung; denn die Einwände, die man macht, die gibt der Geistesforscher ja alle zu. Man muß schon behaupten: Nur ich habe das Recht, zu entschei­den, wo geforscht werden darf; und wenn du etwas anderes behauptest als das, was nach meinem Willen behauptet wer­den darf, so bist du ein Phantast. - Geisteswissenschaft kann man von jener Seite aus nicht widerlegen mit Gründen, son­dern einzig und allein durch Machtsprüche. Geisteswissenschaft kann nur aus der Welt geschafft werden, wenn die Menschen übereinkämen, durch Majorität diese geisteswissenschaftliche Forschung totzudrücken. Nicht durch Logik, sondern nur durch Brutalität kann die Geisteswissenschaft widerlegt werden; aber sie wird gegenüber der Naturwissenschaft allerdings nur dann bestehen können, wenn sie der Naturwissenschaft gewachsen ist, wenn sie nicht mit dilettantischen Dingen kommt und da­mit die Naturwissenschaft widerlegen will. Sie muß zeigen können, daß sie ein Feld zu erobern imstande ist, auf welchem selbst die alten philosophischen Seelensubstanz-Begriffe nicht mehr anwendbar sind, sondern für welches neue Begriffe ge­schaffen werden müssen. Deshalb erscheint so vieles von dem, was in der Geisteswissenschaft literarisch zutage tritt, noch absurd. Die Absurdität besteht aber nur darin, daß man nie­mals gewöhnt worden ist, solche Begriffe zu haben; deshalb lehnt man sie ab. Die Geisteswissenschaft bringt eben etwas völlig Neues hervor. Nicht dadurch, daß man die Naturwissen­schaft bekämpft, sondern daß man etwas gegen sie hinstellt, kann man der Geisteswissenschaft die Wege bahnen. Selbst in bezug auf die Denkweise kann Geisteswissenschaft durchaus

281

den berechtigten Anforderungen der Naturwissenschaften genügen. Denn wenn jemand sagen würde: ich stehe auf dem festen Boden der Naturwissenschaft; wer seine gesunden fünf Sinne beisammen hat und sich darauf verläßt und auf das-j enige, was der Verstand auf Grund dieser fünf Sinne erfassen kann, der kann den Phantastereien der Geisteswissenschaft nicht zustimmen, - dann antwortet der Geistesforscher: Schau einmal ein wenig auf dich selbst hin! Du gibst ja zu, daß lange Zeit Menschen gelebt haben als solche, die sich auf die gesunden fünf Sinne verlassen haben. Dann kam Kopernikus. Der hat in bezug auf die äußere Welt eine Weltanschauung aufgestellt, die den fünf Sinnen direkt ins Gesicht schlägt. Manche haben ja lange Zeit gebraucht, ja, bis in die neueste Zeit gebraucht, bis sie die Wahrheit der Weltanschauung des Kopernikus anerkennen konnten oder anerkannt haben. Aber geradeso wie damals die menschliche Wahrheit den Weg ge­funden hat, über die fünf Sinne hinauszukommen in bezug auf die äußerliche Wissenschaft von der Welt, so wird Geistes­wissenschaft hinausführen über dasjenige, was durch einen Machtspruch der fünf Sinne festgelegt werden soll mit Bezug auf das Übersinnliche. Denn noch weniger gestattet dieses Übersinnliche, daß man sich nur auf seine «gesunden fünf Sinne» verläßt.

Nun sehen wir, daß der Mensch den Entwickelungsweg, den er machen muß, wenn er ein Geistesforscher werden will

- nicht jeder braucht ein Geistesforscher zu werden; wenn es nur wenige Geistesforscher gäbe, und diese bringen Wahr­heiten zustande, so wird der Verstand dieselben einsehen kön­nen - wir sehen, daß der Weg, den der Geistesforscher ge­führt wird, in dem Ergreifen des eigenen Seelischen besteht, um dieses Seelische weiterzuführen. Geradeso wie das Kind sich entwickeln muß, indem es von der Zeit an, wo es noch nicht «ich> sagen kann zu sich selber, geführt wird zu einem

282

Zeitpunkt, wo es dieses sagen kann, so kann die Seele, wenn der Geistesforscher sich in der Hand hat, sich entwickeln, so daß sie ein Genosse der geistigen Welt wird. Da muß aber die Seele sich selbst ergreifen. Das ist ein rein geistig-seelischer Prozeß. Auf dem Wege zu diesem Prozeß ist allerdings die Menschheit schon lange. Einer derjenigen Geister der mittel-europäischen Geistesentwickelung, von dem ich vor kurzem hier gesprochen habe, er hat ein schönes Wort geprägt, wel­ches, so könnte man sagen, auf den Weg weist das mensch­liche Fühlen, das menschliche Denken, das menschliche Wol­len, - auf den Weg, der zuletzt dann dahin führt, daß der Mensch selbst ein Geistesforscher wird. Der deutsche Mystiker Meister Eckhart, der 1327 gestorben ist, er spricht ein schönes Wort aus. Ein Wort, das sozusagen, wenn man darüber medi­tiert, die Kraft hat, die Seele hinzuweisen auf den Weg, der in die geistige Welt hineinführt. Man kann solch ein Wort nicht bloß einmal oder ein paarmal auf sich wirken lassen, sondern man muß es Tag für Tag auf sich wirken lassen. Denn hinter einem solchen Wort steckt ein tiefes seelisches Erleben, das derjenige schon durchgemacht hatte, der es aus dern innersten Gefüge seiner Seele herausgeholt hat. Meister Eckhart sagt:

Darum, lieber Mensch, leme Dich selber kennen; das ist Dir besser, als ob du aller Kreaturen Kräfte erkänntest.>

Lerne dich selbst erkennen! - der Spruch, der schon auf dem Apollinischen Heiligturn stand. Aber Selbsterkenntnis, die ja auf das innigste zusammenhängt mit dem Wege in die gei­stigen Welten hinein, sie ist gewissermaßen das Aller-, Aller-schwierigste! Schon die alleräußerlichste Selbsterkenntnis ist dem Menschen etwas Schwieriges. Dafür gibt der Philosoph

283

Ernst Mach ein kurioses Beispiel. In seiner verrät er, wie es bei ihm mit der Selbsterkenntnis schon in bezug auf das alleräußerlichste Gebiet steht. Er er­zählt, wie er einmal über die Straße ging und in einem schräg-gestellten Spiegel sein eigenes Bild sah. Er erschrak vor dem häßlichen, ihm widerwärtigen Gesicht, das ihm da entgegen-schaute, und siehe da: es war sein eigenes. Und als er schon Professor war, passierte ihm etwas Ähnliches. Er kam ermüdet von einer Reise und bestieg einen Omnibus. Auf der anderen Seite sah er auch einen Mann einsteigen, und er dachte: Was für ein vertrockneter Schulmeister steigt denn da ein! Und wiederum entpuppte sich der Mensch, der ihm gegenüber ein­stieg, als er selber; er hatte sich in einem Spiegel gesehen. Und er sagt: So kannte ich den Berufshabitus besser als meinen eigenen. Wir sehen an diesem Fall, daß man sogar ein berühm­ter Professor sein kann und alle Eigenschaften und Kräfte zu einem berühmten Professor haben kann und doch in bezug auf die äußerlichste Selbsterkenntnis nicht sehr weit gekommen sein kann.

Viel schwieriger aber ist noch dasjenige, was an Selbst­erkenntnis der Seele zu erreichen ist. Und man muß sagen, das, was oftmals als Selbsterkenntnis definiert wird, ist nichts ande­res als ein egoistisches Gefühl über ein inneres Erlebnis. Wahr­lich, die wirkliche Selbsterkenntnis kann nur auf dem Wege der Geisteswissenschaft erworben werden.

Aber - und vielleicht erscheint es nicht an den Haaren her­beigezogen; denn nicht an den Haaren herbeigezogen ist auch alles dasjenige, wozu nicht bloß Logik, sondern auch Empfin­dungen führen, die von vielem, was in der Gegenwait ge­schieht, veranlaßt werden - angewiesen wird dieser Weg, der in die Geisteswissenschaft ausmünden muß, namentlich in sol­chen Impulsen, wie sie von Meister Eckhart eben angeführt wurden, wie sie aber noch vielfach aufgezählt werden können.

284

Denn die Menschheit ist auf diesein Wege. Und wenn wir für die neuere Zeit hinweisen wollen auf irgend jemand, welcher auch in bezug auf das Herausarbeiten des Geistigen aus dem Materiellen wissenschaftlich auf dem Wege zur Gei­steswissenschaft war, so dürfen wir auf Goethe hinweisen. Goethe, er hat ja, um nur das eine anzuführen, in seiner «Metamorphose der Pflanzen> zeigen wollen, wie im Blatt, im einzelnen Blatt dasjenige liegt, was sich umwandeln kann und sich im Umwandeln als anderes Organ darstellt. Aber auch auf anderen Gebieten war er bemüht, die Idee der Umwandiung durchzuführen. Das ist fruchtbar bei ihm geworden; das hat ihn zu merkwürdigen wissenschaftlichen Resultaten geführt, von denen einzelne heute noch von der Wissenschaft schroff abgewiesen werden. Und dennoch, viele Keime für die zu­künftige geistgemäße Weltanschauung liegen in der Vorstel­lungsart Goethes. Wenn man sein eigenes Ideengebäude auf­baut und dieses Ideengebäude umsetzt in lebendiges geistes­forscherisches Erleben, dann merkt man erst, wie fruchtbar Goethes Weltanschauung ist, die so anschaulich zum Beispiel in der kleinen Schrift «Metamorphose der Pflanzen» enthalten ist. Man merkt dann, daß die höchsten geistigen Kräfte, zu denen man erst Worte, Begriffe und Ideen suchen muß, jene Prozesse, die die Seele durchmacht, wenn sie den sterblichen Leib verläßt, schon eine Metamorphose haben in dem gewöhn­lichen Gedächtnisprozeß. Man braucht nur Universalität des Geistes genug zu haben, um diesen Prozeß in Metamorphosen zu verfolgen, um ihn zu erkennen als einen Lebensprozeß der vom sterblichen Leibe freigewordenen Seele. Dann merkt man, daß dasjenige, was vom menschlichen Wesen sterblich ist, so abgesondert vergeht, wie man die zurückbleibende Blüte, die verwelkt, abgesondert versteht von dem Keime, der weitergeht zu einer neuen Pflanze. Aber nur konsequent war es, wenn Goethe diese Denkweise auch auf das Physikalische anwendet.

285

Man versteht ihn nur heute noch nicht. Begreiflich muß es erscheinen, daß der Physiker, der da glaubt, auf dem Boden der Wahrheit zu stehen, wenn er auf dem Boden der physika­lischen Hypothesen steht, die Farbenlehre Goethes ablehnt. Der tiefere Grund der Ablehnung ist kein anderer als der, daß die Goethesche Farbenlehre von einem Menschen erfaßt wird, aufgestellt wird, der die innere Triebkraft in sich wirken ließ, welche im Geistigen des Menschen lebt, und daß man heute bei den Physikern eine Farbenlehre sucht, die sich nur auf die­jenigen Erkenntnisfähigkeiten des Menschen stützt, die durch den Leib vermittelt werden.

Indem die Geisteswissenschaft als eine Frucht des mensch­lichen Geistesstrebens sich entwickeln wird, wird mit der Gei­steswissenschaft selbst auch so etwas seine Anerkennung fin­den wie die Goethesche Farbenlehre. Dann wird man ver­stehen, warum ein anderer Geist, der ebenso den Impuls des Ewig-Geistigen in seiner Seele fühlte, der von demselben Im­pulse aus auch die Außenwelt begreifen wollte, warum dieser für die Farbenlehre eintrat, ja, noch für etwas anderes eintrat

- Hegel. Hegel war auch einer von denjenigen, die tief ver­bunden waren mit der auch schon gestern hier geschilderten tragenden Kraft des deutschen Geistes. Er hat sich mit aller Macht der Beredsamkeit, die ihm eigen war, gegen die Ver­kleinerung seines Landesgenossen Kepler gewandt, des großen Kepler, der jedem, der nur ein klein wenig in ein Physikbuch hineingeschaut hat, bekannt ist als derjenige, der die sogenann­ten Keplerschen Gesetze gefunden hat. Hegel zeigte auf, daß in diesen Gesetzen schon drinnen liegt, was Newton bloß in mathematische Formeln gefaßt hat. Die Welt hat das im übri­gen nur wenig bemerkt. Hegel hat gezeigt: Newton setzt mathematische Buchstaben dorthin, wo Kepler seine Gesetze ausgesprochen hat; er verändert nur ein wenig die Formeln. Newton hat also nichts anderes getan, als in mathematischen

286

Buchstaben und Formeln die Keplerschen Gesetze ausgedrückt Hegel aber kam es an auf das Wirkliche und nicht auf die Ausdrucksform.

Ich sagte schon, ich möchte etwas, was nur empfindungs-gemäß heute hierher gehört, vorbringen. Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß solches uns in der letzten Zeit mehr­fach passiert ist, wie es da passiert ist, daß man denjenigen, der nur die Ausdrucksform gefunden hat, als den großen Phy­siker hinstellt, anstelle desjenigen, der eigentlich den Nerv der Sache gefunden hat - Goethe. Einer geistgemällen Welt­anschauung entsprechend hat Goethe gefunden alles dasjenige, was mit der Entwickelungslehre der Organismen zusammen­hängt. Nur muß man getragen sein von dem Geistigen, von dem er auch selbst getragen war, wenn man diese geistgemäße Weltanschauung als die naturgemäße Entwickelungslehre an­sehen will. Goethe wurde für den Geist hinter aller Sinnlich­keit durch seine naturgemäße Entwickelungslehre gestärkt und nicht geschwächt. Aber der Menschheit war es vielfach zu schwer, auf Goethesche Art die Verwandlung der Organismen zu begreifen. Die Menschen haben sie leichter begriffen, als sie ihnen vorgeführt wurde in der an den Geist keine so gro­ßen Anforderungen stellenden Darstellung Darwins. Und auf vieles, vieles könnten diese Dinge noch angewandt werden.

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist diejenige Zeit, in der man auf vielen Gebieten der flacheren Denkweise zum Opfer gefallen ist. Im deutschen Geistesleben liegen überall für dasjenige, wofür eine flachere Denkweise eingetreten ist, die tieferen Keime, die tieferen Impulse. Es wird sich aller­dings darum handeln, daß eine Besinnung eintritt auf das­jenige, was sind; daß eine Besinnung darauf eintritt, wie man die wahre Entwickelungslehre nicht im Darwinistischen Sinne, sondern im Goetheschen Sinne darstellen muß. Das aber führt zu den

287

Gedanken, die unsere heutige schwere Zeit, wie ich es schon gestern ausgeführt habe, auf manchem Gebiete zur Besinnung bringen können, daß man Siege auch noch in anderer Be­ziehung, als man vielleicht meint, hervorzubringen hat: den Sieg des deutschen Geisteslebens, den Sieg der tieferen Prin­zipien einer Weltanschauung, wie sie vorbereitet sind im deut­schen Geistesleben, - gegenüber dem, was so vielfach als das Flachere aus England herübergekommen ist. Das ist nicht chauvinistisch-rational gesprochen, sondern einfach sachlich historisch gesprochen. Es wird der deutsche Geist einsehen müssen, daß noch manches Englische an seinen Ursprung zu­rückgeschickt werden muß. Und man kann sagen: in dieser Beziehung darf das deutsche Geistesleben hoffen, daß die in ihm liegenden Keime in Zuttunft immer mehr und mehr zur Geltung kommen. Dann aber muß dasjenige, was die deutsche Seele, der deutsche Geist ist, ebenso verteidigt werden, wie er durch unsere aufopferungsvollen Zeitgenossen eben verteidigt wird. Denn da wird ein Heiligstes der Menschheit verteidigt. Nicht nur umschlossen sind deutscher Raum und deutsche Men­schen wie in einer Festung von allen Seiten durch die Feinde, sondern edelstes deutsches Geistesgut ist umschlossen und wie in einer Festung belagert und muß verteidigt werden. Die Wahrheit ist übeiall gleich; aber das ist auch eine Wahrheit, daß nicht überall die Anlage zur Wahrheit in gleicher Art entwickelt ist. Für das deutsche Geistesleben darf gesagt wer­den: Die Helligkeit, die religiöse Art, in der der deutsche Idealismus sich dem Geistigen genähert hat, ist ein Anfang, um zu einer wirklichen geistgemäßen Weltanschauung immer mehr aufzusteigen. Daher darf man sich der Hoffnung, der auf wahrheitsgemäße Erkenntnis, nicht auf bloße Gefühle begründeten Hoffnung hingeben, daß dem deutschen Geist Gelegenheit gegeben sein wird, durch die Art und Weise, wie er hervorgeht aus der gegenwärtigen schweren Zeit, dasjenige

288

auszubilden, was diejenigen gerade kennen in diesem deut­schen Geiste, welche die Verbindung dieses deutschen Geistes mit dem Wege in die Geisteswelten hinein überhaupt kennen. Und wie eine Ahnung steht ein Wort Goethes da, auf das der elsässische Dichtet Lienhard in seiner bemerkenswerten Bro­schüre «Deutschlands europäische Sendung» hingewiesen hat

- ein Wort Goethes, das er im Jahre 1813 ausgesprochen hat in einem Gespräch mit Luden. Er sagt:

«Das Schicksal der Deutschen ist ... noch nicht erfüllt. Hät­ten sie keine andere Aufgabe zu erfüllen gehabt, als das Römische Reich zu zerbrechen und eine neue Welt zu schaf­fen und zu ordnen, sie würden längst zugrunde gegangen sein. Da sie aber fortbestanden sind, und in solcher Kraft und Tüchtigkeit, so müßten sie nach meinem Glauben noch eine große Zukunft haben, eine Bestimmung... »

Auf vielen anderen Gebieten werden noch manche deutsche Bestimmungen liegen. Ganz gewiß aber liegt auch noch die Bestimmung in der deutschen Entwickelung, den deutschen Idealismus zum Spiritualismus zu führen, zu einer ganz geist-gemäßen Weltanschauung. Denn, was auch geschehen mag, -das eine kann nur geschehen: daß in dieses Geschehen befruch­tend hineintönt, was aus so tief innerlichem Erleben hervor­gegangen ist wie ein Wort Goethes, das er gerade gesetzt hat an den Schluß derjenigen Dichtung, wo er tiefstes, mit dem Weltgeist ringendes Menschenwesen darstellt. Nicht umsonst ist gerade aus der deutschen Weltanschauung der «Faust» her­vorgegangen, diese Darstellung des Ringens mit dem Welt­geist nach dem Wege in die geistige Welt hinein. Gerade in der Zeit, in welcher Deutschland gewissermaßen sich bis zu einem gewissen Grade von fremdländischer Weltanschauung geistig überwinden ließ, hat man immer wiederum das sonder­bare Diktum ausgesprochen, Deutschland sei Hamlet. Deutsch­land ist nicht Hamlet. Es ist nur ein Mißverständnis, wenn

289

man das glaubt. In den innersten Kräften der deutschen Ent­wickelung liegt etwas, was niemals von Hasulet ausgesprochen werden kann - «Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage> ist ein Wort von Hamlet -, sondern der deutsche Geist spricht:

Der Geist ist der Urgrund alles Seins, und auf dem geistigen Boden findet die Seele ihre wahre Bestimmung, ihre wahre Wesenheit; und nur auf geistigem Beden, nur im Hinaus-blicken über das Materielle. Das ist die deutsche Entwicke­lung im richtigen Stil betrachtet, verbunden mit dem Geist-wesen der Menschheit überhaupt, daß man sagen muß: Mögen die gegenwärtigen schmerzlichen Ereignisse noch vieles brin­gen, - das aber liegt in der deutschen Entwickelung selbst als eine tiefste Berechtigung, daß man wird sagen müssen:

Ein solcher Sieg des deutschen Wesens muß aus diesen schmerzlichen Zeiten doch hervorgehen gegen den Ansturm aller Feinde des deutschen Wesens, daß kraftvoll, unter den anderen Bestinnnungszielen des deutschen Volkes, auch das erfüllt werden kann, welches aus den Worten quillt, mit denen die deutscheste, aber zugleich die tiefste Dichtung der Mensch­heit schließt, - die hintönen, wie ein Siegesruf gegenüber allem Materialismus, wie die Heroldsrufe vor aller geistgemä­ßen Weltanschauung: Das Vergängliche, es ist nicht das Be­ständige. Am Schlusse des «Faust» tönt uns entgegen wie eine wahre Devise einer wirklich geistgemäßen Weltanschauung:

«Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.>

Und daß dies das Ziel des menschlichen Strebens werde, dazu hat der deutsche Geist noch viel beizutragen. Und hoffen wollen wir, daß die gegenwärtigen schweren Zeiten ihm ge­rade dazu verhelfen, in dieser Richtung seine Bestimmung voll zu erfüllen.

290

DIE VERJÜNGENDEN KRÄFTE DER DEUTSCHEN VOLKSSEELE Berlin, 4. März 1915

In dieser Winterserie von Vorträgen erlaubte ich mir, abwechseln zu lassen die rein geisteswissenschaftlichen Vorträge mit solchen, die durch die großen und bedeutungsvollen Ereig­nisse der Gegenwart angeregt sind. Auch die heutigen Be­trachtungen über das Wesen der deutschen Volksseele und ihr Verhältnis zu anderen Volksseelen Europas sollen durch die durch unsere Zeit hervorgerufenen Empfindungen ange­regt sein. Morgen soll dann wiederum eine Betrachtung, die rein geisteswissenschaftlich ist, folgen. Ich werde mir erlauben, in der Einleitung der heutigen Betrachtung auf einiges hinzuweisen, was schon von einem anderen Gesichtspunkte aus

erörtert worden ist durch einen der vorigen Vorträge, der auch von dem Wesen der Volksseele handelte.

Wenn man von Volksseelen heute spricht, so begegnet man ja dann, wenn man sich auf den Standpunkt stellt, der hier eingenommen werden soll, vielfach Mißverständnissen. Man begegnet vielfach dem Vorwurf, daß man etwas rein Phanta­stisches meine. Und das ist ja im Grunde genommen ganz in der Ordnung; denn unsere Weltanschauung der Gegenwart kann nicht anders, als ein Phantasiegebilde in demjenigen sehen, was - außer anderen wirklich konkreten geistigen We­sen - als die Volksseele angesprochen werden muß. Es ist daher nur durchaus selbstverständlich, daß, als neben anderen geistigen Wesen auch von der Volksseele als von einem realen

291

Wesen gesprochen worden ist in meinem Buche «Theosophie», gerade dieses Kapitel als ein besonders befrerudliches befun­den worden ist. Das ist es eben, was die rein auf das Äußer­liche gerichtete Weltanschauung niemals zugeben wird, daß neben denjenigen Wesenheiten, die sich vor den Sinnen aus­breiten, die mit dem Verstand begriffen werden können, der an das Gehirn gebunden ist, auch noch andere übersinnliche, unsichtbare Wesenheiten existieren, die nur mit dem geschaut werden können, was Goethe Geistesaugen, Geistesohren ge­nannt hat; Wesenheiten, die aber eine Wirklichkeit haben, wie die um uns befindlichen Wesenheiten des mineralischen, des tierischen, des pflanzlichen Reiches. Und so spricht denn die Geisteswissenschaft auch von der deutschen Volksseele als von einer realen, einer wirklichen Wesenheit. Sie spricht so von dieser Wesenheit, daß sie es ist, welche das schon in dem vorigen Vortrage über die tragenden Kräfte des deutschen Geistes erwähnte Zwiegespräch - unterbewußte, unbewußte Zwiegespräche mit der menschlichen Einzelseele führt. Es ist nicht möglich, auf das Wesen der realen, der wirklichen Volks-seele hinzudeuten, ohne wenigstens mit einigen Worten auf dasjenige einzugehen, was Geistesforschung allmählich der Menschheit zu sagen haben wird über das Wesen der einzelnen menschlichen Seele. Diese menschliche Seele wird ja von der gegenwärtigen offiziellen Seelenkunde oder Psychologie so an-gesprochen, daß man in ihr, ich möchte sagen, eine mehr oder weniger chaotische, aber sich ordnende Einheit sieht, in wel-cher durcheinanderwirken Wille, Gefühl und Denken.

Nun aber muß Geisteswissenschaft sprechen von dieser menschlichen Seele heute schon in einem solchen Sinne, wie die Physik etwa von der aus dem Lichte sich gebärenden Farbe und von Farbennuancen spricht. Die Physik ist sich dessen be­wußt, daß sie die Wesenheit des Lichtes nur studieren kann, wenn sie dieses Licht aufsucht in seinen Wirkungen, die eben erscheinen

292

als die verschiedenen Farbennuancen des Regen­bogens, des Spektrums. Da haben wir auf der einen Seite die rotgelben Farbennuancen, in der Mirte die grünlichen und auf der anderen Seite die violett-bläulichen Farbennuancen. So wie nun heute schon die Physik zugibt, daß man die Natur des Lichtes ergründet dadurch, daß man die Wirkung des Lichtes durch die Materie in den verschiedenen Farbennuancen studiert, so wird ganz gewiß die Geisteswissenschaft der Zu­kunft zu unterscheiden haben in der menschlichen Gesamt-seele dasjenige, was man nennen könnte die Offenbarung des menschlichen Seelenlichtes, daß sich dieses darlebt in der menschlichen Seele in drei Gliedern, gleichsarn in den drei bestimmten Nuancen, wovon die eine Seite genannt werden muß die Nuance der Empfindungsseele, entsprechend dem rötlich-gelblichen Farbenband des Regenbogens oder des Far­benspektrums; also muß gesprochen werden von der Ver­standes- oder Gemütsseele, entsprechend den mittleren granen Farbennuancen des Regenbogens; und so muß gesprochen werden von der Bewußtseinsseele, entsprechend etwa den bläu­lich-violetten Farbennuancen des Regenbogens. Und nicht etwa um eine willkürliche Einteilung der Seelentätigkeiten ist es dabei zu tun, sondern ebenso um etwas, was mit dem Realen der menschlichen Seele zu tun hat, wie die Farben mit dem Realen des Lichtes zu tun haben. Denn es zeigt die Geistes­wissenschaft, daß dasjenige, was auf der einen Seite des Seelen-spektrums als die Empfindungsseele anerkannt werden muß, vorzugsweise diejenigen Kräfte der Seele offenbart, welche aus den Willens- und Gefühlsimpulsen herausströmen und in einer gewissen Weise triebartig sich vom Menschen aus äußern; zu gleicher Zeit aber zeigt sie, und das ist das Merkwür­findungsnuance der menschlichen Seele, dasjenige enthalten dige, daß gerade in diesem Triebartigen der Seele, in dieser Emp­ist, von dem wir morgen zeigen werden, daß es durch Geburten

293

und Tode als das Ewige der Menschenseele hindurchgeht. Vorzugsweise in diesem Teil der menschlichen Seele ist der ewige Wesenskern der Seele enthalten.

Dann haben wir gleichsazn die mittlere Farbennuance der menschlichen Seele, die Verstandesseele. Jn dieser sind zu glei­chen Teilen ewige und auf das Sinnlich-Wirkliche, das Ver­gängliche gerichtete Seelenäußerungen zu suchen; Triebartiges und solches, welches sich darüber erhebt und hinschaut auf die Sinne, um geistig die Welt der Sinne zu begreifen.

Als Drittes haben wir die Bewußtseinsseele, die dasjenige überschaut, was im gegenwärtigen Stadium der Menschheits­entwickelung den Menschen zu seinem Selbstbewußtsein er­hebt, welches möglich macht, daß der Mensch in seiner Seele so dasteht, daß er sagen kann: In mir wohnt auch innerhalb meiner Leiblichkeit zwischen Geburt und Tod ein Ich. Aber es ist zugleich dasjenige, was in diesen Kräften ist, das, was für die gegenwärtige Menschheitsentwickelung die Empfin­dungen des menschlichen Seelenlebens enthält, welche dem Vergänglichen, der äußeren, augenfälligen Wirklichkeit zuge­wendet sind. Wie das Licht in den verschiedenen Farben-nuancen sich offenbart, so offenbart sich das, was das Einheit­liche der menschlichen Seele ist, in diesen verschiedenen Glie­dern der menschlichen Seele. Und man kann sagen: wie das Licht lebt im Rot, im Grün, im Blau, so lebt das mensch­liche Ich in allen drei Gliedern des menschlichen Seelen­lebens.

Dasjenige nun, was als Volksseele anzusehen ist, es ist für die Geisteswissenschaft eine wirkliche übersinnliche Wesen­heit, nicht bloß das, was eine mehr materialistische Welt­anschauung sieht, eine Gesamtheit von Eigenschaften, die durch Klima, durch Erziehung oder sonstwie einem Volke eigen sind, sondern für die Geisteswissenschaft ist die Volks­seele eine geistige Wesenheit, die aus den übersinnlichen Welten

294

hereinwirkt in das, was Verrichtungen der menschlichen Seele sind.

Und nun kann nach der Art, wie die Volksseele herein-wirkt in das, was Verrichtung der menschlichen Seele ist, erschaut werden der Grundcharakter des Volksseelenlehens durch verschiedene europäische Völker. Das sind Dinge, die die Geisteswissenschaft zu sagen hat, so daß sie dereinst eine Wissenschaft bilden wird, wie die Physik der Farbe innerhalb der Naturwissenschaft eine wirkliche wissenschaftliche Diszi­plin bildet.

Ich bemerke ausdrücklich auch diesesmal, daß dasjenige, was ich zu sagen haben werde über das Zusammenwirken der Volksseele mit den einzelnen Seelengliedern bei den verschie­denen europäischen Nationen, nicht etwa entstanden ist oder herausgefordert ist durch die gegenwärtigen Kriegsereignisse und durch die bestehenden Verhältnisse der europäischen Na­tionen, sondern viele der Zuhörer hier können das bestätigen, daß von mir aus der Geisteswissenschaft heraus schon seit Jahren gesagt wird: Wir haben es zu tun, zum Beispiel wenn wir die mehr südlichen Völker, wenn wir die Volksseele des italienischen Volkes betrachten, mit einem Zusammenwirken dieser Volksseele mit den einzelnen Menschen so, daß das­jenige, was die Volksseele verrichtet, was sie in einem Zwie­gespräch mit der einzelnen Seele zu vollbringen hat, unmittel­bar hineinströmt in die Empfindungsseele. So daß man sagen kann: Insofern der Angehörige des italienischen Volkes ein Italiener ist, spricht er sich aus dem Charakter seines Volkes heraus so aus, daß die Kräfte seines Volksgeistes nachzirtern, nachwirken in seiner Empfindungsseele. Mit dieser Empfin­dungsseele hält der Volksgeist, die Volksseele ihre Zwie­sprache. Selbstverständlich muß immer betont werden, daß sich die einzelne, individuelle Seele erheben und den allgemein-menschlichen Charakter annehmen kann in jeder Nation. Was

295

hier von den Beziehungen der Volksseele zur Nationalität ge­sprochen wird, gilt eben insoweit, als der Einzelne in seinen Lebensäußetungen mir der Volksseele verbunden ist. Und alles dasjenige, was die italienische Volksseele in der einzelnen Empfindungsseele des Italieners erregt, das ist im Grunde ge­nommen die italienische Kultur. Daher das unmittelbar aus den Passionen, aus den Leidenschaften Herauskommende der italienischen Kultur, das man verfolgen kann von den ein­zelnen Volksimpulsen bis hinauf zu dem gewaltigen Gemälde, das Dante von der Welt entworfen hat. Daher wurde auch von Italien her in die Kultur Europas das eingeprägt, was man Humanismus nennt. Der Zusammenhang des ganzen Menschen mit der Empfindungsseele durch das, was man er-fühlt, was man in den Gefühlsimpulsen hat, insofern das zur Geltung kommt, das durchströmt die ganze italienische Kul­tur. Ähnlich und verwandt damit ist die spanische Kultur.

Wenn wir die französische Volkskultur ins Auge fassen, müssen wir sagen: Sie ist das Ergebnis eines unmittelbaren Zusammenwirkens der Volksseele mir dem, was man die Ver­standesseele nennt Daher das Eigentümliche des französischen Volkscharakters, daß er versucht, alles in eine gewisse Syste­matik, wenn es auch die Systematik des Gefühls und der Kunst ist, hineinzubringen. Ein gewisser mathematischer Charakter ist allem eigen, was dieser Kultur zugehört. Man braucht nur sich hinzugeben dem Versfluß einer französischen Dichtung oder dem Gang eines französischen Dramas, überall ist dieses Ergebnis der Beziehungen zwischen der Volksseele und der Verstandesseele durchzufühlen. Wenn man geisteswissenschaft­lich die Sache betrachtet, wird gerade diese mathematische Anlage des französischen Charakters in hohem Maße erklärlich.

Und wiederum, wenn man den englischen Volkscharakter betrachtet, da muß man ins Auge fassen jene Beziehungen, welche sich entwickeln zwischen der Volksseele und der Bewußtseinsseele.

296

Das heißt, der englische Volkscharakter wird vorzugsweise so geformt: Es richtet sich der englische Volks-charakter durch die Bewußtseinsseele hinaus auf die Kämpfe und Kongruenzen der physischen Wirklichkeit, auf das, was das Vergängliche im Leben ist. Daher der empirische Charak­ter, der auf das Äußerliche gerichtete Charakter der englischen Kultur, der sich bis in Shakespeare hinein verfolgen läßt, trotz aller Größe Shakespeares.

Und gehen wir dann in die Mitte Europas, vorzugsweise zu der deutschen Kultur, so müssen wir auf eine Beziehung hinweisen zur Volksseele, eine Beziehung des einzelnen Men­schen zur Volksseele, die sich unmittelbar so ausdrücken läßt, wie ein Zusammenwirken der Volksseele nun nicht wie mit einem einzelnen Seelenglied, sondern unmittelbar mit dem Selbst, mit dem Ich. Daher strömt dasjenige, was die Volks-seele anzuregen hat, an Impulsen einströmen zu lassen hat in den einzelnen Deutschen, unmittelbar in das Ich ein. Und es kann sich dann äußern, indem das Ich darum ringt, sich nun nicht nur nach der einen Seite hin zu offenbaren, sondern nach den verschiedenen Gliedern des Seelenlebens, abwech­selnd oder zusammenhängend. Daher dasjenige, was ich heute vor acht Tagen über die tragenden Kräfte des deutschen Geistes, das unmittelbare Hereinwirken der geistigen Welt in die einzelne menschliche Individualität sagen mußte. Daher das Ringen nicht der menschlichen Passionen, der mensch­lichen Leidenschaften mit irgendeinem Übersinnlichen, nicht das Ringen der Ratio, des Verstandes mit dem Übersinnlichen, nicht das Betätigen der Bewußtseinsseele, sondern immer das unmittelbare Gegenüberstellen des einzelnen Menschen mit seiner Gottheit, des einzelnen Menschen mit den Geistern der übersinnlichen Welt. Das aber ruft das Eigentümliche in der ganzen deutschen Entwickelung hervor, daß der einzelne Deutsche immer wiederum anknüpfen muß an die höchsten

297

Impulse des geistigen Lebens. Wir haben eine deutsche Ent­wickelung, in der wir einzelne große Charaktere auftreten sehen. Immer wieder und wiederum muß der einzelne große Charakter, ohne daß er - radikal gesprochen - an das, was historisch gegeben ist, anknüpfen kann, gleichsam von neuem anfangen, weil er dasjenige, was ihm die Volksseele zu geben hat, in seinem tiefsten Innern aufleuchten lassen muß.

Damit aber hängt eines zusammen: Indem so der Deutsche in die Notwendigkeit versetzt ist, sich eigentlich immer wiederum in unmittelbare, in elementare Beziehung zur Volks­seele zu setzen, muß diese Volksseele daher auch mit ihrer Urgewalt immer wieder auf ihn wirken, und er fühlt sich immer wiederum gedrängt, anzuknüpfen an die reinsten Quel­len des volkstümlichen Lebens; und er fühlt sich gestärkt und erfrischt, wenn er seinen Zusammenhang mit diesem volks­tümlichen Leben erspüren kann.

Das ist es, was sich der Deutsche gedrängt fühlt auszu­sprechen, wenn er sein Verhältnis zur übersinnlichen Welt ins Auge fassen will. Das ist es auch, was den besonderen Zauber des deutschen Weltgedichtes, des #SE064-298

Aber derjenige, der weiß, daß solche Dinge nur dargestellt werden können im Bilde, der wird sich einem solchen Miß­verständnis nicht hingeben können. Nachdem Faust zuerst versucht hat, im Sinnenleben und in der Welt der äußeren Wissenschaft zu verjüngen, was in ihm alt geworden ist, stellt sich in ihm eine Beziehung her zwischen den Urkräften seines seelischen Lebens und der übersinnlichen Welt, und durch diese wird er verjüngt, so daß er alles dasjenige dann voll-führen kann, was uns dargestellt wird im zweiten Teil des «Faust>: daß er eintreten kann in die große Welt, um in ihr zu wirken als tätige Kraft; daß er antreten kann den Gang zu den Müttern, wo er zu entdecken hat die Urkräfte des Seins in jener Sphäre, wovon der Materialist immer sagen wird, sie sei ein Nichts, von dem derjenige, der vom Geiste etwas weiß, immer Fausts Worte gebrauchen muß: «In Deinem Nichts hoff ich das All zu finden.»

Aber wir sehen auch gerade an Faust, wie die verjüngenden Kräfte des geistigen Lebens dadurch in ihm wirken, daß er eben als ein deutscher Geist dargestellt wird. Diese verjün­genden Kräfte wirken so in ihm, daß zuletzt bei seiner Erblin­dung alles abstirbt, was man nennen könnte: seinen Zusam­menhang mit der physisch-sinnlichen Welt. Und indem es finster um ihn wird, leuchtet ihm im Innern helles Licht. Das heißt: Er ist zu den Kräften gekommen, die Goethe wirklich aus dem Wesen der deutschen Volksseele hergeholt hat und die in seinem Innern so auferweckt werden, daß er in der äußeren alrgewordenen Kultur die verjüngende Kraft des wahr­haftigen deutschen Lebens gespürt hat. Diese verjüngenden Kräfte wirken so in der Seele, wie ihr Wirken im Sinne der deutschen Volkheit gesehen wird, daß der Mensch, wie wir das auch darstellen konnten, als wir von der mittelalterlichen Mystik sprachen, in seinem Innern das, was seine Seele denkt und fühlt und tut, unmittelbar ansieht als Gedanken, Gefühl

299

und Wille der göttlich-geistigen Wesenheiten selbst und sich verbunden fühlt mit der geistigen Welt selbst, die in ihm als verjüngende Kraft wirkt, die nicht alt werden läßt das, was seine Kultur ist; die ihn immer hoffen läßt darauf, daß, wenn irgendein Zweig der Kultur gleichsam seelisch trocken gewor­den ist, die verjüngenden Kräfte einen neuen Keim bewirken können. Dieses unmittelbare Beisammensein des Volksgeistes mit der einzelnen Seele des Menschen, das unterscheidet wie­derum die Seele des Mitteleuropäers von der Seele des Ost-europäers.

In einer merkwürdigen Weise stellt sich vor die Geistes­wissenschaft das russische Slawentum hin. Der Russe hat seinen Volksgeist wie ein über sich Waltendes, so daß dieser Volks­geist nicht, wie etwa beim Italiener, unmittelbar in die Emp­findungsseele oder wie beim Franzosen in die Verstandesseele oder wie beim Briten in die Bewußrseinsseele hineinwirkt noch daß er hineinraucht in das Ich; sondern daß die Volks­seele als ein Geistiges über dem Einzelnen schwebt, zu dem aufgeschaut wird wie zu einer Wolke, während unten mit ihren seelischen Kräften die einzelnen wirken, in deren see­lische Kräfte die Volksseele nicht hineingelangt. Daher sehen wir so etwas bei diesen Menschen des Ostens, daß die einzelnen Seelenkräfte, die noch nicht begriffen sind im Entwickelungs-stadium, wie anarchisch durcheinanderwirken. Weil nicht das Volksseelentum ihre innere Harmonie bewirkt, wirken diese drei Seelenkräfte wie anarchisch durcheinander; sie finden nicht die Möglichkeit, in Harmonie zueinander zu stehen. Das ist das Eigentümliche, das den Wesreuropäer befremdend anmutet, wenn er sich gerade zu der Geistkultur des Ostens hinwendet. Dieses Nichtbeisammensein der Volksseele gegen­über dem Beisammensein der Volksseele mir der einzelnen menschlichen Seele, das ist das Unterscheidende des deutschen Menschen vom russischen Menschen. Und dieses Unrerscheidende

300

tritt uns gerade dann entgegen, wenn wir auf die eigent­lichen Kräfte der deutschen Volksseele unser geistiges Augen­merk lenken.

Wie tritt die deutsche Kulturentwickelung in die ganze Weltenentwickelung ein? Nachdem die Germanen ihre Zu­sammenstöße mit den Römern, den südlichen Völkern gehabt hatten, stellt die deutsche Kultur Menschen hin, die von der Kraft des Menschlichen unmittelbar in ihrer hier in der Welt daseienden Wesenheit ergriffen werden. Wir sehen, um nur eine Gestalt zu erwähnen, Siegfried vor uns; wir sehen die anderen Gestalten der Nibelungen vor uns. Sie tragen die Kräfte, durch die sie in der Welt zu wirken berufen sind, unmittelbar in ihrer Seele, und sie fühlen das, was sie da in ihrer Seele haben, als dasjenige, was die Welt überhaupt leitet, regiert und erhält. Dasjenige, was sich im Volksmund, im Geistesleben von diesem beseelten Verhältnis der Volksseele zu der einzelnen Seele erhalten hat, wie es uns schon entgegen­tritt im Anfang der mitteleuropäischen Kultur, das, was sich da erhalten hat, wir können es charakteristisch finden in einer ähulichen Weise, wie uns vertieft die Beziehung zur geistigen Welt in der Mystik entgegentritt. Das, was den Mystiker durchpulst, empfindet er als dasjenige, was auch den ganzen Kosmos durchpulst. Er fühlt sich in dem, was er das Göttliche, das Geistige nennt. Man braucht nur das, was etwa Siegfried oder die anderen Gestalten durchpulst, die Nachklänge des ältesten Zusammenlebens der deutschen Volksseele mit der Einzelseele sind, zu vergleichen mit der Gestalt, welche inner­halb des russischen Volkslebens sich mit großer Popularität erhalten hat, der Gestalt des Ilja Muromez. Da sehen wir, wie er als Mensch das Göttlich-Geistige in der Ferne fühlt, wie er zu ihm aufschaut, wie es ihm etwas ist, was nicht unmittelbar in seiner Seele ist, wofür er sich höchstens hinopfert und als Streiter hingeben kann. Der Mut, die Kraft in der Siegfried-Natur,

301

die Demut, die unmittelbare Hinopferung in der Muromez-Natur.

Und wir können sagen: Dasjenige, was uns so in der ersten Zeit der deutschen Blüte entgegentritt, es ist wie etwas, was dann in den Wirren der späteren Zeit wie verschwindet, frem­den Einflüssen unterliegt. Und dann sehen wir in einer wun­derbaren Weise vom zwölften, besonders vom dreizehnten Jahrhundert ab ein erneutes Sichbemühen des deutschen Gei­stes durch eben die verjüngenden Kräfte der deutschen Volks­seele aufleuchten.

Nehmen wir solche Gestalten wie Walther von der Vogel-weide, Wolfram von Eschenbach. Wir sehen, wie da allerdings Gestalten und dichterische Vorwürfe aus dem Westen genom­men werden, aber wie das, was aus dem Westen genommen wird, nur wie das Gerüst ist und wie eine unmittelbare Ver­bindung mit den elementarsten Kräften der übersirinlichen Welt zum Beispiel Wolfram von Eschenbach dazu anfeuert, aus seinem Parzifal denjenigen zu machen, der durch die eigenen Kräfte seiner Seele seinen Weltenwandel zum Gral durchmacht; indem er in der Außenwelt sucht, will er mit jedem Schritt zugleich seine seelischen Kräfte erweitern und im gleichen Maße in seine Seele eine Vergeistigung herein-bekommen. Eine Vertiefung, und zu gleicher Zeit eine Ver­jüngung des deutschen Wesens tritt uns in dieser Zelt, der Wolfram von Eschenbach angehört, unmittelbar entgegen.

Und dann sehen wir wiederum, wie sich nach und nach fremdländische Einflüsse geltend machen; wie gleichsam das deutsche Wesen altert. Aber wir sehen wirksam durch alles Altern hindurch die verjüngenden Kräfte der deutschen Volks­seele. Und wir sehen dann diese verjüngenden Kräfte der deutschen Volksseele in einer merkwürdigen Weise hervor­treten, nachdem Deutschland von den Feinden ringsuinher im Dreißigjährigen Kriege wie zu einer Kulturwüste gemacht

302

worden ist; wir sehen diese Kräfte aufglimmen, sehen ein Sichherausarbeiten der Volkskräfte, die wiederum eine voll­ständige Verjüngung durchmachen. Woher kommen diese ver­jüngenden Kräfte? Da muß man auf Lessing hinweisen, der in seinen Werken, in dem, was sein geistiges Testament ist, auf das Unsterbliche, das Ewige in der Menschennarur hinge­wiesen hat, - in jenem Testament allerdings, an das die ganz Gescheiten nicht glauben wollen. Aber er hat auch am Ende seines Testamenres darauf aufmerksam gemacht, wie er eine Erkenntnis sucht, die nicht eine Erkenntnis der Gelehrten, der auf der Spitze der Bildung sich Dünkenden ist, sondern die eine Erkenntnis der einfachsten, elementarsten Volkskräfre in der Urzeit war. Eine Verjüngung, eine Erfrischung des Wis­sens meint Lessing, als er sagt: Muß denn jeder einzelne Mensch eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, in ein und demselben Leben durch­laufen haben? Warum könnte jeder einzelne Mensch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen sein? Ist diese Hypothese darum lächerlich, weil sie die älteste ist? Weil der menschliche Verstand, ehe ihn die Sophisterei der Schule zerstreut und geschwächt hatte, sogleich darauf verfiel?

Da haben Sie dieses bewußte Unrertauchen in das Volks­tümliche, um zu einer höchsten Weisheit zu kommen. Der­jenige, der seinen Zusunenhang mit der deutschen Ent­wickelung ins Auge faßt, kann nur sagen: Es ist ein Einströ­men der verjüngenden Kräfte der deutschen Volksseele in Lessing zu sehen.

Und wiederum sehen wir in Herder, in Goethe, wie sie, der eine unterstützt von dem anderen, sich vertiefen in das deutsche Volkslied, in das deutsche Altertum, und wie sie, angeregt durch die verjüngenden Kräfte der deutschen Volksseele, eine Erhöhung der in ihnen befindlichen dichrerischen Anlage und Erkennt­nisaulage gewinnen. Und sehen wir, wie Goethe seinen «Faust»

303

aus demjenigen herausgeschaffen hat, was mitten im Volk ent­standen ist, - die Faustfig'tr, die er ja zunächst nur durch das Puppenspiel gekannt hat, das heißt durch dasjenige, was inner­halb des Volkes lebte. Eine Verjüngung ihres Lebens erfuhren Goethe und Herder durch ihr Eindringen in die Impulse der Volksseele. Es war Lessing, der auch das Fausrproblem in die Zeit hineinstellte, der darauf aufmerksam machte, daß das, was an Dramatik in seiner Zeit elementar vorhanden war - solche Gestalten, wie sie in alten Stücken im Volke lebten - wieder­um auf die Bühne gebracht werden müßte. Und er gab eine Szene, die sich an eine alte Volkstradition anlehnt, die sich an-lehnt an den Verkehr mit der geistigen Welt.

Und stellen wir vor unser Auge die Strömung der Roman­tiker, die durch die Vertiefung in deutsches Volkstum, in die Mystik eine Verbindung mir dem Geiste anstreben; wir sehen, wie zum Beispiel in Novalis ein tiefer Einbruch auftritt in die Sphäre der geistigen Welt hinein.

Wenn man alle diese Verhältnisse betrachtet, so kann man­ches erklärlich werden, was ja gewiß schon hervorgehoben worden ist, was wie eben etwas durch Beobachtung Erkanntes hingenommen worden ist, was aber nicht in seinem Zusam­menhang durchschaut worden ist. Der außerordentlich geist­volle Karl Hillebrand hat in einer wunderschönen Weise die westlichen Volkscharaktere mit den mittleren zusammengestellt. Das, was er in seiner sehr schönen Abhandlung über abend­ländische Weltanschauung zu sagen hat, findet eine vollstän­dige Bestätigung, aber auch eine Durchleuchtung durch das, was die Geisteswissenschaft zu sagen hat. Hebt doch Hille­brand hervor, daß die Iralier die europäische Bildung gebracht haben, die Spanier den Marhematismus, die Engländer den Empirismus. Und nun denkt er nach: Was ist es denn eigent­lich, was in den allgemeinen geistigen Prozeß der Menschheit der deutsche Geist einzuführen hat? Und er kommt wirklich

304

in seiner Antwort zu einer ausgezeichneten, präzisen Charak­terisierung desjenigen, was der deutsche Geist der Menschheit zu bringen hat: Man muß wirklich sagen: Es ist begreiflich, wie der deutsche Geist in seinem Ringen nach einem inneren elemen­taren, unmittelbaren Zusammenhang mit der Volksseele so unendlich schwer verstanden werden kann. Das, was ihn charakterisiert, was in seinem eigenen Wesen aber auch ist, und das, was innerhalb seines Wesens besteht, das ist für ihn etwas, was mit dem Geiste organisch zusammenhängt, was er unmittelbar in dem objektiven Zusammenhang mit seiner Seele erleben muß, was zum Beispiel von demjenigen Geiste, der in seinem Seelenleben die Volksseele nur mit der Bewußtseins-seele erfaßt, so schwierig zu begreifen ist. Herman Grimm, der so gründlich und schön in dem Weben der deutschen Volksseele darin stand, sagt ein schönes Wort über die ja in gewisser Beziehung ausgezeichnete Biographie Goethes von dem Engländer Lewes: Wenn man die Biographie liest, dann muß man, wenn man als Deutscher unmittelbar miterlebend Goethes Wesen erfühlt, sagen: Ja, dieser Mr. Lewes, der schreibt über einen Menschen, der im August 1749 in Frankfurt geboren

305

ist, der eine solche Jugend erlebt hat, daß sie einen erin­nert an Goethes Jugend; ein Mensch, dem Goethes Lebens-ereignisse angedichtet werden, dem Goethes Werke zugeschrie-ben werden, der im März 1832 stirbt, von dem aber das nicht zu bemerken ist, was der deutsche Betrachter gerade bei seinem Goethe erfühlt und zu erweisen strebt.

Und es ist ja schließlich sehr begreiflich, daß gerade das Intimste deutscher Weltauffassung, das Erfassen des Organisch-Lebendigen, gerade dem Westvolke unwahrscheinlich dünkt. Und so konnte es kommen, daß in einem grotesken Mißver­ständnis der französische Philosoph Bergson um die Weih­nachtszeit einen Vortrag halten konnte, in dem er davon spricht, daß dem deutschen Wesen gerade das lebendige Er-greifen des Organisch-Lebendigen in der Gegenwart abginge, daß das ganze deutsche Wesen ein Mechanismus geworden sei.

Man hat das Gefühl, daß dieser französische Philosoph Bergson, der gewiß manche Tiefen in seinem Wesen hat, was er gerade dem deutschen Idealismus verdankt - Schelling -, was er dann wiedergibt in seiner Art, eben ohne Vertiefung in das deutsche Wesen, - man kann es merkwürdig finden, daß dieser Philosoph das deutsche Wesen als mechanistisch an-sieht, weil er meint, das alte idealistische Leben sei geschwun­den. Er beurteilt das deutsche Volk danach, daß jetzt seinem Volke deutsche Kanonen gegenüberstehen. Das ist geradeso, als wenn Bergson erwartet hätte, daß den Franzosen ent­gegengehen statt der Flinten und Kanonen Deutsche, die ihnen Goethe oder Schillersche Gedichte entgegenrezitieren. Da sie das nicht tun, merken die Leute, auch die Philosophen nichts von dem deutschen Geist, sondern sie sehen nur den deutschen Mechanismus, der ihnen entgegensteht in Flinten und Kanonen.

Aber auch in mancher anderen Beziehung ist gerade das, was das Intimste des deutschen Geistes ist, schwierig zu verstehen für diejenigen, welche sich nicht einlassen wollen auf die

306

innerste, intimste Eigentümlichkeit, wie im deutschen Geistes-leben Volksseelentum und Einzelmensch zusammenwirken. Weil Inir das doch recht charakteristisch erscheint, möchte ich drei Sätze mitteilen, die gewissermaßen herausgeboren sind aus den tiefsten, intimsten Eigentümlichkeiten der deutschen Entwickelung; diese Sätze sind so geformt, als ob der Deutsche darin das Wesen seiner Seele, so wie er es seinem Volksgeist abgelauscht hat, ausdrücken wollte.

Der erste Satz: «In dem Gemüte lebt das Fünklein, in dem sich in der Menschenseele die Weltseele offenbart.» Diesen Satz hat Eckhart ausgesprochen, der deutsche Mystiker. Man darf wohl sagen, daß er so recht aus dem Wesen des Zusam­menwirkens der Volksseele mit der einzelnen Seele heraus gesprochen ist. Nun versuche man einmal, diesen Satz in irgendeine westeuropäische Sprache so zu übersetzen, daß er wirklich übersetzt ist. Man wird es nicht können, weil aus einer anderen Sprache heraus der Volksgeist das nicht hergibt, was die Übersetzung dieses Satzes wäre, was so richtig im Sinne der deutschen Mystik den Inhalt des Satzes zum Aus­druck bringt.

Der zweite Satz: «Der Deutsche will nicht im abgeschlosse­nen Sein verharren, er will immer werden. » Der Deutsche be­trachtet also sein Volkstum als etwas, was er als ein Ideal an­sieht, dem man nachstrebt. Fichte sagt: Man ist Italier, man ist Franzose, aber man wird Deutscher, indem man sein Deutschtum in sich wirksam und intensiv verspürt; so wie Faust dasjenige verspürt, wonach er «immer strebend sich bemüht». «Der Deutsche wird, er will nicht im abgeschlosse­nen Sein verharren.» Man versuche wieder, das zu übersetzen, so daß es diesen intimen Sinn wiedergibt. Man wird sehen, daß man es nicht kann.

Der dritte Satz; es ist ein Satz, wedurch Hegel etwas hat ausdrücken können, was ihm als Verbindung des Übersinnlichen

307

mit der einzelnen Menschenseele erscheint. Hegel sagt, in dem Übergang vom Sein ins Nichtsein, vom Nichtsein ins Sein liegt das lebendige Werden, in dem auch Fichte das Wesen des Menschen im Ich ergriffen hat. Nicht im starren Sein, sondern in dem, was sich immer erschafft, was immer vom Nichtsein in sich hat, vom Sein in Nichtsein immer schöpferisch übergeht. So ist dieser dritte Satz ein eminent deutscher Satz: «Sein und Nichtsein vereinigen sich zu höherer Einheit im Werden.» Versuchen Sie, auch diesen Satz zu über­setzen in eine westeuropäische Sprache, man wird es nicht können.

Dasjenige, was in dem angedeuteten Sinne deutsches Wesen ist, das wird ja dem osteuropäischen, dem russischen Menschen besonders schwierig zu verstehen. Und richtig muß es sein, gerade das Wesen des russischen Menschen in unserer Gegen­wart ins Auge zu fassen. Denn gerade das, was uns in den un­endlichen Schmähungen von allen Seiten, auch vom Osten, ent­gegentönt, es enthält den barsten Unverstand über das deutsche Wesen. So ist es schon seit Jahrzehnten vorbereitet worden im osteuropäischen Wesen, eine &heidewand, eine Kluft gegen­über dem mitteleuropäischen Wesen aufzurichten.

Gewiß, man findet im europäischen Westen, daß gerade gesucht wird, in strenge Logik zu bannen dasjenige, was der Deutsche sucht auf mannigfaltigen Wegen, auch auf mannig­faltigen Hin- und Herwegen, weil er immer in lebendiger Ein­heit mit dem Übersinnlichen verharren muß, wenn er im wahrsten Sinne des Wortes Deutscher ist. Aber diese Logik ist doch wiederum eine sonderbare Logik. Und sie tritt uns beson­ders jetzt entgegen, wo aus so sonderbarer Logik heraus immer wiederum, trotz allem, was sich zugetragen hat, gesagt wird:

Wer hat den Krieg gewollt? und dann auf das Sonderbare hin-gedeutet wird, als ob die mitteleuropäische Bevölkerung diesen Krieg gewollt habe. Diese logischen Gründe stehen auf derselben

308

logischen Höhe wie etwa der Satz: Ihr Deutsche habt die Schuld, daß die gegenwärtigen Kriege überhaupt geführt werden können, denn ihr habt das Pulver erfunden. Ungefähr so sind die Gründe auch, die aus den unmittelbaren Ereignis­sen der Gegenwart uns entgegentönen. Man kann uns ja sogar die Schuld geben, daß uns der Zeitungskrieg entgegengehalten wird, denn die Deutschen haben ja auch die Buchdruckerkunst erfunden. Wäre das nicht in Mitteleuropa geschehen, so könn­ren die Schmähungen und Beschimpfungen des Westens uns jetzt nicht ereilen.

Es muß mancherlei hervorgehoben werden an Strömungen, die in ihrem ganzen Zusammenhang betrachter alles das zu­sammensetzen, was uns wie eine geistige Atmosphäre aus dem Osten herüberkommt. Da sehen wir, wie nach der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts etwas in Rußland herauf-kommt, was man das Slawophilenturn nennt. Wenn man dieses Slawophilentum, so, wie es nun geworden ist, ins Auge faßt, hat man etwa die Möglichkeit, drei Gesichtspunkte in dem heutigen Pansiawismus zu erkennen. Das erste, das radikal her­aufgekommen ist, das ist, daß der Slawophilismus der Ansicht ist: Die westliche Kultur ist faul, sie ist zum Untergang reif, und die russische Kultur muß die europäische Kultur retten. Das ist das erste. Das zweite ist: Da im Westen herrscht der Individualismus. Das ist nicht ganz unrichtig, wenn man es richtig versteht, denn man kann jenes Zusammenleben der Einzelseele mit der Volksseele einen Individualismus nennen; der Einzelne will sein Göttlich-Geistiges unmittelbar mit den eigenen Seeler:kräften erleben. Dieser Individualismus wird aber von dem Slawophilentum für etwas Schädliches gehalten.

Und als ein drittes wird angeführt: Daß der westeuropäische Mensch und der mitteleuropäische Mensch seine religiösen Gefühle aus dem Enthusiasmus seiner Seele heraus darlebt, nicht aus dem bloßen demütigen Sichhingeben an ein über

309

dem Volke und über dem Einzelnen wie eine Wolke schwe­bendes Geistiges. Daher sagte zum Beispiel Dostojewski etwa:

«Wir Russen müssen die Synthesis bilden; das heißt, wir müs­sen zusammenfassen, wir müssen den Zusammenfluß aller europäischen Kulturen bilden. Denn wie wir alle Sprachen sprechen, alle Zivilisationen verstehen, so verstehen wir auch alles, was in alle Kulturen hineingewirkt hat, und können es in aller Freiheit wiedergeben. Wir verstehen auch das Menschen­leben so, daß der Mensch zu seinem Gotte steht als derjenige, der sich in Demut beugt vor dem, was er als den über dem Einzelnen schwebenden Gott erkennt. Daher lassen wir uns nicht in einer Rechtsordnung fassen; das widerspricht dem, was der Einzelne unmittelbar in seiner kindhaften Demut dar-lebt. Als drittes führt Dostojewski die orthodoxe Religion an, von der er sagt, sie sei niemals aufgetreten als eine streitende Kirche wie die westeuropäische.

Dasjenige, was in diesen drei Sätzen des Slawophilentums steckt, das ist im Grunde genommen doch dasjenige, was viele, wenigstens der bedeutenden Geister des Ostens enthu­siasmiert hat, was ihre Seele erfüllt und was dann auch populär geworden ist, was von führenden Persönlichkeiten in das Volk übergegangen ist, und was ungeheuer wirkt. Wir können in diesem Slawophllentum verschiedene Phasen unterscheiden. Da ist zum Beispiel Chomjakow. Er faßt die Sache noch in einem geistigen Wissen an. Der durchaus edle Orest Miller, ein im russischen Volkstum tief darinstehender Mann, wendet sich von den Schattenseiten des Slawophilismus ab und nimmt das auf, was Chomjakow auch betonte: daß das russische Ideal noch nicht in jedem einzelnen Russen lebendig sei. So lesen wir bei diesem Slawophilen: «Es brandmarken unser Vater­land das Joch der Knechtschaft, gottlose Schmeichelei und Kriecherei, ekelerregende Falschheit, seelenlose und schimpf­liche Apathie, schwarze Gesetzlosigkeit in den Gerichten und

310

Schändiichkeiten jeglicher Art.» Oder: «Wir werden die Demo­kraten unter den übrigen Völkern Europas und die Verkünder humanitärer Grundsätze sein, welche der freien und selbstän­digen Entwicklung eines jeden Stammes Vorschub leisten.»

Von solchem Volksideal war auch Orest Miller, der im rus­sischen Volkstum gut bekannt ist, begeistert. Allein, als Chomjakow immer mehr dazu überging, nicht den Gott dro­ben zu suchen, sondern das russische Volk zu vergöttlichen, da wagte Orest Miller doch einzelne Einwendungen. Die Folge davon war, daß er entlassen wurde. Aber wir sehen, wie das­jenige, was da im Osten seit langer Zeit glimmt, selbst im Westen geistert und ganz aus dem russischen Charakter heraus Gestalt annimmt.

So sehen wir, wie es der vielleicht hervorragendste Russe, Solowjew, aufnimmt in seiner Art, aber idealisiert, man möchte sagen spiritualisiert, ins Geistige erhoben, wie er anknüpft an den Slawophilismus. Aber nicht so, wie etwa ein Deutscher sagen würde: Wenn die Kraft wirken soll, die in der Volks­seele lebt, muß sie den einzelnen Menschen ergreifen, muß sie durch die Seelenkräfte des Ich wirken; der einzelne Mensch muß der Darleber sein desjenigen, was die Volksseele der Welt zu sagen hat. So steht Solowjew nicht zu den Kräften der Volks­seele, sondern er steht so da, daß er auch hinaufweist auf jenes wolkenartige Geistgebilde, welches über dem Einzelnen steht in einer geistigen Höhe, in einer geistigen Ferne. Und dann sagt er sich: Dieses Göttlich-Geistige wird auf die Volksseele wirken. Dieses Göttlich-Geistige hat sich vorgenommen, eine gewisse Mission durch das russische Volk auszuführen. Und es kommt gar nicht in Betracht, wie das russische Volk ist. Wie es auch immer sei, das, was zu geschehen hat, wird durch ein Wunder geschehen. Sündhaft oder nicht sündhaft, lasterhaft oder nicht lasterhaft, töricht oder gescheit, - das kann nichts dazu beitragen; sondern dasjenige, was da wirkt, es wirkt durch

311

ein kosmisches Wunder, einfach durch die Menschen, wie sie auch sind. Das sind die eigenen Worte Solowjews:

«Es kann also jene Kraft, welche der Geschichte der Mensch­heit einen neuen, einen vollkommenen Inhalt verleihen wird, nur eine Offenbarung jener höheren, göttlichen Welt sein; das Volk aber, in dem sich jene Kraft offenbaren wird, muß zum Vermittler zwischen dem Menschengeschlecht und der über­menschlichen Wirklichkeit werden, zum freien, selbstbewuß­ten Werkzeug der letzteren.»

Das Menschengeschlecht, unter dem er sein Volk versteht, soll das Werkzeug werden für das göttliche Wunder, welches geschehen wird, ohne daß die Volksseele in die einzelnen Seelen die Kräfte hineinströmen läßt für das, was in der Entwickelung der Menschheit durch das russische Volk ausgeführt wird.

Wenn wir sehen, daß eine der bedeutendsten, der besten Sehernaturen weit entfernt ist gerade von dem, was die Charak­teristik des deutschen Wesens ausmacht, so begreifen wir es, daß ein solcher Mann wie Boris Tschitscherin, der im Jahre 1904 gestorben ist, wenig durchdringen konnte, als er sich auf die eigentümliche Basis des deutschen Denkens stellen wollte, als er an Hegel anknüpfen wollte. Boris Tschitscherin versucht in seinem großen Werke «Wissenschaft und Religion» vor allen Dingen den Gedanken durchzuführen, wie die menschliche Seele in dem, was sie in sich an Ideen, an Gedanken ent­wickeln kann, allmählich den Weg hinauffindet zu einem Punkte, wo dann das große göttliche Walten mystisch ergrif­fen werden kann. Er versucht, diesen Gedanken durchzufüh­ren in der Rechtswissenschaft, in der Staatswissenschaft. Aber er fiel in Ungnade und wurde als Bürgermeister von Moskau nach dem Regierungsantritt Alexander III. entlassen, als er eine Rede hielt, die ganz durchdrungen war von der Gesin­nung, daß wirklich dasjenige, was der Mensch in seiner Seele ergreifen kann, in das russische Wesen übergehen könne.

312

Immer mehr und mehr sehen wir, wie sich des Slawophilen­tums dasjenige bemächtigt, wovon gerade diejenigen, die es ein wenig durchschauen konnten, sagen mußten: Es handelt sich da nicht mehr uln irgendein Ideal, um ein Ideelles, son­dern um etwas ganz anderes. Es handelt sich darum, geltend zu machen nicht irgendein Übersinnliches, nicht irgendein Ideel­les, sondern einfach urn die unmittelbar physischen Kräfte einer Rasse. Und es ist da, wie ich glaube, gut, wenn man als Westeuropäer nicht gerade einen Kronzeugen wählt, der West-europäer ist, sondern wenn man einen wählt, der es wissen konnte. Und einer, der es wissen konnte, wie wir gleich sehen werden, der sagt über das Slawophilentum, nachdem es durch den Kopf des Katkow und Aksak:ow und durch andere Köpfe durchgegangen war: «Es war das Siawophilentum eine Ware des Jahrmarktshandels geworden, der mit wildem, tierischem Geschrei alle schmutzigen Straßen. Plätze und Winkelgan des russischen Lebens anfüllt.»

Derjenige aber, der dies gesagt hat und der auch noch ein anderes bezeichnendes Wort über dasjenige gesagt hat, was das Siawophilentum allmählich geworden war, der konnte es wis­sen! Das andere Wort, das er sagte, indem er sich richtete gegen Danilewski, es lautete: «Dem russischen Schriftsteller versagen die Kräfte, sich über die düstere Gegenwart zu er­heben; er begnügt sich mit der Aufgabe, die unter der Mensch­heit herrschenden Widersprüche in ein abgerundetes System zusammenzufassen und aus diesem System einige praktische Postulate für den eigenen Bruchteil der Menschen zu ziehen, dem er selbst angehört.»

Alles das kann man aber erblicken als eine Folge dessen, was gesagt worden ist: daß die einzelnen Seelenkräfte chao­tisch, unharmonisch wirken in dem Augenblick, wo das über dem Einzelnen schwebende göttliche Leben eben nicht ergrif­fen wird, nicht ergriffen wird in der Seele des Einzelnen selbst.

313

Und das wird gerade durch diesen kundigen Geist in diesen Worten besonders hervorgehoben. Und wer ist der kundige Geist? Es ist derselbe, über den ein bekannter Russe die fol­genden Worte spricht:

«Wer auch nur einmal in seinem Leben Gelegenheit gehabt hatte, mit Solowjew zusammenzutreffen, konnte diesen außer­ordentlichen Menschen, der mit gewöhnlichen Sterblichen keine Ähnlichkeit hatte, nie vergessen. Wer ihn ansah, beson­ders aber in seine großen, unergründlichen Augen blickte, war tief ergriffen: aus diesen Augen strahlten in wunderbarem Gemisch Ohnmacht und Kraft, physische Ratlosigkeit und gei­stige Tiefe. Er war so kurzsichtig, daß er nicht sehen konnte, was alle sahen. Er blinzelte mit den Augen und zog die star­ken Brauen zusammen, um Gegenstände, die in seiner un-mittelbaren Nähe waren, zu unterscheiden. Richtete er aber seine Augen in die Ferne, so schien er die den Sinnen zugäng­liche Hülle der Dinge zu durchbohren und etwas Erdentrücktes zu sehen, ein Etwas, das für alle verborgen war. Aus seinen Augen leuchteten die Strahlen der Seele und blickten gerade­aus ins Herz. Es war dies der Ausdruck eines Menschen, dem die Außenseite der Wirklichkeit an und für sich gleichgültig ist und der in unmittelbarem Verkehr mit einer anderen Welt lebt.»

Der Mann, von dem der russische Fürst Trubetrkoi diese Worte sagt, sprach so, wie ich es angeführt habe, seinerseits wiederum von dem Slawophilismus, von dem er selbst auch ausgegangen ist, wenn er ihn auch idealisiert hat; denn es ist Solowjew selbst, der so über den Slawophilismus sich ausspricht. Das ist das Wichtige, daß wir so von berufenem Munde cha­rakterisiert hören, was sich im Osten vorbereitet hat und was uns jetzt aus dem Osten entgegenkommt.

Aber, sehen Sie, selbst in die Höhe des Solowjewschen Den­kens hinauf ist noch etwas enthalten von dem Anarchischen der Seelenkräfte des östlichen Menschen. Denn während sich

314

Selowjew noch im Jahre 1880 in seiner «Kritik der abstrakten Grundsätze» so geäußert hat, wie ich es angeführt habe, kommt er dann am Ende der achtziger Jahre dazu, einzusehen, wie weit dasjenige, was Wirklichkeit ist, was als Wirklichkeit ihn umgibt, entfernt ist von dem, was er erträumt hat. Da tritt bei ihm die Forderung auf, daß die Politik moralisch werde. Solowjew sagt in «Moral und Politik» folgendes: «Wir dürfen uns nicht mit Willen betören: die Politik des egoistischen Interesses, die in internationellen und sozialen Verhältnissen den Haß in ihrem Gefolge bat, wandelt sich in die Politik der Anthropophagie um (er meint Menschenfresserei), die zum Schluß alle Moral, selbst im Privat- und Familienleben ver­nichtet. Denn der Mensch ist ein logisches Wesen und kann nicht lange in der ungeheuerlichen Entzweiung zwischen den Grundsätzen der privaten und der politischen Wirksamkeit verharren. Man predigt uns von unserer besonderen Erhaben­heit und Sendung, doch denken wir daran, daß die daraus fol­genden und einander gegenseitig ausschließenden Ansprüche am Ende im Namen der kulturellen Erhabenheit einen Kampf auf Leben und Tod und das Recht der Gewalt hervorrufen müssen.»

So Solowjew selbst, der nach und nach von der Wirklichkeit hinwegblicken muß, um noch in Frieden, man möchte sagen in Seelenfrieden zusammenleben zu können mit dem, was er als ein ideales, ein spirituelles Slawophilentum erträumt hat:

«Das russische Volk ist für mich nicht nur eine ethnogra­phische Einheit mit ihren angeborenen Eigenschaften und ma­teriellen Interessen, sondern ein Volk, welches fühlt, daß über diesen Eigenschaften und Interessen die Sache Gottes schwebt; ein Volk, das bereit ist, sich dieser Frage aufzuopfern; ein theo­kratisches Volk aus Beruf und Pflicht.»

Aber Solowjew sieht auch ein, daß dasjenige, was er so erträumt, was er so sieht, noch nicht eine Pflicht, nicht einmal

315

ein Bewußtsein in seinem Volke geworden ist. Und man darf gerade seine Worte gebrauchen, wenn man die Frage beant­worten will, die er aufwirft: warum Europa nicht lieben kann, was im Osten in Wirklichkeit vorgeht. Solowjew selbst wirft die Frage auf: Warum liebt uns Europa nicht? Und er gibt die Antwort. Sie ist zugleich die Antwort für vieles, das in unse­rer unmittelbaren Gegenwart uns wie die geistige Aura vom Osten herüberkommt. Er stellt diese Frage: Warum liebt uns Europa nicht? Und er antwortet darauf im Jahre 1888: «Europa schaut auf uns mit Abscheu, denn es erblickt das Entschei­dende nicht in der Macht und Sendung Rußlands, sondern in seiner Sünde.» So Solowjew. Aber es war auch wirklich Hartes an diese Seele herangeflossen, so daß sie zu einer solchen Über­zeugung hat kommen können. Besonders hart war es ihm ge­wesen, als er hat sehen müssen, wozu der Slawophilismus all­mählich geworden war, von dem er ja selbst sagen mußte, daß er zur Jahrmarktsware geworden sei. Und schließlich findet er es nur konsequent, daß dieser Slawophilismus zuletzt dazu kommen mußte, weil ja das russische Volk, ohne anzuschauen dasjenige, was es selbst erst aus sich machen wollte, Europa unmittelbar mit dem, was es ist, beglücken soll. Solowjew findet es konsequent, daß der Moskauer Universitätsprofessor Jarosch Iwan den Schrecklichen pries als «das vollkommene Muster der Eigenschaften eines russischen Menschen überhaupt und eines Orthodoxen und Zaren insbesondere». Nicht im Spaß, sondern im völligen Ernst wurde das ausgesprochen, und Solowjew findet es konsequent. Denn, so meint er, wenn man das anschaut, was die Slawophilen eigentlich ins Auge fassen, wenn sie vom russischen Menschen sprechen, dann kommt es im Grunde genommen typisch in Iwan dem Schrecklichen zum Vorschein. Nichts anderes hat eigentlich herauskommen kön­nen als letzte Konsequenz, meint Solowjew. Nun stellt er sich aber die Frage: Wie kommt der Slawophilismus zu solch merkwürdigen

316

Gestaltungen? Solowjew sah vor sich, wie die Slawo­philen nach und nach sagten: Der Westen ist verfault, von dem können wir nichts gebrauchen; neues, junges Leben muß über den Westen vom Osten strömen, und dieses neue, junge Leben ist bei uns zu finden. Das alles hat Solowjew gesehen. Aber er ist ja in gewisser Beziehung durchaus ein echt russischer Mensch, solch ein russischer Mensch, daß er schon etwas übrig hatte, mochte man sagen, für diejenigen, die den Mut wenig­stens hatten zu dieser letzten Konsequenz. Von Katkow sagte er: «Er hatte den Mut, die rationale Religion von allem idea­len Schmuck zu entblößen und als Gegenstand der religiösen Verehrung das russische Volk selbst hinzustellen, doch nicht im Rahmen der vermeintlichen Tugenden desselben, sondern im Namen der faktischen Macht, deren Ausdruck der Staat als lebendiges Wort oder als Verkörperung des vergötterten Vol­kes ist.»

Das sagt Solowjew. Aber er fragt sich: Ja, woher nimmt denn eigentlich der Russe, der doch voll von Demut ist, woher nimmt er denn das alles? Das war für Solowjew nun eine Frage. Er wollte untersuchen, wo das eigentlich im Russen steckt, was diejenigen zeigen, die das Aufreizende des Slawophilismus als einen Feuerbrand ins Volk warfen. Und siehe da, er fand eine merkwürdige Antwort. Er untersuchte nämlich die Werke von Danilewski, dem Nachfolger von Katkow und Aksakow. Und er fand, daß die Leute das, was sie an Brandfackeln gegen den Westen ausschleudern und ausgeschleudert haben, in den Ge­dankengestaltungen, in der ganzen Logik zunächst entlehnt hatten von dem französischen Jesuitenzögling Joseph de Maistre. Solowjew konnte nachweisen, daß das ganze Gedanken-gepräge der Slawophilen entlehnt ist demjenigen, der ein west-europäischer Geist ist; jener westeuropäische Geist, der im Anfang des 19. Jahrhunderts die Lehre aufgestellt hat: Die Menschen können nicht durch das, was in ihnen selbst ist, in

317

das Geistige kommen, sondern einzig und allein durch die Autorität, und er meint die päpstliche. Das, was sie verfügt, kann den Menschen den Weg in die geistige Welt führen. Sie brauchen, wenn Sie sich über de Maistre unterrichten wollen, nur den schön geschriebenen Artikel zu lesen, den der Aller­weltskerl Georg Brandes in seinen «Geistesströmungen des neunzehnten Jahrhunderts» geschrieben hat - jener Brandes, der ja allerdings weniger ein Gärtner der Geisteskultur ist, der es nicht liebt, Anpflanzungen zu machen, der es aber versteht, überall die Blüten abzuschneiden und Phantasie-Bukette zu­sammenzustellen, die den Leuten dann sehr geistreich vorkom­men können. Aber wenn man aus diesen Buketten heraus zu einer Vorstellung kommen will, kann man bequem bei Brandes alles bekommen.

So hatte nun Solowjew eine sonderbare Entdeckung gemacht, die für ihn allerdings beleuchtend war. Dasjenige, womit vom Osten her Europa überfallen und überwunden werden soll, das stammt von dem - wie Solowjew sagt - Jesuitenzögling, das ist von dessen Gedanken in die Gedanken der Slawophilen über­gegangen. Und da bleibt denn Solowjew nichts anderes übrig, als zuletzt die bezeichnenden Worte zu sagen: Das war allerdings eine bemerkenswerte Entdeckung. Aber Solowjew ging der Sache weiter nach. Und schließlich ent­deckte er ein merkwürdiges Buch von Bergeret: «Principes de politique.» Und er fand, daß auch dieser rückschrittliche Geist

318

Bergeret mit seinen Gedankenformen bei den russischen Slawophilen wiederkehrt. Und zuletzt entdeckte er noch ein deutsches Buch, das ein sonderbarer Kauz, Heinrich Rückert, 1857 geschrieben hat. Ich glaube nicht, daß sich hier in die­sem Saale ein Mensch befindet, der von diesem Buche etwas weiß. Ich glaube auch nicht, daß in Berlin gegenwärtig jemand, außer den Gelehrten dieses Spezialfaches vielleicht, etwas da­von weiß. Das Buch trägt den Titel: «Lehrbuch der Welt­geschichte in organischer Entwicklung.» Aber Solowjew sagt:

Die russischen Patrioten haben auch aus diesem Buche ab-geschrieben. Jetzt hatte er es beisammen. Jetzt kannte er die Kräfte, die da zusammengeflossen waren, um wirksam zu wer­den, um ins Feld geführt zu werden gegen den Westen. Jetzt wußte er, was selbst so feine Geister wie Orest Miller und andere verführt, versucht hatte. Und Solowjew sprach die

Worte:

«Unsere Patrioten verdammen verschiedene Anschauungen deswegen, weil sie freimaurerisch sind. In diesem Falle ist ihre eigene Anschauung über Rußland und den Patriotismus dop­pelt verdammungswürdig, von unserem und von ihrem Stand­punkte aus, weil sie fremd, unzussisch, sklavisch aus auslän­dischem Boden verpflanzt ist.»

Das war allerdings eine wichtige Enthüllung. Und Solowjew fand nach dieser Enthüllung nicht mehr sehr viele Freunde unter denjenigen, die ihm noch vorher vielfach Freund waren. Aber dieser Solowjew war ja auch wirklich ein merkwürdiger Mensch. Nach seiner ersten Slawophilenzeit, nachdem Alex­ander II. ermordet worden war, gab er dessen Nachfolger in einer flammenden Rede den Rat: sich echt russisch zu erweisen. Dieses «Echt Russische» sah Solowjew darin, daß Alexander III. die Mörder seines Vorgängers selbstverständlich begnadigen müsse; darin müsse sich zunächst der Gedanke des Erhabenen ausdrücken. Und man «benahm sich russisch» auf diese Rede

319

hin. Man jagte nämlich Solowjew davon, man jagte ihn aus sei­ner Stellung fort. Er hatte schon einmal das Geschick, zu sehen, daß manches von dem, was er in seinem Idealismus geschaut hat, in der Wirklichkeit anders war, als er es sich erträumt hatte.

Nun, wenn man einen solchen einwandfreien Kronzeugen heranzieht, wie dieser große Philosoph ist, dann kann man schon sehen, wie nach und nach durch Jahrzehnte hindurch eine an Größenwahn grenzende Strömung im Osten entstan­den ist, die zuletzt notwendigerweise zur Brandstiftung füh­ren mußte.

Ich habe diesen Weg gewählt, Solowjew als Charakterisierer des russischen Wesens und der russischen Volksseele im Ge­gensatz zur deutschen Volksseele aufzurufen, weil uns ja be­sonders von Rußland her vorgeworfen wird, daß wir das russi­sche Wesen nicht verstehen können. - Nun, ich denke, wir können uns dadurch helfen, daß wir es nicht selbst charakteri­sieren, sondern daß wir es charakterisieren lassen von jemand, der so darunter gelebt hat, daß er bis zum Slawophilismus, allerdings einem idealen Slawophilismus damit verwoben war; daß wir uns berufen auf einen solchen, auf den wir uns ja berufen dürfen.

Und wenn man dieses nun zu dem Verschiedenen dazu-nimmt, was über das Verhältnis der Deutschen, der Mittel-europäer zur Umwelt gesagt worden ist, dann wird manches begreiflich, was geschehen ist, begreiflich aus seinen geistigen Untergründen heraus. In Unsinn und Nichtigkeit fällt dasjenige zusammen, was vielfach gegenüber Deutschland in unseren Zeiten gesagt wird.

Dasjenige, was der Deutsche als sein Wesen zu fühlen hat, muss einem in dieser Zeit ganz besonders nahetreten; nahe­treten schon aus dem Grunde, weil aus einer solchen Betrach­tung das hervorgehen kann, was von anderen Gesichtspunkten

320

her auch ausgesprochen worden ist: die große Hoffnung auf die Zukunft des deutschen Wirkens und des deutschen Wesens; dieses deutschen Wesens, das, auch wenn man sein Verhältnis zur deutschen Volksseele ins Auge faßt, sich herausstellt als hinarbeitend nach geistiger Vertiefung der ganzen Kultur-entwickelung der Menschheit.

Möchten doch diejenigen, welche so leichthin vom Ausland her über deutsches Wesen sprechen, das Ringen derjenigen Seelen, die vom deutschen Volksgeist wirklich ergriffen sind, im einzelnen beobachten. Dann würden sie nicht, wie ich das letztemal angeführt habe, so etwas, wie zum Beispiel Romain Rolland seinen «Schultze» zeichnet, sondern sie würden etwas anderes erblicken; denn an vielen Stellen kann anderes erblickt werden, wie ich es nur an einigen Beispielen angeführt habe.

Gerade in diesem Vortrag habe ich darauf hinweisen wollen, wie der deutsche Idealismus selbst noch ein Keim ist, wie er gerade dadurch, daß die deutsche Volksseele mit den einzelnen Seelen in Zusammenhang steht, sich zur Blüte, zur Frucht, zum völligen Ergreifen der geistigen Welt entwickeln muß, die er­faßt wird in ihrer wahrhaften, konkreten Lebendigkeit.

Da schwebt mir vor eine Persönlichkeit, ein Mann, der als Gymnasialdirektor in Bromberg 1867 gestorben ist. Das ist ein anderer charakteristischer Geist für das deutsche Geistes­leben als dieser «Schnitze» bei Romain Rolland. Es ist Johann Heinrich Deinhardt. Seine Abhandlungen sind allerdings aus deutschem Denken heraus geschrieben. Eine merkwürdige Stelle finden wir darin. Seine Abhandlungen wurden von seinem Freunde Schmidt herausgegeben, darunter eine Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele, die in einfacher Art an seinen Freund geschrieben war, der eben dann sein Heraus­geber war. Er will darin zeigen, wie sich ihm ergeben hat, daß der Mensch, schon während er hier im Leben weilt, an einem unsterblichen Leibe arbeitet; daß alles das, was er vollbringt,

321

zum Organisieren eines unsterblichen Leibes dient, der durch die Pforte des Todes geht. - So sehen wir auf dem Wege der Geisteswissenschaft diesen einfachen Schullehrer.

Und so könnte vieles, vieles angeführt werden. An solchen Stellen erfüllt sich das Zusammenwirken der deutschen Volks­seele mit dem, was der einzelne erstrebt. In solchen Dingen enthüllt sich, wie diese deutsche Volksseele die einzelnen Seelen mit den Impulsen versieht, nach den allerersten Quellen der Erkenntnis hinzuarbeiten und das einzelne Seelenleben des Menschen an das Ewige im Seelenleben anzuknüpfen. Doch darüber wollen wir morgen weitersprechen.

Heute aber möchte ich zusammenfassen dasjenige, was ich zu sagen hatte über die tragenden Kräfte, die im Deutschtum enthalten sind und die sich gerade in diesem immer erneuerten Anknüpfen an die allerersten Quellen menschlicher Erkenntnis und menschlichen Erlebens zeigen; ich möchte zusammen­fassend die Betrachtung, die ich über die deutsche Volksseele im Verhältnis zu anderen Volksseelen angestellt habe, be­schließen mit den Worten, die ein wenig bekannter österrei­chischer Dichter gesprochen hat, der aus wahrhaftig deutschem Gemüte, möchte man sagen, aus einem Zwiegespräch mit der deutschen Volksseele heraus im Jahre 1881 seine #SE064-322

der Gäste, die da kommen, ist für Fercher von Steinwand der deutsche Geist: jener Geist, wie gesagt, den auch Fercher von Steinwand, der Dichter der

Was aus den Rätseln dieser Erde sprießt,

Was Herzen findet, was die Geister meistert,

Was ewig sprechend aus den Sternen fließt

Und einen untäuschbaren Gott erschließt,

Was scheinbar sich aus Zeit und Welt verloren

Und doch um uns in tausend Strömen schießt:

Das ist dem deutschen Geist urmächtig eingeboren,

Das klar hinauszusagen hat er bewußt geschworen!

323

WAS IST AM MENSCHENWESEN UNSTERBLICH? Nürnberg, 12. März 1915

Wenn es schon zu jeder Zeit der menschlichen Seele und dem menschlichen Gemüte naheliegen muß, zu ihren intim­sten Angelegenheiten gehören muß, die Frage aufzuwerfen, die den Gegenstand der heutigen Betrachtung bilden soll, - in unserer Zeit, wo so viele, viele Menschen im blühenden Alter durch die Pforte des Todes zu gehen haben, muß es aber noch ganz besonders bedeutungsvoll für die Seele sein, die Empfindungen, die Gedanken hinzulenken nach demjenigen, was aan Menschenwesen unsterblich ist. Allerdings, in unserer Zeit stehen einer Betrachtung, wie es die folgende sein wird, Vor­urteil über Vorurteil gegenüber, jene Vorutteile vor allen Din­gen, welche von seiten derjenigen kommen, die da glauben, von ihrem festen Boden, wie sie sagen, der wissenschaftlichen Weltanschauung aus über diese Frage nichts ausmachen zu können, sie entweder so betrachten zu müssen, daß sie die Grenze der menschlichen Erkenntnis übersteigt, oder daß doch alles dasjenige, was man über sie zu sagen hat, im katren Widerspruch stehen müsse zu den Errungenschaften naturwissenschaftlicher Denkweise. Wenn nun irgendein Satz heute abend gesprochen werden müßte, welcher nicht voll bestehen könnte vor der strengsten Kritik natarwissenschaftlicher Weltanschauung, so würde ich diese Betrachtung lieber ungespro­chen lassen. Denn dasjenige, was Naturwissenschaft von ihrem Gesichtspunkte aus über diese Frage zu sagen hat, es muß von dem, der auf dem Standpunkt der geisteswissenschaftlichen

324

Weltanschauung steht, von dem aus hier gesprochen wird, - von ihm muß es im Grunde genommen nicht nur vorweggenom­men sein, sondern es muß, sofern es sich in unserer Zeit nach dem Standpunkt der gegenwärtigen Wissenschaft als berech­tigt erweist, auch durchaus als berechtigt anerkannt werden. Aber diejenigen, welche ihre Einwendungen gegen Darlegun­gen der folgenden Art von einem scheinbar naturwissenschaft­lichen Weltanschauungsstandpunkt aus machen, gehen eben immer davon aus, daß man auch noch in unserer Zeit gegenüber fortgeschrittener Geisteswissenschaft mit den Gedanken und Ideen, mit den Erkenntnissen, noch besser gesagt, mit den Denkgewohnheiten einer Weltanschauung, die ihrem Ende zueilt, auskommen könne. Und das ist für die Menschen der Gegenwart heute noch außerordentlich schwer zu verstehen, daß derjenige, der über solche Fragen geistiger Weltanschau­ung sprechen will, appellieren muß an Erkenntnisse des menschlichen Herzens, der menschlichen Seele, des mensch­lichen Geistes, die hinausgehen über dasjenige, was Naturwis­senschaft hervorzubringen vermag, die gewissermaßen den Boden eines ganz anderen Gebietes der Erkenntnis betreten, die aber neben und über den naturwissenschaftlichen Erkennt­nissen als ebenso wissenschaftlich wie diese voll bestehen kön­nen. Geisteswissenschaftliche Weltanschauung will dasjenige, was sie zu sagen hat, einströmen lassen in den geistigen Ent­wickelungsgang der Menschheit, so wie eingeströmt ist in die­sen Entwickelungsgang vor drei bis vier Jahrhunderten das­jenige, was wir heute naturwissenschaftliche Weltanschauung nennen. Und wie diese naturwissenschaftliche Weltanschau­ung dazumal einem weiten Kreise von Denkgewohnheiten und Vorurteilen widersprach und dennoch den Weg fand zum menschlichen Wahrheitsgefühl, zum menschlichen Wahrheits­sinn, so wird Geisteswissenschaft diesen Weg zum mensch­lichen Wahrheitsgefühl und Wahrheitssinn nehmen, wenn sie

325

auch heute noch in ganz begreiflicher Weise - ausdrücklich sage ich es - Einwendungen über Einwendungen erfahren muß; und wenn so etwas, wie es heute gesagt werden muß, von vielen ganz begreiflicherweise als Träumerei, als Phan­tasterei angesehen werden muß.

Denn dasjenige, was uns über die Frage: Was ist am Men­schenwesen unsterblich? Antwort geben kann, das muß erst tief herausgeholt werden aus verborgenen Untergründen der menschlichen Seele. Eine Forschungsmethode ist notwendig, die auf intimer innerer Seelenarbeit beruht, die tief im Innern der Menschenseele ruht, die zu nichts anderem greift, als was in jeder Menschenseele vorhanden ist, aber was eben im All­tagsleben dieser Menschenseele der Beobachtung, der Aufmerk­samkeit dieser Menschenseele sich entzieht. Dasjenige, was der Mensch durch die Pforte des Todes trägt, was er hinaufträgt in eine geistige Welt, in der er sich befindet, wenn er den Leib abgelegt hat, ist nicht mit Alltagskräften zu begreifen, nicht mit den Erkenntniskräften zu begreifen, die man für den Alltag als Weltbeobachtung hat. Eine intimere innere Arbeit der Seele ist dazu notwendig. Schon zu wiederholten Malen habe ich auch hier in dieser Stadt sprechen dürfen von diesem intimen inneren Wege, dem rein geistig-seelischen Wege, den der Mensch durchzumachen hat, wenn er das Feld der geisti­gen Wesenheiten und geistigen Wirklichkeiten betreten will. Von einem besonderen Gesichtspunkte aus sei dieser Weg der Seele zum Geistigen heute abend wiederum beleuchtet.

Man kann nicht an demjenigen, was vom Menschen vor uns steht im Alltagsleben, erkennen, was von diesem Menschen der geistigen Welt angehört. Ebensowenig kann man dieses erken­nen, wie man dem Wasser ansehen kann, daß der vom Wasser ganz verschiedene Wasserstoff in diesem Wasser enthalten ist. Da muß erst die Chemie kommen und muß durch ihre Labo­ratorium-Methode den Wasserstoff vom Wasser abtrennen;

326

dann erhält man etwas, was aus dem Wasser herauskommen kann und was ganz andere Eigenschaften zeigt als das Wasser. Während das Wasser flüssig ist, ist der Wasserstoff gasförmig; während das Wasser Feuer löscht, brennt der Wasserstoff. Aber niemand, der nur Wasser vor sich hat, kann wissen, wel­ches die Eigenschaften, die Eigentümlichkeiten, die Wesenheit des Wasserstoffes sind. Da muß erst die Chemie kommen und den Wasserstoff von dem Wasser abtrennen. Ebensowenig kann man an dem Menschen, der im Alltag vor uns steht, erkennen, was in ihm lebt für die Ewigkeit, für die Unsterb­lichkeit. Die geisteswissenschaftliche Methode muß, man möchte sagen, wie eine geistige Chemie kommen und das­jenige, was nicht erscheinen kann im Zusammenhang mit dem Leibe, so von dem Leibe abtrennen. Und so phantastisch und träumerisch, ja vielleicht so närrisch es heute noch manchem erscheinen mag, es wird eine Wissenschaft der Zukunft geben, welche sich klar darüber sein wird, daß es ebenso geistig-seelische Methoden gibt, welche das Geistig-Seelische des Men­schen, das Unsterbliche des Menschen herausholen aus der Verbindung mit dem Leibe, so daß der Mensch wirklich wissen kann: #SE064-327

Die erste Methode nennt man, ich möchte sagen, mit einem technischen Ausdruck der Geisteswissenschaft: die Konzentra­tion des Gedankenlebens, des Empfindungslebens, des Lebens der Willensimpulse. Wenn man sie so schildert, so scheint diese Konzentration des Gedankeniebens, des Empfindungs­lebens, des Lebens der Willensimpulse leicht; doch möchte man mit Goethes Faust sagen: Und was ich zu schildern habe, betrifft erschürternde, innerlich ge­waltig wirkende Erlebnisse der Seele, - Erlebnisse der Seele, vor denen wir stehen im Erkennen mit einer viel größeren inneren Tragik, möchte ich sagen, als man vor dem äußern physischen Tode jemals stehen kann. Daher haben diejenigen, die der Geisteswissenschaft zu allen Zeiten nahegestanden sind, stets betont, daß der Weg in die geistigen Welten hinein, der Weg in die geistige Erkenntnis, an die Pforte des Todes heran-führt. Einfach - aber dieses Einfache muß in aller Intensität, mit aller Energie angefaßt werden - einfach erscheint das­jenige, was man zu tun hat, um die Seele loszulösen von dem Erleben mit dem Leibe zusammen. Einen Gedanken, eine Emp­findung oder eine Reihe von Gedanken, eine Reihe von Emp­findungen muß man mit der Seele zunächst voll umfassen, sie sich ganz gegenwärtig machen in der Seele, dann sie in den Mittelpunkt des Bewußtseins stellen, so daß nichts anderes als diese willkürlich durch unsere Seele in den Mittelpunkt unseres Bewußtseins gestellten Empfindungen und Gedanken in diesem Bewußtsein stehen; daß gewissermassen um uns herum die ganze Welt vergessen und versunken ist mit allen Sinnes-eindrücken, mit allen anderen Empfindungen und Gedanken; und nur dasjenige, was wir durch unseren freien Willen in den Mittelpunkt unseres Bewußtseins stellen, das muß mit der Seele und ihren Kräften ganz verschmelzen, die Seele muß sich ganz eins wissen mit dem, was sie also in den Mittelpunkt des Bewußtseins rückt.

328

Dies ist eine Aufgabe für lange, lange Zeiten. Je nachdem die Anlage des Menschen dazu mehr oder weniger geeignet ist, hat er Wochen, Monate, Jahre damit zu tun; immer wieder und wieder, wenn er auch nur Minuten während des Tages darauf zu verwenden hat, - lange hat er damit zu tun, um in der Seele jene innere Fähigkeit hervorzurufen, die imstande ist, abzuweisen alles übrige Denken und Empfinden, alles übrige Fühlen und Wollen auch und in den Mittelpunkt des Bewußtseins nur eine bestimmte Art von Gedanken zu rücken. Es kommt nicht so sehr darauf an, welches der Inhalt der Ge­danken ist, sondern darauf kommt es an, daß sie durch eigene freie Willkür eine überschaubare Empfindung oder einen über­schaubaren Gedanken so in den Mittelpunkt unseres Bewußt­seins stellen, daß wir eigentlich nur in dem, was wir uns also denken oder empfinden, ganz darinnen leben, daß wir uns selbst vergessen dadurch, daß wir uns ganz eins damit wissen. Auf diese Weise konzentrieren wir alle Seelenkräfte nur auf diese einzige Empfindung, diesen einzigen Gedanken. Zunächst muß der Mensch sich allerdings klar sein, daß dies, wie gesagt, leicht scheint; doch ist das Leichte schwer. Es kommt auf ver­schiedenerlei an, wenn man also Konzentration des Gedankens übt. Vor allen Dingen kommt es darauf an, daß wir einen sol­chen Gedanken in den Mittelpunkt unseres Bewußtseins rücken, den wir voll überschauen können. Bei den meisten Gedanken, die wir haben, spielen allerlei innere Sympathien und Anti­pathien, allerlei Empfindungen, Erinnerungsvorstellungen mit; die färben uns den Gedanken, so daß wir zumeist gar nicht wis­sen, was alles in unserer Seele wirkt, wenn wir im Alltagsleben einen Gedanken haben und uns darauf konzentrieren. Der­jenige, der heute auf dem Boden der Psychiatrie oder Psycho­logie oder moderner Naturwissenschaft steht, hat natürlich gegen das alles einen billigen Einwand. Er wird sagen: Wenn also der Geistesforscher sich auf einen Gedanken konzentriert,

329

so kann er ja nicht wissen, was in diesem Gedanken alles aus den unterbewußten Untergründen seiner Seele heraufspielt und wie er sich dann in Selbstsuggestion und Phantasien hin-einlebt. Gewiß ist es ganz begreiflich, daß man vom naturwis-senschaftlichen Gesichtspunkt aus solche Einwände macht; sie sind scheinbar in einer gewissen Weise voll begründet, und der Geistesforscher kann gut einsehen, daß sie gemacht werden müssen. Allein gewöhnlich wird das, was bei allen diesen Din­gen beobachtet werden muß, nicht beachtet. Sie finden das nähere sorgfältig zusammengestellt in den beiden Büchern:

«Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?> und in meiner «Geheimwissenschaft». Doch geht man häufig an dem vorüber, was gerade voll beachtet werden soll. Darauf kommt es an, daß man einen Gedanken, eine Empfindung in den Mittelpunkt seines ganzen Seelenlebens stellt, den man leicht überschauen kann, der uns an nichts erinnern kann, der nichts aus den unterbewußten Untergründen der Seele heraufrufen kann. Daher ist es sogar besser, nicht eine Vorstellung in den Mittelpunkt seines Bewußtseins zu stellen, die von irgendeiner äußeren Wirklichkeit hergenommen ist, eine Vorstellung, die etwas abbildet, sondern eine Vorstellung, die rein sinnbildlich, rein symbolisch ist, bei der es nur darauf ankommt, daß wir die Seelenkräfte eben konzentrieren, zusammenfassen, daß wir alle Arbeit der Seelenkräfte darauf verwenden, uns abzuziehen von allem übrigen, um uns rein auf diesen einen Punkt zu konzentrieren. Ich will ein recht einfaches Beispiel nennen. Jemand kann sich in die Vorstellung vertiefen:

«Im hellen Lichte wirkt die klare Weltenwahrheit!> oder:

«Im hellen Lichte lebt die klare Weltenwahrheit!> Wenn er sich einen solchen Satz bildet, dann kann jeder selbstverständ­lich, wenn er auf dem Boden des äußerlich sinnlichen Mate­rialismus steht, sagen: Ja, solch ein Satz ist ja eine reine Träu-merei; er bedeutet nichts; er bildet keine Wirklichkeit ab.

330

Aber darauf kommt es nicht an, sondern darauf, was man tut beim Denken, Empfinden eines solchen Satzes, was die Seele verrichtet. Und darirt, wenn man entweder lange über einen solchen Satz meditiert oder aber wenn man mit einem sol­chen Satz abwechselt mit anderen, macht man eine sehr bedeut­same innere Erfahrung. Derjenige, der diese Erfahrung durch­gemacht hat, weiß bestimmt, daß sie in bezug auf die mensch­liche Seele etwas so Wirkliches, so Reales darstellt wie nur irgendeine chemische oder physikalische Methode mit Bezug auf äußere sinnliche Dinge. Indem man sich also konzentriert auf einen bestimmten Bewußtseinsinhalt, kommt man dahin, immer stärker diejenigen Seelenkräfte zu fühlen, die man die vorstellenden; die denkenden Seelenkräfte nennen kann. Man fühlt sich gewissermaßen immer mehr und mehr, indem man sich damit identifiziert, innerlich stärker und stärker, und während man äußerlich mit Bezug auf die ganze Welt ruht mit seinen Sinnen, mit dem äußerlichen Verstand, fühlt man sich innerlich erstarkt. In tiefen Untergründen fühlt man etwas heraufströmen, was in der Seele verborgen liegt, was man nicht beobachtet hat, dessen man aber jetzt im unrnittelbaren Erleben gewahr wird. Und indem man also immer stärker und stärker, innerlich immer lichtvoller und lichtvoller das Erleben fühlt, kommt man auf einen bestimmten Punkt. Wir werden gleich sehen, daß dieser Punkt durch eine regelrechte geistige Entwickelung eigentlich so nicht voll erreicht werden soll, wie ich dann gleich schildern werde, sondern durch etwas anderes modifiziert zu werden hat. Aber wenn man sich mehr und mehr konzentrieren würde, immer mehr und mehr alles das, was im Innern der Seele ist, hinrichten würde auf das eine Er­wählte, dann würde man endlich, indem man immer stärker anschwellen gefühlt hat seine innere Aktivität, seine innere Tätigkeit, man würde dazu kommen, diese Kraft wie sich ab-lähmen zu fühlen, schwinden zu fühlen. Das ist ein bedeutsames

331

Erlebnis, zu dem man da kommt, ein Erlebnis, das für den, der es durchanacht, eine unvergeßliche innere Erfahrung darstellt; denn er hat ein ganz bestimmtes inneres Erlebnis da­bei. Er fühlt: jetzt ist der Moment, wo du nach Konzentrie­rung aller Seelenkräfte, nachdem du zusammengenommen hast alles, was sonst verborgen ist in der Seele, wo du das hinein-fließen ließest in deine Denltkraft, in deine Vorstellungskraft; wo das nun aus dir herausgeht, - wo das in die Welt ausfließt, was du aus den Tiefen deiner Seele heraufgeholt hast. Das ent­zieht sich dir, es verläßt deinen Leib, es flieht dich!

Und man würde jetzt nicht mitkommen, man würde emp­finden, wie die Seele, gleichsam aus dem Leibe geholt, mit dem allgemeinen Geiste sich vereinigt, der durch die Welt weht und wirkt. Man würde sich selbst entfremdet fühlen. Deshalb muß die Übung, die damit angedeutet ist, durch eine andere modifiziert werden, die mit ihr gleichzeitig ablaufen muß. Und jeder, der den Weg zur Geistesforschung so geht, wie ich es geschildert habe in meinem Buch «Wie erlangt man Er­kenntnisse der höheren Welten?», der bekommt dadurch die ein­zelnen Regeln, durch welche er wirklich das, was ich eben jetzt geschildert habe, modifiziert, so daß es nicht so eintritt, daß wir uns gleichsam mit dem besten Teil uns selbst entrissen fühlen. Da muß also etwas anderes hinzutreten. Das Erste also, was die Seele vom Leibe abtrennt, war die Gedanken-Konzen­tration, die Verstärkung des Gedankenlebens. Durch diese Ver­stärkung des Gedankenlebens werden wir uns gleichsam selbst entrissen. Das Zweite widerspricht dem gleichsam; es ist etwas Entgegengesetztes, der andere Pol; aber das Leben verläuft polarisch, es verläuft so, daß es durch Gegensätze hindurch­geht. Wenn man daher eine Erkenntnis hat, die nicht eine Er­kenntnis in abstrakten Begriffen sein soll, sondern eine Er­kenntnis der Naturgesetze, des Lebens, so muß man sich durch Gegensätze hindurchbewegen.

332

Das Zweite ist das, was man nennen könnte: eine völlige Ergebung des Willens in die waltenden, wesenden, wirkenden Weltenmächte. So wie wir gewissermaßen beim Ersten zum Stillstand bringen unser sinnliches Erkennen, den Verstand, der sonst nach Anleitung der äußeren Sinneswahmehmung spielt, so müssen wir beim Zweiten jedes innere eigensinnige Wollen zum Stillstand bringen, gewissermaßen alles, was in uns Wille ist, zum Stillstand bringen. Nun gibt es ein gewisses Mittel, wodurch man in sich die Kräfte entwickeln kann, das eigene Wollen wirklich radikal in sich ergeben zu machen dem allgemeinen Weltenweben: das ist, wenn man eine ganz neue Stellung zu dem gewinnt, was man unser Schicksal nennt. Wie erleben wir doch im gewöhnlichen Dasein dieses unser Schicksal? Nun, dieses unser Schicksal erleben wir so, daß wir das, was uns als Schicksalsfall im Guten und Bösen zustößt, eben als etwas uns Zustoßendes betrachten; daß wir ihm mit Sympathie oder Antipathie begegnen, so daß wir das, was gewis­sermaßen als die Schicksaiszufälle angesprochen wird, was uns anfällt, so recht als etwas an uns Herankommendes ansehen; wir stehen außerhalb, wir sehen uns als die Ich-, die Selbst-Wesen­heit, auf die das Schicksal wirkt, an die es herankommt.

Schon im gewöhnlichen Leben kann man durch ein wirklich vernunftgemäßes Nachdenken ersehen, daß wir im Grunde genommen gar nicht so zum Schicksal stehen können. Wenn man sich einmal betrachtet, wenn man in einem bestimmten Zeitpunkt eines späteren Erlebens ist, so wird man sich sagen:

das, was man dann ist, was man da in seiner inneren Wesen-heit an sich erlebt, was man kann und vermag, schon das ist gar nicht denkbar ohne das gewöhnliche Schicksal des Lebens zwischen Geburt und Tod. Man denke nur einmal reiflich darüber nach. Alles das, was wir im gegenwärtigen Moment können, - wenn wir es zurückverfolgen im gewöhnlichen Le­ben zwischen Geburt und Tod, müssen wir uns sagen: das

333

hängt mit irgend etwas zusammen, was wir früher einmal durchgemacht haben. Daß ich jetzt etwas kann, hängt viel­leicht damit zusammen, daß der, der meine Erziehung zu besor­gen hatte, mich einmal in diese oder jene Sphäre hinein-brachte. Was mir damals zustieß, das vereinigte sich mit mir, das wurde in mir zur Kraft; jetzt ist es meine Fähigkeit. Im­mer, wenn man wirklich intensiv nachdenkt: Was bin ich denn eigentlich, was ist denn an mir? so wird man sehen, daß das, was in einem selbst oder in anderen Menschen im gegenwärtigen Moment ist, zusammengewoben ist aus dem Schicksal. Und wenn man diesen Gedanken sachgemäß, man möchte sagen, seelengemäß verfolgt, kommt man darauf, wie man gewissermaßen immer mehr zusammenwachsen muß mit seinem Schicksal, wie man gewissermaßen das, was man sein Ich nennt, als ein Gewebe des Schicksals erkennen muß. Das, was man sonst so anspricht als einen Zufall, das findet man jetzt verarbeitet in sich, verwoben in sich; man findet sich als Ergebnis des Schicksals. Man wächst so damit zusammen, mit dem Schicksal, daß man sich mit ihm identifiziert. Wie man bei dem früheren Wege, dem früheren Mittel der Geistesfor­schung sagen muß: man identifiziert sich mit einem Gedan­ken, mit einer Empfindung, so muß man sich jetzt durch die Sache selbst, durch die Verhältnisse selbst identisch erkennen mit seinem Schicksal. Was ich jetzt sage, muß allerdings nicht nur theoretisch bleiben, das muß nicht nur eine abstrakte Be­trachtung sein, sondern das muß innerlich empfindend ganz durchlebt werden; es muß in alle Fasern unserer Seele über­gehen. Dann fühlen wir, wie wir nach und nach unseren Wil­len selbst in unser Schicksal hinausströmen sehen, schauen, wie wir uns sagen: Du hast bisher etwas als einen Schicksals-zufall betrachtet, aber du warst es selbst. Das, was in dir ist, hat diesen Schicksalszufall an dich herangebracht, sonst wärest du dieses Wesen, dieses Ich nicht!

334

Im wesentlichen ergibt sich dann, wenn man wiederum sol­ches Meditieren über sein Schlcksal wochen-, monate-, jahre-lang durchführt, je nach den Anlagen, die man hat, ein gefahis­mäßiges Ergeben in das Schicksal. Man lernt erkennen, daß man mit sich selbst hinausgehen muß aus dem Kämmerlein, in das man sich selbst bisher eingeschlossen gefühlt hat. Man lernt sich im Strom seines Schicksals selbst dahinströmen. Wenn man also erkennt, wie das Selbst, das Ich, eigentlich außerhalb lebt, wie in dem, was wir «zustoßen» nennen, in Wahrheit unser Wille darinnen ruht, wie das Ich da im Schicksal dahinströmt, dann wird dieser Wille mit uns, indem wir uns selbst an unser Schicksal hingeben, aus uns wiederum losgerissen. Und das ist das Zweite. Aber es muß eben errun­gen werden, muß errungen werden in innerlichem gemüts-und gefühlsmäßigem Erleben. Es muß den ganzen Menschen erfüllen, also sich hinzugeben gefühlsmäßig an das Schicksal. Dann fühlt man, wie man mit dem Schicksal zugleich zusam-menwächst mit geistig wirksamen Weltenkräften, die die Außenwelt durchwalten und durchwirken. Demjenigen, was mit uns zu entfliehen scheint in der Gedanken-Konzentration, was uns unsere Selbstheit zu nehmen scheint, folgt dann nach

- das heißt dem Gedanken folgt nach - ein Willenselement, ein gefühlsmäßiges Willenselement. Während wir auf die frü­her angedeutete Art den Gedanken aus unserem Kopfe heraus-strömen fühlen, ziehen wir jetzt aus unserem ganzen Wesen etwas nach. Wir opfern den Willen an den Gedanken hin. Und dann trirt das Seelische, das Gedankenmaßige, das Ge-fühls-, Empfindungs-, Willensmäßige zu den Gedanken her-aus und wir gehen mit.

Das, was ich geschildert habe, ist ein realer Prozeß, ein wirk­liches Heraussteigen der Seele aus der Leibeshülle. Das ist etwas, was ebenso wahr und intensiv und wirklich - man mochte sagen, experimentell - zu erleben ist wie das Herausgehen

335

des Wasserstoffes aus dem Wasser, das Ablösen des Wasserstoffes von dem Wasser. Es ist so wie das Ablösen des Seelischen vom Leiblichen, das dann so zurückbleibt, daß dieses Leibliche mit dem ganzen äußeren Erleben ein äußerer Gegen­stand wird; die Seele ist aus dem Leibe herausgestiegen. Wie man sonst in der Sinneswelt den Tisch oder den Stuhl betrach­tet, so betrachtet die Seele ihren Leib, den sie verlassen hat. Und was das Wichtigste ist, sie erlebt sich nicht bloß im Ab­strakten, sondern so wahr, wie sie im Leibe ein innerliches Er­leben entwickelt, so wahr entwickelt sie außerhalb des Leibes ein innerliches Erleben, von dem sie weiß, es ist ein geistig­seelisches Erleben. Vollinhaltlich im inneren Erlebnis, so erlebt sich die Seele. Und wirklich, wie die Menschen lange nichts davon wußten, daß man Sauerstoff von Wasserstoff abtrennen kann, und es erst lemen mußten, so wird die Geisteskultur der Menschheit lernen, daß das Geistig-Seelische abzusondern ist von dem Leiblichen, - so barock, so töricht, so närrisch der gegenwärtigen Menschheit das heute noch erscheinen mag. Eine wirkliche Geisteswissenschaft ist dasjenige, was die Zu­kunft haben wird - und wodurch die Zukunft der Menschen-seele jenes Wissen bringen wird, dessen die Menschenseele bedarf, wenn in ihr die Kräfte, die von alters her da waren, für solche Dinge reif geworden sind. Einer solchen Zeit har­ren wir entgegen. Derjenige nur kann es leugnen, der die Zei­chen der Zeit verkennt, der nicht kennt die tiefste Sehnsucht, die heute schon in zahireichen Seelen bewußt, in anderen un­bewußt, lebt und die die ganze Menschheit ergreifen wird: die Sehnsucht, zu wissen von dem Geistigen. Dann aber, wenn also die Seele sich im wirklichen leibfreien Erleben erfaßt, dann lernt sie in sich Kräfte kennen, welche man im Alltags-leben nicht hat, welche man im Leibe nicht entfalten kann. Eine Kraft lernt man kennen, die auf folgende Weise geschil­dert sei:

336

Wenn wir unser alltägliches Leben durchieben, in dem die Seele die Kraft des Vorstellens, des Fühlens und des Wollens entwickelt, so kommen wir zu dem, was man zuletzt die Er­innerung nennt. Und derjenige, der ein wenig nachdenkt über die Erinnerung, der weiß, was diese Erinnerung, dieses Ge­dächtnis für die ganze in sich zusammenhaltende Wesenheit des Menschen bedeutet. Wir könnten kein Ich-Bewußtsein ent­wickeln, wenn wir uns nicht darin an die Erlebnisse, die wir durchgemacht haben, erinnerten seit einem bestimmten Zeit­punkt nach der Geburt. Nur dadurch, daß der Strom der Er­innerungen nicht abreißt, daß wir wissen, wir sind es eben gewesen, die diesen Strom durchlebt haben, dadurch sind wir ein Ich, ein Selbst. Selbst Weltanschauungen können nur mit Erinnerungen arbeiten, die die Seele in sich aufspeichert, und können diese Erinnerungen dann in einen harmonischen oder logischen Zusammenhang bringen. Wir können also das, was die Seele im Alltagsieben als ihr Enderlehais vor sich hat, als Erinnerung, als Gedächtnis auffassen. Worauf beruht nun das Erinnern, das Gedächtnis? Nun, äußerlich betrachtet, können wir sagen, wenn Erlebnisse durchgemacht werden, wir bilden uns Vorstellungen, wir empfinden dieses oder jenes an den Erlebnissen. Dann bleibt uns ein Bild, das wir aufgespeichert in der Seele haben, und wenn wir lange über das Erlebnis hin­ausgekommen sind, wissen wir auf das Bild im inneren Er­leben zurückzuschauen; das Erlebnis selbst ist nicht da, son­dern nur das innere Bild ist da, etwas ist da, was unsere Seele nur webt. Um uns diesem Bild, um uns dem Wesen des Gedächt­nisses überhaupt nähern zu können, können wir nun folgendes überlegen - ich kann es nur in groben Strichen, gleichsam mit Kohlestrichen anführen, was Sie dann in der Literatur der Geisteswissenschaft ausführlich verfolgen können.

Wenn wir diesem Gedächtnis nähertreten wollen, finden wir: in der ersten Zeit, die der Mensch durchlebt nach seiner

337

Geburt, nachdem er die Welt betreten hat, da ist diese Erin­nerung nöh nicht lebendig. Diese Erinnerung tritt erst im zartesten Kindesalter auf; bis zu einem bestimmten Punkt des zarten Kindesalters erinnern wir uns später zurück. Was vor­her ist, darüber muß uns berichtet werden von unserer Um­gebung, aber wir erinnern uns nicht zurück. Worauf beruht denn das, daß wir uns zurückerinnern? Das beruht auf be­stimmten Kräften, die die Seele anwenden kann, um die Bilder zu behalten, auf Kräften, die die Seele fähig machen, diese Bilder in sich aufzuspeichern. Diese Kräfte waren schon da, bevor die Erinnerung da war, sie waren schon unmittelbar nach der Geburt vorhanden, aber sie hatten da eine andere Aufgabe. Sie hatten die Aufgabe, nöh zu arbeiten an den zar­ten Organen des Menschen, an dem Nervensystem und dem Gehirn des Menschen; an dem Nervensystem und Gehirn haben sie plastisch zu arbeiten. Sie waren da nöh Bildekräfte des menschlichen Organismus, desjenigen, was gleichsam nöh weich ist - grob gespröhen, aber es bedeutet eine Realität -, was erst so geformt werden muß, daß der Mensch dieser be-stimmte Mensch ist. Das läuft als Bildekräfte nöh in die leib­liche Organisation hinein im zartesten Kindesalter. Und wenn diese Organisation verhärtet ist - das ist wiederum bildlich gesprochen -, so weit verhärtet ist, daß diese Bildekräfte nicht mehr in sie hineinströmen, dann werden sie von dem Leib­lichen zurückgeworfen ins Seelische. Das Leibliche wirkt wie ein Spiegel. Und das, was wir dann seelisch erleben, besonders das, was in unseren Erinnerungen aufgespeichert wird, das sind Spiegelbilder, die von unserem Leibesleben zurückgewor-fen werden. In Wahrheit erinnern wir uns deshalb, weil unser Leib ein Spiegelungsapparat ist. Das wird gerade die Natur­wissenschaft voll einsehen, wenn sie auf ihrem Wege nöh weitergehen wird. Dann wird sie auch die Widersprüche durchschauen, die sie jetzt noch aufbringt, wenn solche Dinge

338

vorgebracht werden. Wie wenn da an der Wand ein Spiegel nach dem andern hängen würde und wir vorbeigingen, so würden wir uns nur sehen, solange wir eben vor den Spiegeln stehen. Der Spiegel wirft unser eigenes Bild zurück. So ist es mit unserem innerlich seelischen Erleben. Der Leib ist ein Spiegelungsapparat; er wirft zurück, was die Seele erlebt. Die Seele erlebt dadurch selbst dasjenige, was früher im zartesten Kindesalter Bildektäfte waren, was verwendet wurde gleich­sam, um den Spiegel erst aufzubauen.

Eine weitere Stufe ist dann diese: Denken Sie sich einmal etwa folgendes - als Vergleich will ich es vor Sie hinstellen, aber es be­deutet etwas ganz Reales -, denken Sie sich, Sie stehen vor einem Spiegel, der Ihnen die Möglichkeit gibt, sich zu sehen, das zu sehen, was Sie selbst als Lichtstrahl zum Spiegel senden. Sie sehen sich, weil der Spiegel Ihr leibliches Bild zurückwirft. So wirft Ihr Leib dasjenige, was in der Seele ist, zurück. Aber denken Sie nun, Sie bekämen - im Seelischen findet das statt - Sie bekämen die Kräfte, den Spiegel nicht zu brauchen; so starke Kräfte würden Sie entwickeln, daß Sie gleichsam das, was sonst der Spiegel zurückwirft als Ihr eigenes Abbild, hinschauen würden in den Raum. Das aber geschieht durch die Seelen-übungen, die ich anführte: Konzentration der Gedanken, Ver­senkung in den Willen - die Ergebung in die Weltenordnung, könnte man auch sagen. Dadurch werden die Seelenkräfte so verstärkt, daß das, was sonst zurückgeworfen wird vom Leibe, was wie ein Spiegelbild nur ist, als eigenes inneres, seelisches Erlebnis auftaucht, daß es durch die eigene Kraft der Seele selbst innerlich lebendig wird. Daher ist dasjenige, was der Geistesforscher innerlich erlebt, wenn er seine Seele vom Leibe abgetrennt hat, ein höher entwickeltes, ein tätiges Erinne­rungswerk. Während wir es im gewöhnlichen Leben nur bis zur Erinnerung bringen, durch die wir auf Spiegelung des Lei­bes angewiesen sind, erhalten wir durch die angedeuteten Übungen

339

nun die Fähigkeit, innere seelische Kräfte zu entwickeln und unser seelisches Inneres aktiv tätig zu machen, so daß es eine innere Wirklichkeit gleichsam strahlend von sich aus-sendet.

Gelangt die Seele dahin, daß sie so ihre innerlichen Kräfte gleichsam erschafft, in Wahrheit aber sie aus dem tiefsten Innern herausholt, dann wird sie merken, daß sie nicht nur diese Kräfte entfaltet, sondern daß mit der Entfaltung dieser Kräfte, mit dem Verschaffen gleichsam des inneren Spiegelbildes nöh etwas anderes startfindet, was wir nennen können: Wahrnehmen, unmittelbares Ergreifen einer geistigen Welt. Allerdings ist dieses Wahrnehmen ein ganz anderes als das Wahrnehmen der äußeren sinnlichen Wirklichkeit. Wenn wir die äußerlich sinnliche Wirklichkeit wahrnehmen, schauen wir auf die Gegenstände mit unseren Augen hin, wir hören auf die Töne mit den Ohren hin, greifen rnit der Hand die äußeren Gegenstände an. Da ist es der Gegenstand, dem wir uns nahen, der von außen auf uns wirkt. Wenn wir aber das entwickeln, was ich als innere Kräfte der Seele geschildert habe, was wirklich auflebt, so daß die Seele sich außerhalb des Leibes weiß in einem System von innerlichen Kräften, dann strömt in diese Kräfte hinein das, was geistige Wesenheit, geistige Wirklichkeit ist. Ich will wiederum einen Vergleich gebrauchen: Wenn ich mit der Hand diese Ecke hier anfasse, sie sinnlich wahrnehme, so ist die Ecke außer mir; die Ecke berührt meine Hand von außen. So ist es nicht in der geistigen Wahrnehmung, sondem so, daß wenn dies eine Seelenkraft wäre, was jetzt die Hand darstellt, und wenn ich sie nicht wir­ken lasse, so strömt gleichsam von rückwärts in die Hand das Geistige ein. Während das Physische die Dinge berührt von außen her, berührt das Geistige nicht von außen her, strömt das Geistige in die Seelenkräfte ein, so daß wir uns ganz neue Begtiffe aneignen müssen, wenn wir von diesem geistigen Erkennen

340

und Wahrnehmen sprechen wollen. Die äußeren Dinge nehmen wir wahr; daß wir zum Geistigen in ein Verhältnis kommen, dazu ist notwendig, daß wir Kräfte entwickeln, in welche diese geistige Welt hineinströmt. Das heißt, wir müs­sen sagen: durch Seelenentwickelung erleben wir das Große, Gewaltige, daß die geistige Welt uns wahrnimmt, daß wir etwas werden wie ein Gedanke, wie ein Willensimpuls höhe­rer geistiger Wesenheiten, die unsichtbar übersinnlich über uns stehen. Von diesen geistigen Wesenheiten, die unsichtbar, übersinnlich sind gegenüber den eben bespröhenen Erkennt­niskräften der Seele, muß der Geistesforscher so sprechen, wie der Naturforscher spricht von Mineral-, Pflanzen-, Tierreich, physischem Menschenreich als den vier Naturreichen, die außer uns sind. Und wie wir, wenn wir diesen Wesen der vier Reiche gegenüberstehen, sagen: Wir nehmen wahr, wir machen uns Gedanken von diesen Wesenheiten - sie sind draußen, und wir machen uns sinnliche Abbilder -, so müssen wir sagen:

indem wir mit der Seele aus unserem Leib herausgehen, wer­den wir selbst - aber in einer viel höheren, in einer Inner-[ichen Lebendigkeit und Wesenhaftigkeit - werden wir selbst Gedanken, Empfindungen, Willensimpulse der höheren gei­stigen Wesenheiten - wir werden wahrgenommen, wir erleben uns wahrgenommen durch die höheren geistigen Wesenheiten.

Daraus ersehen Sie, daß derjenige, der herantritt an die Frage: Was ist am Menschenwesen unsterblich? sich nicht so zu der Frage stellen kann, wie sich die Menschen heute noch so häufig dazu stellen. Sie kommen an eine solche Frage heran und sagen: Nun, ich habe mir diesen oder jenen Begriff angeeignet. Wie kann man mir die Unsterblichkeit der Seele beweisen? Ja, mit diesen Begriffen, die man sich im äußeren Leben und in der Wissenschaft angeeignet hat, kann man das nicht beweisen; denn diese Begriffe beziehen sich auf das, was die Seele im Alltagsleben erlebt und was nur

341

ein inneres Spiegelbild ist. Ebensowenig wie das Spiegelbild bleibt, wenn der Spiegel nicht mehr da ist, bleibt dasjenige, was die Seele im Alltagsleben denkt, fühlt und will, weil es nur ein Spiegelbild des Leibes ist; selbst die Erinnerung, in der das aufgespeichert wird, ist ein Spiegelbild der Seele. Wer aus Denken, Fühlen und Wollen die Unsterblichkeit der Seele be­weisen will, der ist auf dem gleichen Wege wie einer, der das Bleibende des Spiegelbildes beweisen will aus dem Bilde im Spiegel. Alles das, was Spiegelbild ist, muß eben dem Natur-forscher zugegeben werden - und etwas anderes liegt ihm nicht vor. Alles dasjenige, was man im gewöhnlichen Leben «Seele» nennt, geht nicht durch die Pforte des Todes hindurch. Aber in der Seele ist etwas enthalten - denn das, was Geistes­wissenschaft heraufholt, ist in der Seele enthalten -, was durch die Pforte des Todes geht, und so durch die Pforte des Todes geht, daß es in Begriffen, in Ideen nur erfaßt werden kann, die man gar nicht hat, wenn man sie nicht erst entwickelt. Während man für das gewöhnliche Erleben sagen muß, die Menschenseele nehme wahr, muß man für das geistige Erleben sagen: die Seele wird wahrgenommen von höheren Wesen. Während man im sinnlichen Erleben selbst wahrnimmt, muß man für das geistige Erleben sagen: nach dem Tode wird der Mensch hingenommen von den höheren geistigen Wesen­heiten. Wenn der Mensch seine Gedanken von den äußeren Naturdingen einverleibt seiner Seele, so verleibt sich ihm ein diejenige Wesenheit, die übersinnlich über ihm waltet; er wird gedacht, er wird fortgetragen in die geistige Welt hinein. Des­halb kann man so schwer die Frage beantworten: Was ist am Menschenwesen unsterblich?, wenn man sie mit den gewöhn­lichen Begriffen des Tages beantworten will, die gar nicht auf sie passen.

Und alle Philosophen, welche versucht haben, sich der Un­sterblichkeit der Menschenseele zu nähern, sich die Frage nach

342

der Unsterblichkeit der Seele zu beantworten, sind doch immer wieder darauf gekommen, zu sagen: da muß irgend etwas fei­nes Substantielles sein, was da über den Tod hinausgeht. Wir haben gesehen, daß von dem Substantiellen gar nichts bleibt, daß aber das, was die Seele an Kräften hat, selbst ein höher entwickeltes Erinnerungsleben ist, daß es ein Wahrgenommen-werden, ein Geborenwerden in der geistigen Welt ist. Sie wis­sen alle, daß solche Prozesse im Sinnenleben sogar schon ihre Sinnbilder, ihre Analogien haben. Wenn man eine Billard­kugel gegen eine andere stößt, so sagt der Physiker: in die zweite Kugel geht der Bewegungszustand der ersten hinüber. Was ist hinübergegangen von einer Kugel zur anderen? Nicht die Substanz von der ersten ist in die zweite hinübergegangen, sondern nur die Kraft geht hinüber.

Diejenigen, die über die Unsterblichkeit der Seele gedacht haben, haben immer gedacht wie über etwas, was im gewöhn­lichen Leben ist und durch die Pforte des Todes geht; wäh­rend man das, was durch die Pforte des Todes geht, eben erst suchen muß, denn es liegt so tief verborgen in der Seele, daß es gar nicht beachtet wird, daß die Aufmerksamkeit im ge­wöhnlichen Leben nicht darauf gerichtet ist; aber es ist eben doch da. Und wenn derjenige, der so wirklich, gleichsam che­misch, abtrennt das Geistig-Seelische vom Leiblichen, wenn er dieses Geistig-Seelische dann erlebt, wie es geborgen wird in einer über ihm stehenden, übersinnlichen Welt von geistigen Wesenheiten, dann weiß er auch, daß er in diesem, sich im gewöhnlichen Leben Verbergenden der Seele - so wie der Was­serstoff im Wasser verborgen ist -, daß er in dem etwas hat, was ganz im geheimen arbeitet, sozusagen zwischen den Zei­len des Lebens; was so die feinsten Kräfte der Seele, der Er­fahrung, der moralischen Fähigkeiten des Menschen in sich aufnimmt, wie der kleine Pflanzenkeim aufnimmt aus der ganzen Pflanze die Kräfte, um sie zu konzentrieren. Und wie

343

nach dem Abwelken, nachdem die Blätter abwelken und die Blüte erstirbt, die Pflanze als kleinen Keim das, was in der vorigen Pflanze gelebt hat, hinüberträgt in die folgende Pflanze, das, was die Pflanze als Keim hinüber gerettet hat, - so ist es in der Menschenseele. Wenn man sie so herausdestilliert, so merkt man: unablässig arbeitet in jedem Augenblick des Le­bens, wachend und schlafend, diese Menschenseele in den Untergründen des alltäglichen Lebens, arbeitet heraus alles das, was wir uns an Fähigkeiten aneignen, wird durchdrungen, tief durchdrungen von dem, was sie getan hat an Unrecht und Recht, Schön und Häßlich; das trägt sie in sich, wie der Pflan­zenkeim in sich trägt den Keim der ganzen neuen Pflanze. Und dann weiß man, daß das so verborgen in der Seele Lebende ein Leben durchanacht zwischen Tod und neuer Ge­burt - und wiederum zurüchkehrt zum Erdenleben. In dem Leben zwischen Tod und neuer Geburt sammelt aus einer gei­stigen Welt heraus dann der Mensch die Kräfte, die aber Bildekräfte werden, so daß er sich durch eine neue Geburt vereinigen kann mit dem, was ihm gegeben wird von Vater und Mutter, von der Vorfahrenreihe. So durchiebt die Men­schenseele nicht ein Erdenleben, sondern aufeinanderfolgende Erdenleben.

Das vollständige Erdenleben ist also bestehend aus einer Folge von Leben, die verlaufen zwischen Geburt und Tod, und vom Leben zwischen Tod und neuer Geburt, die länger sind als die Erdenieben, wo die Seele in rein geistigen Sphä­ren weilt, wo sie dort tätig, beschäftigt ist, - wo sie ebenso zusammengewachsen ist mit der geistigen Welt wie hier ruit der physischen Welt. Dies, daß die Menschenseele in ihrem Universellen wiederholte Erdenieben durchlebt, daß jedes fol­gende Erdenieben dann Wirkung von früheren Erdenleben ist, das ist dasjenige, was die Geisteswissenschaft alimählich der geistigen Menschheitskultur einverleiben wird, so wie einverleibt

344

worden ist der äußeren Kultur das, was die kopernika-nische Weltanschauung ist. Gewiß, es ist heute wirklich noch so, daß der Mensch oft sagt: Ja, was du mir da erzählst, wider­spricht ja dem, was die fünf Sinne für wahr halten! Nun, der Mensch hat sogar ganz anderes erfahren müssen, was seinen fünf Sinnen widerspricht. Der Mensch hat durch Jahrtausende nach seinen fünf Sinnen geglaubt, daß sich die Sonne und der Sternenhimmel um die Erde bewege. Daß es umgekehrt ist, daß sich die Erde um die Sonne bewegt, das hat er glauben müssen trotz des Widerspruches gegen die fünf Sinne. So wird das, was jetzt den fünf Sinnen widersprechen muß, daß der Mensch durch wiederholte Erdenleben geht, ebenso in die Denkgewohnheiten der Menschen hineingehen. Dann aber wird der Mensch aus einer wirklichen Wissenschaft heraus sprechen von dem, was am Menschenwesen unsterblich ist. Er wird dieses Unsterbliche suchen gewissermaßen zwischen den Zeilen der gewöhnlichen Erlebnisse, wird in sich wissen ein innerlich arbeitendes Wesen, welches geborgen ist in einer geistigen Welt, wie sich denkend birgt die sinnliche Außen­welt in unseren Vorstellungen und Gedanken und Empfin­dungen.

Dann wird sich der Mensch verbunden wissen mit seinem Ewigen, seinem Unsterblichen, verbunden wissen mit der gei­stigen Welt. Solches steht der Menschheitsentwickelung bevor. Und wir dürfen uns wirklich daran erinnern in dieser unserer Zeit, in der Zeit der schweren, aber auch glorreichen Prüfun­gen, wir dürfen uns erinnern, wie gerade deutsches Geistes­leben - Sie werden es nicht ungereimt empfinden, wenn ich dieses im letzten Teil meiner Auseinandersetzungen erwähne -, wie gerade deutsches Geistesleben seit langem hinarbeitet, eine solche Wissenschaft zu gewinnen. Wir brauchen uns nur zu erinnern an Lessing, den großen Bannerträger des neueren deutschen Geisteslebens, was er in seiner Seele gesammelt

345

hat an ihn und die Menschheit aufklärenden Gedanken. Er hat es wie in einem Lebenstestament zusammengefaßt in sei­ner so wunderschönen Schrift «Die Erziehung des Menschen-geschlechts». Freilich, viele Menschen, besonders die ganz ge­scheiten, sagen heute: Nun ja, der Lessing! Sein ganzes Leben hat er ja vieles geschrieben und vieles gesagt, dann ist er alt geworden, seine Geisteskraft wurde schwach, dann hat er auch solch vertracktes Zeug geschrieben, wo er so etwas durch-gefochten hat wie die Lehre von den wiederholten Erdenleben, von Zwischenleben zwischen dem Tod und einer neuen Ge­burt in der geistigen Welt! Für eine verschrobene Idee hal­ten es die Menschen, und sie verzeihen es den großen Gei­stern, wenn sie auch einmal zu solch vertrackten Ideen kom­men, die man im gewöhnlichen Leben nicht als solche ansieht, die man mit den fünf Sinnen erfassen kann. Aber Lessing hat sehr bedeutsam am Schlusse des Werkes gesagt: Es hat ja immer in den ältesten Zeiten Menschen gegeben, die aus altem Hellsehen heraus, aus alten, den geistigen Weltenkräften noch näher stehenden Fähigkeiten der Menschenseele heraus etwas gewußt haben von den wiederholten Erdenleben. Und Lessing sagt: Soll denn das, worauf die Menschenseele durch ursprüng­liche Kräfte gekommen ist, was sie geleistet hat, bevor sie durch die Sophisterei der Schule verdorben war, soll gerade das unwahr sein?

Lessing hat recht gehabt. Geisteswissenschaft wird der Menschheit zeigen, daß das, was gewissermaßen auf einer pri­mitiven Stufe der Entwickelung da war, auf der höchsten Stufe einer wirklich herausgebildeten wissenschaftlichen Erkenntnis kommen wird, wenn allerdings die Wissenschaft so weit sein wird, daß sie nicht nur äußerlich handgreifliche Methoden, die mit den fünf Sinnen erfaßt werden können, zu ihren Hilfs­mitteln wählt; sondern wenn sie als solche Methoden geistig­seelische Experimente gelten läßt, - was eben geschildert worden

346

ist als eine Art geistiger Chemie. Und gerade das deutsche Geistesleben ist es, welches auf diese Intimität des Seelenlebens ja immer hingewiesen hat, durch welche die Seele über sich hinauskommt in ein höheres Empfindungsleben, das kein bloßes Erinnerungslebee, sondern ein Eintauchen in die gei­stige Wirklichkeit ist. Ein höheres Gedankenleben, ein höhe­res Gefühlsleben, ein höheres Willensleben. Daß die Seele also ihre Kräfte verstärkt und also aus ihrem Leibe herauskommen kann, das zu erreichen hat das deutsche Geistesleben von jeher gestrebt; und das gehört zu den Keimen des deutschen Geistes­lebens, auf die ich gestern hingewiesen habe, die noch auf-gehen müssen als Blüten und Früchte dieses deutschen Geistes-lebens.

Wir sehen ja, wie ganz merkwürdig verinnerlichte Geister, wie zum Beispiel der wunderbare Novalis, wie diese deutschen Geister immer und wiederum durch die innere lebendige Be­trachtung, durch das betrachtende Erleben ihres Seelischen, in unmittelbarem Anschauen dahinkommen, daß sie wissen: das geht als Unsterbliches der Seele durch die Pforte des Todes hindurch; und wie sie dann zu Begriffen kommen, die für das gewöhnliche Erleben närrisch erscheinen, die aber, weil sie für das gewöhnliche Erleben nicht passen, gerade für ein Erleben passen, das über das gewöhnliche Erleben hinausgeht. Der­jenige, der in der Geisteswissenschaft nur die gewöhnlichen Begriffe finden will, der kann nicht zu ihr kommen. Es er­fordert diese Geisteswissenschaft eine innere Beweglichkeit, eine Elastizität des Geistes, damit man zu neuen Begriffen kommen kann. Die meisten Menschen möchten sich das er­sparen aus innerer Bequemlichkeit. Sie glauben, die geistige Welt müsse etwas sein wie eine feinere Kopie der sinnlichen Welt; sie stellen sich die geistige Welt wiederum materiell, substantiell vor. Wenn man aber die Welt geistig erlebt, bleibt nichts vorher Gewohntes in ihr: dagegen erwacht etwas ganz

347

Neues, was man noch nlcht gekannt hat, womit man aber seine Seele bereichern muß, um in sich zu erleben, was in der Men-schenseele unsterblich ist.

Indem also solche Menschen reden von der geistigen Welt, der die Seele im Unsterblichen angehört, müssen sie erst die Worte, die Begriffe formen. Daher ist es auch, warum ich ge­wissermaßen Sie bei dem heutigen Vortrag um Entschuldigung bitten muß. Bei einem solchen Vortrag, wo man von der geisti­gen Welt spricht, aber in Worten, die für das gewöhnliche Leben geprägt sind, muß man mit den Worten ringen. Man muß beanspruchen, daß man in seiner Formulierung zu Wor­ten greift, die unbequem sind für den, der am Gewohnten haf­ten will. Man erlebt immer wiederum, daß Kritiker kommen, die sagen: Das was du gesagt hast, das gibt es ja gar nicht! Ich weiß das. Gewiß, die Herren wissen ja unendiich viel, aber wenn sie ihre alten Begriffe anwenden auf das, was ganz neue Begriffe haben muß, dann kann ihre Kritik nicht passen zu dem, was sie charakterisieren wollen. Aber wir haben im deut­schen Geistesleben Geister - Novalis ist einer von diesen -, die zu sprechen wissen in einer Sprache, die zwar die deutsche Sprache ist, aber doch wie ein wunderbar lebendiger Extrakt erscheint, der aus der deutschen Sprache herausdestilliert wird, um etwas zu zeigen, was so real ist wie die Sinneswelt, was die Realität ist, in die die Seele geht, wenn sie durch die Pforte des Todes schreitet. Was solche Menschen sprechen, es kann schon wirken auf die, die dafür empfänglich sind.

Und nun will ich Ihnen ein merkwürdiges Beispiel geben; es ist zu schön, als daß ich es Ihnen vorenthalten möchte, weil es zeigt, wie Novalis gewirkt hat. Ich suche absichtlich Ihnen anzuführen seine Wirkung auf einen belgisch-französischen Dichter-Philosophen, der Novalis studiert hat, der sich mit seiner Seele, wie er vorgibt, ganz vertieft hat in Novalis, der einen Ein-druck bekommen hat, den er in der folgenden Weise schildert.

348

Bevor ich das vorbringe, muß ich sagen, daß ja ein anderer belgisch-französischer Dichter-Philosoph, Maurice Maeterlinck, gleich nach Kriegsausbruch und immer wieder und wiedertun über die deutschen Barbaren besondere Schmähworte gefunden hat, über diese barbarische Kultur losgezogen ist in ungeheuer-licher Weise. Das ist Maurice Maeterlinck, für dessen Bekannt­werden in der Welt allerdings das deutsche Geistesleben mehr getan hat als das französische. Aber Dankbarkeit braucht in der heutigen Zeit nicht gefordert zu werden. Er hat wirklich recht sehr diese deutschen Barbaren beschimpft und geschmäht nach dem Muster der andern, die ich gestern angeführt habe.

Dagegen gibt es einen andern belgisch-französischen Dichter-Philosophen, der hat Novalis, einen der deutschesten der deut­schen Dichter-Philosophen, mit alledem, was er zu sagen hat über das, was am Menschenwesen unsterblich ist, auf sich wir­ken lassen, und er erzählt dann von dieser Wirkung. Er kann nicht anders als sagen: Wenn man so Sophokles, Shakespeare liest, wenn man sieht, was die Figuren des Sophokles, was die Personen des Shakespeare erleben, was Hamlet sogar erlebt, so ist das durchaus irdisches Geschehen, was diese Personen handeln und erleiden; es interessiert nur den Erdenmenschen. Wenn aber - so meint der belgisch-französische Dichter-Philosoph - ein Geist von einem andern Planeten herunterstei-gen würde, so würde er sich nicht interessieren können für das, was die Personen des Sophokles und Shakespeare erleben; das sind doch nur Erdenangelegenheiten. Aber in Novalis fin­det dieser belgisch-französische Dichter-Philosoph eine Seele, welche etwas zu sagen hat, was selbst Geister interessieren würde, die einmal vom Weltenall heruntersteigen würden, um der Erde einen Besuch abzustatten; weil Novalis vom Ewigen der Menschenseele redet, was nicht bloß die Menschenseelen, insofern sie im Leibe leben, interessiert, sondern was alle Wesen, die der außerirdischen Welt angehören, interessieren

349

muß. Und mit schönen Worten spricht dieser belgisch-franzö­sische Dichter-Philosoph von dem, was er an Novalis, dem deutschen Dichter-Philosophen, erlebt hat:

«Wenn es aber anderer Beweise bedürfte, so würde sie ihn unter die führen, deren Werke fast ans Schweigen rühren»

- er meint, die gewöhnliche Sprache des Tages ist ja für das, was zeitlich vergänglich ist; was aber unsterblich ist, davon müsse man eigentlich schweigen oder dafür müsse man eine andere Sprache finden -, «sie würde die Pforte des Reiches öffnen, wo einige sie um ihrer selbst willen liebten, ohne sich um die kleine Gebärde ihres Körpers zu kümmern. Sie werden zusammen auf die einsamen Hochflächen steigen, wo sich das Bewußtsein um einen Grad steigert, und wo alle, welche die Unruhe über sich selbst plagt, aufmerksam den ungebeuren Ring umschweifen, der die Erscheinungswelt mit unseren höheren Welten verknüpft. Sie würde mit ihm zu den Grenzen der Menschheit gehen; denn an dem Punkte, wo der Mensch zu endigen scheint, fängt er wahrscheinlich an, und seine wesentlichsten und unerschöpflichsten Teile befinden sich im Unsichtbaren, wo er unaufhörlich auf seiner Hut sein muß. Auf dieser Höhe allein gibt es Gedanken, welche die Seele billigen kann, und Vorstellungen, die ihr ähneln und die so gebieterisch sind wie sie selbst. Dort hat die Menschheit einen Augenblick geherrscht; und diese schwach erleuchteten Spitzen sind vielleicht die einzigen Lichter, welche die Erde dem Gei-sterreiche ankündigen. Ihr Widerschein hat fürwahr die Farbe unserer Seele. Wir empfinden, daß die Leidenschaften des Gei­stes und des Körpers in den Augen einer fremden Vernunft den Klagen von Glocken gleichen würden; aber die Menschen, von denen ich rede, sind in ihren Werken aus dem kleinen Dorfe der Leidenschaften herausgekommen und haben Dinge gesagt, die auch denen von Wert sind, die nicht zur irdischen Gemeinde zählen!»

350

Solche Worte spricht der belgisch-französische Dichter-Philosoph. Wenn derselbe jetzt Maurice Maeterlinck über die Barbaren schimpfen hörte, über die gleichen Barbaren, aus denen das hervorgegangen ist, worüber der belgisch-franzö-sische Dichter-Philosoph so spricht, wie ich Ihnen soeben vor-gelesen habe, würde der gleiche belgisch-französische Dichter-Philosoph diesen Maurice Maeterlinck mit seinem Barbaren-geschwätz nicht einen unnützen Schreier nennen? Ja, aber die Sache hat allerdings einen Haken, denn die Worte sind von Maurice Maeterlinck selbst - allerdings vor dem Ausbruch des Krieges geschrieben!

Solche Dinge sind es, die man heute erlebt; deshalb sagte ich gestern: es ist wie ein charakteristisches Kapitel der Psychiatrie, was wir heute in der Welt erleben. Denn was folgt aus der unglaublich paradoxen Tatsache, daß derselbe Maurice Maeterlinck diese Worte über den deutschen Novalis zustande bringt - und nachher das ganze deutsche Volk ein Barbaren-volk schmäht und schirtipft? Was folgt daraus, daß dasjenige, was er vor Jahren gesagt hat und was ich Ihnen vorgelesen habe, tief innerlich unwahr und verlogen ist. Das ist ja das Eigentümliche unserer gegenwärtigen Kultur, daß - weil diese Kultur gewissermaßen strotzt von dem, was schon durch die Sprache und durch das Äußere aufgespeichert ist - auch die unwahre Seele sehr schöne Worte, schön klingende Worte her­vorbringen kann, Worte, die aber innerlich verlogen sein können. Aber es gehört gerade zu den Wegen der Seele, die zu dem Geiste auf die Art führen, wie ich es geschildert habe, daß all das, was die Seele in sich hervorbringt, durchmacht, daß all das im tiefsten Innem wahr, wahr ist, erschütternd wahr ist. Wenn nur etwas Phrase, nur etwas verlogen ist im Innern der Seele auf dem Wege in die geistige Welt hinein, so kann man diesen Weg in die geistige Welt hinein nicht finden. Eine Nachfolge desjenigen, der da gesagt hat: «Ich bin der Weg,

351

die Wahrheit und das Leben!» - das heißt die Verbindung der drei -, ein solcher Weg der Nachahrnung desjenigen, der dies gesagt hat, ist dieser Wahrheitsweg. Und wenn er nur Phrase ist, wenn auch noch so schön klingende Phrase -, er findet die Wahrheit nicht; er findet eben nur die große Täuschung, die auch bis in die Seele hineindringen kann, da, wo die Seele das­jenige finden will, womit sie verbunden ist als mit ihrem un­sterblichen Teil. Innere Wahrheit allein bringt die Seele in Verbindung mit dem, was als Göttliches die Welt durchwebt und durchwest.

Und wenn wiederum aus dem deutschen Geistesleben her­aus wunderschön und tief Meister Eckhart, der Philosoph, spricht, daß in dem Gemüt das Fünklein ist, in dem dasjenige entzündet wird, was von dem Göttlichen in der einzelnen Menschenseele leben kann, so muß man sagen, die Menschen-seele kann aber das, was also wie ein Fünklein im Gemüt sich entzünden soll, nur in Echtheit erleben, wenn sie tief innerlich wahr ist.

Daaal gehört allerdings Selbsterkenntnis. Aber diese Selbst­erkenntnis, sie ist schwer im Leben zu erreichen. Wenn der Mensch, wie ich auseinandersetzte, erreicht, mit seinem Seelisch-Geistigen aus dem Leiblichen herauszusteigen, dann hat er seinen gewöhnlichen Erdenmenschen vor sich, wie er sonst die äußeren Dinge vor sich hat. Aber er muß seinen Erden-menschen sehen können und bevor er diesen Geistesweg an­tritt, sich Selbsterkenntnis als innerliche Gewohnheit aneignen können. Wie schwer sie aber ist, dafür gewissermaßen ein vergleichendes Beispiel: Ein recht berühmter Professor der Gegenwart, der Wiener Philosoph - früher war er in Prag -Dr. Ernst Mach, der verschiedene Bücher geschrieben hat, die heute sehr geschätzt werden, - er hat auf der dritten Seite sei­nes Buches «Analyse der Empfindungen» ein Pröbehen ge­geben, wie man es schwer hat, schon in bezug auf die physische

352

Gestalt, zur Selbsterkenntnis zu kommen. Er erzählt da:

«Als junger Mensch erblickte ich einmal, als ich über die Straße ging, in einer Auslage, in der zwei Spiegel einander gegenüberstanden, ein Gesicht im Profil. Ich dachte: was be­gegnet mir da für ein Mensch mit einem widerwärtigen, ja abstoßenden Gesicht; und ich war nicht wenig überrascht, als ich entdeckte, daß ich mein eigenes Bild vor mir hatte, das sich mir zeigte dadurch, daß die Spiegel so angeordnet waren.» Und als zweites Beispiel erzählt derselbe Professor gleich dar­unter auf der dritten Seite seines Buches: Das sind solche Beispiele, die, ich möchte sagen, vom gröb­sten Äußerlich-Sinnlichen hergenommen sind. Aber wenn schon der Mensch so wenig Anschauung hat von seinem Äußerlich-Physisch-Sinnlichen, von dem Seelischen hat er noch weniger eine Anschauung im gewöhnlichen Leben. Aber es gehört diese Möglichkeit, auf sich selbst hinzuschauen, sich

353

als ein äußeres Objekt zu wissen, - es gehört zum wirklichen Erfassen desjenigen, was am Menschenwesen unsterblich ist. Und wer sich wirklich hineinlebt in die geistige Welt und dann auch verfolgen kann, was in dieser geistigen Welt tenl ist, wer also verfolgen kann den Menschen nicht nur in seinem Leben zwischen Geburt und Tod, sondern über den Tod hin­aus, der weiß, daß die Seele, wenn er mit ihr verkehrt, zurück-blickt auf den Tod, gerade indem sie in Selbsterkenntnis zurückblickt auf sich selbst, auf das, was man zwischen Geburt und Tod erlebt hat. Die Selbsterkenntnis ist gleichsam das Auge des unsterblichen Geistes. Wir müssen durch die Selbst­erkenntnis die ganze geistige Welt erschauen in der Zeit, die wir geistig durchleben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. - Das alles ist wirklich so, daß wir sagen können: in dem deutschen Geistesleben stecken die Keime, die zur wei­teren Entfaltung und Entwickelung kommen müssen, die leben­dig erfaßt werden müssen im Laufe der Zeit. Dann wird aus diesem deutschen Geistesleben wirkliche Erkenntnis, wirkliche Geisterfassung in Zukunft hervorgehen.

Wenn man ein wenig die geistige Kulturgeschichte der neueren Zeit betrachtet, so wird man auch dadurch dahin geführt, zu erkennen, wie gerade der deutsche Geist in seiner tragenden Kraft dazu berufen ist, seinen Idealismus, den er in seinen großen Phllosophen entwickelt hat, zum Spiritualismus, zum Geist-Erkennen, zum Geist-Erleben, zu einer wissenschaft­lichen Erkenntnis auszubilden. Gepreßt, möchte man sagen, gedrückt und unterdrückt war der deutsche Geist vom fremd-ländischen Geist. Wir sehen, wie Goethe, der ganz im deut­schen Geiste drinnen wurzelt, seufzt unter dem, was gerade in seiner Zeit von Frankreich herüberkommt. Während der deutsche Geist eigentlich daraufhin angelegt ist, in seinem Er­kennen mehr und mehr intim den die Welt durchwaltenden und durchwallenden Geist zu erkennen, ist der französische

354

Geist mehr darauf angelegt, alles das zu errassen, was durch den Verstand erfaßt werden kann, zu rationalisieren. Das merkt man sogar in der Eigentümlichkeit der französischen Poesie. Der Verstand aber, der an das Gehirn gebunden ist, ist im Grunde genommen nur imstande, den Materialismus auszu­bilden. Daher ist der Materialismus im Grunde genommen echt französisches Fabrikat. Materialismus ist nicht im deut­schen Charakter gelegen, wenn dieser sich in seinem tiefsten intimen Inneren selbst erfaßt. Besiegt muß werden auch dieses innere Franzosentum, dieser innere Materialismus, besiegt wer­den durch den deutschen Geist im Laufe der Zeit.

Und wenn wir eine charakteristische Erscheinung der Welt­anschauungs-Entwickelung verfolgen auf den britischen Inseln, gerade bei dem, was als tonangebende Philosophie von dort herrührt, so können wir das so zusammenfassen: Der britische Philosoph - man kann das im einzelnen überall beweisen -geht auf das hinaus, auf das Locke, Hobbes und so weiter aus­gegangen sind: nur gelten zu lassen, was die Sinne schauen und was man daraus kombiniert, und den Verstand nur zum Diener der Sinneswahrnehmung zu machen. Das führt zum äußerlichen Empirismus oder zum Skeptizismus, zu Zweifel-sucht. Das hat aber auch den deutschen Geist tief beeinflußt, und das ist auch etwas, wovon er sich frei machen muß. Wir erleben ja im Grunde genommen unter der Bewußtseinsober-fläche der Seele in unserer Zeit gerade manches. Während England mit seiner Weltanschauung dazu berufen war, auf den bloßen Sinnenschein zu schwören, Frankreich berufen war, aus dem Rationalismus, aus dem Verstand heraus den Menschen bis zu dem Satze «Der Mensch als Maschine» zu kultivieren, pflegte der deutsche Geist, nachdem er sich von Frankreich emanzipiert hatte, den Idealismus, der der Vorgänger ist des Spiritualismus, der eigentlichen Geisteswissenschaft. Der Idea­lismus sucht nicht stehenzubleiben bei dem Materialismus, der

355

nur an den Verstand gebunden ist; er sucht nicht stehen zu bleiben bei dem Empirismus des Engländertuins, das sich nur an die Sinne halten will, nicht bei dem Rationalismus des Franzosentums, sondern er will das erfassen, was lebendig in der Seele lebt. Indem das aber befreit wird vom Fremdländi­schen, indem der Deutsche sich geistig voll auf sich selber stel­len wird, wird aus dem deutschen Idealismus die lebendige Geist-Erkenntnis der Kultur der Zukunft einverleibt werden.

Wenn man sich heute bemüht, etwas für diese lebendige Geist-Erkenntnis zu tun, stößt man allerdings vorläufig noch recht sehr auf heftige Widerstände. Wenn ich dies Persönliche hier anführen darf: Seit den achtziger Jahren des vorigen Jahr­hunderts bemühe ich mich, das, was Goethes Farbenlehre ist, was das Tiefe dieser Farbenlehre ist, gegen die materialistische englische Newtonsche Physik durchzubringen. Es ist leicht be­greiflich - man kann alle Einwände, die die Physik gegen die Goethesche Farbenlehre hat, aufzählen -, es ist begreiflich, daß sie sich dagegen wendet. Aber die Goethesche Farbenlehre ist selbst als wissenschaftliches Produkt ein lebendiges Ein­dringen in die physische Wirklichkeit der Farben; und indem eine geistige Erkenntnis die menschliche Kultur ergreifen wird, wird eingesehen werden, wie unendlich höher diese Goethesche Farbenlehre steht als die englische. Heute redet man aber noch tauben Ohren; die entsprechenden Schriften werden noch nicht gelesen - oder von einem kleinen Kreise nur. Aber so ist es immer.

Goethe hat als Vorfahre wirklicher Geisteswissenschaft eine naturgemäße Weltanschauung der Entwickelung der Lebe-wesen aufgestellt. Auch darüber schreibe ich seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, um zu zeigen, wie diese Goethesche Entwickelungslehre eine geistgemäße Anschauung ist. Darauf beruht, daß Goethe das wahrmachen konnte, was er Schiller gegenüber betonen konnte, daß er in der Wirklichkeit

356

schon die Idee sieht. Abet auch da predigt Inan noch tauben Ohren; denn das andere ist bequemer. Diese Goethesche Lehre war der Menschheit unbequem anzunehmen. Und als dann Darwin kam und auf eine sinnengemäße Weise, in äußerlich sinnlicher Anschauung, in bequemerer Art alles das dargeboten hat, in einer Art, die dem englischen Geist so mundet, da wurde sie angenommen, da überschwemmte sie die Welt; und die schwierige, unbequeme, aber geistgemäße Goethesche Lehre, an der gingen die Menschen vorüber. Als Darwin die Entwickelungslehre sinngemäß bequem brachte, wurde sie an-genommen.

Und ein anderes Beispiel hat ja der große Philosoph Hegel gezeigt, der auch einiges mit dieser Stadt zu tun hat. Er hat gezeigt, wie derjenige deutsche astronomische Philosoph, philo­sophische Astronom, dem die Wissenschaft so ungeheuer viel verdankt, Johann Kepler, Großes geleistet hat in bezug auf die Auffassung des Zusammenhanges der Welt. Ja, allerdings ist es Kepler so gegangen, daß das berühmte Kästnersche Epi­gramm auf ihn paßt, weil er den Gang der Sterne, weil er das alles durchschaute und in wunderbare Formeln brachte, hat er ein Leben führen müssen, von dem der Epigrammatiker Kästner sagt:

So hoch war noch kein Sterblicher gestiegen,

Als Kepler stieg - und starb an Hungersnot.

Er wußte nur die Geister zu vergnügen,

Drum ließen ihn die Körper ohne Brot!

Aber Hegel zeigt noch weiter, daß die berühmte Newtonsche Gravitationslehre, von der jeder Physiker sagt, daß auf ihr die moderne Physik stehe, nichts andetes ist, als in mathematische Formeln gebracht dasjenige, was der Schwabe Kepler geleistet hat. Das Reale liegt bei Kepler. Vor einer Geschichtslüge steht

357

man, wenn man von einer Berechtigung des Newtonismus spricht.

Der deutsche Geist wird sich auf sich selber zu stellen haben. Das wird aus den vielen traurigen, aber auch glorreichen Er­eignissen unserer Tage wie ein Merkzeichen der historischen Entwickelung der Menschheit dastehen. Allerdings, gründlich gearbeitet hat dasjenige, was von Westen und Nordwesten her die menschlichen Seelen so bearbeitete, daß ihnen der Weg, den ich beschrieben habe, der Weg in die geistige Welt hinein, erschwert wird.

Ich werde jetzt etwas, verzeihen Sie, für viele ganz Dum-mes sagen; aber ich weiß, daß es eine Wahrheit ist. Vielleicht kommt einmal die Zeit, daß man diese Wahrheit im einzelnen wird zeigen können. Dazu braucht man nichts anderes als Zeit. Ich kann es nur so hinstellen: gründlich ist den Seelen von Kindheit auf die Möglichkeit verlegt worden, sich frei zu ent­falten in den Kräften, die angedeutet worden sind, um den Weg in geistige Welt hinein zu tun. Dadurch zum Beispiel ist der Weg verlegt worden - ich sage es wahrhaftig nicht aus nationalem Chauvinismus; ich sage das aus psychologischer, kulturhistorischer Erkenntnis heraus -, verlegt ist der Weg dadurch, weil noch immer das Gift des Robinson von Defoe zahlreiche Knaben- und auch Mädchenleben verpestet und ver­giftet; und darin steckt dasjenige, was sich hineinnistet in die Seele, um sie mit dem Empirismus des Engländertums zu durchdringen.

Viele innere Siege, die im Sinne der deutschen Kultur ge­legen sind, werden noch zu erfechten sein. Dasjenige aber, was jetzt geschieht, es ist der große, blutige, aber auch glorreiche Vorbote. Und diejenigen, die als Heldenseelen jetzt durch die Pforte des Todes gehen - gerade der Geisteswissenschafter muß darauf hinweisen, da er weiß, wie die Seelen als Realitä­ten durch den Tod gehen und wie diejenigen, die tot sind, nur

358

in einer anderen Form das Leben weiterleben -, sie werden in einem hohen Sinne unter uns sein mit ihren unverbrauchten Kräften. Denn in ihrem Seelisch-Geistigen ist etwas, das noch jahrzehntelang - es sind ja junge, blühende Menschenleben, die die Erde verlassen in unserer Zeit -, das noch ein ganzes langes Leben den Leib mit Bildekräften hätte versorgen kön­nen. Das aber wird in ihrem unsterblichen Seelenteil noch weben und leben; das wird da sein in der geistigen Sphäre; das wird da sein, das wird helfen, wenn die Menschheit ihm mit Verständnis entgegenkommt in der Herbeiführung einer wirklich geistgemäßen Weltanschauung, einer solchen Welt-anschauung, welche geistgemäß durch und durch, welche im vollsten Sinne, im strengsten Sinne des Wortes wissenschaft­lich ist. Geisteswissenschaft wird damit etwas ganz Lebensvol-les und Lebenswirkliches sein können. Denn der Geisteswis­senschafter weiß, daß, wenn in den Seelen lebendig wird das­jenige, was er als Forschungstesultat zu geben hat, daß dann diese Seelen so ins Erdenleben sich einleben werden, daß die große Kluft, die heute als materialistische Weltanschauung gähnt zwischen Leiblichem und Übersinnlichem, überbrückt ist. In einem viel realeren Sinne, als man es heute ahnt, werden sich die Menschen hineinleben in eine Weltanschauung, die ihnen außer den unmittelbar gegenwärtigen Erdenbürgern auch die Menschen zeigen wird in ihrer Wirksamkeit, die durch die Pforte des Todes gegangen sind. Das ist aber eine Welt­anschauung, auf die zu gleicher Zeit mahnend hinweist die große Zahl der Tode, die unsere schicksaltragende Zeit über uns verhängt. Viel Blut, viel Tod, viel Not, viel Leid und Schmerzen, viel Mut, viel Opferwilligkeit, ungeheure Größe rauscht und webt durch dasjenige, was uns in unserer schick­saltragenden, schicksalschweren, in unserer weltgeschichtlich so bedeutsamen Gegenwart umgibt. Aber nahe liegt es gerade in dieser Gegenwart, hinzuweisen auf dasjenige, was über allen

359

Tod, über alles bloß zeitliche Leben hinausweist auf das Ver-borgene, auf das, was im Menschenwesen unsterblich ist.

Nicht jeder wird ein Geistesforscher werden können, wie nicht jeder ein Chemiker werden kann. Aber Zeiten werden kommen, in denen ebenso wie dasjenige, was wenige Chemiker der Menschheit geben, fruchtbar gemacht wird für alle, auch das, was die einzelnen Geistesforscher zu geben haben, der ganzen Menschheit und ihrem Zusammenleben zugute kommt. Man braucht kein Geistesforscher selber zu sein, am das wahr zu finden, was der Geistesforscher an Ergebnissen auffindet; man braucht nur von den Vorurteilen frei zu sein, die die heutigen Vorstellungsgewohnheiten einem in den Weg legen, und die Dinge, die heute angedeutet worden sind, die Geistes­wissenschaft, kann verstanden werden. Um die Tatsachen selbst aufzufinden, ja, um nur einen Satz von dem zu sagen, was heute die Hauptsache der Betrachtung gebildet hat, muß man den Weg der Geistesforschung selbst gehen. Um einzudringen in die geistige Welt, wo Wesen darin sind, göttliche Geist-wesen, die ebenso real sind wie die Dinge und Wesen der physischen Welt, - um von diesen Welten sachgemäß zu reden, um wirklich Botschaft zu bringen von dieser Welt und diesen Wesen, muß man selbst den Weg der Geistesforschung gehen. Um das zu verstehen, was so geholt wird aus den geistigen Welten, braucht man wirklich bloß unbefangenen Wahrheits­sinn der Sache entgegenzubringen. Die Menschen, die diesen Sinn heute nicht glauben vereinigen zu können mit dem, was die Geistesforschung sagt, merken nur nicht, daß es nicht der Wahrheitssinn, sondern daß es die durch Vorurteil hervor-gerufenen Denkgewohnheiten sind. Aber wenn diese Denk-gewohnheiten so hinweggeräumt sein werden wie die alten Denkgewohnheiten gegen die Kopernikanische Weltanschau­ung hinweggeräumt worden sind, dann wird Geisteswissen­schaft in bezug auf das Geistig-Seelische des menschlichen Erlebens

360

etwas bringen, was unendlich fruchtbarer sein wird als das, was Naturwissenschaft für das äußere Leben gebracht hat. Denn das, was Naturwissenschaft bringt, es bezieht sich auf das, was uns umgibt, auf da«, was wir uns bauen, was wir uns errichten, auf manches, wodurch wir uns das Leben behaglich und angenehm machen, was uns nützt. Aber dasjenige, was Geisteswissenschaft zu geben hat, das ist etwas, was jede Seele begehrt, wenn sie sich nur der Kräfte dieses Begehrens im Geistig-Seelischen bewußt wird; dasjenige, was den Menschen die Möglichkeit gibt, sich so zu entfalten, daß in ihre Seelen nicht einziehen kann Trostlosigkeit, Vereinsamung, Unharmonle des Lebens, sondern was die Seele erkraftet, so daß die Seele stark auch dem Leben gegenüberstehen kann, - und das wird immer mehr und mehr die Komplikation des Lebens in der Zukunft von dieser Seele verlangen. Geisteswissenschaft wird etwas der geistigen Entwickelung einverleiben, was ein lebendi­ges Bewußtsein in der Seele hervorrufen wird von dem, was im Menschenwesen unsterblich ist. Und in diesem Zusammen­leben mit dem unsterblichen Teil der Seele wird sich der Mensch erst recht bewußt werden, daß die Welt umfassender ist als das, was Sinne sehen, als das, was man in der Zeit erlebt. Zusammendrängen wird sich das Wissen, das nicht abstrakt, nicht theoretisch bleiben wird, in gewisse Empfindungen, die die Seele innerlich beglücken und tragen, aber sie auch arbeit­sam, kraftvoll und tüchtig machen werden.

Was in der Seele an solchen Empfindungen durch Geistes­wissenschaft auferweckt werden kann, das möchte ich am Schluß in ein paar Worte zusammenfassen, in die ausklingen mag dasjenige, was ich, wie gesagt, nur in kurzen Strichen, wie in Kohlezeichnung, über die Frage heute habe sagen kön­nen: Was ist am Menschenwesen unsterblich? Ausklingen mag das in die Worte, die gewissermaßen der Empfindungsrest sind der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis und des geisteswissenschaftlichen

361

Bekenntnisses in bezug auf die Frage der heutigen Betrachtung:

Es sprechen zu den Menschensinnen

Die Dinge in den Raumesweiten;

Sie wandeln sich im Zeitenlauf.

Sich selbst erweckend erwacht die Menschenseele

Von Raumesweiten unbegrenzt

Und unbeirrt vom Zeitenlauf

Im Werdestrom der Ewigkeit!

362

DER SCHAUPLATZ DER GEDANKEN ALS ERGEBNIS DES DEUTSCHEN IDEALISMUS München, 28. November 1915

In der Zeit des gewaltigen Ringens um sein Dasein, in dem das deutsche Volk steht, darf vielleicht auch vom Gesichts­punkte, das heißt von der Empfindungsweise geisteswissen­schaftlicher Weltanschauung aus ein Seelenblick geworfen werden auf das, was innerhalb der deutschen Seele, innerhalb des deutschen Geistes ruht als der Inhalt der heiligsten und höchsten Geistesaufgabe dieser Seele, dieses Geistes. Jch glaube allerdings, damit etwas nicht gerade außerhalb des Gesichts­punktes der eigentlichen Geisteswissenschaft Liegendes zu tun, weil ja aus den verschiedenen Betrachtungen, die ich anstellen durfte hier im Laufe der Jahre, hervorgehen wird, wie eng verbunden ich gerade geisteswissenschaftliche Weltanschauung ansehen muß mit demjenigen, was der deutsche Geist, was die deutsche Volksseele aus ihrem Wesen heraus nach ihrer inner­sten Natur erstreben wird und immer erstrebt hat. Und so soll denn, während der morgige Vortrag zwar auch empfindungsgemäß gerichtet sein wird auf das, was uns in unserer Gegenwart so tief bewegt, aber doch in engerem Sinne wieder einem rein geisteswissenschaftlichen Thema gewidmet sein wird - es soll der heutige Vortrag mehr einer Betrachtung dienen des­jenigen, was mit der ganzen Eigenart der deutschen Volksent­wickelung verbunden gedacht worden ist bei allen denjenigen, die sich in tieferem Sinne über diese Eigenart der deutschen Volksentwickelung und über ihre Aufgabe in der Gesamtentwickelung

363

des deutschen Geistes Gedanken gemacht haben. Es wird, wie ich glaube, nicht deutsche Art sein, dabei die Methoden nachzuahmen, welche vielfach heute bei den Fein­den des deutschen Volkes gepflogen werden, jene Methoden, die herausgeboren sind aus dem Haß, aus dem Arger oder aus der Sucht, auf irgendeine Art ein Beginnen zu rechtfertigen, für das man vorläufig nicht die eigentlichen Gründe suchen will und vielleicht auch nicht unmittelbar in der Gegenwart schon suchen kann. So sei denn der Ausgangspunkt auch nicht von etwas genommen, was hindrängen könnte zur Charakteri­stik des deutschen Idealismus aus der unmittelbaren Gegen­wart, sondern es sei der Ausgangspunkt genommen von einem Gedanken einer deutschen Persönlichkeit, die in verhältnis­mäßig ruhiger Zeit, in Erinnerung an große, bedeutende Erleb­nisse mit einem der größten deutschen Geister, sich einmal über deutsches Wesen Rechenschaft geben wollte. Der Aus­gangspunkt sei genommen von den Worten, die Wilhelm von Hümboldt 1830, als er seine Betrachtung niederschrieb über Schiller, damals dieser Betrachtung über deutsches Wesen ein­fügte, - von jenen Worten, in denen Wilhelm von Humboldt, einer der besten Deutschen, charakterisieren wollte, wie deut­sches Wesen, wenn es geistig wirkt, in allen Sphären mensch­licher Tätigkeit vom Mittelpunkt des menschlich Seelischen, des menschlich Geistigen, von der tiefsten Innerlichkeit des menschlich Seelischen, des menschlich Geistigen heraus wir­ken möchte; wie deutsches Wesen den Menschen nicht zer­splittert denken kann in seiner geistigen Verbindung mit Poesie und Philosophie und Wissenschaft, sondern wie deut­sches Wesen in seiner Allheitlichkeit fassen will den Men­schen und im Zusammenfassen all der Kräfte, die sich äußern in den großen Geistern des letzten Jahrhunderts, immerzu das zur Offenbarung bringen will, was in der Totalität des mensch­lichen Wesens die Seele im Innersten bewegt. Aus solcher

364

Stimhung heraus wollte 1830 Wilhelm von Humboldt, Schil­lers großer Freund, deutsches Wesen charakterisieren. Er sagte:

365

der einzige Zweck alles Eindringens in die Natur und den Menschen und den noch nie ganz erklärten Zusammenhang beider sein kann.>

Immerdar haben solche Geister gesucht zu ergründen, was Deutschheit ist, dadurch, daß sie sich in den Mittelpunkt des deutschen Wesens zu versenken suchten, und niemals wollten sie in den Fehler verfallen, deutsches Wesen zu erheben auf Kosten anderen Wesens. Wenn man nun mit Bezug auf die geistige Entwickelung der Menschheit ein Charakteristisches gerade mit Beziehung auch auf solche Worte, wie die eben an­geführten, suchen will, so findet man es in dem, was man Idealismus nennt; eine Bezeichnung, wie sie wörtlich eigent­lich nur von deutscher Weltanschauung verstanden werden kann. Nicht als ob damit behauptet werden sollte, der Idealis­mus sei etwas, was nur innerhalb des deutschen Volkes vorhan­den sei; das wäre natürlich eine lächerliche Behauptung. Die Menschennatur strebt überall aus dem äußeren Sinnesleben heraus in das Reich der Ideale, und von niemand so stark als gerade vom Deutschesten der Deutschen ist dieser allrnensch­liche Zug des Idealismus betont worden. Aber ein anderes ist es, wenn man Einsicht gewinnt darein, daß innerhalb der deut­schen Entwickelung der Idealismus zusammenhängt nicht nur mit dem individuellen Streben des Einzelnen, mit dem, womit der Einzelne sich heraushebt aus der Gesamtheit des Volkes, sondern wenn man sieht, daß der Idealismus etwas ist, was zu­sammenhängt mit dem, was innerste Natur, innerstes Wesen gerade des deutschen Volkstums ist, und Einsicht darein ge­winnt, daß deutscher Idealismus aus deutschem Volkstum sel­ber hervorblüht. Darüber seien heute einige Betrachtungen an­gestellt, und ferner darüber, daß in einer ganz eigenartigen Weise gerade dieser deutsche Idealismus die deutsche Welt-anschauung auf den Schauplatz der Gedanken erhoben hat, von dem man mit Recht sagen kann, was viele der Besten der

366

Deutschen als ihre Überzeugung aussagten: daß das Leben auf dem Schauplatz der Gedanken in solcher Art durchaus eine deutsche Eigentümlichkeit ist.

Wie wenig man nötig hat, anderes herabzusetzen, wenn von dieser deutschen Eigentümlichkeit die Rede ist, das sei in dieser Betrachtiing selber dadurch bekräftigt, daß nunmehr der Ausgangspunkt genommen werde vielleicht von einem Ver­gleich deutschen Fühlens und deutschen Schaffens mit ande­rem Fühlen und anderem Schaffen auf einem Gebiet, wo mög­licherweise von einem gewissen Gesichtspunkt aus sogar dem fremden Fühlen, dem fremden Schaffen in absoluter Weise der Vorrang gegeben werden kann.

Ausgehen möchte ich von einem Bild, von einem zwiespäl­tigen Bild. Man versetze sich einmal vor das Bild, das ja jeder mindestens in der Nachbildung kennt, das Michelangelo ge­schaffen hat in der Sixtinischen Kapelle, - vor das Bild des «Jüngsten Gerichtes», und man vergleiche das Erlebnis, das man vor diesem Bilde haben kann, mit jenem, das man haben kann, wenn man in München in der Ludwigs-Kirche das Bild «Das Jüngste Gericht> vom deutschen Künstler Cornelius betrachtet. Man steht vor dem Bilde des Michelangelo, man hat den Eindruck, eine große, gewaltige Rätselempfindung der Menschheit in umfassender Art vor sich zu haben, und indem man das Bild betrachtet, vergißt man sich selber vollständig. Man geht in allen Einzelheiten dieses Bildes auf, man fühlt sich ein in jede Linie, in jede Farbengebung, und man hat, indem man von diesem Bild wieder weggeht, die Empfindung, den Wunsch, recht, recht oft vor diesem Bilde stehen zu kön­nen. Der Eindruck, den man mit hinwegnimmt, ist der: dieses Bild kannst du nur erleben, wenn du all die Einzelheiten, dich selbst vergessend, in der Phantasie von der Sinnlichkeit her dir so wieder erschaffst, daß du die Gestalten und Farben in Le­bendigkeit vor dir hast.

367

Und stellt man sich dann das Verhältnis der menschlichen Seele zu dem Bilde vor, das Cornelius hier für die Münchener Kirche geschaffen hat: Man wird nicht jenen blendenden Ein­druck der Formgebung empfangen, wird vielleicht nicht in der Weise das Seelische wie in das Auge hineingerissen emp­finden und die Augen wiederum mit ihrer Tätigkeit ruhend in dem, was der Maler geschaffen hat; man wird sich aber doch in stiller Ruhe der Seele in die heiligen Welten einer künst­lerischen Phantasie vor dem Bilde versetzt fühlen, wird ein Erlebnis haben, das nicht in derselben Weise in Einheit geht mit dem, was man schaut, wie beim Bilde des Michelangelo, das aber wie ein zweites Seelenerlebnis neben dem, was die Augen schauen, in der Seele lebt, - aufrührt alle tiefsten und höchsten Empfindungen, durch die der Mensch mit dem Weltenlauf zusammenhängt. Und vieles, was nicht in dem Bilde sichtbar werden kann, das drängt sich aus den Unter-gründen der Seele hervor, und eine Fülle von Gedanken ver­bindet uns mit jenen Impulsen, aus denen heraus der Künstler geschaffen hat, die lebendig wird durch das, was er geschaffen hat, die aber vielleicht nicht unmittelbar in seinem Bilde liegt. Und man geht hinweg von dem Bilde und man nimmt wenig den Eindruck der Sehnsucht mit, sich immer wieder und wiederum dieses Bild durch das Heraufheben der Sinnlichkeit in die Phantasie so zu vergegenwärtigen, wie es außen gemalt ist; aber man fühlt sich durch das Bild mit seiner Seele in einen lebendigen Zusammenhang mit dem Walten des Welt­geistes versetzt; man fühlt: an diesem Bilde hat nicht nur wal­tende künstlerische Phantasie geschaffen, an ihm hat mit­geschaffen das, was der Mensch erleben kann auf dem Schau­platz der Gedanken, wenn er sich auf diesen Schauplatz der Gedanken so zu begeben vermag, daß er fühlt und erlebt, was die Seele mit den Weltenrätseln verbindet, was die Seele mit Anfang und Ende alles Werdens des Sinnlichen und Moralischen,

368

des Sinnlichen und Weltengeschehens verbindet. Man muß von dem Bilde von Cornelius sich auf den Schauplatz det Gedanken begeben, und zwar deshalb, weil Cornelius, der einer der deutschesten Maler ist, seiner ganzen Anlage, seinem gan­zen Wesen nach deutsch malen mußte, das heißt: der gar nicht anders konnte, als sich auch in der Kunst auf den Schauplatz der Gedanken zu begeben. Wie gesagt, man mag vom abso­lut künstlerischen Sinne das Cornelius-Bild weit, weit unter das von Michelangelo stellen. Darauf kommt es nicht an, sondern darauf, daß jedes Volk im Weltengange seine Aufgabe hat, und daß selbst in der Kunst - wenn sie so im Zusammenhang steht mit dem deutschen Volksgemüt, wie das bei Cornelius der Fall war -, daß selbst die Kunst sich auf den Schauplatz der Gedanken erhebt.

Von diesem Bild sei zu einem anderen übergegangen, zu einem Bild, das vielleicht auch veranschaulichen kann, wie einer der deutschesten Deutschen von dem Schauplatz der Ge­danken heraus sich zu dem stellt, was aus der Weltumgebung auf ihn wirkt.

Goethe sei gefolgt, wie er sich vor dem Straßburger Mün­ster befand. Wir wissen aus Goethes eigener Biographie, wie er eine unendliche Vertiefung seiner Seele empfand, als er vor dem Straßburger Münster stand. Was empfand er damals? Goethes deutsche Weltanschauung stellte sich damals, man darf sagen, gerade im Anblick des Straßburger Münsters auf naturgemäße, elementare Weise der Art gegenüber, wie Goethe dazumal französische Weltanschauung erschien, die er, Goethe, gewiß am allerwenigsten in ihrem Wert für die allgemeine Entwickelung hat herabsetzen wollen. Eine ganze Fülle von geschichtlichen Impulsen wirkte in dem mit, was Goethe da-zumal in seiner Seele im Anblick des Straßburger Münsters empfand, an der Stelle, wo deutsches Wesen so hart kämpfen mußte gegen französisches Wesen, an der Stätte, an der heute

369

wiederum deutsches Blut vergossen werden muß, um deutsches Wesen gegen französisches Wesen zu verteidigen. Welche historischen Impulse dazumal in Goethe unbewußt wirkten, vielleicht kann es die folgende Betrachtung veranschaulichen.

Als die neueren Völker in den letzten Jahrhunderten, man möchte sagen, aus dem Dämmerdunkel der geistigen Entwicke­lang der Menschheit heraus das entfalteten, was da eben diesen Völkern das gegenwärtige Gepräge gegeben hat, da, in dieser Zeit, finden wir einen französischen Geist, der uns so recht zeigt, welcher innerste Impuls in der französischen Welt-anschauung, insofern sie jetzt nicht aus dem Einzelnen, son­dern aus der Volksindividualität hervorgeht, lebt, ich meine den vom sechzehnten ins siebzehnte Jahrhundert herüber lebenden Cartesius oder Descartes. Aus dem französischen We­sen heraus erhebt Descartes die Menschheit ebenfalls auf den Schauplatz der Gedanken. Als einsamer Denker, ganz aus dem, was ihm die Bildung seines Volkes seiner Zeit geben konnte, hervorgegangen, steht Descartes eben in der Morgenröte der neueren Geistesentwickelung mit der Frage da: Wie gelangt man zu einer Gewißheit über die wahren Gründe des Seins? Was ist wirklich wahr innerhalb desjenigen, was im Strom des Erscheinens dem Menschen vor Augen und Seele tritt? Hatte doch französisches Wesen, aus dem Descartes hervor-wuchs, kurze Zeit vorher einen der größten, bedeutsamsten Zweifler hervorgebracht, Montaigne, der den Zweifel geradezu zum Inhalt des gesunden, des wahren menschlichen Fühlens gemacht hat. Nur eine Seele, so meint er, über die sich der Zweifel ausgießt, ist eine weise Seele, eine Seele, die sich sagt:

Meinen Sinnen erscheinen die Offenbarungen der äußeren Raumes- und Zeitenwelt; allein, wer wagt zu sagen, daß die Sinne nicht trügen? In meinem Innern erscheinen mir, hervor­gehend aus diesem Inneren, die Gedanken, die sich beweisen wollen. Allein, wenn man genauer zusieht, so sagt Montaigne,

370

dann entsteht für jeden Beweis die Notwendigkeit, einen neuen Beweis zu finden. Weder außen noch innen ist ein Ouell der Wahrheit. Unweise ist der, der an irgendeine Wahrheit unbedingt glaubt. Allein derjenige ist weise, der sich zu allem mit Zweifeln stellt, weil der Zweifel allein demjenigen an­gemessen ist, was sich als Verhältnis des denkenden und schauenden Menschen zur Welt herausbilden kann.

Und aus diesem Zweifel heraus, als ein intensiver Kämp­fer für Erlangung einer Wahrheitsgewißheit, entwickelte Des­cartes sein Denken. Vom Zweifel ging er aus. Es mag nun an allem gezweifelt sein: gibt es, wenn sich dieses Meer des Zweifels ausgießt, nirgends einen Punkt, an den man sich hal­ten kann? - so fragt er. Nur eines fand er im weiten Meer des Zweifels, in dem die Seele zunächst schwimmt, die Ge­wißheit des eigenen Denkens; denn dieses verrichten wir selbst, wir können es immer hervorzaubern. Daher können wir an das Denken glauben; nur insofern sind wir, als wir denken. So erhob Descartes in seiner Art die Menschheit auf den Schau­platz des Denkens. Aber das ist nun das Eigentümliche - und wirklich, ohne eine einseitige abfällige Kritik sagen zu wol­len - das ist das eigentümlich Französische an der Welt­anschauung des Descartes, daß Descartes nun in seiner Seele alles das erlebt, was diese Gewißheit des eigenen Denkens geben kann, daß er in der Seele alles aufzuzeigen sucht, was die Seele von der Gewißheit des eigenen Denkens haben kann, wie die Seele selbst zu Gott findet von dem Denken aus. Aber zu demjenigen, was als Wahrheit waltet in der den Menschen umgebenden Natur, kann Descartes von diesem seinem Gewiß­heitspunkt aus nicht kommen. Er erhebt zwar die Menschheit auf den Schauplatz der Gedanken; aber er schränkt den Schau­platz der Gedanken in die Grenzen des seelischen Erlehens ein. Und charakteristisch, sehr charakteristisch ist es, daß Descartes, indem er nun alles durchmessen soll, was das Denken finden

371

kann, sich mit diesem Denken einspinnt in dem bloß mensch­lichen Innenwesen, nicht heraus kann aus diesem Innenwesen und von der Seele aus nun keinen Weg findet zu dem, was in der Natur leibt und lebt. Selbst die Tiere sind für Descartes, so paradox es heute den Menschen erscheinen mag, nur wan­delnde Maschinen. Eine Seele ist nur dem zuzusprechen, was denkt; aber das Denken kann nicht hinaus über die Seele, kann nicht eindringen in das, was in der Natur leibt und lebt. Die Tiere sind Mechanismen, die Pflanzen auch, alles ist nichts anderes als ein Uhrwerk, weil die Seele sich einspinnt in sich selbst.

Das aber hatte Folgen, das führte dazu, daß in der neueren Zeit Frankreich das klassische Land der rein materialistischen Weltanschauung wurde, die hereingebrochen war, als Goethe sich hineingestellt fühlte. Es waltete damals in der französi­schen Weltanschauung das Unvermögen, irgend etwas anderes zu sehen in dem, was uns in der Welt erhebend und erfreuend umgibt, als Mechanismus. So war jene materialistische Welt­anschauung entstanden, die Voltaires Anschauung so ganz durchpulst und innerlich trägt; jene materialistische Welt­anschauung, die Goethe entgegengetreten war und von der er sagt: Wenn sie, trotzdem sie so dürr und öde ist, nur wenig­stens einen Anlauf nehmen würde, um aus den bewegten Ato­men irgend etwas, was das menschliche Auge schaut, zu erklä­ren. Aber nicht einmal ein Anlauf ist genommen worden. An die Stelle der allwaltenden Natur wird gesetzt ein trockenes, odes, mechanisches Gewebe. So empfand Goethe. Das war die Empfindung, die sich in seine Seele setzte, als er die Welt­anschauung, die so charakteristisch aus französischem Volks-empfinden damals hervorgegangen war, auf sich wirken ließ, und die hatte er gewissermaßen unbewußt auf seiner Seele lasten, als er mit seinem seelischen Empfinden ganz aus ger­manischem Wesen heraus das Auge richtete auf die himmelanstrebende

372

Spitze des Straßburger Münsters und in seiner Seele empfand in äußeren räumlichen Formen waltenden Men­schengeist, der aus dem Raum heraus in das raumlos-zeitlos Geistig-Seelische strebt. Man möchte sagen: am Straßburger Münster hob sich Goethes lebendige Weltanschauung des Ger­manentums von dem ab, was an mechanischer Weltanschauung im Hintergrund sich ihm entgegendrängte, lastend auf seiner Seele als der damals neueste französische Materialismus. Und nun sehen wir doch in jener Zeit gerade innerhalb der deut­schen Entwickelung aus dem Tiefsten, aus dem Innerlichsten des deutschen Wesens heraus hindrängen die Seelen aus der Naturbetrachtung, aus der Menschheitsbetrachtung heraus, wie wir es gleich weiter charakterisieren werden, - hindrängen auf den Schauplatz der Gedanken; aber nicht auf den Schauplatz der Gedanken in solcher Art, daß er so eingeschränkt würde für die menschliche Seele, daß diese nicht mehr hinausfindet in die große, weite Naturwirklichkeit, sondern in solcher Art, daß die Seele fühlt die lebendige Möglichkeit, von sich aus unterzutauchen in alles, was in der Natur schafft und lebt und wirkt und ist.

Zwei Geister innerhalb der deutschen Entwickelung seien hervorgehoben, die gerade in der damaligen Zeit zeigen, wie im innersten Wesenskern deutsche Art in bezug auf das Su­chen nzch einer Weltanschauung eigentlich ist, - einer dieser Geister, der als äußerliche Persönlichkeit sich hineinstellt in das Weltanschauungsstreben, und ein anderer, der eigentlich nicht als äußere Persönlichkeit dasteht, sondern wiederum aus deutscher Art heraus als eine Idealfigur nur geschaffen ist. Der eine heißt Kant. Versuchen wir, Kant uns vorzustellen, gerade in der Zeit, aus der uns dieses Bild, das in Anknüpfung an Goethe entworfen worden ist, hetaufleuchtet aus der deutschen Entwickelung. Womit war er im Grunde genommen beschäf­tigt? So leicht sagt man, um 1780, also ungefähr in der Zeit,

373

in der Goethe jene Empfindung hatte, wo auch erschien Kants «Kritik der reinen Vernunft>, in dieser Zeit also hätte Kant versucht, die menschliche Erkenntnis zum Zweifel zu bringen an irgendeiner wahren Wirklichkeit. In Wahrheit: derjenige, der sich einläßt auf den innersten Nerv des Kantschen Stre­bens, findet auch bei ihm sogar das Gegenteil gerade von dem, was innerste Art des Descartesschen Strebens ist. Kant geht nicht davon aus, die Menschenseele abzuschließen von dem innersten Quell des Weltenseins und Weltengeistes. Kant steht nur vor der Welt, indem er sich sagt: Wodurch suchen wir hinter die Geheimnisse der Welt zu kommen? - Durch das, was der Mensch entwickelt im sinnlichen Anschauen der Welt. Da glaubt Kant nun, auf diese Art könne der Mensch nicht hineinkommen, dahin, wo die wahren Quellen des Seins sind. Deshalb bekämpft Kant nicht das Wissen, sondern bekämpft eigentlich im Grunde genommen, indem er scheinbar das Wis­sen bekämpft, den Zweifel. Um den Zweifel von der Men­schenseele abzulenken von dem, was dieser Seele vor allen Din­gen wert sein muß, sucht Kant den Zugang zu den Quellen durch andere Art, als durch das gewöhnliche Wissen erreicht werden kann. Deshalb ist tief aus Kants Seele heraus gespro­chen das Wort: Er mußte das Wissen entthronen, um für den Glauben Platz zu bekommen. Aber der Glaube ist bei ihm das Hereinfließen der gedanklichen Welt des Geistes, der Ideen und Ideale, die von göttlicher Seite herkommen, in die Men­schenseele. Und damit diese in der Menschenseele leben kön­nen, so daß sie nicht gestört werden durch das äußere Wissen, damit die menschliche Seele eine innere Gewißheit haben könne, entthront Kant das äußere Wissen, schreibt ihm zu nur die Möglichkeit, zu einer Offenbarung zu kommen, nicht zur wahren Wirklichkeit. Und Kant hat es sich sauer werden las­sen, dürfen wir sagen, den Geltungswert der Ideen und Ideale für die menschliche Seele zu erobern. Bevor er an seine Vernunftkritik

374

gegangen ist, setzte er sich auseinander mit dem Geisterseher Swedenborg. Was diesem Swedenborg aufgegan­gen ist als eine geistige Schau über das, was hinter der sinn­lichen Welt liegt, das prüfte Kant, prüfte es in der Absicht, um eine Anschauung darüber zu gewinnen, ob es noch einen anderen Weg gibt durch die Tore der Natur hinein zu den Quellen der Natur und des geistigen Daseins als denjenigen, den äußeres Verstandeswissen sich zu erobern vermag. Und aus der Betrachtung des Geistersehers Swedenhorg ging Kant das hervor, was ihm als Ziel vorschwebte: den Schauplatz der Gedanken weitzumachen für Ideen und Ideale dadurch, daß das Wissen entthront wurde, das sich nur mit der äußeren Er­scheinungswelt befassen kann.

Vertieft und individualisiert erscheint nun, ich möchte sagen, dieses Kantische Streben in einer Idealfigur, in derjenigen Idealfigur, die für viele Menschen wohl mit Recht zu den größten poetischen und künstlerischen Schöpfungen des mensch­lichen Daseins bisher gehört - in der Gestalt von Goethes Faust. Und indem wir Goethes Faust, so, wie ihn Goethe vor uns hinstellt, betrachten, schauen wir unmittelbar den Weg des deutschen Idealismus hin zum Schauplatz der Gedanken. Wie steht denn eigentlich dieser Goethesche Faust vor uns? - Ge­wiß, es ist bekannt, in welch eindringlicher Art Goethe seinen Faust nach den Quellen des Daseins streben läßt, und es er­scheint heute schon fast überflüssig, übei den Goetheschen Faust noch etwas zu sagen. Aber man darf vielleicht doch daran erinnern, daß zwei Züge des menschlichen Geisteslebens gerade mit der Goetheschen Faust-Schöpfung unzertrennlich verbunden sind, die in ganz besonderer Weise eine Art des menschlichen Geisteslebens zeigen, die doch, wenn man sie genau prüft, so, wie sie da hervortritt, aus der unmittelbaren Eigenart des deutschen Wesens hervorgeht. Welche zwei Züge sind denn - man mag sich zu diesen Zügen sonst stellen, wie

375

man will - welche zwei Züge sind denn unzertrennlich mit Goethes Faust-Schöpfung verbunden? - Man mag sozusagen spotten über diese zwei Züge, wenn man sie abgesondert von dieser Dichtung vom Standpunkt einer sich besonders hoch dünkenden materialistischen Weltanschauung betrachtet. Aber diese zwei Züge sind so ernst verbunden mit der Goethe­schen Weltanschauung und dem, was Goethe als deutsche Welt­anschauung empfindet, daß man wohl trotz der oftmals trivia­len Art, in der sich materialistische Weltanschauung über diese zwei Züge ergeht, sie dennoch unmittelbar verbunden denken muß mit dem, was Goethe als das Innerste des Impulses nach einer Weltanschauung empfand. Das eine ist die Art, wie Faust gegenübersteht dem Streben nach Naturerkenntnis, und damit ist verbunden, daß Faust, nachdem er sich unbefriedigt fühlt von allem äußeren Sinnes- und Verstandeswissen, zu dem greift, was als Magie bezeichnet wird. Es mögen abfallen von diesem Wort die abergläubischen Vorstellungen, die man da­mit verbindet. Wie tritt uns dieses magische Streben entgegen?

- So tritt es uns entgegen, daß wir sagen können: Faust stellt sich der Natur so gegenüber, daß er empfindet: Mit dem, was der Mensch unmittelbar als Sinneseindruck haben kann, was auf der Grundlage des Sinneseindruckes verstandesmäßig er­reicht werden kann, mit dem fühlt sich Faust fertig. Er fühlt sich aber auch ausgeschlossen von den Geheimnissen der Na­tur; er fühlt die Notwendigkeit, etwas zu entwickeln, was nicht in dem Menschen da ist, der sich nur unmittelbar in die Welt hineinstellt, sondern was aus dem Innersten der Natur erst herausentwickelt werden muß. Die menschliche Wesenheit muß so erweitert werden, daß in ihr etwas aufkeimt, was aus dem Innern heraus lebendige Vermittelungsglieder schafft in die lebendige Natur selber hinein: Erweiterung des mensch­lichen Wesens über das hinaus, was man findet, wenn man überblickt, was die Sinne geben, und das, was in dem Denken

376

lebt, zu dem Descartes die Menschheit hingewiesen hat; leben­diger machen diese menschliche Natur, als sie hineingestellt ist durch ihre eigene unmittelbare Gestaltungskraft. So ist das, was die Sinne bieten, dem Faust gleichsam nur eine Rinde, die über das wahre Wesen der Natur hingezogen erscheint. Diese Rinde muß durchdrungen werden, und unter dieser Rinde muß innerhalb der Natur etwas sein, was in dieser seelisch-geistig wirkt und lebt, so wie das Seelisch-Geistige im Menschen sel-ber wirkt und lebt. So steht Faust da wie ein lebendiger Pro-test gegen das, was Descartes als den Schauplatz der Gedan­ken bezeichnet, und indem Faust den Geist sucht, der , überall gestaltet, überall wirkt und lebt, indem Faust sucht , ist er der gerade Gegner jener Descartesschen Weltanschauung, welche ganz konsequent von sich aus und ganz aus ihrem Volkstum heraus in die Natur blickt und dadurch, durch ihre volkstümliche Eigenart, diese Natur entlebendigt, entseelt, sie zum Mechanismus macht. Das, was auf dem Wege des Descartes nie gefunden werden konnte, bildet für Faust in einem gewissen Punkte seines Lebens unmittelbar den Aus­gangspunkt. Und mit diesem Zug, den wir als den magischen bezeichnen können, der da nicht Begriffe, Ideen, Gedanken in der Natur sucht, sondern durch diese das, was in der Natur lebt und wirkt, wie in uns die Seele lebt und wirkt, - mit dem ist unmittelbar verbunden ein anderes in der Faustdichtung, über das man ebenso wiederum, wenn man es abgesondert von der Faustdichtung betrachtet, spotten kann. Unmittelbar ver­bunden damit ist etwas, was man bezeichnen kann als ein besonderes Hinblicken der Menschenseele nach dem Bösen, das uns verkörpert im Mephisto in der Faustdichtung ent­gegentritt. Dieses Böse in der Faustdichtung, es ist nicht irgend etwas, was sich bloß begrifflich in die menschliche Welt­anschauung hereinstellt, was als ein bloßes Gesetz, wie etwa

377

ein Naturgesetz, betrachtet wird, sondern dieses Böse wird in der Faustdichtung nicht in gewöhnlicher anthropomorphisti­scher Weise, sondern in der Art, wie es aus den menschlichen Kämpfen bewußt hervorgeht, - es wird dieses Böse verpersön-licht, zu einem Wesen gemacht, das sich dramatisch dem Menschen gegenüberstellt. So wie auf der einen Seite der Faust hinausstrebt aus dem, was Sinne und Verstand liefern, wie er die Rinde zu durchstoßen sucht, um das Lebendige zu suchen, so muß er durchbrechen das, was als bloße moralische Gesetz­mäßigkeit erscheint, durchstoßen zu dem, was in lebendiger Geistigkeit hinter der Oberfläche der seelischen Erlebnisse wie eine Persönlichkeit, wie ein Wesen erlebt wird. So strebt Faust auf der einen Seite gegenüber der Natur nach dem Lebendigen hinter der Sinneswelt, so strebt Faust auf der andern Seite nach einem Verhältnis der menschlichen Seele zum Bösen, das nun auch durchdringt, ich möchte sagen, die Hülle, die sich über das tiefere Seelische als das alltäglich Seelische erhebt. Nach zwei Seiten hin sucht Faust einen Ausgang aus dem, in das zum Beispiel Descartes und seine Weltanschauung diese Men­schenseele eingeengt hat: hinaus in die Natur, hinein in die geistigen Untergründe des Seelischen.

Und daß dieses Streben nach einem nun nicht begrifflich ideellen, sondern positiv erlebten Verhältnis zum Bösen in der geistigen Entwickelung des deutschen Wesens tief wurzelt, es kann daraus ersichtlich werden, daß ein von Goethe viel an­geregter deutscher Philosoph, Schelling, 1809 in seiner Ab­handlung gerade mit der Frage nach dem Ursprung des menschlichen Bösen in tiefer Weise sich befaßte; indem er die Frage aufwirft: Inwiefern ist eigentlich das, was sich in unsere Welt als das Böse hineinstellt, mit der weisen göttlichen Welt-regierung und göttlichen Güte vereinbar? - kommt er zu der

378

Antwort: Um das Böse zu erkennen, darf man nicht bloß zu den Urgründen des Daseins vorschreiten, sondern man muß vorschreiten zu dem, was Schelling dazumal im Einklang mit anderen Geistern die «Ungründe des Daseins> nannte. So wurde lebendig die Macht des Bösen, so lebendig innerhalb der deutschen Weltanschauung, daß der tragische Kampf der menschlichen Seele mit dem Bösen auch in seiner Lebendig­keit, nicht aus bloßen Begriffen heraus verständiich werden konnte. Und wenn wir mit dem, was Goethe so in seinem Faust aus deutschem Empfinden heraus verkörperte, verbin­den, was Goethe zuweilen äußerte, wenn er den Gang seines eigenen Geistes charakterisieren wollte, so werden wir ja immer wieder und wiederum verwiesen auf jenen wunderbaren, in den achtziger Jahren entstandenen Prosahymnus Goethes an die Natur:

«Natur, wir sind von ihr umgeben und umschlungen...

Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf

ihres Tanzes auf>;

dann die wunderbaren Worte darin:

«Gedacht hat sie und sinnt beständig; aber nicht als ein

Mensch, sondern als Natur.> -

Das heißt: Goethe ist sich klar darüber: Mechanisches Be­griffsnetz über die Natur ausspinnen, liefert kein Begreifen der Natur. Einzig und allein ein solches tieferes Suchen im Natur-dasein schafft Naturerkenntnis, durch welches die menschliche Seele in den Untergründen dieses Naturdaseins dasjenige fin­det, was mit dem verwandt ist, was sie in den Tiefen ihres eigenen Wesens aufzusuchen vermag, wenn sie in sie hinunter-dringt. -Fragen können wir nun: Ist solches Streben, wie es sich uns charakterisieren kann an Kant, charakterisieren kann an der

379

Idealfigur des Goetheschen Faust, - ist dieses Streben ein ver­einzeltes, ein bloß individuelles, oder hat es irgend etwas zu tun mit dem Gesamtstreben des deutschen Volksgeistes, der deutschen Volksseele? Schon wenn man Kant, den abstrakten Philosophen, betrachtet, der kaum einige Meilen über Königs­berg hinausgekommen ist, sein ganzes Leben damit verbracht hat, in abstrakten Gedanken zu leben, so findet man klar und deutlich gerade an der Art und Weise, wie er sich aus seiner früheren Weltanschauung in seine spätere hinüberarbeitet, überall, wie er trotz seiner Einsiedelei sich herausentwickelt aus alledem, was im deutschen Volksgeist nach Gewißheit strebt, und wie er vermöge dieses Volksgeistes eben nicht eigentlich zu einer Einengung der menschlichen Seele auf das Gebiet des bloß menschlichen Denkens kam, sondern herauf­geführt wurde auf den Horizont, auf dem ihm der ganze Um­fang der Ideen und Ideale erschien, die dem Menschen Impulse im Verlaufe seiner menschlichen Entwickelung geben.

Man möchte sagen: schon in Kant lebt das, was dann im deutschesten der deutschen Philosophen, in Fichte, zum Aus­druck gekommen ist; schon in Kant lebt das, was insbesondere vom achtzehnten Jahrhundert ab der deutschen Weltanschau­ung so teuer geworden ist. Dieser deutschen Weltanschauung wurde teuer, eine Betrachtung der Welt zu haben, die sich nicht beirrt zu sehen braucht durch das, was sich vor den Sin­nen ausbreitet, für die absolute Geltung desjenigen, was dem Menschen Pflicht, Liebe, göttliche Hingebung, sittliche Welt ist. Indem der Mensch die Welt überblickt und hinblickt auf die Art, wie er in die Welt hineingestellt ist, sieht er sich allerdings umgeben vom Gesichtsfeld der sinnlichen Eindrücke und dem, was er hinter diesen erahnen kann; aber er sieht sich auch so hineingestellt, daß er im strengsten Sinne den Wert der Welt nicht ohne diese zweite Seite der Welt denken kann; er sieht sich so hineingestellt, daß hinter ihm in seine Seele

380

hereinwirken die göttlichen Ideale, die ihm zur Pflicht und Tat werden, und diese Ideale tragen nicht den derb sinnlichen Charakter, den die Welt der äußeren Bewegung und äußeren Offenbarung hat. Man möchte sagen: Indem der deutsche Geist hinblickt auf die - sinnbildlich gesprochen - Steifheit und Glätte des Naturdaseins, auf die mechanische Bewegung in der Abwickelung der Naturvorgänge, so fühlt er die Notwendig­keit, einzusehen: Wie kann sich einleben in das, was in der Natur so gleichgültig ist, das, was in den Idealen als Forde­rung, als Pflicht, als sittliches Leben erscheint, - wie kann sich dahinein einleben dasjenige, was als höchster Lebenswert, als sittliches Ideal erscheint, wie stellt sich die Realität der sitt­lichen Ideale gegenüber der Realität der äußeren Natur? - Das ist eine Frage, die man so leichthin empfinden kann, die man aber auch in ungeheurer Tiefe herzerschütternd finden kann. Und so empfand man sie in den besten deutschen Geistern in der Zeit, in der Kants Weltanschauung sich bildete. So mußte die Sinnlichkeit vorgestellt werden, daß sie kein Hindernis war, um die sittliche Welt durch die Menschen in die Welt hineinfließen zu lassen. Die Sittlichkeit durfte keine Realität sein, die gleichgültig sich hinstellt, und an der abprallen müs­sen die sittlichen Ideen. Indem die sittlichen Ideen aus der gei­stigen Welt durch den Menschen zur Tat werden, dürfen sie nicht abprallen an der steifen materialistischen Brandung der Sinneswelt. Das muß man als eine tiefe Empfindung nehmen, dann versteht man, warum Kant das gewöhnliche Wissen ent­thronen will, damit für die sittliche Idee ein realer Urgrund gedacht werden könnte, dann versteht man Johann Gottlieb Fichte, der das paradoxe, aber deshalb doch aus tiefem deut­schem Streben hervorgehende Wort prägte: Die ganze Sinn­lichkeit, alles, was wir draußen anschauen und empfinden und über die äußere Welt denken können, das ist nur das versinn-lichte Material unserer Pflicht. Die wahre Welt ist die Welt

381

des waltenden Geistes, der sich auslebt, indem der Mensch ihn empfindet in Ideen und Idealen, und diese sind das wahre Wirkliche, sie sind das, was als Strom durch die Welt pulst, was nur etwas braucht, woran sie sich betätigen, veranschau­lichen können. Die Sinnlichkeit hat für Fichte kein selbstän­diges Dasein, sondern sie ist das versinnlichte Material für die menschliche Pflichterfüllung.

Aus einer Weltanschauung, die für den Geist alle Geltung sucht, die gesucht werden muß aus einer Naturanlage zum Idealismus hin, gingen solche Worte hervor; und man mag solche Worte einseitig finden, - darauf kommt es nicht an, solche Worte zum Dogtna zu machen. Aber sie zu nehmen als Symptome für ein Streben, das in einem Volke lebt, das ist das Bedeutsame; und zu erkennen, daß solche Geister, die im Sinne eines solchen Wortes schaffen, gerade aus dem idea­listischen Grundzug des deutschen Volksgemütes heraus die Deutschheit erheben zum Schauplatz der Gedanken. Um dem Gedanken seine Lebendigkeit zu geben, muß das menschliche Erkennen und Streben sich hinausleben über das, was Cartesius bloß finden konnte. Und Goethes «Faust>, dieses Bild des höchsten menschlichen Strebens, dieses Bild, zu dessen Ver­ständnis man sich erst durchringen muß dadurch, daß man viele deutsche Bildungselemente zuerst auf sich wirken läßt, woraus ist es hervorgegangen? - Es ist wahrhaftig nicht aus­gedacht, ist nicht so entstanden, daß ein einzelner es aus sich heraus geschaffen hat; sondern es ist herausentstanden aus der Sage, aus der Dichtung des Volkes selber. Faust lebte im Volk, und Goethe hat noch das «Puppenspiel von Dr. Faust» kennen­gelernt; und in der einfachen Volksfigur sah er schon die Züge, die er nur hinaufgehoben hat auf den Schauplatz der Gedanken. Durch nichts so klar als gerade durch den Goethes kann anschaulich werden, wie ein Höchstes hervor­gegangen ist aus dem, was am tiefsten, elementarsten, innigsten

382

im einfachen Volkswesen lebt. Man möchte sagen: nicht Goethe und die Goethe-Natur allein hat den «Faust» ge­schaffen, sondern Goethe hat den «Faust> herausgeholt wie einen Keim, der innerhalb des deutschen Volksorganismus lag, und hat in ihm sein Wesen gegeben, hat ihn in einem Sinn verkörpert so, daß diese Verkörperung entspricht zu gleicher Zeit dem höchsten Streben des deutschen Geistes nach dem Schauplatz der Gedanken. Nicht das Streben vereinzelter Per­sönlichkeiten aus ihrer Eigenart heraus, sondern gerade, wenn es uns in seiner Größe entgegentritt aus dem ganzen Volks­tum, ist es das Ergebnis des deutschen Idealismus.

Und wie wirkt der Gedanke innerhalb dieses deutschen Idealismus? - Man kommt zu einer Einsicht, wie er wirkt, eben gerade dadurch, daß man dieses deutsch-idealistische Gedanken-streben mit dem vergleicht, was ja auch Gedankenstreben ist, sagen wir zum Beispiel bei Descartes. Bei Descartes schränkt der Gedanke den Menschen in die engsten Schranken ein, er wirkt als bloßer Gedanke und bleibt als solcher auf die Welt be-schränkt, in der der Mensch unmittelbar lebt mit seinen Sinnen und seinem Verstand. Innerhalb des deutschen Idealismus sucht die Persönlichkeit den Gedanken nicht bloß so auf, wie er hereintritt in die Seele, sondern es wird der Gedanke zum Spie­gelbild desjenigen, was lebendig außerhalb der Seele ist, was lebendig das All durchwallt und durchwebt, was geistig außer­halb des Menschen ist, was über und unter dem Geist des Menschen ist, wovon die Natur die äußere Offenbarung und das seelische Leben die innere Offenbarung ist. So wird der Gedanke zu einem Abbilde des Geistes selber; und indem der Deutsche sich zum Gedanken erhebt, will er durch den Ge­danken hindurch zu dem lebendig wirkenden Geiste sich er­heben, will eindringen in jene Welt, die hinter dem Schleier der Natur so lebt, daß der Mensch, indem er diesen Schleier durchdringt, sich nicht nur etwas vergegenwärtigt, sondern eindringt

383

mit seinem eigenen Leben in ein Leben, das ihm ver­wandt ist. Und wiederum, indem der Mensch nicht zufrieden ist mit dem, was er in seiner Seele erleben kann, sucht er ein­zudringen in das, was hinter Denken, Fühlen und Wollen liegt, wofür diese drei äußere Hüllen sind, wofür selbst der Gedanke nur eine innere Offenbarung ist, in dem der Mensch lebt und wirkt, in dem er sich weiß als in einem Lebendigen, das in ihm den Schauplatz der Gedanken schafft. Und so können wir sehen, wie gerade in jenen Zeiten, in denen der deutsche Geist scheinbar so abgezogen von der äußeren Wirklichkeit, von der äußeren Erfahrung, nach einer Weltanschauung strebte, dieser deutsche Geist ganz und gar sich waltend und webend fühlte innerhalb des Schauplatzes der Gedanken. Und da ist zuerst Johann Gottlieb Fichte, der die äußere Natur nur als einen äußeren Anstoß zu dem betrachtet, was er eigentlich suchen will, dem selbst, wie gesagt, die ganze äußere Sinnesnatur nur das versinnlichte Material unserer Pflicht geworden ist; der sich einleben will nur in das, was auf gedankliche Art aus den Tiefen der Welt heraufdringen kann und vor der mensch­lichen Seele sich unmittelbar vergegenwärtigen kann. Das ist das Wesentliche seiner Weltanschauung, das ihm nur gilt, was auf gedankenhafte Art aus den tiefsten Seelengründen hervor-geht und sich ankündigt als aus den tiefsten Gründen der Welt hervorgehend.

Seinem Fortsetzer Schelling wird der Drang nach der Natur, der faustische Drang, im Innern so lebendig, daß ihm Natur-erkennen, das nur in Begriffen über die Natur sich aussprechen will, als nichts gilt. Nur wenn die menschliche Seele dazu kommt, die ganze Natur so zu betrachten wie die Physiogno­mie des Menschen, nur wenn man die Natur so betrachtet, daß die Natur die Physiognomie des hlnter ihr waltenden Geistes ist, dann lebt man in wahrer Naturerkenntnis; dann aber fühlt man sich, indem man durch die Rinde hindurchdringt, in der

384

Natur schaffend. Und wiederum paradox, aber dem Wesen des Deutschtunis entsprechend, ist ein Wort, das Schelling gesagt hat: Natur erkennen heißt eigentlich Natur schaffen! Gewiß, das ist zunächst ein einseitiges Wort; ein Wort aber, das eine Einseitigkeit darstellt, die dies nicht bleiben muß; sondern, wenn sie recht erkannt wird, dann wird diese schaffende Natur­erkenntnis gerade dazu führen, daß der Geist sich im Innern darauf besinnt, daß er in sich schlummernde Kräfte erwecken kann, welche zu den geistigen Quellen der Natur vordringen. Den Quell, den Keim zu demjenigen, was wahre Geisteswissen-schaft sein kann, - gerade innerhalb dieses Weltbildes des deutschen Idealismus können wir ihn finden!

Bei dem dritten der deutschen idealistischen Philosophen, bei Hegel, dem schwerverständlichen, dem vielen so fern lie­genden, erscheint in derselben Weise dieser lebendige Charak­ter des Schauplatzes der Gedanken innerhalb des deutschen Idealismus. Merkwürdig mutet uns ja in unserer heutigen Zeit, wo das Abstrakte so verpönt ist, wo der bloße Gedanke so wenig geliebt wird, diese Weltanschauung an. Und doch fühlt sich Hegel innig verbunden mit der Richtung Goethescher Natur nach dem Geiste hin. Der Inhalt seiner Weltanschauung

- was ist er denn anderes als ein bloßes Denken, ein Fortgehen von einem Gedanken zu dem anderen? Ein Gedankenorganis­mus wird mit seiner Weltanschauung vor uns hingestellt; die Notwendigkeit wird für uns erzeugt, daß wir einem bloßen Gedankenorganismus, den wir nur schaffend erzeugen können, uns so gegenüberstellen wie einem anderen Organismus mit den Sinnen. Aber ein Bewußtsein ruht hinter diesem Hinstellen eines Gedankenorganismus, eine gewisse Gesinnung. Das ist die Gesinnung, daß, wenn der Mensch abstreift von seiner Weltanschauung alle Sinnesempfindung, alle Sinneswahrneh­mung für einige Augenblicke des Weltanschauens, wenn er abstreift alles, was er als einzelner will und fühlt, wenn er sich

385

dem hingibt, was in dem Sein wirkt, als ob der Gedanke einen Schritt nach dem andern selber vollziehen würde, - daß der Mensch dann sich einsenkt in eine Welt, die eine denkende Welt ist, aber nicht mehr seine denkende Welt, so daß er die­ser Welt gegenüber nicht mehr sagt: Ich denke, also bin ich!

- sondern: Es denkt in mir der Weltengeist, und ich gebe mich hin für den Weltengeist zum Schauplatz, auf daß in dem, was ich als Seele dem allwaltenden Weltengeist hinreiche, die­ser Geist von Stufe zu Stufe seine Gedanken entwickeln und mir zeigen kann, wie er seine Gedanken dem Weltenwerden zugrunde legt. Und der tiefste religiöse Zug ist verbunden mit dem Streben, ganz und gar in der Seele nur das zu erleben, was diese Seele erleben kann, wenn sie sich mit Entäußerung all ihres eigenen Wesens dem Denken hingibt, das sich selber denkt in ihr. Man muß auch diese Hegelsche Philosophie, diesen so ideellen Auszug aus dem deutschen Wesen so ansehen, daß man sie nicht als eine Dogmatik nimmt, worauf man schwören kann oder nicht, sondern als etwas, was wie ein Symptom deut­schen Strebens in einer gewissen Zeit vor uns dastehen kann. Es erscheint gleichsam der Weltgeist in der Hegelschen Welt­anschauung als ein bloßer Denker; aber so wahr es ist, daß zur Weltgestaltung allerdings noch vieles, vieles andere nötig war als das Denken, so ist es doch wahr, daß der Weg, der einmal dazu geführt hat, so die Logik zu suchen, einer derjenigen ist, die im Menschen die Gesinnung nach dem Lebendigen, das hinter dem Dasein waltet, erzeugen und die den Menschen auf den Schauplatz nicht des abstrakten denkerischen Gedankens, sondern des lebendigen Gedankens führen, der im Gedanken-erleben Weltenerleben hat.

Nach drei verschiedenen Richtungen hin suchten die drei Idealisten, Fichte, Schelling, Hegel, den Menschengeist auf den Schauplatz des Gedankens zu erheben: Fichte, indem er in das Tiefste des menschlichen Ichs hineinzuleuchten versuchte

386

und nicht sagte wie Descartes: Ich denke, also bin ich! Denn Fichte wurde, wenn er nur hätte zu dem Gedanken des Des­cartes kommen können, gesagt haben: Da treffe ich ja in mir ein starres Sein, ein Sein, zu dem ich hinschauen muß. Das ist aber kein Ich. Ein Ich bin ich nur, wenn ich mein eigenes Dasein selber sichern kann jederzeit. Nicht durch den Ge­dankenakt, nicht durch bloßes Denken kann ich zu meinem Ich kommen, sondern durch eine Tathandlung. Das ist ein fortwahrend Schöpferisches. Es ist nicht darauf angewiesen, auf sein Sein zu blicken, es verläßt sein voriges Sein; aber indem es die Kraft hat, sich im nächsten Augenblick wieder zu schaf­fen, aus der Tathandiung heraus, entsteht es immerfort aufs neue. Fichte ergreift den Gedanken nicht in seiner abstrakten Form, sondern in seinem unmittelbaren Leben auf dem Schau­platz des Gedankens selbst, wo er lebendig schafft und schöpfe­risch lebt. Und Schelling, er versucht, die Natur zu erkennen, und mit echt deutschem Gemüt lebt er sich in die Geheimnisse der Natur ein, wenn man auch selbstverständlich seine Äuße­rungen, will man sie als Dogma nehmen, als phantastisch hin-stellen kann. Er lebt sich aber mit seinem tiefsten Gemüt in die Naturvorgänge ein, so daß er sich nicht bloß als passiver Beobachter der Natur fühlt, als ein Wesen, das die Natur bloß anschaut, sondern als ein Wesen, das untertaucht in die Pflanze und mit der Pflanze schafft, um das Pflanzenschaffen zu ver­stehen. Von der geschaffenen zur schaffenden Natur sucht er sich zu erheben. Er sucht mit der schaffenden Natur so intim zu werden wie mit einem Menschen, mit dem man befreundet ist. Ein urdeutscher Zug im Schellingschen Wesen ist dieses. Goethe suchte von seinem Gesichtspunkt aus in ähnlicher Weise an die Natur heranzukommen, wirklich wie sein Faust das ausspricht, wie an den «Busen eines Freundes». Da nennt Goethe, um zu bezeichnen, wie fern jeder abstrakte Betrachter einer Natur-Betrachtung ist, - da nennt er das. was er als äusserer

387

Naturforscher der Erde gegenüber ist, seine Erdfreund­schaft. So menschlich, so unmittelbar lebendig fühlt sich deut­scher Geist in Goethe dem in der Natur waltenden Geist in dem Wissenschaftlich-sein-Wollen, indem er die Wissenschaft selber auf den Schauplatz der Gedanken heben will. Und Hegel­sche Logik - abstrakter, kalter, nüchterner Gedanke bei Hegel,

- was wird sie? Wenn man bedenkt, wie bloße Logik den Menschen oftmals anmutet, und das vergleicht mit dem, was in Hegeischer idealistischer Weltanschauung waltet, dann be­kommt man erst den richtigen Eindruck von der Weltbedeu­tung dieses Hegelschen Idealismus. Bei Hegel wird das, was der Mystik am allerfernsten zu stehen scheint, der klare, der kristallklare, man möchte sagen, kristallkalte Gedanke selber so erfühlt und erlebt, daß zwar der Gedanke in der Seele waltet, daß aber, was die Seele an Gedanken erlebt, unmittelbares my­stisches Erleben ist; denn was Hegel an Gedanken erlebt, ist ein Einswerden mit dem göttlichen Weltgeist, der selber die Welt durchwallt und durchlebt. So wird höchste Klarheit, be­griffliche Nüchternheit bei Hegel wärmste, lebendigste Mystik. Diesen Zauber bringt die Art und Weise zustande, wie aus dem unmittelbar lebendigen Idealismus heraus der deutsche Geist sich auf den Schauplatz der Gedanken erhebt. Er beweist damit, daß es nicht darauf ankommt, zu welchen einzelnen Äusserungen man kommt, sondern darauf, aus welchen Unter­gründen der Seele heraus die Menschenseele Weltanschauung sucht. Hegel soll trockener Logiker sein. Demgegenüber kann man sagen: Derjenige, der Hegels Logik so nennt, ist nur selber trocken und kalt. Derjenige, der sich dieser Logik in der rechten Weise gegenüberzustellen vermag, kann empfinden, wie sie aus dem deutschen Idealismus herauspulsiert; der kann an den scheinbar abstrakten Gedanken, die bei Hegel so einer aus dem anderen scheinbar herausgesponnen werden, nach­fühlen lebendigste Seelenwärme, die nötig ist, urn alle Eigenheit

388

des Menschen vom Menschen abfallen zu lassen und sich mit der Gottheit zu verbinden, so daß bei Hegel Logik und Mystik nicht mehr zu unterscheiden ist; daß zwar nichts Nebelhaftes darin waltet, daß aber durchaus bis in alle Einzel-heiten hinein ein mystischer Grundzug waltet.

Der deutsche Geist hat bis in unsere Zeit herein sich be-müht, selbst in den Gegnern des deutschen Idealismus, den idealistischen Grundrug dieses deutschen Wesens in seiner Be­deutung als Rätseifrage immer wieder und wiederum zu durch-forschen. Und die besten deutschen Geister, auch diejenigen, die Gegner Fichtes, Schellings, Hegels sind, - wenn man den Blick zu ihnen hinwendet, man findet doch, daß die deutsche Entwickelung darin besteht, immer mehr und mehr sich geriide die Grundimpulse dieses Idealismus einzuverleiben.

Wie diese Grundimpulse zum lebendigen Erleben der geisti­gen Welten führen können, davon ist ja öfters die Rede ge­wesen und soll noch öfter die Rede sein. Aufmerksam soll nur noch gemacht werden, wie - man möchte sagen - der deutsche Idealismus, nachdem er einen der Höhepunkte erstiegen hatte in der deutschen Weltanschauung, als anderer Impuls dann im deutschen Geistesleben weiterwirkte. Es war eine Zeit inner-halb dieses deutschen Geisteslebens, und sie lebte sich aus in Geistern aller-, allerersten Ranges bis in die Mitte des 19. Jahr­hunderts herein, bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts herein, da war man der Anschauung: Solches Schaffen, wie es zum Beispiel im Goetheschen Faust zum Ausdruck kommt, wo wirklich unmittelbar der Gedanke die Phantasie ergreift und dramatisches Schaffen entfalten kann, sei nur innerhalb der Dichtung möglich; aber die Entwickelung der Menschheit zeige, daß zum Beispiel die Musik ein anderes Gebiet habe; daß die Musik gleichsam das Gebiet sei, welches nicht auf dem Umwege, auf dem es durch eine solche Dichtung wie die Faustdichtung gesucht wird, das Höchste im Menschen erfasse, -

389

daß die Musik das Gebiet sei, auf dem die Sinnlichkeit unmittelbar ergriffen werden muß. Man hat angeführt - mit einem gewissen Recht nach den Erlebnissen, die man bis dahin haben konnte innerhalb der Menschheitsentwickelung - zum Beispiel den Gegensatz der Don-Juan-Sage gegen die Faust-Sage, hat angeführt, wie verfehlt es ist, die Don-Juan-Sage so heraufzuheben wie die Faust-Sage; man hat behauptet, es könne das, was diese andere Sage, die den Menschen ganz im sinnlichen Erleben aufgehend zeigt, entsprechend nur dargestellt werden innerhalb der Musik, die unmittelbar die Sinnlichkeit aufwallen lasse und ergreife. - Die Art und Weise, wie der Deutsche nicht abstrakt, sondern lebendig sich auf den Schauplatz der Gedanken erhebt, hat auch die Widerlegung dieser Anschauung gebracht. In Richard Wagner steht in der neueren Zeit vor uns derjenige Geist, welcher den Sieg über das bloß äußerlich empfindungs­gemäße Element in der Musik errungen hat, der den Schau­platz der Gedanken so zu vertiefen suchte, daß der Gedanke selber das Element ergreifen konnte, von dem man glaubte, daß es nur in der Musik leben könne. Die Musik zu vergeisti­gen vom Schauplatz der Gedanken aus, das zu zeigen, das war eben auch nur dem deutschen Idealismus möglich. Man kann sagen: Richard Wagner hat gezeigt, daß in dem sprodesten Elemente für den Gedanken nichts liegt, das der Stärke des Lebens, welches in dem deutschen Gedanken waltet, wider­streben, widerstehen könnte. Hat der Deutsche versucht, durch seine Naturanschauung und Philosophie die äußere Natur so vor die Seele hinzustellen, daß das scheinbar Mechanische, scheinbar äußerlich Steife sein Mechanisches verliert und un­mittelbar das, was sonst im Formalen erscheint, so seelisch und lebendig lebt und webt wie die menschliche Seele selber, so hat auf der anderen Seite das Element, das in unmittelbar sinn­licher Abfolge der Töne strömt, seine Verbindung, seine Ehe suchen dürfen mit dem, was die menschliche Seele auf dem

390

Schauplatz der Gedanken zu den höchsten Höhen und Tiefen führt, in der Wagnerschen Musik, die damit ein Heraufheben eines künstlerisch-sinnlichen Elementes in eine unmittelbar geistige Atmosphäre bewirkt hat.

Diesen Zug des deutschen Idealismus, der zu einem Ergebnis führt, das charakterisiert werden kann als das Stehen der Seele auf dem Schauplatz des Gedankens, - diesen Zug wollte ich heute mit einigen Strichen charakterisieren. Dieser Zug des deutschen Idealismus, dieses lebendige Erfassen des sonst toten Gedankens, das ist es, was eine Seite, aber eine bemerkenswerte Seite in dem Wesen des deutschen Volkstums ist, was dem­jenigen als eine bemerkenswerte Erscheinung erscheinen wird, der, ich möchte sagen, selber in sich den Gedanken belebend, sich in das deutsche Volkstum hineinzustellen vermag. Wahr­haftig, der Deutsche kann zu dem Grundzug des Wesens seines Volkes nicht anders kommen, als indem er immer tiefer gerade in die Selbsterkenntnis des menschlichen Wesens eindringt. Und dies darf der Deutsche, wie mir scheint, so recht empfin­den in unserer unmittelbaren Gegenwart, wo dieses deutsche Wesen wirklich sich zu wehren hat in einem ihm aufgedräng­ten Kampfe, wo dieses deutsche Wesen seiner selbst bewußt werden muß, indem es einen Kampf führen muß, den es ihm gebührend empfindet aus der Aufgabe heraus, die ihm als eine heilige übertragen erscheint durch die Weltenkräfte und Weltenmächte selber. Und indem heute auf andere Art als in den Zeiten, von denen wir hauptsächlich sprachen, der Deutsche sich erkämpfen muß seine Weitgeltung, seine Welt-bedeutung, muß doch das lebendig vor unserer Seele auftauchen, für das der Deutsche heute in einen welthistorischen Kampf ein-tritt. Den tieferen Zusammenhang der sich durch den Weltenlauf hindurch kämpfenden deutschen Seele mit den blutigen, aber aus Schmerz und Leiden heraus uns doch beseligenden Zeit-ereignissen, - den tieferen Zusammenhang wird eine zukünftige

391

Geschichte immer mehr und mehr festzustellen haben. Ich habe nichts gewollt mit der heutigen Betrachtung, als nur zu zeigen, daß der Deutsche nicht nötig hat, aus Haß, aus Empörung heraus zu sprechen, wenn er sein Wesen in Ver­gleich stellen will mit dem Wesen anderer Völker. Nicht um uns zu überheben, brauchen wir hinzuweisen auf das Wesen der deutschen Seele, sondern um unsere von der Weltgeschichte uns übertragenen Pflichten zu erkennen, dürfen wir darauf hinweisen. Und wir brauchen nicht, wie das heute leider im Lager unserer Feinde geschieht, allerlei zu erfinden, was dazu dienen kann, den Gegner herabzusetzen, sondern wir können auf das Positive hinweisen, das in der deutschen Volkssubstan­tialität wirkt. Wir können die Tatsachen sprechen lassen, und sie können uns sagen, daß der Deutsche nicht will, sondern wollen muß, nach seinen Anlagen, die ihm vom Weltgeist ein­gegeben sind, sein Wesen, seine Fähigkeiten - ohne jode Über-hebung - in Vergleich zu stellen mit dem Wesen anderer Völker.

Von diesem Gesichtspunkte aus brauchen wir nicht zu ver­fallen in das, worin so bedauerlicherweise viele unserer Gegner verfallen. Wir schauen hinüber nach dem Westen. Wir brau­chen es wahrlich nicht zu machen, wie es die Franzosen machen, die, indem sie deutsches Wesen charakterisieren wollen in sei­ner Barbarei, wie sie meinen, in seiner Niedrigkeit, sich selber erhöhen wollen; wahrhaftig, die Franzosen hatten dazu nötig, wie sie glauben, eine neue Sophistik. Und Geister, die un­mittelbar vor dem Kriege mit hoher Anerkennung über deut­sches Wesen gesprochen haben, sogar an berühmten Lehrstätten in höchster Anerkennung gesprochen haben, solche finden heute, wie wir hören können, die Möglichkeit, den Standpunkt zu vertreten, daß der Deutsche nach der ganzen Art seiner Weltanschauung gar nicht anders könne als zu erobem, als das, was um ihn herum ist, wie Boutroux sagt, sich zu assimilieren;

392

denn der Deutsche wolle nicht in bescheidener Weise, wie Boutroux meint, hinansteigen zu den Quellen des Daseins, sondern er behaupte, er sei mit diesen Quellen verbunden, er trage die Gottheit in sich und müsse daher auch alle andern Völker in sich tragen. Tief ist allerdings diese deutsche Welt­anschauung gedacht; nicht aber ist sie unbescheiden gedacht.

Auch das braucht vielleicht der Deutsche nicht, was heute von britischer Seite aus gesucht wird, wenn deutsches Wesen charakterisiert werden soIL Britisches Wesen, indem es gerade das Eigentümliche seines Volkstums in den Vordergrund drängt, hat sich ja niemals sonderlich bemüht, in deutsches Wesen ein-zudringen. Als in Deutschland die vierziger Jahre durch die Entwickelung hindurchaogen, da ging es, ich möchte sagen, so recht aus dem hervor, was der Deutsche auf dem Schauplatz der Gedanken erleben kann, daß die Art, wie die Schüler Hegels dachten, von Schelling, der noch lebte, und von seinen Schü­lern als zu abstrakt, als zu logisch empfunden wurde, und daß man sich auf Schellings Seite bemühte, auf dem Schauplatz der Gedanken eine größere Lebendigkeit für die Gedanken selber zu gewinnen. Während man bei Hegel empfand, daß er mit logischer Strenge einen Gedanken aus dem anderen hervor-gehen ließ, wollte Schelling, daß man die Gedanken als Wir­kendes, Lebendiges empfand, die nicht nötig haben, in Logik bewiesen zu werden, wie das, was von Mensch zu Mensch in lebendiger Wechselwirkung geschieht, nicht in Logik umfaßt werden kann. Er wollte es in etwas erfassen, was mehr ist als Logik, wollte es lebendig erfassen, und da entstand ein großer Streit auf dem Schauplatz, den der Deutsche zu erhellen ver­sucht mit dem Licht, das er aus seiner lebendigen Erkenntnis heraus entzünden will. Diesen Streit, der da entstand, beobach­teten die Engländer. Eine Londoner Zeitung schrieb dazumal einen, wie ihr wahrscheinlich erschien, geistvollen Artikel über diesen Streit, in dem gesagt war: Diese Deutschen sind eigentlich

393

abstruse Schwärmer. Da beschäftigen sich viele damit, wer da recht hat: Schelling oder Hegel. Die Wahrheit ist doch nur, daß Hegel dunkel ist und Schelling noch dunkler; und der wird am leichtesten mit den Dingen fertig, der dieses findet, -eine Weisheit, welche ungefähr dem Standpunkt gleichkommt, die Welt nicht zu studieren, wenn sie von der Sonne beleuchtet ist, sondern in der Nacht, wenn alle Katzen schwarz oder grau sind. Aber der, der heute dasjenige überblickt, was an briti­schem Urteil über die Notwendigkeit desjenigen gefällt wird, was innerhalb des deutschen Wesens geschieht, der wird viel­leicht an solche «tief verständnisvolle> Worte wie jene auch heute wiederum erinnert, insbesondere dann, wenn diese Worte vorzugsweise dazu dienen sollen, zu verhüllen das, was eigent­lich wirkt und was man sich auch selbst nicht gestehen will. Eine neue Maske braucht wahrhaftig das gegenwärtige Briten­tum, um sein Verhältnis zum Deutschtam zu chalakterisieren, eine neue Sophistik brauchen die fremden Philosophen, um Deutschland herabzusetzen, - eine neue Sophistik, in die sie sich hineingefunden haben just seit Kriegsausbruch.

Und die Italiener? Sie brauchen auch etwas, am sich gegen­wärtig über ihr eigenes Tun zu beruhigen. Ohne Überhebung darf der Deutsche sagen: erheben wird es ihn innerhalb der schwierigen Weltenlage, wenn er gerade an die ihm vom Weltengeist zugedachte Pflicht denkt, indem ihm Selbsterkennt­nis wird und ihm diese wird zur Erkenntnis deutschen Wesens. Was er tun soll, das fließt ihm als Erkenntnis aus der Erkennt­nis des deutschen Wesens. Als d'Annunzio seine klingenden Worte sprach, bevor der italienische Krieg ausbrach, hat er sich wahrhaftig nicht so in das italienische Volkstum vertieft, als ihm das möglich gewesen wäre. Uns Deutschen aber, die wir uns gerne hineinversenkt haben in das, was römischer Geist Großes geschaffen hat, - uns steht es nicht zu, zu glauben, daß die hohl klingenden Worte d'Annunzios wirklich aus dem tiefsten

394

Wesen des italienischen Volkstums ssammen; daß sie aber stammen aus den Motiven, die d'Annunzio braucht, um sich zu rechtfertigen. Die anderen haben Sophistik, Maske gebraucht, um gewissermaßen die Ursachen des Krieges von ihrem Boden abzuwälzen; der Italiener brauchte etwas anderes, eine Recht-fertigung, die wir schon in den Jahren heraufkommen sahen, eine sonderbare Rechtfertigung: er brauchte einen neuen Heili­gen, einen richtig innerhalb der Profanen neu ernannten Hei­ligen, den «heiligen Egoismus>. Wir sehen ihn ja immer wie­derkehren und auf ihn sehen wir die Vertreter des italienischen Wesens sich immer wieder berufen. Einen neuen Heiligen brauchte man, nm zu rechtfertigen, was man getan hatte.

Vielleicht wird es gerade den objektiven, unbefangenen Be­trachter des deutschen Wesens hinführen können zu einem Stehen innerhalb der heutigen historischen Ereignisse; denn nicht aus solcher Sophistik, solcher Maske, und auch nicht aus der «Ernennung eines neuen Heiligen» braucht deutsche Eigen­art hervorzugehen, sondern sie geht hervor aus dem mensch­lichen Wesen, aus dem, was dieses menschliche Wesen durch sich sprechen läßt, was aus dem Volksgeist des deutschen Volkes heraus beste Geister diesem Volk geoffenbart haben, was diese Geister aber auch für das Volk gehofft haben, denn das ist auch eine Eigentümlichkeit dieses deutschen Wesens, die man etwa so bezeichnen kann, daß man sagt: Der Deutsche suchte immer seinen Seelenblick auf das zu lenken, was in ihsn erregt wurde von dem Schauplatz der Gedanken aus, und von diesem aus wollte er auch erkennen, welche Hoffnung er hegen könne für das, was sein Volk leisten könne.

Und heute, wo wir nötig haben, Liebe, recht, recht viel Liebe zu dem zu entwickeln, was die Vorfahren des deutschen We­sens innerhalb der deutschen Volksseele und Volkskraft be­gründet haben, - um uns aus dieser Liebe heraus in die heuti­gen geschichtlichen Ereignisse hineinzustellen, heute, wo wir

395

den Glauben an die Kraft der Gegenwart brauchen, heute, wo wir die zuversichtliche Hoffnung auf das Gelingen desjenigen brauchen, was dem deutschen Wesen für die Zukunft gelingen muß, - heute können wir gerade in solcher Weise hinschauen auf das, was die Deutschen von jeher geliebt, geglaubt, gehofft haben über den Zusammenhang ihrer Vergangenheit, Gegen­wart und Zukunft. Und so sei denn geschlossen mit dem Aus­spruch eines Mannes, der ja heute in weitesten Kreisen unbe­kannt ist, der aber im einsamen Denken das Volkstümliche und das Gedankenhafte des Goetheschen Faust ergründen wollte in jenen Jahren deutschen Lebens, in denen Deutschland noch nicht in der neueren Form den deutschen Staat hervorgebracht hatte. In jenen Jahren, die vorangegangen waren den Taten der deutschen Kraft, in den sechziger Jahren, hat ein einsamer Denker sich den Gedanken gemacht: in der Vorstellung, im Seelenleben, im Idealismus wollte sich der Deutsche zum Höchsten erheben, das ihm nur irgendwie erahnbar sein kann. Eine Kraft hatte er da zu entfalten, die in seinem Wesen liegen muß und die uns die Hoffnung aufkeimen läßt, daß sich diese Kraft fruchtbringend, siegend in der Tat ausleben werde. Ein einfacher deutscher Faustbetrachter, ein Betrachter der Dich­tung, die so recht zeigt, daß deutsches Wesen Zukunftskräfte in sich birgt, - er sei mit seinen Worten angeführt. Indem dieser Faustbetrachter auf Worte hinweist, die Goethe selber, sich ahnend versetzend in deutsche Zukunft, als 65jähriger Greis gesprochen hat, knüpft er daran eigene Worte und sagt:

«Der ernste Stil, die hohe Kunst der Alten,

Das Urgeheirunis ewiger Gestalten,

Es ist vertraut mit Menschen und mit Göttern,

Es wird in Felsen wie in Büchern blättern.

Denn was Homer erschuf und Scipionen,

Wird nimmer im gelehrten Treibhaus wohnen!

396

Sie wollten in das Treibhaus uns verpflanzen;

Allein die deutsche Eiche wuchs zum Ganzen!

Ein Sturm des Wachstums ist ihr angekommen,

Sie hat das Glas vom Treibhaus mitgenommen.

Nun wachs, 0 Eich', erwachs zum Weltvergnügen.

Schon seh ich neue Sonnenaare fliegen.

Und wenn sich meine grauen Wimpern schließen,

So wird sich noch ein mildes Licht ergießen,

Von dessen Widerschein von jenen Sternen

Die späten Enkel werden sehen lernen,

Um in prophetisch höheren Gesichten

Von Gott und Menschheit Höh'res zu berichten.>

Und der Faust-Betrachter aus den sechziger Jahren fährt fort:

«Fügen wir noch den Wunsch hinzu, daß des von besseren Sternen mit mildem Lichte auf uns herabblickenden Meisters Wort in Erfüllung gehen möge an seinem in Dunkel, Ver­wirrung und Drang, aber so Gott will mit unverwüstlicher Kraft seinen Weg zur Klarheit suchenden Volke, und daß , welche der Dichter des Faust von den kommenden Jahrhunderten erwartet, auch die deutsche Tat nicht mehr als symbolischer Schemen, sondern in schöner, lebensfreudiger Wirklichkeit neben dem deutschen Gedanken und dem deutschen Gefühle einst ihre Stelle und ihre Verherrlichung finde!»

Daß aus unseren Tagen aus dem Blut und aus dem tatkräfti­gen Schöpferischen, mutig Wirkenden unserer Tage heraus sich solche Hoffnungen erfüllen mögen, die ausgesprochen sind von besten Deutschen aus tiefstem deutschem Volksgemüt heraus, das glauben wir. Wir glauben, daß der Deutsche in unseren schweren Tagen entfalten kann zu seiner Stärke, über die sich die Atmosphäre des Hasses ausbreitet, noch ein ande­res: daß er lebendig ergreifen kann zur Stärkung seiner Kraft

397

die Liebe zu dem, was in Geist und Kraft, in Leben und Wir­ken seiner Väter als heiliges Vermächtnis überliefert worden ist, weil er überzeugt sein darf, daß er, indem er sich mit dieser Liebe zur Vergangenheit durchdringt, die Kraft findet, an die er glauben kann; weil er in diesem Glauben und dieser Liebe die Hoffnung für jene Früchte finden darf, die dem deutschen Wesen erblühen müssen aus Blut und Leid, aber auch aus der beseligenden Tat der Gegenwart heraus, die der Deutsche ver­richtet nicht aus Kriegslust, sondern aus Hingabe an eine ihm von der Geschichte auferlegte Notwendigkeit. So stellt sich hinein in deutsches Leben, in deutsche Arbeit, in deutsches Fühlen und Empfinden in der gegenwärtigen schweren Zeit das, was den Deutschen tragen darf, heben darf, führen darf durch das schwere Ringen, in dem er sich befindet: die Liebe zur deutschen Vergangenheit, der Glaube an die deutsche Ge­genwart, die zuversichtliche Hoffnung auf die deutsche Zu­kunft.

398

DAS WELTBILD DES DEUTSCHEN IDEALISMUS Berlin, 22. April 1915

Dem Weltbilde, das ich mir erlauben möchte, morgen vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft aus zu entwerfen, möchte ich heute, gleichsam als Einleitung, vorangehen lassen eine Charakteristik des Weltbildes des deutschen Idealismus.

Es ist möglich, von einem solchen Weltbilde des deutschen Idealismus zu sprechen, wenn man den Versuch macht, aus dem innersten Wesen der deutschen Volksseele gewissermaßen das­jenige herauszuholen, was in der größten Zeit - in bezug auf das Geistesleben - von dieser Volksseele versucht worden ist, um den Weltenrätseln, den Weltengeheimnissen nahezukom­men. Wenn man das, was sich diese Volksseele damals als Im­pulse, gewissermaßen als Kräfte einverleibt hat, fortwirkend sieht auch in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts noch und bis in unsere Tage herein, wo dieses Weltbild des deutschen Idealismus gegenüber anderen Bestrebungen zurück-getreten ist, wo es gleichsam verborgen, als drängende Kraft in der Entwickelung des Volksgeistes gelebt hat, dann kann man auch in der Gegenwart durchaus von einem solchen wirksamen Weltbilde sprechen. Allerdings muß man sich gegenwärtig halten, daß durch mancherlei, was in unserem Geistesleben heraufgezogen ist und für die Allgemeinheit dieses Geisteslebens beherrschend geworden ist, dieses - ich möchte sagen - «urdeut­scheste» Geistesgebilde des deutschen Idealismus zurückgetreten ist. Aber gerade in diesen Tagen dürfen wir wohl aussprechen, was wir an Hoffnungen hegen dafür, daß dieses Weltbild des deutschen Idealismus wieder an die Oberfläche tritt und seine

399

Kraft dem allgemeinen Entwickelungsgang der Menschheit einverleibt.

Ich habe öfter in den Vorträgen dieses Winters, aber auch früher, einen Namen genannt, der von einem der deutschesten Geister der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ge­tragen wurde; ich habe den Namen Herman Grimm genannt, den großen Kunstforscher. Und man darf schon sagen: auch das, was ich mir hier erlaubte, von Herman Grimm anzu­deuten, kann - besonders, wenn man ins Auge faßt, was Herman Grimm als Kunstforscher, als Kunstbetrachter und auch sonstwie durch seine ganze schriftstellerische Tätigkeit geleistet hat - ein Beweis dafür sein, daß es wie unmittelbar herausgeboren ist aus deutschem Fühlen, aus deutschem Den­ken, kurz, aus den innersten Impulsen der deutschen Volks­seele. Als nun Herman Grimm seine Seele zu erheben ver­suchte zu dem, was sich ihm - mehr seinen Empfindungen nach als aus einem philosophischen Nachdenken - als das Weltbild der Goetheschen Weltanschauung ergab, da mußte er dieses Weltbild neben jenes andere stellen, das in der neueren Zeit die weiteste Verbreitung und das weiteste Interesse gefunden hat; jenes Weltbild, von dem seine Bekenner, seine Gläubigen, immer wieder und wieder vorgeben, daß es auf den echten und rechten Voraussetzungen der Naturwissenschaft beruhen soll. Dieses Weltbild, das in einer gewissen Weise heute all-beherrschend in den Seelen vieler ist, wollte Herman Grimm aus seinen Empfindungen heraus neben dasjenige stellen, wel­ches sich seiner gemütvollen Phantasie mehr ahnend darstellte als das Weltbild, das Goethes ganzem Wirken und Schaffen zugrunde lag. Ich habe auch hier schon einmal erwähnt, zu welchem Ausspruch Herman Grimm gekommen ist, als er diesen Versuch machte. Er sagte:

«Längst hatte, in seinen» - Goethes - «Jugendzeiten schon, die große Laplace-Kantsche Phantasie von der Entstehung und

400

dem einstigen Unterginge der Erdkugel Platz gegriffen.> Herman Grimm wollte den Gedanken andeuten, daß Goethe, wenn er sich zu diesem Laplace-Kantschen Weltenbild hätte bekennen wollen, Gelegenheit genug dazu gehabt hätte, weil es in seiner Jugend bereits Platz gegriffen hatte. Und nun sagt Herman Grimm weiter:

Also Herman Grimm spielt auf das heute so verbreitete Welt­bild an: daß einmal nichts anderes vorhanden war als außer­ordentlich dünne Materie, daß diese dünne Materie sich zu­sammenballte, in Rotation, in kreisende Bewegung kam, daß sich daraus allmählich das Weltgebäude formte, die Planeten sich spalteten, daß sich dann auf der Erde - dem einen der von dem zentralen Gas-Tropfen abgespaltenen Planeten - im Laufe der Zeit das mineralische, das pflanzliche und das tie­rische Reich eben aus dem Gas entwickelt hat, und daß dann der ganze Gang der Entwickelung jene Gestalt angenommen hat, welche sich uns als die menschliche «Geschichte» darstellt. Dann aber wurde später wieder eine Zeit kommen, in welcher alles lebendige Sein veröden, verdorren müßte, wo alles in die Sonne zurückfallen würde, womit dann alles Lebendige wieder in die leblose Materie zurücksinken würde. - Daß dieses Welt­bild einzig und allein dasjenige sein könne, das auf dem festen

401

Boden der Naturwissenschaft erreichbar ist, das glauben eben viele. Und ich habe es auch schon angedeutet, wie leicht dieses Weltbild - Herman Grimm sagt von ihm: die Kinder bringen es bereits aus der Schule mit - begreiflich zu machen ist. Man braucht nur durch einen in einer Flüssigkeit schwimmenden Öltropfen vorsichtig ein zurechigeschnittenes Kartenblatt zu schieben, von oben eine Nadel durchzustecken und durch Drehen der Nadel das Ganze in Rotation zu bringen; dann spalten sich von der größeren Ölkugel kleinere Tropfen ab, die sich um den größeren herumbewegen. Da hat man dann ganz «augenscheinlich> die Entstehung eines kleinen Welt­systemes vor sich, und daraus zieht man nun den Schluß, daß die Entstehung des großen Weltgebäudes ebenso vor sich gegangen sein müsse. Allerdings habe ich immer darauf auf­merksam gemacht, wie einleuchtend es selbst für ein Kind ist, daß die Welt gar nicht anders entstanden sein kann; wie aber bei diesem Experiment gewöhnlich nur immer eines vergessen wird - und man sollte doch Vollkommenheit wahren, wenn man etwas demonstriert. Denn es wird gewöhnlich nicht in Betracht gezogen, daß der «Herr Lehrer> oder der dasteht, die Nadel dreht und das Ganze in Rotation bringt, und man darf bei einem Experiment, das man macht, nicht sich selbst vergessen. Daher müßte man also, wenn man das angeführte Experiment als Beweis gelten lassen wollte, einen riesengroßen Herrn Lehrer oder Herrn Professor mit in den Weltenraum hineinversetzen.

Herman Grimm sagt weiter:

402

Erde schließlich der Sonne wieder anheimfiele, und es ist die Wißbegier, mit der unsere Generation dergleichen aufnimmt und zu glauben vermeint, ein Zeichen kranker Phantasie, die als ein historisches Zeitphänomen zu erklären, die Gelehrten zukünftiger Epochen einmal viel Scharfsinn aufwenden wer­den. Niemals hat Goethe solchen Trostlosigkeiten Einlaß ge­währt.»

So sagte Herman Grimm. Man darf demgegenüber darauf aufmerksam machen, daß die ganze Zeit des deutschen Welt­anschauungsidealismus in ihrem Streben nach einem Welt­anschauungsbilde im Grunde genommen ein Protest dagegen war, daß der Zeitkultur gerade dieses Weltbild mit der frucht­losesten Perspektive einverleibt werde; und man darf darauf weiter aufmerksam machen, wie es eigentlich gekommen ist, daß ein solches Weltbild Platz greifen konnte. Dazu aber ist notwendig, daß ein wenig auf die Art und Weise hingewiesen werde, wie gewissermaßen das populäre Denken, das Welt­anschauungsdenken der Gegenwart zustande gekommen ist. Und da ja immer wieder und wieder bemerkt werden kann, wie wenig all den Verhältnissen Rechnung getragen wird, die bei diesen Auseinandersetzungen herangezogen werden, so möchte ich darauf hinweisen, daß dasjenige, was ich nach die­ser Richtung zu sagen habe, wirklich nicht bloß unter dem Eindruck dieses Krieges hervorgerufen ist und wirklich nicht bloß gesagt wird, weil wir heute in dieser schicksalsschweren Zeit leben; sondern es ist, wie zahlreiche anwesende Zuhörer hier wissen, nicht nur in Deutschland, sondern auch außerhalb Deutschlands immer wieder und wieder gesagt und vertreten worden. Das möchte ich besonders deshalb betonen, weil sehr leicht die Meinung aufkommen könnte, daß diese Auseinander­setzungen deshalb der Objektivität entbehren, weil sie gerade in unseren schicksalsschweren Zeiten auf dasjenige aufmerk­sam machen, was dazu beitragen kann, die deutsche Seele hinzulenken

403

zu dem, was in den tiefsten Tiefen des deutschen Volksgeistes wurzelt.

Wenn wir dieses unser neueres Weltbild in seiner Ent­stehung zu erfassen versuchen wollen, so müssen wir - um nicht weiter zurückzugehen - wenigstens bis zu demjenigen Zeitpunkte zurückgehen, wo unter dem Eindruck mächtiger äußerer Entdeckungen über das Weitgebäude des Raumes und auch über das Weitgebäude der Zeit die Menschheit angefan­gen hat, an der Erneuerung auch des Weltbildes zu arbeiten, so wie es sich dem menschlichen Geist darbieten muß. Da muß immer wieder darauf hingewiesen werden, wie durch die Tat des Kopernikus und durch das, was im Gefolge dieser Tat geleistet worden ist durch Geister wie Kepler, Giordano Bruno, Galilei, im Grunde genommen die ersten Impulse gegeben worden sind für das Weltbild, unter dessen Einfluß auch die gegenwärtige Bildung noch steht. Nun soll heute mein Augen­merk darauf gerichtet sein, inwiefern Europas einzelne Natio­nen, einzelne Völker, zu diesem Weltbilde hingearbeitet haben, das uns auf diese Weise heute in dem Bewußtsein des größten Teiles der denkenden Menschen umgibt; und wie auf der anderen Seite in das, was da Europas Völker zu dem gemein­samen Weltbilde beigesteuert haben, sich hineingestellt hat das Weltbild des deutschen Idealismus.

Derjenige Geist, der uns bei der - ich möchte sagen - Neu­gestaltung des Weltanschauungsbildes der neueren Zeit als besonders charakteristisch erscheinen kann, ist der im Jahre 1600 verbrannte Giordano Bruno. Indem wir auf Giordano Bruno hinweisen, müssen wir auf den Anteil hinweisen, wel­chen italienische Kultur, italienisches Denken, italienisches Weltanschauungsstreben an der allgemeinen Weltkultur hat. -Ich habe in früheren Vorträgen darauf aufmerksam gemacht, daß des Menschen Seelenleben und Seelenstreben von einer wirklichen Geisteswissenschaft in drei Außerungsformen gesehen

404

werden kann: als Empfindungsseele, als Verstandes- oder Gemütsseele und als Bewußtseinsseele, und daß in diesem Ge­woge des inneren Erlebens, das unter dem Einfluß der Kräfte der Empfindungsseele, der Kräfte der Verstandes- oder Ge­mütsseele und der Kräfte der Bewußtseinsseele zustande kommt, das eigentliche Ich des Menschen als das alles Verbindende wirkt. Ich habe auch davon gesprochen, daß man heute gewiß über diese Einteilung als einer willkürlichen spotten kann, daß aber die Geisteswissenschaft in der Zukunft klarmachen wird, daß die Gliederung der Menschenseele in einen Empfindungs­teil, einen Verstandesteil und einen Bewußtseinsteil ebenso «wissenschaftlich» ist, wie jene Gliederung wissenschaftlich ist, welche die Physik vornimmt, um das Licht in sieben Farben oder - wir könnten auch sagen - in drei Farbengruppen zu gliedern: in den gelblich-rötlichen Teil, in den grünlichen Teil und in den blau-violetten Teil. Gerade so, wie man nicht aus einer Willkür, sondem aus einer inneren Natur der Sache her­aus die Farben des Lichtes in dieser Dreispaltung studieren wird, wenn man überhaupt zu einem Resultat kommen will, so muß die menschliche Seele in ihrer Ganzheit in den drei «Farbennuancen» studiert werden; und nur weil man heute nicht gewohnt ist, auf das Seelische so einzugehen, wie man in der Physik auf die Natur des Lichtes eingeht, deshalb wird die ganz gleiche Geistesoperation, die man in der Physik gelten läßt, bei der Geisteswissenschaft als Träumerei angesehen. Ich habe auch darauf aufmerksam gemacht, daß das Wesentliche der nationalen Impulse, insofern sie die Menschenseele ergrei­fen, beim italienischen Volke zum Beispiel darin besteht, daß die Impulse, die von der italienischen Volksseele in die Seele des einzelnen Italieners hereinspielen, bei diesem die Emp­findungsseele ergreifen, aber nicht in dem Sinne ergreifen, daß er als Einzelner in Betracht kommt, sondern als Angehöri­ger seines Volkes; so daß ein Mensch, welcher innerhalb der

405

italienischen Kultur nach einer Weltanschauung strebt, dies tun wird als durchpulst von der Kraft, die durch seine Emp­findungsseele wirkt. Und sehen wir nicht - wir könnten da auf Campanella, auf Vanini und andere Geister im neueren Zeitalter der italienischen Kultur hinweisen, aber Giorduno Bruno ist derjenige Geist, der diese Seite am anschaulichsten zum Ausdruck bringt - sehen wir nicht, wie Giordano Bruno in der Morgenröte der neueren Zeit mit den Kräften, von denen wir sagen, es sind die Kräfte der Empfindungsseele, dasjenige ergreift, was Kopernikus als ein Raumes-Weltbild heraufgeholt hat?

Nehmen wir die mittelalterliche Weltanschauung. Es war der Raum, den der Mensch überschauen konnte, begrenzt von dem Himmelsgewölbe, in welches die Sterne eingefügt waren:

von dem sogenannten Kristallhimmel. Dann gab es die Sphä­ren der einzelnen Planeten mit den Sphären von Sonne und Mond. Ein solches Weltbild entsprach der sinnlichen An­schauung. Es war aber nur vereinbar mit derjenigen An­schauung über die Raumeswelt, welche dem Kopernikanismus vorangegangen ist. Indem der Kopernikanismus sich - ich möchte sagen - in die unendliche Begeisterungsfähigkeit der mit allen Tiefen der Empfindung die Welt erkennenden Seele des Giordano Bruno hineinsenkte, entstand in ihm diese An­sicht: Was da oben das Himmelsgewölbe genannt wurde, das ist gar nicht da oben; das ist nicht eine wirkliche Grenze, son­dern das ist nur eine Grenze, bis zu welcher die menschliche Raumesansicht kommt. Ins Unendliche hinaus geht die Welt! Und eingebettet in die Unendlichkeit sind unzählige Welten, und beherrschend diese unzähligen Welten ist die Weltenseele, welche für Giordano Bruno dieses also empfundene All durch­dringt, wie die einzelne Menschenseele die einzelnen mensch­lichen Elemente durchdringt, die unseren Organismus zusam­mensetzen. Man braucht nur eine Seite irgendeiner Schrift von

406

Giordano Bruno zu lesen, und man wird sich klar werden, daß die Begeisterung, die in seiner Seele durch den Kopernikanis­mus entfacht worden ist, ihn dazu geführt hat, seine Hymnen

- denn Hymnen sind es, was in seinen Schriften zur Offen­barung kommt - auf das unendliche, von der Weltenseele durchdrungene Weitgebäude zu richten. Und so die anderen, die, wie er, aus seiner Volkskultur zu ihrem Streben angeregt worden sind. Daher sehen wir, wie uns in Giordano Bruno ein Weltbild entgegentritt, welches allüberall nicht bloß das Ma­teriell-Räumliche in der Welt sieht, sondern alles Materiell-Räumliche zugleich durchgeistigt, durchseelt sieht; wie die einzelne Menschenseele ihm nur ein Abbild des gesamten Weltenorganismus ist, der von der Weltenseele so durchdrun­gen wird, wie unser einzelner Organismus von unserer Seele durchdrungen wird.

Dieses Weltbild des Giordano Bruno steht vor uns - ich möchte sagen - aus derselben Empfindungsgrundlage heraus gebildet wie das ältere Weltbild des Dante; nur daß jenes Weltbild des Dante eben in das dichterische Schaffen herauf-genommen hat, was auch von früher überkommen war und in Unendliches hinausgeführt hat, aber in unendliches Übersinn­liches. - Ich habe schon darauf aufmerksam gemacht, wie man gerade an Giordano Bruno lernen könnte, was gegenüber der neueren Geisteswissenschaft so notwendig ist zu lernen. Denn erstens wird dieser neueren Geisteswissenschaft gegenüber immer eingewendet, daß sie etwas geltend mache, was den «fünf Sinnen» des Menschen widerspricht. Nun, nichts wider­sprach den fünf Sinnen des Menschen mehr als das Weltbild des Kopernikus, das auf Giordano Bruno den eben charakteri­sierten Eindruck gemacht hat; trotzdem ist das Weltbild des Kopernikus, wenn auch nach und nach, in die Denkgewohn­heiten der Menschheit hineingegangen. Aber auch anderes ist in die Denkgewohnheiten der Menschen übergegangen. Wie

407

Giordano Bruno seinen Zeitgenossen zugerufen hat: «Ihr täuscht euch den Raum vor, begrenzt von dem blauen Him­melsgewölbe; dieses blaue Himmeisgewölbe ist aber nicht vor­handen, denn das ist nur die Grenze eurer Anschauung», so muß die neuere Geisteswissenschaft sprechen gegenüber dem, was das ältere Weltbild in Geburt und Tod zur Begrenzung des Weltbildes sieht. Denn was da in Geburt und Tod als Grenzen des Zeitlichen erscheint, das ist außer der mensch­lichen Anschauung ebensowenig wirklich da, wie für die Raumesanschauung das blaue Himmelsgewölbe außer der menschlichen Anschauung wirklich vorhanden ist. Sondern nur deshalb, weil die menschliche Raumesansicht nur bis dahin reicht, wo das blaue Himmelsgewölbe erscheint, wird ein sol­ches als Grenze des Räumlichen angenommen. Und weil in bezug auf das Zeitliche die menschliche Anschauung nur bis zu Geburt und Tod reicht, werden Geburt und Tod als Gren­zen für das Zeitliche angenommen; und wir stehen heute mit der Geisteswissenschaft in bezug auf Geburt und Tod an der­selben Stelle, wo Giordano Bruno für seine Zeit gestanden hat.

Ich möchte sagen: um das, was sich als sein Weltbild ergab, wirksam der Zeirkultur einzuprägen, dazu gehörten die aus der Empfindungsseele hervorgehenden Regungen, welche Giordano Bruno diesem Weltbilde gegeben hat. Wie wenn es nicht im geringsten seinen Verstand in Anspruch nähme, seine Vernunft irgendwie behelligte, was er über die Welt zu sagen hat - man braucht nur eine Seite bei ihm zu lesen, und man wird es bestätigt finden -, sondern wie wenn alles sich ihm ergäbe aus der unmittelbarsten Empfindung heraus, so spricht Giordano Bruno. So wurde beim Ausgang der neueren Zeit das ergriffen, was ergriffen werden mußte, weil es so tief bedeutsam für den menschlichen Fortschritt war: das koperni­kanische äußere Weltbild. Und so können wir sagen: es ist die «Empfindungsnuance» des Seelenlebens deutlich ausgeprägt in

408

dem Weltbilde des Giordano Bruno und auch derjenigen, die mit ihm aus der italienischen Volksseele heraus ihre bedeut-samsten Impulse bekommen hatten. Denn das ist gerade das Bedeutsame, das bis in die neuesten Zeiten von dieser Seite her gekommen ist: daß alles Philosophieren, alles Zusammen-tragen von Gedanken zu einer Weltanschauung aus diesem un­mittelbarsten Empfindungsleben herausgeflossen ist. Was die Weltanschauung innerlich erwärmt als Kraft, das kommt von dieser Seite her. Daher dürfen wir sagen: insofem der eirizelne Italiener sich in sein Volksmm hineinstellt, spricht aus ihm die begeisterungsfähige Seele, wenn er ein Weltbild sich er-arbeiten will.

Wenn wir nun zu einer anderen Strömung hinblicken -einer derjenigen Strömungen, die dann zu dem modernen Weltbilde geführt haben: zu der französischen Strömung, so finden wir auch dort einen ausgezeichneten Geist am Aus­gangspunkt der neueren Weltanschauungsströmung stehen; aber wenn wir genau hinsehen, so sehen wir ihn unter ganz anderen Voraussetzungen als Giordano Bruno der Weltanschauungsent­stehung gegenüberstehen: Descartes (Cartesius). Er ist eben­falls ein Geist, der, wie Giordano Bruno, der Wende des sech­zehnten und siebzehnten Jahrhunderts angehört, aber er geht von ganz anderen Voraussetzungen aus. Betrachten wir ein­mal diese Voraussetzungen, wie sie sich in diesem hervor­ragenden Geiste darstellen. Was ist das, wovon er ausgeht, im Gegensatze zu Giordano Bruno? An Giordano Biuno sehen wir, wie er ergriffen wird von einer sich immer steigernden Begeisterung für das, was ihm die Grundlagen des modernen Weltbildes gibt. Bei Descartes sehen wir das Gegenteil: wir sehen, wie er von dem Zweifel ausgeht, wie er sich klar macht, daß man an allem, was sich von der Außenwelt oder vom In­nern der Seele her dern Menschen als ein Wissen, als eine Erkenntnis, als Erfahrung ergibt, zweifeln könne, ob es eine

409

Wirklichkeit sei, ob es ein Berechtigtes sei, ob es mehr Be­rechtigung habe als ein vorübergehendes Traumbild. Descartes kommt dazu, an allein zu zweifeln; aber nach Wissen, mit inneren Kräften zu wissen, sucht er. Da sucht er zunächst nach den Kennzeichen, welche das Wissen haben muß, damit es für die Seele gelten könne; und dieses Kennzeichen ist für ihn Klarheit und Deutlichkeit. Was am klarsten, am überschaulich­sten sich vor die Seele hinstellen kann, das trägt das Kenn­zeichen der Gewißheit. Ich möchte sagen: in dem Meer des Zweifels, auf dem er sich zunächst befindet, geht ihm auf, daß er etwas suchen müsse, was sich ihm mit Klarheit und Deutlichkeit, mit Durchschaubarkeit hinstellt; denn nur das kann ihm als eine Gewißheit gelten. Also nicht ist es die ur­sprüngliche Begeisterung, die ihn treibt, sondern das Streben nach Klarheit, nach Deutlichkeit und Überschaubarkeit. Dar-aus geht dann hervor, daß er sich sagt: Und zweifle ich auch an allem, wäre auch alles, was ich in der äußeren und inneren Welt wahrnehmen könnte, nur ein Traumbild: daran kann ich nicht zweifeln, daß - ob es Traum sei oder nicht - ich dieses denke; und wenn alles nicht ist, was sich da in dem Meer der Erlebnisse abspielt, und worüber ich zweifeln kann - das stellt sich mit Klarheit über alles hin: ich denke - dann bin ich auch! Und aus dieser Klarheit und Deutlichkeit sprießt ihm der Gedanke auf: alles was sich so klar und deutlich wie dieses Musterbild der Klarheit und Deutlichkeit vor die Seele hinstellt, das hat Berechtigung; so darf man über die Welt denken, wie man überschauen muß dieses: ich denke, dann bin ich auch. - Und nun sehen wir von diesem Ausgangspunkte aus bei Descartes und seinen Nachfolgern, wie ein Weltbild entsteht, das nach Klarheit und Deutlichkeit dürstet. Diese Klarheit und Deutlichkeit war in Descartes' Seele dadurch vor­gebildet, daß er ein großer Mathematiker, vor allem ein beson­derer Denker auf dem Boden der Geometrie wat Mathematische

410

Klarheit fordert er für alles, was diesem Weltbilde an-gehören sollte. Er und seine Nachfolger kamen dann dazu zu sagen: Über die Raumeswelt und über alles, was sich im Raume bewegt, kann man Klarheit und Deutlichkeit gewinnen, kann inan sich ein Bild machen, das innerlich so klar und deut­lich ist, wie nur die Mathematik selber klar und deutlich ist. Aber ich möchte sagen, es entschlüpfte diesem Weltbilde das eigentlich Seelische. Nicht als ob Descartes das Seelische leug­nete, sondern indem er die Gewißheit nahm: ich denke, also bin ich auch -, nahm er dieselbe nicht so, daß man den Ein­druck bekäme, er vertiefte sich in das Seelische so, wie er sich in die äußere Raumeswelt vertiefte, in das, was äußerlich ge­schieht. Was äußerlich im Raume geschieht, das gibt ihm die Möglichkeit, die Einzelheiten zu überschauen, gibt ihm auch die Möglichkeit, den Zusammenhang der Einzelheiten zu über­schauen; mehr oder weniger dunkel bleibt aber das Innere. Er sagte sich: Klar und deutlich sind doch gewisse Ideen, welche in der Seele auftauchen; das sind «angeborene» Ideen; indern sie klar und deutlich auftauchen, gliedern, organisieren sie innerlich die Seele. Aber ein Zusammenhang zwischen dem Innerlich-Seelischen und dem Äußerlich-Räumlichen ergab sich ihm nicht; die standen wie zwei Welten nebeneinander. Daher konnte er auch nicht - so wie Giordano Bruno, der alles von der Weltenseele durchseelt denkt und diese Weltenseele ihre seelischen Impulse in alles hineingießend denkt - dazu kommen, auch in alles Räumliche das Seelische hineinzuden­ken. Er sagte sich: Schaue ich ein Tier an, so bietet sich mir ein Raumesgebilde dar; das kann ich anschauen wie ein ande­res Raumesgebilde; etwas anderes aber als die Raumesgebilde zeigt es nicht; daher erscheint es wie ein bewegter Automat. Dasjenige, was das Tier bewegt, fand er bei den Tieren nicht. Nur in sich fand er das. Daher schrieb er auch nur den Men­schen, nicht den Tieren eine Seele zu. Die Tiere nannte er

411

«lebendige Automaten» - und damit haben wir den Anfang zu einer mechanischen Weltanschauung. Man war nicht so kühn - Descartes nicht und nicht seine Schüler - um das, was aus der alten Überlieferung als religiöse Tradition vorhanden war, dieses Innerlich-Seelische, hinwegzuleugnen, aber man suchte es nur als dem Menschen angehörig zu betrachten; und bei den Tieren betrachtete man es so, daß es in der Weise seine Gebilde vor die Seele hinstellt, wie die mathematischen Gebilde sich vor die Seele hinstellen.

Sehen wir da nicht in dem Streben nach Klarheit und Deut­lichkeit, das immer mehr das Charakteristikon aller Arbeit nach Weltanschauung in Frankreich gebildet hat, das Arbeiten der Verstandes- oder Gemütsseele, der mittleren Seele, klar und deutlich? Bis in die neuere Zeit herauf ist das der Grund­zug derjenigen Strömung geblieben, die von dieser Seite an dem Aufbau eines allgemeinen Weltbildes gearbeitet hat. Man möchte sagen: alles, was an einer Weltanschauung mathema­tisch durchschaubar ist, was sich in mathematisch klare Ge­danken bringen läßt, was sich so darstellen läßt, daß eines mathematisch aus dem andern hervorgeht, das ist aus diesem Weltbilde gekommen - bis zu jenem Weltbilde, welches Auguste Comte geschaffen hat, wo sich alles - von den ein­fachsten Erscheinungen der Natur bis zu dem menschlichen sozialen Zusammenleben - so darstellen soll wie in einem großen gewaltigen Gemälde, wie ein Satz sich an den andern immer in der Mathematik anschließt. Es wäre interessant, zu zeigen, wie diese Nuance der Verstandes- oder Gemütsseele, der systematisierenden Seele, diese ganze Kultur durchdringt, wie sie den innersten Nerv dieser Kultur bildet.

Und wenn wir nun zu einer dritten Strömung gehen, die auch auf unsere geistige Kultur, auf unser geistiges Weltbild der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts einen denkbar größten Einfluß genommen hat, wenn wir zu der britischen

412

Kultur gehen, so finden wir als tonangebenden Geist, in dessen Fußstapfen noch alle anderen führenden Geister Englands stehen, Bacon, Baco von Verulam. Und wie macht er das gel­tend, was er anzuführen hat? Er sagte sich: Die Menschheit hat allzulange in bloßen Idealen gelebt, hat sich allzulange mit bloßen Idealen und bloßen Worten beschäftigt, und sie müßte jetzt den Blick auf die äußeren Dinge richten, auf die Dinge selbst, das heißt auf diejenigen Dinge, welche sich der äußeren Beobachtung darbieten; man könnte nur zu einem wirklichen Weltbilde kommen, wenn man die Augen und die anderen Sinne hinausrichtet auf das, was sich in der äußeren Welt vollzieht, und die «Gedanken» nur insofern gelten läßt, als sie das, was sich draußen abspielt, in einen Zusammenhang bringen. Bacon wurde der Philosoph der Erfahrung, des Welt-bildes der Erfahrung, jenes Weltbildes, das dazu dient, um das, was sich äußerlich abspielt, zusammenzufassen. Daher sehen wir, wie im Fortgange dieser Geistesströmung ein hervor­ragender Geist wie etwa Locke die Möglichkeit ableugnet, daß die Seele irgendeine Erkenntnis aus sich selbst heraus gewin­nen könne; alles, was sie tun könne, ist nur, sich hinzustellen und den Lauf der Welt zu beobachten; dann wird das, was sie beobachten kann, auf die leere Tafel der Seele sich schreiben. Die Seele selbst ist in diesem Sinne eine leere Tafel, eine Tabula rasa; nicht wie bei Descartes steigen angeborene Ideen auf, welche mit dem Wesen des Seelischen zusammenhängen. Locke streicht alle angeborenen Ideen aus. Das Weltbild ent­steht ihm nur dadurch, daß sich die Menschenseele auf die Umgebung hinausrichtet, daß sie analysiert, synthesiert und sich Gedanken macht über das, was draußen vorgeht. Bis hin­auf in die neuere Zeit geht diese Strömung. Menschen wie John Stuart Mill, Herbert Spencer und andere stehen unter dem Einfluß eines solchen Impulses, wie er eben angedeutet worden ist. Man möchte sagen: abgelehnt wird mit einem solchen

413

Weltbilde alles, was die Seele dadurch erringen könnte, daß sie sich innerlich entwickelt und das heraufholt, was sie noch nicht hat, wenn sie auf naturgemäße Weise hineingestellt ist in die Welt; so daß sie stehenbleiben muß bei alledem, was sich äußerlich darbietet, und alle Seelenkraft dazu ver­wendet, um das zusammenzufassen, was sich von außen dar­bietet.

Als ich zum ersten Male vor jetzt etwa fünfzehn Jahren einen Begriff, eine Vorstellung für diese Art der englischen Philosophie suchte, besonders für John Stuart Mill - dargestellt ist das in meinen «Welt- und Lebensanschanungen im neun­zehnten Jahrhundert> -, da habe ich, um das Weltbild John Stuart Mills zu charakterisieren, nach einem bezeichnenden Ausdruck gerungen; und ich mußte schon damals dieses Welt­bild so charakterisieren, daß ich sagte: Dieser Standpunkt ist der des «Zuschauers der Welt>, ist nicht der Standpunkt einer Seele, die innerlich an sich arbeitet mit dem Glauben, der vor­aussetzt, durch dieses innerliche Arbeiten weiterzukommen in der Erkenntnis der inneren Zusammenhänge der Dinge. Auf diesem Zuschauerstandpunkt steht auch John Stuart Mill, denn einer der Nachfolger Lockes und Bacons war auch Mill, und er steht so der Welt gegenüber, daß er vor dem steht, was sich äußerlich den Sinnen darbietet, und was man in Gedanken zusammengliedern kann, wie sich auch Gedanken im alltäg­lichen Leben zusammengliedern und lösen.

Nun sehen wir, wie wieder in einer andern Weise, als Giordano Bruno, Cartesius, Bacon in der charakterisierten Art an dem Zustandekommen eines Weltbildes arbeiten, in der deutschen, mitteleuropäischen Geisteskultur an dem Herauf-dringen eines Weltbildes gearbeitet wird; wir sehen, wie in Einsamkeit ein deutscher tiefer Geist aus der tiefsten Natur der Volksseele heraus ein Weltbild gewinnen will. Man kann diesen Denker, der zu den höchsten Erkenntuissen strebt, die

414

dem Menschen möglich sind, selbstverständiich verkennen, kann ihn leicht verspotten; aber es muß auf diesen Einen aufmerksam gemacht werden, wenn von dem deutschen Gei­stesleben gesprochen wird: auf Jakob Böhme, der dem Ende des sechzehnten und dem Anfange des siebzehnten Jahrhun­derts angehört. Gewiß, er kann leicht verkannt werden, der einfache Görlitzer Schuster; denn er sprach nicht so wie Kopernikus oder wie Giordano Bruno, der aus seinem elemen­taren Empfinden heraus ein Weltbild entworfen hat; er sprach auch nicht aus einem Streben nach Klarheit und Deutlichkeit, wie wir es bei Descartes finden, und er sprach noch weniger wie Bacon, der zusammenfassen wollte, was sich äußerlich vor den Sinnen darstellt. Sondern er sprach so, daß, wenn er in seine Seele sich vertiefte eder mit der Natur zusammen war, etwas da war, was fiöher nicht da war; er sprach davon, wie ein innerlicher Weg durchgemacht wird, der in die innersten Geheimnisse des Daseins führt. Von dem sprach er, was sich in ihm entzündet hat, wie er einmal als Hirtenjunge auf den Gipfel eines Berges in ein Erdloch hineingesehen hat und sich ihm in der Vertiefung ein Metallgefäß mit Gold dargeboten hat, und wie durch dieses Erlebnis etwas sich in ihm entzün­det hat, wovon er sagen wollte: In meiner Seele ist ein Funke aufgegangen, der angezündet ist von dem in der Welt weben-den Geist; ich fühlte mich verbunden mit dem in der Welt lebenden Geist. Und er erzählt uns weiter, wie er diesem Er­lebnis in seiner Seele nachging und sieben Tage hindurch auch in einem der Alltäglichkeit entfremdeten Seelenzustande lebte, wie er durchgegangen war durch ein « Paradies und Freuden-reich», wie er sich nicht verbunden fühlte durch seine Sinne mit der Wirklichkeit, nicht durch seinen Verstand mit dem, was die Sinne darbieten, sondern wie er sich verbunden fühlte durch seine Seele mit dem, was übersinnlich, unsichtbar in den Dingen waltet. Doch als er dies seinem Lehrherrn erzählte, bei

415

dem er damals in der Lehre war, da sagte ihm dieser, er solle sich aus dem Staube machen, denn er könne keine jungen Hauspropheten brauchen! Und so wie dieser Lehrherr spre­chen heute noch viele; in dieser Beziehung sind die Menschen nicht verständiger geworden.

Aber wenn wir uns in Jakob Böhme vertiefen, so sehen wir, wie er seine Seele anknüpfen will an das, was die Seele gei­stig-seelisch durchpulst. Während Giordano Bruno die Seele nach außen gerichtet hat, um überall die «Weltenseele» zu schauen, die er angenommen hat, ist es bei Jakob Böhme so, daß er seine Seele nur innerlich formen und gestalten will, daß er nicht die Weltenseele äußerlich anschauen will, sondern sich hineinversenkt in sie, so daß er mitmacht das Leben dieser Weltenseele. Mitmacht, sagte ich. Dadurch ist ein Ausgangs­punkt für Weltanschauungen gegeben, aus einem dunklen Drange heraus zu schaffen; denn Jakob Böhme arbeitet ohne äußere Gelehrsamkeit, nur aus seiner Seele heraus. Es ist der Anfang gemacht für das Streben einer Seele, die ihre Impulse aus den Impulsen der deutschen Volksseele hat: dieses Darin­nenstehen in dem, was sonst nur angeschaut wird eder was in Klarheit und Deutlichkeit dargestellt wird. Jakob Böhine hätte nicht verstanden, was Cartesius anstrebte; denn ihm handelte es sich nicht um Klarheit und Deutlichkeit, sondern darum, daß man die Seele mitleben läßt das Leben der großen Weltenseele. Und wenn er das konnte, dann kam es ihm nicht darauf an, ob es klar und deutlich ist, denn «es ist eben erlebt!» Und dieses «es ist erlebt» ist wie ein Einschlag, wie ein Fer­ment innerhalb des Strebens des deutschen Volksgeistes geblie­ben. Jene Geister, die ich im Vonrage vor acht Tagen bespro­chen habe, sind doch die Fortsetzer jenes ersten Keimes, der in Jakob Böhme veranlagt ist; man kann es bei ihnen noch sehen, wie sie nur mit Deutlichkeit nach dem streben wollen, was schon in Jakob Böhmes Streben gelegen war, was man

416

damit ausdrücken kann, daß man sagt: Er wollte eben die Ge­heimnisse der Welt erleben - nicht bloß anschauen!

Nun müssen wir uns allerdings einen zweiten Ausgangs­punkt für das neuere Weltanschauungsstreben ansehen, wenn wir alle die Kräfte erkennen wollen, welche in diesem neueren Weltanschauungsstreben drinnen sind. Dieser andere Aus­gangspunkt wird heute gerade von Menschen, die nach Welt­anschauung streben, oft mehr bewundert als der Ausgangs­punkt Jakob Böhmes; es ist derjenige, den man auch bei einem deutschen Geist findet, und wieder bei einem eminent kosmo­politischen Geist, nämlich bei Leibniz. Seine Weltanschauung ist ähnlich der von Giordano Bruno, aber umgesetzt in deutsche Weltanschauungsnuance. Wenn wir die italienische Welt­anschauung charakterisieren wollen, müssen wir sagen: sie ist aus der Empfindungsseele herausgeboren. In demselben Sinne ist die französische Weltanschauung aus der Verstandes- eder Gemütsseele herausgeboren; gerade wenn man Cartesius stu­diert, merkt man das in einem ganz besonderen Maße. Die britische Weltanschauung ist ganz aus der Bewußtseinsseele herausgeboren, aus jener Bewußtseinsseele, die besonders in dem Zuschauerstadium dazu befähigt ist, den Blick auf das zu richten, was äußerlich ist, und was sich der Verstand daraus zum Bewußtsein bringen kann. Deutsche Weltanschauung geht aus dem Ich selber, aus dem intimsten inneren Seelenwirken hervor. Und wie das Licht sowohl im Rot-Gelben wie im Grü­nen und Blau-Violetten anwesend ist, so ist das Ich anwesend in der Empfindungsseele, in der Verstandes- oder Gemütsseele und auch in der Bewußtseinsseele in alles hineinspielend, aber deshalb auch ein fortwährend Hin-und-her-Strebendes, bald nach der Empfindungsseele Strebendes, wie bei Jakob Böhme, bald mehr nach der Verstandesseele hintendierend wie bei Leibniz. Was Jakob Böhme innerlich erstrebt als das Sich­einleben in die Weltenseele, das erstrebt Leibniz durch den

417

Verstand, aber nicht, wie es bei Descartes der Fall ist, nicht wie ein mathematischer Geist, sondern wie eine Seele, die ein klares Bewußtsein davon hat: der Mensch ist in seiner Wesen-heit ein Stück der ganzen Welt. Und so sagte sich Leibniz:

Was ich als Seele bin, ein vorstellendes Wesen, das ist im Grunde genommen überall, in aller Welt das Zugrundelie­gende. Was wir im Raume sehen, ist nicht ein bloß räumlich Aufgebautes, sondern die Wirklichkeit ist, daß alles, was drau­ßen Realität ist, gleicher Art ist wie das, was in mir selber ist; nur kommt meine Seele gleichsam zu einem wachen Bewußt-sein. In den Wesen draußen, die nicht Menschen sind, leben auch solche Grundbestandteile, wie sie im Menschen vorhan­den sind. Leibniz nennt sie «Monaden». Was «wirklich» in ihnen ist, das ist das Bewußtsein. Nur haben die Monaden des Mineralreiches und des Pflanzenreiches etwas wie ein Schlaf-bewußtsein; dann werden sie immer bewußter und bewußter, um endlich im Menschenreiche zum Selbstbewußtsein zu kommen.

Die Welt ist für Leibniz ganz und gar aus Monaden zu­sammengesetzt, und wenn man die Welt nicht als Monaden sieht, so kommt das davon her, daß man sie undeutlich sieht -wie es bei einem Mückenschwarm ist, der, von ferne gesehen, undeutlich erscheint und wie eine Wolke ausschaut, die sich aber in die einzelnen Mücken auflöst, sobald man näher heran­kommt. So besteht zum Beispiel der Tisch hier vor mir aus Monaden, aber diese Monaden werden so zusammengeschoben gesehen wie die einzelnen Mücken eines Mückenschwarmes. So besteht für Leibniz die gesamte Welt aus einzelnen Monaden, und wie sich die einzelnen Monaden in der Gesamtwelt spie­geln, so sind sie ein Mikrokosmos in dem Makrokosmos. Man muß sich vorstellen, daß die gesamte Welt sich in jeder ein­zelnen Monade spiegelt, und über das Ganze breitet sich eine von der Urmonade eingepflanzte Harmonie aus.

418

Wenn man das Hervorstechende an dieser Leibnizschen Weltanschauung charakterisieren will, so muß man sagen: Das Hervorstechende an ihr ist ihre Abstraktheit, ihre Gedanken­haftigkeit; und dies Abstrakt-Gedankenhafte sieht man ja auch sofort, wenn man näher auf sie eingeht. Denn was würde es taugen, wenn man, wie es Leibniz in bezug auf die einzelnen Monaden tut, nur auf eine Uhr einginge und sagen würde: das einzelne Glied, das einzelne Rädchen schlüge in Wirksamkeit mit der ganzen Uhr, wäre also ein «Ührchen», und alle Wir­kungen der Uhr kämen in ihm zum Ausdruck? Gewiß, wer eine Kenntnis von der Zusammensetzung der Uhr hat, kann sagen, wie ihre einzelnen Teile zusammenhängen. Aber was würde es ausmachen, wenn man sagen wurde: das eigentliche Charakteristische der Uhr ist ihre Harmonie? Man umfaßt es mit einem ahstrakten Begriff. Heute allerdings sind die Men­schen meist froh, wenn sie für etwas einen abstrakten Begriff hinstellen können; aber schon eine Uhr kann man nicht begrei­fen durch den bloßen Begriff der Harmonie. Daran kann man den Gegensatz empfinden zwischen einer verstandesmäßigen, abstrakten Weltanschauung, wie sie uns Leibniz bietet, und einem immer mehr sich mit Demut Hineinleben in das Wir­ken und Weben des Weltengeistes, wie es uns bei Jakob Böhme zuerst, wenn auch mehr ahnungsvoll, entgegentritt.

In ähnlicher Weise, wie Descartes die Möglichkeit der mathematischen Unterordnung der Gedanken in das Weltbild suchte, so strebte Spinoza auch nach einem Weltbilde, das wie ein mathematisches System überschaubar ist; aber er will es zu-gleich so gestalten, daß sich, wenn man von Begriff zu Begriff aufsteigt, ein immer höheres und höheres Erleben der Men­schenseele ergibt. Charakteristisch nennt er sein mathemati­sches Weltbild «Ethik>, weil immer, indem er Begriff an Be­griff reiht, jeder folgende die Seele immer weiter hineinbringt in die Geheiranlsse des Daseins, bis die Seele, indem sie also

419

in die von Mathematik zu Mathematik gehenden Begriffe sich immer mehr vertieft, sich eins fühlen kann mit der einheit­lichen Weltensubstanz, mit dem einheitlichen Weltenallgeist. Es ist ein innerliches Vorschreiten, ein Sichentwickeln bei Spinoza. Daher steht Spinoza mit seinem Streben nach Welt­anschauung auch vereinzelt da. Er hat den Einschlag, den er von Descartes bekommen konnte; aber er hat ihn durch das, was gerade er haben konnte, vertieft in sein Weltbild hinein­gebracht.

Alle die Elemente, die jetzt genannt worden sind, haben in einer gewissen Weise mit beeinflußt, was nun das Weltbild des neunzehnten Jahrhunderts geworden ist. Aber man kann sagen: Das Aufblöhen und das Sichentwickeln dessen, was hier vor acht Tagen der «deutsche Idealismus> genannt worden ist, war ein Protest - der nur nie bis zur vollen Wirksamkeit gekommen ist - dagegen, daß sich das Weltbild zu dem ent­wickelte, wovon Herman Grimm sagte: «Ein Aasknochen, um den ein hungriger Hund einen Umweg machte, wäre ein erfrischendes, appetitliches Stück im Vergleich zu diesem Schöpfungsexkrement.> Und es war immer gerade bei den hervorragendsten Geistern, die innerhalb der deutschen Volks-entwickelung mit ihrem Wesen gestanden haben, das Bestre­ben vorhanden, alle die notwendig in die Geistesentwicke­lung der Menschheit eingehenden Impulse aufzunehmen in den Aufbau ihres Weltbildes, aber dieses Weltbild so zu gestal­ten, daß das Streben nach einer Weltanschauung nicht bloß Anschauen, nicht bloß «Zuschauen> ist, sondern innerliches Erleben. So sehen wir, daß im Grunde genommen bei dem charakteristischen Geiste des deutschen Strebens - bei Goethe -die einzelnen Glieder, die verschiedenen Teile der Welt­anschauungsströmungen aufgenommen werden. Wir können bei Goethe an seinem «Faust», der in dieser Beziehung ein Abbild seines eigenen Strebens ist, sehen, wie sich sein Faust

420

aus den Einzelheiten der äußeren Anschauung herausent-wickelt, wie er zu einer Gesamtempfindung dessen kommen will, was die Welt durchwebt und durchseelt. Das trägt echt Giordano Brunoschen Geist. Darin, und in dem andern, wie später Goethe nicht eher geruht hat, bis er sich voll hinein­versenken konnte in die italienische Kunst, sehen wir überall etwas von jener Empfindungsnuance der Seele, die das eigene Selbst erweitern will zum Weltenselbst. Und das durchströmt schon die ersten Partien, welche Goethe von seinem Faust niedergeschrieben hat.

Dagegen können wir sehen, wie die zweite Weltanschauungs­strömung, die bei Descaites das Streben nach Klarheit und Deutlichkeit angenommen hat, in Europa einen charakteri­stisch materialistischen Ausdruck bekommen hat. Goethe war sie schon als jungem Mann, als er in Straßburg war, vor Augen gekommen in Holbachs «Systeme de la nature». Ich habe schon angedeutet, wie Descartes in seiner Weltanschauung die Tiere als belebte Automaten hinstellt, die nicht durchseelt sind. Aus dem, was diesem Descartesschen Weltbilde und weiter auch dem britischen Weltbilde zugrunde lag, das über Voltaire nach dem Festlande hinübergewirkt hat, das ganz das bespro­chene Ablehnen aufgenommen hat dessen, was die Seele inner­lich erreichen kann in innerlichem Streben, um nur all das gelten zu lassen, was sich im Raume systematisieren läßt:

daraus entstand dann jenes Weltbild, welches Goethe in Holbachs «Systeme de la nature» entgegengetreten ist, das nur die sich bewegenden Atome kennt, die sich zu Molekülen gruppieren, und durch deren Zusammenballungen alles entstehen soll, was man in der Welt schauen kann. Jenes Weltbild, das alles nur in eine Wirkung der sich bewegenden Atome und Moleküle auflösen will, das hat Klarheit, höchste Klarheit, und Deutlich­keit, eine Klarheit, eine Deutlichkeit, wie sie in einem solchen Weltbilde nicht erhöht werden kann. Aber es muß aus einem

421

solchen Weltbilde alles herausfallen, was geistig-seelisch ist. Es hat nicht Platz darin, was geistig-seelisch ist.

Ein solches Weltbild trat also Goethe schon in seiner Jugend entgegen. Er lehnte es ab, indem er sich darüber äußerte:

«Eine Materie sollte sein von Ewigkeit, und von Ewigkeit her bewegt, und sollte nun mit dieser Bewegung rechts und links und nach allen Seiten, ohne weiteres, die unendlichen Phänomene des Daseins hervorbringen. Dies alles wären wir sogar zufrieden gewesen, wenn der Verfasser wirklich aus sei­ner bewegten Materie die Welt vor unseren Augen aufgebaut hätte. Aber er vermochte von der Natur so wenig wissen als wir; denn indem er einige allgemeine Begriffe hingepfahlt, verläßt er sie sogleich, um dasjenige, was höher als die Natur, oder was als höhere Natur in der Natur erscheint, zur materiel­len, schweren, zwar bewegten, aber doch richtungs- und gestalt-losen Natur zu verwandeln, und glaubt dadurch recht viel gewonnen zu haben.»

Goethe findet dieses Weltbild «kalt und öde».

Und nun sehen wir, wie Goethe, alles zusammenfassend, was in seiner Seele ist, Klarheit und Deutlichkeit erweckend in anderer Weise als es bei Descartes vorhanden war, Klarheit und Deutlichkeit verbinden will mit unmittelbarem Erleben. Das ist das Charakteristische, was zu Goethes Zeit in das deutsche Weltbild eintritt. - Wie sehen wir das Streben nach Klarheit und Deutlichkeit bei Descartes? So, daß das, was man anschaut, worüber man denkt, sich klar und deutlich zeigen muß. Dem Zuschauer muß es sich in Klarheit und Deutlich­keit zeigen. Goethe ist sich darüber klar, daß man dann über­haupt keine Erkenntnis gewinnt, wenn man nur die Dinge klar und deutlich vor sich hingestellt sieht; sondern er ist sich klar, wenn er auch nicht bei der bloßen Ahnung Jakob Böhmes stehenbleiben will: Wenn man ein wirkliches, den Realitäten entsprechendes Weltbild gewinnen will, so muß man in die

422

Dinge untertauchen, muß das Formen des Kristalls miterleben, indem man sich in die Kräfte, die den Kristall bilden, gleich­sam hineinversetzt; und ebenso maß man in die Pflanze hineingehen, maß die Kräfte miterleben, die die Pflanze zur Pflanze machen, maß in die Wesen alle untertauchen. Nicht ein abstraktes Weltbild, das aus Monaden und Harmonien zu­sammengezimmert wfrd, will Goethe, sondern ein Weltbild, das erlebt wird. Aber nicht, wie bei Jakob Böhme, nur ahnend, sondern das in alle Dinge der Welt untertaucht, und wo durch dieses Untertauchen das Menschenwesen den Weg durchmacht, auf dem es sich immer mehr und mehr den innersten Quellen des Daseins annähert. Daher konnte auf Goethe jenes Welt­bild wirken, das sich ihm in Spinozas Anschauung darstellte. Spinoza hat niemals den Impuls gehabt, in die wirkliche äußere Welt mit seiner Seele unterzutauchen. Wie die Eindrücke aus der Welt vor ihm aufstiegen, so suchte Spinoza Glied an Glied anzureihen; aber es sollte das so geschehen, daß die Seele etwas dabei durchmacht. Nicht daß Goethe jemals ein gläubiger An­hänger des Spinozistischen Weltbildes gewesen wäre; das kön­nen nur die sagen, die von Goethe doch eigentlich nichts wis­sen. Sondern so ist es, daß Goethe die Art, wie er sich in eine Weltanschauung hineinfinden will, bei Spinoza gefühlt hat, bei ihm gefunden hat. Der Unterschied ist nur der: Was Spinoza auf abstiaktem Wege erstrebte, das wollte Goethe auf konkrete Weise suchen. Wie Spinoza von Begriff zu Begriff geht, so wollte Goethe von Pflanze zu Pflanze gehen, um auf diese Weise das zu erleben, was die Pflanze erlebt. Wozu die Seele kommen konnte, indem sie sich so in die Pflanzenwelt hineinversenkte, das nannte Goethe die «Urpflanze»; und was die Seele erlebte, indem sie in der gleichen Weise in die Tier­welt untertauchend sich hineinfühlte, das nannte er sein «Ur-tier>. So wurde für Goethe das Streben nach Weltanschauung ein Miterleben, aber nicht ein dunkles wie bei Jakob Böhme;

423

sondern das Erleben selber sollte in Klarheit und Deutliehlteit verlaufen. Davon zeugt die kleine Abhandiung über die «Metamorphose der Pflanzen> von Goethe, worin er darstellt, wie sich die Pflanze von der Wurzel zum Blatt und zur Blüte entwickelt, indem dabei fortwährende Umwandiungen vor sich gehen. Aber immer maß man verstehen, daß Goethe das, was er gewinnen wollte, dadurch zu erreichen suchte, daß er in das Wesen untertauchte. Während Cartesius in seinem Weltbilde alles Seelische aus dem Wesen, zum Beispiel aus den Tieren, herauswarf und sie zu lebendigen Automaten machte, läßt Goethe seine eigene Seele hineinströmen in die Pflanzen, in die Tiere, in die ganze Welt, um sich in seiner Seele damit zu verbinden und sie klar zu erkennen. Klarheit und Deut­lichkeit im Erleben, das ist das, was zur Goethezeit in das Weltanschauungsstreben des deutschen Idealismus hinein-gekommen ist. - Was Cartesius zu einem äußeren Merkmal der Erkenntnis macht, die er vor sich hinstellt und sich als Zuschauer verhält, das verbindet Goethe mit dem inneren Er­leben. Und was sich mit dunkler, elementarer Kraft aus der Seele Jakob Böhmes losringt und sich in seinen Worten stammelnd aus­drückt, das ist bei Goethe ebenfalls vorhanden; aber indem es sich bei ihm zeigt, finden wir es in Klarheit und Deutlichkeit.

Nun aber sehen wir bei Goethe das, was auch die drei gro­ßen Geister erstrebten, die charakteristisch angeführt wurden für den deutschen Idealismus.

Sehen wir uns Fichte an. Wir haben vor acht Tagen charak­terisiert, wie er ein Weltbild dadurch zu gewinnen strebt, daß er ganz aus den Impulsen des Innersten im Menschen, des Ich, Gewißheit gewinnen will. Und wenn man Fichte ganz durch­schauen will - was waltet denn in seinem Weltbild? Man möchte es so ausdrücken: Was in ihm waltet, ist alles, was der Mensch, ohne daß er irgendeinen Blick auf die Außenwelt lenkt, in seinem Innern dadurch entwickeln kann, daß er ein

424

Bewaßtsein seiner selbst gewinnt. Das ist ein Heraufquellen und Heraufströmenlassen aus dein innersten Seelengrunde des Willens. Ich habe es oftmals auch hier charakterisiert: jedes äußere Ding kann ein jeder ebenso auch benennen, wie es der Name ausdruckt; das Ich aber können wir nur so benennen, wenn es unser Wesen bezeichnen soll, daß wir es in uns selbst ertönen lassen. Das hat Fichte nicht ausgesprochen; es liegt aber als Impuls seiner ganzen Weltanschauung zugrunde, und er geht davon aus, daß das Ich nur da ist, wenn es sich selbst in die Welt hineinsetzt. Ein Willensentschluß also ist das, was Fichte als das Zentrum der Weltanschauungsentwickelung sucht. Und von dem Ich sagt er aus, - schon das charakteri­siert das Fichtesche Weltbild -, daß es aus sich heraus finden kann, was die Sendung seiner selbst ist. Das ist für Fichte die moralische Weltanschauung. Und die nationale Welt ist nur da, um sich moralisch zu betätigen. So wird alles für Fichte durchströmt von dem, was das Göttliche im Menschen ist. Alles andere ist nur Schein, ist nur geschaffen, damit sich die moralische Weltordnung betätigen kann. Der Wille, der sich in dem Ich-Bewußtsein, in dem Punkt des Selbstbewußtseins ergreift, und von dem Ich-Bewußtsein ausstrahlt, erfaßt sich als einen Teil der Weltenseele.

Die ganze Art, wie Fichte dies zur Geltung bringt, zeigt uns, daß er in gewissem Sinne vom vollen Ich-Bewußtsein aus­geht. So wie das Licht in jeder einzelnen Farbennuance er­scheint - um noch einmal auf diesen Vergleich zurückzukom­men -, so geht er von dem Ich aus, das in allen drei Seelen-gliedern erscheint; aber er läßt es so walten, daß es durch die Bewußtseinsseele wirkt. Und in dieser Beziehung haben wir in Fichte - ich möchte sagen - denjenigen Denker, der der Anti­pode, der entgegengesetzte Pol des britischen Geistes ist. Wäh­rend der britische Geist wesentlich dasjenige zur Geltung bringt, was an Seelenimpulsen in der Bewußtseinsseele walten

425

kann, strahlt Fichte alles, was im Ich lebt, in die Bewußtseins­seele hinein. Daher der britische Geist bei Spencer in der neueren Zeit dahin gekommen ist, den Segen der Welt sich vor allen Dingen davon zu versprechen, daß eine solche äußere Ordnung eintrete, wödurch die ganze äußere Welt so ein­gerichtet werde, daß der größtmögliche Nutzen für die äußeren Menschheitsbedürfnisse herauskommt. Was die Industrialisie­rung der Menschheit bieten kann, das steht wie ein Ideal da in der Weltanschauung von Spencer; und ihm erscheint jedes Glied in einer gesellschaftlichen Ordnung von Unsegen, das unverträglich ist mit der Industrialisierung der Gesellschaft; denn die Industrialisierung der Gesellschaft, des Staatswesens bringt den ewigen Frieden, wirkt nach Spencer zur Ausrottung alles dessen, was friedengefährdend ist. So ist das äußerste Utilitätsprinzip hineingetragen in die Weltanschauung.

Bei Fichte sehen wir, wie er ein nicht minder praktischer Geist ist. Wir haben hervorheben können, wie er auf die Ent­wickelung seiner Zeit unmittelbar Einfluß gewinnt, zum Beispiel durch seine , wie er die Herzen durcheinanderrüttelt, wie er Begeisterung erweckt, wie sein ganzes Wirken darauf angelegt ist - wie es in seinen Universi­tätsvorträgen zutage tritt -, Herzen und Seelen der Menschen zu ergreifen, aber von demjenigen aus zu ergreifen, was nicht vom Gesichtspunkte der Außenwelt aus höchster Nutzen der Menschheit ist, sondem was als die tiefsten Ideale der Seele hineingestellt werden soll in die moralische Weltordnung. So sehen wir also, wie Fichte aus der Nuance der Bewußtseins-seele heraus wirkt und gewissermaßen das Gegenbild des bri­tischen Geistes zustande bringt.

Ein Geist, der innerhalb des deutschen Idealismus nun wie­derum in den Mittelpunkt seines Weltbildes das stellt, was die Seele in sich selber erleben kann, der aber durch die Art und Weise, wie er das verarbeitet, dem französischen Geiste unendlich

426

nahesteht, ist Hegel. Nur ist Hegel einer der deutsche­sten Denker, weil er - ich möchte sagen - wieder von der ent­gegengesetzten Seite aus das vollbringt, was die Eigentümlich­keit des französischen Geistes ist. Klarheit und Deutlichkeit, systematische Ordnung im Zuschauerstandpunkte, im Stand-punkte, der gewonnen wird, wenn man sich nur der Welt ge­genüberstellt: das ist das, was von Cartesius bis Bergson sich ergeben hat als charakteristikon des französischen Weltbildes. Hegel will das Weltbild als Erlebnis haben; aber er kann aus diesem Weltbilde nur das aufnehmen, was so klar und deutlich ist wie nun wieder ein mathematischer Begriff. Daher wirkt Hegels Weltbild so klar wie ein mathematischer Begriff. Des-halb hat man ihm gegenüber das «kalte Gefühl», wie ich es auseinandergesetzt habe. Aber es ist nicht ein aufgelesenes Sy­stem von mathematischen Begriffen, sondern es ist so gedacht, daß es die Seele in ihrem tiefsten Innern anfaßt. Und indem die Seele in ihrem tiefsten Innern also ergriffen wird, findet sie sich erhoben über alles Unklare und Undeutliche der äuße­ren Anschauung. Aber was ihr geblieben ist, nachdem alles Un-klare und Undeutliche von ihr abgefallen ist, das ist die Klar­heit des vollen Seins - bis zum gnostischen und philosophi­schen Begriff. Was Hegels Weltbild charakterisiert, das ist:

wenn auch sein Weltbild nur äußerliche Abstraktionen ent­hält, so sind doch diese Abstraktionen erlebt, unmittelbar er­lebt. Das macht allerdings vieles aus. Zunächst macht es aus, daß es eigentlich undenkbar ist, daß einer ein «richtiger Hegelianer> werde. Man kann im Grunde genommen nicht ein richtiger Hegelianer werden; das ist eine Unmöglichkeit. Denn nachzudenken, so diese äußeren Abstraktionen fortzu­spinnen, hat wirklich für einen zweiten keinen Reiz, und man hat immer das Gefühl: daß einmal einer dies getan hat, das ist genug in der Welt. Worauf es ankommt, ist das Streben, ein­mal nachzusehen, wie sich die Menschenseele erleben läßt,

427

wenn man nur Begriffe erlebt, wenn man nur das als inneres unmittelbares Erleben fühlt, was klarer, aber auch ganzlich abstrakter Begriff ist. Das Streben nach einem solchen Welt­bilde ist das Bewundernswürdige bei Hegel; ihn anzuschauen, wie er strebt, ist das, worauf es ankommt. Man hat, besonders wenn man sich in ein Werk vertiefen kann, wie seine «Phäno­menologie des Geistes> - die wenigsten werden sich allerdings darin vertiefen können -, ein Gespinst von lauter Abstraktio­nen, von den furchtbarsten Abstraktionen; aber es hat Leben, es hat Seele. Es ist ein charakteristisches Zeichen, daß einmal der deutsche Geist in seinem Erleben nach einem Weltbilde soweit gegangen ist, daß er sich sagte: Klarheit und Deut­lichkeit finde ich nirgends; ich will einmal schauen, um es zu erleben, was sich ergibt, wenn ich nur einen Begriff aus dem anderen hervorgehen lasse. Während Fichte das göttliche Wesen der Welt aufgehen läßt in «Gott als moralische Weltordnung», ist für Hegel Gott der «Weltendenker»; und es kann sich die einzelne Seele vertiefen durch die abstrakteste Logik, indem sie die göttlichen Gedanken nachdenkt. Das ist gewiß das un­geheuer Emüchternde und Kalte der Hegelschen Philosophie, daß, wenn man sich auf sie einläßt, man den Gedanken be­kommen muß: Der göttlichen Weltenordnung ist es nur darauf angekommen, zu «denken>, und um das Denken darzustellen, wurde alles Übrige dargestellt. Moralische Weltanschauung macht warm; moralische Weltanschauung stellt uns sozusagen auch in das alltägliche Leben hinein. Das Denken läßt uns nur die Welt «anschauen», und insofern ist das Anschauen bei Hegel auch ein Erleben. Und weil es auf das Erleben ankommt bei der Formung des Weltbildes des deutschen Idealismus, so sehen wir, wie es nun bei Hegel in der Weise fruchtbar wird, daß er sich nicht in die äußerlichsten Abstraktionen verliert, sondern sich an die Gedanken hält, welche die göttliche Weltenordnung das Menschengeschlecht erleben läßt, indem

428

sie es die Geschichte durchrnachen läßt. Die Menschenseele wird sozusagen auf den Weg gewiesen, die Geschichte durch-zumachen, um dadurch den Gang der göttlichen Weltordnung mitzumachen. Diese« «Minnachen> der Welt, das ich bei Goethe in einem viel univetselleren Sinne andeutete, das tritt uns bei Hegel entgegen in bezug auf die Geschichte. Wie die Gedanken ablaufen in bezug auf die Geschichte, so wirken sie mit zu einem Weltbild der Geschichte. Aber in diesem Erleben der Weltenlogik wird ihm die Geschichte zu dem, was sie werden muß, zu einer zweigeteilten: die ganze alte Geschichte bis zu dem Erscheinen des Christus auf der Erde ist der eine Teil; und die Erscheinung des Christus ist ein gewaltiger Ein­schlag, ist das Gewaltigste, was in die Erdengeschichte ein­schlägt, um von da ab etwas ganz Neues in die menschliche Entwickelung hineinzubringen, was vorher nicht mit der Erde verbunden war, und was nunmehr die Erdenentwickelung leitet. Der Christus-Gedanke verbindet sich in der charakterisierten Weise mit dem geschichtlichen Weltbild, das die deutsche Ent­wickelung hervorgebracht hat. Die ganze Geschichte ist bei Hegel ein Fortgang, so gedacht von der göttlichen Welten-regierung, daß sie sich darstellt als eine Erziehung der Mensch­heit zur Freiheit. Und der größte Erzieher, der aber den ge­samten Fortschritt der Erdenentwickelung in zwei Teile teilt, ist die Christus-Wesenheit, die von außen her - auch im Sinne Hegels - in die Erdenentwickelung hereingekommen ist. Und das Charakteristische ist: mit der Klarheit und Deutlichkeit, die Cartesius fordert, mit der aber auch bei Hegel alles Erleben verbunden ist, kann sich die Seele hineinleben in den ganzen Gang der Geschichte; da vertieft sie sich in die Etappe, in welcher das Ereignis von Golgatha stattgefunden hat, macht gleichsam in sich mikrokosmisch erlebend dasjenige durch, was die ganze Erdenentwickelung durchgemacht hat, indem sich der Christus der Erdenentwickelung einverleibt hat.

429

So verankert Hegel sein Weltbild in der Verstandesseele, und er wird dadurch der entgegengesetzte Pol der Weltanschau­ung des Descartes, wie Fichte der entgegengesetzte Pol der britischen Weltanschauung ist.

Anders ist es, wenn wir zu dem dritten der genannten Den­ker kommen, zu Schelling. Von ihm könnte man sagen: schon im äußeren Denken drückt sich bei ihm aus, wie er zu der süd­lichen Weltanschauung, der italienischen, in ein Verhältnis ge­bracht werden kann. Ich habe schon angeführt, wie er aus einer gesteigerten Phantasie heraus gestalten will, was allem natur­lichen und geschichtlichen Werden zugrunde liegt. Dafür ist physiognomisch bedeutend, wie Schelling schon äußerlich da-steht: die sein ganzes Leben hindurch funkelnden Augen zeug­ten von innerem Feuer; die mächtige Stirn, sein sardonisches Lachen und das innere Feuer machten ihn zu einem Giordano Bruno ähnlichen Geist. Während wir in Fichte den Punkt haben, wo der deutsche Geist nach derselben Seelennuance hin-neigt wie der britische Geist, aber ganz im Gegensatze zu die­sem von innen heraus die Weltgeschehnisse erfassen will -während der deutsche Geist in Hegel etwas dem französischen Geiste auch noch Entgegengesetztes hervorbringt, was aber demselben schon ähnlicher ist, stellt der deutsche Geist in Schelling -, weil Schelling gerade so nach der Empfindungs­nuance der Seele wirkt wie Giordano Bruno - etwas ganz dem Giordano Bruno Ähnliches hin. Nur daß Schelling in aller Natur und Geschichte sein Weltbild in einer etwas anderen Weise als Giordano Bruno aufbaut. Und während bei Fichte vorliegt der die Welt durchdringende Weltengeist als die mora­lische Weltenordnung, während wir diesen Weltengeist bei Hegel sehen als den klaren und deutlichen logischen Welten-denker, haben wir bei Schelling - ähnlich wie bei Giordano Bruno - den höchsten Künstler vor uns, die Kunst selber, den Künstler, der alles nach künstlerischen Prinzipien in der Welt

430

erzeugt. Aber wenn wir Schelling in seinem eigenartigen Stre­ben vergleichen mit Giordano Bruno, so sehen wir wieder den Unterschied des Wirkens der italienischen Volksseele aus der Empfindungsseele - und des Wirkens der deutschen Volksseele aus dem Ich heraus. Bei Giordano Bruno ist gewissermaßen alles wie aus einem Guß, trägt alles einen gemeinschaftlichen Charakter. Ich möchte Sagen: wie aus der Pistole geschossen steht Giordanos Weltanschauung da. Bei Schelling sehen wir, wie er ausgeht von der Weltanschauung seiner Jugend, wie er mühsam sucht, etwas davon zu verspüren, wie man einen Fun­ken des Weltenlebens in der Natur erleben kann. Und er kommt zu der Anschauung: Was in meinem Geist lebt als Gemüt, das lebt auch in der Materie; die Materie ist verzauber­tes Gemüt, ich muß sie erlösen aus der Verzauberung, muß sie entzaubern; es ist das Erleben alles dessen, was in der Natur ist, ein Erleben des Gemütes. - Wihrend Giordano Bruno wie auf einen einzigen Schuß seine Weltanschauung zu gewinnen versucht, begibt sich Schelling «auf den Weg». Und ich möchte sagen: von Jahr zu Jahr können wir verfolgen, wie er sich immer tiefer hineinleben will in die Geheimnisse des Welten-daseins. Den Weg der Entwickelung geht er durch. Er mußte ihn ja auch so durchgehen, daß er in seiner Jugend nach der Art, wie ihm die Innerlichkeit des Ich aufgegangen war, noch verstanden wurde; später, als er das Ich noch in der morali­schen Welt zeigen wollte, wurde er nicht mehr verstanden, und zuletzt wurde er verlacht und verspottet.

Das Weltbild des deutschen Idealismus ist vor allem ein Weg hinein in die tieferen Grundlagen des Weltendaseins. Wenn ich ein Bild gebrauchen darf, so möchte ich sagen: Das britische Weltbild stellt sich so dar, wie wenn ein Mensch in einem Hause wäre und zu einem Fenster hinaussähe. Was er da sieht, nimmt er als die Beschreibung der Welt; und so nimmt er das, was er durch die Werkzeuge des Hauses sieht,

431

als die Welt selber. Der deutsche Idealismus ist auf den Weg gewiesen, ein Miterleben mit dem Weltengeist zu suchen. Wenn wir freilich den Weg verfolgen, dann sehen wir, wie er, auch in einem Hause lebend, sich im Innern erfaßt. Bei Schelling, Hegel, Fichte sehen wir: der deutsche Idealismus sucht es sich in dem Hause heimisch zu machen; er sieht über-all bedeutungsvolle Bilder im Hause, und die «Bilder> drücken schon aus die äußeren Wesenheiten; und weil er die Bilder entziffern will, deshalb sucht er ein Weltbild. Fichte sucht es in der moralischen Seele: ein Weltbild, im Hause entworfen, nicht durch die Fenster geschaffen. Hegel erklärt die im Hause befindlichen Bilder, welche Natur und Menschheit wieder­geben. Schelling entziffert wieder einen anderen Teil, eder besser gesagt: es wird bei Schelling «Hausmusik> gemacht, und darin sieht er einen Abdruck dessen, was draußen vorgeht. Hegel sieht, was über das, was draußen ist, gemalt worden ist. Alle diese Geister haben ein Weltbild im Hause geschaffen -aber um das, was im Hause ist, zu entziffern. Wozu sie aber nicht gekommen sind, das ist, ich möchte sagen, die Tür des Hauses, - daß sie hinausgegangen wären, um dann, wenn sie durch das Tor gekommen wären, das Bild mit der Wirklichkeit zu verschmelzen, es unmittelbar zu erleben.

Auf diesen Weg - durch das Tor - hat sich allerdings Goethe begeben. Aber er hat auch alle Schwierigkeiten dieses Weges durchgemacht. Er hat uns gezeigt, wie unendlich man ringen muß, um einen Ausdruck zu finden für das, was man erlebt, wenn man sich wirklich auf den Weg des Erlebens be­gibt. So ist er durchgegangen durch das Erleben mit seinen Kämpfen und Schwierigkeiten, die ein solches Erleben durch­machen muß, wie eben derjenige durch das Leben gehen muß, der Entwickelung sucht. Wir sehen, wie Goethe eine gewisse Etappe seines Lebens festgelegt hat in dem Faust von 1797, den er bezeichnenderweise eine «barbarische Komposition»

432

nennt, und von der er überzeugt ist, daß auf einer neuen Stufe seines Lebens etwas ganz Neues hineinkommen muß. Das ge­hört zum Charakteristischen des deutschen Weltbildes, daß es im Grunde genommen niemals «fertig» sein kann. Jenes ober­flächliche Urteil, welches das Große nur dann «groß» findet, wenn man es «tadellos> findet, ist kein Urteil, das angepaßt ist dem Heros des menschlichen Strebens. Wer etwa der An­sicht wäre, daß wir im «Faust> ein ebenso vollendetes Kunst­werk haben können, wie es Dante in seiner «Göttlichen Ko­mödie» gegeben hat, der wäre im Irrtum. Dort, bei Dante, ist alles grandios vollendet, wie aus einem Stück; bei Goethe sind die einzelnen Teile Stück für Stück nacheinander geschrieben, das Einzelne jahrelang liegengelassen, dann wieder vorgenom­men, und so fort. Es ist wirklich, wie er selbst sagt, eine «bar­barische Komposition>. Unvollkommen als Kunstwerk ist ge­wiß der Faust Goethes, aus dem Grunde, weil er nicht eine geschlossene Komposition aus einem Guß werden konnte, weil er immer mitging mit dem Leben. Aber nicht darum handelt es sich, daß wir sagen: der Faust von 1797 ist eine barbarische Komposition, ein «Tragelaph», wie Goethe sich ausdrückte, sondern daß wir uns auf den Standpunkt Goethes stellen und zu verstehen versuchen, inwiefern es eine barbarische Kompo­sition sein kann; nur dadurch entrücken wir uns der Blindheit, während man eben mit dem abstrakten Wort nur «von der Anerkennung» sprechen kann.

So geht Goethe den Weg durch das Tor, ist sich bewußt, daß man durch das Tor hinausgehen kann, und unterscheidet sich dadurch von den Philosophen, daß er versucht, weiter-zukommen. Da weiß er aber zugleich: Was sich der Mensch von sich selbst vorstellen kann, was er sich als ein Bild seiner selbst machen kann: so kann es sich nicht vor die eigene Seele hinstellen, wie es Fichte hingestellt hat in seiner Philosophie; so kann es sich nicht vor die eigene Seele hinstellen, wie Schelling

433

oder wie Hegel es hingestellt haben; sonst kommt man zu lauter Abstraktionen, zu einer abstrakten moralischen Welt­ordnung und dergleichen.

Was ist es denn im Goetheschen Sinne, was der Mensch nur als Vorstellung von sich selber gewinnen kann? Homunkulus ist es, wie er ihn in seinem zweiten Teil des Faust darstellt, das Menschlein Homunkulus, künstliches Fabrikat von dem, was der Mensch von sich wissen kann. Das muß jetzt erst untertauchen in die lebendige Natur. Und wie dasjenige vom Menschen, was er von sich selbst in sich trägt, untertauchen muß in die lebendige Natur, das stellt Goethe wiederum dar. Im untersten Werden mußt du beginnen, wird dem Homun­kulus gesagt.

Somit stellt Goethe die Entwickelung in ihrem ganzen Wer­den vor. So zum Beispiel, wenn er von dem Durchgang durch das Pflanzenlos spricht, wo er die Worte gebraucht: «Es grunelt so». Er ermahht den Homunkulus, sich einzuleben in den gan­zen Entwickelungsgang; er ermahnt ihn sogar: «strebe nicht nach höheren Orten» - «Orten» muß es heißen, nicht «Orden», wie in den Goethe-Ausgaben immer steht; weil Goethe un­deutlich frankfurterisch gesprochen hat, hat der Nachschrei­bende ein «d» statt eines «t» geschrieben; und die Goethe­Kommentatoren haben viel darüber nachgedacht, wie wohl der Homunkulus zu allerlei Orden kommen sollte. Und dann wird weiter dargestellt, wie er durch das Einleben in die Welt dazu kommen kann, als Helena zu erscheinen; denn was in der Helena erscheint, ist die menschliche Wiedergabe dessen, was durch die Weltgeheimnisse durchgeht.

So sehen wir an Goethe das sich Auf-den-Weg-Begeben nach einem Weltbilde. Der deutsche Geist ist sich bewußt: durch das Tor muß ich hinausgehen zu dem, was in der lebendigen Natur vorhanden ist; dann wird meiner Seele im fortwähren­den Entwickeln ein Weltbild zustande kommen. Dieses Weltbild

434

fordert allerdings da«, was heißt: die Welt zu erleben. Dazu war noch nicht Geduld vorhanden in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Daher wird zurückgehalten das Streben nach einem Weltbilde, wie es inauguriert war durch Goethe. So konnte es kommen, daß in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts - charakteristisch in Karl Vogt, Büchner und Moleschott, die man als die «Materialisten> be­zeichnet, Haeckel selber könnte dabei genannt werden - das­jenige wiedererstanden ist, was das britische Weltbild gebracht hat. Man kann sagen: es ist das britische Weltbild in der zwei­ten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts vom deutschen Geiste aufgenommen worden. Es ist das Tragische bei Haeckel, daß er sich jetzt gegen das britische Weltbild wenden muß, trotz­dem es dusch die charakterisierte Entwickelung in das deut­sche Streben hineingekommen ist.

Aber auch dadurch unterscheidet sich das deutsche Weltbild wieder von dem britischen: das britische ist zufrieden in dem Streben nach Ideen, die da« äußerlich Sinnliche nur zusammen-fassen, und es läßt neben dem äußeren Weltbilde, an das es glaubt, als «wissenschaftliches> Weltbild, für das Gefühl be­stehen den «Glauben> an irgendeine geistige Welt. So kann sich für Daawin der Glaube ergeben, wie er ihn in seineln wis­senschaftlichen Hauprwerk ausgesprochen hat, indem er sagt:

So haben wir das Leben der Organismen zurückgeführt bis auf einige wenige, denen - wie er sich ausdrückt - der Schöpfer das Leben eingehaucht hat! Ja, das Merkwürdige ist geschehen, daß der deutsche Übersetzer sogar diesen Satz zuerst weg­gelassen hat! Für den deutschen Geist muß alles die Grundlage für eine Weltanschauung abgeben können; für den britischen Geist braucht diese Forderung nicht erfüllt zu werden, weil er jene Konsequenz nicht hat, sein Weltbild soweit auszubauen, daß alles zum Material wird für seine Weltanschauung. Er kann sich eine «doppelte Buchführung» gestatten: die wissenschaftliche

435

Welt liefert ihm die Bausteine für das, was er als wissenschaftlich richtig hält; für das andere ist der Glaube. Für den deutschen Geist taugt keine doppelte Buchführung. Daher wurde der deutsche Idealismus überwältigt durch den eng­lischen Empirismus. Daher sehen wir merkwürdige Erscheinun­gen im deutschen Weltanschauungsstreben. Ich will nur Du Bois-Reymond anführen: in ihm lebt die Bewunderung für den Descartes-Laplaceschen Geist, der die Welt denkt, wie sie ein großer Mathematiker aus Atomen und Kräften zusam­mengefügt haben könnte. Aber: Ignorabimus! über das See-lisch-Geistige können wir niemals etwas wissen. Cartesius, Giordano Bruno brauchten nicht bis zu diesem Punkte gehen. Aber Du Bois-Reymond geht bis zu dem: .... daß, wo Supra­naturalismus anfängt, Wissenschaft aufhört.> Das sagt nicht Descartes; aber Du Bois-Reymond sagt es, wo wir den deut­schen Geist überwältigt finden durch Descartes. - Und so kann man weiter zeigen, wie italienischer, Giordano-Brunoscher Geist, eingeflossen ist in zahlreiche Bestrebungen des deut­schen Weltanschauungsstrebens. So finden wir heute schon viele, welche zeigen, wie die Pflanze eine «Seele> hat, und wie alles beseelt ist Wir brauchen nur an Raoul Francé zu denken. Aber wir könnten wieder viele seiner Zeitgenossen anführen, sogar Fechner selbst, der alles beseelt: ein Wiederaufstehen des Geistes des Giordano Bruno. Aber es fehlt etwas. Gerade das fehlt, was in Giordano Bruno lebte. Daher konnte ich oft darauf aufmerksam machen: wenn nun wirklich jemand kommt wie Raoul Francé und sagt: Es gibt Pflanzen - wenn gewisse Tiere in ihre Nähe kommen, so ziehen sie dieselben an, locken sie an; ist das Tier in sie hineingekrochen, dann machen sie einen Spalt zu und saugen es aus..., sehen wir da nicht ein seelisches Leben bei der Pflanze? Da müssen wir sagen: wenn man dasselbe lesen würde bei Giordano Bruno, so würde man es, weil es durchdrungen ist von dem Impuls der Empfindungsseele,

436

voll verstehen. Wenn es aber auftritt, wie es durchgegan­gen ist durch die Klarheit und Deutlichkeit des deutschen Idea-lismus, da gilt denn das, was ich oftmals angeführt habe: es gibt etwas, was durch die Art und Weise, wie es beschaffen ist, kleine Tiere anzieht, sie in sich aufnimmt - ganz ähnlich so, wie es bei der Venus-Fliegenfalle ist - und dann sogar tötet. Es ist die Mausefalle. Und wie man im Giordano Bruno­schen Sinne die Pflanzenbeseelung erklärt, so kann man auch dann die Beseelung einer Mausefalle erklären wollen.

Dadurch, dass sich gewisse Weltanschauungsimpulse in die Weltanschauung des deutschen Idealismus ergossen, die der Protest gegen alle Veräußerlichung der Weltanschauung ist, dadurch hat etwas stattgefunden, wovon man sagen kann: der deutsche Idealismus ist eine Weile zurückgegangen in den deut­schen Seelen und Gemütern. Und heute sehen wir ihn nur wie ein Ideal des Kampfes, der inneren Tüchtigkeit; wir sehen ihn, wie er, in die äußere Tat umgewandelt, wieder mit Hoffnung und Zuversicht und mit Kraft die Seelen erfüllen kann. Aber wir müssen uns klar sein, daß diese Kraft dieselbe ist, die ein­mal eine innerliche Weltanschauung in innerem Kampfe ge­sucht hat auf dem Wege nach dem Weltbilde des Idealismus und daß dieses Weltbild des deutschen Idealismus in Wahr­heit dasjenige ist, was der deutsche Geist suchen muß als auf seinem Wege, seinem vorbestimmten Wege liegend. Und viele, viele Mahnungen enthält unsere schicksalsschwere Zeit, die Mahnung aber zweifellos auch: daß der deutsche Geist ringen muß, um das, was in seinen tiefsten Gründen ist, wie­der hervorzubringen, so daß es ein offenbarer Bestandteil alles seines Strebens, aller seiner Arbeit ist.

Ich glaube nicht, daß dadurch auch nur im allergeringsten Maße ein geringeres Verständnis für die Eigentümlichkeiten anderer Völker herauskommen könnte, daß sich der deutsche Geist bewußt wird, daß er der Träger werden muß des Weltbildes

437

des innerlich erlebten Idealismus. Im Gegenteil: der Deutsche wird um so mehr in der Welt gelten, je mehr er das, was in seiner Seele als sein tiefstes Wesen lebt, heranträgt vor die Welt. Man wird uns um so mehr verstehen, je mehr man eingedenk sein wird des Goetheschen Wortes:

«Der Deutsche läuft keine größere Gefahr, als sich mit und an seinen Nachbarn zu steigern; es ist vielleicht keine Nation geeigneter, sich aus sich selbst zu entwickeln, deswegen es ihr zum großen Vorteil gereichte, daß die Außenwelt von ihr so spät Notiz nahm.»

Und sie hat ja bis zum heutigen Tage so wenig Notiz ge­nommen, daß es möglich war, solche Urteile über deutsches Wesen zu fällen, wie man sie zu hören bekam.

Das ist es, was uns der deutsche Idealismus als ein Mahner in unserer schicksalsschweren Zeit zuruft: Das Selbstbewußt­sein der deutschen Volksseele, es möge erwachen in unserer Seele! Dieser deutsche Idealismus hatte im Hause ein morali­sches, ein logisches, ein künstlerisches Weltbild hervorzubrin­gen, da er schon waltete, ich möchte sagen, im Hause; er hatte die Gabe, die Welt zu erkennen - in Gemälden im Hause. Und er muß den Weg finden durch das Tor in die Umgebung. Und er muß erkennen, wie sich dieser Weg - im Unterschiede zu anderen - ausnimmt, der dazu führt, nicht nur durch die Fenster die Umgebung anzuschauen, wie das bei der britischen Weltanschauung der Fall ist, sondern durch das Tor diese Um­gebung zu erreichen, alles in der Welt liebevoll zu erreichen, indem man eins mit ihm wird. Hat sich der deutsche Idealis­mus vorgeübt durch die Betrachtung der Weltbilder des Mikro­kosmos, des menschlichen Leibes, so wird er auch das Tor fin­den hinaus aus dem Leib zu dem Weg, den schon Goethe an­gedeutet hat, und der dahin führt, an Stelle der bloß erdachten, ersonnenen, innerlich erkämpften Weltanschauung - die mit den Dingen erlebte Weltanschauung zu suchen, die in den

438

ersten ahnungsvollen Zügen bei Jakob Böhme enthalten ist, die bei Goethe mit klaren Zügen begonnen ist und uns als Zu­kunfts-Ideal vorleuchtet, die nicht nur bei dem bleibt, was die Betrachter der Gemälde im Hause - Fichte, Schelling, Hegel -angeregt haben, sondern die auch den Weg finden kann durch das Tor, um die lebendige Menschenseele mit der lebendigen Weltenseele zu verbinden.

439

SCHLAF UND TOD VOM GESICHTSPUNKTE DER GEISTESWISSENSCHAFT Berlin, 16. April 1915

Oft habe ich im Verlauf dieser Vorträge hetont, daß es ganz naturgemäß, wie selbstverständlich ist, daß von dem Gesichtspunkt aus, auf dem heute der größte Teil der Menschen steht, Einwendungen über Einwendungen sich geltend machen müs­sen gegen die Geisteswissenschaft. Aber ich habe auch in dem Vortrag, den ich hier gehalten habe über die Unsterblichkeits-frage vom Standpunkt der Geisteswissenschaft, betont, daß echte Geisteswissenschaft nichts zu tun haben will mit dem, was nur zu oft unter diesem Namen getrieben wird, daß sie in vollem Einklang steht mit der Naturwissenschaft. Aber auch mit dem, was eine gesunde Philosophie zu sagen hat, steht sie in vollem Einklang. Da dies für unsere heutige Betrachtung bemerkens­wert ist, darf ich einleitungsweise mit ein paar Strichen diesen Einklang mit dem philosophischen Denken hervorheben.

Das, was Geisteswissenschaft immer geltend zu machen hat, beruht nicht auf philosophischer Spekulation, sondern auf dem, was die innere Erfahrung, das innere Erleben der geistigen Tatsachen genannt worden ist; die Selbständigkeit, die Insich­gegründetheit des menschlichen Seelenwesens hat sie geltend zu machen, - populärer gesprochen: daß das Menschenwesen ein geistig-seelisches Dasein hat über das physisch-leibliche hinaus. Ich sagte, daß dies mit einer gesunden, auf wissen­schaftlichem Boden stehenden Philosophie durchaus in Einklang steht, weil viele Menschen aus der Denkweise unserer Gegenwart heraus eine solche Behauptung als das Extrem aller

440

Unwissenschaftlichkeit empfinden. Leicht hat man es vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus zu sagen: Wie kann man vom menschlichen Seelenwesen als von etwas Selbständi­gem sprechen, wenn doch die Physiologen zeigen, daß alles in Abhängigkeit steht von dem, was sich am Menschen körperlich entwickelt. Man sehe, wie, wenn ein Teil des Gehirns verletzt wird, durch den Ausfall eines Teils der Gehirnverrichtungen sofort Störungen auftreten. Muß man da nicht zu dem Gedanken geführt werden, daß in dem normal sich verhaltenden Nerven­system oder Gehirn die Seelentätigkeiten liegen? Man kann darauf hinweisen, wie mit dem jugendlichen Menschen die gei­stigen Fähigkeiten wachsen, wie im Alter, wo das äußere Sy­stem verdorrt, verhärtet, die geistigen Fähigkeiten abnehmen und so weiter. Auf Grund solcher Beobachtungen ließe sich so mancher Gedankengang formen, der auf die Idee bringen müßte, daß das geistige Erleben im Grunde in nichts anderem als in der Tätigkeit des Nervensystems und des übrigen Orga­nismus bestehe. Hören wir, wie ein scharfsinniger Philosoph, Otto Liebmann, den ich in meinen «Rätseln der Philosophie» erwähnt habe, darüber denkt. Er gehört nicht zu denen, die etwas auf leichtgeschürztes Denken hin behaupten, sondern er gibt, was die Tatsachen der Analyse des menschlichen Den­kens zu geben vermögen. Er setzt sich mit dem Glauben aus­einander, daß die menschliche Seele nur im Physischen bestehe, und sagt bemerkenswerte Worte, einer scharfsinnigen Philoso­phie entsprechend, die mit dem gegenwärtigen Stand der Natur­wissenschaft übereinstimmt. Kurz zusammengefaßt sagt er: Es sei zwar keineswegs ganz sicher, was Munk und andere hin­sichtlich der Abhängigkeit der Seelentätigkeit vom Gehirn fest­gestellt haben, weil beispielsweise ein verletzter Teil des Ge­hirns durch andere Funktionen ersetzt werden kann. Aber wären wir ans Ziel gelangt, so würde man grundsätzlich doch nichts anderes ersehen. Das heißt, die moderne Philosophie

441

sagt, man könne noch so weit kommen im Studium der Ver­bindung des Seelischen mit dem Leiblichen, man käme doch nicht weiter als zu wissen, daß man sich bestimmter innerer Organe bedienen muß, wenn man denken, fühlen und wollen will. Man kann die Parallele ziehen, daß man gewisse Partien des Gehirns für die Seele brauchen müsse, wie man sich der Hand bedient, um zu greifen. Aber wenn wir uns dieser Hand bedienen, um zu greifen, so kommt die mechanische Verrich­tung der Hand zum Seelischen dazu. Nicht so können wir von den seelischen Verrichtungen des Gehirns sprechen. Das rührt indessen nur davon her, daß die Untersuchungen der Natur-wissenschaft nicht abgeschlossen sind. Indem sie sich weiter-bewegt, um die Verbindung zwischen dem Physischen und dem Seelischen nachzuweisen, wird sie finden, daß zwischen Denken, Fühlen, Wollen und dem Nervensystem ein anderer Zusammenhang ist als zwischen der Hand und dem Greifen. Sie wird finden, daß sie etwa so zusammenhängen wie die Abdrücke, welche die Füße im aufgeweichten Erdboden machen, mit der Erde.

Was spezifisch im Gehirn zu finden ist, wird man von der Seelentätigkeit ableiten können, wie man die Fußstapfen auf der Erde von den Füßen ableiten kann. Wie ein Zusam­menhang zwischen Gehen und Fußstapfen nicht sein könnte ohne festen Boden, so ist es mit allem, was verrichtet wird im physischen Leib. Von allem, was der Mensch denkt und will, findet sich ein Abdruck im Nervensystem in der physischen Leiblichkeit; aber es geht nicht daraus hervor, so wenig wie die Fußstapfen aus der Erde hervorgehen. Man braucht den physischen Leib als Widerstandsfläche, wie man die feste Erde zum Gehen braucht. Daher ist es selbstverständiich, daß man Abdrücke finden muß. Es ist ein wissenschaftlich berechtigtes Bemühen, sie zu finden; aber es ist unwissenschaftlich, das aus dem Leiblichen herausholen zu wollen, was durch das Seelisch-Geistige

442

hineingedrückt ist. Insofern ist die Liebmannsche Be­hauptung falsch. Der Abdruck ist nur die Begleiterscheinung des Seelisch-Geistigen. Getade das wird die Nanirwissenschaft mit ihren Mitteln im eminentesten Sinne beweisen; sie wird zeigen, wie man die Spuren verfolgen kann, aber nicht sie aus dem Organismus heraus erklären wollen. Die Naturwissen­schaft ist schon auf diesem Wege; schon heute könnte der vollgültige Beweis dafür erbracht werden. Die Geisteswissen­schaft bestreitet nichts von dem, was an der Naturwissenschaft berechtigt ist; die Geisteswissenschaft läßt die Naturwissen­schaft durchaus gelten. Lehnt sie sich doch nur gegen den unberechtigten Machtspruch der Naturwissenschafter auf, etwas zu treiben, was man dort selber nicht weiß, - gegen die Despo­tie der Wissenschafter. Das geht noch weiter. Man könnte bei einzelnen Philosophen fast handgreiflich fassen, wie sie in das hineintreiben, was Geisteswissenschaft darlegen will, gleich im Anschluß zum Beispiel an das, was schon von Otto Liebmann angeführt worden ist. Was er sagt, ist mustergültig in bezug auf Scharfsinn und Zergliederung. Er meint, es könne jemand sagen, im Hühnerei sei nicht nur Eiweiß und Dorter, sondern auch ein Gespenst; das verkörpere sich, picke die Schale auf, laufe heraus und picke sofort die ausgestreuten Körner auf. Man könnte begreifen, daß jemand das als Witz auffassen würde. Aber es ist von Otto Liebmann durchaus nicht als Witz gemeint. Er fährt fort, daß sich nichts dagegen einwenden lasse, als daß man die Präposition nicht räumlich, son­dern metaphysisch fassen müsse. So verstanden ist sie ganz richtig, sagt Otto Liebmann. Die Tatsache liegt vor, daß ein scharfsinniger Philosoph sich eingestehen muß: man könne nichts dagegen einwenden, wenn gesagt wird, im Hühnerei sitze nicht nur Detter und Eiweiß, sondern auch ein unsicht­bares Gespenst, das sich materialisiert. Otto Liebmann glaubt aber nicht, daß man gleich nach dem Lesen von ein paar

443

Büchern eine Weltanschauung machen müsse, sondern er will sorgfältig abwägen, in welcher Weise der Mensch seine Denk-tätigkeit in Bewegung setzt. Aus den geisteswissenschaftlichen Vorträgen kann man ersehen, wie das, was Otto Liebmann hier als anspricht, das sich materialisiert, im Menschen selber als ein Übersinnliches vorhanden ist.

Ich kann heute nicht über die Methoden sprechen, die an-zuwenden sind, um vom Physischen und Leiblichen das loszu­lösen, was an Geistig-Seelischem darin steckt, und im Denken etwas zu entdecken, von dem man im gewöhnlichen Leben nichts weiß; ebenso etwas dem Wollen und Fühlen zugrunde Liegendes zu entdecken, von dem Wollen und Fühlen nur ein Abdruck sind. Für den Geistesforscher ist es so, daß dasjenige, was Otto Liebmann hier theoretisch für das Hühnerei angibt, dem Menschen ein inneres Erlebnis werden kann. Geisteswis­senschaft wird nicht behaupten, daß sie es gespensterartig, etwa im Lichtglanz, vor das physische Auge stellen kann; da­durch wäre es ein physisches, nicht ein geistiges Erlebnis. Doch bewußt kann man seiner werden, so wie das Erlebnis im all­täglichen Leben durch das Leibliche vermittelt wird, aber nur, indem man sich vom Leiblichen loslöst. Otto Liebmaun hat geahnt, daß dem Leiblichen ein Geistiges zugrunde liegt. Die Geisteswissenschaft geht in der Weise vor, daß sie zeigt, wie die geistig-seelischen Methoden dazu führen, das Bewußtsein zu entwickeln von dem, wovon Otto Liebmann spricht. Dieses Bewußtsein kann entwickelt werden. Wie die äußere sinnliche Welt ein Objekt wird für das gewöhnliche Bewußtsein, so wird für den Menschen dann, wenn er sein Geistig-Seelisches frei macht, er selbst sich zum Objekt: er schaut sich von außen an.

Es könnte eingewendet werden, man behaupte dann wohl im Einklang mit der Philosophie zu sein, aber es bleibe abzu­warten, ob Otto Liebmann diese Träumereien gelten lasse oder

444

sie doch für Träumereien erklären wurde. Nehmen wir aber an, daß in der Zeit, in der das Telephon erst noch zu ent­decken war, ein Physiker zum andern davon gesprochen hätte, und der andere gesagt hätte, das sei unmöglich. Steht deshalb das Telephon, wie wir es heute haben, etwa nicht im Einklang mit dem, was damals Physik war? So ist es mit der Geistes­wissenschaft. Mit einer Urteilsweise wie der angedeuteten würde man dazu gedrängt, allen menschlichen Fortschritt von den Vorurteilen eines einmal angenommenen Standpunktes aus zu bekämpfen.

Der Mensch kann sich wirklich frei machen vom Leiblich-Physischen. Von diesem Gesichtspunkte aus soll einiges Licht geworfen werden auf die Geheimnisse von Schlaf und Tod. Wenn der Mensch sich vom Leiblich-Physischen frei macht, so kommt er in einen Zustand, in dem er seine ganze Mensch­lichkeit durchschauen kann, wie sie in der physischen Welt ist. Jetzt erst ist ein wahres Sich-Erkennen möglich. Jetzt erst wird man sich Objekt, wie der Wasserstoff, der sonst im Wasser ist, erst dann Objekt wird, wenn er vom Chemiker losgelöst wird. Jetzt ist man imstande, dieses neu Erlangte in Beziehung zu setzen zu Bewußtseinszuständen, die im gewöhnlichen Alltags-bewußtsein nicht in Beziehung zueinander gesetzt werden kön­nen: das Wach-Erleben in Beziehung zu dem Schlaf-Erleben.

Indem der Mensch in Schlaf versunken ist, ist das Geistig-Seelische aus dem Physischen herausgetreten. Otto Liebmanns «Gespenst» löst sich zeitweilig vom Leiblichen los, und zwar wird ein rein geistig-seelisches Verhältnis hergestellt zwischen dem Zustand, wie man ihn durch geistige Entwickelung ge­winnt, und dem Schlafzustand; ein Verhältnis wie zwischen dem, was ich jetzt erlebe, und einer Erinnerungsvorstellung von dem, was ich einmal erlebt habe. Wie auf dasjenige, was ich einmal erlebt habe, so schaue ich auf den Schlafzustand und finde, daß sich das Geistig-Seelische vom Einschlafen bis

445

zum Aufwachen außerhalb des Physisch-Leiblichen befindet. Man muß sich geistig-seelisch in Verbindung damit setzen. Also man überschaut die zwei Glieder der menschlichen Na­tur, das Physisch-Leibliche, das im Bett zurückgeblieben ist, und das, was herausgegangen ist; so wie man Wasserstoff und Sauerstoff überschaut, wenn sie aus dem Wasser heraus-getrennt worden sind. Aber noch mehr: Man sieht, daß das, was als Leiblichkeit zurückgeblieben ist, in der Tat eine Zwei­heit ist, nämlich der physische Leib und dasjenige, was ver­hindert, daß er seinen eigenen chemischen Gesetzen folgt, was macht, daß er ein lebendes Wesen ist; das ist der Atherleib

- es kommt nicht auf das Wort an -, ein feinerer Kräfteleib. Das Wort Atherleib sollte nicht gepreßt werden, es hat nichts mit dem zu tun, was heute in der Physik Äther genannt wird.

Über dasjenige, was im Schlaf herausgeht, namentlich über das Wort, das man dafür anwendet, kann gespottet werden. Man lasse den Leuten den Spott. Das was herausgeht, ist der astralische, der eigentliche Seelenleib und das Ich. Man hat also die viergliedrige Menschennatur vor sich: auf der einen Seite das Leibliche und das Atherische, auf der andern Seite das Seelische, in dem die Ichnatur gleichsam eingebettet ist. Im gewöhnlichen Schlaf ist das Ich nicht fähig, ein Bewußt­sein zu erzeugen, weil es auf der gegenwärtigen Stufe der Menschheit seine Ichtätigkeit im Zusammenhang mit dem Leiblich-Physischen entwickelt. Man kann auch nicht in der Luft gehen, und ebensowenig kann das Ich-Bewußtsein sich entwickeln ohne den Widerstand des Leiblich-Physischen; es entwickelt sich daran. Im Schlaf findet es diesen Widerstand nicht und kann daher nicht zum Bewußtsein kommen. Es ent­wickelt ein dumpfes Bewußtsein; aber dies ist nur ein para­doxer Ausdruck, da es eben nicht zum Bewußtsein kommt.

Ebenso ist vom Einschlafen bis zum Aufwachen der Seelen-leib fortwährend tätig. Vergleichsweise könnten wir sagen: so

446

wie wir tätig sind, wenn wir über etwas nachdenken, das vor einiger Zeit geschehen ist. Seine Tätigkeit ist ein Nadischwin­gen dessen, was er im Äther- und physischen Leib erlebt hat. Welchen Sinn dieses Nachschwingen hat, das haben wir uns folgendermaßen vorzustellen: Wir denken, fühlen, wollen im Wachen mit unserm Atherleib, der den Widerstand leistet innerhalb des physischen Leibes. Das heißt, nur die Gedanken schwingen sich durch, welche die Wirkung des Atherleibes zurückspiegeln. Dadurch, daß wir im Ätherleibe so tätig sind, prägen wir die Nachwirkungen am Ätherleibe ein: was wir am Tage denken, drückt sich ihm ein. Aber er bietet einen Widerstand, er hat seine eigenen inneren Bewegungen; sie sind es, was das den physischen Leib durchdringende Leben ausmacht. Indem wir das hineinzwängen, was in unserem Den­ken vollführt wird, drängen wir ihm ein Fremdes auf; denn er hat ja zunächst den Zweck, das Leben zu vermitteln. Wegen der Spannungen, die zwischen der einen und der anderen Tätigkeit des Ätherleibes entstehen, kann der Astralleib das nicht aufnehmen, was so eingeprägt wird. Im Schlafe schwingt er nach in dem, was wir selber während des Tages in unseren Ätherleib hineingedrängt haben; es ist wie eine Erinnerung dessen, was wir während des Tages gedacht, gefühlt, gewollt haben. So können wir sagen, daß der Mensch in bezug auf sein Ich kein Bewußtsein entwickeln kann während des Schlafes, daß aber der Astralleib in dem nachschwingt, was da alles am Tage durch die Seelentätigkeit in uns vorgegangen ist. Auch diese Tätigkeit des Astralleibes kann nicht zum Bewußtsein kommen; denn würde sie lange so fortschwingen, so würde sie sich zu einem Zustand steigern, wo wirkliches Bewußtsein auftreten würde, an jedem Morgen ein genaues Bewußtsein, ein Erinnerungsbild dessen, was in den Astralleib hinein-gezwängt worden ist. Unter dem, was wir uns während des Tages angeeignet haben, haben wir uns nicht alle die einzelnen

447

Akte vorzustellen, sondern die Tätigkeit des Denkens, Fühlens und Wollens. Indem wir diese ausüben, geben wir dem Astral-leib ein Gefüge, einen allgemeinen Abdruck - nicht durch die einzelnen Akte -, darin schwingt er nach. Dann, am Morgen haben wir in dem angedeuteten Bild, wir können sagen, in dem, was wir am Tag vorher erlebt haben, nicht im Denken, Fühlen, Wollen, etwas Neues angesetzt. Das würden wir über­schauen, wenn nicht der Astralleib den Trieb entwickeln müßte, wieder zurückzukehren in den physischen und Äther-leib, das heißt aufzuwachen. Die höchste Spannung führt uns zum Untertauchen in den physischen Leib. Denn sonst müßte man imstande sein, die Kraft, die man im Schlafe im phy­sischen Leib und in dem, was man den Atherleib nennt, zurücklassen muß, herauszuziehen, wenigstens für ganz kurze Zeit. In dem, was man die wirkliche, geistige Anschauung nennen kann, belebt man tatsächlich das, was man nennen kann die unbewußte Kraft des Ätherleibes, bringt sie zum Aufblitzen. Man muß dann die Momente abwarten, in denen sich der Ätherleib auch während des wachen Lebens loslöst, es ist wie ein Blutpulsieren: der Ätherleib ist erst intimer mit dem physischen Leib verbunden - und zieht sich zurück. Jn­dem man solche Augenblicke benützt, gewinnt man für einen kurzen Moment Bewußtsein vom Ätherleib. Dann blitzt das übersinnliche Bewußtsein auf: man ist in der geistigen Welt, kann darin Fragen stellen.

Wir sehen, welch intimer Vorgang zugrunde liegt. Was real geschieht, ist wie ein Vorüberhuschendes. Wenn man es in wis­senschaftliche Formen bringen will, so ist das, was zurück­bleibt, wie eine Erinnerung, - wie eine Erinnerung an vor­überhuschende Träume. Daher kommt man zu Erfolgen in der Geisteswissenschaft nicht dadurch, daß man Schlußfolgerungen an Schlußfolgerungen reiht, an das, was man schon hat, - es ist nicht eine logische Erinnerung, nicht ein Denken, sondern

448

es entsteht ein Wachsen durch solche vorüberhuschende Mo­mente. Daher kann auch der Geistesforscher, wenn er nieder-schreibt, was er so gewinnt, nicht verfahren wie derjenige, der aus der Erinnerung beschreibt. Er kann sich zum Beispiel nicht aumaßen, zu sagen, ein Vortrag, den er zum zwölften Male hält, sei leichter, weil er in der Erinnerung gefestigt ist. Gei­steswissenschaftlich kann man, wenn man wirklich ehrlich sein will, nichts so in Erinnerung übergehen lassen, sondern es muß immer neu aus der inneren Seelenarbeit heraus gesprochen werden, nicht aus der Erinnerung. Daher ist ein Vortrag das vierzehnte, fünfzehnte Mal so neu wie das erste Mal. Es ist vielmehr eine gewollte Verrichtung, ein fortwährend Aktives, Tätigkeit Entwickelndes in der Seele. Daher wird bei ehrlicher geisteswissenschaftlicher Darstellung derjenige, welcher aus unmittelbarem Zusammenhang mit der geistigen Welt etwas darstellt, jedesmal versuchen, die Worte neu zu prägen. Ge­rade deshalb kann allein eine innere, wirkliche Ehrlichkeit zur Darstellung des Geisteswissenschaftlichen führen. Wer lügen will, sagt man, muß ein gutes Gedächtnis haben. Der Geistes­forscher muß dagegen im höchsten Grade von der Ehrlichkeit imprägniert sein. Er darf nicht färben; dann wird das, was er sagt, schon zusammenstimmen mit dem, an das er sich nicht in der gewöhnlichen Weise zu erinnern braucht. Aber die Er­innerungsweise des gewöhnlichen Bewußtseins kann man nicht anwenden.

Durch solchen Einblick in die Gliederung der menschlichen Wesenheit durchschaut man die Natur des Schlafes. In Wien habe ich diesen Vorgang als Trennung zwischen physischem und Ätherleib einerseits und Astralleib und Ich andererseits bezeichnet. Das ist nur relativ zu verstehen; Beziehungen blei­ben, stellen sich her. Während der Astralleib gewissermaßen in seinem Rückfühlen nachschwingt, stößt er an den Äther-leib in dessen gewöhnlichem Erleben an, und indem er so das,

449

was er rein erleben würde, vermischt mit dem, was im gewöhn­lichen Leben vorgeht, entstehen die Träume. Sie sind chaotisch oder auch mehr oder weniger gesetzlich, selbst prophetisch, durchmischt mit dem, was sich im gewöhnlichen Leben voll­ziehen kann. Wenn Schopenhauer nicht bloß vom gewöhn­lichen philosophischen Erkenntnisstandpunkt aus geurteilt hätte, so hätte er die Welt nicht bloß als Wille und Vorstel­lung gesehen; sondern er hätte gesehen, daß die Vorstellung in sich verdichtet werden kann, daß man darin das Seelisch-Gei­stige als Geistiges bewußt erleben kann, und daß dasjenige, was er im menschlichen Organismus als Wille sieht, sich in die ganze Umwelt hineinergießt und für die Durchgeistigung der gesamten Welt zur Offenbarung gelangt. Im Astralleib schwingt dasjenige nach, wodurch der Mensch am Ende eines Tages mehr ist als vorher. Das gleiche vollzieht sich auch im ganzen Leben. Denken wir, um das zu verstehen, an die Pflanze und den reifenden Samen; lassen wir dies Bild auf uns wirken. Aber das bleibt im Ätherleibe, der Astralleib schwingt nur nach. Doch nimmt er den Ätherleib durch die Pforte des Todes mit: Und jetzt kann, herausgezogen aus dem physischen Leib, der Astralleib mit dem Ich zusammen ein volles Bewußt­sein entwickeln; er wird nun durchzuckt von der Lebekraft des Ätherleibes, und das Bewußtsein taucht auf. Dann aber, wenn er so belebt ist - weil der Ätherleib eigentlich der Lebensversorger des physischen Leibes ist und zu mehr nicht dienen kann -, wenn der Extrakt sozusagen daraus gezogen ist, wird das, was nur die Lebensfunktionen unterhält, in die übrige Ätherwelt ausgestoßen. Durch das geistig gehaltene Bewußtsein, das durch den Anstoß des Astralleibes und Ich an den Extrakt des Atherleibes entsteht, muß der Mensch sich erst hindurchringen, bis er zum Gebrauch des neuen Bewußt­seins kommt, in welchem er die Zeit zwischen Tod und einer neuen Geburt verbringt. In dieser Zeit macht der Mensch

450

vieles durch. Über die Zeitlänge, die da verfließt, kann man nur etwas erschauen, wenn man das einzelne Menschenleben mit dem ganzen Erderleben in Zusammenhang bringt. Dann kann man sehen, was ihn an der Erde angezogen hat, was ihn aus dem Geisterreich zu diesem Leben geführt hat; die Kräfte, die den Menschen herunterführten, haben damit ihren Ab-schluß, ihr Ziel gefunden. Inzwischen muß die Erde sich so verändert haben, daß der Mensch Neues erleben kann. Daher dauert es Jahrhunderte, daß der Mensch seine Kraft sammelt, um in ein neues Erdenleben hinabzusteigen.

Auch im Leben zwischen Tod und einer neuen Geburt muß man sich zwei Wechselzustände der inneren Erlebnisse vor­stellen. Im alltäglichen Leben haben wir Wachen und Schla­fen; im Leben zwischen Tod und neuer Geburt sind es ab­wechselnde Perioden, aufeinanderfolgende Zustände von inne­rer Regsamkeit und von Vereinsamung gegenüber der geisti­gen Umwelt, wo man nichts weiß von der geistigen Um­gebung, aber innerlich auslebt, was man darin vorher auf-genommen hat. Es ist dieses Erleben dann, wie wenn ein mächtiges inneres Bild aus einem selber aufstiege. Dann wie­der ist rnan ganz wie ausgeflossen in die geistigen Welten und ihnen einverleibt.

Man kann in dem Leben zwischen Tod und neuer Geburt einen geistigen Mittelpunkt annehmen. In der ersten Hälfte wird das verarbeitet, was sich im letzten Erdenieben neu an­gesetzt hat; in der zweiten Hälfte wird das aufgenommen, was macht, daß das Geistig-Seelische den physischen Menschen in einem neuen Erdealeben durchdringen kann.

Was so als Geisteswissenschaft dargestellt wird, steht nur scheinbar im Widerspruch mit der Naturwissenschaft. Das gei­stige Erforschen der menschlichen Lebenswerte wird in Zu­kunft so vorwärts schreiten, wie es die physischen Wissen­schaften auf ihrem Gebiete tun. Geisteswissenschaft erscheint

451

noch vielen als Phantasterei, weil man vor der strengen Denk­arbeit und seelischen Zucht zurückschreckt, die sie verlangt. So gern möchten viele auf bequemere Weise zur Geisteswis­senschaft kommen, als es sein kann. Man möchte eben den schwierigen Schritt nicht vollziehen, der da besteht in einer Fortentwickelung des Bewußtseins. Die Fortschritte der Chemie kann man sich zunutze machen, ohne selbst ein Chemiker zu sein; so kann man sich auch die Ergebnisse der Geistesfor­schung aneignen. Und wenn man auch selber nicht zum gei­stigen Forschen gelangen kann, sollte man wenigstens danach streben, die Vorurteile wegzuräumen. Aber auf bequemerem Wege als durch Wegräumen der Vorurteile möchten viele zur Geisteswissenschaft kommen und sie vor allem zum Nutzen im Leben verwenden. Verkennung über Verkennung der Geistes­wissenschaft ist die Folge einer solchen Einstellung.

Die Naturwissenschaft wird sich immer mehr als das heraus­stellen, was nicht die Antworten geben kann, sondern die Fra­gen in neuer Weise aufstellt. Die Antworten kommen dann von der Geisteswissenschaft, - die Antwort, nach der Faust lechzt:

Geheimnisvoll am lichten Tag

Läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben,

Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,

Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.

Nicht mit Hebeln und mit Schrauben dringt man in ihr Inne­res. Man muß sie mit Seelenlicht und Seelenkraft beleuchten.

452

SELBSTERKENNTNIS UND WELTERKENNTNIS Berlin, 23. April 1915

Das erste, was die Seele braucht, um ihr eigenes Wesen wissenschaftlich, nicht nur auf dem Glaubenswege kennenzu­lernen, ist scharfe Gedankenkonzentration, die nicht bloß an das gewöhnliche Denken appelliert, sondern an die Aufwendung innerer Willenskraft im Vorstellen und Denken. Die Gedanken, die aus der äußeren Sinneswelt in uns eindringen, können uns dazu nicht helfen. Wenn wir die Unsterblichkeit der Seele suchen, müssen es andere Gedanken sein. Diese sind äußerlich recht ähnlich solchen Gedankengebilden, solchen inneren Erlebnissen, welche dem Schicksal des Vergessenwer­dens unterliegen. Wir können es am Erlebnis des Traumes sehen. Warum? Weil der Traum in viel weniger intensiver Weise die Leiblichkeit ergreift und so weniger die Möglich­keit schafft, das Geträumte als Realität zu erfühlen und zu erleben. Ebenso ist es mit unseren freien Gedanken, die wir durch die Seele ziehen lassen; wir nennen sie Träumereien und vergessen sie rasch. Doch je mehr man sich schult, die Kraft zu entfalten, freigebildete Gedanken zu erhalten, wie sonst auf die Erinnerung gestützte Erlebnisse, desto mehr nähen man sich der Gedankenkonzentration. Am wenigsten sind dazu geeignet Gedanken als Abbilder der äußeren Wirklichkeit. In dem Buche: «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Wel­ten?» habe ich solche Gedanken niedergelegt, die zur Gedan­kenkonzentration taugen.

453

Wenn man solche frei erzeugte Gedankenbilder festhalten will, muß man stärkeren Willen entfalten als im gewöhnlichen Leben. Das im Alltag Erlebte ist so grob, daß es nicht als Ver­gleich dienen kann. Was die Geisteswissenschaft als unsterb­lich aufweist, ist in seinem Sinn grundverschieden von dem, was wir im Alltag fühlen und wollen. Achtlos geht der Mensch daran vorüber, um so achtloser, weil er geneigt ist, Realität gerade dem nicht zuzuschreiben, was ihm so entgegentritt wie das Wesen in seinem eigenen Innern, das den Weg findet durch Geburt und Tod.

Es ist leicht, einzusehen, daß dieses innere Wesen existien, aber nicht leicht ist es, ihm gerade die intensivste Realität zu­zuschreiben. Man muß immer wieder von anderen Gesichts­punkten aus über die Unsterblichkeit sprechen, denn erst wenn man sie von den verschiedensten Gesichtspunkten aus charak­terisiert hat, ist es möglich, eine wahrhaftige Vorstellung da­von zu gewinnen. Die Realität der Unsterblichkeit muß erfaßt werden durch Seelenkräfte, die aus dem Innern hervorgeholt sind. Nun könnten Sie sagen, ich behaupte, daß nur subjektiv etwas erreicht werden könne! - Der Anfang der Geistesfor­schung ist in der Tat subjektiv: ein inneres Überwinden, ein Sich-Emporarbeiten aus der Finsternis ans Licht. Das ist gewiß subjektiv, weil die meisten Menschen nicht Geduld haben, hinreichend weit mit der Geistesforschung mitzugehen und sich herauszuentwickeln aus dem persönlichsten Persönlichen. Gerade durch die innere Überwindung wird die Seele dazu getrieben, sich da herauszuarbeiten; dann kann sie eintreten in eine Welt, die ihr dann aufgeht. Der Gang aber aus dem Sub­jektiven ins Objektive des geistigen Forschens ist ein intimer, der notwendig macht, daß der Mensch in seinem Innern sich Seelengewohnheiten aneignet, die sonst im alltäglichen Leben nicht vorkommen. Zum alltäglichen Leben müssen wir wenig Willen entfalten, um uns in ihm festzuhalten, aber zu dem

454

anderen gehört eine starke Anspannung der inneren Kräfte der Seele. Man muß sie heraufholen aus dem tieferen Seelen­leben. Das sind starke innere Energien, die sonst unausgebildet bleiben im alltäglichen Leben. Menschen, welche die Stutze des sinnenfällig Erlebten brauchen, erlahmen allzubald und verfal­len in einen Zustand, der dem des Einschlafens nicht unähn­lich ist. Wenn der Mensch längere Zeit das mit dem Willen vermählte Denken entfaltet hat, wenn er das innere Vorstel­lungsleben so erkraftet hat, daß er darin ganz aufgeht, wenn das übrige Seelenleben wie versinkt, die Welt nach allen Seiten abflutet, die Seele ganz eins wird mit dem, was sie selber durch Übung in gesunder Weise erlangt hat: dann merkt der Mensch erst, was die Kraft des Gedankens ist, und wie dieser, wenn er frei walten soil im inneren Leben, durch starken Willen ge­srützt sein muß. Dann, wenn er die Übungen Monate, Jahre gemacht hat, macht er bestimmte Erfahrungen. Es gelingt ihm zunächst, immer heller und klarer, intensiver sich zu konzen­trieren; er merkt: das Gedankenerlebnis wird immer stärker, er fühlt sein ganzes Bewußtseinsleben im Zusammenfließen mit dem Gedanken erhöht.

Dann kommt ein kritischer Moment, wenn er an dem Er­leben der vollen Stärke des Gedankens angekommen ist. Der Gedanke zersplittert sich und löst sich auf in der Seele, er ver­dunkelt sich, verfinstert sich und hört auf, für uns gegenwärtig zu sein. Wir fühlen, wie unser ganzes Wesen mit dem Gedan­ken mitgeht. Das ist nicht einfach. Dieses Erlebnis rüttelt alle menschlichen Seelenkräfte durcheinander, es stellt alles in Frage, was man bis jetzt als wertvoll gefühlt hat. Man sträubt sich, an dieses Erlebnis heranzukommen. Der menschliche Egoismus läßt die mit den Tiefen der Seele verbundenen Kräfte nicht herein ins Bewußtsein. Wenn wir nicht alle Wil­lensenergien anspannen, so kommen wir nicht dazu. Im Unter-bewußten haben wir Furcht, daß uns etwas viel Schlimmeres

455

passieren könnte als der physische Tod. Der Materialist sagt:

gegenüber dem physischen Tod werde das Erlebnis doch nicht so schlimm sein! Aber es tritt nicht so in das gewöhnliche Bewußtsein herein; es ergreift als Impuls ein gegenüber dem gewöhnlichen Seelenleben erhöhtes Bewußtsein. Es ist nicht Furcht vor der Zerstörung des Leibes, sondern vor dem Er­gießen des eigenen Wesens in den Kosmos. Es sind unaus­sprechbare - und doch Furchtgefühle zu nennende Empfin­dungen. Überwindet man sie, dann kommt eine Erfahrung, die man so schildern könnte: Dadurch, daß du diese Kräfte ent­wickelt hast, ziehst du etwas aus dem Leibe heraus. Das er­scheint besonders gefahrvoll. - Es ist ein Gefühl, als ob man etwas aus sich herauszöge, als ob es in uns stecken bliebe und doch herausgezogen werden müsse. Es ist ein deutliches Be­wußtsein davon, daß noch etwas anderes herausgezogen wer­den muß, daß es mit der Gedankenkonzentration allein nicht geht, daß diese nur einen Teil von uns herauszieht.

Wenn man sich klarmachen will, warum der Mensch zu diesen Schilderungen kommt, so muß man ausgehen von all-täglichen Erlebnissen. Der Mensch muß in ein neues Verhalten zu sich selber treten, eine viel genauere Selbsterkenntnis ent­wickeln. Nichts ist so fraglich im gewöhnlichen Leben als das Verhalten des Menschen zu sich selbst, die Meinung, die er über sich selbst hat. Wie mangelhaft die Selbsterkenntnis des Menschen ist, drückt sich in zahlreichen Beispielen aus, so in der Geschichte des Philosophen Mach: Als er in einen Omni­bus stieg und in einem Spiegel sein Gesicht erblickte, da fragte er sich, was das wohl für ein häßlicher Schulmeister sei, bis er darauf kam, daß er sich selbst sah.

Man lacht über solche Dinge leicht, aber sie sind tief bezeichnend für das fragwürdige Verhalten des Menschen zu sich selbst. Der Mensch muß suchen, in ein Verhältnis der Selbsterkenntnis zu sich selbst zu kommen. Er hat die Kräfte

456

aufgespeichert, die ihn abhalten, sich loszulösen von dem, was mit seiner Innerlichkeit durch das ganze Leben hindurch ver­bunden ist. Dieses aber muß hinzutreten zu der Gedanken­konzentration: daß wir zu dem, was unser Schicksal ausmacht, ein ganz anderes Verhältnis gewinnen. Im Alltag sehen wir das Schicksal an uns herankommen. Es trifft uns als sympa­thische und antipathische Zufälle; wir betrachten als etwas Äußeres das, was uns zufällt. Schon gewöhnliches Nachdenken kann uns belehren, daß sogenannte Zufälle nicht so äußerlich sind. Blicken wir hin in irgendeiner Zeit des Lebens auf das, was wir sind, so wird uns ein solches Betrachten sagen können, wenn wir uns vor wirklicher Menschenkenntnis nicht ver­schließen wollen: daß wir das oder jenes nicht können wür­den, wenn nicht vor achtzehn, zwanzig Jahren das oder jenes uns zugestoßen wäre.

Wir sehen, wie das ganze Bündel dessen, was wir an Talen­ten, Begabungen, Gewohnheiten des Seelenlebens haben, aus dem Schicksal heraus wächst. Man betrachte sich konkret als fünfzigjährigen Menschen, der man geworden ist, und versuche den ganzen Knäuel der Schicksalserlebnisse zu verfolgen. Wenn man Ernst damit macht, was ja nicht allzu häufig vorkommt, so muß man sich sagen: Das Schicksal ist nicht äußerlich; ich stecke darin, mein Ich steckt darin, ich gehe mit meinem Be­wußtsein einher und gieße mich aus in den Strom meines Schicksals. - Das muß Methode werden, das muß zu dem hinzukommen, was durch Gedankenkonzentration eingetreten ist. Wir sind mit den alltäglichen Gedanken in uns drinnen; durch die Gedankenkonzentration gehen wir aus uns heraus und glauben uns darin zu verlieren. Der umgekehrte Prozeß kommt, wenn wir uns mit dem Schicksal identifizieren: wir gehen in etwas hinein, was uns im äußeren Strom zufließt; wir wachsen zusammen mit etwas, von dem wir geglaubt haben, daß es ein Äußeres sei. Was ich glaubte als äußeres

457

Schicksal zu erleben, in dem steckte ich schon darin; ich habe es selbst herbeigeführt. Wenn solche Betrachtungen Gewohn­heit geworden sind, so kommen wir wieder aus uns heraus, ziehen unsere Seele nach; ein ganz verborgener innerer Mensch wird aus uns herausgezogen. In demjenigen, worinnen wir uns lebend wissen, schauen wir hin auf etwas wie sonst auf Tische und Stühle im äußeren Leben. So haben wir hierin zwei Mittel, wie wir sonst im physikalischen Kabinett oder in der Klinik experimentieren; aber es sind nicht äußere Experimente, son­dern Verrichtungen, die sich auf die inneren Seelenerlebnisse beziehen.

Die anthroposophische Geisteswissenschaft spricht nicht in allgemein abstrakter Weise davon, daß man sich vom Leibe trennen kann, sondern sie redet experimentell, wie man davon spricht, daß der Sauerstoff vom Wasserstoff zu trennen ist, indem man zeigt, daß der Sauerstoff im Wasser steckt. Im Laboratorium können wir mit einer gewissen inneren Gleich­gültigkeit den Dingen gegenüberstehen; aber so ist es nicht mit den Seelentragodien, mit den Überwindungen, mit dem innerlichen Enttäuschtwerden, wenn man bald auf festem Bo­den steht, bald den Boden verliert. Das ist oft schauerlich, oft beseligend. Dann, wenn die innere Seele vom Leib abgetrennt ist, weiß sie, daß das, was nun außen vor ihr steht, alle die Kräfte enthält, die mit der Geburt beginnen und mit dem Tode der Erde übergeben werden. Sie hat zugleich mit dem Schicksal des Menschen den ewigen Seelenkern erfaßt. Sie weiß, daß das, was sich jede Nacht vom physischen Leib trennt, dieser ewige Seelenkern ist, der sich nur nicht wahr-nimmt im gewöhnlichen Leben, weil er nicht die Kräfte dazu hat. Sie hat zugleich erfaßt, was durch Geburt und Tod geht, und hat es mit dem Schicksal vereint, mit dem, was in der geistigen Welt gegeben war und dann durch die Vererbungs­kräfte durch Vater und Mutter und durch die Bildekräfte in

458

den physischen Leib fließt, was in der geistigen Welt sich vor­bereitet hat zu neuem Leibesleben. Immer konkreter und lebendiger wird der unsterbliche Lebenskern, der sonst nicht wahrnehmbar ist. Im alltäglichen Leben arbeitet man das alles in den Lebenskern hinein, aber verdunkelt fortwährend die Bildekräfte, wenn sie Bildekräfte des Leibes bleiben und nicht zu Erkenntniskräften verwendet werden können. Der Leib ist nicht ihre Ursache, sondern ihre Wirkung, die heruntergestie­gen ist aus den geistigen Welten. Er trägt in sich den Charak­ter früherer Erdenleben. So ist es jetzt, weil man nicht zum ersten Mal im physischen Leibe lebt.

Die Geistesforschung verfolgt nicht durch abstrakte Theo­rien, sondern durch eine geistige Experimentalmethode den ewigen Wesenskern, der, von Erdenleben zu Erdenleben gehend, dem Schicksal unterliegt. Es wird lange dauern, ehe eine größere Zahl von Menschen teilnehmen wird an der Geisteswissenschaft, aber sie wird ein wirklich realer Bestand­teil der menschlichen Geisteskultur werden und wird eingrei­fen in das menschliche Leben und in das, was moralische Im­pulse sind, was Bewußtseinsleben in der eigenen Wesenheit ist. Da wird Geisteswissenschaft dann eingreifen, wenn die jetzt noch begreiflich erscheinenden Vorurteile überwunden sein werden. Sie werden so radikal überwunden werden, wie die einstigen Vorurteile gegen die Naturwissenschaft. Da glaubte man, es sei etwas Erträumtes, man nannte es gleich einen Irrtum - man nannte Kopernikus einen Narren, weil er sagte, daß die Erde um die Sonne laufe, während doch die gesunden Sinne einem sagten, daß die Erde stillstehe. So wol­len heute die gesunden fünf Sinne nicht glauben, daß man im Ergreifen des gesteigerten Denkens ein Stück des inneren Men­schen herausziehe, und das andere Stück nachziehe durch das Hineingehen in das Schicksal. Die Menschheit wird lernen müssen, nicht mehr dem Sinnenschein zu vertrauen. Es gibt

459

eine stärkere Kraft des Für-wahr-Haltens, als das Heranziehen dessen, daß man sich auf die gesunden fünf Sinne und den Verstand verlassen muß. Diese Kraft ist verbunden mit allen Impulsen menschlichen Weisheitsfortschrittes. Man muß das Vertrauen hierin entwickeln, indem man eine starke moralische Kraft in der Seele entfacht. Wenn der Mensch an die Erkennt­niskräfte in sich selbst appelliert, wird er sich mutig durch die Welt tragen, nicht bloß auf das vertrauend, was er durch die äußeren fünf Sinne erfahren kann. Damit steht man heute an dem Punkt der Menschheitsentwickelung, wo Wissenschaft das werden muß, was sie vorher nicht werden konnte. Was der Geistesforscher herausdestilliert, war immer im Menschen: er schafft es nicht, er ruft es nur in die Geist-Erkenntnis hinein.

Ein naheliegender Einwand, der aus Seelenbequenalichkeit kommt, ist: Warum kümmern wir uns überhaupt um den ewigen Seelenkern? Er ist doch ewig, wir werden schon ein­mal darin leben. - Das ist zu billig gedacht. Zweierlei muß man dagegen sagen. Erstens ist es dem sittlichen Gefühl des Menschen nicht nur darum zu tun, daß er dies oder jenes weiß, sondern darum, daß der Entwickelungsprozeß auf der Erde fort-schreite von der Naturwissenschaft zu den geistigen Wahr­heiten, die erst unbekannt waren und jetzt hervorgeholt wer­den. Darauf beruht aller Menschheitsfortschritt. Wer nicht daran teilnehmen will, der soll sich gestehen, daß ihm dies gleichgültig ist. Dieser Punkt ist wichtig, aber mehr abstrakt. Zweitens aber findet ein recht konkreter Fortschritt statt. Die Menschen waren in alten Zeiten auf der Erde im wesentlichen nicht gleich wie heute, - die Seelen waren verschieden von den heutigen. Wir finden da ein aus Urzeiten, aus alten Epo­chen herstammendes heilseherisches Bewußtsein im Zusarn­menhang mit den göttlich-geistigen Kräften der Welt. Heute hat der Mensch dies verloren; aber er holt sich aus dieser irdi­schen Welt, mit der er sich verbunden hat, die Selbständigkeit

460

heraus. Nun, da man die Stufe der Loslösung vom irdischen Denken errungen hat, muß man wieder vom geistigen Leben erfaßt werden, muß wieder hinein durch die Geisteswissen­schaft. Heute können wir allerdings sagen: wir haben noch so­viel ererbte Kräfte, daß das Seelenleben nach dem Tode nicht abgedämmt werden kann. Aber der Mensch muß sich so ent­wickeln, daß er nicht in Dumpfheit, sondern in heller Erfah­rung durchmacht das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Frei wurde der Mensch durch das Abreißen des Fadens, der ihn mit der geistigen Welt verbindet. Nun muß er ihn wieder anknüpfen. Von der Jetztzeit ab ist immer mehr die Notwendigkeit da zum Erkennen des geistigen Lebens. Daher tritt dort, wo das geistige Leben in der neueren Zeit intensiver wurde, das wiederholte Erdenleben als Lehre auf. Zum Beispiel bei Lessing im achtzehnten Jahrhundert, in der «Erziehung des Menschengeschlechts>, das er wie ein Testament der Menschheit hinterlassen hat, da tritt der Grundgedanke der wiederholten Erdenleben und eines dazwischen liegenden rein geistigen Lebens auf. Es gibt Leute, die sagen, Lessing sei alt und schwach geworden und habe darum diese vertrackte Idee gehabt.

Was durch einen Geist wie Lessing da angeknüpft wurde, bildet eine Art Anlage, die fortentwickelt werden muß in der deutschen Volksseele, um einzulaufen in den Strom geistes-wissenschaftlicher Forschung, um, wie heute angedeutet wurde, wirkliche Wissenschaft zu werden. Das liegt als Anlage tief in dem, was Fichte als den Urquell deutscher Eigenart empfand. Es ist ein wunderschöner Gedanke Fichtes, dem Sinne nach:

Nicht erst, wenn wir durch den Tod gegangen sind, werden wir unsterblich; schon im Leibe können wir gewahr werden, was unsterblich ist und den Leib bildet. Allein im Erfassen dieses eigentlich Unsterblichen erkenne ich den Sinn des Le­bens, um dessentwillen alles in diesem sterblichen Leibe sich

461

darleben mag. Hier ist als Anlage das vorhanden, was die Geistesforschung wissenschaftlich ausführen soll. Fichte spricht es aus: Wenn nur die rechten Kräfte losgelöst werden, so kann das Unsterbliche erfaßt werden. Veranlagt ist die Geistes­wissenschaft insbesondere bei den Persönlichkeiten des geisti­gen Strebens, die ich gestern charakterisierte.

Ahnungen davon treten uns an den verschiedensten Orten entgegen, aber hier ist es eine gerade Linie vom deutschen Geistesstreben zu dem, was sich zur Geisteswissenschaft ent­wickeln muß. Im Strom des mitteleuropäischen geistigen Le­bens ist die Bewußtheit in der Erfassung des geistigen Kernes nie ganz verlorengegangen. Nur auf ein Beispiel will ich jetzt aufmerksam machen, das in nur zarter Weise gegeben werden wollte von einem solchen Bewußtsein. Einer der Geister der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, der ganz auf dem Boden der Weltanschauung Schillers und Goethes ste­hende Kunstfreund Herman Grimm, hat es in seiner Novelle

«Die Sängerin> zum Ausdruck gebracht. In den sechziger Jah­ren war noch nicht die Zeit gekommen für die Geisteswissen­schaft, aber die Menschen, die in jener Zeit darinnen standen, hatten das Bedürfnis, nicht nur die Sinneswelt zu schildern, sondern auch den andern Teil der Welt. Sie wußten, daß wenn man die wahre Wirklichkeit schildern will, es nicht genug ist, die sinnliche Welt zu schildern. Als Beispiel diene das Huf­eisen, das, wenn es zum Magneten geworden ist, doch noch aussieht wie ein gewöhnliches Hufeisen. Der geistigen Welt gehört der Mensch mit seinem geistigen Teil an, wie er der Sinnenwelt mit seinem physischen Teil angehört. Aus der Ver­tiefung des deutschen Idealismus heraus wußten jene Men­schen eine echte geistgemäße Weltanschauung heraus zu ent­wickeln. Das taren sie durch objektive unbefangene Betrach­tung des deutschen Geisteslebens, das eine Mission hat, die erfüllt werden sollte innerlich aus ideeller Anerkennung des

462

geistigen Lebens heraus: wie Fichte, Schelling, Hegel zum Geiste vorzudringen, dazu aber die Welt noch mit wirklichen Geistesaugen, Geistesohren wahrzunehmen. von denen Goethe gesprochen hat.

Wo sich der Blick auf die deutsche Geistesforschung, ins­besondere auf Goethe lenkt, da hängt eine Art Hoffnung der Menschheit gerade mit der Entwickelung dieses Geisteslebens zusammen. Wenn man das liest, was sich zwischen den Zeilen des deutschen Geisteslebens abspielt, so kann man oft prägnant zum Ausdruck gebracht finden, wie gerade aus der Entwicke­lung des deutschen Wesens heraus die Welt zur Erfassung des Geisteslebens kommen kann. Man braucht nicht von Hochmut ergriffen zu sein, aber man kann fühlen, wie das, was die Goethe-Schillerzeit hereinstellte, heute in Mitteleuropa zu ver­teidigen ist, damit es sich entwickeln kann.

Aus dem schicksaltragenden Zeitgefühl heraus will ich zwei Bilder hinstellen: Wir haben in den ersten Augusttagen 1914 erfahren, wie erlebt wurde in den verschiedenen Ländern Europas die eben erhaltene Kunde von dem kommenden Ge­schehen. Zunächst in Deutschland. Man steht vor dem großen Ereignis, - der Reichstag tritt zusammen - ich will nicht ein­gehen auf die Tagespolitik, nicht auf das, was da mit den kriegerischen Ereignissen zusammenhängt -, da stehen die Ver­treter der einzelnen Parteirichtungen - und schweigen. Das ist ein gewaltiger Eindruck, wie wenn es der Herold wäre von dem, was kommen sollte, vor einer großen kommenden Wahrheit.

Mit einer Art inneren Weinens sieht man auf das andere Bild, auf die Versammlung des Gossudarstwennaja Duma. Da war kein Schweigen: sie redeten alle, - so daß der Eindruck entsteht, als wäre sie formal zusammengestellt, wie eine histo­rische Theatervorstellung. Es ist der Taumelrausch unwahrer Begeisterung, was da von vielen geredet wurde, wie ein Ge­gensatz zu dem Schweigen weiter westlich. Wenn man die

463

Geschichte erforschen will, das, was durch die Menschheit hindurchraunt, so wird man auf solche Stimmungen hinzu-schauen haben. In diesem Schweigen liegt die Zuversicht, daß sich Vertrauen haben läßt zur geistigen Kraft, zur geistigen Wahrheit, daß sie gut aufgehoben, daß sie verteidigt werden muß, - ein Vertrauen, das seelisch hinwegträgt über Tod und Schicksal.

Emerson will Goethe beschreiben und weist darauf hin, was die Goethe-Kultur für die Menschheit bedeutet. Auf ihn hinweisend sagt er: Das darf nicht sein, daß eine Lüge für uns bestehen bleibt.> Emerson meint jene Lüge, daß kein Geist hinter der Außen­welt stehe.

Aus der Dämmerung der Zeitereignisse muß sich ein heller Sonnenhorizont entwickeln, der einen endiichen Frieden zum Heil der Menschheit kündet. Alles, was an Leib und Seele zu erdulden haben diejenigen, die das Todesopfer bringen, muß eine Lebensmahnnng werden für jene, die zurückbleiben. Die unverbrauchten Kräfte derer, die jung vor Ablauf ihrer Zeit ihr Leben verlassen müssen, werden mithelfen: das Gesetz von der Erhaltung der Kräfte gilt auch in der geistigen Welt. Wissen wird man in der Zukunft: diese Welt hängt zusam­men mit der geistigen Welt. Reale Kräfte werden diese un­verbrauchten Kräfte sein für die Menschen, die ein Bewußt­sein haben werden von der geistigen Welt.

Die Geisterwelt, sie bleibet dir verschlossen,

Erkennst du in dir selber nicht

Den Geist, der in der Seele leuchtet

Und tragend Licht dir werden kann

In Weltentiefen, auf Weltenhöhen.

464

HINWEISE

Der vorliegende Band enthält die elfte der öffentlichen Vortragsreihen, die Rudolf Steiner seit 1903 in Berlin hielt. In seinem Buch «Mein Lebensgang» weist Rudolf Steiner auf diesen Teil seiner Vortragstätigkeit wie folgt hin:

«So war es nicht etwa die in der Theosophischen Gesellschaft vereinigte Mitgliedschaft, auf die Marie von Sivers [Marie Steiner] und ich zählten, sondern diejenigen Menschen überhaupt, die sich mit Herz und Sinn einfanden, wenn ernst zu nehmende Geist-Erkenntnis gepflegt wurde. Das Wirken innerhalb der damals bestehenden Zweige der Theosophischen Gesellschaft, das notwendig als Ausgangspunkt war, bildete daher nur einen Teil unserer Tätigkeit. Die Hauptsache war die Einrichtung von öffentlichen Vorträgen, in denen ich zu einem Publikum sprach, das außerhalb der Theosophischen Gesellschaft stand und das zu meinen Vorträgen nur wegen deren Inhalt kam.»

Die ersten sechs der vorliegenden Vorträge wurden erstmals in der von Marie Steiner herausgegebenen Schriftenreihe «Aus schicksaltragender Zeit» (Dornach 1930) veröffentlicht. Die folgenden Vorträge mit Ausnahme des bisher unveröffentlichten neunten wurden erstmals in der Monatsschrift «Anthroposophie» (16. Jahrgang 1933/34, Nr. 3 und 4, 14. Jahrgang 1931/32, Nr. 3, und 15- Jahrgang 1932/33, Nr. 4) gedruckt. Die Vorträge vom 5. März 1915 «Was ist am Menschenwesen unsterblich?» und vom 15. März 1915 «Der Schauplatz der Gedanken als Ergebnis des deutschen Idealismus» sind in keiner Nachschrift erhalten; an ihrer Stelle wurden die unter den gleichen Titeln in Nürnberg am 12. März 1915 und in München am 28. November 1915 gehaltenen Vorträge aufgenommen. Die Vorträge vom 16. April 1915 «Schlaf und Tod vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft» und vom 23. April 1915 «Selbsterkenntnis und Welterkenntnis vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft» liegen nur in lückenhaften Nachschriften vor, die kaum mehr als eine ausführliche Inhaltsangabe darstellen; sie wurden im Anhang übernommen.

Bei der textlichen Fassung der in der Zeitschrift «Anthroposophie» erschienenen Vorträge und den entsprechenden Hinweisen wurde auf die Arbeiten von C. S. Picht (1887-1954) zurückgegriffen.

465

Zu Seite

7 Zur Einführung: Aus einer Vorrede von Marie Steiner zu sechs

Architektenhausvorträgen 1911/12, die 1940 unter dem Titel

Weises Buchhandlung (Karl Eymann), (3. Auflage Freiburg

1954), erschienen sind.

15 In den siebziger, achtziger Jahren des verflossenen Jahrhun­derts: Siehe Rudolf Steiner,

17 Karl Julius Schroer (1825 1890) Germanist Goethe Kom mentator, seit 1867 Professor an der Technischen Hochschule in Wien, Lehrer und vaterlicher Freund Rudolf Steiners Siehe (1916 4 Auflage Dornach 1957) siehe ferner (s. o.) Band III.

18 Robert Hamerling (1830-1889), Dichter und Philosoph. In seiner Lyrik, Epik und Drarnatik herrscht die ernste Stimmung, die sich vielfach zum Erhabenen steigert. Anläßlich des fünf­zigsten Jahrestages seines Todes veröffentlichte Marie Steiner eine Sammlung von Äußerungen Rudolf Steiners unter dem Titel (s.o). Kapitel XIII.

19 In meinem letzten Buche: Rudolf Steiner, ... von denen Schiller sagt: Zitat aus »Das Ideal und das Le­ben> (Gedichte der dritten Periode).

21 So konnte Goethe jene Gestalt schaffen: Zitate aus Faust 1 Studierzim'ner; Wald und Höhle; Faust II. S. Akt Himmelfahrt; Großer Vorhof des Palasts.

24 ... das alte griechische Märchen: Vielleicht liegt ein Fehler in der Nachschrift vor; möglicherweise heißt es richtig »das alte

466

germanische Märchen». In der germanisch-nordischen Mytho­logie werden wilde Kimpfe der Einherier (gefallenen Helden) geschildert.

... als ich sechseinhalb Jahre mitarbeiten durfte an der großen Weimarer Ausgabe: 1890-1897 war Rudolf Steiner als Mit-arbeiter an der Sophien-Ausgahe am Goethe-Schiller-Archiv in Weimar tätig. Siehe «Mein Lebensgang» (s. o.) Kapitel IX bis XXII; «Briefe« Band J (s. o.) und Band II (Dornach 1953); «Veröffendichungen aus dem literarischen Frühwerk« (s. o.) Heft 15.

25 Herman Grimm (1828-1901), Kunst- und Literaturhistoriker,

seit 1873 Professor in Berlin. Die hier zitierten Goethe-Vor­

lesungen erschienen 1877 als zweibändige Buchausgabe unter

dem Titel «Goethe« und fanden ebenso wie seine Biographien

« Das Leben Michelangelos « und «Das Leben Raffaels« weite

Verbreitung. Seine Beziehung zum deutschen Geistesleben wird

im 7. und 13. Vortrag dieses Bandes nochmals eingehend be­

handelt. Siehe ferner «Veröffentlichungen aus dem literarischen

Frühwerk» (s. o.) Band III S. 81ff.; «Mein Lebensgang« (s. o.);

«Briefe» Band I (s. o.); «Vom Menschenrätsel« (s. o.) Kapi­

tel V; «Goethe-Studien und goetheanistische Denkmethoden«

(Dornach 1932) S. 85-103; »Die Weltanschauung eines Kul­

turfotschers der Gegenwart«, Vortrag gehalten am 16. Januar

1913 in Berlin (Basel 1941).

27 . .. es sind bedeutungsvolle Worte: Herman Grimm, «Homers Ilias« II. Band (Berlin 1895) Einleitung.

29 Johann Christian Friedrich August Heinroth (1773-1843), Arzt in Leipzig, 1819 ebendort Professor der psychischen fhe­rapie. «Lehrbuch der Anthropologie« (1822). Der Ausdruck vom «gegenständlichen Denken« regte Goethe zu seinem Aufsatz «Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort« an; siehe Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, her-ausgegeben von Rudolf Steiner in Kürschners Deutscher Natio­nal-Literatur II. Band (1877) S. 31-35. Vgl. Rudolf Steiner, «Praktische Ausbildung des Denkens« (1929, Neuauflage Freiburg 1953).

31 Charles Harold Herlord (1853-1931), englischer Literatur­

historiker. Die Zitate entstammen seinem Aufsatz »Die Ge­

schichte des Geistes und der Literatur» in J. H. Rose u. a.,

«Deutschland im neunzehnten Jahrhundert«, fünf Vorlesungen

467

mit einem Geleitwort von Viscount Haldane, herausgegeben von C. H. Herford (Berlin 1913) S. 144ff.

Richard Burdon Viscount Haldane (1856-1928), liberaler Poli­tiker, 1912 Lordkanzler. Er hatte in Göttingen studiert und war ein Pre'and des deutschen Geisteslebens. Die folgenden Zitate sind seinem Geleitwort in «Deutschland im neunzehnten Jalsr­hundert. (s. o.) S. 11 entnommen.

33 Wer hatte diesen Krieg verhindern können: Nach der Ermor­dung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdi­nand durch serbische Verschwörer mobilisierte Österreich-Ungarn einen Teil seiner Streitkräfte, insgesamt acht Armee-korps, um eine Strafexpedition gegen Serbien durchzuführen. Dies nahtu Rußland zum Vorwand für die Generalmobil­machung, was snfolge der europ Bünd sverflechtungen die Katastrophe auslöste. Siehe auch Helmuth von Moltke, «Erinnerungen und Dokumente« (Berlin 1922).

34 Berliner Kongreß: Unter Vorsitz Bismarcks ragten die Delegier­ten der europäischen Großmächte und der Türkei 1879 in Ber­lin, um den russisch-türkischen Frieden von San Stefano zu revi­dieren, der ein russisches Übergewicht auf dem Balkan geschaf­fen hatte. Für seinen Verzicht auf Bulgarien wurde Rußland durch einen Teil Bessarabiens entschädigt; dafür wurde Rutnä­nien die Dobrudscha zugesprochen, Serbien und Montenegro wurden für unabhängig erklärt, und Österreich erhielt das Man­dat zur Besetzung Bosniens und der Herzegowina.

Eduard Herhst (1820-1892), Jurist, Professor in Prag, zeit­weilig Justizminister, Führer der deutschen Liberalen im öster­reichischen Reichsrat.

Robert Arthur Talbot Gascoyne-Cecil Marqueß of Salisbury (1830-1903), mit Unterbrechungen 1878-1900 britischer Au­ßenminister, zuletzt Premierminister. Er betrieb dem euro­päischen Kontinent gegenüber eine zurückhaltende Politik, war der Vertrauensmann Disraelis und vertrat mit ihm gemeinsam England auf dem Berliner Kongreß.

35 Ein schönes Goetbetvort ist auch jenes: «Ich fürchte den Vorwurf nicht daß es ein Geist des Widerspruchs sein musse, er mich von Betrachtung und Schilderung des menschlichen Her-zens, des jüngsten, mannigfaltigsten, beweglichsten, veränder­lichsten, erschütterlichsten Teils der Schöpfung, zu der Beobach­sung

468

des ältesten, fesresten, tiefsten, unerschürterlichsten Sohnes der Natur geführt hat. Denn man wird mir gerne zugeben, daß alle natürlichen Dinge in einem genauen Zusammenhang ste­hen, daß der formende Geist sich nicht gerne von etwas Erreich­barem ausschließen läßt Ja, man gönne mir, der ich durch die Abwechslung der menschlichen Gesinnungen, durch die schnellen Bewegungen derselben in mir selbst und in manchen andern manches gelitten habe und leide, die erhabene Ruhe, die jene einsame, stumme Nähe der großen, leise sprechenden Na­tur gewährt, und wer davon eine Ahnung hat, folge mir.» Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, Über den Granit

(1784).

36 Die Neutralität Belgiens wurde von Dentscbland verletzt: Im Gegensatz zu dem älteren Moltke und dessen direktem Nach­folger Waldersee hielt Schlieffen, der 1891-1905 Chef des Ge­neralstabs war, im Fall eines Zweifrontenkriegs Frankreich für den gefährlicheren Gegner, der >möglichst bald> niedergerun­gen werden müsse. Schlieffens Angriffsplan gegen Frankreich sah ursprünglich nur den Durchmarsch durch belgisches und luxemburglsches Territorium vor; erst die letzte Fassung sesnes Aufmarschplans, die als der eigentliche > Schlieffeoplan> gilt, bezog auch südliche Gebietsteile Hollands ein: 1914 lagen die strategischen Voraussetzungen jedoch ganz anders als zur Zeit Schlieffens, vor allem weil sich der französische Aufmarschplan nicht auf die von Schlieffen erwartete Defensive beschränkte. Infolgedessen wäre ein Durchmarsch durch Holland nicht ein­mal militärisch zu rechtfertigen gewesen, ganz zu schweigen von den politischen Folgen. Gegenüber Belgien lagen die Dinge anders. Schon Schlieffen berief sich darauf, daß ein »blindes Vertrauen auf die Heiligkeit der Neutralität> im Falle Belgiens nicht am Platze sei, denn Frankreich würde sich an diese Neu­tralität bestimmt nicht halten. Inzwischen hatte Belgien bereits 1906, unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Schlieffen­plans, militärischen Rückhalt bei England gesucht, und zwischen den Generalstäben beider Staaten waren die Conventions anglo­belges geschlossen worden. Eine objektive Darstellung gibt Gerhard Ritter, »Der Schlieffenplan. Kritik eines Mythos.

37 Die Weltgeschichte ist das Weltgericht: aus »Resignation» (Ge­dichte der dritten Periode).

38 . . . wie nahe Bismarck Goethe stand: Herman Grimm, »Frag­mente» (Berlin 1900) S. 608 ff.

469

Es war im Jahre 1866: Nach dem entscheidenden Sieg von Königgrätz bestand Bismarck darauf, daß die preußischen Trup­pen vor den Toren Wiens Halt machten. Im Prager Frieden wurde die Integrität Österreichs aufrechterhalten, eine Mäßi­gung, die der drohenden französischen Intervention zuvorkam und eine baldige Wiederannäherung der ehemaligen Kriegfüh­renden ermöglichte. Vgl. Bismardks Erläuterung zur Indemni­tätavorlage im Preußischen Landtag vom 1. September 1866.

40 Alexander Iwanowitsch Herzen (1812-1870), russischer Publi­zist. Nach mehrjähriger Verbannung und vorübergehender Beamtentätigkeit lebte er seit 1847 in Paris, später in London, Genf und Brüssel. Er sah in der russischen Gemeindeverfassung das ideale Vorbild für eine künftige Sozialordnung.

42 Dimitri Sergejewitsch Mereschkowski (1865-1941) vertrat in seiner Religionsphilosophie eine Synthese von Christentum und Antike. Margarita Woloschin erwähnt in ihren Lebenserinne­rungen »Die grüne Schlange» (Stuttgart 1954) S. 165 f. das aggressive Benehmen Mereschkowskis gegen Rudolf Steiner ge­legentlich einer persönlichen Begegnung in Paris.

45 Maxim Gorki (1868-1936) wurde durch seine Szenenfolge »Das Nachtasyl» berühmt. Nach der Revolution von 1917 schloss er sich den Bolschewisten an.

46 Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher (1768-1834) führte Denkformen und Inhalte der idealistischen Philosophie in die protestantische Theologie ein. Über Schleiermachers geistes-geschichtliches Verhältnis zu Goethe siehe (s. o.): Klassiker der Welt- und Lebensanschau­ung.

49 Heinrich Voß (1779-1822) unrerrichtete die Kinder Schillers und stand dem Dichter in dessen letzten Srunden bei. Er berich­tet darüber in »Mitteilungen über Goethe und Schiller in Brie­fen von Heinrich Voß», 3 Bände (Heidelberg 1833-1838), neu herausgegeben von Hans Gerhard Gräf (Leipzig 1896). Vgl. Herman Grimm,

50 . . . in den letzten Augenblicken seines Lebens: Immanuel Her­mann Fichte,

51 Drei Fragen stellte Fichte: Johann Gottlieb Fichte, >Reden an die deutsche Nation>, Zwölfte Rede.

470

53 . . . nach Lessings großer Idee: Lessing befasste sich in seinen letzten Lebensjahren mit der Idee der Wiederverkörperung und gab ihr in der Schrift »Die Erziehung des Menschengeschlechts» die klassische Formulierung, auf die Rudolf Steiner oft hin­weist, so auch im 5., 9. und 14. Vortrag dieses Bandes. Siehe hierzu »Ewige Individualität. Unsterblichkeit, Ungehorenheit, Fortdauer, Wiederkunft. In Zeugnissen von Dichtern, Deutern und Denkern.» Gesammelt und herausgegeben von C. Englert­Faye (Basel 1934); Emil Bock, »Wiederholte Erdenleben» (2. Auflage Stuttgart 1952).

54 . . . wenn er die Warte ausspricht: »Reden an die deutsche Na­tion», Siebente Rede.

55 Indem er das Volk anregen will: s. o. Erste Rede.

56 . . . in se'nen Briefen über die a..sthetische Erziehung: Schillers «Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen» waren ursprünglich an den Erbprinzen von Holstein-Aug,,stenburg gerichtet und wurden zuerst 1795 in den »Horen» gedruckt. Vgl. «Goethe-Studien und goetheanistische Denkmethoden» (s. o.) S. 3ff. und 73 f.

58 . . . dieses wunderbare, beherzigenswerte Wort: s. o. Siebente Rede.

59 Dem, der den Geist ausbildet: aus dem Gedichtfragment «Deutsche Größe» (wahrscheinlich 1801).

60 Ralph Waldo Emerson (1803-1882), amerikanischer Philosoph und Dichter. Auf einer Europareise lernte er 1833 in England Carlyle kennen, mit dem er fortan freundschaftlich verbunden blieb. Bei einem zweiten Besuch in England hielt er 1847/48 seine Vorlesungen über «Repräsentanten der Menschheit», die er 1850 als Essays veröffentlichte. Sie erschienen 1857 deutsch in der Übersetzung von Herman Grimm. Das folgende Zitat entstammt dem Essay «Goethe oder der Schriftsteller».

63 . . . die Ausführungen Miß Wylies: 1. A. R. Wylie, »Mein deutsches Jahr» (Braunschweig 1911); das Zitat ist einem Auf­satz von Josef Hofmiller «Engländer über uns« in »Süddeutsche Monatshefte», München, September 1914, S. 848, 852 ent­nommen.

65 So sprach man davon in Manchester: J. H. Rose, »Die poli­tische Geschichte» in «Deutschland im neunzehnten Jahrhun­dert» (s. o.) S. 68 f. und 70 f.

471

66 . . . mit den Worten Herman Grimms: »Homers Ilias» IL Band (s. o.) Einleitung.

68 Und jetzt will ich Ihnen seine Worte vorlesen: In seiner be-rühmten Rede vom 6. Februar 1888, der die folgenden Zitate entnommen sind, begründete Bisrnarck vor dem Reichstag die Regierungsvorlagen, in denen eine Anleihe und Maßnahmen zur Erweiterung der Wehrpflicht gefordert wurden.

72 MauriceMaeterlinck (1862-1949), französisch-belgischer Publi­zist. Siehe auch 7. und 10. Vortrag des vorliegenden Bandes. Die folgenden Zitate sind seinem Buch «Der Schatz der Armen» (deutsch 3. Auflage Jena 1906) entnommen. Vgl. Rudolf Stei­ner, «Kosmische und menschliche Geschichte» Band V »Das Karma des Berufs des Menschen in Anlehnung an Goethes Leben» (Dornach 1932) S. 211; »Veröffendichungen aus dem literarischen Frühwerk» (s. o.) Heft 24.

74 Euphorion sagt: Faust II. 3. Akt. Siehe Rudolf Steiner, «Geistes­wissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes Faust» (2. Auflage Freiburg 1954) Band I «Faust, der strebende Mensch»; Band II «Das Faustproblem. Die klassische und die romantische Wal­purgisnacht» .

75 Byron war ihm Vorbild: Besonders aufschlußreich Goethes Ge­spräch mit Eckermann vom S. Juli 1827. Byron, der am grie­chischen Freiheitskampf teilnahm, zog sich 1824 bei den Vor­bereitungen zu einem Angriff gegen Lephnto ein tödliches Fieber zu.

75 Friedrich von Schlegel (1772-1829), der doktrinäre Begründer der Romantischen Schule, hielt 1802 in Paris Vorlesungen über Philosophie.

. . . daß sich Schiller . . . nur so ausdrücken konnte: Zitat aus

dem Gedicht »Das Mädchen von Orleans» (Gedichte der

3. Periode).

77 »Der Antritt des neuen Jahrhunderts»: Gedichte der 3. Periode.

. . . von dem wiederum Emerson spricht: «Repräsentanten der Menschheit» (s. o.): Goethe oder der Schriftsteller.

81 . . . das in den Faustworten zum Ausdruck kommt: Faust II. S. Akt. Großer Vorhof des Palasts.

106 . . . wie sich dieses Erlebnis des Todes darstellt: Siehe Rudolf Steiner, «Theosophie. Einführung in übersinnliche Welt-erkenntnis und Menschenbestimmung« (1904, 28. Auflage

472

Stuttgart 1955); »Die Geheimwissenschaft im Umriß (1909, 26. Auflage Stuttgart 1955).

107 . . . das habe ich ausführlich dargestellt: Rudolf Steiner, »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» (1909, 19. Auflage Stuttgart 1955); »Die Rätsel der Philosophie».

108 . . . daß der Mensch nicht nur ein Erdenleben vollbringt: Siehe

Rudolf Steiner, «Reinkarnation und Karma. Vom Standpunkt

der modernen Naturwissenschaft notwendige Vorstellungen»

und »Wie Karma wirkt» (Beide 1903, Neuauflagen Freiburg

1954).

109 Appellation an das Publikum: «J. G. Fichtes Appellation an das Publikum über die ihm beigemessenen atheistischen Äuße­rungen» (1799) in Fichtes Werke (Felix Meiner) Band III. Siehe Rudolf Steiner, «Veröffentlichungen aus dem litera­rischen Frühwerk» (s. o.) Band III S. 155ff.

113 Robert Prutz (1816-1872), Dichter und Literarhistoriker. 1845

wegen Majestätsbeleidigung angeklagt, dann begnadigt, 1848

Mitglied des Constitutionellen Clubs in Berlin. Siehe «Ver­öffentlichungen aus dem literarischen Frühwerk» (s. o.)

Band III S. 75 und Heft 21 S. 6.

114 Volksseelen: Die Grundlage für eine anthroposophische Völker-psychologie schuf Rudolf Steiner in seinem vom 7. bis 17. Juni 1910 in Christiania (Oslo) gehaltenen Vortragszyklus »Die Mission einzelner Volkaseelen im Zusammenhang mit der ger­manisch-nordischen Mythologie» (3. Auflage Dornach 1950).

115 Wilhelm Wundt (1832-1920), Begründer der experimentellen Psychologie. In seiner »Völkerpsychologie» (10 Bände 1900 bis 1920), in der er die Entwickelungsgesetze von Sprache, Volkstum, Mythus und Sitte untersucht, kommt Wundt zu der hier angeführten Auffassung, daß die Volksseele mehr und etwas anderes sei als der Inbegriff einer bestimmten Anzahl von Individualseelen. Siehe auch «Veröffentlichungen aus dem literarischen Frühwerk» (s. o.) Band IV; »Die Rätsel der Philo­sophie» (s. o.) Moderne idealistische Weltanschauungen.

123 . . . wie das Licht sich durch das Prisma gleichsam in verschie­dene Farben gliedert: Siehe Rudolf Steiner, »Die Bhagavad Gita und die Paulusbriefe», Vortragszyklus gehalten in Köln 28. Dezember 1912 bis 1. Januar 1913 (Dornach 1932) 2.Vor-trag.

473

130 Raffae4 Michelangelo: Vgl. Rudolf Steiner, »Raffaels Mission im Lichte der Wissenschaft vom Geiste», Vortrag gehalten in Berlin 30. Januar 1913 (Basel 1941); «Michelangelo und seine Zeit vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft», Vortrag ge­halten in Berlin 8. Januar 1914 (Basel 1938); »Kunst-geschichte als Abbild innerer geistiger Impulse» Band II »Leonardo da Vinci, Michelangelo, Raffael« (Dornach 1954); Band VIII »Raffael, Dürer und andere deutsche Meister» (Dornach 1958); Band IX »Griechische und römische Plastik

- Renaissance-Plastik» (Basel 1939); Band X «Raffael» (zu­sammen mit Band XI und XII, Basel 1939).

133 Jean-Baptiste Moliére (1622-1673): Das bestimmende Element seiner Komödiendichtung ist Lebensklugheit, hinter der ein starkes Rechtsgefühl steht; daher die große Wirkung seines Tartuffe. Über Moliéres Bedeutung für das deutsche Theater siehe »Veröffentlichungen aus dem literarischen Frühwerk» (s. o.) Band II S. 55.

Voltaire (1694-1778): Siehe Rudolf Steiner, «Voltaire vom

Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft«, Vortrag gehalten in

Berlin 26.2.1914 (Basel 1940); »Die Rätsel der Philosophie«

(s. o.) Die Weltanschauungen des jüngsten Zeitalters der Ge­dankenentwicklung.

Das wirkt sogar noch auf Lessing zurück: Als Lessing 1767 die «Hamburgische Dramaturgie» beginnt, geht er noch von der Voraussetzung aus, daß die Bühnendichtung der französischen Klassik wirklich der Gattungslehre des Aristoteles entspreche. Aber bald entdeckt er, daß Corneille die aristotelischen Sätze von Mideid und Furcht mißverstanden hat, und er weist nach, daß Shakespeare das Gatrungsgesetz der Tragödie wahrer er­fülle als die französische Bühne. Gegen die »formalen Re­geln» stellt Lessing das «innere Gesetz», das er am vollkom­mensten in seinem Trauerspiel »Emilia Galotti» verwirklicht.

136 Meister Eckhart, Jakob Böhme: Siehe Rudolf Steiner, »Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung« (1901, 2. Auflage Stuttgart 1924); »Pfade der Seelenerlehnisse«, 8 Vorträge ge­halten in Berlin zwischen 14. Oktober 1909 und 10. März 1910 (3. Auflage Dornach 1957) 6. Vortrag; «Jakob Böbme», Vor­trag gehalten in Berlin 9-Januar 1913.

137 Shakespeares Hamlet und Goethes Faust: vgl. «Goethe-Studien und goetheanistische Denkmethoden» (s. o.) S. 67-70; «Veröffendichungen

474

aus dem literarischen Frühwerk» (s. o.) Band II, insbes. S.34 ff.

138 John Stuart Mill (1806-1873): Wörtlich heißt es in dem an-geführten Zusammenhang: «Mill fühit sich zunächst nicht als Glied, sondern als Zuschauer der Welt.» Im Vergleich zu HegeIs Logik der Dinge wird Milis Logik hier als «Zuschauer­logik. charakterisiert, »die zunächst den Faden zerschneidet, der sie mit der Welt verbindet».

139 Wie der Geist von Hamlets Vater erscheint: Hanalet 1. Akt,

1. und 4. Szene.

Im Gespräch mit der Mutter: Hanalet III. Akt, 4. Szene.

140 Sein oder Nichtsein: Hanalet III. Akt, i - Szene.

Herman Grimm sagt daher einmal: Herman Grimm, »Fünf-zehn Essays - Neue Folge» (Gütersloh 1875) S. 286 f.

141 . . . wo er dem Geist gegenübersteht: Faust 1. Wald und Höhle.

143 In der Verbindung des Faust mit Helena: Faust II. 3. Akt. Siehe

hierzu auch « Geisteswissenscl'uftliche Erläuterungen zu Goethes

Faust» Band II (s. o.); »Die Rätsel in Goethes Faust» (Dornach

1932).

144 Darwinismus: Siehe «Veröffentlichungen aus dezn literarischen Frühwerk» (s. o.) Band III und IV; »Die Rätsel der Philo­sophie» (s. o.) Darwinismus und Weltanschauung; »Darwin und die übersinnliche Forschung», Vortrag gehalten in Berlin 28.März 1912 (Basel 1948).

145 Es mag ia Einzelnen gelungen sein: Gemeint ist Ernst Haeckel.

VgL Rudolf Steiner, »Das intime Element der mitteleuro­

päischen Kultur und das mitteleuropäische Streben» (Dornach

1950), Vortrag gehalten in Leipzig 7. Mal 1915 S. 27 f.

149 Gottfried Wilhelm von Leibniz (1646-1716), der Begründer der nachscholastischen deutschen Philosophie. Siehe »Die Rät­sel der Philosophie» (s. o.): Die Weltanschauungen des jüng­sten Zeitalters der Gedankenentwicklung; ferner 13. Vortrag dieses Bandes. - Ein bedeutender Leibniz-Forscher war der Philosoph Kurt Huber, der als geistiger Führer des Münchener Studentenaufstandes 1943 unter dem Nationalsozialismus hin-gerichtet wurde; siehe «Zeitschrift für philosophische For­schung» Band I (1946) S. 6ff. und 143ff.

475

154 . . . daß am Ausgangspunkt einer jeden Volksentwicklung das

Seelenleben in ganz besonderen Formen verläuft: Vgl. Rudolf

Steiner, « Isis und Madonna. Alteuropäisches Hellsehen. Die

europäischen Mysterien und ihre Eingeweihten» . Drei Vor­

träge gehalten in Berlin 21. April, 1. Mai und 6. Mal 1909

(Dornach 1955).

156 Griechische Mythologie: Siehe Rudolf Steiner, »Esoterik und Weltgeschichte in der griechischen und germanischen Mytho­logie», vier Vorträge gehalten in Berlin Oktober1904 (Dornach 1955). - Ludwig Laistner, »Das Rätsel der Sphinx» (Berlin

1889).

158 Ganz anders ging die Entwicklung vor sich bei jenen Völkern:

Siehe Rudolf Steiner, »Geschichte des Mittelalters bis zu den großen Erfindungen und Entdeckungen», acht Vorträge gehal­ten in Berlin vom 18. Oktober bis 20. Dezember 1904 (Dornach 1936); »Das intime Element der mitteleuropäischen Kultur und das mitteleuropäische Streben» (s. o.)

165 Spricht ja der Dichter des Nibelungenliedes es selber aus:

. . . von weinen und von klagen,

von küener recken striten

muget ir nu wunder hoeren sagen.

167 Augustinus (354-430), Kirchenlehrer des christlichen Alter­tums. Siehe »Die Rätsel der Philosophie» (s. o.): Die Welt­anschauungen im Mittelalter.

Johannes Scotus Erigena (um 810-877), frühmittelalterlicher Denker. Er übersetzte die Schriften des Dionysius Areopagita ins Lateinische. Siehe »Die Rätsel der Philosophie» (s. o.): Das Gedankenleben vom Beginn der christlichen Zeitrechnung bis Johannes Scotus oder Erigena; »Okkulte Geschichte. Persön­lichkeiten und Ereignisse der Weltgeschichte im Lichte der Geisteswissenschaft», sechs Vorträge gehalten in Stuttgart vom 27. Dezember 1910 bis 1. Januar 1911 (3-Auflage Dornach

1956) 2. Vortrag.

168 Heliand: Altsächsische Evangelienharmonie, in Stabreimen ab­gefaßt, um 830 entstanden. Der Name »Heliand» geht auf den Sprachforscher Schmeller (1785-1852) zurück.

169 Angelus Silesius (Johannes Scheffler). Seine Spruchdichmng trägt seit der 2. Ausgabe (1675) den Titel »Cherubinischer Wandersmann» .

476

175 Johann Gottfried Herder (1744-1803). Seine «Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit» entstanden in den Jahren 1784-1791, in denen sich die lange getrübte Freund-schaft Herders mit Goethe erneuerte. Siehe auch 7. Vortrag dieses Bandes.

176 Wer immer strebend sich bemüht: Faust II, S. Akt Himmel­fahrt.

178 Georg Wilhelm Priedrich Hegel (1770-1831). In seinem philo­sophischen System findet die Bewegung des deutschen Idealis­mus ihren Höhepunkt und Abschluß. Siehe »Die Rätsel der Philosophie» (s. o.): Die Klassiker der Welt- und Lebens­anschauung; und «Das Ewige in der Hegelsehen Logik und ihr Gegenbild im Marxismus», Vortrag gehalten in Dornach 27. August 1920 (Dornach 1958). Vgl. 10., 11. und 13.Vor-trag dieses Bandes.

180 Adam Mickiewicz (1798-1855) lebte nach dem polnischen Aufstand 1830/31 als Emigtant vorwiegend in Paris.

181 Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799), Physiker, berühmt durch seine zeitkritischen Abhandlungen in dem von ihm her­ausgegebenen »Göttinger Taschenkalender» und seine «Briefe aus England» .

182 In seinen Goethe-Vorlesungen: Iletman Grimm, «Goethe» (s. o.) II. Band 23. Vorlesung.

183 Die Kant-Laplacesche Theorie: Materialistische Deutung der Weltentstehung durch die Nebularhypothese, die sich auf Kants »Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels» (1755) und Laplaces »Exposition du systeme du monde» (1796) stützt. Die Grundgedanken der Nebularhypothese wur­den in jüngster Zeit von C. F. von Weizsäcker wieder auf­gegriffen.

208 Novalis: Vgl. Rudolf Steiner, «Das Weihnachtsmysterium. Novalis, der Seher und Christusverkünder. Die geistlichen Lie­der von Novalis». Drei Vorträge gehalten in Berlin 22. Dezem­ber 1908 und 26. Dezember 1909 und in Köln 29. Dezember 1912 (2. Auflage Dornach 1954).

211 Im Jahre 378: In der Schlacht bei Adrianopel wurde der rö­

mische Kaiser Valens von den Westgoten geschlagen; der Kai­

ser selbst fiel.

477

216 In der Vorrede zu diesen Fragmenten: Herman Grimm, « Frag­

mente» (s. o.) Einleitende Bemerkungen.

219 Was die äußeren geschichtlichen Ereignisse sind: »In der Ge­

schichte unsres Geschlechts werden mir manche Schritte und

Erfolge ohne höhere Einwirkung unbegreiflich. Daß der Mensch

z. B. sich selbst auf den Weg der Kultur gebracht und ohne

höhere Anleitung sich Sprache und die erste Wissenschaft er­

funden, scheinet mir unerklärlich.. . Wie dem aber auch sei so

ist's gewiß ein wohltätiger Schleier, der diese und jene Welt

absondett.» Herder, «Ideen zur Philosophie der Geschichte der

Menschheit» Fünftes Buch VL

221 Der Mensch ist ein Mittelgeschöpf zwischen Tier und Engel »Wenn hohere Geschopfe also auf uns blscken so mogen s e uns wie dse Mittelgattungen betrachte m t denen dse Natur aus einem Element sn das andere ubergehet Unsre Bnider der höheren Stufe Isehen uns gewiß mehr und reiner, als wir sie suchen und lieben können, denn sie uberiehen unsern Zustand klarer, der Augenblick der Zeit ist ihnen vorüber alle Dis­harmonien sind aufgelöset, und sie erziehen an uns- vielleicht unsichtbar ihres Gluckes Teilnehmer ihres Geichafres Bruder Ich loson mir also nicht vorstellen, daß da wir eine Mittelgat niog von zwei Klassen und gewissermaßen die Teilnehmer bei der sind, der kunftige Zustand von dem >etzigen so fern und ihm so ganz unmittelbar sein sollte als das Tier im Menschen gern glauben mochte Ideen (s ö) Funftes Buch VI

222 Johann Joachim Winckelmanv (1717-1768), Begründer der klassischen Kunstgeschichte, Siehe Goethe, « Winckelmann und sein Jahrhundert» (1806>.

Goethe sagt über Winckelmann: »Winckelmann erhob sich über die Einzelheiten zu einer Idee der Geschichte der Kunst und entdeckte als ein neuer Kolumbus ein lange geahndetes gedeutetes und besprochenes, ja man kann sagen ein frühe; schön gekanntes und verlorenes Land.,. (Er entdecltte, daß nämlich Kunstwerke) . . . nicht allein von verschiedenen Künst­lern, sondern auch aus verschiedenen Zeiten herrühren und daß sämtliche Betrachtungen des Ortes, des Zeitalters, des indi­viduellen Verdienstes zugleich angestellt werden müssen »

»Winckelmann und sein Jahrhundert». .

223 . . . um die Worte Goethes zu gebrauchen' Goethe spricht in

mannigfachen Zusammenhängen von Geistesaugen und Geistes-ohren, zum Beispiel in «Dichtung und Wahrheit» Dritter Teil,

478

Elftes Buch: »Ich sah närulich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst, denselben Weg, zu Pferde entgegenkommen.» Ferner: Naturwissenschaftliche Schriften, Zur Zoologie: »Wir lernen mit Augen des Geistes sehen, ohne die wir, wie überall, so besonders auch in der Naturwissen­schaft, blind umhertasten.» - Faust II Erster Akt:

Tönend wird für Geistesohren

schon der neue Tag geboren.

223 Herders Ausspruch.' »Die Kette der Bildung allein macht aus diesen Trütnmern ein Ganzes, in welchem zwar Menschengestal­ren verschwinden, aber der Menschengeist unsterblich und fort­wirkend lebet ... Immer verjüngt in seinen Gestalten, blüht der Genius der Humanität auf und zieher palingenetisch in Völ­kern, Generationen und Geschlechtern weiter.» »Ideen» (s. o.) Neuntes Buch 1.

oft leben und wirken diese in der größten Stille: »Glücklich der Sterbliche, dessen . . . Strahlen eines stillen Beispiels auf die schönere Humanität seiner Mitbürger forrgewirkt haben. Nicht anders wirkt Gott auf der Erde als durch erwählte, größere Men­schen. Glorreiche Namen, die in der Geschichte der Kultur als Genien des Menschengeschlechts, als giänzende Sterne in der Nacht der Zeiten schimmern!» «Ideen» (s. o.) Neuntes Buch 1.

224 Paul de Lagarde (1827-1891), Orientalist und Kulturphilosoph, Professor in Halle, Berlin und Göttingen.

. . wie er zu dieser tragenden Kraft des deutschen Geistes steht:

Auch hier zitiert Rudolf Steiner frei aus dem Gedächtnis. Im Wortlaut heißt es: »Es ist manches Jahr her, seit ich mit meiner Klasse einen lieben Schüler zur Gruft geleitete und von des Knaben Vater, der die Dienstleistung eines Geistlichen abge­lehnt hatte, erst am Tore des Gottesackers gebeten wurde, am Grabe einige Worte des Trostes- zu sprechen. Ich habe da nichts Schlechtes gedacht und gesagt und doch die Scham über alles, was ich sagte, in meiner Seele brennen fühlen: wer war ich, vor einem tiefen Schmerze unter Gottes- Himmel, in den dämmern­den, nun frohen Frühling hinein, mir das Wort über ewige Dinge anzumaßen. So wie damals-, ja noch weit ernster und trau­riger ist mir jedes Mal zu Mute, wenn ich über vaterländische Angelegenheiten mich zu äußern unternehme. Damals fiel jeder Laut auf guten Boden: möchte es jetzt ebenso geschehen.» La­garde, «Deutsche Schriften» (Göttingen 1886) S. 87.

479

225 So sagt Lagarde: »Deutsche Schriften» (s. o.) S. 24.

226 Die Brüder Grimm: Jakob Grimm (1785-1863), der Begrün­der der germanischen Philologie, und sein Bruder, der Germa­nist Wilhelm Grimm (1786-1859), gaben die «Kinder- und Hausmärchen» auf Betreiben des Romantikers Achim von Arnim heraus. Vgl. Rudolf Steiner, »Märchendichtungen im Lichte der Geistesforschung», Vortrag gehalten in Berlin 6. Fe­bruar 1913 (Basel 1942).

227 Herman Grimm, «Novellen» (1862, 3. Auflage Berlin 1897). Vgl. Rudolf Steiner, «Das Problem des Todes im Zusammen-bang mit der künstlerischen Auffassung des Lebens-», drei Vor­träge gehalten in Dornach 5., 6. und 7. Februar 1915 (Dornach 1935) I. Vortrag.

228 Herman Grimm, «Unüberwindliche Mächte», Roman (3 Bände

1867). Vgl. »Das Problem des Todes-« (s. o.) 2. Vortrag.

230 In einem vertraulichen Gespräch.' am 11. Oktober 1828.

230 . . . dieses Wort Piehtes: »Wir werden zu seiner Zeit zeigen . . ., daß es lediglich der gemeinsame Grundzug der Deutschheit ist, wodurch wir den Untergang unserer Nation im Zusammen-fließen derselben mit dem Auslande abwehren und worin wir ein auf ihm selber ruhendes und aller Abhängigkeit durchaus unfähiges Selbst wiederum gewinnen können.» «Reden an die deutsche Nation» (s. o.), Erste Rede.

231 Robert Hamerling: Siehe 1. Vortrag dieses Bandes und Hinweis zu S. 18. «Aspasia. Ein Künstler- und Liebesroman aus Alt­Hellas» (3 Bände Hamburg 1876); »Der König von Sion. Epische Dichtung in zehn Gesängen» (Hamburg 1869); »Dan­ton und Robespierre», Tragödie in fünf Aufzügen (Hamburg 1871); «Homuneulus. Modernes Epos in zehn Gesängen» (Hamburg 1888). Siehe hierzu Rudolf Steiner, «Homunkulus», Vortrag gehalten in Berlin 26. März 1914 (Basel 1939).

232 ... charakteristische Erscheinungen innerhalb dieses Jungfran­zösentums: Andrä Gide, Romaln Rolland, Paul Claudel u. a. Siehe Otto Grautoff, »Das junge Frankreich» in »Die Tat«, Jena 1913/14 Heft 7.

Léon Bazalgette in seinem Aufsatz «Europa« in »Die Tat« (s. o.)

234 Römain Rölland (1866-1944). In seinem Hauprwerk, dem Ro­manzyklus «Jean Christophe« (10 Bände 1907-1912), dem die

480

folgenden Zitate entnommen sind, schildert er das Leben eines deutschen Musikers, wofür er authentische Musikerbiographien heranzieht.

234 Ein Kritiker hat sich nicht entbrecben können: Otto Grautoff in »Das junge Frankreich« (s. o.)

Bmile Verhaeren (1855-1916), Mitbegründer der literarischen Bewegtmg »La jeune Belgique».

235 . . . welches Ansehen die Kritiker haben: Stefan Zweig im «Ber­liner Tageblatt. vom 22. Dezember 1912, Waldemar Bons-els in »Die Tägliche Rundschau«, Berlin, vom 2. April 1914, Herbert Stegemann in «Deutsche Tageszeitung», Berlin, vom 15. Juli 1914 u. a.

238 Als Goethe deswegen getadelt wörden ist: Derartige Angriffe gingen vor allem von Friedrich Heinrich Jacobi aus. Die er­wähnte A'ußerung Schillers heißt im Wortlaut: »Sobald mir einer merken läßt, daß ihm in poetischen Darstellungen irgend et"»as näher anliegt als die innere Notwendigkeit und Wahr­heit, so gebe ich ihn auf. Könnte Jacobi Ihnen zeigen, daß die Unsittlichkeit Ihrer Gemälde nicht aus der Natur des Objektes fließt und daß die Art, wie Sie das-selbe behandeln, nur von Ihrem Subjekt sich herschreibt, so würden Sie allerdings dafür verantwortlich sein, aber nicht deswegen, weil Sie vor dem moralischen, sondern weil Sie vor dem ästhetischen Forum fehl­ten. Aber ich möchte sehen, wie er das zeigen wollte.« Schillers Brief an Goethe vom 1. März 1795.

246 Metöken (griechisch Mitbewohner): in der Polis ansässige Fremde, die keine politischen Rechte besaßen.

248 . . . ein paar Worte eines deutschen Kritikers.' Stefan Zweig, »Brief an Romain Rolland» im «Berliner Tageblatt» vom 22.Dezember 1912.

249 Die geisteswissenschaftliche Richtung, der wir angehören.' Siehe

«Mein Lebensgang» (s. o.) Kapitel XXXI-XXXVIII; «Briefe»

Band2 (s. o.).

Die Präsidentin: Annie Bes-ant (1847-1933).

Jetzt wenn ich rückwärts blicke: Annie Bes-ant, »On the Watch

Tower» in «The Theosophis-t«, London 1914 Vol. XXXVI.

Nr.3 S. 196.

481

251 Walther von der Vogelweide (um 1170-1230), der bedeutendste deutsche Lyriker des Mittelalters. Neubelebt wurde sein Anden­ken durch Uhlands Buch «Walther von der Vogelweide, ein alt-deutscher Dichter, (1822, enthalten in Uhlands «Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage»).

253 David Friedrich Strauß (1808-1874), Theologe. In seinem Hauptwerk »Das Leben Jesu» (2 Bände 1835/36) stellte er die Evangeliengeschichte als mythisch-dichterische Nachbildung des jüdischen Messiasgedankens hin. Kurz vor seinem Tode vollzog er mit der hier erwähnten Schrift »Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntnis» (Leipzig 1872) den radikalen Bruch rnit dem Christentum. Siehe »Die Rätsel der Philosophie» (s. o.).

David Friedrich Strauß gesteht zwar zu: «Der alte und der neue Glaube. (s. o.) S. 126.

256 ... das Wort..., das Nietzsche... geprägt hat: «David Fried­rich Strauß, ein rechter Satisfait unserer Bildungszustände und typischer Philister.. Friedrich Nietzsche, «Unzeitgemäße Be­trachtungen. («Aus dem Nachlaß. 1873).

257 Wenn die Natur mir solche Anlagen verliehen hat: »Die Über-zeugung unserer Fortdauer entspringt mir aus dem Begriff der Tätigkeit; denn wenn ich bis an mein Ende rasdos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinen Geist nicht ferner auszu­halten vermag.« Gespräch Goethes mit Eckermann vom 4. Fe­bruar 1829.

... indem er sagt: «Der alte und der neue Glaube. (s. o.) S. 126.

258 David Friedrich Strauß sagt etwa so: ebendort S. 127.

268 ... wie es Schopenhauer getan hat: Arthur Schopenhauer, »Die Welt als Wille und Vorstellung. (Leipzig 1819). Siehe «Die Rätsel der Philosophie. (s. o.): Reaktionäre Weltanschauungen.

270 Schiller sagt: Aus «An die Astronomen. (Tabulae votivae, Musenalmanach).

271 Diese Charakteristik gibt David Friedrich Strauß: »Denn in die­sem Betracht ist das Wort eine» zwar tollen, aber ebenso geist­reichen Kirchenvaters der Grundsatz der modernsten Wissen-schaft geworden: »Nichts ist unkörperlich, als was nicht ist:. »Der alte und der neue Glaube« (s. o.) S. 131. Der Kirchen-vater ist Tertullian.

482

281 Manche haben ja lange Zeit gebraucht: Erst 1822 erklärte das Sanctum officium in Rom, daß die Herausgabe von Werken, die von der Bewegung der Erde und dem Stillstand der Sonne handeln, nicht verboten sei.

282 Meister Eckhart: Siehe 5. Vortrag dieses Bandes und Hinweis zu S. 136. Das folgende Zitat entstammt >Meister Edkharts Schriften und Predigten., herausgegeben von Hermann Büttner (2 Bände Jena 1919) L Band S. 110.

283 Ernst Mach (1838-1916), Vertreter eines Positivismus, für den nur die Empfindungen und ihre Beziehungen existieren. Die von Rudolf Steiner aus dem Gedächtnis wiedergegebene Buch-stelle heißt im Wortlaut: >Äls junger Mensch erblickte ich ein­mal auf der Straße ein mir höchst unangenehmes, widerwär­tiges Gesicht im Profil. Ich erschrak nicht wenig, als ich er­kannte, daß es mein eigenes sei, welches ich, an einer Spiegel-niederlage vorübergehend, durch zwei gegeneinander geneigte Spiegel wahrgenommen hatte. - Vor nicht langer Zeit stieg ich nach einer anstrengenden nächtlichen Eisenbahnfahrt sehr er­müdet in einen Omnibus, eben als von der anderen Seite auch ein Mann hereinkam. , dachte ich. Ich war es selbst, denn mir gegenüber hing ein großer Spiegel . . . Der Klassenhabitus war mir also viel geläufiger als mein Spezialhabitus.' Ernst Mach, (Jena 1886) S. 3.

284 . . . in der kleinen Schrift: Goethe, >Versuch die Meramorphose der Pflanzen zu erklären> (1790).

285 . . . warum dieser für die Farbenlehre eintrat: >Ein Hauptgrund, warum die ebenso klare als gründliche, auch sogar gelehrte Goethesche Beleuchtung dieser Finsternis im Lichte nicht eine wirksamere Aufnahme erlangt hat, ist ohne Zweifel dieser, weil die Gedankenlosigkeit und Einfältigkeit, die man eingestehen sollte, gar zu groß ist> Hegel, »Enzyklopädie der Philosophi­schen Wissenschaften> Par. 320.

Hegel zeigte auf: >Die Gesetze der absolut freien Bewegung sind bekanntlich von Kepler entdeckt worden; eine Entdeckung von unsterblichem Rühme. Bewiesen hat Kepler dieselbe in dem Sinne, daß er für die empirischen Data ihren allgemeinen Aus-druck gefunden hat Es ist seitdem zu einer allgemeinen Redens-art geworden, daß Newton erst die Beweise jener Gesetze gefun­den habe. Nicht leicht ist ein Ruhm ungerechter von einem ersten Entdecker auf einen anderen übergegangen . . . Es ist

483

nichts als der Unterschied zu sehen, daß das, was Kepler auf eine einfache und erhabene Weise, in der Form von Gesetzen der himmlischen Bewegung ausgesprochen, Newton in die Re­flexionsform von Kraft der Schwere, und zwar derselben, wie im Falle das Gesetz ihrer Größe sich ergibt, umgewandelt hat. Wenn die Newtonische Form für die analytische Methode ihre Bequemiichkeit nicht nur, sondern Notwendigkeit hat, so ist dies nur ein Unterschied der inathesuatischen Formel; die Ana­lysis versteht es längst, den Newtoniathen Ausdruck und die damit zusamsnenhängenden Sätze aus der Form der Keplerschen Gesetze abzuleiten.. Hegel, «Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften« Par. 270.

288 ... in seiner bemerkenswerten Broschüre: Friedrich Lienhard, «Deutschlands europäische Sendung. (Stuttgart 1914) S.7.

... ein Wort Goethes: Woldemar von Biedernsann, Goethes Gespräche (2. Auflage Leipzig 1909-1911) 2. Band S.215 Ge­spräch mit Luden Dezember 1815.

Deutschland sei Hamlet: Ferdinand Freiligrath, «Hamlet»

(1844):

Deutschland ist Hamlet! Ernst und stunam

In seinen Toren jede Nacht

Geht die begrabene Freiheit um

Und winkt den Männern auf der Wacht...

297 ... am Eingang des zweiten Teils des »Faust»: Siehe «Geistes-

wissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes Faust» (s. o.)

Band 1, 4: Vortrag.

300 llja Muromez: Ilja (Elias) von Murom, Heldengestalt der alt-

russischen Sage, die vermutlich in das zehnte bis dreizehnte

Jahrhundert zuiückgeht. Er zieht an den Hof des Fürsten Wla­

dimir von Kiew, besteht gefährliche Abenteuer und wird zum

Beschützer aller Bedrängten.

301 Wolfram von Eschenbach (um 1170-1220) schuf das Epos

«Parzival» nach der Gralsdichtung des Chrétien de Troyes selb­

ständsg um.

303 ... eine Szene, die sich an eine alte Volkstraa'ition anlehnt:

Lessings Fragment «D. Faust«. Vgl. «Kosmische und mensch­

liche Geschichte» Band V (s. o.) 2. Vortrag S. 46; ferner Rudolf

Steiner, »Sprachgestaltung und dramatische Kunst., Vorträge

gehalten füt die Sektion für redende und musische Künste am

Goetheanum 5.-23. September 1924 (Dornach 1926) 4. Vor­

trag S. 89 ff.

484

303 Karl Hillebrand (1829-l884), Historiker, lebte nach seiner Ttilnahme am Badischen Aufstand 1849 in Paris, später in FIo­renz. «Zeiten, Völker, Menschen» (7 Bände 1874-1885).

304 George Henry Lewes (1817-1877): «Life of Goethe« 2 Bände (1855, deutsch 1856/57).

305 Henri Bergion (1859-1941) vertrat gegenüber den mechanisti­schen Zeitströmungen den Vorrang des Seelischen. Siehe «Die Rätsel der Philosophie« (s. o.): Der moderne Mensch und seine Weltanschauung.

Friedrich Wilhelm Josepb Schelling (1775-1854) verknüpfte den deutschen Idealismus mit der Romantik. Siehe »Die Rätsel der Philosophie« (s. o.): Die Klassiker der Welt- und Lebens­anschauung.

306 Der erste Satz: Siehe Hinweis zu S. 136 und 282.

Der zweite Satz: Fichtes Reden an die deuts-che Nation. Siebente Rede.

Der dritte Satz: Hegel, «Wissenschaft der Logik« Band I (Felix Meiner 1948) S. 138.

308 Slawöpbilen nennt man eine Reihe russischer Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts, die im Gegensatz zu den »Weitlern» die Emanzipation der russischen Kultur vertraten.

Panslawismus ist ursprünglich eine wissenschaftliche Bezeich­nung für die Verwandtschaft der slawischen Sprachen. Der Volkstumgedanke der Slawophilen führte zu der Forderung, alle slawischen Völker unter russischer Herrschaft zusammenzu­schließen. Die Rus-sifizierungstendenz des- Pans-lawismus wurde durch den polnischen Aufstand von 1863 verstärkt.

309 Fedör Michailowitsch Döstojewski (1821-1881). Seine Reisen nach Westeuropa bestärkten ihn in der Überzeugung, das Stre­ben nach Macht habe den Westen dem Christentum entfremdet. In Puichkin sah Dostojewski den «Allmenschen», der als Russe alle europäischen Widersprüche in sich aussöhnt. Die hier wiedergegebenen Gedanken sind im «Tagebuch eines Schrift­stellers « ausgesprochen.

Aleksej Stepavöwitsch Chömjakow (1804-1860), Ges-chichts­philosoph, forderte die Abkehr Rußlands von der individuali­stischen «Fäulnis» des Westens.

Orest Feödöröwitsch Miller (1834-1889), Professor der älteren russischen Literatur in Petersburg, gehörte zu den gemäßigten

485

Slawophilen. Hauptwerk: «Ilja Muromez und das Paladinen­rum von Kies»,« (1870).

310 Wladimir Sölöwjew (1853-1900). Rudolf Steiner erwähnt Solowjew in vielen Vorträgen, so in «Kosmische und mensch­liche Geschichte» (s. 0') Band III »Innere Entwickelungsimpulse der Menschheit«, 3', 4' und 6. Vortrag, Band IV «Goethe und die Krisis des neunzehnten Jahrhunderts«, 3. und 4. Vortrag.

311 Boris Tschitscherin (1828-1904), russischer Philosoph, Hegelia­

ner.

312 Michail Katköw (1820-1887), einflußreicher russischer Publi­zist. Die Gewaltmaßnahmen der zarisrischen Regierung zur Russifizierung Polens und zur Unterdrückung des deutschen Elements in den Oseseeprovinzen wurden von Katköw propa­giert.

Und einer, der es wissen könnte: Solowjew, «Rußland und Europa« (deutsch Jena 1917) S. 75 f.

Iwan Sergejewitsch Absaköw (1823-1886), panslawistischer Agitator des Moskauer Slawischen Komitees.

Nikölai Jaköwlewitsch Danilewski (1822-1885). Sein kultur-philosophisches Werk «Rußland und Europa» (deutsch 1920) wurde als «Bibel des Panslawismus» berühmt.

313 ... über den ein bekannter Russe die folgenden Worte spricht:

Fürst Jewgenij Nikolajewitsch Trubetzkoi, «Die Welt­anschauung Solowjews» (1914).

315 Er stellt diese Frage.' Sölowjew, «Rußland und Europa» (s. o.) S.75 f.

316 Joseph Marie Cömte de Maistre (1753-1821) trat in seiner Staatsphilosophie für den Absolutismus- und die feudale Ge­sellschaftsordnung ein. Im Katholizismus und im päpstlichen Primat sah er die Grundlage des staatlichen und sozialen Le­bens. Vgl. Rudolf Steiner, «Die materialistische Weltanschau­ung des neunzehnten Jahrhunderts « , sechs Vorträge gehalten in Dornach vom 22. April bis 1. Mai 1921 (Basel 1951). 6. Vortrag S. 97 ff.

317 Georg Brandes (1842-1927), dänischer Literarhistoriker, Ver­fasser mehrerer großer Monographien. «Eindrücke aus Polen und Rußland« (1885-1888).

486

318 Heinrich Rückart (1823-1875), Geschichtsforscher und Ger­manist, zuletzt Professor in Breslau. Sein hier erwahntes Werk erschien 1857.

Zar Alexander IL fiel 1881 dem Bombenanschlag einer an­archistischen Aktionsgruppe zum Opfer. Unter seinem Nach­folger Alexander III. wurde die Russifizierung in den Rand-ländern forciert und die Kirche der Politik dienstbar gemacht.

320 Johann Heinrich Deinhardt (1805-1867), »Über die Vernunft-gründe der Unsterblichkeit der menschlichen Seele« (1863) in »Kleine Schriften« (Leipzig 1869), herausgegeben von H. Schmidt. VgL »Vom Menschenrätsel« (s. o.) S. 63 f.

321 Fercher von Steinwand (1828-1902). Das Zitat, mit dem der

8. Vortrag schließt, entstammt dem Gedicht »Kyffhäuser­

Gäste«, Fercher von Steinwands Sämtliche Werke (Wien

1903): Deutsche Klänge aus Österreich (Erster Teil) S. 165ff.

Seine persönliche Begegnung mit dem Dichter schildert Rudolf

Steiner in «Mein Lebensgang» (s. o.) Siehe ferner »Vom Men­

schenrätsel» (s. o.) und «Veröffentlichungen aus dem literari­

schen Frühwerk» (s. o.) Heft 23.

Das Mysterium vom Kyffbäuser: Nach der Sage, die sich bis- ins

14. Jahrhundert nachweisen läßt, ist der Stauffenkaiser Fried­

rich 11. oder - nach einer späteren Fassung - Bsrbarossa in den

Kyffhäuser entrückt; er wird einst wiederkommen und das

Reich in seiner Herrlichkeit wiederherstellen. Durch Rücketts

Lied «Barbarossa« (1817) wurde die Kyffhäusersage in ganz

Deutschland bekannt.

327 Doch ist das Leichte schwer: Faust II. 1. Akt, Kaiserliche Pfalz.

346 . . . auf die ich gestern hingewiesen habe: Der am ii. März

1915 in Nürnberg gehaltene Vortrag entspricht inhaltlich dem

2. Vortrag dieses Bandes.

353 Goethe: »Dichtung und Wahrheit« Zweiter Teil, 9. Bucb, und Dritter Teil, 11. Buch.

354 Locke, Höbbes: Siehe »Die Rätsel der Philosophie« (s. o.): Die Weltanschauungen des jüngsten Zeitalters der Gedankenent­wicklung. - John Locke (1632-1704) führt alle Erkenntnis auf Erfahrungen des «äußeren« (sensation) oder «inneren Sinnes« (reflection) zurück. Thomas Hobbes (1588-1679) faßt auch seelis-che und gesellschaftliche Erscheinungen als bewegte Kör­Is-et auf, deren Veränderungen sich mechanistisch erklären lassen.

487

354 Der Mensch als Maschine: Julien Offrey de Lis Mettrie (1709

bis 1751) entwarf in seinem Hauptwerk «L'homme machine«

(1748) eine mechanistische Theorie von der Organisation

des Menschen.

355 . . . was er Schiller gegenuber betonen konnte Das kann mir

sehr lieb sein, daß ich Ideen habe, ohne es zu wissen und sie

sogar mit Augen sehe» Goethes Naturwissenschaftliche

Schriften (s o) I Band Gluckliches Ereignis

356 . . . der auch einiges mit dieser Stadt zu tun hat Hegel war

1808 1816 Rektor des Gymnasiums in Nurnberg in dieser

Zeit schrieb er seine Wissenschaft der Logik»

Abraham Gotthelf Kästner (1719-1800), Mathematiker, Professor in Leipzig und Göttingen, stand als Dichter dem Kreis um Gottsched nahe.

357 Daniel De föe (1659-1731) schrieb den unzähligemal über­

setzten und nachgeahmten Roman »The life and strange

surprising adventures of Robinson Crusoe of York» (1719).

362 . . . der mörgige Vortrag: »Die ewigen Kräfte der Menschen-

seele im Lichte der Geisteswissenschaft« , gehalten am 29. No­

vember 1915 in München.

363 Betrachtung über desitsches Wesen: Wilhelm von Humboldt

(Tegel 1830) in Ȇber Schiller und den Gang seiner Geistes-

entwicklung«, wiedergedruckt in »Denken, Schauen, Sinnen,

Zeugnisse deutschen Geistes« Band V (Stuttgart 1958).

366 Das Jüngste Gericht: Zum Vergleich der Freskengemälde

von Michelangelo und Peter Cornelius siehe auch «Michel­

angelo und seine Zeit vom Gesichtspunkte der Geisteswissen­

schaft« (s. Hinweis zu S. 130). - »Das Jüngste Gericht« von

Cornelius befindet sich in der Ludwigsklrche in München.

369 René Descartes (Cartesius) (1596-1650): Siehe »Die Rätsel

der Philosophie« (s. o.): Die Weltanschauungen des jüngsten

Zeitalters der Gedankenentwicklung. - Im zweiten seiner Vor­

träge «Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Päd­

agogik«, gehalten in Stuttgart 21. August bis S. September

1919 (4. Auflage Dornach 1951) nennt Rudolf Steiner den

Satz »Cogito ergo sum« (Ich denke, also bin ich) den größ­

ten Irrtum, der an die Spitze der modernen Weltanschauung

gestellt wurde.

488

369 Mkhel Byquem de Montaigne (1533-1592) geht in seinem

Hauptwerk «Essals« (1580-1588) von einer Selbstanalyse

aus, die das Ich von allen Selbsttäuschungen freilegen soll;

der Wahrheitswert des christlichen Glaubens bleibt dahin­

gestellt.

372 Immanuel Kant (1724-1804): Siehe »Die Rätsel der Philo­sophie« (s. o.): Das Zeitalter Kants und Goethes.

373 Er mußte das Wissen entthronen: »Ich inußte also das Wissen

aufheben, um zutn Glauben Platz zu bekommen.» Kant, «Kri­

tik der reinen Vernunft«, Vorrede zur 2. Ausgabe (1787).

374 Emanuel Swedenborg (1688-1772), Naturforscher und Theo­

soph, wurde durch seine Visionen zu einer europäischen Be­

rühmtheit. Siehe Kant, »An Fräulein Charlotte v. Knobloch

über Swedenborg» (1758); »Träume eines Geistersehers«

(1766).

376 .. . indem Faust den Geist sucht: Faust I, Studierzimmer.

377 Schelling: Siehe Hinweis zu S. 305. Die genannte Abhandlung

ist enthalten in F. W. I Schellings Philosophische Schriften,

erster (einziger) Band (1809).

378 ... im Einklang mit anderen Geistern: Jakob Böhme, Franz

von Baader. Im Wortlaut heißt es: .... es muß vor allem

Grund, vor allem Existierenden, als überhaupt vor aller

Dualität ein Wesen sein; wie können wir es nennen, als den

Urgrund oder vielmehr Ungrund? . . . das schlechthin betrach­

tete Absolute, den Ungrund.« Schelling, Sämtliche Werke

(Stuttgart und Augsburg 1856-58) S. 497 ff.

Prosahymnus an die Natur: Siehe «Veröffentlichungen aus-dem literarischen Frühwerk» (s. o.) Heft 2.

380 . . . das versinnlichte Material unserer Pflicht: «Unsere Welt

ist das versinnlichte Material unserer Pflicht; dies ist das

eigentlich Reelle in den Dingen, der wahre Grundstoff aller

Erscheinungen.» J. G. Fichte, «Appellation an das Publikum« .

384 ... ein Wort, das Schelling gesagt hat: «Über die Natur

philosophieren heißt die Natur schaffen. « Schelling, «Erster

Entmurf eines Systems der Naturphilosophle« (1799) in

Sämtl. Werke (s. o.) 1. Abteilung, III. Band S. 13.

386 . . . wie an den Busen eines Freundes: Faust I, Wald und

Höhle.

489

387 Einswerden mit dem göttlichen Weltgeist.' «Durch die

Philosophie will sich der Gedanke dem Sinnlichen entreißen;

sie ist die Ausbildung des Gedankens zur Totalität jenseits

des Sinnlichen und der Phantasie - . . Dies (die epoche­

machenden Wendungen in der Geschichte der Philosophie)

sind nicht so ein Einfall der Philosophie, sondern ein Ruck

des Menschengeistes, der Welt, des Weltgeistes. Die Offen­

barung Gottes . .. Was wir so trocken, abstrakt hier betrach­

ten, . . . wenn wir so in unserem Kabinett die Philosophen

sich zanken und streiten lassen und es so oder so ausmachen,

. . . sind die Taten des Weltgeistes . . . Die Philosophen sind

dabei dem Herrn näher, . .. sind die , die beim Ruck

im innersten Heiligtum mit und dabei gewesen . . . « Hegel,

«Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie».

388 ... da war man der Anschauung: Nach C. S. Picht (»Anthro­

posophie« 1932/33, Buch 4) bezieht sich Rudolf Steiner ver­

mutlich auf eine Äußerung von Karl Rosenkranz über

Grabbes Tragödie «Don Juan und Faust« (1829). Darin heißt

es: «Jetzt vermißt mm noch zu vieles, was die Musik schon

ausdrückt, der Witz der Rede aber noch nicht erreicht hat.»

(«Über Calderons Tragödie vom wundertätigen Magus, Ein

Beitrag zum Verständnis der faustischen Fabel.« Halle und

Leipzig 1829. S. 74.)

389 Richard Wagner: Siehe auch Rudolf Steiner, »Nietzsches

Seelenleben und Richard Wagner. Zur deutschen Welt­

anschauungsenrwickelung der Gegenwart. « Vortrag gehalten

in Berlin 23. März 1916 (Dornach 1944).

391 ... wie Böutröux sagt: Emile Boutrou"t, «L'Allemagne er Ia

guerre» in «Pages d'histoire 1914-15« (Paris 1915) S. 13 f.

392 Eine Londoner Zeitung schrieb dazumal: Freie Wiedergabe

einer Tagebuchaufzeichnung von Karl Rosenkranz: «1841..,:

spottet über uns Deutsche, wie wir uns

jetzt abmühten, den Unterschied von Schelling und Hegel zu

bestimmen. Das sei ganz leicht. Hegel sei das Ignotum (latei­

nisch das Unbekannte) und Schelling das Ignotius (das Un­

bekanntere).« Karl Rosenkranz, »Aus einem Tagebuch«

(Leipzig 1854) S. 80.

393 Als d'Annunzio seine klingenden Worte sprach' am 17. Mai

1915. Italiens Kriegserklärung an Österrelch erfolgte am

23. Mal 1915.

490

395 . . . knüpft er daran eigene Worte: Friedrich Kreyssig, »Vor­lesungen über Goethes Faust« (Berlin 1866) S. 254.

399 ... zu welchem Ausspruch Herman Grimm gekommen ist:

Siehe Hinweis zu S. 182.

403 Giordano Bruno (1548-1600). Seine Philosophie wurzelt in

der Kopernikanischen Lehre. In dern räumlich und zeitlich

unbegrenzten Universum schweben unzählige Welten, die

sich gegenseitig anziehen oder fliehen und so ein System bil­

den. Was in der sichtbaren Welt (natura naturata) in zeit­

licher Erscheinung erscheint, ist der Möglichkeit nach in Gott

(natura naturans) auf einmrl enthalten. Siehe »Die Rätsel

der Philosophie» (s. o.): Die Weltanschauungen des jüngsten

Zeitalters der Gedankenentwicklung, ferner Rudolf Steiner,

»Das Suchen nach der Welt im Menschen, nach dem Men­

schen in der Welt«, drei Vorträge gehalten in Dornach 12. bis

14. Januar 1923 (Dornach 1943) S. 1ff., 14 ff., 29, 33 ff.

405 Thomas Campanella (1568-1639), italienischer Philosoph.

Seine Schriften, die alle Wissensgebiete seiner Zeit umfassen,

entstanden zum größten Teil im Gefängnis.

Lucilio Vanini (1584-1619), italienischer Philosoph, vollzog den Übergang vom Aristotelismus zu einer pantheistischen Naturauffassung. Er wurde in Toulouse wegen Gottesläste­rung verbrannt.

411 Auguste Comte (1798-1857) wird als einer der Haupn'er­

treter des Positivismus im Votttagswerk Rudolf Steiners häu­

fig erwähnt. Siehe auch »Die Rätsel der Philosophie» (s. o.):

Weltanschauungen der wissenschaftlichen Tatsächlichkeit.

412 Francit Bacön (1561-1626), englischer Staatsmann und Ge­

lehrter, Begründer des neuzeitlichen Empirismus. Siehe »Die

Rätsel der Philosophie» (s. o.): Die Weltanschauungen des

jüngsten Zeitalters der Gedankenentwicklung.

Herbert Spencer (1820-1903) systematisierte alle Erfahrungs­gebiete unter den Grundgedanken der Entwicklung, der An­passung und des Fortschritts. Siehe »Die Rätsel der Philo­sophie« (s. o.): Die Welt als Illusion.

418 Benedikt Spinoza (1632-1677): Siehe »Die Rätsel der Philo­

sophie« (s. o.): Die Weltanschauungen des jüngsten Zeitalters

der Gedankenentwicklung. Über Goethes Beziehungen zu

491

Spinoza siehe Rudolf Steiner, «Metamorphosen des Seelen­lebens«, sieben Vorträge gehalten in Berlin zwischen dem 21. Oktober 1909 und 12. März 1910 (4. Auflage Doinach

1957), 7. Vortrag, ferner in der Einleitung zum i Band der Naturwissenschaftlichen Schriften von Goethe (1883, Kürsch­ner) Seite LV ff., sowie im 1. Vortrag vom 21. Mai 1921 von »Die Naturwissenschaft und die weltgeschichtliche Entwicke­lung der Menschheit seit dem Altertum« (Dornach 1939).

420 Dietrich Baron von Holbach (1723-1789). Seine unter dem

Pseudonym Mirabeau erschienene Schrift « Systeme de la na-

tute ou des lois du monde physique et du monde moral«

(1770) wurde die «Bibel des Materialismus» genannt. Siehe

»Die Rätsel der Philosophie» (s. o.): Die Weltanschauung des

jüngsten Zeitalters der Gedankenentwicklung; Der Kampf um

den Geist.

421 . . . indem er sich darüber äußerte: «Dichtung und Wahrheit« Dritter Teil, Elftes Buch.

422 Urpflanze, Urtier: Goethes Naturwissenschaftliche Schriften (s. o.), 1. Band.

423 Wenn man Fichte ganz durchschauen will: Siehe »Die Rätsel

der Philosophie» (s. o.): Das Zeitalter Kants und Goethes.

429 Sardonitches Lachen (Sardonius risus): Bei den Römern das griinmige Lachen des Zornes. Die Herkunft des Wortes war schon im Altertum umstritten.

432 Barbaritche Komposition . . . Tragelaph: Am 27. Juni 1797 schreibt Goethe an Schiller: »Ihre Bemerkungen zu waren mir sehr erfreulich. Sie treffen, wie es natürlich war, mit meinen Vorsätzen und Planen recht gut zusammen, nur daß ich mir's bei dieser barbarischen Komposition bequemer mache und die höchsten Forderungen mehr zu berühren als zu erfüllen denke . . . Ich werde sorgen, daß die Teile anmutig und unterhaltend sind und etwas denken lassen. Bei dem Gan­zen, das immer ein Fragment bleiben wird, mag mir die neue Theorie des epischen Gedichts zustatten kommen..

In einem weitern Brief vom 6. Dezember 1797 schreibt Goethe an Schiller: »Ich werde wohl zunächst an meinen gehen, teils um diesen Tragelaphen loszuwerden, teils um mich zu einer höhern und reinetn Stimmung, vielleicht zum , vorzubereiten.«

Tragelaph (Bockhirsch) ist ein griechisches Fabelwesen.

492

433 . . . das stellt Goethe wiederum dar: Zitate aus Faust II, 2. Akt, Klassische Walpurgisnacht.

434 Karl Vogt (1817-1895), Ludwig Büchner (1824-1899),

Jakob Moleschott (1822-1893) werden im Vortragswerk

Rudolf Steinets häufig als charakteristische Vertreter des

wissenschaftlichen Materialismus erwähnt. Siehe auch »Die

Rätsel der Philosophie» (s. o.): Der Kampf um den Geist.

Ernst Haeckel (1834-1919): Siehe «Veröffentlichungen aus dem literarischen Frühwerk» (s. o.) Band IV; «Die Rätsel der Philosophie« (s. o.): Darwinismus und Weltanschauung. -Über die persönliche Betiehung Rudolf Steiners zu Haeckel siehe «Mein Lebensgang» (s. o.) Kapitel XV, «Briefe« Band H.

. . . in seinem witsenschaftlichen Hauptwerk: »Die Entstehung der Arten« (1859).

435 Emil Du Bois-Reymond (1818-1896), Physiologe, vertrat die mechanistische Naturerklärung. Berühmt wurde sein Vortrag «Über die Grenzen des Naturerkennens « (1872). Siehe «Veröffentlichungen aus dem literarischen Frühwerk» (s. o.) Band w; «Die Rätsel der Philosophie« (s. o.): Die Welt als Illusion.

Raoul Francé (1874-1943), Publizist, gründete in München ein privates biologisches Forschungsinstitut.

Gustav Theodor Pechner (1801-1887), Professor der Physik in Leipzig, lehrte später Psychophysik, Ästhetik und Natur-philosophie. Siehe «Veröffentlichungen aus dem literarischen Frühwerk» (s. o.) Band IV; «Die Rätsel der Philosophie» (s. o.): Der Kampf um den Geist; Moderne idealistische Welt­anschauungen.

437 . . . des Goetheschen Wortes: Maximen und Reflexionen, Aus Makariens Archiv.

440 Otto Liebmann (1840-1912) gehört zu den Begründern des Neukantianismus. Siehe «Die Rätsel der Philosophie« (s. o.):

Nachklänge der kantschen Vorstellungsart; ferner «Veröffent­lichungen aus dem literarischen Frühwerk» Band IV: Haeckel und seine Gegner.

Hermann Munk (1829-1912), Professor der Physiologie in Berlin. «Über die Funktion der Großhirnrinde« (Berlin 1881).

493

Kurz zusammengefaßt sagte er: «Gesetzt nun aber, die Natur­erkenntnis wäre ... ans Ziel gelangt, so würde sie in der Lage sein, mir genau die körperlich-organischen Gründe anzugeben, weshalb ich den Satz für wahr halte und behaupte, den anderen Satz für falsch halte und bestreite, oder weshalb ich gerade jetzt diese Zeilen aufs Papier schreiben muß, während ich in dem sub­jektiven Glauben befangen bin, es geschähe dies deshalb, weil ich sie wegen ihrer von mir angenommenen Wahrheit nieder­schreiben will.« Otto Liebmann, «Gedanken und Tatsachen. Philosophische Abhandlungen, Aphorismen und Studien» Erstes Heft (Straßburg 1882) S. 294 f. Siehe «Haeckel und seine Gegner« (s. o.) S. 99 f.

448 In Wien: Rudolf Steiner, »Das geistige Suchen in der Gegen­wart. Tod und Unsterblichkeit« , zwei Vorträge gehalten in Wien 6. und 8. April 1914 (Dornach 1935).

451 Geheimnitvöll am lichten Tag: Faust I, Studierzimmer.

462 Gossudarstwennaja Duma (Reichsduma) hieß das russische

Parlament 1905-1917, 463 Emerson will Goethe beschreiben: Siehe Hinweis zu S. 60.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.