GA 63

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

ÖFFENTLICHE VORTRÄGE

Geisteswissenschaft als Lebensgut

Zwölf öffentliche Vorträge
gehalten zwischen dem 30. Oktober 1913
und 23. April 1914
im Architektenhaus zu Berlin


GA 63

1986

Inhaltsverzeichnis


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ZU DIESER AUSGABE

Die Vorträge dieses Bandes gehören dem Teil von Rudolf Steiners Vortragswerk an, mit dem er sich an die Öffentlichkeit wandte. «Berlin war der Ausgangspunkt für diese öffentliche Vortragstätigkeit gewesen. Was in anderen Städten mehr in einzelnen Vorträgen behandelt wurde, konnte hier in einer zusammenhängenden Vortragsreihe zum Ausdruck gebracht werden, deren Themen ineinander Übergriffen. Sie erhielten dadurch den Charakter einer sorgfältig fundierten methodischen Einführung in die Geisteswissenschaft und konnten auf ein regelmäßig wiederkehrendes Publikum rechnen, dem es darauf ankam, immer tiefer in die neu sich erschließenden Wissensgebiete einzudringen, während den neu Hinzukommenden die Grundlagen für das Verständnis des Gebotenen immer wieder gegeben wurden.» (Marie Steiner)

Die vorliegenden während des Winterhalbjahres 1913/14 gehaltenen 12 Vorträge bilden die elfte der öffentlichen Vortragsreihen, welche Rudolf Steiner in Berlin seit 1903 regelmäßig durchführte.

Kurz zusammengefaßt wird darin dargestellt, wie die Geisteswissenschaft Materialismus und Antisophie durch «geistige Chemie», durch Unterscheidung des Seelisch-Geistigen vom Leiblichen überwinden und das religiöse Empfinden zur geistigen Anschauung bringen kann. Im weiteren wird geschildert, wie die geisteswissenschaftliche Erkenntnis des Todes, der Unsterblichkeit und der Wiedergeburt den Sinn zu zeigen vermag, der dem Tod junger Menschen zugrundehegt, wodurch sich ein neues Bild der individuellen und gesamtmenschheitlichen Geschichte ergibt. Aus dieser Erkenntnis heraus wird die gewaltige Umwandlung der früheren Bildhauerkunst durch Michelangelo betrachtet. Das Böse wird als am falschen Ort wirkende Kraft, und als Grundlage des sittlichen Handelns das eigene Bewußtsein in der geistigen Welt dargestellt. Es wird auf Voltaires Tragik, in sich selbst den Zusammenhang mit der geistigen Welt nicht gefunden zu haben, und auf Hamerlings «Homunkulus», der die Konsequenzen des modernen Materialismus zeigt, eingegangen. Ausklingend wird betont, daß Geisteswissenschaft für das Leben die große Schule der Liebe und ein Lebensgut für die Gesundheit sein kann.

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DIE GEISTIGE WELT UND DIE GEISTESWISSENSCHAFT Berlin, 30. Oktober 1913

Wie nun schon seit einer Reihe von Jahren werde ich mir auch in diesem Winter gestatten, von diesem Orte aus eine Anzahl von Vorträgen aus dem Gebiete der Geistes­wissenschaft zu halten, der Geisteswissenschaft, wie sie nun eben schon in den Vorträgen gemeint ist, die seit einer Reihe von Jahren hier von mir gehalten worden sind. Ich werde mich auch in diesem Winter bemühen, in der Reihe der Vorträge von diesem geisteswissenschaftlichen Standpunkte aus möglichst verschiedene Gebiete des Lebens, der Erkenntnis und des Wissens zu beleuchten und darf daher heute im Beginne des Vortragszyklus wie in den verflos­senen Jahren wieder bitten, den heutigen Vortrag nicht so sehr als einzelnen zu nehmen, sondern in Betracht zu ziehen, daß der ganze Zyklus dieser Vorträge als ein mehr oder weniger geschlossenes Ganzes betrachtet wird, ob­wohl ich mich möglichst bemühen werde, auch jeden ein­zelnen Vortrag in sich abzurunden.

Die Gebiete des geistigen, des sittlichen, des künstle­rischen Lebens möchte ich in dieser Vortragsreihe berühren, um so zu zeigen, wie Geisteswissenschaft ein aufklärender Kulturfaktor für die verschiedensten Rätselfragen werden kann, welche der Seele der Gegenwart berechtigterweise aufgehen müssen. Es ist, um noch einmal zu betonen, was in den verflossenen Jahren oft gesagt worden ist, keines­wegs ein in der Gegenwart etwa anerkannter oder be­liebter

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Gesichtspunkt, von dem aus hier diese Vorträge gehalten werden. Im Gegenteil: der Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist, wird in der Gegenwart gegnerisch, mißverständlich, auch wohl feindlich behandelt, und gleich von vornherein sei es gesagt, daß über diese Auffassung des geisteswissenschaftlichen Standpunktes derjenige am allerwenigsten verwundert ist, der auf diesem Standpunkte selber steht. Denn wieviel aus den Vorstellungen und aus den Denkgewohnheiten der Gegenwart heraus, aus alledem, was man heute wissen­schaftlich oder sonst berechtigt glaubt, wieviel von solchen Gesichtspunkten aus gegen diese Geisteswissenschaft - mit vermeintlichem Recht heute noch vorgebracht werden kann, das versteht derjenige am besten zu würdigen, der gerade in diese Geisteswissenschaft recht eingedrungen ist. Neh­men Sie also die Versicherung hin, daß dem, der hier spricht, Widerspruch, Gegnerschaft, Mißverständnis durch­aus nichts Unbegreifliches oder Unverständliches sein kann. Die Mißverständnisse, die sich gegen diese Geisteswissen­schaft aufwerfen, sie liegen ja auf verschiedenen Gebieten. Da wird von einer Seite her geglaubt, daß diese Geistes­wissenschaft sich aufbaue auf irgendwelche alten, vom Orient oder anderswoher kommenden Religionsbekennt­nisse, weil man eine gewisse Ahnlichkeit einzelner Punkte glaubt herausfinden zu können mit dem, was solche Reli­gionsbekenntnisse vertreten haben. Daß es sich mit solchen Ahnlichkeiten ganz anders verhält, kann man erst im Ver­laufe der Geisteswissenschaft selbst erkennen. Doch darüber nur diese Andeutung.

Daß Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist, nichts mit irgendwelchen Traditionen oder Überlieferungen zu tun hat, sondern daß sie auf einem unmittelbaren, in der Gegenwart zu erreichenden Forschungsresultat beruht, auf

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einer Forschungsweise, zu der man keineswegs irgend­welche Überlieferungen braucht, geradesowenig wie zu den Forschungsresultaten der Chemie, der Physik oder einer anderen Wissenschaft, das möchte ich wie in einer Vorrede sagen; wie es sich belegen und beweisen läßt, das werden die Vorträge selbst zeigen. Von anderer Seite werden der Geisteswissenschaft insofern Mißverständnisse entgegen­gebracht, als man sie wie eine Art neues Religionsbekennt­nis, wie eine Art Sektenglauben hinnimmt. Aber sie ist ebensowenig ein Religionsbekenntnis, ein Sektenglaube, wie irgendeine andere Wissenschaft der Gegenwart. Gera­desowenig wie man von denen, welche sich zur Pflege der Chemie vereinigen, sagen kann, sie seien eine Sekte der Chemie, sowenig kann man, wenn man in den Geist der Geisteswissenschaft eindringt, bei ihr von einem Sekten-glauben sprechen. Aber die Gegnerschaft gegen die Geistes­wissenschaft kommt aus ganz anderen Voraussetzungen heraus. Die Religionsbekenntnisse der verschiedensten Rich­tungen glauben - das sei wie eine Vorrede heute bemerkt -daß sie irgendwie ein neues Religionsbekenntnis zu befürch­ten haben; sie fürchten, ein neuer Glaube wolle in ihr Feld einziehen und das religiöse Leben überhaupt gefährden. Man wird sich allmählich überzeugen, daß es mit dieser Geistes­wissenschaft so gehen wird, wie es mit der Naturwissen­schaft gegangen ist, als sie ihre neuzeitliche Richtung, sagen wir etwa, im Zeitalter des Kopernikus erlebte. Wie man damals geglaubt hat, daß durch die kopernikanische Welt­anschauung, weil sie mit vielem Alten brechen mußte, das religiöse Leben der Menschheit gefährdet sei, wie man durch Jahrhunderte in den verschiedenen Religionsgemeinschaften den Kopernikanismus verbannt hat, so mag es in der Ge­genwart mit der Geisteswissenschaft gehen, die in bezug auf den Geist eine ähnliche Aufgabe hat, wie Kopernikus

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eine entsprechende Aufgabe in der Naturwissenschaft hatte Zuletzt wird man einsehen, daß ein ähnliches Verhältnis zwischen Geisteswissensdiaft und den Religionswissen­schaften besteht, wie zwischen dem Kopernikanismus und religiösen Bekenntnissen, und daß man gegen das, was die Kultur fordert, ebensowenig auf dem Gebiete des Gei­stes etwas wird ausrichten können, wie man es auf dem Gebiete der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gekonnt hat. Diese Dinge mögen nur berührt werden; denn wie es sich mit ihnen verhält, das wird im Verlaufe der Vorträge ersichtlich werden.

Ein anderer gewichtiger Einwand kommt aber von der Seite selber, die eigentlich die Geisteswissenschaft wie eine Art Fortsetzung ihrer eigenen Bestrebungen ansehen müßte, wenn sie sich recht verstünde: kommt von derjenigen Seite, die da glaubt auf dem festen Boden naturwissenschaftlicher Forschung, naturwissenschaftlichen Denkens und Vorstel­lens zu stehen. Es sei heute zunächst wie bildlich, aber in dem Bilde ist mehr als ein bloßes Bild gemeint, darauf auf-merksam gemacht, wie sich das, was die moderne Geistes­wissenschaft sein will, zu der Strömung naturwissenschaft­licher Erkenntnis verhält. Niemand kann mehr als gerade derjenige, welcher auf dem Boden dieser Geisteswissenschaft steht, den hohen Wert und die große Kulturkraft der mo­dernen naturwissenschaftlichen Denkweise anerkennen, und diejenigen der verehrten Zuhörer, welche seit Jahren diese Vorträge hören, werden wissen, wie gründlich diese An­erkennung naturwissenschaftlichen Denkens und Forschens gerade von dieser Geisteswissenschaft aus betont wird. Und wer könnte es wollen, heute eine geistige Strömung in die Kultur einfließen zu lassen, der sich in Gegensatz zu dem naturwissenschaftlichen Denken glaubt stellen zu müssen? Er müßte ja nicht sehen, was dieses naturwissenschaftliche

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Denken der Menschheit im Laufe der letzten Jahr­hunderte, bis in unsere Tage herein an Kulturwerken ge­schaffen hat! Er müßte nicht verstehen, wie tief nicht nur in den Inhalt, sondern in die ganze Art der Erkenntnis­fragen und der Erkenntnisrätsel die Naturwissenschaft ein­gegriffen hat. Gegen die berechtigten Ansprüche naturwis­senschaftlicher Errungenschaften wird im Laufe dieser Vorträge gewiß nichts eingewendet werden. Die Menschheit sah sie heraufblühen und herauffluten, diese naturwissen­schaftliche Erkenntnis, sah sie einziehen in das Leben un-serer Technik, in das Leben unseres Verkehrs, sah sie die äußere materielle Weltkultur umgestalten und das soziale Leben der Völker über den Erdkreis herum erobern. Aber gerade weil die moderne Geisteswissenschaft dies versteht, deshalb zieht sie aus dem, was die Naturwissenschaft lei­sten kann, die Erkenntnis: wenn diese Naturwissenschaft lebendig, nicht abstrakt, nicht theoretisch oder dogmatisch erfaßt wird, dann kann aus dieser Naturwissenschaft selbst und ihren Denkgewohnheiten etwas folgen, was die Men­schenseele nicht nur aufklärt über die äußeren Gesetze der Sinneswelt, der äußeren materiellen Kräfte und Stoffe, son­dern auch über das Leben der Seele selber, über das Schick­sal der Seele, was sich einschließt in die Fragen nach Tod und Unsterblichkeit und in den ganzen Umfang des geisti­gen Lebens. Denn das sei hier von vornherein betont: daß Geisteswissenschaft hier nicht etwa wie eine Zusammen­fassung der verschiedenen Kulturwissenschaften gemeint ist, wofür heute auch oft der Name «Geisteswissenschaft» angewendet wird - für Geschichte, Soziologie, Kunstge­schichte, Rechtsgeschichte und dergleichen, sondern daß Geisteswissenschaft hier gemeint ist als eine Erkenntnis von einem wirklichen Geistesleben, welches so wahrhaft ist, wie das Naturleben um uns herum, und dem der Mensch mit

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seinem Geiste und mit seiner Seele so wahrhaft angehört, wie er mit seinem Leibe demjenigen angehört, worüber uns die Naturwissenschaft Aufklärung zu geben vermag.

Damit steht man allerdings sogleich auf einem Felde, wo, und noch einmal sei es betont, in begreiflicher Weise, viele Geister der modernen Zeit noch nicht mitgehen kön­nen, deshalb noch nicht mitgehen können, weil für sie die ganze Art, wie sich diese Geisteswissenschaft dem Geistigen und den Lebensrätseln nähert, noch etwas ganz Phanta­stisches und Träumerisches ist, wie im Grunde genommen auch die kopernikanische Weltanschauung ihren Zeitgenos­sen phantastisch und träumerisch war. Aber Naturwissen­schaft und Geisteswissenschaft, das sei hier im Bilde gesagt, verhalten sich etwa in folgender Weise: Wenn ein Land­mann im Herbst seine Früchte einerntet, so wird der größte Teil dieser Früchte zunächst zur menschlichen Nahrung ver­wendet, und dieser Teil spielt dann, indem er umgebildet wird, seine Rolle im Leben als menschliche Nahrung. Ein Teil dieser Früchte aber muß, wenn das Leben weitergehen soll, zur neuen Aussaat verwendet werden. Er darf nicht zur Nahrung verwendet werden, sondern er muß in der Art verarbeitet werden, indem er seinen Elementen über­geben wird, wie das von der Erde und den anderen Ele­menten verarbeitet worden ist, was zum Schluß die mensch­liche Nahrung abgegeben hat. So ist in berechtigter Weise der größte Teil desjenigen, was die Naturwissenschaft an glänzenden Errungenschaften geleistet hat, dazu bestimmt, überzugehen in das technische, in das soziale, in das Ver­kehrsleben, ist dazu bestimmt, die materielle Kultur zu befruchten, zu durchströmen und das Leben der Mensch­heit im Fortschritt zu gestalten. Aber gerade in dem, was uns die Naturwissenschaft gibt, ist auch etwas enthalten, was wiederum der menschlichen Seele übergeben werden

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kann, ohne in das materielle Leben hinauszufiießen, was in dieser Menschenseele verarbeitet werden kann in der Art, wie ich es gleich nachher andeuten werde, und was, wenn es nicht theoretisch oder dogmatisch, sondern wenn es so von der Seele aufgenommen wird, daß es in ihr lebt, sich dann so in der Seele ausnimmt wie das Samenkorn, das in die Erde gelegt worden ist. Was so von der Menschenseele aufgenommen werden kann, das gestaltet sich dann in ihr um und wird zu jener hellseherischen Kraft, die hier ge­meint ist, fern von allem Aberglauben und allem Ob­skurantismus, als jene hellseherische Kraft, welche in die geistige Welt dann die Blicke hineinwerfen kann. Denn das unterscheidet die Geisteswissenschaft von anderen heute gepflegten Zweigen der Erkenntnis: daß diese Geisteswis­senschaft eine Entwickelung der menschlichen Seele vor­aussetzt über den Gesichtspunkt hinaus, der sonst in der heutigen Wissenschaftlichkeit gilt. In dieser Wissenschaft­lichkeit nimmt man den Menschen, wie er einmal ist, nimmt ihn so, wie er, mit seiner Erkenntniskraft, mit der sinn­lichen Beobachtung und der Intellektualität ausgerüstet, die Welt rings herum beobachtet, die Gesetze der Natur sucht und dadurch die Wissenschaft zusammenstellt. Man nimmt, sage ich, den Menschen, wie er ist, und der Mensch nimmt sich selber, wie er ist, um in diese Wissenschaftlich­keit einzudringen.

So ist es nicht in der Geisteswissenschaft. Die geistige Welt ist für den Menschen, so wie er unmittelbar dasteht, wie er sich nehmen muß auch in der übrigen Wissenschaft, zunächst eine verborgene Welt, eine Welt, die nicht da ist für die Sinne, die auch nicht da ist für den gewöhnlichen Verstandes- und Vernunftgebrauch, eine Welt, die hinter der Welt der Sinne liegt, obwohl das, was der Mensch in seinem tiefsten Wesen ist, dieser übersinnlichen Welt, wenn

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wir den Ausdruck gebrauchen dürfen, angehört. Der Mensch mit seiner Erkenntniskraft, wenn er sich so faßt, wie er ist, gehört selber dieser Sinneswelt und dieser Verstandeswelt an. Im tieferen Sinne gehört er der geistigen Welt an; aber er muß diesen tieferen Sinn erst entwickeln. Mit anderen Worten: so wahr es ist, daß sich der Mensch für die ge­wöhnliche Wissenschaft so nimmt, wie er ist, so wahr ist es, daß er sich für die Geisteswissenschaft, für die Erkenntnis des Geistes, erst umgestalten muß, damit er in die geistige Welt eindringen kann. Die Erkenntniskräfte, das Erkennt­nisvermögen für die geistige Welt muß erst ausgebildet werden; der Mensch muß sich erst umgestalten, damit in ihm das schlummernde Erkenntnisvermögen erwacht. Aber dieses schlummernde Erkenntnisvermögen ist in ihm, und er kann es zur Erweckung bringen. Das ist allerdings ein Gesichtspunkt, der nicht nur unbequem, sondern in vieler Beziehung für die Gegenwart unbegreiflich ist. Denn diese Gegenwart ist, wenn es sich um Fragen des höheren Lebens handelt, so sehr geneigt, zunächst die Frage aufzuwerfen:

was kann der Mensch erkennen? Und dann kommen man­che, die in den Denkgewohnheiten der Gegenwart leben, darauf - und mit Recht kommen sie darauf -: daß ja des Menschen Erkenntnisvermögen begrenzt ist und gar nicht in eine geistige Welt eindringen kann. Auf der einen Seite gibt es viele Menschen, welche sagen: eine solche geistige Welt mag es geben, aber das menschliche Erkenntnisvermö­gen ist nicht fähig, in sie einzudringen. Andere sind radi­kaler und sagen: niemandem zeigt sich eine geistige Welt, folglich gibt es keine. Das ist die Anschauung des Materia­lismus oder, wie man ihn heute nobler nennt, des Monis­mus.

Darüber kann gar kein Streit sein, daß der Mensch, so wie er ist, in die geistige Welt nicht eindringen kann, wenn er

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sie wissenschaftlich erfassen will, wenn er sie nicht durch einen bloßen Glauben erfassen will. Ein solcher bloßer Glaube genügt aber der Menschheit heute nicht mehr - und wird ihr immer weniger genügen, da die naturwissen­schaftliche Erziehung durch die letzten Jahrhunderte ge-flossen ist. Ein Erkenntnisvermögen für die geistige Welt muß aber in der Menschenseele erst herangezogen werden; es müssen erst die Bedingungen herangezogen werden, durch welche der Mensch in die geistige Welt eindringen kann.

Nun hat man, wenn man sich schon darauf einläßt, daß so etwas möglich ist, gewöhnlich dann die Vorstellung:

das müssen ganz besonders abnorme Kräfte sein! Das müs­sen Kräfte sein, welche durch abnorme Verhältnisse herbei­geführt werden, wodurch der Mensch in die geistige Welt eindringen soll. Auch das ist ein Mißverständnis. Um was es sich dabei handelt, das ist, daß die Erkenntnis, jene Kräfte der Seele, durch welche der Mensch in die geistige Welt eindringt, in der Menschenseele im Grunde genom­men vorhanden sind, daß sie in unserem gewöhnlichen all­täglichen Leben durchaus, insofern für dieses alltägliche Leben die Seele in Betracht kommt, auch die Seele beherr­schen; aber sie gehen gleichsam unter in diesem Alltags-leben, sie beherrschen untergeordnete Gebiete des Lebens, oder wenn sie wichtigere Gebiete beherrschen, so beherrschen sie dieselben in der Weise, daß man ihre Kräfte und ihren Einfluß nicht bemerkt. Was in der Seele immer vorhanden ist, was in keiner Seele fehlt, was aber im alltäglichen Leben nur in geringer Kraft und in geringem Maße vorhanden ist, das muß, zu einer gewissen Höhe und zu einer gewissen Stärke ausgebildet, Erkenntniskräfte für die Geisteswissen­schaft geben. Auf eine Eigenschaft der Seele sei aufmerksam gemacht - weil ich ja nicht im Abstrakten herumreden, sondern gleich ins Konkrete eindringen will - auf eine

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Eigenschaft, die jeder kennt, die eine Rolle spielt, die aber nur von ihrer geringen Höhe zu einer gewissen Intensität gebracht, eine Grundkraft für die Geisteswissenschaft gibt.

Jeder Mensch kennt das, was man nennt: die Aufmerk­samkeit der Seele auf irgend etwas richten. Wir müssen im Leben die Aufmerksamkeit der Seele, wir könnten auch sagen, unser Interesse, auf die verschiedensten Gegenstände richten; denn wir haben nötig, von diesen verschiedensten Gegenständen uns solche Vorstellungen zu machen, die uns bleiben, die in der Erinnerung bleiben und fortwährend unsere Seele beeinflussen. Welche Rolle Aufmerksamkeit oder Interesse im Menschenleben spielen, das wird der­jenige bemerken, der über die Güte oder die Schwäche des Gedächtnisses schon einmal nachgedacht hat. Diejenigen, die sich mit der Güte oder der Schwäche des Gedächtnisses befaßt haben, werden wissen, daß ein starkes, gutes Ge­dächtnis in vieler Beziehung eine Folge der Möglichkeit ist, auf die Dinge Aufmerksamkeit zu wenden, sie mit Inter­esse zu verfolgen. Etwas, worauf wir intensive Aufmerk­samkeit verwendet haben, etwas bei dem wir mit unserm vollem Interesse dabei waren, das gräbt sich in unserer Seele ein, das bewahrt sich in unserm seelischen Leben. Wer flüchtig an den Dingen vorbeigeht, wer sich nicht ergrei­fen läßt von den Dingen, der wird zu klagen haben über ein schwaches, unbrauchbares Gedächtnis. Aber noch in an­derer Beziehung ist das, was wir Aufmerksamkeit, Hin­wenden des Interesses auf die Dinge des Lebens nennen, für dieses menschliche Leben wichtig. Denn davon, daß wir die Dinge behalten, vorstellungsmäßig behalten, mit denen wir einmal in Verbindung gestanden haben, davon hängt das ab, was wir die innere Integrität des für uns notwen­digen Seelenlebens nennen können. Jeder, der sich mit dem Seelenleben befaßt hat, weiß, daß es für das gesunde Seelenleben

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notwendig ist, daß der Mensch den Zusammen­hang zwischen der Gegenwart und den vergangenen Erleb­nissen behält. Wer im umfänglichen Maße nicht wissen würde, wie sich sein Selbstbewußtsein, sein Ich, in den ver­gangenen Jahren verhalten hat, so daß er, rückschauend, nicht erkennen würde, daß er es erlebt hat, für wen das Ich immer eine neue Erfahrung wäre, der hätte kein gesundes Seelenleben. So führt zuletzt unser gesundes Seelenleben darauf zurück, daß wir imstande sind, Aufmerksamkeit auf die Dinge des Lebens zu wenden. Das ist also eine Grundkraft der Seele, die im Leben eine Rolle spielt, die immer da ist.

Nun könnte jemand sagen: Also erzählst du uns, indem du von Geisteswissenschaft berichten willst, von etwas ganz Alltäglichem und behauptest, daß diese Aufmerksamkeit weiter ausgebildet werden muß, zu einer besonderen Inten­sität gebracht werden muß?

Und doch ist es so! Was im Leben schwach sein darf, wenn es auch noch so stark wäre für das äußere Leben, was schwach sein darf gegenüber der Intensität, die es beim Geistesforscher annimmt, das ist gerade diese Auf­merksamkeit. Denn die Steigerung der Aufmerksamkeit ist etwas, was der Geistesforscher immer wieder und wieder üben muß, was er zu einer solchen Intensität bringen muß, gegen welche der Grad von Aufmerksamkeit, die man im gewöhnlichen Leben entwickelt, ein verschwindender ist. Man könnte sagen: Es könnte scheinen, daß es leicht wäre, den Boden der geisteswissenschaftlichen Forschung zu errei­chen, weil es sich nur um die Ausbildung von etwas han­delt, was im gewöhnlichen Leben immer vorhanden ist. Aber es gilt auch davon das von Goethe im «Faust» ge­brauchte Wort: «Zwar ist es leicht, doch ist das Leichte schwer.» Es gehören jahrelange, in Ausdauer verbrachte

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Übungen der Seele dazu, um die Seelenkraft zu entwickeln, die uns im gewöhnlichen Leben in geringem Maße als Auf­merksamkeit entgegentritt, und wir nennen in der Geistes­wissenschaft dieses gesteigerte Leben in Aufmerksamkeit Konzentration des geistigen Lebens. Wir nennen es Kon­zentration des geistigen Lebens, weil der menschliche Geist oder die menschliche Seele, so wie diese einmal sind, im Alltage ihre Kräfte über ein weites Gebiet ausbreiten, über ein Gebiet, das alles umfaßt, was die äußere Sinneswelt bietet und was der Verstand an diesen äußeren Sinnes­wahrnehmungen sich heranbildet. Verbreitet wird auch im gewöhnlichen Leben das, was seelische Kräfte sind, über alles, was der Mensch will, was er wünscht, worüber er in Affekte kommen kann und so weiter; kurz, das Seelen-leben ist zunächst zerstreut. Was bei dem, was der Geistes-forscher in sich ausbilden muß als eine Zubildung des gei­steswissenschaftlichen Apparates, die er sich auf geistigem Gebiet ebenso zubereiten muß, wie der Chemiker im Labo­ratorium auf materiellem Gebiete seine Apparate zube­reitet, was dabei geschehen muß, das ist, diese sonst über das Leben zerstreuten Seelenkräfte gleichsam in einem Punkte zu sammeln, die Aufmerksamkeit auf einen Punkt zu wenden. Auf was für einen Punkt? Auf einen selbst ge­wählten Punkt im inneren Erleben der Seele. Das heißt: der Geistesforscher hat sich irgendeine Vorstellung, irgendeinen Seelenimpuls, einen Empfindungs- oder Willensimpuls zu bilden und in den Mittelpunkt seines Seelenlebens zu stel­len. Am besten ist eine solche Vorstellung, ein solcher Im­puls, der zunächst nichts zu tun hat mit irgendeiner Außen­welt: ein Bild, ein Sinnbild.

Ein einfaches Beispiel sei gewählt: Nehmen wir den Satz, der zunächst keine äußere Wahrheit hat, aber darauf kommt es nicht an: Ich stelle mir vor, wie Licht - Licht

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eines Sternes, Licht der Sonne - mich trifft, und wie dieses Licht durch die Welt wellende Weisheit ist. Ein Sinnbild. Nun konzentriere ich meine gesamte Aufmerksamkeit auf dieses Sinnbild. Nicht darauf kommt es an, daß irgend etwas daran wahr ist, sondern daß alle Seelenkräfte in diesen einen Punkt zusammengezogen werden. Daher ist es notwendig, daß man als Vorbereitung das wählt, was in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» weiter besprochen worden und in seinenverschie­denen Methoden dargestellt ist; hier soll nur auf das Prin­zip einleitend hingedeutet werden. Dazu ist notwendig, daß man den starken Willen entwickelt, wirklich sein gan­zes Seelenleben auf diesen einen Punkt hin zu konzen­trieren. Das heißt aber, daß man imstande ist, künstlich das herbeizuführen, was sonst im Schlafzustande auf natur­gemäße Weise eintritt. Im Schlafzustande erschlaffen un­sere Sinne; die Welt hört auf, für uns sinnlich wahrnehmbar zu werden. Farben, Töne, Gerüche hören auf, auf uns Ein­drücke zu machen. Aber zugleich schwindet dabei unser Bewußtsein. Beim Geistesforscher muß es gerade das Be­wußtsein sein, das willkürlich alle äußeren Eindrücke zum Schweigen bringt, und doch muß zugleich das Bewußtsein voll erhalten werden. Auf gleiche Weise muß zum Still­stand gebracht werden, was gleich im Einschlafen zum Stillstand kommt: alles, was den Willensimpulsen entspricht, muß vollständig ruhig werden. Und auch alles, was sonst der Mensch aufbringt, um sich tatkräftig in die Welt hinein-zustellen, muß für den Geistesforscher vollständig ruhig werden. Er muß sein Bewußtsein von allem ablenken, worauf es sonst gerichtet ist, und muß den ganzen Umkreis der Seele nur auf den einen Punkt konzentrieren, den man sich selbst gewählt hat. Dann erstarken unsere Seelenkräfte. Und es erstarken gerade diejenigen Seelenkräfte, die sonst

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im alltäglichen Leben verborgen bleiben, und es tritt jetzt nach und nach etwas ein, was ich mit dem vergleichen möchte, was sich auf dem Gebiete des äußeren materiellen Lebens vollzieht, wenn der Chemiker zum Beispiel über das Wasser forscht. Für den Geistesforscher steht der Mensch da in der Welt, wie vor dem Chemiker das Wasser. Der Mensch ist für den Geistesforscher eine Verbindung, eine innige Durchdringung des Geistig-Seelischen mit dem Körperlich-Leiblichen, wie für den Chemiker das Wasser eine Durchdringung ist von Sauerstoff und Wasserstoff. Und ebensowenig wie der Chemiker jemals darauf kom­men könnte, was das Wasser ist, wenn er nur den Wasser­stoff untersuchen würde, ebensowenig kann man darauf kommen, was der Mensch in seinem Geiste oder seiner Seele ist, wenn man den Menschen nur in dem Leibesdasein betrachtet. Auf diesem Gebiete muß der Geistesforscher ebensowenig Furcht haben, für einen Dualisten gehalten zu werden, als der Chemiker auf seinem Gebiete Furcht haben darf, wenn er Wasser zerlegt in Wasserstoff und Sauerstoff. Man hat nicht mehr Recht, den Geistesforscher, weil er auf seinem Felde «geistige Chemie» treibt, einen Dualisten zu nennen, als man dazu beim Chemiker Recht hätte, weil er nicht gelten läßt, daß das Wasser eine Einheit ist, sondern aus Wasserstoff und Sauerstoff besteht, und wie er, um die Natur des Wassers kennenzulernen, den Wasserstoff von dem Sauerstoff abtrennen muß.

Mit denselben Mitteln, nur auf seinem Gebiete, arbeitet der Geistesforscher. Und was ich eben angedeutet habe: die Konzentration, die gesteigerte Aufmerksamkeit, das ruft die in der Menschenseele zwar vorhandenen, aber im alltäglichen Leben schlummernden Kräfte hervor, durch welche das Geistig-Seelische, das sonst mit dem Körperlich-Leiblichen in ungetrennter Verbindung ist, von diesem

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Leiblichen so herauszutrennen ist, wie der materielle Was­serstoff aus dem Wasser herausgetrennt wird beim chemi­schen Experiment. Und das ist es, was der Geistesforscher erlebt, wenn er diese Aufmerksamkeitssteigerung in energi­scher, in oft eben jahrelanger, hingebungsvoller Übung be­treibt: das tatsächlich dasjenige, was sonst überhaupt in sei­ner Wirklichkeit leicht angezweifelt werden kann, nämlich das Geistig-Seelische, für ihn unmittelbares Erlebnis wird, so daß es für ihn einen unmittelbar erlebten Sinn hat zusagen:

Ich erlebe mich unabhängig vom Leibe im Geistig-See­lischen; ich weiß jetzt erst, was das Geistig-Seelische ist, weil ich mich im Geistig-Seelischen erlebe! - Nicht so sehr, daß der Geistesforscher Erkenntnisse derselben Art, wie es die naturwissenschaftlichen sind, zu diesen hinzuzufügen hätte; sondern, obwohl seine Art des Forschens ganz im naturwissenschaftlichen Geiste, namentlich im Geiste des Wissens ist, so ist doch seine Forschungsmethode ganz an­ders geartet; und gerade weil sie den Wissensgesetzen treu bleiben will, muß sie eine andere Form annehmen als die unmittelbar auf das materielle Gebiet gerichteten naturwis­senschaftlichen Methoden. Der Geistesforscher erlangt auf diese Weise zum Beispiel ein Bewußtsein über das folgende.

In unserer Gegenwart wird man, und zwar mit einem gewissen vollen Recht, sagen: Nun, hat denn die Natur­wissenschaft, wenn auch nicht Beweise, so doch wenigstens die hypothetische Berechtigung geliefert der Ansicht, daß das menschliche Denken, wie es uns eben am Menschen ent­gegen tritt, eine Funktion oder ein Ergebnis des Gehirnes ist? Hier an diesem Punkte setzt zumeist alles dasjenige ein, was Gegner der Naturwissenschaft oder Anhänger der Geisteswissenschaft im nicht ganz modernen Sinne vor­bringen, nämlich nicht in dem Sinne, der hier als modern gemeint ist. Es gibt viele Menschen, die den Geist anerkennen

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möchten und deshalb von vornherein gegen eine solche Behauptung Stellung nehmen: das menschliche Den­ken sei an das Zentralnervensystem gebunden, sei ein Aus­fluß des Zentralnervensystems. Und viel wird an Polemik entwickelt gegenüber dem, was die Naturwissenschaft zwar nicht bewiesen hat, wovon sie aber glaubt, es als eine Hypothese hinstellen zu können: daß das menschliche Den­ken eine Funktion des Gehirnes sei; und bei vielen Men­schen wird gleich die Geisteswissenschaft für gefährdet gehalten, wenn man glaubt zugeben zu müssen, daß das menschliche Denken an das Gehirn gebunden ist, daß man ohne ein Zentralnervensystem ja doch nicht denken kann. Nicht einmal in diesem Punkte hat die Geisteswissenschaft den berechtigten Anforderungen der Naturwissenschaft zu widersprechen; denn wahr ist es, daß das Denken, wie wir es im gewöhnlichen Leben entwickeln, an das Zentral­nervensystem und an das übrige Nervensystem gebunden ist. Aber wahre Geisteswissenschaft lehrt uns erkennen, daß diejenige Formation, diejenige Gestaltung des Gehirnes, des Zentralnervensystemes, welche zum Denken im Alltag herbeigeführt werden muß, aus dem Geiste herausgeflossen ist, daß der Geist unsern Leib erst so aufbaut, daß dieser Leib das Werkzeug des Denkens werden kann. Geistes­wissenschaft steigt nicht bloß in das Denken hinab, sie behauptet nicht, daß das Denken, wie es uns im Alltage ent­gegentritt, ewig und unsterblich sei, sondern sie lehrt uns erkennen, daß dasjenige, was unsern Denkapparat auf­baut, unser wahres geistig seelisches Leben ist, dasjenige, was hinter unserm Denkapparat, was überhaupt hinter unserer Leiblichkeit lebt. Und die geisteswissenschaftlichen Methoden, wie sie angedeutet worden sind, führen zu die­sen wirkenden, schaffenden Kräften, die hinter allem Mate­riellem stehen.

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So dringt die geisteswissenschaftliche Methode, weil sie zugleich in dem drinnen sein muß, was sie vom Leibe ab­trennt, zu einer ganz anderen Art des Erlebens und zu einer ganz anderen Seelenverfassung vor, als die Art des Erlebens und der Seelenverfassung des gewöhnlichen Le­bens und auch der gewöhnlichen Wissenschaft sind. Nur eines sei gleich von vornherein angedeutet, weil ich eben in konkreten Tatsachen sprechen möchte. Was sich sonst in unserm Denken und Vorstellen äußert, und was im alltäg­lichen Leben an das Gehirn gebunden ist, das trennt sich durch die Konzentration, wie sie andeutungsweise geschil­dert worden ist, wirklich von dem Leiblichen ab; und der Geistesforscher kommt dazu, in sich zu erleben, wie er sich innerlich erkraftet, eben erlebbar fühlt, wie er außerhalb seines Zentralnervensystems ist, mit dem er sonst in allem Denken, Fühlen und Wollen verbunden ist, und daß wie ein anderer Gegenstand, dem man gegenübersteht, die eigene Leiblichkeit diesem geistig-seelischen Erleben gegen­übersteht. Mit anderen Worten: Wie man sich im gewöhn­lichen Leben innerhalb seines Leibes erlebt, so erlebt man sich, wenn man die geisteswissenschaftlichen Methoden auf sich selber anwendet, außerhalb seines Leibes. Man erlebt sich, wenn man besonders diese Konzentrationsmethoden des Denkens anwendet, außerhalb seines Gehirnes. Man weiß jetzt erst, wie das Gehirnwerkzeug ist. Denn ich erzähle Ihnen keine Märchen und keine Phantasiebilder, sondern etwas, was für den Geistesforscher erlebbar ist, indem ich sage: er fühlt, sich selber erlebend, wie sein Ge­hirn umkreisend, fühlt sich wie im Umkreise seines Gehir­nes. Er weiß, was es heißt, nicht so denken, wie man im gewöhnlichen Leben denkt, sondern denken bloß im gei­stig-seelischen Element und das Gehirn außerhalb dieses Elementes fühlen - ja, es sogar wie etwas fühlen, was

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Widerstand leistet, an dem man anstößt, wie man an einem äußeren Gegenstande anstößt. Ich habe auch hier schon ein­mal die Steigerung solcher Erlebnisse zu einem umfäng­licheren Erfahren geschildert, habe es auch geschildert in meiner kleinen Schrift «Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen».

Wenn der Geistesforscher seine Übungen fortsetzt und wirklich die Hingabe hat, nicht auf ein Bild sondern auf Hunderte und Hunderte von Bildern sein ganzes Seelen-leben zu konzentrieren, so daß sich die Kräfte selbst immer mehr und mehr steigern, dann kommt eben das, was ich in der eben genannten Schrift als ein erschütterndes Ereignis bezeichnet habe. Es tritt für den einen in der einen Form, für den anderen in einer andern Form ein, hat aber immer etwas Typisches. So wie ich es schildere, wird es sich für jeden ausnehmen können. Es kann der Mensch, sogar mitten im Alltagsleben, wenn er lange genug Übungen dazu ge­macht hat - und es wird ihn, wenn die Übungen richtig gemacht worden sind, das äußere Leben nie stören -, dazu kommen, sich zu sagen: Was ist es, was sich dir aus dem alltäglichen Vorstellen heraus offenbaren will? Es ist etwas, was auf dich eindringen will, aber auf dich eindringen will wie etwas, was sonst nur aus deiner eigenen Seele aufsteigt. Aber es kann auch eindringen wollen wie etwa ein Traum, wenn man aus dem Schlafe erwacht, was aber wieder un­endlich mehr ist als ein Traum, was hereintritt, und von dem man sich sagt: Was geschieht jetzt? Es geschieht etwas, was sich etwa wie ein in den Raum einschlagender Blitz ausnimmt, den man durch sich durchgehend fühlt. Und man kann sich sagen: Es ist, wie wenn dein Leib von dir abfällt und zerstört würde. Aber man weiß jetzt: Du kannst in dir drinnen sein, ohne in deinem Leibe zu sein!

Von diesem Augenblicke an - denn diesen Wert hat dieses

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Erlebnis, das es immer gegeben hat, wenn es auch eben in der äußeren Welt nicht bekanntgegeben worden ist - weiß man, wenn man es zum ersten Male erlebt, was die Geistes­forscher gemeint haben, die gesagt haben: Wer das Ewige im Menschen, das Geistig-Seelische, erlebt, der muß heran­treten an die Pforte des Todes. Man erlebt an sich selber den Tod im Bilde. Man erlebt im Bilde in der realen, nicht eingebildeten Imagination, was es heißt: Das Geistig-See­lische trennt sich ab vom Leibe und hat seinen Bestand, wie es sich abtrennt, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes schreitet. Wir werden über dieses alles noch zu spre­chen haben; heute will ich nur wie in einer Vorrede angeben, welches das Wesen des geistigen Lebens und der damit zu­sammenhängenden Geisteswissenschaft ist. - Ein Summe von inneren Erlebnissen tritt hervor, die zunächst dazu führen, zu wissen was es heißt, «geistige Chemie» treiben, was es heißt: «abtrennen das Geistig-Seelische von dem Leiblichen», um die Schicksale des Geistig-Seelischen zu er­forschen und um zu wissen, daß es eine wirkliche Abtren­nung des Geistigen vom Leiblichen gibt und ein selbstän­diges Leben des Geistes gegenüber dem Leibe. Sich also außerhalb seines Leiblichen zu wissen, das ist die Frucht der gesteigerten Aufmerksamkeit, der gesteigerten Konzentra­tion. Man merkt schon auf verhältnismäßig elementaren Stufen dieses Außer-dem-Leibe-Stehen insbesondere in be­zug auf das Zentralnervensystem. Wenn man sich fühlt wie denkend und vorstellend gleichsam hingezogen von der geistigen Welt sozusagen außerhalb seines Gehirnes, also seines Leibes, dann hat man ja, weil man zunächst im ge­wöhnlichen Leben als Erdenmensch darin steht, immer wie­der und wieder die Notwendigkeit, zum gewöhnlichen Vorstellen zurückzukehren und so zu denken, wie man im normalen Leben eben denkt. Aber man erlebt den Augenblick,

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wo man sich sagen muß: Du warst jetzt außerhalb deines Leibes; du mußt wieder zurückkehren in deinen Leib und das, was du außerhalb des Leibes erlebt hast, so gestal­ten, daß du dein Gehirn davon ergreifen läßt, daß die Ge­danken, welche du außerhalb des Leibes gehabt hast, Ge­himgedanken werden!

Dieses Sichhineinbegeben in das Gehirn erlebt man, und das ist mit etwas verknüpft, was gut vorbereitet sein muß, was aber gut vorbereitet sein kann, wenn man die Übungen durchgemacht hat, die in dem Buche «Wie erlangt man Er­kenntnisse der höheren Welten?» geschildert sind. Man weiß dann, indem man mit dem Denken in das Gehirn untertaucht, daß das Gehirn Widerstand leistet, und daß in der Tat der Denkprozeß des gewöhnlichen Lebens eine Zer­störung des Zentralnervensystems ist, echte Zerstörungs­prozesse, die aber wieder durch den Schlaf aufgehoben werden. Alles Denken ist im Grunde genommen ein Zer­setzungsprozeß, und der Schlaf gleicht immer wieder diesen Zersetzungsprozeß aus. Wenn man aber im geistigen Üben fortschreitet, so erlebt man sich untertauchend in einen Auf­lösungsprozeß; und das drückt sich, wenn man nicht die richtigen Gefühle in der Vorbereitung ausgebildet hat, darin aus, daß man Furcht hat, in den Organismus wieder unter­zutauchen. Der Mensch steht ja jetzt außerhalb des eigent­lichen Erdenleibes. Wie in einen Abgrund fühlt man sich untertauchen. Und man muß daher gerade solche Übungen machen, die einem Gelassenheit, die einem Affektlosigkeit gegenüber dem geben, was sonst als Angstlichkeit, als Furcht auftreten kann. Also eine gewisse Art der Seelenstimmung, der Seelenverfassung ist es, die in dem sich ausdrückt, was Erkenntniskraft, was Forschungsmethoden für die höheren Welten sind.

Noch etwas anderes muß hinzutreten, wenn wirkliche

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Kunde, wirkliche Offenbarung aus den geistigen Welten in die Menschenseele hereindringen soll. Eine andere Kraft muß bis zur höchsten Intensität gesteigert werden: die Hin­gabe, Liebe zu dem, was uns entgegentritt. Man hat ja diese Hingabe bis zu einem gewissen Grade im gewöhlichen Leben nötig. Aber diese Hingabe muß bei dem Wege in die gei­stigen Welten soweit gesteigert werden, daß der Mensch bis in seinen tiefsten Organismus hinein völlig verzichten, jede Regsamkeit unterdrücken lernt. Nach und nach gesteigerte Übung bringt es dazu, die willkürlichen Bewegungen, die aus der Ichheit des Menschen kommen, zu unterdrücken und sozusagen völlig hingegeben sein an den Strom des Daseins, dem vom uns hinströmt; aber nicht nur dies, sondern auch bis zu einem gewissen Grade das als etwas Außerliches zu empfinden, was unwillkürliche Bewegungen sind. Bis in die Gefäßorgane hinein lernt sich der Mensch bei diesen Übungen empfinden. Dann kann der Mensch von der gei­stigen Welt sagen: Du erlebst sie außerhalb deines Leibes; du wirst sie als eine gegliederte Welt erleben, in der Wesen­heiten auftreten - wie die Natumwelt, in der Natumwesen­heiten auftreten. Durch Konzentration, das heißt durch eine gesteigerte Aufmerksamkeit, und durch Meditation, das heißt durch eine gesteigerte Hingabe findet der Mensch den Weg in die geistige Welt, wie er den Weg in die Natur findet, wenn er sie mit den äußeren Augen und mit dem Verstande betrachtet. Dann allerdings, wenn der Mensch so durch einen Prozeß geistiger Chemie sein Geistig-Seelisches von dem Leiblichen abgetrennt hat, dann erfaßt er sich auch in seiner Unendlichkeit; dann erfaßt er sich in dem Dasein, das außerhalb von Geburt und Tod oder, wenn man will, von Empfängnis und Tod liegt. Dann erkennt er sich in dieser seinem ewigen Wesenheit so, daß er jene Entwicke­lungs-Idee, von dem in diesen Vorträgen noch oft gesprochen

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werden soll, ergreift, welche auf dem Gebiete des mensch­lichen Geisteslebens jener Entwickelungs-Idee entspricht, der die Naturwissenschaft auf ihrem Gebiete in dem neueren Zeit so viel verdankt: dann ergreift der Mensch die Idee dem wiederholten Erdenleben, die Tatsache, daß das volle Menschenleben besteht in wiederholten Erdenleben, zwischen welchen Leben in mein geistigen Welten liegen. Die Idee der Reinkarnation unterscheidet Leben im Leibe zwischen Ge­burt und Tod und Leben zwischen Tod und neuem Geburt in einem rein geistigen Dasein.

Alle diese Dinge werden, noch einmal sei es betont, in begreiflicherweise von denen, die in den naturwissenschaft­lichen Denkgewohnheiten festzustehen glauben, sehr leicht als Träumereien und Phantastemeien angesehen; und es wird ja in unserem heutigen Zeit durch die Forschungen über Traum, Hypnose, Suggestion, Auto-Suggestion und so wei­tem oft darauf hingedeutet, wie aus den Tiefen des unterbe­wußten Seelenlebens allerlei auftauchen kann, was in dem Menschen das täuschende Bewußtsein hervorrufen kann: Du erlebst etwas, was Bedeutung hat außerhalb deines leiblichen Lebens. Alle diese Dinge sind theoretische Einwände; sie wird derjenige nicht mehr machen, der tiefer in die Geistes­wissenschaft eindringt. Denn viele Einwände werden wir im Verlaufe dieser Vorträge erheben und werden zeigen, wie sich die Geisteswissenschaft dazu zu stellen hat. Nur auf ein Prinzipielles sei heute aufmerksam gemacht.

Es kann leicht gesagt werden: Wenn so dem Geistesforschem sein Geistig-Seelisches in seiner Selbständigkeit erlebt hat und dann wie in einem erweiterten Gedächtnis auf frühere Erdenleben oder auf sein letztes Emdenleben zurückzublicken meint, so kann das nichts anderes sein als seine umgestal­teten Wünsche, als sein Wunschesleben, das im Unterbe­wußten spielt und das hemaufschillert ins Tagesbewußtsein,

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wodurch er sich Täuschungen, Halluzinationen und so wei­ter bildet. - Es ist begreiflich, daß das ungebildete Denken in einem solchen Falle von selbstgebildeten Wünschen, von Illusionen, Halluzinationen und so weiter spricht; aber man weiß nicht, worum es sich handelt. Wer sein geistig-seelisches Leben von dem Leiblichen durch geistige Chemie losgetrennt hat, der merkt, wenn er ein solches Zurückblicken in ein früheres Erdenleben wirklich erlebt, daß es nicht ein umge­bildeter Wunsch oder etwas ist, was aus seinem Unterbe­wußtsein herauftauchen kann; denn es darf das Wort ge­braucht werden: Gewöhnlich ist das, was man im Geistigen erlebt, sehr verschieden von dem, was man sich träumen lassen kann. Es wird ja auf dem Gebiete, das hier als Gei­steswissenschaft bezeichnet wird, sehr viel Unfug getrieben. Auf keinem Gebiete ist Scharlatanerie so verbreitet, wie auf dem Gebiete der Geisteswissenschaft; und manchen, der in das hineingesehen hat, was Geisteswissenschaft ist, der einige von ihren Lehren aufgenommen hat und auch die Überzeugung gewonnen hat, daß diese Lehren wahr sind, den hört man sprechen: Der oder jenem hätte in einem frü­heren Leben dieses oder jenes erlebt, wäre in einem früheren Leben dieses oder jenes gewesen. Nun, man kann viel Unfug auf diesem Gebiete erleben. Gewöhnlich siebt man den Aus­sagen, die auf diesem Gebiete gemacht werden, sehr wohl an, daß sie gewissen menschlichen Wünschen entsprechen; denn was die Leute alles gewesen sein wollen, welche an­geben, wie ihre früheren Leben verflossen sind, das nimmt manchmal recht merkwürdige Gestaltungen an. Zumeist sind es recht berühmte, hervorragende Persönlichkeiten, die man ja nicht gerade durch die geisteswissenschaftliche For­schung, sondern auch durch die Geschichte kennen lernen kann! Wer aber in die geistigen Welten wirklich eindringt, dem stellen sich die Dinge ganz anders dar. Daher folgendes

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Beispiel: Jemand tut, nachdem er die geisteswissenschaft­lichen Methoden auf seine Seele angewendet hat, einen Blick in ein früheres Emdenleben, wie es möglich und sogar selbst­verständlich ist, wenn die geistesforscherischen Methoden bis zu einem gewissen Grade auf die Seele wirksam geworden sind; dann tritt das Bild früherer Erlebnisse in einem frühe-rem Erdenleben auf. Aber dabei wird man bemerken, daß diese Erlebnisse so sind, daß man im gegenwärtigen Augen­blick, wo man sie in der erweiterten Gedächtnisrückschau er­blickt, nichtsRechtes mit ihnen anzufangen weiß; außer dem, daß sie die Erkenntnis bereichern, wird man im gewöhn­lichen Leben nichts mit ihnen anfangen können. Man merkt, daß man in einem früheren Leben gewisse Geschicklichkei­ten, gewisse Kenntnisse und so weiter gehabt hat. Jetzt tritt einem das im Bilde entgegen. Man ist aber im gegenwärtigen Leben zu alt, um sich diese Geschicklichkeiten und Kennt­nisse wieder anzueignen. In der Regel wird das eintreten, was man sich nicht träumen läßt, was keine Phantasterei ersinnen kann; das wirkliche Leben ist in der Regel ganz anders als das phantastische Bild, das man sich vielleicht über ein früheres Erdenleben macht. Oder man merkt: in dem vergangenen Leben hattest du eine Beziehung zu dieser oder jener Persönlichkeit. Will man aber in dem Lebens­alter, wo man das entdeckt, die Konsequenz für das gegen­wärtige Leben ziehen, dann gestatten es die Lebensverhält­nisse nicht, und man ist dann auf das verwiesen, was man das geistige Ursachengesetz nennt. Man erkennt - aber man kann die Erkenntnis nicht auf das gegenwärtige Leben an­wenden. Man muß auch dabei ein hingebungsvolles Seelen-leben entwickeln und sich sagen: Was du einst als Beziehun­gen zu Personen entwickelt hast, das wird sich ausleben; aber du mußt warten, bis die geistigen Zusammenhänge die Ursachen aus früheren Erdenleben zu Wirkungen im gegenwärtigen

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bringen. Was nan sich erträumen möchte auf gei­stigem Gebiete, das tritt nicht ein, wenn die Erkenntnis eine wirkliche ist.

Wenn man in jenes Dasein, das zwischen dem Tode und einer neuen Geburt verfließt, wo man in einem mein geistigen Leben ist, hineinschaut, so hilft einem alles Nachdenken in Begriffen und so weiter nichts, um sich darüber Vdrstellun-gen zu machen, wie man in jener Zeit gelebt hat. Was man als die nächste Gestalt seiner Lebensaufgaben, seiner Inter­essen zunächst zu betrachten hat, wie die Art seiner Um­gebung ist, in die man dem äußeren materiellen Welt nach hineingewachsen ist, was man als Wünsche, Begierden, Af­fekte entwickelt hat, was die Vorstellungswelt für einen Charakter angenommen hat, das ist zumeist vollständig entgegengesetzt dem, was man in der geistigen Welt erlebt hat, bevor man zur jetzigen Verkörperung herabgestiegen ist. Was man da begehrt, gewünscht hat, das entspricht nicht den Wünschen im irdischen Leben. Nehmen wir dafür ein grobes Beispiel: Im Emdenleben kann man sehr leicht von irgend einem Schicksalsschlage schmerzlich berühmt werden. Dann kann man - ich habe in meinem letzten Schrift «Die Schwelle der geistigen Welt» darauf aufmerksam gemacht, wie die Dinge liegen, und wie die Einwände, die von mate­rialistischer Seite sehr leicht gemacht werden können, durch­aus nicht ausschlaggebend sind -, wenn man irgend etwas als schmerzlich empfindet, und wenn dieses als schmerzlich Empfundene keinem Wunsche, auch nicht einmal im Unter­bewußtsein, entspricht, so kann man sehr leicht glauben, daß in der geistigen Welt, wo man vorher war, unser ganzes Wunschesleben, unsere Stellung zur geistigen Welt ähnlich war, wie jetzt unsere Stellung dem Leben gegenüber ist. Das ist aber nicht der Fall. Das Empfinden in der geistigen Welt vor unserem Verkörperung ist ein durchgreifend anderes.

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Daher hat man sich vorzustellen, daß man selbst alles her­beigeführt hat, um diesen Schmerz zu erleben, der einen jetzt getroffen hat. Was man ganz gewiß nicht wünscht, ja, wovon man zugeben muß, daß man es im Erdenleben so wenig als möglich wünscht, von dem erfährt man, daß man es vor seinem Erdenleben selbst gewünscht und ersehnt hat, weil man durch das Erleben und durch das Sichher-ausarbeiten aus diesem Schmerz zur Vervollkommnung sei­nes Seelenlebens kommen kann. Denn die Schicksalsfrage wird durch die geisteswissenschaftliche Erkenntnis, wie wir noch sehen werden, zu einer Vemvollkommnungsfrage.

Wenn wir das geistige Leben in dieser Weise uns vor die Seele stellen, so erscheint es in der Tat dem gesteigerten Innenleben als eine geistige Umwelt, wie die natürliche Um­welt den Sinnen und dem Verstande erscheinen. Und vieles hat der Geistesforschem zu überwinden, damit er das, was er zu beobachten in der Lage ist, zum Range einer Wissen­schaft erheben kann. Denn nach der ganzen Amt, wie ich geschildert habe, können Sie sich vorstellen, daß die Erleb­nisse, die der Geistesforscher haben muß, die ihm die geistige Welt bekunden, erst errungen werden müssen. Sie werden so errungen, daß sie zuerst so schwach auftreten, daß die schwächsten, fast ganz verblaßten Erinnerungsbilder des gewöhnlichen Lebens manchmal gegenüber diesen Mani­festationen der geistigen Welt stark genannt werden müssen, und daß diese wie verblassende Erinnerungen - jetzt aber Erinnerungen aus der geistigen Welt - verstärkt und er­kraftet werden müssen. Diese Erstarkung tritt erst nach und nach im fortgesetzten Sichhineinleben und Sichhineinüben in die geistigen Verhältnisse auf. Dieses Erstarken, dieses Erkraften des Seelenlebens ist die Grundbedingung für die geistige Forschung. Dann muß aber noch etwas anderes hinzukommen.

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Wir werden im Verlaufe der Vorträge sehen, wie es un­begründet ist, aber begreiflicherweise leicht geschehen kann, daß der materialistische Denker sagt: Was so durch Kon­zentration, durch Hingabe des Seelenlebens, durch Medita­tion erreicht wird, das unterscheidet sich ja gar nicht von den Illusionen und Halluzinationen eines krankhaften See­lenlebens. Man kann sagen, wenn man die Dinge äußerlich betrachtet, daß das, was der Geistesforscher erlebt, sich nicht davon unterscheidet. Man kann sogar sagen: Wenn der Gei­stesforscher diese Dinge beschreibt, dann ist es ja wirklich so, wie wenn ein Träumer seine Träume beschreibt. In den Träumen, die der Träumer beschreibt, spricht sich etwas aus, was auch in der äußeren Welt erlebt wird: Reminiszenzen an die äußere Welt sprechen sich darin aus. Und man kann daher in einem gewissen Sinne sagen: Was der Geistesfor­schem als sein Geistig-Seelisches abtrennt von dem Leiblichen und als Wesen einer Bilderwelt vom seine Seele hinstellt, das ist, wenn er es beschreibt, doch so, daß die Eigenschaften dem Bilder hergenommen sind von den Eigenschaften der Wesen der äußeren Welt. Wer sich das ansieht, was in meiner «Ge­heimwissenschaft im Umriß» steht, wird, wenn er durchaus will, sagen können: Was du da beschreibst von Dingen, die nur in den übersinnlichen Welten für eine Geisteswissen­schaft zu erreichen sind, das sind Dinge, die man auch in dem äußeren Welt erfährt, wenn auch nicht so zusammengestellt. Man kann es in gewisser Weise sagen, obwohl die Ein­wände, die heute von manchem Seite gegen das erhoben werden, was die Geisteswissenschaft sagt, etwas naiv sind. Wenn jemand zum Beispiel sagt: Was in einem solchen Schrift, wie der «Geheimwissenschaft», steht, das sei wie durch eine Amt gepreßten inneren Erlebens phantastisch zusammenge­stellt, und es sei eine solche Darstellung eigentlich Phan­tastik und keine Wirklichkeit, so merkt man sehr bald, wes

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Geistes Kind solche Logik ist. Denn wenn man näher darauf eingeht, wird man merken, daß es dieselbe Logik ist, wie wenn ein Kind, welches bisher nur einen hölzernen Löwen gesehen hat, nun sagt, wenn es einmal einen wirklichen Lö­wen sieht: Das ist kein wirklichem Löwe, denn der wirkliche ist ja von Holz. So machen es oft die Gegner der Geistes­wissenschaft. Weil sie die Dinge nicht richtig kennen, werfen sie dem Geisteswissenschaftlem vor, daß sie nicht so sind, wie die Dinge, die sie aus dem gewöhnlichen Leben her kennen. Aber man kann einwenden, daß die Schilderungen des Geistesfomschers Reminiszenzen aus dem gewöhnlichen Le­ben sind. Dieser Einwand ist aber ebenso viel wert wie etwa der Einwand jenes Kindes, oder wie dem Einwand eines Menschen, der nicht lesen kann, und dem sagt: Was ich da vor mir sehe, das sind allerlei Formen; da sehe ich etwas, das hat einen Strich von links unten nach rechts oben, dann einen Strich von links oben nach rechts unten und dann einen Querstrich! - wogegen derjenige, welcher lesen kann, dieses als ein A empfindet.

Das ist es nicht, was man so unmittelbar erreicht und schaut, was von der Beobachtung dem geistigen Welt aus in die Sinneswelt überzugehen hat; sondern das ist es, daß man lesen lernt an demjenigen, was man schaut. Denn das Geschaute muß erst in der richtigen Weise gelesen werden. Aber man lernt dieses Lesen gleichzeitig in dem Üben, durch das man sich in die geistige Welt hineinfindet. Und wenn jemand in den Schilderungen dem Geisteswissenschaft nur Reminiszenzen aus dem gewöhnlichen Welt sieht und sagt: Das sind, wenn so von früheren Erdenleben ge­sprochen wird, doch nur Begriffe, welche sich sonst im Leben auch finden, nur nicht so gruppiert, - so gleicht ein solcher einem Menschen, der einen Brief anschaut und zu einem anderen sagt: Du willst daraus etwas Neues erfahren?

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Ich weiß aber schon alles, was darin steht; denn es stehen nur alle Buchstaben darin, die ich schon kenne, gar nichts Neues! Genau so ist es, wenn gesagt wird: Was der Geistesforschem schildert, das sind doch nur Reminiszenzen aus der Sinneswelt! Aber auf das kommt es bei diesen Schilderungen an, was dahinter ist als Wesenhaftes, was sich da offenbart.

So ist die Geisteswissenschaft dasjenige, was beim Geistes­forschem als Resultat dem Erlebnisse auftritt, die er hat. Und das ist das Schwierige, das heute noch so Mißverstandene, das mit den heute gesetzten Zielen des Lebens scheinbar so wenig Übereinstimmende der Geisteswissenschaft, daß dem Geistesforscher bei dem, was für ihn Erfahrung, Beobach­tung wird, immer dabei sein muß, immer bei allem darin­nen sein muß, daß er zwar nicht seinen Leib, sondern seine Seele zu Markte trägt, wenn er von den Verhältnissen in der geistigen Welt spricht, wenn er wirkliche Geisteswissen­schaft vertritt. Während die gewöhnliche Welt den Men­schen absondert, wenn er etwas von dem «Objektiven» erkennen soll, muß der geisteswissenschaftliche Forscher in das untertauchen, worauf sich seine Wissenschaft bezieht, muß mit ihm eins werden. Das sieht man aber heute nur als bloßes «subjektives» Erlebnis an. Man merkt nicht, daß die angedeuteten Methoden das geistig-seelische Leben un­abhängig von allem machen, was wir subjektiv erleben. Denn wenn wir es noch so sehr erleben, und wenn es noch so sehr «Mystik» genannt wird: was wir subjektiv erleben, das wird im Leibe erlebt; was der Geistesforscher erlebt, wird außer dem Leibe erlebt, kann aber im Leibe ein­gesehen werden von der im Leibe funktionierenden Ver­nunft, von dem gewöhnlichen Verstande. Denn auch jener Einwand ist nicht berechtigt, daß derjenige, welchem von den geistigen Welten Kenntnis haben will, selbst Geistesforschem

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sein müsse. Zum Kennenlernen, zum Auffinden und Erforschen der geistigen Tatsachen und Wesenheiten muß man Geistesforschem sein, nicht aber zum Aufnehmen, zum Begreifen geisteswissenschaftlicher Mitteilungen. Dazu genügt, daß man sie mit gesundem Menschenverstand und gesundem Sinn aufzunehmen weiß, wie man das aufnimmt, was die Chemiker oder Physiker durch ihre Methoden finden.

Wenn man in dieser Weise die Geistesforschung ins Auge faßt, dann wird sie als das erscheinen, in das die Natur­wissenschaft gewissermaßen einlaufen muß, zu dem sich die Naturwissenschaft erheben muß. Wie die Naturwissen­schaft der Menschheit materielle Ziele gewiesen hat, wie sie das materielle Leben nicht nur auf vielen Gebieten, son­dern radikal umgestaltet hat, so wird die Geisteswissen­schaft das, was seelisch-geistiges Erleben der Menschheit sein muß, befruchten und so umgestalten, wie es den Zielen der Gegenwart und der Zukunft der Menschheitsentwicke­lung angemessen ist. Von diesen Zielen der Menschheits­entwickelung, wie sie sich hier schon offenbaren, wenn auch nicht klar erkennbar - klar erkennbar offenbaren werden sie sich der Geisteswissenschaft -, darf gesagt werden, was ein Mann dem Gegenwart gesagt hat, der eine große Rolle in der Gegenwart spielt, nämlich was Wilson, der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, in bezug auf etwas mehr Außerliches gesagt hat, das aber von den Zielen der Geisteswissenschaft ganz allgemein gilt. Wilson spricht in dem kürzlich von ihm erschienenen Buche von den Refor­men, die er erlebt hat - ich wähle gerade dieses Beispiel, um gewissermaßen keinem wehe zu tun oder Anstoß zu erregen, der nicht erregt werden soll; denn Geisteswissen­schaft soll nicht zum Streit, sondern zum Frieden der Men­schen beitragen - er sagt, daß sich das äußerliche materielle Leben vollständig umgestaltet hat, daß anstelle des alten

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patriarchalischen Verhältnisses zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ganz andere Verhältnisse eingetreten sind. Korporationen von Arbeitnehmern treten so den Arbeit­gebern gegenüber, daß das, was die früheren Verhältnisse waren zwischen den Faktoren des Lebens, sich völlig um­gestaltet hat. Daß es so gekommen ist, das ist eine Folge des modernen Lebens; das ist vor allem für den, der die Sache richtig einsieht, eine Folge des Natumerkennens dem gegenwärtigen Menschheit. Aber nun sagt Wilson: was man als Formen des gesetzmäßigen Zusammenlebens habe, ent­spräche noch vielfach dem, was in früheren Zeiten Platz gegriffen hat, was man für richtig befunden hat, als der einzelne Arbeiter seinem Arbeitgeber in einem patriarcha­lischen Verhältnisse gegenüberstand. Und Wilson fordert nun, daß Harmonie geschaffen werden sollte zwischen dem gesetzmäßigen Zusammenleben der heutigen Menschen und dem, was die Kultur geschaffen hat. Darin gipfelt vieles in der außerordentlich interessanten Literatur des amerika­nischen Präsidenten. Was er für mehr äußerliche Verhält­nisse sagt, das kann mit Bezug auf das Innerlichste der Ziele der Gegenwart, für das ganze seelische menschliche Erleben heute gesagt werden. Man möchte, wenn man so etwas im Zusammenhange mit den geistigen Zielen der Gegenwart bedenkt, an Denker erinnern, welche ganz an­deren Zeiten der menschlichen Entwickelung angehörten: an Archimedes, den Begründer der Mechanik, und an Plato, den großen griechischen Philosophen. Sie waren der Mei­nung und haben es auch ausgesprochen, daß die Anwen­dung der Wissenschaft auf die Technik des Lebens dem menschlichen Geiste sogar Abbruch tue, ihn schwäche. Man kann es begreifen, daß hervorragende Geister anderem Zei­ten diese Meinung gehabt haben; aber nach solchen Mei­nungen richtet sich der Weltengang ebensowenig wie nach

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dem, was man heute zwar weniger glaubt, was aber Leute geglaubt haben, als die erste Eisenbahn in Deutschland ge­baut werden sollte. Damals sollte ein sehr gelehrtes Kolle­gium, das bayrische Medizinalkollegium, ein Sachvemstän­digenumteil darüber abgeben, ob man Eisenbahnen bauen solle oder nicht. Und dieses Kollegium gab sein Urteil dahin ab: Man solle keine Eisenbahnen bauen, denn wenn man welche bauen würde so würden die Menschen, die darin fahren würden, sehr an ihrem Nervensystem ge­schädigt werden; wenn es aber schon so kommen sollte, daß Menschen in Eisenbahnen fahren würden, so müßte man wenigstens links und rechts hohe Brettemwände errichten, damit die in der Nähe wohnenden Menschen nicht im An­sehen und Anhören der vorüberfahmenden Züge geschädigt würden. - Heute lächelt vielleicht mancher über das, was damals ein sachverständiges Medizinalkollegium gemeint hat. Aber wenn man auch darüber lächelt, man kann es sogar begründet finden. Denn man kann weder für noch gegen Stellung nehmen und kann sagen: wenn auch das bayrische Medizinalkollegium sich die Sache phantastisch vergrößert hat, so ist es doch für den, dem die Geschichte nicht nur äußerlich, sondern innerlich kennt, wahr gewor­den, was es angenommen hatte, und man kann sagen: dieses Kollegium hat einen guten Blick gehabt. Man hat aber trotzdem nicht nötig, dagegen Stellung zu nehmen. Warum nicht? Weil die Geschichte ihrerseits dazu Stellung nimmt! Und gleichgültig, wie die einzelnen Menschen darüber den­ken mögen: dem Gang dem Weltentwickelung geht weiter, und der Mensch hat sich dem Gang dem Entwickelung an­zupassen. Das ist ja auch die Forderung, welche Wilson aufstellt: der Gang der Entwickelung hat gewisse Kultur-vorgänge gebracht, und der Mensch hat sich dem an­zupassen.

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Erweitert man dies auf die Seelenvemhältnisse, so kann man sagen: In dem, was aus dem Gange der Zeiten den Seelen erflossen ist, haben sich Ziele ergeben, die unendlich komplizierter waren, als diejenigen der vergangenen Zeiten. Für die Außenwelt kann man sich diesen Umschwung leicht ausmalen; aber auch für das, was die Seele braucht zu ihrem unmittelbaren Tagesbedarf, hat sich das Leben geändert. Wer glauben würde, daß man mit den Seelenkräften, die in berechtigter Art früher den Menschen in die Geistes-welten hinaufgelenkt haben, dies heute noch in gleicher Weise tun könnte, dem berücksichtigt nicht, was sich im Wel-tengange vollzieht: er berücksichtigt nicht, daß wir nicht nur vier Jahrhunderte der Naturwissenschaft hinter uns haben, sondern, was mehr ist, vier Jahrhunderte natur-wissenschaftlichem Erziehung, und daß es heute notwendig geworden ist die Ergebnisse der Geisteswissenschaft in die Herzen und Seelen hineinzutragen. Und wenn es auch den Einzelheiten entsprechen mag, daß dem Gang der Welt­geschichte dies nicht immer gestattet, so muß man doch sagen: Wenn heute jemand gegen das, was die Geisteswissen­schaft sein will, etwas einwendet, sei es vom Standpunkte des von ihm vermeintlich gefährdet geglaubten religiösen Bekenntnisses, oder sei es von irgendeinem anderen Stand­punkte aus, dann könnte es sein, daß er in einer nicht so fernen Weise dem bayrischen Medizinalkollegium gliche, welches Bretterwände neben den Eisenbahnen aufrichten wollte, damit die in der Nähe wohnenden Menschen nicht geschädigt würden: dem Gang der Entwickelung ginge über ihn hinweg. Dem Menschen ist es aber nicht gegeben, sich zu den Zielen der Weltentwickelung so zu stellen, daß er sie sich selbst überläßt, sondern ihm ist die Kraft gegeben, an der Gestaltung und an dem Bau der Verhältnisse mitzuwir­ken. Das aber, was im äußeren Leben und aus dem äußeren

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Leben heraus als Anforderungen an die Menschenseele herantritt, was sich als äußere Ziele zeigt, das fordert innere Ziele dem Seele. Und die inneren Ziele dem Seele sind die Ziele der Geisteswissenschaft, sind die Ziele, nach denen die Seele strebt, wenn sie weiß: Die Naturwissenschaft hat das äußere Weltbild umgestaltet, den Leib dem Kultur. Die Kultur aber braucht eine Seele. Und diese Seele soll die Schöpfung dem Geisteswissenschaft sein. Den Leib dem Kul­tur zu durchdringen mit Seele und Geist, das ist das Ziel dem Geisteswissenschaft. Und wenn dieses Ziel dem Geistes­wissenschaft so gefaßt wird, dann wird leicht einzusehen sein, daß dem Geistesforscher mit Ruhe alles das betrachten kann, was sich heute noch als Widerspruch, Gegnerschaft und Mißverständnis gegen diese Geisteswissenschaft auf­tut. Die Lebensverhältnisse, die der Gang der Menschheits­entwickelung uns zeitigt, fordern eine solche Wissensart von dem geistigen Welt, in welcher sich die Seele stark fühlt, so stark fühlt, daß sie für ihr Wesen nicht nur aus dem Kräfte zieht, was die Sinneswelt gibt, sondern aus dem, was eine Erkenntnis der geistigen Welt geben kann. Immer mehr wird man erkennen: Für das moderne Leben braucht die Seele Kräfte, welche ihm nicht nur aus der Erkenntnis des Sinnenseins zufließen, sondern aus der Erkenntnis des geistigen Seins, in welchem die Seele doch ihre wahre Hei­mat hat. Mit diesen starken Kräften wird sich die Seele wie mit einem Lebenselixier durchdringen, wird den Sinn ihres Wesens hinausgehend fühlen über Geburt und Tod, wird in sich jene Eigenschaft der Seele erleben, welche man mit dem Worte «Unsterblichkeit» bezeichnet, und wird sich so, mit dem Lebenselixier als Lebensblut durchflossen, den Aufgaben gewachsen zeigen, welche die Gegenwart und die Zukunft der Menschheitsgeschichte an sie stellen müssen.

Nur mit einigen Worten wollte ich über die Gegenwart

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und Zukunft dem Menschenseele sprechen. Alle weiteren Ausführungen werden in den folgenden, einzelnen Vor­trägen gegeben werden. Nur ein Gefühl von dem, was dem Geistesforschem in sich trägt, habe ich in dem heutigen Vor­rede hervorrufen wollen, ein Gefühl, das bei ihm aus einer Art Verständnis für den Sinn des gegenwärtigen Lebens und seiner Bedürfnisse erfließt. Vom Standpunkte der Geisteswissenschaft aus so zu sprechen, wie ich es gern in diesen Vorträgen tun möchte, kann ja nur unter zwei Vor­aussetzungen geschehen. Was dem Geistesforscher aus der wirklichen geistigen Forschung heraus mitzuteilen hat, das weicht zunächst, obwohl es die unmittelbare Konsequenz der Menschheitsentwickelung der letzten Jahrhunderte ist, von dem, was heute vielfach geglaubt und für richtig an­geschaut wird, so ab, daß der, welchem dieses Geisteswissen­schaftliche behauptet, entweder gegenüber diesem geistigen Leben Scharlatan, Unsinnredner, frivoler Mensch sein muß

- oder aber, daß er die Möglichkeit haben muß, in sich zu wissen, daß Wahrheit ist, was er zu sagen hat. Es mag die verschiedensten Nuancen diesem zwei Extreme geben; aber Zwischenstufen sind fast nicht da. Mit diesem Bewußtsein, daß man als das eine oder das andere angesehen werden kann, spricht man ja ohnehin als Geistesforscher. Aber die Geistesforschung selber, wir haben es gesehen, ist etwas, womit der Mensch so verknüpft ist, daß er in ihr seine Seele zu Markte trägt, wenn er wirklicher Geistesforschem ist; und da er einmal so seine Seele zu Markte trägt, so weiß er auch die eine oder die andere Urteilsweise zu ertragen, die man über ihn haben kann. Und wer in dieser Geisteswissen­schaft drinnen steht, der kann das Bewußtsein, die Kraft, über diese Geistesforschung zu sprechen, ja doch nur da­durch entwickeln, daß er auf der einen Seite durch sein Zusammensein mit den geistigen Wahrheiten ihre Erkenntniskraft

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und ihre Wahrheitskraft zu ermessen weiß und aus diesem Bewußtsein der Wahrheits- und Erkenntniskraft heraus auch standzuhalten weiß den Mißverständnissen oder bewußt falschen Anschuldigungen, die gegen die Gei­steswissenschaft vorgebracht werden. Auf der anderen Seite aber führt die Geisteswissenschaft auch in das unmittelbare geistige Leben, wie auch in das geistige Leben der Zeit und lehrt den Geistesforschem, mag seine Neigung, seine Sym­pathie vielleicht auch nach anderen Zielen als nach der Vertretung dieser Geisteswissenschaft gehen, wie diese Ver­tretung dem Geisteswissenschaft in unserer Zeit eine Not­wendigkeit ist. Wenn auch diese Notwendigkeit geistiger Erkenntnis von den eigenen Zeitgenossen nicht oft klar aus­gesprochen wird: als dunkles Bedürfnis nach den Erkennt­nissen des Geistes ist es vorhanden. In den Tiefen dem Seelen merkt man heute den Schrei nach geistiger Erkennt­nis, wenn auch oftmals dem bewußten Denken unserem Mitmenschen diesem Schrei selbst nicht vernehmlich ist; denn unsere Zeit bedarf der Erkenntnis des Geistes. Und alle andere Wissenschaft, die sonst unserer Zeit angemessen ist, würde diesen Geist dämpfen, würde diesen Geist aus den Seelen auslöschen, wie er auch von anderen Strömun­gen des Geisteslebens her wirkt, wenn die Geisteswissen­schaft ihn nicht anfacht. Die Geistesforschung weiß, daß die menschliche Seele den Geist braucht, und sie hofft daher, daß es zu den Zielen dem Menschheitsentwickelung in der Zukunft gehören wird, diesen Geist zu pflegen.

Wir haben gesehen, daß sich die Menschenseele umgestal­ten muß, wenn sie den Geist erreichen will. Daraus ist ersichtlich, daß es bequemer ist den Geist zu lassen, wo er ist, und sich nicht um ihn zu kümmern, als in der Seele das­jenige zu unternehmen, was zum Geiste führt. Bequemer ist es aber auch mit dem, was einem gesunden Menschenvemstande

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und einem gesunden Wahrheitsgefühle sich ergibt, einfach die materiellen Zusammenhänge dem Natur ein­zusehen, als einen schärferen Verstand zu entwickeln und den zu verwenden, um das einzusehen, was die Geistes­wissenschaft sagt. Bequemer lebt es sich ohne den Geist. Aber dem Geist hat eine Eigenschaft, die Eigenschaft, daß er, wenn man ohne ihn leben will, ebensoviel Schaden bringt, wie er an Frucht und Nutzen bringt, wenn man mit ihm leben will. Wenn man mit ihm leben will, belebt er die Seele, durchwämmt sie mit Lebensmut, durchdringt sie mit all den Geschicklichkeiten, die wir zum Leben brau­chen. Wenn man ihn verleugnen will, dann zieht er sich zurück und dämpft und ertötet das seelische Leben in dem­selben Maße, als dieses nichts von ihm wissen will. Wenn man ihn verleugnen will, dann nimmt er nach und nach ebensoviel von Lebensmut - und gibt dagegen Lebensver­zweiflung, Lebensunmut und Angstlichkeit, als er an Lebens-frucht verleiht, wenn man sich zu ihm bekennt. Man kann den Geist zwar ableugnen, man kann ihn aber nicht ver­nichten. Leugnet man ihn ab, dann zeigt er sich wie in sei­nem Gegenbilde im Innern der Seele - und verlangt in dem Menschenseele selber nach sich. Das fühlt der Geistes­forschem, der von der Geisteswissenschaft als einem Ziele dem Gegenwart spricht. Deshalb baut er darauf - was auch noch heute gegen diese Geisteswissenschaft sprechen mag -:

Sie wird sich einleben, weil die Menschheit zwar die Augen zumachen kann vom dem Geiste, aber seine Wirkungsweise nicht verhindern kann. Diese Wirkungsweise verwandelt sich aber zuletzt in die Forderung, diesem Geist ins Auge zu schauen. Das ist es, was ich, in ein kurzes Wort die Emp­findungen zusammenfassend, die dem heutige Vortrag ent­falten sollte, in der folgenden Weise ausdrücken möchte.

Dem Geist kann verleugnet werden; denn es ist bequemer,

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viel bequemer, ohne den Geist die Welt begreifen und in ihr leben zu wollen, als mit dem Geist. Aber den Forderun­gen des Geistes kann mit seinem Vemleugnung nicht wider­standen werden. Daher wird das, was die Geisteswissen­schaft als ein Lebenselixier dem Kultur einverleiben will, dieser Kultur durch die eigene Kraft einverleibt werden. Denn die Menschenseele verleugnet oft den Geist; sie wird ihn aber stets aus ihrem innersten Natur, aus ihren tiefsten Zielen heraus fordern müssen!

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THEOSOPHIE UND ANTISOPHIE Berlin, 6. November 1913

Bereits vor acht Tagen, als ich hier die Art dem geistes-wissenschaftlichen Forschung und ihre Beziehung zum gei­stigen Welt auseinanderzusetzen versuchte, gestattete ich mir darauf aufmerksam zu machen, wie es gerade den­jenigen, welcher in diesem Geisteswissenschaft darinnensteht, welchem in einem gewissen Beziehung seine Lebensziele in ihm erkennt, durchaus nicht überrascht, wenn diese Geistes­wissenschaft von den verschiedensten Gesichtspunkten der Gegenwart aus die mannigfachste Gegnerschaft, Mißver­ständnis und so weiter findet. Nun werde ich es durchaus nicht als meine Aufgabe betrachten, in eine ja wenig frucht­bare Darlegung einzelner Gegnerschaften oder einzelner Gesichtspunkte einzutreten, von denen aus solche Mißver­ständnisse und Gegnerschaften erwachsen; denn es gibt einen anderen Standpunkt, den man diesem Sache gegenüber ein­nehmen kann. Das ist der, zu versuchen, einmal die Wur­zeln einem jeden möglichen Gegnerschaft gegen die Geistes­wissenschaft aufzudecken. Versteht man diese Wurzeln, dann wird auch mancherlei einzelnes von Gegnerschaft erklärlich.

Nun möchte ich dasjenige, was ich mir nun schon seit Jahren von diesem Orte aus als Geisteswissenschaft vor­zutragen gestatte, durchaus nicht als einerlei erklären mit dem, was von diesem oder jener Seite her «Theosophie» genannt wird. Denn was heute zuweilen Theosophie ge­nannt wird, bietet wenig Anreiz, um sich mit ihm irgend­wie einverstanden zu erklären. Aber nicht vom Standpunkte

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zeitgenössischer Vorurteile aus, nicht vom Standpunkte irgendwelcher ehrgeiziger Aspimationen aus, die den Namen Theosophie okkupiemen, sondern von einem berechtigten Gesichtspunkte aus kann die hier vertretene Geisteswissen­schaft theosophisch genannt werden. Und damit rechtfertigt sich das Thema des heutigen Abends, welches das Verhält­nis besprechen will zwischen der Theosophie und dem­jenigen, was in dem menschlichen Natur selber sich, ich möchte sagen, gegen diese Theosophie aufbäumt, was man als eine Stimmung in der Menschenseele bezeichnen könnte, die nur allzuleicht vorhanden ist, und die aus Leidenschaft, aus Affekt, oftmals aber auch aus einem bestimmten Glau­ben heraus sich gegen Theosophie wenden zu müssen denkt, und die hier bezeichnet werden soll als Antisophie.

Wenn Sie ins Auge fassen, was heute vor acht Tagen gesagt worden ist, so werden Sie sich erinnern, wie darauf aufmerksam gemacht worden ist, daß Geisteswissenschaft oder, wollen wir heute sagen, weil eben Geisteswissenschaft als theosophisch aufgefaßt werden soll, daß Theosophie zu ihren Erkenntnissen kommt, wenn die Menschenseele nicht einfach dort stehen bleibt, wo sie im alltäglichen Leben steht, sondern wenn diese Menschenseele durch ihren eigenen Antrieb, durch ihre eigene Tätigkeit in sich selber eine Entwickelung durchmacht. Und diese Entwickelung kann durchgemacht werden. Aus den Andeutungen, die im ersten Vortrage dieses Winters gemacht worden sind, haben wir gesehen, daß die Menschenseele durch eine solche Entwickelung zu einer ganz anderen inneren Verfassung kommt, als sie dem alltäglichen Leben gegenüber ist, daß die Art ihres Sich-Erfühlens, die Art ihres Sich-Hinein­stellens in die Welt eine ganz andere wird, als sie im All - tage ist. Es wird gleichsam in der Menschenseele durch die hier gemeinte Entwickelung etwas geboren, was wie ein

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höheres Selbst in dem gewöhnlichen Selbst ist, ein höheres Selbst, welches, um das Fichte'sche Wort zu gebrauchen, mit höheren Sinnen ausgestattet ist, mit Sinnen, welche eine wirkliche geistige Welt wahrnehmen, wie die Seele mit Hilfe der äußeren Sinne die natürliche physische Welt wahrnimmt. Darauf beruht alles bei der theosophischen Erkenntnis, daß diese Erkenntnis nicht durch die gewöhn­liche Seelenvemfassung gesucht werde, sondern durch eine erst zu entwickelnde Seelenverfassung. Man sieht aber gleich, daß eine gewisse Voraussetzung dem eben Gesagten zugrunde liegt, eine Voraussetzung, die allerdings für den­jenigen keine große Voraussetzung bleibt, der den in der Schilderung dieser Entwickelung angedeuteten Weg wirk­lich macht. Was eine Voraussetzung scheint, das wird für ihn ein wirkliches Erlebnis, eine erfahrene Tatsache. Vor­aussetzung scheint das, was im Grunde genommen, soviel man auch dagegen einwenden mag und soviel dagegen ein-gewendet wird, doch in jedem Menschenseele als Sehnsucht lebt; Voraussetzung scheint es, daß der Mensch, wenn er nur tief genug in seine Seele hinuntersteigt, in dieser Seele etwas findet, was ihn zusammenbindet mit dem göttlich-geistigen Weltengrunde des Daseins. Den Punkt im eigenen Selbst zu finden, wo die selbstbewußte Seele in dem gött­lich-geistigen Weltengrunde wurzelt, das ist doch das Ziel, die Sehnsucht jeder Menschenseele. Und zu diesem Ziele, zu dieser Sehnsucht bekennt sich vollbewußt alles das, was sich Theosophie nennt, oder wenigstens zu nennen berech­tigt ist. Demgemäß wäre «Antisophie» sehr leicht in eine Idee, in einen Begriff zu fassen. Es wäre die Gegnerschaft gegen alles das, was in der Sehnsucht mit dem Ziele lebt, jenen tiefen Punkt in der Menschenseele aufzufassen, in welchem diese Menschenseele mit den ewigen Urquellen des Daseins zusammenhängt.

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Wie kann sich eine solche Antisophie in der menschlichen Seele entwickeln?

Man könnte zunächst glauben, daß es paradox, sonder­bar sei, daß sich eine Gegnerschaft gegen das erheben kann, was man doch als das edelste Streben der Menschenseele anerkennen müsse. Doch siehe da: gerade die Geisteswissen­schaft zeigt, daß Antisophie gar nicht etwas so ganz Will­kürliches in der menschlichen Seele ist, sondern daß sie im Gegenteil in der Menschenseele in einer gewissen Beziehung notwendig begründet ist, daß sie in einer gewissen Be­ziehung zur Natur, zum Wesen dieser Menschenseele ge­hört. Die Menschenseele ist von vornherein eigentlich nicht theosophisch gesinnt; sie ist von vornherein eigentlich anti­sophisch gesinnt. Man muß in einige Erkenntnisse der Gei­steswissenschaft selber eingehen, wenn man diesen scheinbar paradoxen Ausspruch in gehöriger Weise würdigen will.

Wenn der Geistesforscher wirklich etwas von dem durch-macht, was im vorigen Vortrage geschildert worden ist, wenn er die charakterisierte Umstimmung, die andere Ver­fassung seiner Seele erreicht, dann tritt er in eine wirkliche geistige Welt ein. Vor seinem geistigen Blick ist dann das, was äußere Natur, äußeres Sinnensein genannt werden kann, gleichsam wie unmittelbar ausgelöscht, ist nur wie eine Erinnerung noch vorhanden an das, was im gewöhn­lichen Bewußtsein erfahren worden ist, und eine wirkliche, reale Geisteswelt tritt auf, eine Geisteswelt, in welcher die Menschenseele nicht nur in der Zeit zu erkennen ist, die sie durchlebt zwischen Geburt oder Empfängnis und dem Tode, sondern auch zu erkennen ist in der Zeit zwischen dem Tode und einer nächsten Geburt. Es ist auf die wieder­holten Erdenleben schon im letzten Vortrage aufmerksam gemacht worden. Auf jenes Dasein also wird der Mensch verwiesen, in welchem er ein Geist unter Geistern ist, in

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welchem er ist, wenn er sein körperliches Dasein mit dem Tode abgelegt hat. Und diese Welt wird erfahren, wie für die äußeren Sinne die äußere Natur Erfahrung ist; in dieser Welt ist die Seele mit denjenigen Kräften, die dem Men­schen nicht nur im gewöhnlichen Bewußtsein entgegentre­ten, sondern die dieses gewöhnliche Bewußtsein selber zusammensetzen. Ja, das ist auch die Welt, welche die Werkzeuge für das gewöhnliche Bewußtsein und die ge­samte Leiblichkeit mit dem gesamten Nervensystem auf­baut. Eine Wahrheit wird es für den Geistesforscher, daß wir als Menschen nicht nur aus dem heraus aufgebaut sind, was an Kräften in der Vererbungslinie liegt, was von un­seren Ahnen abstammt, sondern daß in das System dieser physischen Kräfte dasjenige eingreift, was aus geistig-see­lischen Regionen herabkommt und ein System von geistigen Kräften darstellt, welche die physische Organisation er­greifen, die uns von Vater und Mutter gegeben ist, und darinnen dasjenige plastisch ausbilden, was wir gemäß den früheren Erdenleben werden sollen, die wir durchlebt haben. Etwas wie eine Erweiterung der Erinnerung tritt durch jene geistige Wissenschaft auf, von der ich das letzte Mal gesprochen habe, eine Erweiterung der Erinnerung über das gegenwärtige Erdendasein hinaus in Regionen eines geistigen Erlebens.

Wenn wir die Welt und das menschliche Werden so be­trachten, dann stellt sich eine gewisse Grenze, die in diesem menschlichen Leben eintritt, ein gewisser Scheidepunkt in einer ganz besonderen Weise vor die Seele. Es ist der Scheidepunkt, der in der ersten Kindheitsentwickelung des Menschen liegt. Da sehen wir, wie der Mensch in der aller-ersten Kindheitsentwickelung etwas wie ein traumhaftes Leben lebt, etwas lebt, wie ein Leben, welches sich die volle Deutlichkeit des Ich-Bewußtseins, die volle Deutlichkeit

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des Sich - Erinnerns an Erlebnisse erst aneignen muß. Ein dumpfes Bewußtsein ist dasjenige des ersten Kindheits­alters. Der Mensch schläft oder träumt sich sozusagen in das Dasein herein, und das, wodurch wir uns eigentlich als Menschen fühlen, unser entwickeltes Innenleben mit seinem deutlichen Mittelpunkte des Selbstbewußtseins, das tritt eben erst an einem bestimmten Wendepunkte unseres Kind­heitslebens auf. Was stellt sich im Sinne der Geisteswissen­schaft eigentlich vor diesem Wendepunkte dar?

Wenn der Geistesforscher das Kind betrachtet, bevor es an diesen Wendepunkt gekommen ist, dann schaut er, wie die geistigen Kräfte, die aus der geistigen Welt herunter­gekommen sind und den Organismus ergriffen haben, um ihn plastisch durchzubilden in Gemäßheit der früheren Er­denleben, voll arbeiten an dem ganzen Organismus. Und weil die Gesamtheit der geistigen Kräfte, welche die Seele des Menschen ausmachen, sich in alles ergießt, was im Or­ganismus lebt und webt, was den Organismus bildet und aufbaut und ihn so organisiert, daß er später das Werkzeug des selbstbewußten Wesens werden kann, weil also alles an Kräften in der Seele zum Aufbau dieses Organismus verwendet wird, deshalb bleibt nichts zurück, was im aller-ersten Kindheitsalter irgendwie ein deutliches Selbst­bewußtsein ergeben könnte. Die sämtlichen Seelenkräfte werden zum Aufbau des Organismus verwendet; und ein Bewußtsein, das sich zum Aufbau des organischen Wesens verwendet, kann es höchstens bis zur Traumhaftigkeit brin­gen, ist aber zum großen Teil ein schlafendes Bewußtsein.

Was tritt nun für das menschliche Wesen in jenem Wende­punkte auf, von dem ich gesprochen habe?

Da bietet sich vom Organismus, vom Leibe her allmäh­lich immer mehr und mehr Widerstand. Man könnte diesen Widerstand so bezeichnen, daß man sagt: der Leib verfestigt

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sich allmählich in sich selber; insbesondere das Wer­vensystem verfestigt sich, läßt sich nicht mehr von den Seelenkräften vollständig frei, plastisch bearbeiten, bietet Widerstand. Das heißt, ein Teil der Seelenkraft kann sich nur in die menschliche Organisation hineinergießen; ein anderer Teil wird gleichsam zurückgeschlagen, kann nicht Angriffspunkte finden, um sich in diese menschliche Or­ganisation hineinzuarbeiten. Ich darf vielleicht ein Bild gebrauchen, um zu zeigen, was da eigentlich vorgeht. Warum können wir uns, wenn wir vor einem Spiegel stehen, immer in dem Spiegel selber beschauen? Wir können es, weil die Lichtstrahlen durch die spiegelnde Fläche zurückgeworfen werden. In dem bloßen Glase können wir uns nicht be­schauen, weil die Lichtstrahlen durchgehen. So ist es beim Kinde in seinem ersten Lebensalter: es kann kein Selbst­bewußtsein entwickeln, weil alles was an Seelenkräften vorhanden ist, so durchgeht, wie die Lichtstrahlen durch das bloße Glas. Erst von dem Augenblicke an, wo sich der Organismus in sich selber verfestigt hat, wird ein Teil der Seelenkraft zurückgeworfen, so wie die Lichtstrahlen von der Spiegelscheibe zurückgeworfen werden. Da reflektiert sich das Seelenleben in sich selber; und das sich in sich selber reflektierende Seelenleben, das sich in sich selbst erlebt, ist das, was als Selbstbewußtsein aufglänzt. Das ist es, was unser eigentliches menschlich-wesenhaftes Erleben im Erden-leben ausmacht. Und so leben wir denn, wenn der gekenn­zeichnete Wendepunkt eingetreten ist, in diesem zurück-geworfenen Seelenleben.

Was bedeutet gegenüber diesem Seelenleben nun die Ent­wickelung, die der Geistesforscher durdimacht?

Diese Entwickelung, wie ich sie das letzte Mal geschildert habe, sie ist tatsächlich, wie ich sagen möchte, ein Sprung über einen Abgrund. Sie ist so, daß der Geistesforscher die

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Region des zurückgeworfenen Seelenlebens verlassen muß, daß er alles verlassen muß, was sich eben nach diesem Wendepunkte als Seelenleben herausgestellt hat, und ein­dringen muß in diejenigen schöpferisch tätigen, plastizie­renden Seelenkräfte, welche vorhanden sind vor diesem Wendepunkt. Nur muß der Geistesforscher in das, was im Menschen vor diesem Wendepunkte im zartesten Kindheits-alter vorhanden ist, mit dem vollen Bewußtsein hinunter-tauchen, mit demjenigen Bewußtsein, das er sich in dem re­flektierten Seelenleben herangebildet hat. Da taucht er hin­unter in jene Kräfte, die den Organismus des Menschen im zartesten Kindesalter aufbauen, die man später nicht mehr wahrnehmen kann, weil sich der Organismus wie zu einem Spiegel umbildet. Über diesen Abgrund muß in der Tat die Entwickelung des Geistesforschers schreiten. Aus dem, was durch die organische Natur zurückgeworfenes Seelen-leben ist, muß er eintreten in das schöpferische geistig-see­lische Leben. Er muß, um diesen philosophischen Ausdruck zu gebrauchen, von dem Geschaffenen zum Schaffenden vordringen. Dann nimmt er etwas ganz Bestimmtes wahr, wenn er in jene Tiefen hinuntertaucht, die gleichsam hinter dem organischen Spiegel liegen. Dann nimmt er eben wirk­lich jenen Punkt wahr, wo sich die Seele mit dem schaffen­den Weltenquell des Daseins zusammenschließt. Aber außerdem nimmt er noch etwas anderes wahr: er nimmt wahr, wie es einen Sinn hat, daß dieses Zurückwerfen ge­schehen ist. Wäre der Wendepunkt nicht eingetreten, würde das Zurückwerfen nicht geschehen, dann hätte der Mensch niemals zur vollen Entwickelung des Erdenbewußtseins, zum deutlichen Selbstbewußtsein kommen können. In dieser Beziehung ist das Erdenleben die Erziehung zum Selbst­bewußtsein. Der Geistesforscher kann in die Region, die sonst nur als Traum vom Menschen durchlebt wird, auch

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nur dadurch eindringen, daß er sich die Vorbedingungen dazu innerhalb des Erdenlebens erst geholt hat, daß er sich zum Selbstbewußtsein erzogen hat, und dann mit diesem Selbstbewußtsein in jene Region eindringt, die sonst ohne Selbstbewußtsein durchlebt wird. Daraus aber ist ersicht­lich, daß das Wertvollste, was sich der Mensch für das Erdenleben erwerben kann, das wache Selbstbewußtsein -um dessentwillen wir eigentlich in das Erdenleben herein-gehen, für das gewöhnliche Erleben abgeschlossen ist von dem Erleben der eigentlichen Wurzeln des Daseins. Im All-tage und in der gewöhnlichen Wissenschaft lebt der Mensch innerhalb desjenigen, was nach diesem Wendepunkte sein Seelenleben durchwellt und durchwebt. Er muß darin leben, damit er gerade sein Erdenziel erreichen kann. Es ist damit nicht gesagt, daß er als Geistesforscher nicht so­zusagen daraus herausgehen darf und sich umschauen darf in der anderen Region, wo seine Wurzeln liegen. - Viel­leicht darf ich mich auch so ausdrücken: Der Mensch muß aus der Region der schaffenden Natur heraustreten, um in seiner, in sich selber zurückgeworfenen Wesenheit sich gegenüberzustellen und sich selbst zu finden gegenüber der geistig-seelischen Natur, die mit den Quellen des Da­seins zusammenhängt.

So ist der Mensch tatsächlich, wie wir sehen, wegen seiner Erdenaufgabe herausgestellt aus derjenigen Region, in der er als Geistesforscher das finden muß, was innerhalb der Geisteswissenschaft gefunden werden kann. Würde der Mensch, ohne die geisteswissenschaftliche Schulung zu haben, jemals durcheinanderwerfen, was er in der einen oder in der anderen Region erleben kann, so würde er niemals zu einem wirklich deutlichen Drinnenstehen in der Welt in solchen Momenten des Durcheinanderwerfens kommen kön­nen. Alles menschliche Sinnensein beruht darauf, daß der

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Mensch gerade herausgestellt ist aus dem, wo die Quellen und Wurzeln des Daseins, wo die geistige Welt in ihrer Intimität zu finden ist. Und je mehr der Mensch in der Sinneswelt leben will, je klarer er sich in dieselbe hinein­stellen und sich in ihr erfühlen will, desto mehr muß er aus der höheren Welt heraustreten. Was wir als gewöhnliches alltägliches praktisches Wissen haben, das hat gerade seine Stärke, seine Kraft durch jenes Heraustreten, wie ich es eben geschildert habe.

Ist es demgegenüber verwunderlich, wenn der Mensch auch zunächst das schätzen lernt, was er hat, indem er aus der geistigen Welt herausgestellt ist? Er steht ja im ge­wöhnlichen Leben nicht in der geistigen Welt drinnen, steht nicht in demjenigen, was den Quell seines Daseins aus­macht. Und er mußte aus diesem herausgestellt werden, um sein Erdendasein in entsprechender Weise zu leben. Da­durch entwickelt sich im Menschen ganz naturgemäß zu­nächst die Schätzung alles desjenigen, was nicht mit dem Quell des Daseins zusammenhängt. Es entwickelt sich die Schätzung eines Wissens und ein Festhalten an allem, was außerhalb des Daseinsquells steht. So ist es natürlich, daß der Mensch, der eine solche Schätzung entwickelt, in dem Augenblicke, wo etwas an ihn herantritt, was ihm Kunde aus einer Welt bringen will, in der er zunächst nicht drin­nen ist, daß er dies ablehnt. Denn er muß es im Grunde genommen als etwas bezeichnen, außerhalb dessen er natur­gemäß steht. Der Mensch ist also durch sein Leben in seiner Seele nicht daraufhin gestimmt, dasjenige anzuerkennen, was ihn sozusagen mit dem Innersten der Welt zusammen­hält, sondern das anzuerkennen, was ihn zusammenhält in sich selber, insofern er außerhalb dieser geistig-seelischen Weltenwurzel steht. Der Mensch ist im gewöhnlichen Le­ben antisophisch, nicht theosophisch gestimmt, und es wäre

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eine Naivität, wenn man glauben wollte, daß das gewöhn­liche Leben anders als antisophisch gestimmt sein könnte. Es kann erst theosophisch gestimmt werden, wenn wie eine Rückerinnerung an eine verlorene Heimat in der Seele zu­nächst die Sehnsucht - und dann durch das gesunde Er­kennen immer mehr und mehr der Drang entsteht, in die geistig-seelische Weltenwurzel selber einzudringen. Die theosophische Gesinnung muß aus der antisophischen Ge­sinnung erst erworben werden. Das ist in einem Zeitalter, wie es das unsrige ist, vielen Seelen im Grunde genommen innerlich recht zuwider. In unserm Zeitalter, wo die äußere Kultur zu so bewundernswürdigen Errungenschaften ge­kommen ist, hat sich etwas herausgebildet, was ein natur­gemäßes Empfinden für das äußere Erleben hervorruft, einen naturgemäßen Hang für das äußere Erleben, der diese eben angedeutete Sehnsucht zurückdrängt. Gerade unserer Zeit gegenüber ist es durchaus begreiflich, daß die Menschenseele antisophisch gestimmt ist. Aber man muß tatsächlich auf der einen Seite in der ganzen Natur der menschlichen Entwickelung und auf der anderen Seite ge­rade in dem, was sich in der Gegenwart darstellt, die Not­wendigkeit einer theosophischen Vertiefung der Menschheit für unsere Zeit anerkennen. Denn dem Betrachter der menschlichen Geistesentwickelung treten so mancherlei Dinge vor Augen. Es sei auf eines hingewiesen, was uns zeigen kann, wie in unserer Zeit gewissermaßen eine anti­sophische Stimmung etwas wie eine Selbstverständlich­keit ist.

Diogenes Laertius erzählt uns, wie einmal der alte grie­chische Weise Pythagoras, der von dem Beherrscher von Phlius, Leon, als ein sehr weiser Mann angesehen worden ist, von diesem gefragt wurde, wie er sich eigentlich in das Leben hineinstelle, wie er sich im Leben fühle. Da soll

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Pythagoras das Folgende gesagt haben: Mir kommt vor, das Leben ist wie eine Festversammlung. Da kommen dann Menschen hin, um sich als Kämpfer an den Spielen zu be­teiligen; andere kommen hin als Händler um des Gewinnes willen; aber es gibt eine dritte Art von Leuten, die kommen nur, um sich die Sache anzuschauen. Sie kommen weder, um mit ihrer persönlichen Teilnahme an den Spielen mitzutun, noch um des Gewinnes willen, sondern um sich die Sache anzuschauen. So erscheint mir auch das Leben: die einen gehen ihrem Vergnügen nach, die anderen gehen ihrem Ge­winn nach; dann gibt es aber solche wie ich, der sich einen Philosophen nennt als Forscher nach Wahrheit. Die sind da, um sich das Leben anzuschauen; sie kommen sich vor wie aus einer geistigen Heimat in die Erdenwelt versetzt, sehen sich das Leben an, um in diese geistige Heimat dann wieder zurückzukehren.

Nun muß man einen solchen Ausspruch selbstverständ­lich als einen Vergleich nehmen, als ein Bild. Und man würde wohl auch die vollständige Ansicht des Pythagoras erst bekommen, wenn man ergänzend etwas hinzufügt, ohne das dieser Ausspruch sehr leicht so gedeutet werden könnte, als wenn die Philosophen nur die Gaffer und Taugenichtse des Leben wären. Denn natürlich meint Py­thagoras, daß die Philosophen bei ihrem Schauen nicht nur dadurch ihren Mitmenschen nützen können, indem sie diese selber zum Schauen anregen, sondern indem sie das suchen, was nicht unmittelbar in den Nutzen des Lebens gestellt ist. Das ist aber das, was, indem es in sich selber immer weiter und weiter ausgebildet wird, zu dem Wurzelquell des Da­seins führt; so daß dieses, was gleichsam «ohne Nutzen» erschaut wird, das ist, was zum Ewigen in der Menschen-seele führt. Das müßte man hinzufügen. Aber Pythagoras meinte, etwas Besonderes ausdrücken zu wollen: daß man

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in dem, was nicht in der Entwickelung der Menschenseele in den äußeren Nutzen gestellt wird, sondern das in sich selber vertieft wird, den Antrieb findet, um in das ewig Unvergängliche unterzutauchen; daß man also etwas in der Seele entwickeln müsse, was sich nicht im äußeren Leben unmittelbar anwenden läßt, sondern das die Menschen-seele aus einem inneren Drange, aus innerer Sehnsucht und Zielstrebigkeit entwickelt. Die Anerkennung eines solchen Strebens liegt uns da in grauer Vorzeit des europäischen Geisteslebens bei Pythagoras vor.

Wenden wir jetzt den Blick auf eine Erscheinung der neueren Zeit, die ich nicht erwähne, um philosophische Ku­riosa zu erwähnen, sondern weil sie wirklich bezeichnend ist für die Art des Geisteslebens unserer Zeit.

Von Amerika aus hat sich nach Europa verbreitet - und wird in Europa auch von einzelnen Persönlichkeiten ge­schätzt - eine Weltanschauung, die man Pragmatismus nennt. Diese Weltanschauung nimmt sich gegenüber dem, was Pythagoras von einer Weltanschauung fordert, recht sonderbar aus. Ob irgend etwas, was die Menschenseele als ihre Erkenntnis ausspricht, vor irgend etwas anderem als dieser Menschenseele wahr oder falsch ist, darnach fragt diese Weltanschauung des Pragmatismus im Grunde ge­nommen gar nicht, sondern nur darnach, ob ein Gedanke, den sich der Mensch als einen Weltanschauungsgedanken bildet, fruchtbar und nützlich ist für das Leben. Also nicht darnach, ob irgend etwas in irgendeinem objektiven Sinne wahr oder falsch ist, fragt der Pragmatismus, sondern zum Beispiel nach folgendem. Nehmen wir gleich einen der be­deutsamsten Begriffe des Menschen: Soll der Mensch den­ken, daß ein einheitliches Selbst in ihm ist? Dieses einheit­liche Selbst nimmt er ja nicht wahr. Wahr nimmt er die Aufeinanderfolge von Empfindungen, Vorstellungen, Ideen

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und so weiter. Aber es ist nützlich, die Aufeinanderfolge der Empfindungen, Vorstellungen, Ideen so aufzufassen, als wenn ein gemeinsames Selbst vorhanden wäre; dadurch kommt Ordnung in die Auffassung hinein, dadurch ver­richtet der Mensch das, was er aus der Seele heraus ver­richtet, wie aus einem Gusse heraus, dadurch zersplittert sich nicht das Leben. Oder gehen wir zur höchsten Idee. Auf den Wahrheitsgehalt des Gottes-Begriffes kommt es dem Pragmatismus gar nicht an, sondern er fragt: soll man den Gedanken eines göttlichen Wesens fassen? Und er kommt zu der Antwort: Es ist gut, daß man den Gedan­ken eines göttlichen Wesens faßt, denn würde man den Gedanken nicht fassen, daß die Welt regiert würde von einem göttlichen Urwesen, so bliebe die Seele trostlos und öde; es ist also gut für die Seele, wenn sie diesen Gedanken annimmt. - Da wird der Wert der Weltanschauung im ganz entgegengesetzten Sinne gedeutet wie bei Pythagoras. Bei diesem soll die Weltanschauung das deuten, was nicht in den Nutzen des Lebens gestellt wird. Gegenwärtig aber breitet sich eine Weltanschauung aus, und es ist Aussicht vorhanden, daß sie viele Köpfe erfassen wird, die geradezu sagt - und in der Praxis hat sie es schon getan -: Wertvoll ist das, was so gedacht wird, als ob es da wäre, damit das Leben in der nutzbringendsten Weise für den Menschen verläuft!

Wir sehen: die Menschheitsentwickelung hat sich so voll­zogen, daß geradezu das Gegenteil dessen für das Kenn­zeichen einer richtigen Weltanschauung angesehen wird, was sozusagen im Aufgange des europäischen Weltanschau­ungslebens als solches angesehen worden ist. Das ist der Weg, den die Menschheitsentwickelung in der Gesinnung durchgemacht hat von der pythagoräischen Theosophie zu der modernen pragmatischen Antisophie. Denn dieser

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Pragmatismus ist durchaus Antisophie - ist Antisophie aus dem Grunde, weil er alle Vorstellungen, die sich die Seele über etwas machen kann, was außerhalb der Sinneswelt liegt, unter dem Gesichtspunkte des praktischen Wertes und des Nutzens für die Sinneswelt betrachtet. Das ist das Bedeutsame, und das ist der andere Gesichtspunkt, den ich zu erwähnen habe: daß sich gegen unsere Gegenwart zu etwas in die Menschenseelen hineindrängt wie ein Über­handnehmen der antisophischen Stimmung. Wie ist heute das verbreitet, was einstmals Du Bois-Reymond als ein glänzender Vertreter der Naturwissenschaft auf einer Na­turforscherversammlung in Leipzig (1872) als seine Igno­rabimus-Rede entwickelte! Du Bois-Reymond gibt zu, und er entwickelt es außerordentlich geistvoll, daß das, was im rechten Sinne Wissenschaft genannt werden soll, es nur zu tun haben könne mit den Gesetzen der äußeren Welt, der Raumes- und Zeitwelt, und niemals dazu führen könne, auch nur das geringste Element des Seelenlebens als solches zu verstehen. Später hat Du Bois-Reymond sogar noch von «sieben Welträtseln» gesprochen - Wesen von Materie und Kraft, Ursprung der Bewegung, erste Entstehung des Lebens, zweckmäßige Einrichtung der Natur, Entstehen der einfachen Sinnesempfindung und des Bewußtseins, vernünftiges Denken und Ursprung der Sprache, Willens­freiheit -, von denen er sagt, daß sie die Wissenschaft nicht ergreifen kann, weil die Wissenschaft schon ein­mal auf ein Gebiet angewiesen ist, welches das des «Naturalismus» sein muß. Und charakteristisch endete damals Du Bois-Reymond 1872 seine Auseinandersetzun­gen, indem er meinte: man müßte in etwas ganz anderes eindringen, wenn man auch nur das geringste Element des Seelenlebens begreifen wollte, als in das Element der Wis­senschaft: Mögen sie es doch mit dem einzigen Ausweg versuchen,

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dem des Supranaturalismus. Und er fügte die bedeutungsvollen Worte hinzu, die hinzugefügt werden sollen nicht als ein Beweis, denn jeder, der seine Ausein­andersetzungen nimmt, kann sich davon überzeugen, daß sie nicht ein Beweis sind für irgend etwas, was von da oder dort hergeleitet wird, wofür diese oder jene Gründe an­gegeben werden, sondern als etwas hinzugefügt werden, was er aus seiner Seelenstimmung heraus in ganz dogma­tischer Weise geltend macht: Nur daß, wo Supranaturalis­mus anfängt, Wissenschaft aufhört.

Was heißt eine solche Hinzufügung zu dem anderen Satze, daß man, um nur das einfachste seelische Element zu begreifen, zum Supranaturalismus seine Zuflucht nehmen muß, daß man hinzufügt: Nur daß, wo Supranaturalismus anfängt, Wissenschaft aufhört? Man kann eine eigentüm­liche Entdeckung machen, die ich allerdings heute nur wie eine Art Behautpung hinstellen kann, die aber durch vieles in den folgenden Vorträgen noch vollständig aufgehellt werden wird -, man kann eine merkwürdige Entdeckung machen, wenn man bei dem Umschau hält, was wissen­schaftliches Leben der Gegenwart ist. Und um gleich bei diesem zweiten Vortrage dieser Serie gegen ein Mißver­ständnis, das immer wieder und wieder auftaucht, wenig­stens einige Worte zu sagen, bemerke ich, daß diese gan­zen Vorträge hier in keiner Weise irgendwie gegnerisch gegen die zeitgenössische Wissenschaft gemeint sind, son­dern daß sie von dem Gesichtspunkte einer vollen An­erkennung dieser zeitgenössischen Wissenschaft gehalten werden, - insofern sich diese in ihren Grenzen hält. Ich muß das sagen, weil gerade immer wieder und wieder - ich will nicht sagen, wie geartete Behauptungen auftreten, daß diese Vorträge hier in einem antiwissenschaftlichen Sinne gehalten würden. Es ist das aber nicht der Fall. Trotzdem

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also eine voUständige Anerkennung der großen glänzen­den, bewunderungswürdigen Erfolge moderner Wissen­schaft allem zugrunde liegt, was hier gesagt wird, muß doch darauf aufmerksam gemacht werden, daß man streng be­weisen kann: Nirgends im weiten Gebiete des ganzen wissenschaftlichen Lebens findet sich für eine solche Behaup­tung, daß, wo Supranaturalismus anfängt, Wissenschaft aufhört, auch nur die geringste Begründung! Es findet sich keine Begründung. Man macht die Entdeckung, daß eine solche Behauptung getan wird ohne jegliche Begründung, aus einem Willensakte, aus einer Empfindung heraus, aus einer Seelenstimmung heraus, aus antisophischer Stim­mung heraus. Und warum, das muß die nächste Frage sein, wird eine solche Behauptung getan? Darüber kann nun wieder die Geisteswissenschaft eine Art von Aufschluß geben.

Eine solche Stimmung ist nämlich gerade als «Stimmung» äußerlich begreiflich aus alledem heraus, was heute aus­einandergesetzt worden ist. Ich muß allerdings, indem ich auf die geisteswissenschaftliche Erklärung des oben Cha­rakterisierten eingehen will, einiges voraussetzen. Es gibt in der Menschenseele sehr vieles, was man bezeichnen kann als unterbewußte Seelenerlebnisse, als Seelenerlebnisse, welche so verlaufen, daß sie durchaus in der Seele vorhan­den sind, daß sie unser seelisches Leben bestimmen, aber nicht völlig in das klare Bewußtsein des Tages herauf­leuchten. Es gibt Tiefen des menschlichen Seelenlebens, die nicht in Begriffen, Vorstellungen, Willensakten, wenigstens nicht in den bewußten, sich ausleben, sondern nur in dem Charakter, der Art des Wollens, in dem Gepräge des mensch­lichen Seelenlebens. Ein unterbewußtes Seelenleben gibt es; und es ist alles, was im bewußten Seelenleben sein kann, was dann eine Rolle spielt, auch im Unterbewußten. Affekte, Leidenschaften, Sympathien und Antipathien, die wir im

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gewöhnlichen Leben in bewußter Weise deutlich in der Seele erfühlen, sie können auch in den unterbewußten Regionen sein, werden aber in diesen nicht wahrgenommen, sondern wirken in der Seele wie eine Naturkraft, wirken so in der Seele, wie zum Beispiel die Verdauung im Organismus un­bewußt vor sich geht, - nur daß sie seelisch und nicht phy­sisch sind. Es gibt eine ganze Region des unterbewußten Seelenlebens. Und vieles von dem, was der Mensch im Le­ben behauptet, was er im Leben glaubt und meint, das glaubt und meint er durchaus nicht auf solche Vorausset­zungen hin, deren er sich völlig bewußt ist; sondern er glaubt und meint es und vertritt es aus dem unterbewuß­ten Seelenleben heraus, weil Affekte, Neigungen, deren er sich nicht bewußt ist, ihn dazu drängen. Sogar die äußere empirische Psychologie kommt in ihren besten Vertretern heute schon darauf, daß das, was der Mensch behauptet, nicht in seinem vollen Umfange in der bloßen Vernunft liegt, in dem, was der Mensch bewußt überschaut. Es gibt einen ganzen Zweig der heutigen experimentellen Psycho­logie, der sich damit beschäftigt. Stern ist ein Vertreter dieser Richtung, die sich damit befaßt, zu zeigen, wie der Mensch selbst in wissenschaftlichsten Behauptungen etwas hat, was von seinen Sympathien und Antipathien, von seinen Neigungen und Affekten die Färbung und die Tö­nung erhält. Und auch die bloß äußerliche Psychologie wird nach und nach beweisen, daß es ein Vorurteil ist, wenn jemand glaubte, er könnte wirklich im alltäglichen Leben oder in der gewöhnlichen Wissenschaft alles über­schauen, was ihn zum Aufstellen seiner Behauptungen führt. Es ist also heute, selbst für die äußere Psychologie oder Seelenlehre, durchaus nicht mehr eine absurde Be­hauptung, wenn man unbedenklich die Entdeckung, die eben genannt worden ist, so charakterisiert, daß man sagt:

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Wenn jemand davon spricht: Wo Supranaturalismus an­fängt, hört Wissenschaft auf, - das ist zwar als eine Grundstimmung ausgesprochen von Du Bois-Reymond, aber es ist auch eine Grundstimmung unzähliger Seelen der Gegenwart, die gar nichts davon wissen -, so ist es kein Wunder, wenn man es als aus dem unterbewußten Seelen­leben herauftauchend auffaßt. Aber wie kommt es herauf? Was drängt die Seele dazu, als Dogma hinzustellen: Wo Supranaturalismus anfängt, hört Wissenschaft auf? Was arbeitete damals in dem unterbewußten Seelenleben bei Du Bois-Reymond, und was arbeitet heute im unterbewuß­ten Seelenleben bei Tausenden und Tausenden von Men­schen, die im Leben tonangebend sind, wenn der Ausspruch ertönt oder so gefühlt wird, als wenn er ihnen unterbewußt zugrunde liegt? Darüber gibt die Geisteswissenschaft fol­gende Antwort.

Wir kennen im menschlichen Leben sehr wohl einen Affekt, den wir als Furcht, Schrecken, als Angstlichkeit bezeichnen. Wenn dieser Affekt der Furcht, des Schreckens im gewöhnlichen Leben auftritt, so ist er etwas, was jede Menschenseele kennt. Auch über solche Affekte wie Furcht, Schrecken, Angstlichkeit gibt es heute ganz interessante, äußerliche wissenschaftliche Untersuchungen; so zum Bei­spiel empfehle ich jedem, sich einmal die ausgezeichneten Untersuchungen des dänischen Forschers Lange über die Gemütsbewegungen anzusehen; unter diesen sind auch solche über Furcht, Angstlichkeit und so weiter. Wenn wir im gewöhnlichen Dasein Schreck erleben, so tritt ja, insbeson­dere wenn der Schreck einen gewissen Grad erreicht, etwas ein, was in einer leisen Art den Menschen betäubt, so daß er seinen Organismus nicht mehr völlig in der Gewalt hat. Man wird «starr vor Schrecken», man hat einen besonderen Gesichtsausdruck, aber es treten auch allerlei besondere

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Begleiterscheinungen des Schreckens im Leibesleben auf. Diese Begleiterscheinungen sind heute auch schon von der äußeren Wissenschaft ziemlich gut beschrieben, wie zum Beispiel bei dem genannten Forscher. Solcher Schrecken wirkt hinein bis in die Gefäßnatur des Menschen und stellt sich symptomatisch in derselben dar. Leiblich veränderte Zu­stände und besonders das Bedürfnis, sich äußerlich an etwas anzuhalten, treten beim Schreck auf. «Ich falle um» hat schon mancher gesagt, der erschreckt war. Das weist tiefer auf die Natur des Erschreckens hin, als man gewöhnlich meint. Das rührt davon her, daß der Organismus, wenn die Seele Schreck erlebt, Veränderungen erleidet. Es werden die Kräfte des Organismus wie krampfhaft auf das Nerven­system konzentriert; dieses wird gleichsam mit Seelenkraft überladen; dadurch spannen sich gewisse Gefäße an, und diese Spannung kann sich dann nicht auswirken.

Nun kommt aber die Geistesforschung und untersucht die menschliche Seele dann, wenn sie in der Tätigkeit des Denkens und Vorstellens ist, welches an die äußere Natur, an die äußere Welt hingegeben ist. Man kann nämlich die Natur jenem Art von Tätigkeit untersuchen, in welcher eine Seele ist, die den ganzen übrigen Leib in Ruhe, in einer ge­wissen Verfassung läßt und das nach außen gerichtete Den­ken auf das äußere Experiment, auf die äußere Beobach­tung lenkt. Wenn man sich geisteswissenschaftlich das Bild eines solchen Menschen vorhält, so ist es genau dasselbe wie dasjenige eines Menschen, der in einem leisen Schreck ist. So paradox dieser Ausspruch klingt: es ist so, daß die Ab­lenkung der Kräfte der Seele von dem Gesamtorganismus etwas ganz Ahnliches bewirkt wie Schrecken, wie Betäu­bung durch den Schreck. Jene «Kühle» des Denkens, die man in der wissenschaftlichen Beobachtung erzeugen muß, ist, so paradox es eben klingt, dem Schreck, der Angst verwandt,

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namentlich der Furcht verwandt; und ein angestreng­ter Forscher, der wirklich in seinen Forschungsgedanken drinnen lebt, ist, wenn seine Gedanken nach außen gerichtet sind, oder wenn er über etwas nachdenkt, was in der Außen­welt ist, in einer Verfassung, die der Furcht verwandt ist.

Das unterscheidet das Hingegebensein an die Außenwelt gegenüber der geistesforscherischen Entwickelung, daß diese letztere darauf beruht, daß die Seelentätigkeiten vom blo­ßen Gehirn losgelöst werden, so daß nicht das eintritt, was bewirkt wird durch eine einseitige krampfhafte Anstren­gung der Seelentätigkeit und des Hinfließenlassens des einen Teiles der Körpertätigkeit auf Kosten des anderen. Und dieser, der Furcht verwandte Zustand erzeugt das, was ich vorhin charakterisierte. Diese Furcht, von der ich jetzt spreche, kann natürlich jeder ableugnen, denn sie tritt im Unterbewußten auf. Aber sie ist dort um so sicherer vorhanden. In einer gewissen Beziehung ist der Forscher, der sein Auge auf das Außere richtet, perennierend, fort-fließend in einer solchen Seelenstimmung, daß in den unter­bewußten Regionen seines Seelenlebens dasselbe waltet, was bewußt in einer Seele waltet, die in Furcht ist. Und jetzt werde ich etwas sagen, was einfach klingt, was nicht einfach gemeint ist, was aber vielleicht gerade durch die Einfachheit eine Verständigung bilden kann. Wenn jemand in Furcht ist, so kann er sehr leicht in die Stimmung kom­men, die sich mit den Worten bezeichnen läßt: Ich muß mich an etwas anhalten; ich brauche etwas, woran ich mich halten kann, denn ich falle sonst um! Das ist die Stim­mung des wissenschaftlichen Forschers, wie sie eben jetzt geschildert worden ist: Er muß sich auf das einseitige Den­ken konzentrieren; er entwickelt unterbewußt Furcht und braucht die äußere sinneskräftige Materie, an der er sich anhalten kann, damit er nicht in der unterbewußten Furcht

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versinkt, die, wenn sie nicht zur Theosophie vorrückt, nichts findet, woran sie sich halten kann, und die sonst, wie der Furchtsame, der sich an irgendeinem Gegenstande halten möchte, sich an die Materie hält. Gebt mir etwas, was im äußeren Materiellen ist, woran ich mich halten kann! -diese Stimmung lebt im Unterbewußtsein des gewöhnlichen Wissenschaftlers. Das führt zu den unterbewußten Affekten hin, als Wissenschaft nur das gelten zu lassen, was keine Furcht zuläßt, weil man sich an die materialistische Ge­staltung der Welt anhält. Und das gibt die antisophische Stimmung ein: Wo Supranaturalismus anfängt, hört Wis­senschaft auf - hört nämlich dasjenige auf, woran man sich halten kann.

Es ist aber damit etwas gekennzeichnet, was begreif­licherweise in einem Zeitalter vorhanden sein muß, wo die ganze Natur, die ganze Wesenheit des Zeitalters das Auf­gehen in der äußeren Betrachtung und in der äußeren Natur in vieler Beziehung fordert. Es ist damit etwas angedeutet, was nicht in dem Einzelnen persönlich lebt, sondern was wirklich in allen denjenigen lebt, die heute eine antisophi­sche Stimmung entwickeln, ob nun diese so auftritt, daß ge­sagt wird: Theosophie ist ewas, was die Wissenschaft über­fliegt; da ist keine Sicherheit drinnen, das verläßt den sicheren Boden der Wissenschaft, oder ob sie so auftritt, daß jemand sagt: Das führt doch nur zu innerem oder äußerem Unfug, was da die Leute als Theosophie vertreten; sicher ist doch auf diesem Gebiete im wissenschaftlichen Sinne nichts, son­dern man muß dazu einen bloßen Glauben entwickeln, der von da oder dort herkommt. Ob jemand sagt: Mir wird meine Familienordnung zerrissen, wenn sich ein Mitglied der Familie zur Theosophie bekennt, oder ob ein anderer sagt: Wenn ich mich der Theosophie hingebe, so werden mir die Freuden des Lebens vergällt, - alle diese Dinge sind

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natürlich nicht richtig, aber sie werden aus einer gewissen Stimmung heraus gesagt: sie sind eine Verbrämung der antisophischen Stimmung. Und diese antisophische Stirn-mung ist begreiflich. Denn dem wirklich theosophisch Emp­findenden, der da weiß, daß die Menschenseele doch zu ihrem Heil und zu ihrer Gesundheit immer den Zusam­menhang mit der Welt suchen muß, mit der sie in ihren tiefsten Wurzeln zusammenhängt, ist nichts begreiflicher, als die antisophische Stimmung. Jede Art von Gegnerschaft, jede Art von Mißverständnis, jede Art sogar von Schimpfe­rei, von Aufregung gegen die Theosophie ist ja verständlich, ganz verständlich. Und wer solche Mißverständnisse, solche Gegnerschaft und dergleichen vorbringen mag, der sollte doch nur immer bedenken, daß er, wie er auch, sagen wir gleich das Argste, wüten mag oder zornig sein mag oder sich Luft machen mag gegenüber der Theosophie, damit dem theosophisch Empfindenden nicht das allergeringste Unverständliche und Überraschende sagt, weil dieser ihn ja verstehen kann. Der theosophisch Empfindende unter­scheidet sich von ihm nur dadurch, daß der, welcher so kämpft oder wütet, selbst gewöhnlich nicht weiß, warum er es tut, weil die Quellen dazu in dem Unterbewußten liegen, das aus sich heraus die antisophische Stimmung an­regt; während der theosophisch Gesinnte zugleich wissen kann, daß diese antisophische Stimmung so lange das Allernatürlichste von der Welt ist, solange man nicht be­griffen hat, was der Menschenseele edelstes Streben ist. Nicht daß man gut geurteilt hat, nicht daß man logisch gedacht hat, zeigt man, wenn man in der antisophischen Stimmung ist, sondern nur das, daß man noch nicht den Schritt unternommen hat, um zu begreifen, daß Theoso­phie aus den Quellen des Daseins heraus spricht.

Und auch derjenige, welcher nicht Geistesforscher ist,

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kann diese Theosophie verstehen, kann sie voll aufnehmen und zum lebendigen Elixier, im geistigen Sinne gesprochen, seines Seelenlebens machen. Denn warum? Weil das, was vom Geistesforscher gleichsam jenseits des gewöhnlichen sinnlichen Erlebens erlebt wird, ausgedrückt werden kann in derselben Sprache, in welcher die Erlebnisse des alltäg­lichen Lebens und der alltäglichen Wissenschaft ausgedrückt werden. Das ist das Bemühen gerade dieser Vorträge, daß dieselbe Sprache für die geistigen Regionen gesprochen wird - nicht die äußere Sprache, sondern die Sprache der Gedanken-, wie sie in der äußeren Wissenschaft gesprochen wird. Allerdings kann man das Sonderbarste erleben, zum Beispiel daß man bei denjenigen, welche sich gegen die Theosophie aus der antisophischen Stimmung heraus wen­den, die Sprache, die sie für das äußere Leben und die äußere Wissenschaft gelten lassen, nicht wiedererkennen kann, wenn sie sich über das geistige Gebiet ergehen.

Was die Theosophie dem Menschen sein kann, das ist, ihm die Möglichkeit eines Zusammenhanges mit dem Ur­quell seines Daseins zu geben, ihn dann hinzuweisen auf denjenigen Punkt, wo die Tiefen seiner Seele mit den Tie­fen der Welt zusammenhängen. Dadurch daß der Mensch in der Theosophie die göttlich-schöpferischen Kräfte er­greift, die ihn selber organisieren, die mit ihm ins Dasein treten und seinen Leib ergreifen, um ihn plastisch durch­zugestalten, dadurch steht der Mensch mit der Theosophie innerhalb derjenigen Weltenkraft drinnen, die neben dem Leibe auch der Seele Gesundheit und Kraft, Sicherheit und Hoffnung und alles, was sie für das Leben braucht, geben kann. Wie der Mensch gegenüber allem, was hinter der physischen Welt ist, mit der Theosophie in den schöpfe­rischen Quell des Daseins eindringt, so dringt er auch in bezug auf sein moralisches Leben in den schöpferischen

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Quell des Daseins ein. Das Dasein wird erhöht, im besten Sinne erhöht. Der Mensch fühlt in der Theosophie seine ßestimmung, seinen Wert, fühlt aber auch seine Aufgaben und Pflichten in der Welt, weil er sich in Wahrheit mit demjenigen zusammenhängend findet, an dem er sonst nur ein unbewußtes Glied ist. Das Leben außerhalb dieses Quelles, das Leben in Antisophie verödet das Dasein der Seele. Im Grunde genommen ist alle Seelenöde, aller Pessi­mismus, aller Zweifel am Dasein, alles Nichtzurechtkom­men mit seinem Pflichtenleben, ist alles Fehlen von mora­lischen Impulsen aus der antisophischen Stimmung des Le­bens entsprungen. Theosophie ist nicht dazu da, um irgend welche Ermahnungen und dergleichen zu geben, sondern um auf den Wahrheitsgehalt des Lebens hinzudeuten. Wer diesen Wahrheitsgehalt erkennt, der wird daraus die Im­pulse des Lebens auf äußerem wie auf moralischem Gebiete selber finden. Theosophie setzt sozusagen die Menschen­seele in den Stand, den sie haben muß; denn sie gibt der Seele das, wodurch sich diese wirklich wie versetzt fühlt in eine Fremde, in welche sie kommen mußte. Denn Theoso­phie ist nicht erdenfeindlich. Wenn der Mensch sich durch sie selbst versteht, dann versteht er sich so, daß er aus einer Fremde, in der er sein muß, um zu seiner vollen Menschen-bedeutung zu kommen, wieder aufsteigen muß in die Welt, in der er seine Wurzeln hat, in der seine Heimat liegt. Und aus dieser Heimaterkenntnis, aus diesem Heimatempfinden heraus, das die Theosophie geben kann, fließen der Seele Lebensmut, Lebenserkenntnis, Klarheit über ihre Pflichten, über die Impulse des Lebens zu, die unter der antisophi­schen Stimmung immer dunkel und stumpf bleiben, wenn man auch meint, daß sie noch so hell und klar sind. Theoso­phie erzeugt in Wahrheit diejenige Stimmung, die, wenn das Wort nicht mißbraucht wird, eine monistische Seelenstimmung

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werden kann, ein Sich-eins-Fühlen mit dem die Welt durchwebenden und durchlebenden Geiste. Und ein Sich-Wissen in diesem Geiste ist Theosophie, ein solches Sich-Wissen in diesem Geiste, daß man weiß: Was in mir lebt und webt, das wird durchpulst und durchkraftet von dem Geiste, der durch alles Dasein zieht.

Eins fühlten sich die besten Geister der Menschheits-entwickelung dennoch mit dieser Theosophie, wenn sie auch nicht immer zu dem aufgestiegen sind, was im Beginne des zwanzigsten Jahrhunderts, denn die Weltentwickelung schreitet vor, als Welterkenntnis gegeben werden kann. Wenn Fichte, scharf in den Gedankengängen konturiert, die Natur des menschlichen Ich hinzustellen versucht, durch ganze Bücher hindurch, und wenn sich ihm das, was sich ihm aus ganz andersartigen Gedankengängen heraus, als sie hier auseinandergesetzt sind, als Stimmung ergibt, gleich­sam in die Worte zusammenkristallisiert: Der Mensch, der sich in seinem Ich wirklich erlebt, erlebt sich in der geistigen Welt drinnen -, dann ist das theosophische Stimmung, theo­sophisches Weltbewußtsein. Dann ist das etwas, was aus die­sem theosophischen Weltbewußtsein eben gerade in Fichte die schönen Worte geprägt hat, die sich wie eine notwen­dige Konsequenz aus dem iheosophischen Weltenbewußt-sein heraus ausnehmen. Es ist ja wahrhaftig grandios, wie Fichte in seinen Vorlesungen «Über die Bestimmung des Gelehrten» einige Sätze geprägt hat, wo sich ihm wieder das, worüber er viel, viel gedacht hat, und was sich wie eine theosophische Stimmung ausnimmt, in die Worte zu-sammenkristallisiert: Wenn ich mich erkannt habe in mei­nem Ich, in der geistigen Welt drinnen stehend, so habe ich mich auch erkannt in meiner Bestimmung! Wir würden sagen: daß das Ich den Punkt gefunden habe, wo es in seinem eigenen Sein mit den Wurzeln des Weltenseins zusammenhängt.

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Und weiter sagt Fichte: «Ich hebe mein liaupt kühn empor zu dem drohenden Felsengebirge, und zu dem tobenden Wassersturz und zu den krachenden, in einem Feuermeer schwimmenden Wolken und sage: ich bin ewig und trotze eurer Macht! Brecht alle herab auf mich, und du Erde und du Himmel vermischt euch im wilden Tumulte, und ihr Elemente alle, schäumet und tobet und zerreibet im wilden Kampfe das letzte Sonnenstäubchen des Körpers, den ich mein nenne - mein Wiile allein mit seinem festen Plane soll kühn und kalt über den Trüm­mern des Weltalls schweben. Denn ich habe meine Bestim­mung ergriffen, und sie ist dauernder als ihr; sie ist ewig und ich bin ewig wie sie.» Das ist ein Wort, das aus einer theosophischen Stimmung kommt. Bei einer anderen Ge­legenheit, als er die Vorrede zu seiner «Bestimmung des Gelehrten» schrieb, hat er gegen den antisophischen Geist die bedeutungsvollen Worte gesprochen: «Daß Ideale in der wirklichen Welt sich nicht darstellen lassen, wissen wir anderen vielleicht so gut, als sie, vielleicht besser. Wir be­haupten nur, daß nach ihnen die Wirklichkeit beurteilt, und von denen, die dazu die Kraft in sich fühlen, modifi­ziert werden müsse. Gesetzt» - so sagt Fichte; ich würde mir vielleicht nicht gestatten, dies so ohne weiteres zu sagen, wenn es eben nicht Fichte sagte - «sie könnten auch davon sich nicht überzeugen, so verlieren sie dabei, nachdem sie einmal sind, was sie sind, sehr wenig; und die Menschheit verliert nichts dabei. Es wird dadurch bloß das klar, daß nur auf sie nicht im Plane der Veredelung der Menschheit gerechnet ist. Diese wird ihren Weg ohne Zweifel fort­setzen; über jene wolle die gütige Natur walten und ihnen zu rechter Zeit Regen und Sonnenschein, zuträgliche Nah­rung und ungestörten Umlauf der Säfte, und dabei - kluge Gedanken verleihen! »

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So sagt Fichte. Und einig fühlt man sich in der theoso­phischen Stimmung, wenn auch, wie gesagt, Geister ver­gangener Zeiten über die geistige Welt nicht in so konkreter Weise sprechen konnten, wie es heute möglich ist, einig fühlt man sich mit diesen Persönlichkeiten, welche dieses theosophische Fühlen, diese theosophische Stimmung hat­ten. Darum fühle ich mich, indem ich noch so Gewagtes in diesen Vorträgen sage, immer in jedem Worte, in jedem Satze einig mit Goethe - und insbesondere einig mit Goethe in der theosophischen Stimmung, die alles, was er gedacht und gedichtet hat, voll und lebendig durchzieht; so daß er auch ein gutes Wort mit Bezug auf die theosophische und antisophische Stimmung sagen konnte, ein Wort, mit dem ich mir gestatten werde, diese heutige Betrachtung über «Theosophie und Antisophie» zum Abschluß zu bringen. Goethe hatte ein recht antisophisches Wort gehört, das von einem glänzenden, bedeutenden Geiste, von Albrecht von Haller, ausgegangen ist. Aber Albrecht von Haller lebte im Grunde genommen in einer besonders antisophischen Stimmung, obwohl er ein großer Naturforscher seiner Zeit war; dennoch ist es ein antisophisches Wort, wenn er sagt:

Ins Innre der Natur

Dringt kein erschaffner Geist.

Glückselig! wem sie nur

Die äußre Schale weist!

Goethe empfand dies, wenn er auch nicht die Worte theo­sophisch und antisophisch gebraucht, als eine antisophische Stimmung. Und er charakterisiert etwas drastisch, aber mit Worten, wodurch er eine solche Art der Betrachtung abweisen wollte, den Eindruck, den das antisophische Wort Hallers auf ihn machte, dem Gedanken Ausdruck gebend, daß die Seele unter einer solchen Betrachtungsweise sozu­sagen

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sich selbst verlieren müßte, verlieren müßte die Kraft und die Würde, die ihr gegeben sind, um sich selbst zu er­kennen:


O du Philister! -

,

Mich und Geschwister

Mögt ihr an solches Wort

Nur nicht erinnern;

Wir denken, Ort für Ort

Sind wir im Innern.

«Glückselig, wem sie nur

Die äußre Schale weist!»

Das hör' ich sechzig Jahre wiederholen,

Ich fluche drauf, aber verstohlen;

Sage mir tausend, tausend Male:

Alles gibt sie reichlich und gern;

Natur hat weder Kern

Noch Schale,

Alles ist sie mit einem Male;

Dich prüfe du nur allermeist,

Ob du Kern oder Schale seist.

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GEISTESWISSENSCHAFT UND RELIGIÖSES BEKENNTNIS Berlin, 20. November 1913

Bevor ich in dieser Vortragsserie zu den einzelnen Ergeb­nissen der Geisteswissenschaft, die im Laufe dieses Winters angeführt werden sollen, übergehe, was vom nächsten Vor-trage an geschehen soll, sei heute einleitend eine Betrach­tung angestellt über eines der vielen Mißverständnisse, welches von unserer gegenwärtigen Zeitbildung der hier gemeinten Geisteswissenschaft entgegengebracht wird.

Immer wieder und wieder kann man ja unter den ver­schiedenerlei Einwänden auch den hören, daß die Geistes­wissenschaft den Menschen von dem abbringe, was ihm als religiöses Bekenntnis, als religiöses Leben, als religiöse Weltauffassung wert und teuer, ja vielleicht innerlich intim notwendig ist. Und warum sollte man denn in der Gegen­wart in einer gewissen berechtigten Weise nicht eine solche Befürchtung haben, gerade wenn die Geisteswissenschaft, wie es ja hier schon betont worden ist und noch öfter wird betont werden müssen, im wirklichen echten Sinne die Fortsetzerin und Erfüllerin der Naturwissenschaft sein will, wie sie sich seit drei bis vier Jahrhunderten in unserm Geistesleben herausgebildet hat. Wie sollte man dies denn nicht befürchten, da doch in weiten Kreisen unserer gegen­wärtigen Gebildeten gerade die Meinung vertreten wird, daß die naturwissenschaftliche Denkweise, daß eine Welt-anschauung, die, wie man so sagt, auf dem festen Boden der Naturwissenschaft aufgebaut ist, nichts zu tun haben

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könne mit jenen Voraussetzungen, die dem religiösen Leben zugrunde liegen? Es ist tatsächlich die Meinung vieler, daß derjenige, der sich in der Gegenwart wirklich bis zu jener Höhe emporarbeitet, welche die, wie man eben so sagt, «wahre Wissenschaft» der Gegenwart gibt, sich frei machen müsse von dem, was man durch lange Zeiten menschlicher Entwickelung hindurch religiöses Leben, religiöses Bekennt­nis genannt hat. Und in vielen Kreisen gilt es ja, daß reli­giöse Vorstellungsart, religiöses Fühlen und Denken einer Art kindlicher Entwickelungsstufe der Menschheit ent­spreche, während wir in das reife Zeitalter menschlicher Geistesentwickelung eingetreten seien, das dazu berufen sei, die alten religiösen Vorurteile, die eben einer kind­lichen Auffassung entsprächen, abzustreifen und zu dem­jenigen überzugehen, was eine rein wissenschaftliche Vor­stellungsweise oder vielleicht Weltanschauung ist.

Wenn man bei vielen Menschen der Gegenwart Umschau hält, so wird man eine solche Stimmung, wie sie eben charakterisiert worden ist, heute sehr häufig finden. Aber auch ein geschichtlicher Überblick über die allerjüngste Phase menschlichen Geisteslebens, über die letzten Zeiten des neunzehnten Jahrhunderts kann den Eindruck hervor­rufen, der etwa in folgender Weise zu charakterisieren ist: Religiöse Geister, Menschen, denen es um die Rettung, um die Pflege religiösen Sinnes zu tun war, sie fühlten sich - das ist eine charakteristische Erscheinung vielfach gerade des neunzehnten Jahrhunderts -, da sie die Religion ge­fährdet glaubten, von einem bestimmten Gesichtspunkte aus gezwungen, das Gebiet des religiösen Lebens gegenüber dem Ansturm des neuzeitlichen wissenschaftlichen Lebens zu retten. Das geht wiederum bis in unsere Tage herein. Und zahlreich sind die Schriften, die Literaturwerke, welche gerade in unseren Tagen von philosophischen oder anderen

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Standpunkten aus sich die Aufgabe stellen, die Notwen­digkeit des religiösen Lebens für die menschliche Seele auseinanderzusetzen gegenüber allen Anforderungen der wissenschaftlichen Denkweise und Weltanschauungen. Es müßte ja allerdings viel auseinandergesetzt werden, wenn auf die Grundlagen hingewiesen werden sollte, die so zahl­reich zu solchen Behauptungen berechtigen, wie sie eben gemacht worden sind. Es könnte zum Beispiel, weil dies eine charakteristische, eine symptomatische Erscheinung ist, die bezeugt, wie bei einzelnen Denkerpersönlichkeiten etwas lebte, was in den Herzen vieler schlummerte, es könnte hin­gewiesen werden auf die Bestrebungen der Ritschl-Her­mann'schen Theologenschule. Nicht um diese Schule zu charakterisieren, nicht um den ausgezeichneten Religions­denker Ritschl zu charakterisieren, sei darauf hingedeutet, oder um das zu charakterisieren, was Ritschl und seine An­hänger erstrebten. Weniger sei der eigentliche Juhalt der Ritschl-Hermann'schen Anschauung hier gegeben, als viel­mehr die Stimmung, aus der sie herausgewachsen ist.

Man sieht in Ritschl einen Denker, einen tief religiösen Denker, der sich eben dazu berufen fühlte, die Religion, als religiöses Gut, gegenüber dem Ansturm wissenschaftlicher Erkenntnis zu schützen. Wie suchte er dies zu vollbringen? Er suchte es zu vollbringen, indem er sagte: Nehmen wir einmal die Wissenschaft, wie sie sich im Laufe der letzten drei bis vier Jahrhunderte herauf entfaltet hat, so zeigt sie, wie sie Errungenschaft über Errungenschaft in bezug auf eine Naturerkenntnis erreicht hat, wie der menschliche Ver­stand in die Geheimnisse der materiellen Außenwelt ein­gedrungen ist. Und wenn man Umschau hält über alles, was so im laufe der letzten drei bis vier Jahrhunderte er­rungen worden ist, so muß man sagen: Aus alledem etwas herauszupressen - so sagte sich Ritschl -, was die menschliche

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Seele so ergreifen könnte, wie die religiösen Wahr­heiten und das religiöse Bekenntnis die menschliche Seele ergreifen sollen, - das kann man nicht. Daher suchen Ritschl und seine Schüler nach einer ganz anderen Quelle für das religiöse Bekenntnis. Sie sagen sich: Stets wird die Religion gefährdet sein, wenn man sie auf jene Erkenntnisart stützen will, wie sie auch in der Naturwissenschaft üblich ist, und stets wird man vor der Unmöglichkeit stehen, aus der naturwissenschaftlichen Denkart selbst etwas heraus­zupressen, was die Menschenseele begeistern und durch­dringen könnte. Daher muß man ein für allemal darauf verzichten, in die Religion etwas einzumischen, was Gegen­stand der Wissenschaft ist. Aber dafür gibt es in der mensch­lichen Seele ein ursprüngliches Glaubensleben, das sich nur frei halten müsse, sich ganz getrennt halten müsse von jeg­licher Invasion der Wissenschaft, und das, wenn es sich ent­faltet und sich innerlich belebt, zu in sich selbst bestehenden Erlebnissen, zu innerlichen Tatsachen kommen könne, welche die Menschenseele in Zusammenhang bringen mit dem, was eben Inhalt des religiösen Bekenntnisses sein müsse.

So also sucht diese Schule das religiöse Bekenntnis zu retten, indem sie dasselbe zu reinigen versucht von jeglicher Invasion des Wissenschaftlichen. Wenn so die Seele, die darauf verzichtet im religiösen Glaubensleben etwas zu haben, was auch nur von ferne dem ähnlich sehen könnte, was auf wissenschaftlichem Wege errungen wird - wenn so die Seele dieses in ihr selber gereinigte Leben entfaltet, dann steigt ihr innerlich das auf, was ihren Zusammenhang mit den göttlichen Urgründen des Daseins bedeutet; dann fühlt sie, daß sie innerlich, als seelische Tatsache, ihren Zu­sammenhang mit dem Göttlichen in sich trägt.

Wenn man nun auf solche Bestrebungen wie die der

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Ritschl-Hermann'schen Schule, die ja viele, namentlich theologische Denker heute noch beherrscht, tiefer eingeht, dann sieht man aber sofort: Ja, wie der Mensch heute ist, wie sein gegenwärtiges Seelenleben ist mit allem, was in diesem Seelenleben lebt, so kann ja in einer gewissen Weise, man möchte sagen, eine Art sehr durchdestillierten Mysti­zismus aus dieser Seele herausgeholt werden; aber wenn es sich darum handelt - das zeigt gerade die Ritschl'sche Schule -, wirklich einzelne religiöse oder Glaubenswahr­heiten zu haben, dann sieht sich eine solche Denkrichtung dazu gezwungen, doch von irgendwoher die Seele mit einem Inhalt anzufüllen, weil sie sonst in einem ganz engen mystischen Leben befangen bleiben müßte. Und so nimmt diese selbe Ritschl'sche Schule auf der anderen Seite doch wiederum das Evangelium auf, nimmt die Wahrheiten auf, die durch das Evangelium vermittelt werden und läßt eine tiefe Kluft zwischen ihrer Anforderung: nur aus der Seele selbst heraus die Glaubenswahrheiten, die göttlichen Wahrheiten zu entwickeln - wodurch aber in dieser Schule nimmer eine einzelne Seele dazu kommen könnte, den­selben Inhalt aus sich heraus zu entwickeln, der in den Evangelien steht -, läßt eine tiefe Kluft zwischen dem, was die Seele aus sich heraus gewinnen kann und dem, was die Seele dann doch wieder von außen durch die Offenbarun­gen der Evangelien in sich herein nimmt. Ja, zu einer noch tieferen Kluft kann es kommen, und das haben die An­hänger dieser Schule selbst bemerkt, wenn sie sagten: Jeder Mensch kann, wenn er sich unbefangen dem überläßt, was in seiner Seele sprießt und sproßt, zu einem gewissen Zu­sammenhange mit dem Göttlichen kommen, das in seine Seele hereinspricht. Du stehst ja mit deiner Seele in einem göttlich-geistigen Zusammenhange. Aber die einzelnen See­len konnten nicht zu solchen inneren Erlebnissen kom­men,

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wie sie etwa Paulus oder Augustinus gehabt haben. Solche Erlebnisse müssen daher doch auch von außen her­eingenommen werden. Kurz, in dem Augenblick, wo eine solche Richtung, die rein durch das religiöse Gefühl, eben mit Austreibung aller Wissenschaftlichkeit, zu dem religiö­sen Bekenntnis kommen will, wo eine solche Schule einen wirklichen Inhalt begehrt, wo sie nicht nur begehrt in den allgemeinen Gefühlen des göttlichen inneren Erlebens my­stisch zu weben, sondern wo sie anstrebt in Gedanken aus­zusprechen, wie der Zusammenhang der Seele mit dem Göttlichen ist: da ist sie gezwungen, ihr eigenes Prinzip zu sprengen! Und zu denselben widerspruchsvollen Anschau­ungen würden wir geführt werden, wenn wir versuchen wollten, die religiös-philosophischen Anschauungen des neunzehnten Jahrhunderts, wie sie sich bis in unsere Zeit hinein entwickelt haben, vor unserer Seele vorüberziehen zu lassen.

Das aber muß doch gesagt werden: Es ist charakteristisch, daß viele ernste, sehr ernste Denker auf dem Gebiete der Religionsforschung gerungen haben nur nach einem Begriff, nach einer Idee, nach einer Definition der Religion, und daß man im Grunde genommen, wenn man über das Um­schau zu halten versucht, was auf diesem Gebiete geleistet worden ist, nicht einmal einen befriedigenden Begriff von dem finden kann, was Religion ist, wie Religion in der menschlichen Seele entsteht, aus welchen Impulsen der Menschenseele sie hervorquillt. Das ist etwas, was gerade bei den ernsten Religionsforschungen des neunzehnten Jahr­hunderts, und bis in unsere Zeit herein, durchaus in ein weites Netz von Polemik verstrickt ist. Da gibt es Leute, die davon sprechen, daß die Menschen von einer gewissen Art, die Natur zu verehren, dazu aufgestiegen sind, hinter den Naturerscheinungen ein Göttliches, ein Geistiges zu

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vermuten und dann dieses Göttliche, dieses Geistige in der Natur zu verehren. Da gibt es solche Forscher, die der an­deren Meinung sind, daß das religiöse Bedürfnis von dem ausgegangen sei, was man Seelenkult nennen könnte. Der Mensch sah zum Beispiel, um gleich auf das Konkrete ein­zugehen, die Menschen hinsterben, die ihm teuer waren, und er konnte sich nicht denken, daß das, was ihren inner­sten Wesenskern ausmacht, vergangen sei; so versetzte er sie in eine Welt, in der er sie weiter verehrte. Ahnen-Ver­ehrung, Seelenkult, so meinen solche Forscher, sei der Ur­sprung des religiösen Fühlens und Empfindens. Dann seien die Menschen weitergegangen, hätten das, was sie in dem Menschen fühlten und verehrten, auch in die Natur hinaus-vers etzt; so daß die Vergöttlichung der Naturkräfte dadurch entstanden sei, daß man ursprünglich nur Ahnenseelen als fortlebend angenommen habe, aber solche verehrten Ahnen-seelen habe man ins Göttliche erhoben und zu Herrschern über Naturkräfte und Welten gemacht. - Eine dritte Strö­mung, deren Meinung insbesondere der Religionsforscher Leopold von Schroeder klar ausgesprochen hat, sagt, es zeige sich in der menschlichen Natur, und gerade die Er­forschung auch der primitivsten Völker bezeuge dies, ein Trieb, ein tatsächlicher Trieb und Impuls, hinter allen Er­scheinungen eine gute Wesenheit anzunehmen, welche über das Gute in der Welt wache; und die Ausbildung dieses Triebes und Impulses sehe man in den verschiedenen Re­ligionen und religiösen Bekenntnissen.

Gegen jede solche Anschauung kann man zeigen - die Zeit reicht heute dazu nicht aus, ich kann es nur andeuten -, wie sie auf irgend etwas nicht paßt, was man, wenn man einfach ein Verständnis für das religiöse Leben und das religiöse Bekenntnis des Menschen hat, nach diesem Ver­ständnisse doch als Religion bezeichnen muß. Da sich die

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Geisteswissenschaft so, wie sie hier gemeint ist, als etwas unserer Geistesbildung Neues in die Menschheitsentwicke­lung hineinstellen will, so würde es wenig fruchten, wenn diese Geisteswissenschaft sich mit all diesen Anschauungen über die Grundlagen, über Ursprung und Wesen des reli­giösen Bekenntnisses auseinandersetzen wollte. Denn das muß gesagt werden, daß der Blick auf alle diese Ausein­andersetzungen im Grunde genommen die eine Frage un­befriedigt läßt: Wie steht es mit dem religiösen Bekennt­nis innerhalb der Gesamtheit der menschlichen Natur, der menschlichen Persönlichkeit? Daher werde ich auch dies­mal in ähnlicher Art verfahren, wie ich das letzte Mal mit der Erörterung über «Antisophie» verfahren bin. Wie ich nicht darauf einging, was an Antisophie da oder dort hervortritt, sondern gerade vom geisteswissenschaftlichen Standpunkte aus einleitend zu zeigen versuchte, wie Antisophie in der menschlichen Natur als solcher begründet ist, und wie man sich nicht zu wundern braucht, wenn sie da oder dort auftritt, so werde ich versuchen, den Grund der Religion in der menschlichen Natur zu schildern, um dann zeigen zu können, wie die Geisteswissenschaft, die als solche auf das Ganze der menschlichen Natur geht oder wenigstens gehen will, sich im ganzen in das Leben hinein-stellt, das in der menschlichen Seele von einem religiösen Bekenntnis getragen sein will.

Geisteswissenschaft ist ja ihrer ganzen Anlage, ihrem ganzen Wesen nach weniger dazu berufen, sich in pole­mische Auseinandersetzungen einzulassen; sie ist vor allen Dingen dazu berufen, zu schildern, wie sich die Dinge ver­halten, um es dann jedem selbst zu überlassen, welches Verhältnis diese Geisteswissenschaft zu den einzelnen Zwei­gen und Strömungen des menschlichen Seelenlebens haben kann. Daher soll es auch heute nicht meine Aufgabe sein,

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mich mit dem religiösen Bekenntnis als solchem geistes­wissenschaftlich auseinanderzusetzen, sondern zu zeigen, was Geisteswissenschaft sein will, und was religiöses Be­kenntnis sein kann, um es dann im Grunde genommen jedem selbst zu überlassen, was daraus in bezug auf das Verhältnis der beiden für Schlüsse zu ziehen sind. Da wird es sich vor allen Dingen darum handeln, auf einiges auf­merksam zu machen, was auch schon in diesen einleitenden Vorträgen über das Charakteristische der Geisteswissen­schaft gesagt worden ist, und es in Zusammenhang zu brin­gen mit einigen der tieferen Grundlagen der menschlichen Natur.

Geisteswissenschaft, Geistesforschung, so ist auseinander­gesetzt worden, beruht darauf, daß die menschliche Seele sich umzuwandeln vermag, eine innere, intime Entwicke­lung durchzumachen vermag, wodurch sie über das gewöhn­liche Anschauen des Alltags und auch über die gewöhnlichen Anschauungen der äußeren Wissenschaft hinauswächst und zu einer besonderen Erkenntnisart sich aufschwingt. Gei­steswissenschaft setzt voraus, daß ihr Forschungen zugrunde liegen, welche aus einer so von dem Körperlich-Physischen unabhängig gemachten Seele stammen, aus einer Seele, die in ihren Erlebnissen von der physischen Körperlichkeit unabhängig geworden ist. Wenn diese Seele durch ihre Entwickelung im Seelisch-Geistigen sich und die Welt selber erlebt, dann kommt sie zu Anschauungen, welche nicht die Sinneswelt, sondern welche die Geisteswelt betreffen. Der Geistesforscher versetzt sich also durch die schon angedeu­teten Übungen, die in den folgenden Vorträgen weiter be­sprochen werden sollen, mit seiner Seele, nachdem er diese umgewaridelt hat, in die geistige Welt hinein. Er ist dann in der geistigen Welt darinnen und redet, innerhalb ihrer stehend, von den Wesenheiten und Vorgängen der geistigen

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Welt. Dieses Sichhineinversetzen in die geistige Welt wird erreicht in verschiedenen Stufen, und im Grunde genom­men habe ich diese Entwickelung, welche die Seele dabei durchmacht, in meinem Buche «Wie erlangt man Erkennt­nisse der höheren Welten?» auseinandergesetzt. Wir wer­den zu der heutigen Betrachtung gerade diese Stufen etwas charakterisieren müssen.

Wenn durch eine solche Steigerung der Aufmerksamkeit, der Hingabe, wie sie in den beiden Vorträgen «Die geistige Welt und die Geisteswissenschaft» und «Theosophie und Antisophie» angedeutet worden ist, die menschliche Seele zum Erleben unabhängig von dem Physisch-Leiblichen kommt, dann ist ihr Erleben zuerst so, daß man die Vor­stellungen, die Empfindungen, den ganzen Seeleninhalt, zu welchem die Seele dann kommt, eine imaginative Welt nen­nen kann, eine imaginative Welt nicht aus dem Grunde, weil diese Welt eine bloße Einbildung wäre, sondern weil in der Tat das, was die Seele in sich erlebt, wenn sie sich gleichsam von dem Miterleben mit der Sinneswelt abhebt, wie aus dem Meere des Innenseins heraufkommt, sich herauferhebt und zunächst eine innerliche, rein geistige Bilderwelt, eine voll gesättigte Bilderwelt ist. Falsch wäre es, wenn jemand in dieser Bilderwelt, die also aus dem Meere des menschlichen Seelenlebens heraussprießt, sogleich eine Kundgebung der geistigen Welt selber sehen würde; denn diese Bilderwelt, diese imaginative Welt bezeugt zu­nächst nichts anderes, als daß das Innerliche, Seelische sich erkraftet, verstärkt hat, so daß es nicht nur aus sich heraus Vorstellungen, Empfindungen, innere Impulse in Anleh­nung an äußere Sinneseindrücke erleben kann, sondern daß es sich eben so verstärkt hat, daß aus seinem eigenen Schoße eine Bilderwelt hervorquillt, in der die Seele leben kann. Diese Bilderwelt, die namentlich durch eine Steigerung

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dessen erreicht wird, was man im gewöhnlichen Leben Aufmerksamkeit nennt, ist sozusagen zunächst nur ein Mittel, um in die wirkliche geistige Welt hineinzudringen. Denn wie diese Bilderwelt auftritt, kann niemals von irgendeinem Bilde gesagt werden, ob es einer geistigen Wirk­lichkeit entspreche oder nicht; sondern da muß etwas an­deres hinzutreten, was wieder erreicht wird durch eine Steigerung der Hingabe, damit nun von einer ganz anderen Seite her, als es der Mensch gewohnt ist, nämlich von der geistigen Welt her, in diese Bilder Inhalt quillt. Durch seine weitere Entwickelung erreicht der Geistesforscher, daß er von einem solchen Bilde sagen kann: Da hinein quillt geistiger Inhalt; es offenbart sich dir durch dieses Bild, das du in deiner Seele aufsteigen gefühlt hast, ein Wesen oder ein Vorgang der geistigen Welt. Wie du die äußeren Farben als Ausdruck der äußeren Sinnesvorgänge und der äußeren Sinneswesen ansieht, so darfst du diese Welt, weil sich darin die geistige Welt einsaugt, als ein Bild der gei­stigen Welt ansehen. Anderes mußt du ablehnen. - Man lernt auf diese Weise diese Bilderwelt mit Bezug auf die geistige Welt so erleben, wie die Buchstaben für das ge­wöhnliche Leben. Wie die Buchstaben nur etwas ausdrücken, wenn man sie im Geiste zu Worten zusammenzufügen versteht, die bedeutungsvoll sind, wie die Buchstaben da erst Ausdrucksmittel sind, so sind die Bilder der geistigen Welt erst wirklich die Kundgebungen einer geistigen Welt, wenn sie Ausdrucksmittel werden für eine Welt, in die sich die Seele des Geistesforschers hineinzuversetzen vermag. Dabei geht in der Tat das vor sich, was man nennen könnte ein völliges Auslöschen der gesamten imaginativen Welt. Denn die Bilder setzen sich um, kombinieren sich in der mannigfachsten Weise. Wie die Buchstaben aus dem Setz­kasten des Setzers genommen und zu Worten geformt

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werden, so werden gleichsam die Imaginationen durchein­andergeworfen im geistigen Wahrnehmen und werden zu Ausdrucksmitteln für eine geistige Welt, wenn sich der Geistesforscher zu der zweiten Stufe einer höheren Er­kenntnis erhebt, die man nennen kann - man stoße sich nicht an dem Ausdruck - die inspirierte Erkenntnis, die Erkenntnis durch Inspiration. Da fügt sich innerhalb der inspirierten Erkenntnis in diese Bilder, zu deren Erleben man in der Seele fähig geworden ist, die objektive geistige Welt hinein. Aber in dieser Inspiration erlangt man doch nur etwas, was man bezeichnen könnte als die Außenseite der geistigen Vorgänge und Wesenheiten. Man muß sozu­sagen, um in die geistige Welt wirklich hineinzukommen, in die Dinge untertauchen, muß eins werden mit den Din­gen der geistigen Welt. Das geschieht in der Intuition, in der dritten Stufe geistiger Erkenntnis. So steigt der Geistes-forscher durch Imagination, Inspiration und Intuition in das Gebiet der geistigen Welt hinein. Mit der Intuition steht er in der geistigen Welt so darinnen, daß dann sein eigenes geistig-seelisches Selbst unabhängig geworden ist von allem Leiblichen, wie es näher beschrieben ist in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» und unter­getaucht ist in die geistigen Wesenheiten der Welt, soweit das für seine Befähigung möglich ist. Damit ist das charak­terisiert, was man nennen kann das Verhältnis der Geistes-forschung zu der geistigen Welt, ein Drinnenstehen in der geistigen Welt, ein Sich-Einsfühlen und ein mit den Wesen und Vorgängen der geistigen Welt einhergehendes Erleben des Geistigen. Das muß als das Charakteristikum der Gei­steswissenschaft aufgefaßt werden.

Nun handelt es sich darum: Wenn eine solche Geistes­wissenschaft entsteht, wie sie auf dem Wege einer solchen Forschung entstehen kann, wie kann dann ein Verhältnis

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dieser Geisteswissenschaft, dieser Geistesforschung zu dem religiösen Bekenntnis gedacht werden?

Das wird sich ergeben, wenn wir nun das menschliche Seelen- und Persönlichkeitsleben, wie es im Weltenganzen drinnen steht, in seiner Totalität, in seiner Ganzheit be­trachten. Da bietet sich uns etwas dar, was genannt werden könnte die Klimax der Seelenentfaltungen, und von dieser Klimax der Seelenentfaltungen möchte ich heute zu Ihnen sprechen.

In der Tat entfaltet sich die menschliche Seele im wirk­lichen vollen Leben drinnen, man möchte sagen, in vier Stufen. Damit kein Mißverständnis entsteht, damit nicht der Glaube entstehen könnte, als ob durch das Wort Klimax die eine oder die andere Stufe als vornehmer oder höher bezeichnet werde, so möchte ich nur sagen, daß vier ver­schiedene Stufen, über deren Wert gar nichts ausgesagt wer­den soll, in der menschlichen Seelenentfaltung unterschieden werden. Da haben wir zunächst die Stufe, welche wir be­zeichnen können als das sinnliche Erleben der Außenwelt. Im sinnlichen Erleben der Außenwelt steht der Mensch in der Tat in dem ganzen Weltgeschehen darinnen, wenn auch nur im materiellen Weltgeschehen; und es geht gar nicht an, daß man den Menschen anders betrachtet, insofern er sich auf der Stufe des sinnlichen Wahrnehmens befindet, als mitten drinnen stehend in der materiellen Welt.

In bezug auf das, was hier gemeint ist, erlebt man gerade in der Gegenwart ganz sonderbare Dinge. Als diejenigen, welche jetzt mehr oder weniger weit über die erste Lebens-hälfte hinaus sind, jung waren und damals vielleicht philo­sophische Studien getrieben haben, da galt es ja als etwas Selbstverständliches, daß man sich wenigstens in der einen oder anderen Form zu dem Kant-Schopenhauerschen Satze bekannte: «Die Welt ist meine Vorstellung.» Ich habe schon

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darauf aufmerksam gemacht, daß das ganz gewöhnliche Erleben, so trivial es klingt, diesen Satz umwerfen muß. Denn man muß, wenn man sich in die Wirklichkeit hinein­stellen will, trotz all der Ausführungen, die auf diesem Gebiete gemacht worden sind und die auf nichts anderem als auf Mißverstehen beruhen, sagen: Der gesund Erlebende muß unterscheiden zwischen seiner Vorstellung und dem, was er Wahrnehmung zu nennen berufen ist. Wenn zwischen Vorstellung und Wahrnehmung kein Unterschied wäre, wenn das ganze Tableau der Außenwelt meine Vorstellung wäre, so müßte der Mensch ein Stück heißes Eisen von 5000 Celsius, das er sich nur vorstellt, ebenso empfinden, wenn er es an sein Gesicht legt, wie ein wirkliches Stück Eisen von 500°. Der Mensch muß, indem er sinnlich wahr­nimmt, in der Strömung der Außenwelt drinnen stehen. Und jetzt kann man es erleben, daß Philosophen wie zum Beispiel Bergson wiederherzustellen versuchen, was man in der Jugend Naivität nannte. Man nannte es einen «naiven Realismus», wenn man den Menschen in dem Strome der materiellen Welt unmittelbar drinnen stehend erblickte. Bergson sucht wieder zu zeigen, geradeso, als wenn die Philosophie bei ihm erst wieder beginnen w ürde, daß diese Anschauung die richtige ist, daß man sich den Menschen als sinnlichen Wahrnehmer drinnen stehend den­ken muß in der Welt der sinnlichen Gesetze. Da steht man also sinnlich wahrnehmend in der Welt drinnen, und das Charakteristische ist, daß die einzelnen Sinne gleichsam ge­trennte Weltengebilde wahrnehmen: eine Welt der Farben und des Lichtes, eine Welt der Töne, eine Welt der Wärme-differenzierungen, eine Welt der Härte und Weichheit und so weiter. Die einzelnen Sinne stehen auf dieser ersten Stufe des menschlichen Welterlebens in dem Strom des Weltgeschehens drinnen. Da bekommen wir auf dem Wege

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der Wahrnehmung, unmittelbar drinnen stehend in der sinnlichen, materiellen Welt, ein Weltbild. Dieses Welt­bild begleitet uns durch das Leben; mit diesem Weltbilde betätigen wir uns, unter seinem Eindruck handeln wir, es beherrscht uns, und wir beherrschen wiederum ein Stück Welt von diesem Weltbilde aus. So steht der Mensch, indem er ganz in den sinnlichen Weltenweiten lebt, in dem Strom des Weltgeschehens darinnen, insofern dieser materiell ist. Er ist gleichsam selbst ein Stück dieses Weltgeschehens, fühlt und erlebt sich und bekommt auf diese Weise sein Weltbild.

Eine zweite Stufe dieses Welterlebens kann genannt werden die Stufe des ästhetischen Erlebens, gleichgültig, ob sie im künstlerischen Schaffen oder im künstlerischen Emp­finden und Anschauen auftritt. Wenn man sich nur ober­flächlich klar machen will: wie erlebt man im ästhetischen Erleben? so muß man sagen: In erster Linie ist das ästheti­sche Empfinden gegenüber dem bloßen sinnlichen ein inner­liches Erleben. Wenn man Licht und Farben wahrnimmt, so ist man durch das Auge an Licht und Farben hingegeben; wenn man Töne wahrnimmt, ist man durch das Ohr an die Welt der Töne hingegeben; man ist gleichsam partiell an die Außenwelt hingegeben und steht mit einem Stück seines Seins in der Welt drinnen. Jeder aber, der über das künstlerische Schaffen oder über den künstlerischen Genuß, über das künstlerische Anschauen und über das ästhetische Empfinden nachgedacht hat, wird wissen, daß das ästheti­sche Empfinden erstens wesentlich innerlicher ist, als das bloße sinnliche Wahrnehmen; und zweitens ist es umfäng-licher, indem es aus dem Einheitlichen der menschlichen Natur herauskommt. Daher genügt zum ästhetischen Emp­finden nicht, daß wir eine Summe von Farben sehen oder eine Summe von Tönen hören; es muß der Enthusiasmus,

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die innere Freude beim ästhetischen Erleben hinzutreten. Wenn ich bloß wahrnehme, so nehme ich Farben wahr und suche ein Bild des sinnlich gegebenen Dinges zu bekommen; wenn ich ästhetisch anschaue, so lebt meine ganze Persön­lichkeit mit. Was von einem Bilde, das einen künstlerischen Inhalt hat, in mich überströmt, das ergreift mich ganz. Freude, Sympathie oder Antipathie, Lust, Erhebung durch­strömt mich; die ergreifen aber die ganze Persönlichkeit. Wir werden im Verlaufe dieser Vorträge hören, daß zu einem solchen Erleben, das verinnerlicht ist, wenn es sich auch an Dinge der Außenwelt, an Kunstwerke oder an die schöne Natur anschließt, ein zweites Glied der mensch­lichen Natur notwendig ist. Wenn auch eine solche An­nahme in unserm gegenwärtigen Geistesleben verpönt ist, wenn auch schon der Ausdruck für ein solches Glied der menschlichen Natur verpönt ist, die Annahme wird sich rechtfertigen. Wenn der Mensch mit seinem körperlichen, sinnlichen Wahrnehmen der Außenwelt gegenüber steht, wenn er gleichsam bloß den Strom des äußeren Geschehens an sich herankommen läßt, also mit seinem physischen Leibe die Vorgänge erlebt, so erlebt er als ästhetisch An­schauender etwas mit, was viel innerlicher mit ihm, mit seiner Wesenheit zusammenhängt: er erlebt mit dem, was wir den ästhetischen Menschenleib oder das ästhetische Menschenwesen nennen, das nicht an ein einzelnes Organ gebunden ist, sondern den ganzen Menschen als eine Ein­heit durchdringt. Der Mensch macht sich im ästhetischen Genuß, indem er allerdings von der Sinneswelt ausgeht, von dieser Sinneswelt frei. Von diesem Freimachen, von diesem innerlich Freiwerden hatte eine Zeit, welche die Zeit Goethes ist, viel mehr eine Vorstellung als unsere Zeit. Unsere Zeit ist ja - wir werden über diese Erscheinun­gen noch viel zu sprechen haben - die Zeit des Materialismus,

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die Zeit des Naturalismus. Die empfindet es schon als etwas Ungerechtfertigtes, wenn sich der Mensch in künstlerischem Anschauen abtrennen will von dem äußer­lich-sinnlichen Anschauen, von der sinnlichen Wahrneh­mung; daher verbietet man gleichsam im heutigen Natura­lismus solches künstlerische Schaffen, das sich von dem äußeren, sinnlichen Anschauen losmacht.

Das Goethesche Zeitalter, insbesondere Goethe und Schiller selber, ließen allerdings das, was nur Nachahmung der Natur ist, was etwas vor uns hinstellt, was schon in der Natur ist, nicht als wirkliche Kunst gelten, sondern es forderte, daß dasjenige, was Kunst sein soll, innerlich vom Menschen ergriffen und umgeformt sein müsse. Aber es sieht dabei noch auf einen anderen Gedanken. Goethe spricht ihn aus, spricht ihn besonders schön aus, als er durch Italien wandert, wo sich sein Ideal, die alte Kunst zu studieren, erfüllt hat. Nachdem er vorher zu Hause mit Herder und anderen den spinozistischen Gott studiert hat, da schreibt er nach Hause: «Die hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen: da ist Notwendigkeit, da ist Gott.» Das ist dieselbe Gesinnung, wie wenn Goethe einmal sagt: Die Kunst ist eine Mani­festation geheimer Naturgesetze, die ohne sie nicht offen­bar werden könnten. Oder wenn er sagt: der Künstler hat es nicht mit einer Phantastik zu tun, sondern er kommt ge­radezu durch das Anschauen des äußerlichen Leiblichen auch in das Künstlerische hinein. Daher reden Goethe und Schiller von einem Wahren in der Kunst und bringen das Erleben des Künstlers mit dem Erleben des Erkennenden zusammen. Sie fühlen, daß sich der Künstler zwar von der äußeren Natur trennt, sondert, daß er aber in dem,

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was er innerlich erlebt, näher steht demjenigen, was hinter allen Naturerscheinungen geistig waltet und wirkt. Daher sprechen solche Menschen von einem Wahren in diesem ästhetischen Schauen, in diesem ästhetischen Erleben. Goethe sagt sogar einmal sehr schön, als er einen von ihm ver­ehrten Asthetiker, Winckelmann, bespricht, daß Kunst eine Fortsetzung und menschlicher Abschluß der Natur ist, «denn, indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft und sich endlich bis zur Produktion des Kunstwerkes erhebt.» - Es würde zu weit führen, wenn ich nun wiederum zeigen wollte, wie in der Tat der Mensch, indem er sich also in der ästhetischen Anschauung zwar von der äußeren Naturanschauung entfernt, innerlich aber eine Wahrheit ergreift, wie in der Tat für denjenigen, der ästhe­tisch erleben kann, es eine tiefe Bedeutung hat, gegenüber einem Bilde, gegenüber einem Drama, einem Skulptur-werke oder einem Musikwerke das eine Mal zu sagen: Das hat eine innerliche Wahrheit - oder das andere Mal: Es ist verlogen, ohne daß gemeint ist, es sei der Natur nach­geahmt. Von künstlerischer Wahrheit in der Ästhetik zu sprechen ist etwas, was in der menschlichen Natur tief be­gründet ist. Es gibt eine Wahrheit und einen Irrtum auf diesem Gebiete, der nicht bloß darin besteht, daß man schlecht die äußere Natur nachbildet.

Dennoch, man kommt, wenn man also zum ästhetischen Anschauen vorrückt, aus dem Gebiete derjenigen Anschau­ung, die im gewöhnlichen Sinne wirklich zu nennen ist, in das Gebiet der Phantasie hinein, in eine Bilderwelt. Schon äußerlich angesehen stellt sich die Phantasiewelt

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der Kunst, verglichen mit der imaginativen Welt des Gei­stesforschers, so dar, daß sich die Phantasiewelt wie ein wirkliches Schattenbild zwar, aber doch wie ein Schatten­bild ausnimmt. Die imaginative Welt des Geistesforschers dagegen ist voll gesättigt von einer neuen Wirklichkeit. Die Phantasiewelt der Kunst ist das, was sich aus der un­mittelbaren sinnlichen Anschauung zurückzieht und wie im inneren Erleben gerade noch einen Zusammenhang mit der Menschenseele behält, einen Zusammenhang, der aber nicht derjenige mit der Sinneswelt ist. Daher ist die Kunst

- man braucht sich darüber nur einigen Aufschluß in Schil­lers Briefen über die «Ästhetische Erziehung des Menschen» zu holen - das, was den Menschen in freier Art über das sklavische Hereinnehmen der Anschauungen der Sinnes-welt heraushebt. Die Kunst ist das, was den Menschen von der Sinneswelt loslöst und ihm zum ersten Male das Be­wußtsein gibt: Du erlebst, auch wenn du nicht bloß die Sinneswelt in dich einströmen läßt; du stehst in der Welt drinnen, auch wenn du dich loslösest von der Welt, in die sinnlich dein Leib hineingestellt ist. - Diese Stimmung, die durch die Kunst gegeben wird, ist das, was dem Menschen in seiner Entwickelung ein Gefühl von seiner Bestimmung gibt, von seinem nicht bloß Gebanntsein in die physische Welt. Aber tatsächlich ist es so, wie wenn in der Kunst das imaginative Leben sich wie in einem Schattenbild zeigte. Mit vollerem Leben gesättigt als das bloße Phantasieleben ist das imaginative Leben. Das wäre die zweite Stufe in der Klimax der menschlichen Seelenentfaltung.

Die dritte Stufe in dieser Klimax ist nun dadurch zu charakterisieren, daß man sagt: Der Mensch verinnerlicht sich durch diese dritte Stufe noch mehr. In der Kunst hat er sich von außen nach innen bewegt, hat sich losgelöst von der Äußerlichkeit. Nun ist es denkbar, daß der Mensch

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über das äußere Erleben völlig hinwegsieht, rein innerlich erlebt, sich nur auf sich selbst stellt, so sich auf sich selbst stellt, daß er nicht wie in der Kunst, wie in der Phantasie-schöpfung dasjenige, was er vorstellt, mit dem durch­tränkt, was er wahrgenommen hat, obwohl er es von der Wahrnehmung befreit, sondern gar nichts von Wahrge­nommenem in sich hereinläßt. Da würde er der Sinneswelt noch entfernter mit seinem ganz vereinsamten, völlig ent­leerten inneren Leben dastehen, finster und stumm um ihn herum die äußere Welt, Sehnsucht nach irgend etwas in seiner Seele, nichts aber gegenwärtig, wenn nicht von einer ganz anderen Seite her in diese Seele etwas hereinkommen könnte, die also von aller Äußerlichkeit entleert ist. Ge­radeso wie die materielle Welt von außen an uns heran­kommt, wenn wir ihr unsere Sinne entgegenhalten, so kommt uns die geistige Welt innerlich entgegen, wenn wir in der geschilderten Weise nichts in unsere Seele herein­lassen und doch im wachen Zustande wartend dastehen. Was wir da erleben, das erst kann uns von unserem wahren Menschenwesen überzeugen; das zeigt uns erst, uns in un­serer wahrsten Selbständigkeit, in unserer wahrsten Inner­lichkeit. Und daß da etwas hereinkommen kann, was nicht von außen hereinkommt, das bezeugt das Vorhandensein der religiösen Vorstellungen aller Zeiten. Der Mensch bewegt sich, wenn er sich von der sinnlichen Wahrnehmung zu der ästhetischen Anschauung hinbewegt, im normalen Leben gleichsam bis zu einem Strome des Vergessens, des Nicht­erlebens. Über diesen Strom schwimmt er hinüber in seine Innerlichkeit hinein. Wenn in seine Innerlichkeit Inhalt kommt aus einer ganz anderen Welt, dann ist dieser Inhalt der religiöse Inhalt. Es ist der Inhalt, durch den der Mensch wissen kann, daß es über die Sinneswelt hinaus eine Welt gibt, eine Welt, die durch keine äußeren Sinnesorgane, die

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auch nicht durch eine solche Verarbeitung der Sinnesein­drücke, wie es durch die Phantasie geschieht, erreicht wer­den kann, sondern die mit Ausschluß alles Phantasielebens in rein innerlicher Hingebung aus dem Unsichtbaren herein-strömen läßt, was nun die Seele von innen geistig trägt und hält, geradeso, wie unseren Körper die äußere Natur trägt und hält, der ja gar nicht bestehen könnte, wenn er nicht als ein Stück der äußeren Natur bestehen würde. Sich als ein Stück der außersinnlichen, geistigen Welt zu erfühlen, ist dem Menschen ebenso selbstverständlich, wie es ihm beim äußerlichen Farbenwahrnehmen selbstverständlich ist, daß er Gegenstände voraussetzt, wenn er solche Farben wahrnimmt.

Nun muß an diesem Punkte auf etwas sehr Wichtiges aufmerksam gemacht werden. Es gab, wie wir noch sehen werden, in der menschlichen Entwickelung Zeiten, in denen es dem Menschen ebenso absurd vorgekommen wäre zu sagen: ich fühle etwas, aber dieses Gefühl wird nicht an­geregt von einer göttlich-geistigen Welt, wie es heute dem Menschen, wenn er gesund denkt, absurd vorkommt, daß er die Hand ausstreckend Wärme fühlen und nicht sagen würde: da ist ein Gegenstand, der mich brennt. Für das gesamte menschliche Seelenleben ist es, wenn man so etwas fühlt, ebenso gesund zu sagen: da ragt eine geistige Welt in uns herein, wie es gesund ist, wenn uns etwas brennt, auf einen brennenden Gegenstand hinzuweisen. Nun liegt hier etwas vor, was uns klar werden wird, wenn wir zwar heute noch nicht ganz herausgekommene Anschauungen ins Auge fassen; aber es leben diese Anschauungen schon auf dem Grunde der Seelenwelten. Immer mehr verbreitet sich durch die Naturwissenschaft die Anschauung, daß alles, was der Mensch erlebt, nur seine Vorstellungen seien. Ich habe schon darauf hingewiesen. Es ist schon unter den

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Naturgelehrten ganz gang und gäbe zu sagen: Was ich als Farben wahrnehme, das besteht nur in meinem Auge; was ich als Töne höre, ist nur in meinem Ohr; da draußen sind überall nur bewegte Atome. - Wie kann man es doch immer wieder lesen: Wenn ich eine Farbe wahrnehme, so schwingen draußen Ätherwellen mit so und so schneller Geschwindigkeit; da draußen ist nur bewegte Materie! Es iSt natürlich eine Inkonsequenz, wenn man Farben leugnet, noch die Materie anzunehmen! Daher gibt es heute schon die sogenannten Immanenz-Philosophen, welche sagen, daß alles, was wir wahrnehmen, nur eine subjektive Welt wäre. Und denkbar wäre es, das liegt zwar noch in der Zukunft, daß gesagt würde: Daß ich mit meinen Augen Licht und Farben wahrnehme, ist ja gewiß; aber von irgend etwas zu wissen, was Licht und Farben veranlaßt, das ist unmög­lich; daß ich mit meinen Ohren Töne wahrnehme, ist ge­wiß; aber von dem, was die Töne hervorbringt, etwas zu wissen, das ist unmöglich. Was auf diesem Gebiete die­jenigen sagen, welche die Gelehrten sein wollen, das sagen schon seit Jahrhunderten die zur materialistischen An­schauung vorrückenden Menschen im allgemeinen gegen­über dem innerlich Erlebten. Wie heute der vorurteilsvolle Philosoph sagt: Die Farbe, die ich wahrnehme, habe ich nur in meinem Auge; was sie veranlaßt, das weiß ich nicht, -so sagt sich die Menschheit im allgemeinen: Mein Gefühl habe ich in mir; wie es aber von der geistigen Welt herein bewirkt wird, darüber kann nichts gewußt werden. In bezug auf das Innenerleben bezieht man eben durch ein Vorurteil seit Jahrhunderten, ja, schon seit Jahrtausenden das Erlebte nicht mehr auf ein Objektives, das in diesem Falle ein Geistiges sein würde, wie gewisse Philosophen die Eindrücke der Außenwelt nicht mehr auf wirkliche Vor­gänge des äußeren Lebens beziehen wollen. Gesundes

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menschliches Seelenleben aber fühlt sich, wie es sich mit seinen Farbenwahrnehmungen in der materiellen Sinnes-weit drinnen fühlt, so mit seinen Gefühlen in der Welt der Geistigkeit, in dem Strome des geistigen Erlebens drinnen. Und wie es für das gesunde Seelenleben absurd ist zu glau­ben, die Farbe spricht nur aus dem Auge heraus, so ist es für ein wirklich gesundes Seelenleben absurd zu behaupten:

das Gefühl spricht nur aus der Seele heraus, es sei nicht angeregt durch eine göttlich-geistige Welt außer uns. Und dieses gesunde Gefühl der Seele entspricht einem dritten Gliede der menschlichen Natur, jenem Gliede, von dem wir zeigen werden, daß es sich im Schlafe aus dem phy­sischen Leibe herausbewegt, während des Wachens aber in demselben drinnen ist: Wir haben dies den astralischen Leib des Menschen genannt. Unser ätherischer Leib vermittelt uns die ästhetischen Anschauungen; unser astralischer Leib, wenn er sich nicht dem ungesunden Glauben hingibt, daß aus dem Nichts heraus in ihm selber sein Inhalt quillt, son­dern wenn er weiß, daß aus der geistigen Welt, wenn er darinnen lebt, die Gefühle und so weiter entstehen -, unser astralischer Leib erlebt sich religiös. Er ist naturgemäß der Teil unserer Natur, der sich religiös erleben muß. Es ist kein Wunder, daß sehr leicht unmittelbar aus der mensch­lichen Organisation heraus ein Ableugnen, ein Sichauf-lehnen gegen die religiösen Wahrheiten entstehen kann, oder besser gesagt, gegen die religiösen Erlebnisse entstehen kann; denn das gewöhnliche menschliche Erleben ist so organisiert, daß dieser Astralleib, wenn er im Schlafe aus dem physischen Leib heraustritt, unbewußt wird, daß er dann für sich keine Erlebnisse hat, sondern erst wieder Er­lebnisse hat, wenn er in den physischen Leib untertaucht, wenn er durch die physischen Organe wahrnimmt. Daher können nur im physischen Leben die eigenen Erlebnisse

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des Astralleibes wie aus dunklen, unbekannten Unter­gründen herauftauchen.

So stellen sich die religiösen Erlebnisse wie aus dunklen, unbekannten Untergründen herauftauchend, hinein in das gewöhnliche Leben des Menschen, das in der Sinneswelt bei wachem Tageszustande abläuft. Dann aber, wenn der Gei­stesforscher die Seele so erkraftet, daß sie sich mit dem, was im normalen Leben während des Schlafes unbewußt bleibt, bewußt, wachend erlebt, unabhängig vom physischen Leibe, dann lebt sich diese geistesforscherisch zubereitete Seele in das hinein, was als religiöser Inhalt, als religiöses Erleb­nis wie aus dunklen, unbekannten Untergründen der Seele beim gesundlebenden Menschen heraufleuchtet. Die religi­ösen Erlebnisse rechtfertigen sich dadurch gerade in der gei­stesforscherischen Anschauung. Was so dem Menschen un­bekannt bleibt, wenn er mit dem Schlafzustande aus seiner Absonderung im Leibe in den Schoß des geistigen Lebens zurückkehrt, und was er dort erleben würde, wenn er wäh­rend des Schlafes wissen würde, das taucht, angeregt durch das äußere Leben, im religiösen Fühlen auf. In der geistes-wissenschaftlichen Forschung aber taucht das, was dieses religiöse Fühlen im Lande des Unbekannten anregt, in sei­ner Deutlichkeit als unmittelbare Anschauung auf. Daher wird das, was religiöses Empfinden im Alltagsieben sein kann, zur geistigen Anschauung in der geisteswissenschaft­lichen Erkenntnis. Außer in der Welt des Sinnlichen, in der wir mit unserer physischen Leiblichkeit leben, leben wir auch in der Welt des Geistigen. Diese Welt des Geistigen bleibt zunächst für die äußere menschliche Organisation unsichtbar. Aber der Mensch lebt dennoch in dieser Welt des Geistigen darinnen, und absurd wäre es zu glauben, daß nur das vorhanden wäre, was der Mensch im physischen Leben sehen kann. Wenn der Mensch sein Seelenleben so

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erkraftet, daß er Geistiges um sich herum sehen kann, dann sieht er eben die Wesen und Vorgänge der geistigen Welt, die sonst nur das anregen, was wie aus unbekannten Tiefen als religiöses Leben heraufsteigt. Der Geistesforscher er­reicht in seinem geistigen Erleben die Anschauung derjeni­gen Wesen und Vorgänge des Geistigen, die für das religiöse Leben sonst unbekannt bleiben, die aber ihre Impulse in das religiöse Leben hineinsenden müssen und den Menschen durchdringen mit dem Gefühl seines Zusammenhanges mit der geistigen Welt. Da sehen wir aber auch, wie wir mit dem religiösen Leben, wenn wir es seinem Wesen nach be­trachten, hineingehen müssen in die eigene menschliche Na­tur. Wir kommen sozusagen in das Subjektive der mensch­lichen Natur hinein.

Wenn wir das berücksichtigen, so wird uns aber auch klar, weil dieses Subjektive viel mannigfaltiger ist als das äußere Leibliche, wie in einem höheren Maße dasjenige, was sich da aus der geistigen Welt hereinlebt, von der sub­jektiven Natur des Menschen abhängig sein wird, als die äußere physische Wirklichkeit von der äußeren Natur des Menschen abhängig ist. Zwar wissen wir, daß unser Welt­bild sich verändert, wenn unsere Augen besser oder schlech­ter sehen; wir wissen auch, daß es zum Beispiel Farben-blindheit gibt; aber die äußere körperliche Natur ist viel allgemeiner gleich für alle Menschen, als die innere indivi­duelle Natur. Daher wird sich das viel mehr abstufen, was innerlich wahrnehmbar wird, und wird selbstverständlich, wenn man die Sache nur durchschaut, nicht als ein über die ganze Erde ausgegossenes religiöses Bekenntnis erscheinen können. Es wird die selbstverständlich überall gleiche gei­stige Welt so erscheinen, daß sie gefärbt erscheint je nach den Anlagen, nach den besonderen Beschaffenheiten der menschlichen Organisation. Die Menschen unterscheiden

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sich besonders in ihren Bekenntnissen je nach den Unter­schieden in Klima, Rasse und dergleichen.

So sehen wir über den Erdkreis hin, und durch die ge­schichtliche Entwickelung hindurch, abgestuft nach dem ver­schiedenen Individuellen des Seelenlebens, die verschiede­nen Religionen auftreten. Wenn wir so die religiösen Be­kenntnisse ansehen als nuanciert durch die menschliche Natur aber wurzelnd in der gleichen Geisteswelt, in der alle Menschen mit ihrem Astralleibe wurzeln, so haben wir nicht das Recht, nur einer Religion die «Wahrheit» zuzu­schreiben, sondern wir müssen sagen: Diese verschiedenen Religionen sind das, was wie aus unbekannten Untergrün­den in der Menschenseele aufsteigen kann, als herrührend von einer besonderen Kundgebung der geistigen Welt durch den menschlichen Astralleib.

Nun findet man hier, daß der Geistesforscher in der Kli-max der menschlichen Seelenentfaltung aufsteigt zu dem, was eine vierte Stufe darstellt, wo die Intuition eintritt. Auf dieser Stufe tritt das eigentliche Erleben der vollen menschlichen Innerlichkeit erst auf, aber so, daß der Mensch mit seiner Innerlichkeit jetzt wirklich außerhalb seiner physischen Sinne ist und jetzt wirklich in der geistigen Welt drinnen lebt. Da erlebt er, gleichgültig, wie er als Menschenindividuum auf der Erde organisiert ist, die ein­heitliche geistige Welt. Daß wir dieser oder jener besondere Mensch mit so und so gefärbten Gefühlen und Empfindun­gen sind, das rührt davon her, daß das Seelisch-Geistige zu­sammenlebt mit dem körperlichen. Dadurch individualisiert sich das, was wir sind. Als Geistesforscher aber werden wir unabhängig von der Körperlichkeit. Nehmen wir ganz außerhalb des Körperlich-Physischen wahr, dann nehmen wir die einheitliche Geisteswelt wahr, in der allerdings der Mensch jede Nacht ist, wenn er in Schlaf versinkt, aber unbewußt.

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Der Geistesforscher hat nur sein Seelenleben so erkraftet, daß die noch geringeren Kräfte, welche den Men­schen in der Geisteswelt unbewußt sein lassen, bei ihm er-starkt sind, so daß er bewußt in jener Welt ist, in welcher der Mensch während des Schlafens unbewußt ist. Dann er­lebt er die geistigen Wesenheiten und Vorgänge, die ihre Impulse in den menschlichen Astralleib hineinsenden, die aber in ihrer wahren Wesenheit dann erlebt werden kön­nen, wenn das Ich, das Selbst des Menschen vollständig un­abhängig geworden ist. Dann erlebt man das, was Men­schen, die von ihrem Gesichtspunkte aus in diese Tiefen der menschlichen Wesenheit einzudringen versuchten, als ein Größtes im menschlichen Erleben schön angedeutet haben

- wie zum Beispiel Goethe in dem wunderbaren Gedicht «Die Geheimnisse», wo uns die verschiedenen Erlebnisse, die der Mensch mit den über den Erdball ausgebreiteten Religionen haben kann, in zwölf Menschen vorgeführt werden, die sich in einem gleichsam klosterartigen Gebäude zusammengeschlossen haben, um miteinander zu erleben -wechselseitig zu erleben, was sie aus den verschiedensten Gegenden der Erde, aus den verschiedenen Klimaten, Ras­sen und Epochen als die individuellen Religionsbekennt­nisse sich mitgebracht haben, und was sie nun aufein­ander wirken lassen wollen. Das geschieht unter der Füh­rung eines Dreizehnten, der uns zeigt, wie dem, was uns die Zwölf als die verschiedenen religiösen Bekenntnisse darstellen, ein einheitliches Geistiges zu Grunde liegt. Wie gleichsam ein wunderbarer Organismus über die Erde hin in den religiösen Bekenntnissen ausgegossen ist, die sich je nach Rassen und Epochen nuancieren, und wie mit dem Aufsteigen in die wirkliche geistige Welt das, was in den einzelnen religiösen Bekenntnissen lebt, und sich nuanciert, in einem großen, zusammengehörigen Ganzen geschaut

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wird, das stellt in wunderbarer Weise Goethe dar. So nimmt er gleichsam voraus, was gerade durch die Geisteswissen­schaft in bezug auf die religiösen Bekenntnisse geleistet wer­den soll: daß sie in ihrem inneren Wesenskern, in ihrer inneren Wahrheit erkannt werden sollen. Denn die Geistes­wissenschaft erlebt das Geistige unmittelbar im Geiste.

Wenn man zum Beispiel über das christliche Bekenntnis exemplifizierend von der Geisteswissenschaft aus sprechen wollte, so würde man zu zeigen haben, wie durch diese Gei­steswissenschaft dasjenige, was den Inhalt des Bekenntnisses des Christentums bildet, aus der geistigen Welt heraus er­kannt wird, ja selbst erkannt werden könnte, auch wenn es nicht, das sei jetzt einmal hypothetisch angeführt, irgend­eine Überlieferung, irgendeine Urkunde geben würde. Neh­men wir für einen Augenblick an: alles, was in den Evan­gelien-Urkunden enthalten ist, gäbe es nicht, denn der gei­steswissenschaftliche Forscher stellt sich zunächst außerhalb aller dieser Urkunden; so würde er dann, wenn er auf dem geistigen Felde den Geschichtsverlauf beobachtet, wahrneh­men, wie die Menschheit von den Urzeiten bis zu einem Punkte, der in der griechisch-römischen Zeit liegt, eine ab­steigende Entwickelung an inneren Erlebnissen und Erfah­rungen durchmacht, und wie zu einer wiederaufsteigenden Entwickelung ein Impuls kommen mußte, den wir den Christus-Impuls nennen, der sich in die Menschheitsent­wickelung hineinstellte, der ein einmaliger Impuls ist, wie der Schwerpunkt einer Waage ein einziger nur sein kann. Aus der geistigen Erkenntnis heraus würde sich die ganze Stellung und Funktion der Christus-Wesenheit in der Welt ergeben. Dann würde man mit einer solchen Erkenntnis an die Evangelien-Urkunden herantreten und würde in ihnen diese oder jene Aussprüche wiederfinden, wie die Christus­Wesenheit hervorgetreten ist wie aus unbestimmten Tiefen

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heraus und sich in die Menschheits-Entwickelung hereinge-stellt hat, wie sie aber erkannt werden kann, wenn in der geisteswissenschaftlichen Forschung über die Inspiration zur Intuition hinaufgeschritten wird. Das gesamte religiöse Le­ben wird aus einem einheitlichen Urquell heraus sichtbar vor der geisteswissenschaftlichen Anschauung, wo sich diese zur Intuition erhebt.

So tritt in der Klimax der menschlichen Seelenentfaltung, wie sie die Gesamtheit der Menschennatur darstellt, her­vor, daß die Intuition das Leben im Ich ist, wie das religiöse Leben das Leben im Astralleibe ist, wie die künstlerische Anschauung das Leben im Ätherleibe ist, und wie das sinn­liche Wahrnehmen das Leben im Sinnesleibe ist. Und so wahr in dieser Klimax sich ausdrückt, wie die Menschen-natur ist, so wahr gehört es zum gesamten Menschenleben, daß der Mensch ein religiöses Leben entfaltet; und so wahr diese Klimax, diese viergliedrige menschliche Seelenentfal­tung besteht, so wahr erreicht die geisteswissenschaftliche Erfahrung unmittelbar die Anschauung dessen, was im reli­giösen Leben aus unbekannten Tiefen heraus erlebt wird. Daher kann für eine unbefangene Beurteilung die Geistes­wissenschaft niemals eine Feindin irgend eines religiösen Bekenntnisses sein; denn sie zeigt gerade die Grundquelle, die Grundnatur der religiösen Bekenntnisse, und sie zeigt auch, wie diese Bekenntnisse alle aus einem einheitlichen geistigen Weltengrunde hervorquellen, - wenn auch immer wieder und wieder darauf aufmerksam gemacht werden muß, daß diese Anschauung, wie sie jetzt entwickelt wor­den ist, himmelweit verschieden ist von jenen Abstraktionen und Dilettantismen, die von der «Gleichheit aller Religio­nen» und der Gleichwertigkeit aller religiösen Bekenntnisse sprechen. Denn diese stehen in bezug auf ihre Logik auf keinem anderen Standpunkte, als wenn man immer nur hervorheben

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wollte: die Schriecke ist ein Tier, und der Hirsch ist auch ein Tier, und das «Gleiche» muß man immer überall aufsuchen. Es ist selbstverständlich nur religionsphilosophi­scher Dilettantismus, von einer abstrakten Gleichheit aller Religionen zu sprechen; denn die Welt ist in Entwickelung begriffen. Und wer die Entwickelung wirklich übersieht, von der geistigen Welt aus übersieht, der sieht dann auch, wie die einzelnen religiösen Bekenntnisse in ihren verschiedenen Kundgebungen hintendieren nach dem, was sich wie ein reli­giöses Ergreifen aller religiösen Bekenntnisse im Christen­tum darstellt. Das Christentum verliert - durch seine einzig­artige Stellung in seinem Hervorgehen aus dem jüdischen Monotheismus - nichts von seiner Kulturaufgabe in der Welt dadurch, daß diese Dinge geistig angesehen werden.

Eines aber muß noch gesagt werden, wenn man in der Darstellung des Verhältnisses des Menschen zu den religi­ösen Bekenntnissen einige Vollständigkeit haben will. Stehen wir der Außenwelt gegenüber, so stehen wir ihr ge­genüber mit unserer Leiblichkeit. Wir können als Menschen nur einen recht indirekten Anteil nehmen an dem Verhält­nis der Leiblichkeit zu der gesamten physisch-materiellen Außenwelt. Ohne daß wir es so recht vollständig in uns miterleben, ist das Verhältnis unseres Leibes zum gesamten Kosmos geregelt. Und wieviel kann der Mensch tun, wenn dieses Verhältnis ungeregelt wird, um es durch Heilmittel und dergleichen wieder zur Regelmäßigkeit zu bringen? Wieviel liegt in dem Verhältnis des Menschen zur kos­mischen Außenwelt, die uns die Sinne vermitteln können, woran der Mensch nicht unmittelbar Anteil hat? In dem Augenblick aber, wo der Mensch beginnt sich mit seinem Innern in den geistigen Kosmos hineinzustellen, wird alles in ihm das miterleben, was aus diesem geistigen Kosmos in ihn hereinpulst. Daher machen sich sofort die inneren Erlebnisse

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geltend, wenn der Mensch sein Verhältnis zum geisti­gen Kosmos gewahr wird. Er fühlt sich getragen, gestützt, unterstützt von diesem geistigen Kosmos, und er fühlt sein Verhältnis zu ihm so, daß er sich sagt: Da bin ich, und stehe drinnen in dem geistigen Kosmos, und ich will in meinem Bewußtsein erfühlen dieses Drinnenstehen! Das religiöse Leben wird damit zu einem inneren Erlebnis in einem ganz anderen Sinne, als das Erleben des materiellen Kosmos durch den physischen Leib nach außen hin. Inneres Schicksal wird das religiöse Erleben. Es drückt sich aus, was man so erlebt, in Verehrung, in Anbetung, in einem Sichfühlen, daß einem das geistige Leben zukommt in Gnade. Das macht, daß dieses religiöse Leben sich vorzugsweise im Fühlen des Menschen ausdrückt. Da bekommen wir den Grund, wes­halb man sagen kann: das religiöse Bekenntnis wurzelt zu­nächst im Fühlen. Man muß aber erst zu der Erkenntnis aufsteigen, warum es sich durch seine Natur im Fühlen auslebt. Was gefühlt wird, was da ist an geistigen Vorgän­gen und geistigen Wesenheiten, um gefühlt zu werden, um Gefühle anzuregen, das enthüllt dann die Geisteswissen­schaft. Daher treten wir, indem wir religiös in das Geistes­leben eindringen, selbstverständlich in das Gefühlsleben des Menschen ein, treten in die Region ein, wo der Mensch seine Hoffnungen für sein Menschtum sucht, wo er die Kraft sucht, um voll in die Welt hineingestellt zu sein, um sicher in der Welt drinnen zu stehen. Daher ist das Eintreten in die geistige Welt auf dem Umwege des Religiösen nichts anderes also, als daß man auf dem Wege des Gefühles dahin gelangt. Das wird besonders für denjenigen hervortreten, der erkennen lernt, wie notwendig es ist, daß der Mensch, obwohl er sich in der Geisteswissenschaft zu Erkenntnissen, zu für alle gültigen Erkenntnissen erhebt, doch als Vorbe­reitung für das objektive Geist-Erleben durch sein Gefühlsleben

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hindurchgehen muß, durch das subjektive Ge­fühlsleben, das er mit all seinen Freuden und Leiden, seinen Enttäuschungen und Hoffnungen, seiner Furcht und Angst durchzumachen hat.

Ich glaube, daß vielleicht mancher sagen könnte, meinen Ausführungen habe das gefehlt, was gerade das Gefühls­element im religiösen Bekenntnisse bildet, was das religiöse Bekenntnis zu dem die Menschenseele so durchwärmenden und so innerlich erfüllenden macht. Wer jedoch die ganze Gesinnung ins Auge faßt, welche durch die Geisteswissen­schaft notwendig erzeugt wird, der wird verstehen, daß der Geistesforscher die Dinge einfach hinstellt, und das Gefühl sich an den Dingen selber erzeugen läßt. Als eine gewisse Unkeuschheit würde er es empfinden, wenn er durch sein Wort wie suggestiv das Gefühl gefangen nehmen würde. Fühlen soll in Freiheit jede Seele selber. Die Geisteswissen­schaft hat die Dinge hinzustellen, wie sie sich der Geistes-forschung ergeben.

Inwiefern also die Geisteswissenschaft gerade die Gründe des religiösen Bekenntnisses erhellen und beleuchten kann, das sollte heute aus der viergliedrigen Natur des Menschen und aus der Klimax der menschlichen Seelenentfaltung er­örtert werden. Das religiöse Bekenntnis wurzelt in der menschlichen Natur. Wahre Wissenschaft, die sich zum Gei­stigen erhebt, wird nimmermehr eine Feindin, besonders nicht wenn sie eben Geisteswissenschaft ist, des wahren, des echten, des dem Menschen notwendigen religiösen Erlebens sein können. Daß der Mensch im Grunde genommen alles, was er geistig erlebt, auf dieselbe Weise erlebt, wie die Gei­stesforschung durch ihre Methoden erlebt, das wird sich uns noch durch mancherlei Ausführungen in den folgenden Vor-trägen zeigen; und daß die Einwände, die gegen die Geistes­wissenschaft, sowohl von wissenschaftlicher Seite wie von seiten

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gewisser religiöser Bekenntnisse, gemacht werden, unbe­gründet sind, das wird man insbesondere sehen, wenn man die Einzelergebnisse der Geisteswissenschaft ins Auge faßt. Heute wollte ich aber zeigen, nicht indem ich polemisierend auf ein einzelnes religiöses Bekenntnis eingehen wollte, wie sich zu der Fülle, zu der Ganzheit der menschlichen Natur die religiösen Bekenntnisse verhalten. Auch damit fühlt man sich ja gerade mit der Geisteswissenschaft im Einklange mit allen denjenigen menschlichen Seelen, die im Laufe der Menschheitsentwickelung, Wahres ahnend, wie es in der Geisteswissenschaft enthüllt wird, ihre Überzeugung hin-gestellt haben. Noch einmal sei an Goethe erinnert; wie ich bei dem Vortrag «Theosophie und Antisophie» an ihn erin­nern durfte, so darf das auch heute geschehen. Wenn es auch im wissenschaftlichen Sinne zu Goethes Zeit die Gei­steswissenschaft noch nicht gab, so war seine ganze Seelen-stimmung doch eine geistesforscherische, eine theosophische; und was aus dieser Seelenstimmung hervorquoll, war im geisterforscherischen Sinne gedacht und empfunden. Daher fühlte er, daß jene Wissenschaft, welche wirklich in die Dinge eintaucht, das Geistige finden muß und deshalb der Religion nicht fremd sein kann. Daher fühlte Goethe auch, daß der Mensch, wenn er sich zwar in der Kunst von der äußeren Natur frei macht, sich doch nicht von dem frei macht, was als Geistiges der Natur zugrunde liegt. Wer mit Wissenschaft und Kunst die Erscheinungen der Welt erlebt

- davon war Goethe überzeugt -, der erlebt sie so, wie sie auch der Religiöse erleben muß, der sein Inneres in der gei­stigen Welt wurzelnd erfühlt. Niemand kann daher irr-religiös sein, so meint Goethe, der Wissenschaft und Kunst besitzt. Steht man mit wahrer Wissenschaft der Welt ge­genüber, so lernt man sie rein geistig erkennen, kann sich daher nicht aus der geistigen Welt herausgehoben, sondern

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nur in die geistige Welt hineingestellt erleben; findet man durch die Kunst das Wahre, so muß die Seele, dieses Wahre erlebend, nach und nach auch fromm werden, das heißt reli­giös erleben, was der Welt als Geistiges zugrunde liegt. Da­her war er sich auch klar über dasjenige Gebiet des äußeren Lebens wo es für den, der die Dinge wirklich versteht, gar nicht anders möglich ist, als daß in diesem Gebiete des äußeren Erlebens unmittelbar das Göttliche zu verspüren ist. Kant hat noch angenommen, daß für das sittliche Leben des Menschen der sogenannte «kategorische Imperativ» not­wendig ist: kann der kategorische Imperativ in der Seele sprechen, so kann sich die Pflicht in das Menschenleben hin­einleben. Das ist so, wie wenn aus einer Welt, in welcher der Mensch nicht drinnen ist, dieser Imperativ in die Seele hereinspräche. So empfand Goethe nicht. Sondern er war sich klar, daß der, welcher die Pflicht erlebt, den Gott erlebt, der sich in der Pflicht in die Seele hineinerlebt. Daß man, indem man die Pflicht liebend erlebt, den Gott unmittelbar im sittlichen Leben erlebt, das war Goethes Anschauung. Sittlichkeit ist für ihn unmittelbares Erleben des Göttlichen in der Welt. Kann man aber im Sittlichen den Gott durch die Seele pulsieren fühlen, dann steht man auch nicht weit ab, von dem Punkte, wo man ihn in anderen Regionen er­leben kann. Für Kant war es noch ein gewagtes «Abenteuer der Vernunft», das Göttliche unmittelbar zu erleben. Ihm wurde aber von Goethe erwidert: «Wenn wir ja im Sitt­lichen, durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und an das erste Wesen annähern sollen: so dürft' es wohl im Intellektuellen der­selbe Fall sein, daß wir uns, durch das Anschauen einer im­mer schaffenden Natur, zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten. Hatte ich doch erst unbe­wußt und aus innerem Trieb auf jenes Urbildliche, Typische

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rastlos gedrungen, war es mir sogar geglückt, eine natur­gemäße Darstellung aufzubauen, so konnte mich nunmehr nichts weiter verhindern, das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge selbst nennt, mutig zu beste­hen.» Kant nannte es noch ein «Abenteuer der Vernunft», eine geistige Welt unmittelbar zu erleben. Goethe steht schon an dem Punkte, wo er das «Abenteuer der Vernunft» mutig bestehen will. Aber er ist davon überzeugt, daß man in die geistige Welt nicht anders eintreten kann als vereh­rend, anbetend - das heißt mit religiöser Stimmung. Reli­gion erschließt als wahre, echte Religion die Tore des Ein­tritts in die geistige Welt. Daher meint Goethe: wer schon, sei es wissenschaftlich, sei es künstlerisch erlebt, die religiöse Stimmung mitbringt, der bringt sich dadurch die Möglich­keit zum Erleben der geistigen Welt mit. Daher muß sich die Geisteswissenschaft mit Goethe im Einklange fühlen. Und zusammenfassend können wir gerade das Bekenntnis, das er mit wenigen Worten ausgesprochen hat, auch für die heutige Betrachtung anwenden, zusammenfassend das, was man « geisteswissenschaftliches Glaubensbekenntnis» nennen kann: Wer wirkliche Wissenschaft, wer wirkliche Kunst hat, der steht in dem wirklichen Leben so drinnen, daß er die beste Vorbereitung für das Erleben einer geistigen Welt hat; wer aber weder Wissenschaft noch Kunst hat, der ver­suche in seiner Seele jene Sehnsucht anzufachen, durch die ihm zunächst religiöse Verehrung möglich wird, dann wird er durch den Umweg durch die religiöse Stimmung seinen Eintritt in die geistige Welt halten können. Das drückte Goethe präzise aus mit den Worten:

Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,

Hat auch Religion;

Wer jene beiden nicht besitzt,

Der habe Religion!

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VOM TODE Berlin, 27. November 1913

Nachdem idi mir in den drei ersten Vorträgen dieser Reihe gestattet habe, über Wesen und Gesinnung der Gei-steswissenschaft im allgemeinen zu sprechen, möchte ich nun in den folgenden Auseinandersetzungen spezielle Gegenstände aus dem Gebiete dieser Geisteswissenschaft bespre­chen; und ich bemerke von vornherein, daß dieser heutige Vortrag und derjenige der nächsten Woche, «Der Sinn der Unsterblichkeit der Menschenseele», die gewissermaßen zu­sammen ein Ganzes bilden, die Fragen des menschlichen Seelenlebens behandeln werden, welche zusammenhängen mit dem Tode und mit dem, was für den Menschen aus dem Tode folgt, und was ich bezeichnen möchte mit dem Worte: der Sinn der Unsterblichkeit des Menschen.

Es ist im allgemeinen, das soll gleich voraus bemerkt werden, nicht leicht, gerade über das Thema des heutigen Abends in unserer gegenwärtigen Zeit zu sprechen; denn es bestehen viele äußere und innere Hindernisse in der gegen­wartigen Zeitbildung gegenüber der Betrachtung desjeni­gen, was mit dem Worte «der Tod» zusammenhängt. Vor allen Dingen muß, damit wir nicht selber durch die Betrach­tungen des heutigen Abends in Mißverständnisse gedrängt werden, darauf aufmerksam gemacht werden, daß die Geisteswissenschaft es gewissermaßen nicht so gut hat wie manches andere wissenschaftliche Gebiet der Gegenwart. Die Geisteswissenschaft ist darauf angewiesen, die Gebiete, über welche sie spricht, im strengsten Sinne zu analysieren,

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im strengsten Sinne logisch unterschieden von angrenzenden Gebieten ins Auge zu fassen. Das muß deshalb gesagt wer­den, weil die Auseinandersetzungen, welche heute und das nächste Mal gepflogen werden sollen, nur eine Bedeutung für das menschliche Erleben haben, und weil eine mehr naturalistische Wissenschaft der Gegenwart dasjenige, was man unter dem Tode versteht, gar sehr geneigt sein wird, auf alles auszudehnen, was lebt. Nun zeigt es sich gerade durch die Geisteswissenschaft, daß dasjenige, was äußerlich für die verschiedenen Wesensarten dasselbe ist, innerlich sehr verschieden sein kann, und es wird wohl auch im Laufe der Vorträge dieses Winters Gelegenheit sein, darauf auf­merksam zu machen, was Tod bedeutet im Pflanzenreiche, und was er bedeutet im Tierreiche. In dieser Betrachtung ist zunächst bloß die Absicht vorhanden, von dem Tode in bezug auf das Menschliche zu sprechen. - Aber auch noch manche anderen Hindernisse sind vorhanden, wenn es sich um eine Art Auseinandersetzung über unser Thema vom geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkte aus handelt. Man möchte, ohne in eine allgemeine Charakteristik einzugehen, gerade von der Gesinnung der Geisteswissenschaft aus an einzelnen Tatsachen zeigen, wie diese Hindernisse beschaf­fen sind.

Diese Hindernisse liegen in einer, nicht deutlich in das menschliche Bewußtsein heraufkommenden, man möchte sagen, Verängstigung vor dem Todesproblem. Man braucht nur ins Auge zu fassen, wie sich diese Verängstigung gerade bei erleuchtetsten Geistern der Gegenwart ausnimmt. Man könnte auf viele, viele gerade der erleuchtetsten Persönlich­keiten der Gegenwart hinweisen: man würde das gleiche fin­den. Ich will es heute tun in bezug auf den großen Religions­forscher und Orientalisten Max Müller. - Wenn man sich in seinen Schriften das aufsucht, was er da oder dort über

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den Tod gesprochen hat, so fällt einem vor allen Dingen bei ihm das auf, was uns bei zahlreichen Persönlichkeiten der Gegenwart entgegentritt: die Scheu, überhaupt an die Möglichkeit zu denken, über den Tod etwas erforschen zu können. Brachte es doch der ja wirklich bedeutende Max Müller zustande, zu sagen: alle menschlichen Gedanken, welche über das Leben des Menschen hinausschweifen, das zwischen Geburt und Tod liegt, und seien sie selbst von einem Dichter wie Dante in der «Göttlichen Komödie» zur Darstellung gebracht, alle solche Gedanken stellten nur eine kindliche Dichtung dar. Ja, sagt doch Max Müller: wenn ein Engel aus Himmelshöhen auf die Erde herunterstiege und dem Menschen etwas sagen wollte über die Verhältnisse des menschlichen Lebens innerhalb der Welt nach dem Tode, dann würde der Mensch diese Aussagen des Engels so wenig verstehen, wie ein Kind, das eben geboren ist, etwas verstehen würde, wenn man ihm über die Verhält­nisse des gegenwärtigen Lebens in irgend einer menschlichen Sprache einen Vortrag halten würde. Es ist also selbst bei den erleuchtetsten Geistern der Gegenwart etwas von einem Widerwillen vorhanden, auf diese Dinge überhaupt zu sprechen zu kommen. Dabei ist Max Müller in bezug auf die Dinge der menschlichen Unsterblichkeit nicht ein negativer Geist; er ist für sich durchseelt von einer gewissen Glau­benssicherheit in bezug auf ein Leben nach dem Tode. Er will nur nicht dem Menschen die Möglichkeit zuerkennen, irgend welche Erkenntnisse über das zu gewinnen, was jen­seits des Todes liegt. Er will gewissermaßen immer wieder und wieder betonen, daß der Mensch von den Gebieten, die da jenseits des Todes liegen, nicht nur nichts wissen könne, sondern auch nichts wissen solle.

Zeigt sich an einer solchen Tatsache, man möchte sagen, wie symptomatisch, was an Schwierigkeiten in der Gegenwart

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in bezug auf unser Thema vorhanden ist, so kann man aber doch auch sagen, daß die ja in den früheren Vorträgen wiederholt erwähnte, zu so bedeutsamer Größe heraufge­kommene naturwissenschaftliche Vorstellungs art der Gegen­wart den Menschen ablenkt, daran zu denken, irgend­welche Erkenntnisse über das zu gewinnen, was über den Tod hinaus liegt. Es ist in den drei vorhergehenden Vor­trägen so anerkennend über diese naturwissenschaftliche Denkweise gesprochen worden und so zustimmend über das, was sie zutage gefördert hat - wenn sie nur in ihren Grenzen bleibt-, daß ich heute nicht mißverstanden werde, wenn ich jetzt kurz einleite, warum es mit der naturwissen­schaftlichen Denkweise schwierig ist, zuzugeben, daß eine Möglichkeit vorliegt, in das Gebiet jenseits des Todes ein­zudringen. Worauf fußt denn diese naturwissenschaftliche Denkweise? Wodurch ist sie groß geworden? Dadurch ist sie so groß geworden, daß sie das Prinzip der menschlichen Sinnesbeobachtung und der Anwendung der Verstandes­tätigkeit auf diese Sinnesbeobachtung im strengsten Sinne des Wortes aufgestellt hat. - Nun ist eines leicht einzusehen. Wenn man das Prinzip der Sinnesbeobachtung, das Prinzip der Erforschung alles dessen, was der Verstand über diese Sinnesbeobachtung gewinnen kann, zum ausschließlichen Forschungsprinzip macht, dann will man, ganz zweifellos, durch das forschen, was der Mensch mit seiner Leibesbil­dung durch seine Geburt im physischen Leben entwickelt erhält. Das, was man als irgend ein «Unsterbliches» an­sprechen könnte, das über Geburt, oder Empfängnis, und Tod hinaus ein geistiges Leben hat, das kann ganz offenbar nicht in das Gebiet der Sinnesbeobachtung und der Verstan­desforschung eingeschlossen sein, die sich an die Sinne bin­det. Mit seinem Leibe erhält der Mensch ganz gewiß das um sein Wesen herumgelagert, was seine Sinne organisiert und

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was denjenigen Verstand organisiert, der sich an die Sinne bindet. Dasjenige was forscht, was im eminentesten Sinne in der naturwissenschaftlichen Weise unserer Zeit forscht, das erwirbt sich der Mensch zweifellos im Gebiet der Zeit­lichkeit; das gehört in das Gebiet, in welches sich unser We­sen auflöst, wenn wir durch die Pforte des Todes gehen. Die Naturwissenschaft im Sinne der Gegenwart arbeitet daher ganz ohne Zweifel mit Werkzeugen, welche ebenso, wie sie mit der Geburt entstehen, mit dem Tode vergehen. Und wie sollte es nicht leicht erkannt werden können, wenn man das Arbeiten mit diesen Werkzeugen zum ausschließlichen Prinzip der Forschung macht, daß man dasjenige, wohinein diese Werkzeuge ganz gewiß nicht reichen können, auch nicht erforschen kann. Deshalb erscheint auch nichts törich­ter, als wenn man annehmen wollte, daß man mit den For­schungsmitteln der Naturwissenschaft jemals in die geheim­nisvollen Gebiete eindringen könnte, die jenseits des Todes liegen. Daher ist es auch gekommen, daß wahrhaftig nicht die schlechtesten Geister des neunzehnten Jahrhunderts ge­rade vom naturwissenschaftlichen Denkerstandpunkte aus zu einer Leugnung jenes Lebens über den Tod hinaus ge­kommen sind. Wahrhaftig, nicht die schlechtesten Denker waren es! Denn unter den vielen außerordentlichen Lob-sprüchen, die man der naturwissenschaftlichen Denkweise angedeihen lassen muß, wie sie sich seit drei bis vier Jahr­hunderten entwickelt hat und wie sie in einem viel ausgie­bigerem Maße, als manche zugeben wollen, die allgemeine Bildung und das allgemeine Denken heute beherrscht, unter all den Lobsprüchen, die man dieser naturwissenschaftlichen Denkungs- und Forschungsart zugestehen muß, ist zwei­fellos auch der berechtigt, daß man sagt: Diese naturwissen­schaftliche Denkweise hat den Menschen dazu erzogen, seine Vorurteile, seine Wünsche und Begierden - das, was in

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seiner Subjektivität lebt - nicht mitsprechen zu lassen, wenn es sich darum handelt, irgend etwas wissenschaftlich auszu­machen. Man bekommt gerade jenen großen Respekt, den man vor der naturwissenschaftlichen Denkweise haben kann, wenn man ihre Bemühungen wirklich sieht und mit ihr, im Experiment, durchmacht: in der Beobachtung streng objektiv so zu verfahren, daß alles, von dem der Mensch möchte, daß es sei, was aus dem menschlichen Subjekt her­ausfließt, wirklich keine Rolle bei der Forschung spielt. Und wie sollte das nicht gegenüber der Frage des Todes sein! Aber ist es nicht immer so gewesen, daß bei den Ant­worten, die sich der Mensch gibt über das, was über den Tod hinaus liegt, seine Affekte, seine Wünsche und Begier­den die größte Rolle spielen? Indem man sich bei der wis­senschaftlichen Forschung abgewöhnt hat, diese Dinge eine Rolle spielen zu lassen, kamen gerade die ethisch nicht schlechtesten Persönlichkeiten des neunzehnten Jahrhun­derts zu einer Ablehnung des Lebens nach dem Tode.

Wenn man sucht, wodurch diese Geister zu einer solchen Ablehnung des Lebens nach dem Tode gekommen sind, so findet man, daß es im Grunde genommen edle Motive wa­ren. Das muß ohne weiteres zugestanden werden. Gar mancher war unter den materialistischen Denkern des ver­gangenen Jahrhunderts, der gesagt hat, es gehöre zum menschlichen Egoismus, zu den Impulsen der menschlichen Selbstsucht, zu wünschen, daß man mit seinem kleinen Ich, mit alledem, was man als menschliches Wesen zwischen Ge­burt und Tod erlebt und ist, auch über den Tod hinaus reiche; edler, so sagten viele und gerade ethisch wertvolle materialistische Geister, sei es für den Menschen, das, was er sich erarbeitet, was er erwirbt zwischen Geburt und Tod, aufgehen zu lassen in das allgemeine Menschenleben, in den Strom des geschichtlichen Werdens, sich selber hinzugeben

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an das Ganze; das, was einem die Ichheit gebracht hat, hin-zulegen in das Grab, das aber, was man geistig-seelisch erlebt hat, einfließen zu lassen in das allgemeine Menschen-leben und zu wissen: dieses Ich erhalte sich nicht, sondern opfere sich hin am Altar des allgemeinen Menschentums. In solchem Hinopfern, in solchem Aufgehen dessen, was man sich im Leben erworben hat, sahen manche wirklich sittlich nicht tief stehende und wissenschaftlich geschulte Menschen das, was über den Tod des Menschen gesagt werden kann.

Nun gibt es gewiß vieles, was innerhalb des mensch­lichen Affektlebens, innerhalb des menschlichen Wunsch-lebens sich auflehnt gegen ein solches Verfließen in den all­gemeinen Strom des Menschentums. Bei einer wirklich er­kenntnisartigen Beantwortung unserer Frage darf das alles nicht mitspielen. Aber es gibt eines, was den Menschen, wenn auch nicht zu einer Antwort, so doch zunächst wenig­stens zu einer richtigen Fragestellung führen kann in bezug auf den Tod und den Durchgang des menschlichen Wesens durch diesen Tod. Auch wenn man absieht von allen Wün­schen, von allen Befürchtungen, die der Mensch gegenüber dem Tode hat, wenn man absieht von allem, was er gern hätte als eine Antwort über das Jenseits des Todes, und wenn man eigentlich nur auf das sieht, worauf es berech­tigt ist zu sehen: auf die Ökonomie im Weltall, dann stellt sich die Antwort - ich will damit zunächst nur eine Frage aufwerfen - etwa folgendermaßen: Betrachtet man das, was sich der Mensch im Leben innerlich erwirbt an Aller­wertvollstem, an Allerbedeutsamsten, was da in der Seele als unser innerstes Gut auflebt und als Gut in bezug auf das, was wir aus Liebe, aus Hingebung und anderen Im­pulsen für uns und unsere Umgebung tun können, und fragt man sich: Was ist das Wertvollste? - so ist es ein für jede Menschenseele so Intimes, so Individuelles, daß es

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für jede Menschenseele, wegen seines intimen Charakters, nicht an den Strom des allgemeinen Daseins hingegeben werden kann. Wahrhaftig: so viel wir auch hingeben kön­nen, so hingeben können, daß das, was wir zu geben haben, im allgemeinen Strome des Daseins weiter verarbeitet wird

- was das Wertvollste ist, das ist so eng mit unserer Seele verbunden, daß wir es nicht hingeben würden, daß es un­bedingt in den allgemeinen Grabschoß des Nichts hinunter-sinken müßte, wenn wir nicht als ein Etwas durch die Pforte des Todes gingen. Denn verloren wäre ohne Zwei­fel für die Weltenökonomie das, was als das Wertvollste durch die menschliche Seele errungen und erarbeitet wird, wenn das menschliche Leben mit dem Tode zu Ende wäre. Das aber würde dem widersprechen, was wir sonst überall im Weltall gewahr werden. Nirgends werden wir im Welt­all gewahr, daß Kräfte sich bis zu einer Höhe, zu der äußer­sten Höhe entwickeln, bis zu der sie sich zunächst entwickeln können - und dann ins Nichts verfließen; sondern überall werden Kräfte nur so erzeugt, daß sie sich verwandeln, daß sie weiterwirken in der Welt. Sollte einzig und allein das Menschenwesen dazu berufen sein, etwas zu erarbeiten, was nicht im Weltall weiter verarbeitet würde, sondern sich ins Nichts auflösen müßte?

Das ist zunächst nicht im entferntesten eine Antwort, sondern die Aufstellung einer Frage von einem, von dem, was der Mensch gern hätte und was menschliche Wünsche sind, ganz unabhängigen Gesichtspunkte aus, die Frage:

Wie wäre es, im Sinne einer allgemeinen Weltenökonomie, die uns überall so klar entgegentritt als Beispiel einer all­gemeinen Naturbeobachtung, möglich, daß ins Nichts ver­sinke, was der Mensch in seinem Leben zwischen Geburt und Tod in seiner Seele sich erarbeitet? Weiter aber als bis zu der Aufstellung dieser Frage ist eigentlich mit den

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äußeren Forschungsmitteln nicht zu kommen. Denn zwei­fellos muß das, was im Menschen das Unsterbliche genannt werden kann, jenseits des äußeren Erlebens gesucht werden. Das äußere Erleben tritt an uns eben durch die Sinne heran, und eine geringfügige Erfahrung zeigt, daß auch alles, was durch den Verstand sich ergeben kann, dem äußeren Erleben angehört, und daß dieses alles, wie es im äußeren Leben steht, sich nur entwickeln kann innerhalb der Leiblichkeit, die uns durch die Geburt oder Empfängnis gegeben wird, und die sich mit dem Tode auflöst. Inner­halb alles dessen, was wir durch unsere Leiblichkeit haben können, werden uns die Werkzeuge nicht gegeben wer­den, welche eine Erforschung des Todesproblemes möglich machen.

Nun haben wir bereits in den einleitenden Vorträgen davon gesprochen, daß der Mensch durch die geisteswissen-schaftlichen Methoden in der Tat seine Seele so zu ent­wickeln vermag, daß sie sich wie durch eine geistige Chemie von dem leiblichen Erleben loslöst, so daß sie sich tatsäch­lich zu einem Standpunkte im Leben hinaufringt, auf dem sie nicht bloß als eine Phrase, sondern als ein unmittelbares inneres Erleben zum Ausdruck bringen kann: Ich weiß, was es heißt, in mir eine geistig-seelische Tätigkeit zu ent­wickeln, die nicht den Leib zu ihrem Werkzeuge hat. Kön­nen wir erhoffen - was ja doch sein müßte, wenn man den Tod erforschen sollte -, daß durch etwas anderes als durch ein Erforschen mit den Mitteln des äußeren Erlebens, näm­lich durch solche, auf die geschilderte Weise erweckte Er­kenntniskräfte etwas ausgesagt werden kann über den Tod? Gerade wenn man naturwissenschaftlich denkt, muß man sagen: was erforscht werden soll, muß erlebt werden. Aber mit keinem äußeren Werkzeuge kann der Tod erlebt wer­den, der uns gerade eben die äußeren Werkzeuge abnimmt.

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So also kann es eine Todeserforschung nur unter der einen Voraussetzung geben, daß eine solche Todeserforschung möglich sei mit Werkzeugen, die nicht innerhalb des leib­lichen Lebens liegen.

Es ist darauf aufmerksam gemacht worden, daß der Mensch durch gewisse innere intime Seelenübungen eine solche Erstarkung, eine solche Erkräftigung seines Seelen­lebens herbeizuführen in der Lage ist, daß für ihn tatsäch­lich etwas eintritt wie eine Loslösung des Geistig-Seelischen von dem Körperlichen, ähnlich wie beim Zersetzen des Wassers der Sauerstoff von dem Wasserstoff losgelöst wird. So wird durch die in den vorhergehenden Vorträgen an­gedeuteten Ubungen das Geistig-Seelische des Menschen von dem Leiblichen losgelöst und der Mensch dazu ge­bracht, im Geistig-Seelischen innerlich zu erleben. Wenn der Mensch auf diese Weise im Geistig-Seelischen innerlich erlebt, wenn er leibfrei noch ein Leben hat und dazu ge­kommen ist, sein eigenes Leibliches als ein Objekt wie einen äußeren Gegenstand außer sich zu haben, dann wird er gewahr, was es bei den Geistesforschern zu allen Zeiten bedeutet hat, daß sie zwei Erlebnisse nahe aneinander­gerückt haben: das Erlebnis der sogenannten Initiation und das Erlebnis des Todes.

Wir müssen nur festhalten, daß es zu allen Zeiten das gegeben hat, was man Geistesforschung nennt. Geistes-forschung wurde getrieben schon in den ältesten Zeiten des Menschentums, der menschlichen geschichtlichen Entwicke­lung auf Erden in den sogenannten Mysterien. Wer sich dar­über genauer unterrichten möchte, kann es nachlesen in mei­nem Buche «Das Christentum als mystische Tatsache», was dort über die Mysterien des Altertums gesagt ist. Nur konnte damals Geistesforschung nicht im Sinne unserer Zeit be­trieben werden. Die Menschen ändern sich im Laufe des

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geschichtlichen Werdens ganz beträchtlich; und ehe ich wei­ter darauf eingehe, möchte ich darauf aufmerksam machen, daß in den alten Zeiten der Menschheitsentwickelung ganz andere Kräfte in der Seele zur Entwickelung gebracht wer­den mußten, damit der Mensch an Stätten, die sozusagen ein Mittelding waren von Kunst, Wissenschaft und Religion, dahin gebracht werden sollte, daß sich durch die Entwicke­lung seiner Seelenkräfte die geistige Welt wesenhaft vor ihm darstellte.

Andere Kräfte als früher müssen in unseren Zeiten in den Seelen entwickelt werden, nachdem in den letzten Jahr­hunderten die Seelen naturwissenschaftlich erzogen worden sind. Und so muß auch die Geisteswissenschaft in unserer Zeit, wo sie eine Fortsetzung der Naturwissenschaft sein muß, etwas anderes sein, als sie in alten Zeiten war. Aber immer hat sie den Seelen jene zwei Erlebnisse gebracht: die Entwickelung der Seelenfähigkeiten, welche die geistige Welt unabhängig von dem Leiblichen erleben lassen, und das Erlebnis des Todes. Immer wieder finden wir in den verschiedenen Schriften ausgedrückt, daß der Mensch, der in den Mysterien zum Erleben der geistigen Welt, ihrer Vorgänge und Wesenheiten gebracht worden ist, heran­gekommen ist an die «Pforte des Todes»; das heißt, daß er in seinen Erlebnissen etwas erlebt, von dem er unmittelbar weiß, daß es dem Erlebnis des Todes gleicht, oder daß es etwas ist, bei dem man auch wissen kann, wenn man es er­kennt, was es mit dem Tode für eine Bewandtnis hat. Der durch die Initiation Gehende wußte, daß er bis an die Grenze des Todes herangehen mußte. So hat man immer gesagt. Und in meiner Schrift «Ein Weg zur Selbsterkennt­nis des Menschen» mußte ich ein Erlebnis anführen, das ich auch hier schon angeführt habe, zu welchem der Mensch kommt, wenn er in jahrelanger Übung auf sich wirken läßt,

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was man Meditation, Konzentration und so weiter nennt. Ich habe dort angeführt: Wenn der Mensch jene Entwicke­lung seiner Seele vornimmt, durch welche diese für kurze Zeiten aus dem Leibe herauswächst zu einem leibfreien Erfahren und Erleben, dann kommt der Mensch zu einem unendlich bedeutungsvollen Moment, zu einem Moment, der dann erschütternd für die Seele wird, wenn er zum ersten Male auftritt. Er muß ja dann für den Geistes-forscher öfter wiederholt werden; aber wenn er zum ersten Male auftritt, ist er ein für das Seelenleben allertiefst ein­greifendes Erlebnis. Wenn man jene Seelentätigkeit, die man sonst im gewöhnlichen Leben als Aufmerksamkeit, als Hingabe bezeichnet, ins Unbegrenzte steigert, dann erstar­ken die vom Leibe unabhängigen Seelenkräfte so, daß ein ganz bestimmter Moment im Seelenleben auftritt. Er kann auftreten mitten im Trubel des Tageslebens; er braucht nicht einmal zu stören, wenn man durch eine rechtmäßige Entwickelung, wie sie in dem Buche «Wie erlangt man Er­kenntnisse der höheren Welten?» geschildert ist, zu einem solchen Erleben aufsteigt, und das gewöhnliche Erleben des Tages kann im übrigen fortgehen. Oder in der Tiefe des nächtlichen Erlebens, im Schlafe, kann dieser Moment eintreten. Man fühlt sich dann plötzlich, oder man fühlt während des Tageslebens eine Inspiration oder Intuition in das allgemeine Leben hereinströmen. Typisch möchte ich beschreiben, was man so erlebt. Es kann beim Menschen hundert- und hundertfach verschieden sein, aber immer wird es etwas von dem haben, was ich jetzt beschreiben möchte. Ich werde es versuchen in Worte zu bringen; aber indem ich dies tue, bin ich mir bewußt, daß es mit Worten, welche dem Sinnensein entlehnt sind, nur unvollkommen ausgedrückt werden kann.

Man fühlt sich, wie wenn man mitten aus dem Schlafe

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gerissen wird, und man hat das Gefühl, daß etwas sagt:

Was geschieht mit mir? Es ist, wie wenn der Blitz in den Raum eingreife, wo ich selber bin, und wie wenn er das Gefäß der äußeren Leiblichkeit zerschlüge. Man fühlt in einem solchen Moment der gesteigerten Erkenntnis nicht nur etwas heranschleichen, was einen in bezug auf die äußere Leiblichkeit vernichtet, sondern man fühlt sich ge­radezu durchdrungen und durchpulst von diesem die äußere Leiblichkeit Vernichtenden. Man fühlt, daß man sich bei diesem Erleben nur aufrechterhalten kann durch die er­starkten inneren Seelenkräfte, und man sagt sich: Jetzt weiß ich, was alles in der äußeren Welt vorhanden sein kann, um die Leiblichkeit, in welcher ich stecke, von mir loszulösen. Von diesem Augenblicke an weiß man durch das, was man so erlebt hat, daß es ein Geistig-Seelisches im Menschen gibt, das unter allen Umständen unabhängig ist von der Leiblichkeit des Menschen, dem diese Leiblich­keit wie ein äußeres Gefäß und Werkzeug anentwickelt ist.

Von diesem Moment an weiß man im Bilde, was der Tod ist. Allerdings, es ist zunächst ein unbestimmtes Wissen, ein unbestimmtes Erleben; aber es gibt der Seele jene innere Stimmung, jenen Gefühlston, jenes innere Ergreifen einer geistigen Wirklichkeit, durch die sie geeignet wird, sich auf das einzulassen, was sie befähigt, in die Gebiete des gei­stigen Lebens einzudringen. Es ist ein intimes Erlebnis, von dem ich gesprochen habe; aber es ist ein Erlebnis von menschlich ganz allgemeiner Art - deshalb von menschlich ganz allgemeiner Art, weil es so ernst ist, daß es einen los-bringt von dem, was im engeren Sinne mit dem persönlichen Wünschen und Wollen zusammenhängt, und einen bekannt macht mit dem, was eigentlich sonst immer bloß hinter dem Leben steckt. Es zeigt einem aber noch etwas anderes ganz klar: den Unterschied in der Erringung des eigentlichen

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geisteswissenschaftlichen Wissens und der geisteswissen-schaftlichen Erkenntnis - und jeglichem anderen äußeren Wissens und äußerer Erkenntnis. Außere Wissenschaft, äußere Erkenntnis erringt man sich, indem man dieses oder jenes lernt, sich auf dieses oder jenes Streben einläßt; dann hat man es eben errungen, was man zu lernen begehrt. Arbeitend erringt man sich das, was man wissen soll. So ist es bei der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis nicht. Zwar ist es nicht so, daß irgend jemand glauben sollte: Ja, geisteswissenschaftliches Wissen erringt man so, daß einmal die Erleuchtung über die Seele kommt; dann sieht sie in das ganze Gebiet des Geistes hinein. So stellen es sich zwar manche Menschen vor: daß geisteswissenschaftliches Wissen errungen wird ohne alle Anstrengung. So ist es aber nicht. Und wenn jemand sagen würde: Von seiten der Geistes-forschung wird so manches gesagt, was der Historiker nur mit aller Mühe in einer Arbeit durch Jahre hindurch aus den Urkunden und Quellen zutage fördern kann, und dann kommt der geisteswissenschaftliche Forscher und sagt etwas, ohne zu ahnen, wie so etwas sonst nur durch jahrelanges Forschen zu sagen möglich ist; das ist eine Vermessenheit,

- dann muß allerdings darauf erwidert werden: Nicht nur die Arbeit, die man zu solchem jahrelangen Urkunden-forschen und zu jahrelangem Experimentieren braucht, muß der Geistesforscher aufwenden; sondern die ganze Arbeit, die nötig ist, muß er jahrelang an sich selber aus­führen. Aber diese Arbeit hat in einer gewissen Weise ein anderes Ziel, einen anderen Charakter. Was man als gei­steswissenschaftlicher Forscher tun kann, ist eigentlich nicht das, was einen zur Erkenntnis führt, sondern ist nur die Vorbereitung dazu. Und alles, was in meiner Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» gesagt ist, ist nur eine Charakteristik dessen, was die Seele zu tun hat,

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um sich für jenen Moment vorzubereiten, wo ihr die geistige Welt offenbar wird. Vorbereitung, nicht Erarbeitung wie in der äußeren Wissenschaft, ist das, was der Geistesforscher zunächst vorzunehmen hat. Das lernt man allerdings auch erkennen, wenn man einen Sinn verbinden kann mit den

Worten: Ich erlebe mich als ein geistig-seelisches Wesen innerhalb der geistigen Welt.

Dann verbindet man noch mit etwas anderem einen Sinn, nämlich mit dem, was zwar nicht so wichtig erscheint wie die Todesfrage, weil das gewöhnliche Bewußtsein daran gewöhnt ist: mit dem was als Schlaf jeden Tag in das Leben hereinbricht. Man lernt erkennen, was der Schlaf ist, und wie der Mensch jedesmal mit dem Einschlafen in bezug auf seine geistig-seelische Wesenheit aus der leiblich-physischen Wesenheit herausgeht, wie bei der chemischen Zersetzung des Wassers der Wasserstoff aus dem Sauerstoff heraus-geht -, nur daß der Mensch, wenn er beim Schlafe aus der Leiblichkeit heraus ist, für das normale Leben der Seele nicht erstarkt genug ist, um das Bewußtsein zu erhalten. Im normalen Leben ist der Mensch nur fähig, sein Bewußt­sein zu erhalten, wenn er mit dem geistig-seelischen Wesen untertaucht in die physische Leiblichkeit und diese ihm, wie in einem Spiegel, sein seelisches Erleben zurückwirft. Er kann dieses Erleben nur wie in einem Reflexbilde in seinem see­lischen Bewußtsein haben. Es ist so, wie wenn der Mensch sein Bewußtsein nur dadurch haben könnte, daß er gleich­sam an Spiegeln vorbeiginge und, indem er in die Spiegel schaut, zum Erspüren, zum Erfühlen seiner selbst käme. Wenn aber der Mensch im gewöhnlichen Leben sich im Spiegel sieht, dann weiß er, daß nicht der Spiegel die Ur­sache des Bildes ist, sondern derjenige, welcher davorsteht. So ist es, wenn der Mensch eine geistesforscherische Ent­wickelung in seiner Seele durchmacht: da beginnt er zu

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wissen, daß das, was er im gewöhnlichen Leben vorstellt, empfindet und wahrnimmt, wie ein Spiegelbild ist, und daß er im geistigen Erleben eine Wesenheit ist, die sich wie im Spiegelbilde wahrnimmt, wenn sie in die Leiblichkeit unter-taucht. Der Leib macht die Seele stark genug, daß sie sich wahrnehmen kann; ist sie aber außerhalb des Leibes, dann ist sie nicht stark genug, um von sich zu wissen. Wenn der Mensch gleichsam zum Erspüren, zum Erfühlen und Er­leben seines selbständigen geistig-seelischen Erlebens kommt, dann weiß er, wie hinter dem Spiegel des gewöhnlichen Bewußtseins das ist, was er in Wirklichkeit ist; dann be­ginnt er zu wissen, nicht nur als Phrase, sondern durch unmittelbares Erleben, daß er vom Einschlafen bis zum Aufwachen in seiner realen geistig-seelischen Wesenheit drinnen ist und in ihr das erlebt, wovon er sich im nor­malen menschlichen Erleben nur kein Bewußtsein verschaf­fen kann.

So zu erleben, wie man im Schlafe erlebt, das lernt der Geistesforscher, aber nur mit dem gewaltigen Unterschiede, daß man im normalen Schlafleben unbewußt ist, während sich der Geistesforscher bewußt in seiner Innenheit erlebt, indem er die Seele vorbereitet und erstarkt gegenüber dem leiblich-physischen Erleben. Dann macht der Geistesforscher seine Erfahrungen mit Bezug auf dieses selbständige Er­leben des geistig-seelischen Wesenskernes. Ein Erlebnis ist dabei von ganz besonderer Bedeutung. Man möchte es nennen die «Veränderung mit dem Ich-Erlebnis». Ist es doch das Ich, welches wir durch das Leben tragen müssen, wenn das Leben normal verfließen soll. Ufter ist es erwähnt worden, daß von einem bestimmten Punkte des Kindheits­erlebens an das Ich aufleuchtet. Es ist das der Punkt, bis zu dem wir uns im Leben zurückerinnern. Und können wir uns zurückerinnern, dann wissen wir, wie alles, was wir

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erlebt haben, mit dem Ich zu verbinden ist. Wir setzen uns gleichsam neben unser Ich und wissen uns mit allen un­seren bewußten Erlebnissen verbunden. Nur dadurch ist unsere Ichheit garantiert, daß wir uns mit dem Ich mit allen seelischen Erlebnissen verbunden fühlen. Wenn der Geistes-forscher wirklich dahin gelangt, seinen geistig-seelischen Kern aus der physischen Leiblichkeit herauszuhülsen, dann geht mit seinem Ich-Erlebnis eine große Verwandelung vor, eine solche Verwandelung, für die man vorbereitet sein muß, damit man nicht durch sie bestürzt wird. Ein guter Teil dessen, was in meiner Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» geschildert ist, ist dazu bestimmt, die Seele auf dieses Erleben vorzubereiten.

Was geschieht an einem bestimmten Zeitpunkte, wenn die Seele leibfrei wird? Was da geschieht, was unmittelba­res Erlebnis wird, das kann in folgender Weise annähernd dargestellt werden, und ich möchte dazu den folgenden Weg nehmen.

Wenn wir den Menschenleib nehmen, wie ihn die äußere Wissenschaft mit ihren äußeren Instrumenten erforscht, so müßte man sich auch schon durch äußere logische Gründe klar sein, daß dieser Menschenleib von etwas durchzogen sein muß, damit er nicht seinen eigenen Gesetzen und seiner eigenen inneren Notwendigkeit folgt. Welches sind diese Gesetze und Notwendigkeiten? Nun, sie zeigen sich ja im Tode, wenn der physische Menschenleib der Auflösung entgegengeht. Dann ist er seinen ureigenen Gesetzen über­lassen. Es kann durch eine gewisse Logik, die ich auch schon hier dargelegt habe, schon aus diesem, was hier gesagt wor­den ist, erschlossen werden, daß im Menschen etwas Höhe­res vorhanden sein muß, als dieser physische Leib; aber es muß immer bei solchen logischen Erwägungen ein gewisser Rest bleiben, der Einwände möglich macht, wenn nicht von

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vornherein ein gesunder Wahrheitssinn für das vorhanden ist, was die geistige Wissenschaft aus den Urgründen des Daseins zu erforschen vermag. Was ist es aber, wenn wirk­lich jenes Ereignis eintritt, das man die Initiation nennen kann, durch welches der Geistesforscher sich innerlich un­abhängig von seinem physisch-leiblichen Wesen erlebt? Da hat er wirklich seine Leiblichkeit außer sich, weiß sich außerhalb dieser Leiblichkeit, hat sie nicht um sich; und wie erscheint sie ihm? Man darf nicht glauben, daß das so nett und niedlich ist, daß man außerhalb seiner Leiblich-keit schwebt und seinen Leib im Bette liegen hat, unver­sehrt und beruhigend. So ist es nicht. Sondern was man wahrnimmt, wenn man sich in der entsprechenden Weise vorbereitet hat, ist etwas sehr Merkwürdiges. Das ist das, daß man den Leib nicht in den Kräften kennenlernt, in denen er lebt; sondern in den Kräften lernt man ihn ken­nen, die schon während des ganzen Lebens als die zerset­zenden, als die Todeskräfte vorhanden sind, lernt das kennen, was durch das ganze Leben hindurch am Leibe an dessen Zerstörung arbeitet. Wenn man sich wissenschaftlich, gelehrt ausdrücken will, kann man sagen: man lernt den im Leibe latenten Tod kennen. Überall lernt man die Ten­denzen des Leibes kennen, auseinanderzusprühen, sich den Elementen der Erde einzugliedern; man lernt den Leib ken­nen, wie er sich auflösen will. Man kann das, was man im Hinblick auf seinen Leib erlebt, durch einen Vergleich aus­drücken; aber es ist damit nicht ein bloßes Bild gemeint, sondern es ist gebraucht, um innere Erlebnisse, die gemacht werden müssen, auszudrücken.

Man betrachte eine Kerzenflamme. Die Kerze brennt herab. Das Brennmaterial wird zerstört. Solange das Brenn­material noch da ist, solange kann die Flamme da sein. Aber durch was nur ist die Flamme da, wodurch allein ist

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sie vorhanden? Einzig und allein dadurch, daß das Brenn­material nach und nach herabbrennt, daß es sich auflöst. Würde man vermeiden wollen, daß das Brennmaterial sich auflöst, so müßte man die Flamme auslöschen. Man kann gar nicht verlangen, daß die Kerze intakt bleibe und die Flamme doch da sei. Man kann den Anblick und den Nut­zen der Flamme nur haben, indem das Brennmaterial sich verzehrt.

Wie eine solche brennende Flamme, im Vergleiche, er­scheint einem im übersinnlichen Anblick der eigene physische Leib in seinem Aufgezehrtwerden. Wie das Brennmaterial, das herunterbrennt, erscheint der Leib; und es erscheint einem auch die Flamme. Man weiß, was durch dieses im Leibe eben Vorhandene vor sich geht, daß im Leibe stets die Tendenz vorhanden ist, sich aufzuzehren. Wie bei der Kerze durch das Verzehren des Brennmaterials die Flamme entsteht, so entsteht im Menschen aus seinen Todeskräften das, was man im gewöhnlichen Leben sein Ichbewußtsein nennt. Man würde dieses Ich nie erleben können, wenn man nicht den Tod in seinem Leibe trüge. So ist es für den Menschen. Man versetze sich hypothetisch in einen Men­schenleib, welcher so der Welt eingefügt wäre, daß er nicht sterben könnte, daß er nicht neben den Kräften, die ihn wachsen und groß werden lassen, auch die Kräfte hätte, die ihn mit derselben Sicherheit aufzehren, wie die Flamme die Kerze aufzehrt: sein Ich wäre ausgelöscht, das Ich wäre nicht mehr da! Das ist die eindrucksvolle Erkenntnis, die man als Geistesforscher gewinnt, jene eindrucksvolle Er­kenntnis, die man in die Worte zusammenfassen muß: Wir tragen nicht nur die Kräfte des Wachstums, wir tragen die Kräfte des Todes in uns; und daß wir sie in uns tragen, daß wir die Tendenz des Todes in uns haben, das gibt uns für das Leben zwischen Geburt und Tod die Möglichkeit

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des Ichbewußtseins. Man merkt das an einem ganz be­stimmten inneren Vorgange, an dem Vorgange, daß man im Ich, wenn man jetzt als Geistesforscher heraus ist aus dem physischen Leibe, in der Tat eine Verwandlung vor sich gehen fühlt. Das Ich wird etwas, von dem man nicht gern hat, daß es dies wird. Aus einem Gedanken, der einen sonst im Leben immer begleitet, ohne den man wach gar nicht da ist, wird das Ich, dieses Ich, das man sonst im nor­malen Leben hat, zu etwas, das man dann nicht in sich hat, das man sich gegenüber sieht, wirklich wie aus dem Bilde des körperlichen Todes flammenhaft hervorgehend: das Ich wird zu einer Erinnerung. Das ist der bedeutsame Über­gang von dem außer-geistigen Erkennen zum geistigen Er­kennen, daß man das Ich als bloße Erinnerung in sich hat, wovon man weiß: Es ist da, man kann darauf hinschauen wie auf eine Erinnerung, aber man kann es jetzt nicht in sich haben. - So lernt man geisteswissenschaftlich den Tod und seine Verknüpfung mit dem Ich, so wie es im nor­malen Menschenleben ist, kennen.

Nun kann das geistige Erforschen weiter gehen. Was wir in der Seele erleben, läßt sich ja in drei Gruppen seelischen Erlebens teilen. Zwei Gruppen dieses seelischen Erlebens seien zunächst als besonders wichtig und bedeutsam her­vorgehoben: das vorstellende Denken und das Wollen, der Wille. Wir müssen ja, wenn wir im Alltagsleben drinnen stehen, mit unseren Gedanken dieses Alltagsleben beglei­ten. Was waren wir als menschliche Wesen, wenn wir nicht denkend durch die Welt gehen würden, wenn wir uns nicht Gedanken über die Dinge machen könnten? Was wären wir als menschliche Wesen, wenn wir nicht die Impulse hätten, dieses oder jenes zu tun, dieses oder jenes zu ver­richten? Wille und Denken sind die Kräfte im Seelenleben, die den Menschen durch sein Alltagsleben immer begleiten.

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Rückt man in der Geistesforschung vor zum leibfreien Er­leben in der Seele, dann macht man die weitere Entdeckung, daß man das, wodurch man sich eigentlich im gewöhnlichen Erleben als Mensch fühlt: das Denken, das Vorstellen, nicht in das leibfreie Erleben hineinnehmen kann. Die All­tagsgedanken, die Gedanken auch der gewöhnlichen Wis­senschaft, die sich an die Erfahrung der äußeren Sinne an­lehnen, muß man draußen lassen; die glimmen ab, möchte ich sagen, indem man sich in das leibfreie Erkennen hinein-begibt. Da ist es dem Geistesforscher voll begreiflich, wenn der, welcher sich überhaupt nur auf das Vorstellungsleben verlassen will, wie dieses aus dem äußeren Leben gewonnen wird, sagt wie Professor Forel: Das Bewußtsein wird sehr bald einschlafen, wenn es nichts mehr von außen vorzu­stellen hat. Das ist begreiflich für ein Bewußtsein, das sich nur auf die Außenwelt verlassen will; denn die Eindrücke, die von der Außenwelt kommen, können weder in das Schlafleben noch in das geistesforscherische Erleben hinein­genommen werden. Das bedingt für den, der Geistesfor­scher wird, etwas ungemein Bedrückendes, bedingt etwas, wodurch er sich getrennt fühlt von allem, woran man im äußeren Leben hängt, was man im äußeren Leben als das Wertvolle betrachtet, ja, wovon man sich sogar sagen kann:

im normalen Leben schläfst du ein, wenn du es nicht hast. Man muß als Geistesforscher in ein Leben hinein, wo man das nicht haben kann, wo man niederlegen muß alles, was man im gewöhnlichen Leben zu denken gewohnt gewesen ist. Und was erlebt man dann in bezug auf das, was sich im normalen Leben als das Denken ausdrückt, wenn die Ge­danken, die man gewöhnlich dann nicht mehr hat, abge-glommen sind, wenn sie vor der Schwelle beim Eintritt in die geistige Welt geblieben sind, was erlebt man dann? Ich möchte zum Ausdruck bringen, was man dann erlebt:

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Man erlebt zunächst, was der Schlaf macht. Das ist schon ein bedeutsames Erlebnis, zu wissen, wie es der Schlaf macht. Man lernt nunmehr sogar in recht bescheidener Weise selbst dem materialistischen Denker recht geben, welcher sagt: Zum Denken ist das Gehirn notwendig, und einem Gedanken müssen gewisse Bewegungen in unserem Gehirn zugrunde liegen. Ganz wahr, absolut wahr! Und ein jeder Einwand, der dem Materialismus gegenüber sagen würde, daß die Gedanken auch ohne das Gehirn da sein können, ist von der Hand zu weisen. Denn das Denken ist nicht das, wodurch wir uns in die geistige Welt einleben, wenn wir als Geistesforscher uns in die geistigen Gebiete begeben. Die Gedanken finden wir dort nicht. Aber das andere finden wir, wodurch der Gedanke im Gehirn erst entsteht. Was aber bringt das Gehirn in ganz bestimmte Bewegungen, damit es zum Gedankenspiegel wird? Das sind erst die geistig-seelischen Kräfte. Hinter dem Denken -nicht im Denken arbeiten die geistig-seelischen Kräfte, welche der Geistesforscher findet. Daher stimmt er mit dem überein, was der materialistische Forscher, wenn er in den Grenzen seines Gebietes bleibt, sagen kann: daß die All-tagsgedanken Konsequenzen des Gehirnes sind. Aber was im Gehirn vorgeht, wodurch die Leiblichkeit erst zum Spie­gel, und zwar jedesmal zum Spiegel des Denkens geformt wird, das ist das Wirken des Geistig-Seelischen dahinter. Wir kommen als Geistesforscher wirklich hinter das All­tagsleben in das schöpferische Gebiet der Welt hinein. Da­her lernen wir dann auch das Schlafleben verstehen, wer­den Teilnehmer, wie das, was hinter dem Schlafe ist, in der Nacht die abgenutzten Teile unseres Gehirnes ausbessert. Bei dieser Regenerationsarbeit an dem Leibe werden wir Zuschauer; wir lernen die Tätigkeit, die Aktivität des Schlafens kennen. Wir lernen die Gedanken, die uns bei

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Tage von der einen Seite entgegentreten, als Geistesforscher von der anderen Seite aus kennen; und jedesmal, wenn ein Gedanke auftreten und im Spiegelbilde im Gehirn erschei­nen kann, lernen wir ihn von der anderen Seite aus kennen, wenn der Leib nächtlich schläft, wenn er innerhalb des Ge­hirnes wirkt und lebt und das Gehirn während des Tages-lebens zu seiner Tätigkeit anregt. Man lernt auf diese Weise das Denken von der anderen Seite her kennen. Das ist der eine Teil, wie man das Denken kennenlernt.

Der andere Teil, wie man das Denken kennenlernt, ist jetzt etwas, was wieder so wird im Geistesforschen, daß man unmöglich, wenn man nicht gut darauf vorbereitet ist, von vornherein Sympathie mit dem haben kann, was da wird. Man lernt das innere Erarbeiten, das innere Erfühlen, das innere Sich-Erleben der Seele kennen. Man lernt die Seele als ein innerlich Bewegliches kennen; man lernt eine Tätigkeit der Seele kennen, von der man sagen kann: was will nun diese Tätigkeit? Sie will Gedanken bilden. Aber so, wie sie da auftritt, kann sie nicht Gedanken bilden. Einen Teil der Seelentätigkeit lernt man kennen, der ver­wendet wird, um das ermüdete Gehirn im Schlafe aus­zubessern; mit dem kann man zufrieden sein. Einen an­deren Teil der Seelentätigkeit lernt man kennen, mit dem man wie von innen an die ganze Leiblichkeit des Gehirnes stößt, von dem man sich sagen kann: Du hast es jetzt. Und indem man darauf eingeht, genauer zu untersuchen: Wo­durch hast du es jetzt? wird einem klar: Du hast es durch das, was du von der Geburt an erlebt hast und in deiner Seele verarbeitet hast; aber es ist dadurch zu etwas ge­worden, was so, wie du bist, an dein Gehirn anstößt; und das läßt nicht zustandekommen, was zustandekommen will als gewöhnliche Gedanken des alltäglichen Lebens. So lebt sich der Geistesforscher in einen Zustand hinein, wo er sich

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in den Leib, der ihm das bewunderungswürdige Geistes­werkzeug des Denkens ist, wie in eine Kammer, wie in ein Gefängnis eingesperrt fühlt. Und er fühlt sich davon so berührt, daß er sich sagt: jetzt könntest du aus deiner inneren Tätigkeit Gedanken bilden, wenn dein Gehirn nicht wie eine schwere Substanz daläge und sich nicht auf­rütteln lassen wollte zu dem, was die Seele will.

Es wird oft davon gesprochen, daß die Methoden, welche der Geistesforscher durchzumachen hat, zu einem gewissen Leiden führen. Leiden besteht immer darin, daß etwas, was man in der Seele ausüben möchte, verhindert wird. Sogar die körperlichen Schmerzen bestehen darin; doch kann darüber später einmal gesprochen werden. Als Lei­den lebt sich aus, was der Geistesforscher in seinem Werden ergreift und was Gedanke werden will, aber nicht Gedanke werden kann; denn das Gehirn taugt nur für die Gedan­ken, die im normalen Leben errungen werden. Vielleicht wird man gerade an dieser Stelle verstehen, daß die Erfor­schung des Todesproblemes doch zu einem inneren Marty­rium der Seele wird, daß sie nur angestellt werden kann, weil der Mensch den notwendigen Erkenntnisdrang in sich hat, hinter die Geheimnisse des Lebens zu kommen. Ja, man wird auch begreifen, daß diese Forschung nicht so oft angestellt wird, weil man in der Tat, indem man sich in die Lebensgebiete einlebt, wo einem etwas von diesem Geheim­nis entgegentritt, überhaupt nur dann vorwärts kommt, wenn man hinaus sein kann über alles, was man sonst ein­zig und allein im Leben gern hat, was einem im Leben sympathisch ist. Es wird daher nicht leicht sein, anders als mit einem gewissen Tone von Wehmut und tiefem Ernst über das zu sprechen, worauf eben jetzt gedeutet ist. Und dann erlangt man immer mehr und mehr die Möglichkeit, nicht nur den Mangel in dem geistig-seelischen Erleben zu

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schauen, sondern man lernt darauf verzichten, aus dem, was man so erlebt, durch den Leib Gedanken bilden zu wollen. Dieses «man lernt verzichten» spricht sich leicht aus; doch gehört dieser Verzicht zu den ernsten, tiefen An­gelegenheiten des Lebens. Es ist ein Verzicht, den man nur durch gewisse Bitternisse erringt, die sich nur dadurch rechtfertigen, daß sie eben zu Erkenntnissen führen. - Hat man das erlebt: in bezug auf das, was man erreicht hat, keinen Ausdruck im Gedanken finden zu können, dann erlebt man es erst innerlich. Und was erlebt man dann? Man erlebt das, was geeignet ist, zwar jetzt nicht in den Leib einzugreifen, weil der Leib es verhindert, aber was einen Keim bildet für eine neue Leiblichkeit, die wir uns auferbauen für ein nächstes Erdenleben, wenn wir nach dem Tode durch ein Leben in einer rein geistigen Welt durchgegangen sind. - Was man in der Zeit zwischen dem Tode und der nächsten Geburt erlebt, darüber soll später gesprochen werden.

Durch die inneren Erlebnisse, welche der Geistesforscher mit seinem Denken hat, habe ich zu zeigen versucht, wie er seinen inneren, geistig-seelischen Wesenskern erlebt, der durch seine eigenen Eigentümlichkeiten in einem nächsten Erdenleben so wahr aufgehen muß, wie ein Pflanzenkeim, der sich entwickelt, in einer neuen Pflanze aufgehen muß. Denn nicht dadurch lernt man das im Menschen kennen, was von ihm über den Tod hinauswächst, indem man dar­über spekuliert, sondern indem man erkennt, was sich im Leben vorbereitet zu einem Leben jenseits des Todes und damit zu einem neuen Erdenleben; wenn man dasjenige aufsucht, was man mit keinen Sinnen schauen und mit kei­nem an die Sinne gebundenen Verstand denken kann. Nicht spekulieren, nicht philosophieren will die Geistes­wissenschaft über die Unsterblichkeit; sondern sie will die

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Menschenseele so zubereiten, daß der unsterbliche Wesens-kern in ihr wirklich daliegt, man möchte sagen, «geistig präpariert», wie man etwas in der Naturwissenschaft auch untersucht, indem man es herauspräpariert aus der Um­gebung, in welcher es in seiner Eigentümlichkeit nicht er­forscht werden kann. So in bezug auf das Denken.

Noch anders stellen sich die Dinge in bezug auf den Wil­len. Auch da erlebt man eine Veränderung. Man merkt dann, wieviel bei dem Willen, den man in der Außenwelt zum Ausdruck bringt, von der Verfassung des Leibes ab­hängt, wie das, was man im gewöhnlichen Leben einen starken Willen nennt, ungeheuer zusammenhängt mit der ganzen Konstitution unseres Leibes. Bei jedem Willens-impuls stellen wir sozusagen unseren Leib ins Feld. Nun aber müssen wir auf dem Boden der Geistesforschung den Willen haben, ohne daß wir den Leib dabei haben. Da macht sich der Wille sogleich geltend, indem er zeigt: jetzt ist er da in einer Art, wie man ihn sonst nicht gewohnt ist. Sonst ist man gewohnt, wenn man einen Willensimpuls hat, seinen Leib ins Feld zu stellen; wenn der Leib tatenlos im Bette liegt, regt sich kein Willensimpuls. Willensimpulse empfinden wir immer im Zusammenhange mit dem Leibe. Jetzt ist aber die Seele, die in die geistige Welt eindringen will, jenseits des Leibes; da wirkt dieser mit im Willens-impuls. Das bewirkt eine gewisse innere Spannung, wie wenn der Wille von allen Seiten begrenzt wäre, in einer undurchdringlichen Eischale drinnen wäre, wie wenn man gehindert wäre am Denken, am Vorstellen, am Empfinden und Wahrnehmen, am Gehen, am Stehen, an allem. Man empfindet den Willen in seiner Insichgeschlossenheit, aber wie überall anstoßend an Wände, durch die er nicht durch kann. Und man muß wieder die inneren geistigen Übungen so weit treiben, daß man nicht nur dieses Negative am

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Willen bemerkt, sondern daß man das Innere wie jetzt ein-gepreßt im Willen erleben kann. Dann merkt man: man will wieder etwas, wovon gesagt werden muß, daß man es nicht gern erlebt. Wenn man in der äußeren Welt den Willen zur Anwendung bringt, so hat man auf der einen Seite die Willensimpulse, auf der anderen Seite die mora­lisch-soziale Ordnung. Man legt sich im Leben Pflichten auf, oder man bekommt von der moralisch-sozialen Ord­nung Pflichten auferlegt. Man unterscheidet zwischen einem guten und einem bösen Willen, zwischen dem was recht und unrecht ist; man unterscheidet in der äußeren Welt die moralischen Regeln von den Willensimpulsen. Das ist so richtig. Jetzt, wo man sich von der äußerenWeltzurück-gezogen hat, bleibt einem der Wille in einer ganz ähn­lichen Weise, wie einem vorhin das Ich gewesen ist: was man gewollt hat, das bleibt einem wie eine Erinnerung. Ich schildere, wie sich die Erlebnisse ergeben. Man muß in diesem Falle die imaginative Anschauung schildern; das erscheint vielleicht phantastisch, aber die Dinge müssen so dargestellt werden. Dann erlebt man in seinem gepreßten Willen etwas wie eine in diesem Willen selber drinnen steckende Moral. Eine Handlung, die uns für das äußere sinnliche Bewußtsein als böse gelten muß, erlebt man in diesem Willen so, daß sie zu dem gehört, was man selbst auszugleichen hat. Man erlebt so den Willen in der Erinne­rung, daß die Kraft des Ausgleiches, was geschehen muß, weil die unmoralische Handlung das fordert, drinnen steckt in dem Willen. Man kann gar nicht anders als sagen: Was du an Unrecht getan hast, das muß sich neben dich hin-stellen wie ein gespenstiger Feind, der solange neben dir stehen bleibt, bis du ihn durch ausgleichende Taten weg-geschafft hast. Wer den Willen in sich erlebt und im Ge­dächtnis erlebt, was er selbst gewollt hat, dem stellen sich

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mit absoluter Sicherheit seine Unrechte hin, die solange wirken, bis er sie durch ausgleichende Willensimpulse weg-geschafft hat. Man erlebt auf diese Weise das, was man mit einem orientalischen Namen oft bezeichnet als das innere Wirken des Karma. Man weiß dann ganz genau: wenn man einen Willensakt erlebt, den man gewollt hat, so erlebt man ihn so, daß man sieht: er ist getan; denn jeder Willensakt gehört, wie das Denken, der Erinnerung an. Man weiß dann: es ist getan, es hat zugleich beigetra­gen, daß wir in unserer Entwickelung vorwärts kommen; es gießt sich auch über unser Bewußtsein etwas aus, was man bezeichnen kann als eine lichtvolle Klärung in bezug auf das, was getan ist. Alles aber, was getan ist, wirkt so, daß man sieht, wie das Moralische und das Mechanische, was im physischen Leben getrennt ist, zusammenhält, und wie ein Unrecht oder ein Unmoralisches solange wirksam ist, bis man im Außenleben es bis zu einem gewissen Grade aus­zulöschen sich bemüht, bis wir die Kraft gefunden haben, das Unrecht auszulöschen, das heißt wieder gut zu machen. Wir wissen, wenn wir im leibfreien Erkennen den Willen erleben, daß dieser unter allen Umständen seine inneren moralischen Impulse hat; wir wissen, daß das, was Karma genannt wird, eine fortwirkende Kraft in der Welt ist. -Und nun tritt das Leidvolle ein: daß wir erkennen müssen, daß es viele, allzuviele, selbstverständlich allzuviele Taten in unserem gegenwärtigen Leben gibt, für die uns die Mög­lichkeiten des Ausgleiches fehlen! Von denen wissen wir nun, da wir sie in ihrer Realität erschauen, daß sie mit­gehen in unser nächstes Erdenleben und dort zu unserem Schicksale beitragen.

Was ich so anzudeuten versuchte, kann man nennen Er­forschen des Todes, weil es heißt: dasjenige erleben, was die Pforte des Todes als des Menschen Unsterbliches durchschreitet.

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Man sieht aus alledem, daß die wahre Todes-forschung eine intime, innere Forschung ist, daß sie aber um so mehr eine allgemein menschliche ist, als sie auf das reflektiert, was in allen Menschen zu finden ist. Denn wahrhaftig: das, wodurch wir dieser besondere persönliche Mensch im Leben zwischen Geburt und Tod sind, das haben wir durch unsere äußere Leiblichkeit und von der äußeren Welt; das geht nicht mit uns durch die Pforte des Todes. Das geht mit uns durch die Pforte des Todes, was hinter dem Physisch-Sinnlichen liegt, was das Physisch-Sinnliche hervorruft und für das Erleben zwischen Geburt und Tod zur äußeren und zu unserer eigenen Erscheinung bringt.

Nun werfen wir uns die Frage auf: Warum merken wir im gewöhnlichen Leben nichts von unserer unsterblichen Seele? Warum hüllt sich das, was uns das Geheimnis des Todes enthüllen kann, in ein solches Dunkel?

Aus dem Grunde hüllt es sich in solches Dunkel, weil wir für das gewöhnliche Seelenleben zwischen Geburt und Tod von diesem Dunkel leben. Wir müssen für das gewöhnliche Tagesleben im Bewußtsein unser Unsterbliches auslöschen, damit wir im Leibe leben, mit der äußeren physischen Sinneswelt leben, diese äußere Sinneswelt liebgewinnen und auf ihr unsere Mission ausführen können. In dem Augenblicke, wo wir zu unserem Unsterblichen vordringen wollen, müssen wir unser physisch-sinnliches Erleben, un­ser Alltagsleben, auslöschen. Wenn wir also unser Unsterb­liches in unserem gewöhnlichen Bewußtsein auslöschen müs­sen, um das gewöhnliche physisch-sinnliche Alltagsleben zu haben, und da wir also das gewöhnliche physisch-sinnliche Leben nur dadurch haben, daß wir für eine Zeitlang das Unsterbliche auslöschen, so brauchen wir uns nicht zu wun­dern, daß wir das, was uns über den Tod aufklären kann, nicht innerhalb des Alltagslebens finden, für das ja gerade

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das Geheimnis des Todes zugedeckt sein muß. Der Geistes­forscher kann auch zeigen, warum man im gewöhnlichen Leben das Geheimnis des Todes nicht finden kann. Denn indem wir uns mit unserm geistig-seelischen Teil von gei­stigen Höhen herunterneigen zu dem, was uns in der Ver-erbungslinie von Vater und Mutter gegeben wird, indem wir uns mit den leiblich-physischen Substanzen verbinden und in sie untertauchen, muß das endliche Bewußtsein das unendliche Bewußtsein auslöschen. Und mit dem Tode, w das unendliche Bewußtsein wieder aufleuchtet, wird das endliche Bewußtsein zum Verlöschen gebracht, und das, was von ihm erhalten bleiben kann, bleibt als Erinnerung vorhanden. Das Leben aber, welches eintritt, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes geschritten ist, wird verbürgt durch die geisteswissenschaftliche Entwickelung der Menschenseele, wenn sie jene Methoden anwendet, durch die sie schon im gewöhnlichen Leben in die geistige Welt eindringt und vollbewußt die Pforte des Todes über­schreitet und ein Leben entwickelt, von dem wir sogar eine besondere Schilderung geben werden, wenn wir zu dem entsprechenden Vortrage kommen werden, unbehindert von der heute in dieser Beziehung herrschenden Scheu.

Das nächste Mal aber soll geschildert werden, was sich sagen läßt als die unmittelbare Folge desjenigen, was wir geisteswissenschaftlich heute zu besprechen versuchten als das Geheimnis des Todes, der da ist schon während des Lebens, und dem wir das verdanken, was das gewöhnliche Bewußtsein möglich macht. Ja, es existiert diesen Dingen gegenüber in der Gegenwart eine Abneigung; man will sie nicht gern erforschen. Und selbst gute, glänzende Denker scheuen davor zurück, in diejenigen Gebiete einzudringen, auf die heute im Zusammenhange mit dem Todesproblem hingewiesen worden ist. So kommt es, daß ein so ausgezeichneter

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Mensch wie Maurice Maeterlinck in seinem kürzlich erschienenen Büchelchen «Vom Tode» - das eben deshalb, weil es so glänzend neben all das haut, worauf es dabei ankommt, gelesen werden sollte - über alles, was sich auf das Todesproblem bezieht, die verkehrtesten An­schauungen vorbringt. Er, der über alle anderen Gebiete des Lebens in sehr geistvoller Art zu sprechen vermag, er mußte bei dieser Sache scheitern, weil er, wie man überall sieht, eine besondere Art hat, sich den Dingen zu nähern; die Art: den Tod mit denselben Erkenntnismitteln zu schildern, wie die äußeren Dinge. Er ist kein Geistesfor-scher. Er weiß also nicht, daß diese Mittel verlassen werden müssen, wenn die Gebiete erforscht werden sollen, die in bezug auf das Todesproblem in Betracht kommen. Maeter­linck ist dabei in derselben Lage, wie einst die Mathemati­ker gegenüber dem Problem, das man die «Quadratur des Zirkels» nannte. Es hat eine gewisse Zeit gegeben, wo man in mathematischen Kreisen immer an betreffende Stellen Lösungen einschickte, wie man einen Kreis in ein Quadrat verwandeln könne. Die Lösungen waren aber alle un­befriedigend, und heute ist jeder ein Dilettant, der sich noch mit diesem Problem beschäftigt, weil heute streng be­wiesen ist, daß das Problem nicht auf diese Weise gelöst werden kann. Während man also früher noch Aussicht hatte, als ein Genie zu gelten, wenn man die «Quadratur des Zirkels» lösen wollte, ist heute ein Dilettant, wer das noch versuchen wollte. In bezug auf die Unsterblichkeits­frage wird sich die Anschauung der Menschen auch ändern, wie sich die Anschauungen jener Mathematiker geändert haben. Denn heute versucht noch jemand eine Lösung über die «Quadratur des Zirkels» auf einem anderen Gebiete; aber man müßte ihm sagen: Du verlangst, daß bewiesen werde mit den Mitteln des gewöhnlichen Lebens, was die

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Geheimnisse des Todes sind. Aber bei Beweisen kommt es vor allem darauf an, daß sie eingesehen werden. Und so muß auch eingesehen werden, daß Beweise, die das Ge­heimnis des Todes und die Unsterblichkeit mit Mitteln des gewöhnlichen Lebens beweisen wollen, unmöglich sind, weil wir gerade in unserem Alltagsleben die Kräfte des Unsterblichen verdeckt haben, damit wir im Sterblichen ichbewußte Menschen werden.

Aber noch ein besonderes Charakteristisches zeigt sich bei Maurice Maeterlinck. Nachdem er überall an den Din­gen - manchmal in höchst geistvoller Weise - vorbeigeredet hat, kommt er - etwas glänzender, belletristischer als Max Müller, während es dieser etwas professorenhafter getan hat - zu der Ansicht: Also solle sich die Seele daran ge­wöhnen, daß sie nicht in diesem und nicht in jenem Leben jemals die Geheimnisse des Daseins wirklich erforschen könne. Er sagt dann weiter: Es ist wahrscheinlich gut, daß man sie nicht erforschen kann. Und er fügt noch hinzu: er wünsche es seinem schlimmsten Feinde nicht, daß er die wirklichen Geheimnisse erforschen könne. Er fürchtet näm­lich, daß die Welt «mysterienfrei» werde, wenn sie er­forscht würden, daß sie allen Glanz des Geheimnisvollen verlieren würde, wenn man in das Geheimnis des Todes eindringt. Er hält es für wertvoll, daß Geheimnis «Ge­heimnis» bleibt, damit man nicht die Verwunderung in der Seele auflöst, wenn man hinter ein solches Geheimnis kommt. Deshalb also sagt Maeterlinck, er wünsche seinem schlimmsten Feinde nicht, daß die wirklichen Geheimnisse erforscht werden, und selbst wenn dieser einen Verstand hätte, der viel größer und mächtiger wäre als der seinige. -Ich habe schon in anderem Zusammenhange erwähnt, daß die Geheimnisse nicht dadurch geringer werden, wenn man sie so vor sich hat, wie die Geisteswissenschaft über sie

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sprechen kann. Denn gerade das, was wir an Geheimnissen erforschen, macht das Leben nicht oberflächlicher, sondern tiefer, immer tiefer. Ist es doch so, daß, wenn wir hinein­schauen in etwas von unserem vorigen Erdenleben, dieses nicht in einer oberflächlichen Weise uns das Rätsel des Le­bens löst und wahrhaftig nicht das Mysterium des Lebens seines Glanzes beraubt, sondern es nur noch größer, noch glänzender macht. Geistesforschung dringt nicht so in die Dinge hinein, daß die Geheimnisse des Daseins ihres be-wunderungswürdigen Charakters entkleidet werden, son­dern so, daß die Bewunderung sich noch steigern kann dadurch, daß man die Gründe hinter den Dingen erfor­schen kann. Deshalb muß man schon einem Menschen, der so wie Maeterlinck über den Tod spricht und sagt, er wünsche es seinem schlimmsten Feinde nicht, daß die Ge­heimnisse erforscht werden, erwidern, daß das Geheimnis­volle dem Leben nicht genommen wird, indem man es zu erforschen sucht. Mit einem trivialen Worte - es ist aber nicht trivial, sondern ganz ernst gemeint -, könnte man ausdrücken, was man einem Menschen sagen möchte, der das Leben so erhalten will, daß er es als «unerforschlich» gelten lassen will. Man könnte ihn fragen: Möchtest du, wenn du sicher bist, daß jemand blind geboren worden ist, diesem anraten, daß das, was um ihn herum ist, Geheimnis bleibe, daß er nicht operiert werden sollte, und daß nicht die Welt in ihrem Glanze in sein Inneres hineinleuchte? Möchtest du dann einwenden, daß du es selbst deinem schlimmsten Feinde nicht wünschtest, daß das Geheimnis der Welt seiner Wunderbarkeit dadurch entkleidet würde, daß er operiert würde? - Wer diese Frage mit Ja beant­wortet haben möchte, daß die Welt für den Blindgebore­nen ihren Glanz verliere, wenn er operiert werde, der könnte auch mit ja die Frage beantworten, die Maeterlinck

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am Schlusse seines Buches ausspricht: daß die Welt ihren Glanz verlieren würde, wenn man ihr Geheimnis erforschte, Die geisteswissenschaftliche Forschung wird zeigen, wie dies nicht der Fall ist, wenn man die Geheimnisse der Welt erforscht. Und gerade unser Empfindungsleben wird sich, indem man den Tod erforscht, in die Anschauung hinein-versetzen, daß der Tod im ganzen Leben ein notwendiges Glied bildet, und daß nicht nur das Goethe-Wort wahr ist, daß die Natur den Tod erfunden habe, um viel Leben zu haben, sondern daß für das Menschenleben das Wort wahr ist: Die Natur braucht den Tod, um immer neue und neue Herrlichkeiten aus dem Keime des Lebens hervorgehen zu lassen.

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DER SINN DER UNSTERBLICHKEIT DER MENSCHENSEELE Berlin, 4. Dezember 1913

In Fortsetzung der Betrachtungen des vorigen Vortrages habe ich heute zu Ihnen zu sprechen über den Sinn der Unsterblichkeit der Menschenseele. Es liegt nicht in der Art geisteswissenschaftlicher Betrachtung, über ein solches Thema, wie es der Sinn der menschlichen Unsterblichkeit ist, in begrifflichen Definitionen oder theoretischen Aus­einandersetzungen zu sprechen. Es wird sich vielmehr darum handeln, daß ich in diesem heutigen Vortrage aus dem Ge­biete geisteswissenschaftlicher Forschung eine Anzahl von Andeutungen gebe, welche Licht auf dasjenige werfen können, was der Sinn der menschlichen Unsterblichkeit genannt werden kann.

Aus den hier am letzten Donnerstag gepflogenen Be­trachtungen ging ja hervor, daß es sich für die Geistes-forschung im wesentlichen darum handelt, gerade zu dem­jenigen innerhalb der menschlichen Natur vorzudringen, was der unsterbliche Wesenskern im Leben des Menschen genannt werden kann. Um diesen unsterblichen Wesenskern aufzufinden, darum handelt es sich in der Geisteswissenschaft zunächst. Und es ist gesagt worden, daß in die Region menschlicher Erkenntnis, wo dieser unsterbliche We­senskern des Menschen zu finden ist, diejenige Forschung einzudringen vermag, die sich ergibt aus der Entwickelung der menschlichen Seele selbst, der menschlichen Seele, jenes einzigen Instrumentes, durch das wir in die geistige Welt

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wirklich eindringen können. Es ist des öfteren angedeutet worden, daß alles in der Geistesforschung davon abhängt, daß einzelne menschliche Persönlichkeiten dazu gelangen - durch die auch schon in diesem Winter andeutungsweise charakterisierten Seelenübungen -, diese Seele so weit zu bringen, daß sie eine wirklich innere geistig-seelische Tätig­keit auszuüben vermag, welche gewissermaßen geübt wird losgelöst vom physischen Leibe, losgelöst von dem Werk­zeuge, durch welches alle übrige menschliche Seelentätigkeit im Laufe des alltäglichen Lebens ausgeübt wird. Daß dieses Herauslösen der menschlichen Seele aus dem Leibe möglich ist, möglich ist durch intime Entwickelungsvorgänge der Seele, darauf versuchte ich insbesondere beim letzten Vortrage hinzuweisen. Und darauf versuchte ich weiter hin­zuweisen, daß für den Geistesforscher, der gelernt hat wirklich einen Sinn zu verbinden mit den Worten «außer­halb des Leibes erleben», diese menschliche Seele sich auch mit ihren Eigenschaften ergibt, mit denjenigen Eigenschaf­ten, die durch sich selbst erweisen, wie das Leben dieser Seele hinausreicht über Geburt und Tod.

Nun werden wir ja im Verlaufe der heutigen Betrach­tungen sehen, wie eine solche, durch die Initiation zu er­langende Betrachtung der menschlichen Seele dem Worte Unsterblichkeit einen Sinn gibt. Aber einleitungsweise möchte ich vorher betonen, daß wir tatsächlich in einer Zeit leben, in welcher gewissermaßen das tiefere mensch­liche Denken und die ernstere Betrachtung des mensch­lichen Lebens dazu führen, allmählich in die Bahn ein­zulenken, welche die Geisteswissenschaft für das Problem des menschlichen unsterblichen Seelenlebens angibt. Auf vieles könnte in dieser Beziehung hingewiesen werden; auf eines nur soll gerade von dem Gesichtspunkte aus hin­gewiesen werden: nämlich einen Sinn zu gewinnen für die

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menschliche Unsterblichkeit. Hingewiesen soll werden auf jenen Geist, der ja als einer der tonangebenden Führer neuzeitlicher Aufklärungsweltanschauung gilt: auf Lessing, wie er dem Unsterblichkeitsgedanken einen Sinn abzuge­winnen versuchte.

In jener Schrift, in welcher Lessing gewissermaßen sein geistiges Testament der Menschheit gegeben hat, kam er, wie es ihm schien, zur Erneuerung der uralten menschlichen Idee von den wiederholten Erdenleben; und er kam dazu deshalb, weil er sich genötigt fand, das ganze geschichtliche Leben auf der Erde innerhalb der Menschenentwickelung als eine Erziehung der Menschheit aufzufassen. Man kann ja leicht dieses Testament Lessings, das er wie einen Ab­schluß seines Sinnens und Denkens und Trachtens gegeben hat, damit abfertigen - wie es gewiß viele in unserer Zeit tun möchten -, daß man sagt: Auch große Geister werden alt und versteigen sich dann in mancherlei Phantastereien. Wer aber gelernt hat, Respekt zu haben vor geistigem Le­ben und geistigem Streben, der wird allerdings nicht in der Lage sein, Lessings «Erziehung des Menschengeschlechtes», sein reifstes Werk, in einer solchen Weise abzufertigen. Auf die Einzelheiten seiner Schrift kann ich hier nicht eingehen; 1ch kann nur darauf hinweisen, wie sich für Lessing die Geschichte so zeigt, daß die Menschheit von primitiveren Arten des menschlichen Lebens und Anschauens zu immer entwickelteren und entwickelteren aufsteigt; und wie eine geheimnisvolle Erziehung, welche dem Menschengeschlechte aus der geistigen Welt heraus zuteil wird, faßt Lessing diese Fortentwickelung des Menschengeschlechtes auf. Einzelne Epochen unterscheidet er in der fortstrebenden Menschheit, und aus diesen Betrachtungen heraus ergibt sich für ihn, der selbstverständlich noch nicht auf dem Boden unserer modernen Geisteswissenschaft stehen konnte, die Frage:

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Wie läßt sich das einzelne Seelenleben des Menschen hinein­stellen in dieses Ganze der menschlichen geschichtlichen Entwickelung? Und er komint dazu, sich zu sagen: Nur dann läßt sich das einzelne Seelenleben in den Gang der geschichtlichen Entwickelung hineinstellen, wenn man an wiederholte Erdenleben der menschlichen Seele denkt. Wenn man sich denkt, daß die Seele, welche heute lebt, wiederholt gelebt hat, wenn man sie lebend sich vorstellt in vorangegangenen Epochen der geschichtlichen Entwicke­lung, in welchen sie das aufgenommen hat, was voran­gegangene Epochen in die Seelen hineingießen konnten -wenn man also die Seele sich so vorstellt, daß sie aus den vorangegangenen Epochen mitnimmt die Früchte, welche sie aus diesen Epochen sich mitnehmen konnte, nachdem sie durch ein rein geistiges Dasein zwischen dem Tode und der nächsten Geburt durchgegangen ist. So löst sich für Lessing in einer befriedigenden Weise die Frage: Was ist es denn mit den Seelen, die in alten Zeitepochen gelebt haben und nicht das mitgemacht haben, was im Fortschritt der Menschheit an höheren Entwickelungskräften für die Seelen geboten werden konnte? Die Antwort ergibt sich für Lessing, daß es dieselben Seelen waren, die früher ge­lebt haben, die die Früchte vergangener Epochen in ihr gegenwärtiges Dasein hinübergetragen haben, die sich jetzt zu dem, was sie sich damals eingegliedert haben, dasjenige hinzuerobern, was die Gegenwart geben kann - und die nun mit dem, was sie aus dem gegenwärtigen Dasein als Früchte ziehen, nach dem Tode durch ein rein geistiges Leben gehen und diese Früchte wiederum hinübertragen in künftige Epochen der Menschheit, um in diesen teilzuneh­men an dem, was ihnen der Fortschritt der Menschheit dann geben kann. So erhellt sich für Lessing mit dem Sinn der Unsterblichkeit der Menschenseele zugleich der ganze

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Sinn der geschichtlichen Erdenentwickelung. So ergibt sich für ihn dieser Sinn, und so ergibt sich für ihn sogleich die Möglichkeit daran zu denken, daß das Leben des einzelnen Menschen, in dem, was es innerlich enthält, größer und umfassender ist als das, was zwischen Geburt und Tod in einem Leben zum Ausdruck gebracht werden kann. Und wie man das einzelne Leben so betrachtet, daß diese ein­zelne Menschenseele von der Geburt bis zum Tode lebt, sich eingliedert und einorganisiert, was dieses Leben geben kann, dann durch die Pforte des Todes schreitet, den phy­sischen Leib ablegt, in eine geistige Welt eindringt, um ihre Weiterentwickelung zu suchen, so kann auch im Sinne Les­sings die ganze geschichtliche Entwickelung der Menschheit vorgestellt werden, ja, sogar die ganze Entwickelung der Erde selber, indem das, was die Menschheit auf der Erde auslebt, die «Seele» der Erde ist, und alles das, was die Geologie, die Biologie und die anderen Wissenschaften er­forschen, der «physische Leib» der Erde ist, der einmal, wie man heute schon im Sinne der modernen Physik beweisen kann, von dem Zusammenfluß aller Menschenseelen so abfällt, wie der einzelne Menschenleib mit dem Tode von der einzelnen Menschenseele abfällt. Dann aber schreitet die Erde, nachdem der Leib von ihr abgefallen sein wird, zu einer künftigen Verkörperung im Kosmos weiter, um zu künftigen geistigen und materiellen Höhen aufzusteigen.

Man sieht, wie der Sinn des ganzen menschlichen Daseins nicht nur, sondern wie der Sinn der Erdentwickelung sei­ber aus diesem Gedanken Lessings hervorgeht. Lessing ließ sich von diesen seinen Gedanken nicht dadurch abhalten, daß ja der Einwand gemacht werden kann: das war ein Gedanke, den die Menschheit in primitivsten Zuständen der Seelenentwickelung gehabt hat; dann aber ist er aus der Kulturentwickelung verschwunden. Im Gegenteil: Lessing

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sagt am Schlusse seiner Abhandlung über die «Er­ziehung des Menschengeschlechtes»: Sollte dieser Gedanke darum weniger wert sein, als er der Seele zuerst aufleuch­tete - als jetzt, da durch die Sophistereien der Schule dieser Gedanke gelähmt und geschwächt ward? Und Lessing denkt ohne Zweifel daran, daß eine Zukunft menschlicher Geistesentwickelung den Seelen wieder bringen werde, was in der Zwischenzeit für die Seelen verlorengegangen ist.

So erlangt man reale, wirkliche Mächte, welche die Er­gebnisse alter Zeiten hinübertragen in die Gegenwart und in die neuere Zeit. So gelangt man hinaus über jenen un­möglichen Standpunkt, auf dem man, trotzdem man schein­bar realistisch sein will, davon spricht, daß «Ideen» es sind, die in der Geschichte der Menschheit wirken sollen, als ob «Ideen» jemals Realitäten sein könnten! Aber Ideen kön­nen nicht in der Geschichte wirksam sein, denn bloße Ideen sind Abstraktheiten, sind nichts Wirkliches. Lessing aber stellt sich vor, daß das reale Erden-Menschheitsleben da­durch abläuft, daß es die Realitäten der menschlichen See­len sind, die von einer Epoche zur anderen hinübertragen, was in der einen Epoche erarbeitet wird. Da stehen wir auf dem Boden geistiger Realitäten, welche die geschicht­lichen Epochen der Menschheit zusammenhalten.

Nun handelt es sich darum: Was hat die Geistesforschung im engeren Sinne, wie sie hier gemeint ist, zu diesem von Lessing durch gewisse geschichtliche Notwendigkeiten ge­wonnenen Gedanken zu sagen?

Die Geistesforschung gelangt dazu, dasjenige anzuschauen, dasjenige wirklich vor dem geistigen Auge oder vor den anderen geistigen Wahrnehmungsorganen zu haben, was angesprochen werden darf als hinübergehend über Geburt und Tod des Menschen. Um das zu belegen, muß noch ein­mal mit ein paar Worten darauf hingewiesen werden, was

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sich dem Geistesforscher im wirklichen seelischen Erleben darbietet. Wenn er die im vorigen Vortrage angedeuteten Übungen auf seine Seele wirklich wirken läßt und so dahin gelangt, seelisch zu erleben, nachdem die Seele selbst sich herausgezogen hat aus dem Physisch-Körperlichen und zu einem Erleben im Geistigen gekommen ist, dann hat diese Seele, die der Geistesforscher von dem Physisch-Leiblichen unabhängig gemacht hat, diese physische Leiblichkeit neben sich oder vor sich, erlebt diese Leiblichkeit so, daß sie dem Tode unterworfen ist als ein Außeres; während das alltäg­liche Leben sonst so verfließt, daß der Mensch nur ein Be­wußtsein entwickelt, wenn er sozusagen innerhalb seiner physischen Leiblichkeit steckt und diese als Werkzeug ver­wendet, um das, was dann um ihn herum ist, zum Gegen-stande seines Bewußtseins zu machen, nämlich die physisch-sinnliche Welt.

Stellen wir uns einmal lebendig vor, was wirkliches Er­leben des Geistesforschers ist: daß er mit dem, was die Seele wirklich ist, sich heraushebt aus seinem Leibe, daß er die inneren Kräfte der Seele so verstärkt, so intensiv macht, daß er nicht darauf angewiesen ist, nur mit Hilfe der körperlichen Werkzeuge wahrzunehmen, sondern sie in sich dirigieren kann ohne die körperlichen Kräfte. Der Geistesforscher kommt dann zu einer ganz bestimmten Er­kenntnis: woher es eigentlich kommt, daß man im alltäg­lichen Sinnesleben ein Bewußtsein hat. Dann, wenn der Geistesforscher sein seelisches Erleben wirklich frei gemacht hat von dem Physisch-Leiblichen, und dieses Leibliche neben oder vor ihm ist, dann lernt er erkennen, wie eigentlich dieses ganze alltägliche Seelenleben zustande kommt. Ich möchte mich eines Vergleiches bedienen, um so recht an­schaulich zu machen, wie das alltägliche Seelenleben zu­stande kommt. Der Geistesforscher macht ja das Seelenleben

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zu nichts anderem, als es schon ist. Was er erreicht, ist nur, daß er geistig anschauen, sehen kann, was sonst im alltäglichen Leben geschieht. Da stellt sich für den Geistes­forscher heraus, daß die Tätigkeit des Geistig-Seelischen -jetzt rein geistig-seelisch erfaßt - so am Leibe arbeitet, daß zunächst, nennen wir es so, die Nervenorgane des Men­schen bearbeitet werden, so bearbeitet werden, daß man dieses Bearbeiten vergleichen kann mit dem Hinschreiben von Buchstaben auf ein Papier. Ich bitte wohl zu beachten; was also der Geistesforscher zunächst als geistig-seelische Tätigkeit erkennt, ist nicht das Denken, nicht das Fühlen, nicht das Wollen, auch nicht das, was man im alltäglichen Leben als Seelentätigkeit erkennt; sondern es ist das, was zunächst in seinen leiblichen Organen wirkt und diese, ich möchte sagen, so plastisch bearbeitet, daß sie erst in jene Bewegungen kommen, von denen die materialistische Welt-auffassung so spricht. Diese Bewegungen im Gehirn, im Nervensystem und so weiter sind wirklich da, und in die­sem Sinne muß der materialistischen Weltauffassung voll­ständig recht gegeben werden. Diese Bewegungen, diese Schwingungen im Gehirn sind ebenso vorhanden, wie ich die Buchstaben hinschreibe, die ich auf das Papier auf-schreibe, wenn ich eben schreibe. Aber wie meine Tätigkeit die des Schreibens ist, so ist die erste Tätigkeit des Men­schen, die er entwickelt, die, daß er sich in sein Nerven­system das als die «Buchstaben» einschreibt, was dann in seinen Bewegungen, in seinen Vibrationen, in seiner ganzen Tätigkeit, die es ausübt, wieder von der Seele so betrachtet wird, daß es vergleichbar ist mit der Anschauung meiner eigenen Buchstaben, die ich geschrieben habe. Der Unter­schied ist nur der, daß ich, wenn ich schreibe, bewußt die Buchstaben auf das Papier schreibe und sie auch wieder bewußt lesen kann; während ich, wenn ich dagegen mit

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der Außenwelt in Beziehung stehe, mit dem Geistig-See­lischen die physischen Tätigkeiten, die im Nervensystem auszuüben sind, unbewußt einschreibe. Wenn ich sie ein­geschrieben habe, laufen sie ab, und ich betrachte sie, und dieses Betrachten ist das bewußte Seelenleben.

So sehen wir, daß das, was im wahren Sinne des Wortes geistig-seelisch zu nennen ist, hinter jenem Geistig-See­lischen steht, das sich im alltäglichen Leben entwickelt, und daß zwischen dem wahren Geistig-Seelischen, jenem, in dem der Geistesforscher lebt, wenn er leibfrei zu erleben gelernt hat, und zwischen dem Geistig-Seelischen im all­täglichen Seelenleben das ganze körperliche Erleben liegt. Zwischen unserem wahren Geistigen, zwischen unserem wahren Seelischen und dem alltäglichen Bewußtseinsleben liegt unser Leib. Aber was dieser Leib darlebt, wie dieser Leib sich in fortwährende organische Tätigkeit versetzt, damit Bewußtsein uns wie ein Spiegel oder wie das Bild aus einem Spiegel entgegengeworfen werden kann, was dieser Leib ausführt, das ist das Ergebnis des Geistig-See­lischen. Hinter unserem Leibe stehen wir mit unserem Gei­stig-Seelischen, und in diesem, hinter dem Leibe stehenden Geistig-Seelischen liegt der unsterbliche Wesenskern des Menschen.

Wenn man so unterscheidet, wird man nicht mehr den Sinn der Unsterblichkeit der Menschenseele in einem Fort­leben derjenigen Seeleninhalte suchen, die man zwischen Geburt und Tod durchlebt; sondern man wird den eigent­lichen Grundquell der Unsterblichkeit in demjenigen zu suchen haben, was hinter dem alltäglichen Leben steht. Nun handelt es sich darum, einen Begriff zu bekommen von dem, was hinter diesem alltäglichen Leben steht. Das kann man aber nur dadurch, daß man auf das eigentliche Wesen der geistigen Erforschung der Seele einen Blick wirft.

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Aus dem, was ich eben erörtert habe, geht hervor, daß das alltägliche Bewußtsein, jenes Bewußtsein, welches wir im gewölmlichen Leben entwickeln, darauf angewiesen ist, aus dem Leibe heraus sich zu spiegeln, wie sich vergleichs­weise aus einem Spiegel unser eigenes Bild spiegelt. Wer nicht das Geistig-Seelische hinter dem Bilde sucht, sondern glaubt, daß das Geistig-Seelische aus dem Leibe sich als die Funktion, als die Wirkung des Leibes ergibt, wer also in dieser Beziehung materialistisch denkt, der gleicht für den, der die Dinge kennt und sie wirklich durch Geistesfor-schung erforscht hat, einem Menschen, der etwa sagen würde: Ich sehe einen Spiegel vor mir; merkwürdig, die­ser Spiegel läßt aus seiner Substanz heraus mein Bild her­vorgehen. Aber er läßt es gar nicht aus seiner Substanz hervorgehen, und es ist einfach ein Unsinn zu glauben, daß der Spiegel das Bild erzeugt; sondern das Bild wird vom Spiegel zurückgeworfen. So wird unsere eigene geistig-seelische Tätigkeit zurückgeworfen vom Leibe. Unser Leib ist ganz richtig mit einem Spiegel zu vergleichen, der un­sere geistig-seelische Tätigkeit zurückwirft, nur mit dem Unterschiede, daß wir dem Spiegel ganz passiv gegenüber­stehen, dem Leib aber so, daß wir erst mit der geistig-see­lischen Tätigkeit diesen Leib bearbeiten, diese Tätigkeit erst in ihn einschreiben, die sich dann für das Bewußtsein ergibt. Der Vergleich, das Spiegelbild, das ich im Spiegel sehe, wäre erst dann richtig, wenn ich von meinem Leibe aus eine Tätigkeit ausüben würde, die im Glase einen Vor­gang hervorrufen würde, welcher dann die Spiegelung bewirkte, wenn ich also aktiv vor dem Spiegel stehen und gewisse Strahlungen und so weiter ausgehen lassen würde, welche Kreuzungen und dergleichen entstehen ließen, um dann den Inhalt des alltäglichen Bewußtseins hervorzu­bringen und so möglich zu machen, daß der Mensch vor

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sich selber erscheint. Daraus geht aber hervor, daß der Mensch für das Leben zwischen Geburt und Tod eine

Wi­derlage braucht, etwas, worin er seine geistig-seelische Tä­tigkeit spiegeln kann. In dem Augenblicke, wo man einen solchen Bewußtseinsinhalt, wie er im alltäglichen Leben ist, ohne den Leib entwickeln müßte, würde man das nicht können, solange man zwischen Geburt und Tod steht. Würde der Leib seinen Dienst als Werkzeug versagen, so würde man keine Widerlage haben; man würde nichts haben, wovon die geistig-seelische Tätigkeit zurückgewor-fen werden kann.

Wenn nun der Geistesforscher durch die angedeuteten Übungen es dahin bringt, daß er sein Geistig-Seelisches aus dem physischen Leibe herausheben kann, so zeigt es sich auch, daß dann der geistig-seelische Blick unmöglich auf die äußere physische Welt hingelenkt werden kann. Diese äußere physisch-sinnliche Welt verschwindet aus dem Hori­zonte des Bewußtseins in demselben Augenblick, wo der Geistesforscher wirklich das Geistig-Seelische aus dem Leib­lichen heraushebt. Das möchte ich nur nebenbei bemerken für diejenigen, welche glauben, daß man durch die Geistes-forschung etwa abgezogen werden könnte von dem freude-vollen, hingebungsvollen Anblick des Physisch-Sinnlichen, das in so reicher Fülle in der physischen Welt um uns ist. 0 nein, das ist durchaus nicht der Fall. Gerade der, welcher ein Geistesforscher geworden ist, findet, daß ihm ja in dem Augenblick, wo er in seinem Geistig-Seelischen lebt, der Anblick des Physisch-Sinnlichen entschwindet; doch in sei­ner Schönheit, in seinem eigentlichen Werte weiß er ihn dann erst recht zu schätzen. Er kehrt immer wieder, solange es ihm vergönnt ist zurückzukehren, gestärkt und gekräf­tigt durch seinen Aufenthalt in der geistigen Welt; er ent­wickelt ein um so größeres Interesse für alles Schöne in der

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physischen Welt - und erobert sich dazu noch eine be­sondere Stütze, um die Schönheiten und Erhabenheiten und Großartigkeiten in der physischen Welt in ihren Auf­gaben zu erkennen, die ihm vorher, ohne die Schulung, die aus der Geistesforschung kommt, entgangen sind. Solche Einwände wie den eben angedeuteten machen nur die, die noch nicht näher an die Geistesforschung herangetreten sind.

Wenn es nun wirklich so ist, daß die physische Welt verschwindet, wenn wir zum Wahrnehmen nicht die Wi-derlage des Leibes haben - und der Geistesforscher hat die­sen Leib neben sich, bedient sich seiner als Werkzeug nicht-, dann entsteht die Frage: Wie kommt dann das eigentliche geistige Bewußtsein zustande? Braucht das geistige Bewußt­sein keine Widerlage? Braucht die Seele nicht etwas, woran sie sich spiegeln kann, wenn sie ins geistige Bewußtsein schreiten will?

Diese Frage beantwortet die Initiationsforschung in der Weise, daß der Mensch in dem Moment, wo er aus dem physischen Leibe mit seinem Geistig-Seelischen heraussteigt und im Geistig-Seelischen allein lebt, allerdings auch eine Widerlage braucht, etwas, was ihm nun Spiegel ist. Und Spiegel wird ihm nun etwas, was tatsächlich in einer ge­wissen Beziehung als solcher Spiegel innerhalb des Lebens noch vor dem Tode, wenn es in der Geistesforschung erlebt wird, nur leidvoll zu ertragen ist. Da stehen wir wieder an einem der Punkte, an dem darauf hingewiesen werden muß, daß Geistesforschung nicht etwa bloß in Seligkeiten hinein-führt, sondern auch in tragische Gemütsstimmungen, in das, was, man darf sagen, nur mit einem großen inneren Schmerz zu ertragen ist. Aber mit diesem Schmerz muß eben für den eigentlichen Forscher die höhere Erkenntnis erkauft werden. Das, was sich dann als Widerlage bietet,

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ist das eigene, individuelle Erleben, das wir durchgemacht haben von dem Punkte der Kindheit an, bis zu dem wir uns sonst zurückerinnern können, das wir sonst ja auch im Erinnerungsbilde haben. Aber wir haben es so im Erinne-rungsbilde im alltäglichen Leben, daß wir gleichsam drin­nenstecken, daß wir mit ihm vereinigt sind. Unsere Ge­danken, unsere Erlebnisse, unsere Schmerzen, alles, woran wir uns erinnern, sind wir ja im Grunde genommen selbst; wir stecken darinnen, sind eins mit ihm. Aber beim Geistes­forscher tritt das ein, daß das, was man sonst in der Er­innerung hat, wie aus einer Hülle aus ihm herausschlüpft. Das, womit man sonst eins ist, und wovon man sich sagt:

du hast es erlebt, und du fühlst dich jetzt in deinen Ge­danken, Empfindungen und Gefühlen mit dem vereinigt, was du erlebt hast - das fühlt man jetzt wie ein äußeres Traumbild, wie eine Fata Morgana vor sich hingestellt. Man fühlt wie vergrößert aus einem heraustretend das, woran sich das Geistig-Seelische spiegelt. Da kommt man darauf, daß man im geistig-seelischen Erleben, in der Initiation -nicht indem man durch die Pforte des Todes geschritten ist -, es ertragen muß, statt der äußeren physischen Ein­drücke, statt dem, was uns die Sinne geben, wie eine ma­terielle Grundlage oder wie eine substantielle Grundlage des Erlebens sein eigenes Leben zu haben. Auf diesem hebt sich, wie auf einer Spiegelscheibe, das ab, was man geistig wahrnehmen kann. Da lernt man sich kennen, inwiefern man ein guter oder schlechter Spiegel für die geistige Welt geworden ist. Da lernt man vor allen Dingen kennen, was es heißt: wirklich vor sich zu haben, was man durchlebt hat. Denn das ist jetzt die spiegelnde Fläche, von der sich alles übrige abhebt, was sich in der geistigen Welt darbietet. Statt also seinen Leib als sein Werkzeug zu haben zum Wahrnehmen, hat man jetzt als ein Werkzeug seine eigene

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Ichheit, seine Erinnerung-Ichheit, die eigenen Erlebnisse. Die eigenen Erlebnisse müssen verschmelzen, dem Bewußt­sein nach, mit dem, was man geistig erlebt; die müssen zu­rückspiegeln, was man geistig erlebt. Und es stellt sich nun für diese Forschung dar, daß man jetzt gewahr wird, wie in dem Augenblick, wo man sein eigenes Inneres nicht mehr, wie im alltäglichen Leben, innerhalb seines Leibes erlebt, sondern es in der eben geschilderten Weise wie eine Fata Morgana äußerlich vor sich hat -, wie in diesem Augenblick dieses Innere wie eine ätherische Wesenheit sich darstellt, die immer größer und größer wird, weil sie in­nerlich verwandt ist mit dem gesamten geistigen Kosmos. Man fühlt sich wie aufgesogen werdend von dem geistigen Kosmos. Man fühlt, wenn man also die angedeuteten Er­lebnisse durchgemacht hat, wie wenn im Leben des Men­schen zwischen Geburt und Tod etwas vorhanden wäre, wie zusammengerollt in den Kräften des physischen Leibes. In dem Augenblicke, wo man in der Initiation den phy­sischen Leib verlassen hat, wird das von den Kräften des physischen Leibes zusammengehaltene Etwas als der äthe­rische Leib frei. Das aber, was frei geworden ist, hat dann das Bestreben, sich in die geistige Welt zu verbreiten, wird dadurch immer unwahrnehmbarer und unwahrnehmbarer-und man steht immer vor der Gefahr, wenn man so geistig wahrnimmt, daß das eigene Selbst, das Gedanken-Selbst, sich auflöst im geistigen Kosmos, und daß man dadurch seinen Anblick verliert, weil nach der Auflösung das Spie­gelbild nicht mehr da ist.

Dem wirkt entgegen, solange das Physische eben währt, der physische Leib. Denn in dem Augenblicke, wo man be­droht wäre von der Gefahr, daß das feinere Atherische eines gewissermaßen geistigeren ~ibes sich verlieren würde, macht der physische Leib seine verstärkten Kräfte geltend -

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und man muß wieder zurück in den physischen Leib. Das ist dann gerade so, als wenn man durch die Gewalt des physischen Leibes zurückgezwungen würde in das alltäg­liche Wahrnehmen, in das gewöhnliche Schauen und in die physische Art. Wie Sie aber aus dieser Darstellung ersehen können, lernt man durch die geistige Forschung den Mo­ment kennen, der in dem Augenblicke eintreten muß, wo die physischen und chemischen Kräfte den äußeren physi­schen Leib ergreifen und ihn wegnehmen, wenn der Tod eintritt. Man lernt erkennen, wie das Bewußtsein fort­leben kann nach dem Tode, aber deshalb fortleben kann, weil nun der physische Leib, der eben seiner Auflösung entgegengeht, nicht mehr den eben geschilderten feineren ätherischen Leib zurückruft -, fortleben kann eben zu­nächst in dieser Form, daß vor uns steht das eigene Erleben als Erinnerungsbild, nur so lange, bis die Kräfte des gei­stigen Kosmos ihre ihnen eingeborene Wirkungsweise gel­tend machen und das, was als feinerer Leib besteht, sich im Kosmos auflöst.

So sehen wir, wie der Geistesforscher durch seine Erleb­nisse jenen Zustand hervorruft, der sich mit dem Menschen abspielen muß, wenn er durch die Pforte des Todes schrei­tet. Als erstes lernt man kennen, indem man elementar den Vorgang des Todes erlebt, was sich nach dem Tode un­mittelbar vollzieht. Aber man lernt auch erkennen, daß man damit nur die allerersten Zeiten nach dem Tode er­faßt hat. Ich habe in meiner «Geheimwissenschaft im Um­riß» darauf aufmerksam gemacht, wie lange diese aller-ersten Zeiten nach dem Tode dauern. Sie dauern ja ver­schieden, je nach dem Charakter eines Menschen, aber doch nur nach Tagen. Nach Tagen dauert die Rückerinnerung an das vergangene Erdenleben, das man zwischen Geburt und Tod durchlaufen hat. Sie dauert solange, wie die

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Kräfte des inneren feineren Leibes anhalten können, den wir in uns tragen, und der eben durch die Initiations-forschung zutage tritt.

Wenn man in der geschilderten Weise die Verhältnisse betrachtet, kommt man darauf sich zu sagen: Was ist es denn, was die Länge des Zeitraumes bedingt, in der diese Rückerinnerung sich abspielen kann? Wenn man diese Rückerinnerung vergleicht mit der Länge der Zeit, welche dieser oder jener Mensch im gewöhnlichen Leben durch-leben kann, und in der er sich wach erhalten kann, in der er also nicht einschläft, dann hat man ungefähr den Zeit­raum, der ja nur nach Tagen dauert, innerhalb welches diese Rückerinnerung an das verflossene Erdenleben spielt. Man kann also sagen: Je nachdem der Mensch in seinem Ätherleibe die Möglichkeit hat, das Leben spielen zu lassen, ohne die Kräfte des Schlafes aufrufen zu müssen, ohne den Schlaf als Ausgleich herbeirufen zu müssen, je nachdem dauert es kürzer oder länger, wie nach dem Tode das ver­flossene Erdenleben von der Geburt bis zum Tode wie ein Erinnerungstableau, wie eine lebendige Fata Morgana sich darstellt.

Über eine solche Zeitdauer, über diese und auch die fol­genden, von denen ich gleich andeutungsweise sprechen werde, lernt man auf dem Gebiete der Geistesforschung sprechen durch innere Betrachtung, nicht durch äußeres Messen. Was man da durch Rückschau in der Initiation erlebt, legt sich so dar, daß man weiß: es enthält die Kräfte, welche der Mensch sich wach zu halten hat, bevor ihn der Schlaf übermannt. Was man da erlebt, stellt sich also so dar, daß man sagen muß: diesen Rückblick auf das ver­flossene Erdenleben erlebt man durch Tage hindurch. Was aber weiter kommt, ergibt sich ebenfalls aus dem geistes­forscherischen Blick. Es zeigt sich ja nicht nur sozusagen in

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gleichgültigen Gedanken das, was man in seinem Leben zwischen der Geburt und dem gegenwärtigen Augenblick erlebt hat; sondern es zeigt sich auch das, was man mora­lisch oder sonst im Gebiete seiner Tüchtigkeit, seiner Le-benstüchtigkeit erlebt hat. Das zeigt sich aber auf ganz be­sondere Weise, und da stehen wir wiederum an einem Punkte, wo man sagen muß, daß sich einem Geistesforscher ein Leben darstellt, wie man es nicht gern hat nach den Wünschen und Erlebnissen des alltäglichen Lebens. Was sich da zeigt, sei durch ein konkretes Beispiel erörtert.

Wir blicken auf unser Leben zurück, blicken hin auf einen Zeitpunkt, wo wir etwas getan haben, was unrecht ist. Und dieses Unrecht erscheint uns jetzt in der eben an­geführten Fata Morgana des verflossenen Erdenlebens. Nur muß gesagt werden, daß der Eindruck für die Geistesfor­schung so ist, daß einem zuerst wie in einem gleichgültigen Bilde, wie in einem Tableau, gleichsam gedankenmäßig dieses Erdenleben erscheint, und daraus sich allmählich heraushebend - dadurch wird aber der Blick des Geistes-forschers in immer tragischere und tragischere Konflikte gehüllt - etwas, von dem man sagen könnte: es ergibt sich einem der ganze persönliche Wert aus dem, was man getan und erlebt hat. Hat man ein Unrecht getan, so tritt aus dem Tableau des verflossenen Erdenlebens dieses Unrecht heraus, aber zuerst nur so, daß man das Bild verfolgt: die­ses hast du getan. Dann durchzieht sich dieses Bild mit einem aus dem Geistig-Seelischen selbst heraus aufsteigen­den Gefühlselement, mit Gefühlskräften, und man kann dem gegenüber nicht anders als sagen: Du kannst der Mensch nicht sein, der du sein solltest, wenn du immer auf das hinschauen mußt, was du da getan hast; du kannst das erst sein, was du sein solltest, wenn du aus der Wahrneh­mung des inneren Schicksals, des Karma, dieses Unrecht

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ausgelöscht hast. Je länger es einem gelingt, bei dem zu verweilen, was sich wie eine geistige Spiegelscheibe dar­stellt, und je länger man da hineinschaut, desto intensiver treten die rein gefühlsmäßigen Erlebnisse auf, welche sagen:

Du mußt auf das hinschauen, was du als Unrecht getan hast, bis du es ausgelöscht hast!

Das ist es in der Tat, wodurch der Geistesforscher durch­gehen muß. Er muß, nachdem er die Fata Morgana des verflossenen Lebens vor seinem Blick sich ausbreitend ge­schaut hat, was ihn gleichgültig lassen kann, dasjenige dann erblicken, was sich davon abhebt und zu einer Summe von unzähligen Selbstvorwürfen wird, was ihm ganz anschau­lich seinen Wert zeigt, wie weit er ist, und was er zu tun hat nach dem, was er verrichtet hat, um sich zum wahren Menschen erst zu machen. Selbsterkenntnis - das ist das Eigentümliche, daß sie immer schwieriger und schwieriger, immer tragischer und tragischer wird, je weiter man in ihr fortschreitet, und daß man insbesondere alles, was man hätte nicht tun sollen, als Selbstvorwürfe vor sich hat, so daß man daran gebannt ist, daß man nicht wieder den geistigen Blick davon abwenden kann, bevor es ausge­löscht ist.

Bis hierher hat schon der alte griechische Philosoph Ari­stoteles den Anblick des menschlichen geistigen Lebens vom geistigen Schauen aus erkannt, und er hat auch erkannt, was sich an diese Fata Morgana anschließen muß. Aristo­teles hat schon im alten Griechenland gewußt, daß der Mensch, wenn er durch die Pforte des Todes geschritten ist, wirklich in seiner Eigenheit, in seinem Selbstwesen, lebt -und so lebt, daß er jetzt, rückschauend, das Erleben seiner eigenen Taten und Untaten hat, auf die sein Blick gebannt ist; nur daß Aristoteles noch nicht so weit Geistesforscher war, daß er in seiner Auffassung über diese Rückschau

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hinausgekommen wäre. Zu einer Ewigkeit dehnt sich nach ihm diese Rückschau aus. Keine Möglichkeit sieht Aristo­teles, daß der Mensch jemals daraus heraus kommen könnte; so daß der Mensch, wenn er die kurze Rückschau gehabt hat, die nur nach Tagen zählt, dann die andere hätte, die sich bildlich vor ihm selber darstellen würde in alle Ewig­keit hinein. Das ist etwas von dem Trostlosen in der aristo­telischen Philosophie, wenn man sie wirklich versteht. Aristoteles glaubt, das kurze Erdenleben sei dazu da, um ein Erleben im Geistigen vorzubereiten, in welchem der Mensch, rückschauend, eben gebannt sei an den Anblick des unvollkommenen Daseins zwischen Geburt und Tod; und sein Leben nach dem Tode würde darin bestehen, daß er an diesen Anblick gebannt wäre. Seine Welt würde es sein, sich so zu schauen, wie er war in dem Leben zwischen Geburt und Tod; und wie wir hier eine Welt von Tieren, Pflanzen, Steinen, Bergen, Meeren und so weiter schauen, so waren wir in der Zeit nach dem Tode eingefaßt in den Anblick des Erlebens unserer eigenen Taten. - Klar darauf hingewiesen hat der ausgezeichnete Aristoteles-Forscher Franz Brentana in seinem schönen Buche «Aristoteles und seine Weltanschauung». Was ich eben angeführt habe

- wenn auch die Worte des Aristoteles manchmal so sind, daß man darüber streiten kann, was er gemeint hat -, das ergibt sich aus Aristoteles durchaus. Er hat eben noch nicht gewußt, daß dieses, was uns die heutige Geistesforschung zeigen kann, auch nur ein Durchgang ist, was sich dem Menschen, wenn er durch die Pforte des Todes geschritten ist, als eine solche von inneren Gemütserlebnissen durch­zogene Rückschau darstellt.

Was stellt sich dem Geistesforscher dar, wenn er bis in die Region eindringt, in welche der Mensch eintritt, wenn er die Todespforte durchschreitet?

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Wenn er den geistesforscherischen Blick soweit gebracht hat, daß ihn sein Leib sozusagen nicht zu schnell zurück-fordert, dann ergibt sich das, was sich an das nach Tagen zählende Erlebnis nach dem Tode, an die gleichgültige Fata-Morgana-Erinnerung als Rückschau anschließt. Denn der Geistesforscher kann auf seinem Wege so aufsteigen, daß er zunächst wirklich nur wie eine Fata Morgana das Spiegeln seiner Lebensereignisse und einiger geistiger Er­lebnisse, die naheliegend sind, erblickt; dann kann sein Leib jenen feinen ätherischen Leib in sein Inneres zurück-fordern, und er tritt wie aus einem Initiationstraum wie­der in die alltägliche Wirklichkeit ein. Wenn er aber die Übungen, die Steigerung von Aufmerksamkeit und Hin­gabe immer weiter und weiter fortsetzt, dann gelangt er in der Tat dazu, sogar das zu schauen, was sich aus dieser Fata Morgana heraushebt, aber jetzt so sich heraushebt, daß sich im Anblick das zeigt, was wir noch nicht sind, was wir werden müssen - in dem Sinne noch nicht sind, daß wir ein Unrecht getan haben, auf welches wir hinblicken müssen. Wir sind noch nicht der, welcher dieses Unrecht aus der Welt geschafft hat; aber wir müssen der werden, der das Unrecht aus der Welt schafft.

Und das ist wieder das Pressende, das innerlich Be­drückende im geistesforscherischen Blick, daß man durch die zur Selbstschau erweckte Anschauung des inneren Er­lebens die erweckten Kräfte wachgerufen fühlt, die alles Unrecht schicksalsmäßig ausgleichen wollen; man schaut hin auf die Unvollkommenheiten, die einem anhaften. Das erblickt man. Aber man erblickt auch immer mehr und mehr, wie man es machen muß, damit das Unvollkommene schwindet, damit das Unrecht getilgt wird. Man erblickt, was man werden muß. Das ist die Selbsterkenntnis, daß man in sich die Keimkräfte fühlt, die schon über den Tod

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hinüberdrängen, daß man sich sagen muß: Diese Kräfte leben ja nach dem Tode in uns; wir tun, wenn wir vom Leibe befreit sind, was diese fordern. Jetzt muß ich das Unrecht stehen lassen, muß diese Unvollkommenheiten behalten; diese Kräfte aber fühle ich: wie eine Keimkraft in der Pflanze, so fühle ich die Kraft, die das Unrecht aus-tilgen kann. Jetzt weiß man durch den inneren Anblick, daß es jahrelang dauert, bis dasjenige, was sich durch das eigene Erleben darbietet, allmählich die Kräfte sich heraus-arbeitet, die das Unrecht wirklich ausgleichen können. Aber sie können es jetzt nicht ausgleichen. Sie müssen erst durch eine geistige Welt, durch eine Welt geistiger Erleb­nisse gehen. So wahr, als das physische Bewußtsein, wenn es den Untergang der Sonne sieht, sich sagt: du mußt jetzt die Nacht erleben, dann kann dir die im Westen unter-gegangene Sonne im Osten wieder erscheinen, so wahr weiß der Geistesforscher, wenn er die Kräfte erlebt, die sich als Keimkräfte in der Seele heranbilden: nachdem du nach und nach diese Kräfte entwickelt hast, nachdem du inner­lich eingesehen hast nach dem Tode - oder einsehen gelernt hast durch Jahre hindurch, wie die Kräfte sein müssen, die den Ausgleich bewirken können, mußt du untertauchen in eine geistige Welt, um in derselben so wahr die Kräfte zu finden, die nunmehr gleichsam aus dieser geistigen Welt ge­sammelt werden, man möchte sagen geistig eratmet werden, damit der Mensch, nachdem er zwischen Tod und neuer Ge­burt durch diese geistige Welt durchgegangen ist, wieder reif wird, um mit diesen auf die geschilderte Weise innerlich erarbeiteten Kräften in ein neues Erdenleben einzutreten.

Aber auch darüber kann durch die Geistesforschung ein Eindruck gewonnen werden, was die Seele zu durchleben hat, wenn sie zunächst nach dem Tode im Anblick des ver­flossenen Lebens jene Kräfte sich geistig angeeignet hat,

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nachdem sie eingesehen hat, welche Kräfte sie haben muß, wenn sie beim Durchgang durch die geistige Welt sich zu einem neuen Erdenleben vorbereitet. Denn es kann der Geistesforscher, wenn er durch die fortgesetzten Übungen seinen geistigen Blick lange genug erhalten kann, solange er im Erdenleben ist, diese Kräfte nicht selber umwandeln. Aber er schaut hinein in die geistige Welt; er sieht das Ma­terial zu dieser Umwandlung. Er sieht gleichsam in sich entstehen, wie die Kräfte hinüberverlangen nach einem neuen Leben. Wie man in einem Menschenkeim, der noch nicht an das Licht des Tages getreten ist, eine Lunge sehen kann, der man aber ansehen kann: wenn sie in Atemluft hineinkommt, wird sie atmen -, so sieht man, wenn die Seele leibbefreit ist, in der geistigen Welt die geistigen Organe die geistige Luft einatmen, die sich aber erst geistig ausbilden, wenn sie einem neuen Erdenleben entgegen­gehen. Dieses Sich-geistig-Ausbilden lernt man im unmit­telbaren Anblick kennen, lernt kennen, was es heißt: mit geistigen Organen die geistige Substanz ergreifen. - Will man einen Ausdruck gebrauchen für das, was sich da mit der Seele abspielt, so bietet sich in der gewöhnlichen Sprache kein anderer Ausdruck als der, daß man sagt: Es ist ein in einer gewissen Beziehung seliges Erleben, weil es ein Leben in Tätigkeit ist, ein fortwährendes Aufrufen und Aneignen von geistiger Substanz in dem Dasein zwischen Tod und neuer Geburt, ein Schaffen, ein Herbeiführen der Vor­bedingungen zu einem neuen Erdenleben. In diesem Dasein fühlt sich die Seele als Teil einer geistigen Welt, und da­durch fühlt sie es wie eine himmlische Seligkeit - nachdem sie gefühlt hat, was sie an dem verflossenen Leben und in dem Anblick desselben tragisch finden muß, - was als die Keimkräfte auf Grundlage des verflossenen Lebens sich herausentwickeln muß.

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So hätten wir beisammen, was wir nennen können den Sinn des Fortlebens, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes geschritten ist: zuerst eine nach Tagen dauernde geistige, fatamorgana-artige Rückschau auf das verflossene Erdenleben, daran sich anschließend ein gefühlsmäßiges Rückerleben; denn dieses letztere gefühlsmäßige Erleben ist nicht nur eine Rückschau, sondern ein Rückerleben des verflossenen Erdenlebens, wobei man alles erlebt, was man an Unvollkommenheiten, an Unrecht begangen hat, was man anders haben sollte, damit man im folgenden Leben das erreicht, was man erreichen sollte, und ein Erarbeiten der Kräfte, die man braucht, damit das nächste Leben an­ders werden kann. Solange man noch einen Rückblick hat auf das vergangene Leben, ist es nur ein gedankenmäßiges Erarbeiten jener Kräfte, das in der Weise verläuft, daß man einsieht: du mußt im kommenden Erdenleben diese oder jene Kräfte haben. Hat man aber ganz sein Leben rückerlebt, hat man noch einmal nach dem Tode im Gei­stigen sein Erdenleben durchlaufen, dann kommt man in eine rein geistige Region, und dort eratmet man sich geistig gleichsam alle diejenigen Kräfte, die dann hinuntersteigen, um sich mit dem, was Vater und Mutter in der physischen Substanz geben können, zu vereinigen und ein neues Er­denleben zu bilden.

Es könnte nun scheinen, als ob das, was ich eben als den Durchgang des Menschen durch das Leben zwischen T6d und neuer Geburt geschildert habe, notwendig machte, daß die aufeinanderfolgenden Erdenleben immer vollkomme­ner und vollkommener wären. Das ist allerdings praktisch nicht der Fall. Es ist aus dem Grunde nicht der Fall - und das zeigt wiederum die eigentliche Geistesforschung, wenn man nur den Anblick von der leibfreigewordenen Seele aus hat - weil es wirklich wahr ist, was schon fast aus

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einem kranken Gemüt heraus ein wirklich großer Geist der letzten Zeit gesagt hat: daß die Welt tief ist und wirklich tiefer als der Tag gedacht, daß wir nur langsam und all­mählich zu dem kommen können, was in uns veranlagt ist, und daß unsere menschlichen Kräfte recht unvollkommen sind in bezug auf das, was sie einst werden müssen, und was als ein Ideal des wahren Menschtums vor uns stehen kann. Da zeigt sich dann, daß wir nicht immer in der Lage sind, nach dem Tode zu überschauen, welche Kräfte wir uns anzueignen haben, um begangenes Unrecht ausgleichen zu können. Und da sprechen viele Kräfte mit, so daß es sein kann, daß wir das, was wir aus Egoismus in dem Leben vor dem Tode begangen haben, durch einen noch größeren Egoismus glauben ausgleichen zu können, und was wir als Törichtes getan haben, durch eine noch größere Torheit ausgleichen wollen. Dadurch kann es geschehen, daß sich die folgende Erdenverkörperung als eine noch unvollkom-menere darstellt, als eine noch herbere Schulung, als es die letzte war. Im großen und ganzen ist aber der Durchgang des Menschen durch die wiederholten Erdenleben doch ein Aufstieg. Es ist durchaus möglich, daß der Mensch, wenn er auf das vergangene Erdenleben zurückblickt, im Irrtum sein kann über die Art, wie etwas ausgeglichen werden kann, und daß dadurch scheinbare oder wirkliche Abstiege geschehen. Aber im großen und ganzen folgen auf tiefe «Fälle» des Menschen oft starke Aufstiege, indem nach dem Tode das Furchtbare eintrifft, daß wir auf das zurück­schauen, was wir als ein tiefes Unrecht verübt haben, oder was uns als große Unvollkommenheit angehaftet hat, und daß wir dadurch nach dem tiefen Fall einen großen Auf­stieg erleben werden.

Gar manches zeigt sich, wenn der Geistesforscher das Leben mit dem geschärften Blick verfolgt; denn es tritt ja

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das eine nicht allein ein. Wenn man sein eigenes Leben nach dem Tode als einen Hintergrund hat, dann verschmilzt man mit der geistigen Welt, dann eint man sich mit der gei­stigen Welt; so daß man, wenn man mit dem geistig-see­lischen Erleben auf ein Unrecht stößt, das man im Leben begangen hat, auch zugleich auf die Seele stößt, an der man dieses Unrecht begangen hat, und man erlebt dann das dieser Seele geschehene Unrecht mit. Überhaupt führt uns das Ausdehnen des Blickes auf ein Geistiges nicht nur auf die eigene Seele zunächst, sondern auf die andere Men­schenseele selber. Man lernt die andere Menschenseele be­obachten, so daß man, wenn es auch für das heutige Zeit-bewußtsein schwer glaublich ist, in ein Beobachten der anderen Menschenseele hineinkommt und wirklich dazu gelangt, eine Seele zu verfolgen, die schon entkörpert ist, die schon durchgegangen ist durch die Pforte des Todes. Allerdings muß darauf aufmerksam gemacht werden: Wenn der Geistesforscher sich bemüht, sein eigenes Leben so aus­zudehnen, daß er in den Raum des Erlebens hineindringt -«Raum» ist hier natürlich symbolisch gemeint-, wo irgend­eine Seele ist, so kann er die Schicksale dieser Seele nach dem Tode miterleben. Nur muß gesagt werden, daß man zunächst die Schicksale jener Seelen miterlebt, mit denen man im verflossenen Leben verbunden war; aber im wei­teren geistigen Erleben stellen sich auch die Schicksale sol­cher Seelen ein, mit denen man in früheren Erdenleben verbunden war. Da stellt sich für den Geistesforscher her­aus, daß er Beziehungen zu fast allen Seelen auf der Erde entwickelt; nur ist das Erkennen dann oft ein außerordent­lich schwieriges und kann nur mit gewissen Hilfsmitteln gelingen.

Manche Fragen mögen dem einzelnen aufgehen, wenn in dieser Art über den Sinn der Unsterblichkeit der Menschenseele

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gesprochen wird. Wenn man zusammennimmt, was im vorigen Vortrage ausgeführt worden ist, mit dem, was heute dargestellt wurde, so kann man sagen: Man kann verstehen, daß sich das alltägliche Bewußtsein nur entwickeln kann, indem es sich wie ein Schleier über das Ewige der Menschenseele verbreitet, und daß wir deshalb das sinnliche Bewußtsein entwickeln, weil wir zwischen Geburt und Tod das verdunkeln, was sich nach dem Tode entfaltet. Wir müssen - nach dem, was im letzten Vortrage gesagt worden ist - den Tod in uns tragen, damit wir das gegenwartige Bewußtsein haben können. In dem Maße, als wir die Kräfte entwickeln, welche uns zum natürlichen Tode führen, können wir das alltägliche Bewußtsein ent­wickeln. Daß wir sterben können, das macht es möglich, daß wir die Sinneswelt um uns herum haben können.

So kann man begreifen, daß der Mensch sozusagen ster­ben muß, wenn er sein Leben durchlebt hat. Aber von dem, der gerade in dieser Art von dem Sinn der Unsterblichkeit sprechen hört, muß die Frage immer wieder aufgeworfen werden: Wie steht es mit denjenigen Leben, die unerfüllt, sei es durch innere Krankheiten oder innere Schwächen oder durch Unglücksfälle, vielleicht in der Blüte des phy­sischen Erdenlebens enden? Was kann der Geistesforscher über solche Todesfälle sagen? Wie reihen diese sich ein in den vollen Gang des Erdenlebens, und was sind sie in dem, was der Mensch durchträgt durch die Todespforte, wenn er in die geistige Welt eintritt?

Ich möchte hier nicht in abstrakto sprechen. Viele Jahre schon habe ich hier diese Vorträge gehalten. Daher ist es ganz selbstverständlich, daß jetzt, nachdem ein derartiger Zyklus so und so oft gehalten worden ist, von manchem geglaubt werden kann, daß solche Schilderungen, wie sie hier gegeben werden, wie bloße Behauptungen hingestellt

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sind. Das wird man immer wieder und wieder erleben, daß diejenigen, welche solche Dinge zum ersten Male hören und sich nicht mit der Literatur bekanntgemacht haben, mit Einwänden kommen, welche längst aus dem Felde geschla­gen sind. Man würde aber in den Betrachtungen nicht fort-schreiten können, wenn man immer jedes Jahr dasselbe sagen müßte. Daher muß ich gegenüber dem, was sich an vollberechtigten Einwänden ergeben kann, darauf ver­weisen, daß gesagt werden muß: Man versuche in die Lite­ratur einzudringen und zu berücksichtigen, daß solche Ein­wände im Laufe der vielen Vorträge schon aus dem Felde geschlagen sind.

Nehmen wir den Fall, daß ein blühendes Menschen­leben durch einen Unglücksfall hingerafft wird. Da stellt sich dem Geistesforscher das folgende dar. Wenn er diese Seele über den Tod hinaus verfolgt, so zeigt sich, daß sie, indem sie diesen Unglücksfall durchgemacht hat, im Durch-schreiten durch den Unglücksfall Kräfte in sich aufgenom­men hat, welche geeignet sind, für das nächste Erdenleben höhere intellektuelle Fähigkeiten vorzubereiten, als vor­bereitet werden würden, wenn dieser Unglücksfall nicht herbeigeführt worden wäre. Nur würde man allerdings den Geistesforscher schlecht verstehen, wenn man auch nur im allerentferntesten den Gedanken hegen würde: also wäre es sehr leicht, sich für sein nächstes Erdenleben in­tellektueller zu machen, wenn man sich jetzt von einer Ma­schine überfahren ließe. So ist es nicht. Sondern es zeigt sich, daß über dasjenige, was im menschlichen Schicksale über den Tod hinaus notwendig ist, nicht entscheiden kann das Bewußtsein, welches wir zwischen Geburt und Tod haben, sondern jenes höhere Bewußtsein, das da eintritt vor der Geburt oder nach dem Tode des Menschen, in der rein geistigen Welt. Mit dem Bewußtsein, welches wir im

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physischen Leibe entwickeln können, können wir niemals überschauen, ob ein Unglücksfall in dieser oder jener Weise auf uns wirken würde. Aber in zahlreichen Fällen zeigt sich für den Geistesforscher, daß in der Tat während eines Lebens, das als geistiges Erleben unserer jetzigen Geburt vorangegangen ist, unsere Seele in einem rein geistigen Be­wußtsein ein solches Schicksal schon herbeigeführt hat, das mit einer gewissen Notwendigkeit zu diesem Unglücksfall hingeführt hat. Das zu entscheiden, steht uns nach der Ge­burt nicht zu. Vor der Geburt dirigieren wir unser Dasein nach dem Unglück hin, damit unsere Seele sozusagen durch-schreitet durch die Möglichkeit der äußeren physischen Tätigkeitsweisen, uns den physischen Leib zu zerschellen, und so gleichsam im Moment des Überganges das Erlebnis hat: wie wirkt unsere Menschheit im Zerschellen, wenn sich dieser Leib nicht in natürlicher Weise fortentwickeln wird? Es hat einen guten Sinn - aber nicht vor dem alltäglichen Bewußtsein, sondern vor unserem Überbewußtsein -, daß Menschenleben auch sozusagen vor dem Erreichen des nor­malen Alters durch Unglücksfälle zugrunde gehen können. So gewagt es ist, dergleichen in der Gegenwart auszuspre­chen, so muß doch auch auf so etwas hingewiesen werden. Und bei vielen Seelen, die der Geistesforscher findet, bei denen er diese oder jene Talente in ihrer Grundveranlagung findet, kann er zurückgehen auf frühere Erdenleben und schauen, wie Erfindungskräfte, Einblickskräfte in die große Welt, die sich dazu eignen der Menschheit große Dienste zu leisten, sich durch Unglücksfälle in einem bestimmten Lebensalter entwickelt haben. Man braucht vernünftiger­weise nur darauf hinzuschauen, wie für diese oder jene Verrichtungen, die origineller Art sind, ein bestimmtes Menschenalter notwendig ist. Große Erfinder werden in einem bestimmten Lebensalter durch eine Höchstspannung

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ihrer Fähigkeiten dazu kommen, daß sich gewisse Kräfte dann aus den Tiefen des Lebens heraufheben. Es braucht nicht eine epochemachende Erfindung zu sein, es kann auch etwas sein, was ganz dem gewöhnlichen alltäglichen Leben dient. Das kann darauf beruhen, daß diese Seele in einem früheren Erdenleben den Durchgang halten mußte durch Verhältnisse des physischen Lebens, die den Leib damals zerschellten. In dem Durchgehen durch die das physische Leben zerstörenden Kräfte erringt sich die Seele Erfin-dungskräfte, welche die physische Welt beherrschen, diri­gieren und durchdringen. - Daß solche Dinge erforscht werden können, kann nicht mit der gewöhnlichen äußeren Logik «bewiesen» werden; sondern es kann nur immer das gemacht werden, was so oft in diesen Vorträgen gezeigt worden ist: wie der Geistesforscher durch eine streng ge­regelte Methodik seines Seelenlebens dazu kommt, wirk­lich beobachten zu können, was in einem Moment vorgeht, wo eine Seele irgendein Unglück erlebt, das zu dem oder jenem, oder sogar zum Tode führt.

Oder nehmen wir einen anderen Fall: Wenn ein jun­ges Menschenleben verhältnismäßig sehr früh durch eine Krankheit hingerafft wird, dann zeigt es sich für den Gei-stesforscher, daß nicht so sehr das intellektuelle Leben in der nächsten Verkörperung dadurch beeinflußt wird; aber im wesentlichen wird das Willensleben in einem solchen Falle beeinflußt. Wiederum dürfen wir eine solche Stär­kung des Willenslebens, die wir uns im gewöhnlichen Be­wußtsein wünschen, nicht dadurch herbeiführen, daß wir es selbst zu einer Krankheit kommen lassen. Wenn aber in dem ganzen Zusammenhange des Daseins, das von der gei­stigen Welt beherrscht ist, durch eine Lungen- oder andere Krankheit ein Menschenleben in der Blüte seines Daseins dahingerafft wird, so findet der Geistesforscher sehr häufig,

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daß eine solche Seele, die durch eine derartige Krankheit durchgegangen ist, nicht in der Lage war, jene innere Stärke des Willens zu entfalten, die schon in einer gewissen Weise in ihr veranlagt war. Die äußere Leiblichkeit bot Wider­stand. Aber indem die Krankheit durchgemacht wurde, und indem das Geistig-Seelische den Widerstand der Leiblich­keit erlebt hatte, fand es, wenn es dann durchging durch das Leben zwischen Tod und neuer Geburt, in diesem Wi-derstande dasjenige, was dann jene Willensstärke gibt. Und gerade durch eine solche Betrachtung zeigt sich, daß das Leben nach allen Seiten hin seinen Sinn bekommt.

Gewiß, es muß gesagt werden: all das Leid, das wir im physischen Erdenleben empfinden, berechtigterweise emp­finden, wenn wir den Unglücksfällen des Lebens gegen­überstehen oder dem eigenen Schicksale gegenüberstehen, dieses Leid wird immer da sein. Das wird sich nicht ganz aufheben, vielleicht aber doch mildern lassen, wenn man einsieht, daß, von einer höheren Lebensbetrachtung aus gesehen, Weisheit dennoch unser Leben durchpulst und durchwebt. Von einem höheren Standpunkte aus erscheint alles Leid, das ins Leben einverwoben ist, als zur Entwicke­lung gehörig, und davon geht der Geistesforscher aus:

Weisheit in der Welt von vornherein vorauszusetzen und zu finden. Er betrachtet das Leben mit all seinen Glücks-und Unglücksfällen; und wie das Resultat einer Rechnung nicht da ist, bevor man die Rechnung nicht ausgeführt hat, so gibt es Weisheit nicht im Menschenleben, bevor er sich nicht in so und so vielen Fällen in Bewunderung davon überzeugt, daß Weisheit dennoch allem Leben zugrunde liegt. Weil wir in einem Erleben drinnenstehen, das durch den Leib geschehen muß, so werden die Unglücksfälle in entsprechender Weise wirken, werden uns mitnehmen als Menschen, und es würde das Leben im Leib, wenn es nicht

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Schmerz empfinden könnte bei Unglücksfällen, uns als ein unmenschliches erscheinen müssen. Aber ebenso wie uns die sinnliche Wahrnehmung im Leben zudeckt, was das Gei­stig-Seelische in seiner Ewigkeitsbedeutung ist, so deckt das Erleben im Leib jenen höheren Standpunkt zu, von dem aus alles bewußte Erleben des Menschen von Weisheit durchdrungen erscheint. Der Geistesforscher wird nicht wie eine ausgedörrte Feldfrucht dadurch, daß er Weisheit selbst im Unglück erschauen kann. Nein, gerade dadurch, daß er sich auf einen höheren Gesichtspunkt erheben kann, er­scheint ihm von diesem aus die Überschau über das Leben in Weisheit geistdurchdrungen, vernünftig. Dann aber, wenn er wieder in das Erdenleben hereintritt und in seinem Leibe erlebt, ist er selbstverständlich so sehr fühlender Mensch, wie jeder andere. Wie derjenige, welcher einen Gebirgsgipfel besteigt und von diesem oben den schönen Anblick hat, nicht aufhören darf den Blick für das zu haben, was unten im Tale vor sich geht, so kann auch der wahre Geistesforscher nicht alles volle Mitleid und Mit­erleben für alles menschliche Glück und Leid verlieren, wenn er im Leben zwischen Geburt und Tod Glück und Leid gegenübersteht. Aber gerade dieser Geistesforschung zeigt sich, daß der Ewigkeit gegenüber der Mensch nicht zur Verzweiflung geboren ist, sondern daß jede Aufschau in das Reich des Geistes ihm die Welt weisheitsvoll, sinn­voll zeigt, und daß Erkenntnis der wahren Unsterblichkeit zugleich Erkenntnis des Sinnes der Unsterblichkeit ist.

Nur Andeutungen konnte ich über die menschliche Un­sterblichkeit und ihre Art machen, und daraus muß sich der Sinn dieser menschlichen Unsterblichkeit selber ergeben. Gerade diejenigen Dinge muß der Geistesforscher in Wor­ten aussprechen, die sozusagen außerhalb des gewöhnlichen Lebens liegen, wenn er auf das hinweisen will, was der

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Mensch erlebt, nachdem er die Pforte des Todes durch­schritten hat. Was im gewöhnlichen Leben erlebt wird, bietet keinen Anhaltspunkt, um das Leben nach dem Tode zu charakterisieren, wenn es in seiner geistigen Substantiali­tät erkannt werden soll. So muß man sich darüber klar sein, daß der Mensch nicht in der Lage sein wird, das Bild eines einzelnen Löwen oder eines einzelnen Berges mit durch die Pforte des Todes zu tragen, wohl aber diejenige innere geistig-seelische Tätigkeit, durch die wir in die Lage kommen, einen Berg als Vorstellung zu haben, im Bewußt­sein zu haben, oder einen Löwen vorzustellen. Die tragen wir durch die Pforte des Todes. Gerade das tragen wir am meisten durch die Pforte des Todes, was im Leben eigent­lich nicht «wirklich» ist. Wenn wir verschiedene Löwen sehen, so bilden wir uns den Begriff des Löwen. Es ist selbstverständlich kinderleicht zu beweisen, daß der Begriff des Löwen nicht in der sinnlichen Wirklichkeit existiert, sondern nur der einzelne Löwe; ebenso nicht der Begriff des Berges, sondern nur der einzelne Berg. Aber was uns in die Lage versetzt, Berge und Löwen zu erkennen und zu begreifen, Geistig-Seelisches zu begreifen, Gerechtigkeit, Freiheit und so weiter zu erkennen, was uns fähig macht mit einer Menschenseele wie mit unseresgleichen zu leben, was uns eindringen läßt in die Menschenseele durch geheimnis­volle Sympathien, jenes geheimnisvolle Weben von Seele zu Seele - das nehmen wir mit durch die Pforte des Todes. Und wenn die Frage aufgeworfen wird: Werden wir mit den uns Nahestehenden nach dem Tode wieder zusammen­sein? so können wir sagen: Wir werden mit ihnen wieder zusammen sein! Es gibt ein Wiedersehen mit denen, die uns im Leben nahegestanden haben. Auch schon zwischen Ge­burt und Tod sind Bande zwischen den Seelen vorhanden, die dem Außerirdischen angehören - was nur noch nicht

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geschaut wird, weil der seelische Blick gefesselt ist durch den physischen Anblick.

Geistiges zu erforschen bedeutet zu gleicher Zeit unbe­dingt, wenn man wirklich zu diesem Geistigen kommt, die Ewigkeit dieses Geistigen erkennen. Den Menschen als Geist erkennen, bedeutet die Ewigkeit des Menschengeistes erkennen. Und eigentlich muß man als Geistesforscher, so sonderbar es aussieht, das Folgende sagen: Wer den Geist für sterblich hält, der kann ihn nicht in Wirklichkeit er­kennen. Philosophen, welche an die Unsterblichkeit der Menschenseele nicht glauben, sind für die Seelenforschung wie Botaniker, die das Dasein der Pflanzen leugnen. Es ist die bestimmte Art, die Welt des Geistes anzuschauen, wie der geistesforscherische Blick es ergibt, so, daß man sagen kann: Die Seele lernt als etwas Selbstverständliches das Geistige erkennen, wie der Botaniker die Pflanze erkennt als das, was sie ist. Deshalb dürfen wir sagen, daß das Wertvollste für das gesamte Menschenleben in bezug auf das Geistig-Seelische, in bezug auf das Verhalten der Men­schenseele nach dem Tode das ist, was durch die äußere Anschauung im physisch-sinnlichen Erleben verdeckt wird, was in diesem Erleben nicht wahrgenommen wird. Wer in das Leben, das nach dem Tode verläuft, Begriffe hinein­tragen will, wer nach dem Tode nicht unter dem «Begriffs-hunger» - wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf - leiden will, der muß sich Begriffe aneignen, welche schon hier im Erdenleben sich nicht bloß auf das sinnlich Wahrnehmbare erstrecken, sondern über dasselbe hinausgehen. Was wir von der Geisteswissenschaft wissen, davon können wir uns nähren, als von Begriffen, in dem Leben nach dem Tode. -Wenn jemand glauben würde, daß der Begriffshunger nach dem Tode ihn töten würde, so ist darauf allerdings zu sagen, daß eine Seele, weil sie unsterblich ist, zwar unter

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dem Begriffshunger leiden kann, aber nicht, wie der phy­sische Leib, am Begriffshunger sterben kann.

So konnte ich Ihnen nur einzelne Andeutungen geben über den Sinn der Unsterblichkeit der Menschenseele. Selbstverständlich weiß derjenige, der solche Andeutungen gibt, am allerbesten, was von dem, der so ganz in dem Zeitbewußtsein von heute drinnen steht, gegen solche An­deutungen eingewendet werden kann, oder oft muß. Wir leben ja in einer Zeit, die auf der einen Seite ganz und gar abgeneigt ist anzuerkennen, daß jene Entwickelung der Seele, von welcher hier gesprochen worden ist, wirklich in ein rein geistiges Erleben hineinführt, wo sich das hier Auseinandergesetzte darstellt; nur leben wir zugleich in einer Zeit, in welcher in den unterbewußten Tiefen der Menschenseele ein Hinausgehen über das Wissen des Ver­standes und dessen, was an den Verstand gebunden ist, er-sehnt wird. Es kann ja auch Menschen geben, welche sagen:

Warum kann der Mensch nicht stehen bleiben bei dem, was ihm die Natur gegeben hat, bei dem Verstande und bei den Sinnen, die ihm von Natur aus gegeben sind? Aber das wäre ebenso, wie wenn jemand sagte, daß das Kind bei dem stehen bleiben sollte, was es als Kind hat, und nicht das lernen sollte, was es als Mann auszuführen hätte. Ge­nau auf demselben Standpunkte stünde derjenige, der da sagte, daß die Seele stehenbleiben sollte bei den Fähigkei­ten, welche der Seele schon gegeben sind.

Wir sehen überall, wo man sich nur von den gröbsten Vorurteilen, welche das Jahrhundert gezeitigt hat, loslösen kann, daß man auf die eigentliche Natur desjenigen kommt, was der Wesenskern des Menschen ist. Man kann sehen, wie sich Philosophen der Gegenwart loslösen von dem rein physischen Erleben und der Interpretation über das rein physische Erleben. Interessant bleibt es immerhin, wenn

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auch noch so sehr am Ziele vorbeigeschossen wird, daß der französische Philosoph Bergson in dem Gedächtnis etwas sieht, was in das Geistige hineinführt. Man sieht aber an einem solchen Beispiele, wie schwer es den Philosophen der Gegenwart wird, sich zur Anerkennung der geistigen Welt aufzuraffen. Und an anderen Punkten wieder sieht man, wie gesundes Seelenleben, wenn es sich gesund entwickelt, bis zur Eingangspforte der Geisteswissenschaft kommt. Höchst interessant ist es, daß das, was man im gewöhn­lichen Leben die Aufmerksamkeit nennt, ins Unbegrenzte gesteigert, die Möglichkeit gibt, aus dem Menschen etwas anderes zu machen, und wenn man dann immerhin sieht, wie ein sehr bedeutender Philosoph der Gegenwart, der aber doch in den Begriffen der Gegenwart stecken bleibt, Mc Gilvary, aus dem Gesunden der amerikanischen Natur heraus gerade bis zu dem Punkte kommt, wo er sich sagt:

Wenn man das eigentliche Seelenwesen kennenlernen will, wenn man kennenlernen will, was Seele, was Unsterb­lichkeit ist, so kann man das nur in der Entwickelung der Aufmerksamkeit. Und Mc Gilvary kommt dahin, sich zu sagen, daß der Mensch durch eine Anstrengung, durch eine Steigerung der Kräfte der Aufmerksamkeit wissen kann, daß man durch diese Anstrengung zum Erfassen eines Gei­stig-Seelischen kommt, das man wie eine innere Tätigkeit hat. Daran sieht man, wie solche Bestrebungen bis zur Pforte der Geisteswissenschaft hinführen.

Oder ein anderes Beispiel: Im höchsten Grade fühlte ich mich befriedigt, als ich eine Abhandlung in die Hände be­kam, die ein sehr begabter Gymnasialdirektor - Deinhardt in Bromberg - verfaßt hat. Da sieht man, wie ein hoch-gebildeter Mann der Gegenwart, der von besonderer Gei­steswissenschaft noch nichts wissen konnte, mit den höch­sten Fragen des Menschenlebens ringt. Das haben zwar

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andere auch getan. Aber interessant ist es zu sehen, wie bei dem Vortrage, in dem jener Gymnasialdirektor seine Ideen über die Unsterblichkeit der Menschenseele vorbrachte, der Herausgeber auf einen Brief aufmerksam macht, den er von diesem Gymnasialdirektor bekommen hat, in welchem dieser schreibt: wenn es ihm noch vergönnt wäre, seine Bestrebungen nach dieser Seite fortzusetzen, so wollte er noch zeigen, wie die Seele noch in dem Leben zwischen Geburt und Tod an einem feinen Leibe arbeite, der dann die Pforte des Todes durchschreitet. Es ist herzerquickend, mitten im Zeitalter des aufblühenden Materialismus je­manden ringen zu sehen mit dem Problem, das gerade in diesen zwei letzten Vorträgen behandelt worden ist, in denen versucht wurde zu zeigen, daß man durch die Gei­stesforschung den unsterblichen Wesenskern des Menschen ergreift, der sich entwickelt und immer weiter entwickelt, der durch die Pforte des Todes schreitet, um sich beim Durchgange durch die geistige Welt zu einem neuen Erden-leben vorzubereiten. Was hier der «geistig-seelische We­senskern» in seinem Wachstum genannt worden ist, das spricht jener Gymnasialdirektor als einen «feinen Leib» an, den sich die Seele organisiert, um ihn durch den Tod hindurchzutragen, und in dem sich die feineren Kräfte auf­sammeln können, welche die Seele dann weiter braucht, um ihre Entwickelung im Gesamtleben fortzusetzen.

Wenn auch heute durch die großen bewunderungswürdi­gen Errungenschaften der äußeren Wissenschaft der Blick abgezogen wird von dem Geistig-Seelischen, und daher die Unsterblichkeit der menschlichen Seele noch nicht an­erkannt und auch noch nicht eingesehen wird, so sieht man doch auf der anderen Seite das Ringen nach Begriffen, die dem Menschen wieder ein Bild dessen geben, was nach dem Tode vorhanden ist, und was, weil es nicht nur nach dem

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Tode da ist, sondern mit einem Ausspruche Hegels «auch im Leben da ist», Kraft und Sicherheit erst in das Leben hineinbringt und den Menschen erst zum vollen Menschen macht. Und für den, der ohne diese «metaphysischen Dinge» leben kann, darf gesagt werden, daß das Leben sich gar nicht anders vollziehen kann, als daß es, wenn auch durch ganze Epochen hindurch der seelische Blick verfinstert wer­den kann, aus seinen Tiefen das heraufholt, was den selbst­verständlichen Ausblick in die Gefilde des Ewigen, des Un­sterblichen freigibt.

So darf man sagen, daß auch für dasjenige, was heute als paradox erscheint, die Zeit reif werden wird, in welcher es so aufgefaßt werden wird, wie die Errungenschaften der Wissenschaft, welche die Menschheit vorwärts gebracht haben, immer aufgefaßt worden sind. Schon einmal habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß man sich mit der Geisteswissenschaft im Einklange fühlt mit der gegenwär­tigen Wissenschaft, mit allen in den Geist und sein Leben eindringenden Persönlichkeiten der Menschheitsentwicke­lung. Deshalb möchte ich auch heute am Schlusse dieser Be­trachtungen, durch die ich den Sinn der Unsterblichkeit der Menschenseele, ich möchte sagen, stammelnd zu inter­pretieren versucht habe - denn man kann über diese Dinge ja doch nur stammelnd sprechen -, auf etwas hinweisen, was aus dem griechischen Philosophen Heraklit hervorge­brochen ist, der vom Standpunkte seiner Zeit tiefe Blicke in das Erleben des Kosmos getan hat -; was hervorgebro­chen ist aus der Seele dieses Philosophen, der seine eigene Seele mitgenommen fühlte von dem «Strom des Werdens», als den er das ganze Weltenall ansprach. Heraklit sah ja in dem Werden, in dem nie rastenden Werden das eigent­liche Charakteristikon des Kosmos. «Sein» war für ihn ein Trugbild. Was ist, das ist in Wahrheit nur scheinbar da.

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Alles ist innerhalb im Strom des Werdens, in feiner Reg­samkeit, und die Seele ist hineinverwoben in diese ewig fließende Regsamkeit. Das Feuer war für Heraklit das Symbol für das Werden, und die eigene Seele fühlte er in das Werde-Feuer des Kosmos hineinversetzt. In ihm see­lisch lebend, fühlte er wie eine innere Erfahrung, wie eine unmittelbare innere Beobachtung den Unsterblichkeits­impuls. Und so brachte er ihn zum Ausdruck, daß seine Worte, nur um ein Geringes verändert, den Schluß bilden möchten der Betrachtungen über die menschliche Unsterb­lichkeit, die ich heute stammelnd zum Ausdruck zu bringen versuchte. Wahr ist es - das zeigt gerade der geschulte Blick des Geistesforschers:

Wenn leibbefreit die Seele sich emporschwingt zum freien Äther, zeigt sie vor sich selber sich als unsterblicher Geist, vom Tode befreit!

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MICHELANGELO UND SEINE ZEIT VOM GESICHTSPUNKT DER GEISTESWISSENSCHAFT Berlin, 8. Januar 1914

Der heutige Vortrag soll gewissermaßen in den Vor­trägen dieses Winterzyklus eine Episode bilden. Er soll dies in ähnlidier Weise, wie die Vorträge des vorjährigen Zy­klus über Leonardo da Vinci und über Raffael. Mein Ziel gerade mit einem solchen episodischen Vortrage aus dem Gebiete der Kultur- oder Kunstwissenschaft ist, zu zeigen, wie die Geisteswissensdiaft einzudringen versucht in das Wesen des geschichtlidien Werdens und der darin stehen­den menschlichen Persönlichkeiten. Gerade beim heutigen Vortrage werde ich Sie bitten, zu beachten, daß nach der Natur der Sache, da Geisteswissenschaft heute in gewisser Weise erst im Entstehen ist, auch mit einem solchen Vortrage ein Anfangsversuch gemacht werden muß.

Geschichte gilt in unserer Zeit, so wie die anderen Wis­senschaften, als eine wirkliche Wissenschaft. Dennoch be­streitet ein sehr beachtenswertes Buch der Gegenwart der Geschichte das Recht, sich eine Wissenschaft zu nennen, und zwar aus dem Grunde, weil die Geschichte doch nur eine Zusammenstellung von einzelnen Ereignissen und Tat­sachen sei, die in der Art, wie sie uns in der Geschichte ent­gegentreten, nicht ein zweites oder drittes Mal da sind; so daß ein geistreicher Mann der Gegenwart, der den wissen­schaftlichen Charakter der Geschichte eben bekämpft, sagt:

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Wenn man irgend etwas weiß über einen Regentropfen, so kann man nach den Gesetzen, denen er folgt, etwas Wissenschaftliches darüber sagen, weil die anderen Regen­tropfen denselben Gesetzen folgen. So kann man das bei jedem Käfer tun und bei allem, was gewissermaßen sich wiederholend der Welt angehört. Die geschichtlichen Tat­sachen stehen einzeln für sich da; man kann sie erzählen, man kann aber nichts auf sie begründen, was im wahren Sinne des Wortes Wissenschaft genannt werden könnte. - Wenn man jene Begriffe und Ideen nimmt, welche man heute wissenschaftlich nennt, von denen aus man Wissen­schaft beurteilt, so muß man eigentlich dem Manne recht geben. Anders stellt sich die Sache, wenn geschichtliche Be­trachtung in dem Sinne genommen wird, wie das öfter hier angedeutet worden ist, und wofür im Grunde genommen kein Geringerer als Lessing der Bannerträger der neueren Zeit ist. Ich habe schon darauf hingewiesen, wie auch

Les­sing die Geschichte als eine Entwickelung, oder sagen wir vielleicht heute als ein Aufwärtssteigen der ganzen Mensch­heit in der Weise betrachtet, daß dasjenige, was von Epoche zu Epoche hinüberwirkt, die menschlichen Seelen selber sind. Sinn und Zusammenhang kommt in dem Augenblicke in die Geschichte, wo wir nicht mehr nötig haben, sie bloß als eine Summe von hintereinanderfolgenden Ereignissen anzusehen, die sich nicht wiederholen, sondern wo wir Geschichte so ansehen können, daß sich die Seelen in den aufeinanderfolgenden Erdenleben wieder und wieder aus-leben, so daß dasjenige, was in alten Zeiten auf die Seelen gewirkt hat, von diesen Seelen herübergetragen wird, zwi­schen dem Tode und einer neuen Geburt hindurchgeht durch die geistige Welt und dort befruchtet wird, um dann in einem neuen Erdenleben so zu erscheinen, daß wirklich Fortschritt, Entwickelung in der Aufeinanderfolge der geschichtlichen

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Ereignisse möglich ist. So wird Geschichte durch die Geisteswissenschaft wieder eine Wissenschaft -nicht weil sich in ihr die Gesetze so wiederholen wie in der äußeren Natur, sondern weil wir Geschichte als das an­schauen dürfen, was an die menschlichen Seelen in den aufeinanderfolgenden Leben von Epoche zu Epoche heran­tritt, so daß in der Tat nicht die Gesetze, wohl aber die Seelen, die ihr Leben wiederholen, immer wieder in das Leben eintreten. Dann aber wird die Betrachtung der Epo­chen bedeutungsvoll; dann erklärt sich uns der Charakter einer Epoche als bedeutsam für das, was Seelen, die aus früheren Epochen herüberkommen, Neues erleben können, das sie früher nicht haben erleben können, und das sie nun wieder hinübertragen in spätere Epochen.

Ich möchte sagen: vielleicht nicht theoretisch-abstrakt, aber empfindungsgemäß durch ideell-künstlerische Betrach­tung kann dem Menschen die Überzeugung von einem sol­chen Verlaufe der Menschheitsgeschichte entgegentreten, wenn er die großen Epochen der Kunstentwickelung und die großen Künstler in ihrer Entwickelung betrachtet. Eine solche Überzeugung, wie diejenige ist von der Wiederkehr der Seele, von dem vollständigen Leben des Menschen, das so verläuft, daß wir zu unterscheiden haben einen Teil des Daseins zwischen Geburt und Tod und jenen anderen Teil zwischen dem Tode und einer neuen Geburt in der geistigen Welt; die Überzeugung von diesen wiederholten Erdenleben ist nicht durch eine irgendwie abstrakte Betrachtung zu gewinnen. Wer sich aber auf die Betrachtung des Lebens einläßt, wer von überallher sich Rechenschaft zu geben ver­sucht über die Geheimnisse des Daseins, der wird finden, daß - wie gesagt nicht mit tumultuarischem Schritt - auf einmal ihm diese Überzeugung kommen kann, daß aber in der Seele diese Überzeugung von den wiederholten Erdenleben

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sich immer mehr und mehr herausbilden muß, je mehr man die Wirklichkeit in ihrer Ganzheit betrachtet. Ein solches Kapitel zur Betrachtung der Wirklichkeit möchte ich herantragen, gleichsam jedem selbst überlassend, daraus die Konsequenzen zu ziehen, indem heute der Ver­such gemacht werden soll, die Art zu betrachten, wie sich Michelangelo in das abendländische Geistesleben hinein-stellt.

Wenn wir dieses abendländische Geistesleben, wenn wir überhaupt das gesamte Geistesleben der Menschheit von dem Gesichtspunkte der wiederholten Erdenleben aus ins Auge fassen, dann müssen wir uns sagen: Es hat seinen guten Sinn in dieser Menschheitsentwickelung, daß die auf­einanderfolgenden Epochen grundverschieden sind, daß die Seelen in diesen Epochen immer Verschiedenes und Verschiedenes erleben. Nur wer recht kurzsinnig die Mensch­heitsgeschichte überblickt, kann sich der Ansicht hingeben, daß diese Menschenseele, so wie sie heute ist, eigentlich im­mer gewesen ist, seit sie sich mehr oder weniger von der Tierheit erhoben habe. Wer tiefer eingeht auf die Zeiten älterer Geschichte, wer namentlich mit den Mitteln der Geisteswissenschaft selber sich den vordiristlichen Zeiten nähert, der findet, daß die ganze Grundstimmung und Veranlagung, die Verfassung der Menschenseele in älteren Zeiten eine andere war und sich im Laufe der Menschheitsentwickelung bis in unsere Zeiten wesentlich geändert hat, so daß die Konfiguration der Seele in den aufeinander­folgenden Zeiten der Menschheitsentwickelung immer eine andere geworden ist. So etwas tritt uns aber bedeutsam entgegen, wenn wir einen so signifikanten Künstler wie Michelangelo in seiner Zeit, im sechzehnten Jahrhundert, nehmen und ihn etwa zusammenstellen mit Künstlern, die in früheren Menschheitsepochen auf einem dem seinigen

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ähnlichen Gebiete Ähnliches geleistet haben. Stellt sich uns doch wie von selbst nebeneinander in der geschichtlichen Betrachtung die griechische Bildhauerkunst und das, was uns durch Michelangelo gegeben ist. Aber für den, der genauer auf das eingeht, um was es sich dabei handelt, zeigt sich in der Betrachtung auch desjenigen, was nur historisch da ist, ein gewaltiger Unterschied von der grie­chischen Bildhauerkunst gegenüber den Schöpfungen Mi­chelangelos. Dazu ist notwendig, daß wir uns kurz auf die besondere Art und Weise einlassen, die heute nur noch wenig bemerkt wird, wie eigentlich griechische Bildhauerkunst auf uns wirken kann.

Es ist ja recht bedauerlich, daß ein solcher Vortrag nicht mit Lichtbildern oder anderen Hilfsmitteln gehalten wer­den kann; allein was den Inhalt der Kunstentwickelung bildet, das haben wir ja heute schon in so ausgezeichneten Reproduktionen zahlreicher Werke vorhanden, daß es je­dem leicht ist, sich einen Einblick, auch durch das Bild, in dasjenige zu verschaffen, was ich mir erlauben werde heute auszuführen. - Als Herman Grimm in den fünfziger Jah­ren des neunzehnten Jahrhunderts daran ging, sein so wunderbares Werk über Michelangelo zu schreiben, konnte er gar nicht daran denken, sein Werk durch Illustrationen zu bereichern, während es, als es dann vierzig Jahre später wiedererschien, mit Illustrationen ausgestattet worden ist, wodurch es möglich war, daß sich, man kann ohne Über­treibung schon sagen, unerhörte Geheimnisse über Michel­angelo enthüllen konnten, die man nicht gewinnen kann aus dem, was man früher bloß aus der Darstellung des «Lebens Michelangelos» von Herman Grimm haben konnte. Die Photographie, der Lichtdruck haben in den letzten Jahrzehnten einen solchen Fortschritt erfahren, daß es heute wirklich zum wahren Seelenheil der Menschheit

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möglich ist, sich einen Einblick zu verschaffen wenigstens in das, was als die Ideenkonfiguration, als Formkonfigura­tion und dergleichen in der Kunstentwickelung durch die Zeiten geht.

Wenn man die griechische Kunst, die Skulptur auf sich wirken läßt, so muß man sagen: Sie wirkt so auf uns, daß wir uns der Empfindung nicht entschlagen können, das Beste, das vielleicht heute gar nicht einmal mehr Vorhan­dene der griechischen Bildnerkunst muß zu den Menschen gesprochen haben wie die Kunde aus einer anderen Welt. Nicht etwa meine ich das Äußerliche - denn ich will keine unkünstlerische Betrachtung anstellen -, daß die Griechen zumeist Götter, Götterhandlungen, übermenschliche Hand­lungen gebildet haben. Nicht das, nicht den Inhalt der Kunst meine ich, sondern das Künstlerische der Kunst sel­ber, die Formgebung. Wie ist sie erfolgt? So ist sie erfolgt, daß der Grieche in seiner Seele etwas trug, was er nicht unmittelbar durch die äußeren Sinne aus der Natur ent­nommen hat. Der Grieche trug in sich ein inneres fühlendes Wissen von der Art und Weise, wie ein menschlicher Or­ganismus gestaltet ist. Dazu trug alles bei, was Griechen­land zur Erziehung der Menschenseele hatte; dazu trug aber auch bei, daß die Griechen in einer anderen Epoche der Menschheitsgeschichte lebten, in welcher sich die Seele mit ihrem Organismus noch innig verwachsen fühlte, wo der Mensch in ganz anderer Weise gefühlt hat: Jetzt be­wegst du deine Hand, jetzt macht deine Hand, dein Arm, einen spitzen Winkel, jetzt einen rechten, jetzt einen stump­fen Winkel; jetzt streckt deine Hand oder dein Bein diesen oder jenen Muskel. Dieses In-sich-Sein in der Seele dieses Sididurdidringen, dieses Sichdurchfühlen des Organischen mit der Seele, - das ist griechisches Fühlen, griechisches Empfinden. Daher muß man sagen - das kann durchaus

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festgehalten werden, wenn es auch vielleicht heute nicht von vielen Seiten zugegeben wird: Der Grieche hat ein un­mittelbares, inneres erfühltes Wissen seines Organismus. Und der Künstler bildete seine Gestalten nicht durch äußere Naturanschauung, nicht am äußeren Modell aus; sondern durch inneres Wissen erlangte er Kenntnis von dieser oder jener Muskellage und Muskelhaltung und ihrem Zusam­menhang mit dem Seelischen, indem er seinen Organismus mit Seelenstimmung durchdrang und dies zu einer Blüte in seinem Seelenleben brachte.

Man kann aus dem, was noch vorhanden ist, durchaus erschauen: Wenn der Grieche seinen Zeus bildete, so ver­setzte er sich innerlich in die Stimmung des Zeus, seine Seele durchdrang sich mit der Zeus-Empfindung; dann wußte er, was die Zeus-Empfindung oder die Hera-Emp­findung an inneren Spannungen auslöst, und von innen heraus prägte er dem Stoff seine Form auf. Er legte seine Seele in den Stoff hinein. Es ist ganz natürlich, daß unsere heutige Zeit nicht mehr viel Empfindung hat für dieses ganz andersartige griechische Fühlen. Weil es aber ganz anders war, so stehen auch die Überreste der griechischen Bildnerkunst für den Blick, der so etwas beachten kann, ganz anders vor uns als alle späteren Werke der Bildner-kunst: so stehen sie vor uns, daß sie zu uns sprechen von demjenigen, was der Mensch als seine seelische Welt erlebt. Sie drücken aus, was seelisch ist, und alles in der griechi­schen Bildnerkunst drückt aus, was seelisch ist. Man kann ganz davon absehen, ob dies Zeus, dies Hera ist oder an­dere Götter, darauf kommt es gar nicht an, denn dadurch kommt man von der künstlerischen Betrachtung ab und in das novellistische Element hinein. Sondern darauf kommt es an, daß, wie der Grieche seinen Zeus, seine Hera ge­bildet hat, wie sie vor uns stehen, sie so in sich abgeschlossen

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sind, wie unser Seelenleben in uns abgeschlossen ist und wir uns in ihm abgeschlossen fühlen, wenn wir in dem organischen Reflex in der Muskelspannung fühlen, was die Seele im Organismus macht, wenn sie sich in dieser Stim­mung erlebt. Dieses mehr oder weniger in der Seele Ab­geschlossene, das hinausdringt in den Raum, das sich offen­bart in den Raum hinaus, dies ist der griechischen Plastik eigen. Und schauen wir uns ein solches griechisches Kunst­werk an, dann sagen wir uns: Ja, das ist abgeschlossen für sich, das ist eine Welt, die sich so, wie sie dasteht, offen­baren will. Auch die Gruppendarstellungen sind so zu neh­men, bis zum Laokoon hin. Das steht so da, um uns etwas von einer seelischen Welt fühlen zu lassen, und ringsherum ist die übrige Menschheit, die Welt, da stehen wir selbst. Nur indem wir unsere Seele zu dem Kunstwerke hinwen­den, hat dieses eine Beziehung zu uns. Aber dieses Kunst­werk gehört nicht demselben Raume, derselben Welt an, in der wir mit unseren Schritten herumgehen, in der wir täg­lich zueinander sprechen; das fällt heraus aus dieser Welt.

Schauen wir jetzt von den griechischen Kunstwerken herüber - ich will sagen zu dem «Moses» des Michelangelo, der ja ein Teil des nicht zustande gekommenen «Papst­Julius-Denkmals» hat werden sollen, dann werden wir uns wahrhaftig sagen müssen: Kein Künstler hat jemals die Bibelstelle, daß dem jüdischen Volke in Moses ein Prophet gegeben worden ist, dem kein anderer jemals gleichen werde, der Gott geschaut hat von Angesicht zu Angesicht, kein Künstler hat diese Bibelstelle von den mächtigen Wir­kungen des Willens des Moses so zum Ausdruck gebracht, wie Michelangelo Alles zeigt uns den Volksführer, der ein Volk mit seinem Geiste durdiringt, der seinen Willen aus­strömen läßt über ein ganzes Volk und weit über sein Le­ben hinaus zum Lehrer dieses Volkes wird. Kraftstrotzend

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ist dieser Moses, so strotzend von Menschenkraft ist er, daß wir ihm etwas glauben, was unrealistisch ist. Bekanntlich trägt er zwei Hörner am Kopfe. Wenn man sagt: das sind die Symbole der Kraft, so ist damit noch nicht alles gesagt. Lassen Sie einen unbedeutenderen Künstler als Michelangelo eine Figur aufstellen und zwei Hörner an ihr anbringen, so mögen es dieselben Symbole sein; aber wahrscheinlich wür­den wir sie nicht bewundern, weil wir sie nicht glauben könnten. Michelangelo stellt seinen so von Willen durch­drungenen Moses hin, stellt ihn so hin, daß wir wissen: da ist eine Kraft drinnen, die sich durch etwas Absonderliches ankündigen darf. Wir glauben dem Moses die Hörner, dar­auf kommt es an. - Nicht darauf kommt es an, was man abbildet, sondern daß man dem, was man abbildet, auch die Einzelheiten, selbst wenn sie unrealistisch sind, glaubt.

Wenden wir von dem Moses den Blick zu dem «Riesen», il Gigante, zu dem David. Wir werden noch von einem anderen Gesichtspunkte aus auf diesen David zu sprechen kommen; sehen wir ihn zunächst einmal im Vergleich mit der griechischen Plastik an. Wie steht er da? So steht er da, daß er den Moment in seiner Seelenverfassung ausdrückt, da er gewahr wird, was ihm von Goliath bevorsteht. Er greift zur Schleuder; es ist der Moment, da er sich unmittel­bar zur Ausführung seiner Tat anschickt. Auch früher schon war die Gestalt des jugendlichen David mehrmals dar­gestellt worden, so von Donatello und von Verrocchio, aber so, daß die Tat schon geschehen war. Bei Donatello wie bei Verrocchio ist David so dargestellt, daß er das Haupt des Goliath unter seinen Füßen hat. Michelangelo wählt sich einen andren Moment: den, wo die Seele des David gewahr wird, was sie zu tun hat. Dieser Moment ist großartig aufgefaßt. Wer könnte glauben, es sei nur festgehalten, wie bei einem griechischen Werk, ein innerer

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Zustand, eine seelische Verfassung? Aber ebensowenig wie bei Moses, ist bei diesem David nur dieses der Fall; son­dern noch etwas anderes kommt zum Ausdruck. Dieser Moses und dieser David, sie stehen so vor uns, daß wir glauben können, der Moses könnte auch aufstehen, könnte weitergehen; er lebt in demselben Raume, in derselben Welt mit uns, in der wir selbst unsere Schritte hineinlenken; er ist in denselben Raum hineingestellt, in dem wir leben. So, aus dem bloß Seelischen herausgenommen, in die Welt die uns umgibt hineingestellt, sind diese Gestalten. Wir würden uns, wenn wir den David gesehen haben, gar nicht wundern, wenn er in dem nächsten Augenblicke tatsächlich zum Wurf ausholen würde.

Das ist der bedeutsame Übergang der alten zur neuen Zeit - und Michelangelo ist von diesem Gesichtspunkte aus sein bedeutsamster Träger - das ist der bedeutsame Übergang, daß die griechischen Künstler Kunstwerke ge­schaffen haben, die zu uns sprechen, so, daß sie gleichsam die äußere Welt negieren, daß sie für sich dastehen, wie in sich abgeschlossen und auf unsere Seele wie von einer an­deren Welt aus wirken. Michelangelo dagegen stellt seine Gestalten in dieselbe Welt hinein, in die wir selber hinein­gestellt sind; sie leben mit uns da drinnen. Und in einem übertragenen Sinne könnte man sagen: während die grie­chischen Bildwerke nur Seelenluft, die Luft der Götter atmen, atmen die Gestalten Michelangelos die Luft der Welt, in der wir selber leben. Nicht darauf kommt es an, ob man die Schlagworte Idealismus oder Realismus ge­braucht, sondern daß man einsieht, wie Michelangelo der bedeutendste Künstler ist, der die Gestalten herausholt aus der Seele und sie hineinstellt ganz ins Erdendasein, so daß sie wie Lebewesen unter den Menschen dastehen.

Wenn wir dies voraussetzen, daß dem Michelangelo also

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gleichsam durch den geistigen Fortschritt der Menschheit eine besondere Aufgabe gestellt war, dann wundern wir uns nicht mehr, wenn wir sehen, wie er von frühester Jugend an sich die Fähigkeiten für diese Aufgabe eben aus der geistigen Welt ins Leben mitbringt. Vererbungstheoretiker sollen da einmal zurechtkommen mit ihrer Theorie bei Mi­chelangelo! Er stammte aus einer zwar bürgerlich gewor­denen, doch ursprünglichen Adelsfamilie, die später ver­armte - wir wissen es aus seinem Lebenslauf, denn er hat sie fortwährend unterstützt. Es war eine Familie, die ganz gewiß nichts von dem in sich hatte, was die spezifische Auf­gabe Michelangelos war. Zunächst war er dazu bestimmt, ein Schuljunge zu werden wie andere. Aber er zeichnete immer. Und auf ganz sonderbare Weise zeichnete er, so daß man nicht recht wußte, woher er das nahm; und schließlich konnte der Vater nicht mehr anders, als ihn zu Ghirlandajo in die Lehre zu schicken. Aber der Knabe konnte dort nicht viel aufnehmen, trotzdem Ghirlandajo ein großer Künstler war. Was Michelangelo zeichnete, das entsprang wie selbst­verständlich aus seinem Wesen heraus. Aber etwas anderes ergab sich für ihn. Dadurch daß man durch sein Zeichnen auf seine Begabung aufmerksam geworden war, nahm ihn der Mediceerfürst, Lorenzo de'Medici, in sein Haus, und er wuchs dort heran durch drei Jahre hindurch. Geboren ist Michelangelo am 6. März 1475; im Hause des Mediceers Lorenzo lebte er vom Jahre 1489 bis 1492. Was er nun auf­suchte, was für ihn von besonderer Bedeutung war, das waren die allerdings hier nur geringfügigen Reste des Altertums, der antiken Bildhauerkunst. Aber er verband sehr bald - und das ist das Charakteristische - das, was er sah und was einen tiefen Eindruck auf ihn machte, mit einem fleißigen, intensiven Studium der Anatomie. Und nun sehen wir, wie in Michelangelos Seele heranwächst eine

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genaue Kenntnis des inneren Gefüges des Menschenleibes. Man sieht es allem, was er geschaffen hat, an, wie er seine anatomischen Studien angewendet hat, wie er sich Kennt­nis davon verschafft hat: wenn die Seele dieses oder jenes erleben soll, wenn sie diese oder jene Stimmung und Ver­fassung haben soll, dann ist es nötig zu wissen, wie sich dieser oder jener Muskel stellt.

Nun sehen wir, wie in der Seele Michelangelos zwei Strömungen zusammenfließen. Das, was anders war, als es eine Begabung seiner Zeit jemals hervorbringen konnte, weil die Menschheit jetzt zu einer anderen Epoche vor-geschritten war, was die Eigenheit der griechischen Kunst gebildet hatte, das sah er; aber er hatte nötig, weil seiner­zeit die Fähigkeit entschwunden war, die Eigenheiten des Leibes zu erfühlen, wie es die griechische Kunst vermochte -er hatte nötig, von außen anzuschauen den Bau des Leibes, hinzuschauen auf den äußeren Bau. Was der Grieche in sich erfahren hatte durch den inneren Lebenssinn, das mußte Michelangelo erfahren durch die äußeren Sinne, durch das Hinschauen auf die Natur. Er mußte aus der Natur heraus­holen durch die äußeren Sinne, was der griechische Künst­ler aus sich durch den in ihm noch regen Lebenssinn hatte gewinnen können. - An einem solchen Falle zeigt sich uns, wie die Seelen-Entwickelung der Menschheit vorwärts-schreitet, wie die Seele in einem Zeitalter nicht das kann, was sie in einem anderen Zeitalter kann, und wie, wenn ein Größtes erreicht werden soll, in den verschiedenen Epochen die Seele dies mit verschiedenen Mitteln erreichen muß.

Wenn wir nun sehen, wie Michelangelo auf Grundlage dessen, was er sich auf die eben geschilderte Weise bereits erworben hatte, als ganz junger Mensch 1498 schon jenes wunderbare Werk vollendet, das uns gleich rechts entgegentritt,

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wenn wir in die Peterskirche in Rom gehen, seine wunderbare Pieti, wenn wir sehen, was er mit seinen Mit­teln schon an diesem frühen Werke erreicht hat, das noch etwas die Spuren trägt der italienischen Künstlertradition, die von Cimabue und Giotto herrührt, und das fast noch etwas von byzantinischem Gepräge an sich trägt, so sehen wir trotzdem, wie hineinfließend in dieses Werk, was aus einem genauen Anschauen der menschlichen Leibesform folgt. Und es gelingt Michelangelo schon da, durch das äußere Anschauen wieder eine Plastik erstehen zu lassen, die sich dem Griechentum wirklich gewachsen zeigen kann. Was war nötig geworden? Das äußere Anschauen war nötig geworden. Gerade an dem Werke der Pietá kann es stu­diert werden. Sehen wir doch, wie in den fortlaufenden Entwickelungsgang der Menschheit seit dem Griechentum hereingewirkt hat etwas diesem Griechentume ganz Frem­des. Der Grieche hatte jenen Lebenssinn, der sich in sich erfühlt. Das ergab wie von selbst die Möglichkeit, zu offen­baren, wie die menschliche Leibesform aussieht in dieser oder jener Stimmung. Nun war von der griechischen Zeit an ins Abendland hineingeflossen jene Weltanschauung, die ausgegangen ist von dem Judentum und die ihre Höhe gefunden hat im Christentum, jene Weltanschauung, die immer etwas in sich trägt von dem Gebot: Du sollst dir kein Bild machen von dem, was geistig ist!

Ich weiß nicht, wieviele Menschen darüber nachgedacht haben, daß zwischen die griechische Zeit und die Epoche Michelangelos eine solche fällt, in welcher das wirklich praktisch wird, sich vom Göttlichen kein Bild zu machen. Die ersten Christen haben sich Christus nicht bildlich dar­gestellt. Symbole haben sie dargestellt, das Fischsymbol, das Monogramm Christi, aber kein Bild - gerade so wenig wie sich die Juden ein Bild ihres Gottes gemacht haben;

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und unter den zehn Geboten sagt eines ausdrücklich: «Du sollst dir kein Bild machen von Gott, deinem Herrn!» Und siehe da - wir schreiten in die Sixtinische Kapelle hinein, in jene Kapelle, welche die bedeutendste der Christenheit ist, und finden dieses Gebot von Michelangelo überschrit­ten! Jene Höhe der künstlerischen Darstellung, die Michel­angelo erreicht hat, als er die Decke der Sixtinischen Ka­pelle malte und das Bild Gott-Vaters mehrmals sogar hingemalt hat - dieser höchste Aufschwung der christlichen Kunst hat nur erreicht werden können durch die Über­schreitung dieses Gebotes. Aber zwischen diese zwei Epo­chen hinein fiel jene Zeit, in welcher das alles erst vorberei­tet werden mußte, fiel die Zeit, die uns so recht anschaulich macht, wie wir wirklich nicht einen äußeren Vergleich ge­brauchen, nicht etwas, was eine bloße Analogie darstellt, wenn wir sagen: Die aufeinanderfolgenden Epochen der Menschheitsgeschichte wirken so, daß wirklich zwischen die «Tagzeiten» der Geschichte «Nachtzeiten» fallen, in denen gewisse Fähigkeiten der Menschheit wie in Schlafes-ruhe übergehen müssen, damit sie später gekräftigt wieder hervortreten können. Was in der griechischen Bildhauer-kunst geleistet worden ist, das mußte durch eine Epoche hindurchgehen, in welcher auch für die Kunst das Gebot galt: Du sollst dir kein Bild machen! Auch das Bilden mußte durchgehen durch eine «Schlafenszeit» - und wir haben dann die «Tageszeit», das Aufwachen, aber in an­derer Form, wieder in Michelangelo Aber während in der Natur sich alles in gleicher Weise wiederholt, der Tag dem Tage gleicht, die nächste Pflanze der vorhergehenden gleicht, ist es gerade im Menschheitsfortschritt das Charak­teristische, daß die Seelen, indem sie ihre Früchte aus einer Epoche in die nächste hinübertragen, zugleich einen Auf­stieg durchmachen, eine Metamorphose, eine Veränderung.

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Aber es muß durchgegangen werden durch eine Epoche der Ruhe menschlicher Fähigkeiten auf diesem oder einem an­deren Gebiete.

So sehen wir denn, wie in der Zwischenzeit, in der gleichsam die Kunst geruht hat, herausgetreten ist das christliche Ideal - nicht in einem konfessionellen Sinne soll das hier in Erwägung gezogen werden, sondern von einem Gesichtspunkt aus, der ganz interkonfessionell ist, den jeder zugeben muß, unabhängig von jeder Konfession - die Seelenstimmung der Innerlichkeit, der Verinnerlichung. Wie unendlich viel innerlicher ist das, was sich ausdrückt in der jugendlichen Mutter, die auf dem Schoß hält den verstorbenen Sohn, in jener Pietá-Gruppe, - wie unendlich viel innerlicher ist es schließlich als alles, was griechische Kunstwerke enthalten! Innerlicher ist es, und gebildet werden mußte es in einer Zeit, in welcher nicht mehr mit dem inneren Lebenssinn das Organische nachgeschaffen wurde, sondern wo die Seele sich verinnerlichen mußte, und abgelauscht werden mußten die Geheimnisse der Na­tur durch die äußeren Sinne.

Wie anders als die griechischen Bildhauer steht Michel­angelo da am Ausgangspunkte der neueren Zeit, in der Morgenröte der neueren materialistischen Zeit, wo die Sinne der Menschen hinausgerichtet wurden auf die äußere Natur. Es mußten die Menschenseelen durch eine Zeit hindurch-gehen, in welcher die Sinne auf das höchste ausgebildet, auf das höchste angespannt werden. Wir stehen noch darin­nen. Aber alles muß in der menschlichen Entwickelung ein Gegengewicht haben. So sehen wir Michelangelo auf der einen Seite als den Künstler, der seine Seele ausgießen muß in die Außenwelt, um der Natur seine Gestalten abzulau­schen. Damit er aber nicht nur das Äußerliche allein bilde, das, was die Sinne schauen, bildet er aus der fortströmenden

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Entwickelung heraus das, was der Menschheit zuge­flossen ist an innerer Vertiefung der Seele. Diese innere Vertiefung der Seele mußte Michelangelo mit äußeren Mitteln ausdrücken: in das, was er ablauschte der äußeren Natur, konnte er hineingießen unendliche Innerlichkeit der menschlichen Seele. Und so sehen wir daliegen den Leichnam des Christus Jesus auf dem Schoße der jugend­lichen Mutter, und wir glauben dem Steine anzusehen: Ja, dieser Leib ist ein schöner Menschenleib, so, wie die Natur ihn will; das konnte ihr Michelangelo ablauschen. Aber etwas anderes tritt uns noch entgegen, was uns gleichsam zwei Aspekte zeigt: Welcher Friede des Todes ist über die­sem Leib ausgegossen! Und während wir das Ganze er­blicken, das Antlitz der jugendlichen Mutter, die den er­wachsenen, bereits toten Christus auf dem Schoße hält

- und doch jung ist, so daß sie niemals in der äußeren rea­listischen Wirklichkeit die Mutter dieses Mannes sein könn­te, haben wir zugleich aus dem geformten Steine heraus das Gefühl: das, was da tot ist, das ist die Gewähr des ewigen Lebens der Menschenseele! Größte Innerlichkeit, höchste Geheimnisse, die hinter der Natur liegen, realistisch ausge­drückt mit den Mitteln der Natur, die Michelangelo wohl studiert hat!

Und wenn wir Michelangelo dann zurückkehren sehen von Rom nach Florenz, so erleben wir ein merkwürdiges Schauspiel. Ein alter Marmorblock liegt da. Ein Bildhauer hatte aus ihm etwas heraushauen wollen; es war ihm nicht gelungen. Michelangelo fällt die Aufgabe zu, daraus etwas zu machen. Er schafft gerade aus diesem Block, der für etwas anderes bestimmt gewesen war, in dieser Zeit den David. Wenn man das ins Auge faßt, und dann hinzu-nimmt, was er der äußeren Natur an Geheimnissen durch die äußeren Sinne abgelauscht hat, dann kann man jetzt

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verfolgen, wie Michelangelo eigentlich arbeitet, und wie er uns mit seiner Arbeit so recht zeigt, daß er doch mit einem Teile seines Gefühls hinüberblickt in Zeiten, die noch etwas herauftragen von einem inneren Wissen des Men­schen von gewissen Geheimnissen. Michelangelo steht auf der einen Seite schon durchaus am Ausgangspunkte der neueren Zeit. Aber er ist an diesem Ausgangspunkte des Zeitraumes, der alles der äußeren Sinnesbeobachtung ver­danken muß, nur dadurch so groß, daß er nun doch in sei­ner Seele noch etwas herübergetragen hat aus einem Mit­erleben älterer Epochen, das ihm möglich macht, innerlich noch etwas mitzufühlen von dem, was Goethe den «Geist der Körper», den «Geist der äußeren Natur» nennt.

Hierbei möchte ich auf etwas hinweisen, was zu den Dingen gehört, die heute viel zu wenig beachtet werden. Wenn man sich gerade durch Geisteswissenschaft einen ge­wissen Blick angeeignet hat auch für die Phantasie, und man geht - nicht einmal durch ein Marmorfeld, sondern nur durch irgend welche Felsmassen, dann hat man den mannigfaltigen Gesteinsbildungen gegenüber die Empfin­dung: das muß dies oder jenes werden. Man sieht schon dem Stein an, der einem entgegentritt, was er werden muß. Und nicht umsonst findet man so viele Erzählungen von verzauberten Rittern auf Rossen oder sonstwie unter der Bevölkerung solcher Gegenden; denn wenn da oder dort irgend ein Felsblock auf sonderbare Art aus dem Gestein herausragt, dann wird das Volk zum Plastiker und er­zählt, daß dort ein Ritter eine Untat begangen hat und dafür zu Stein geworden ist. Die plastische Phantasie wirkt dem Stein gegenüber in der Weise, daß man sich sagt: mit einem geringen mußt du dich umschaffen lassen zu dem, was als menschliche oder tierische Gestalt in der Natur lebt. Man merkt dadurch etwas von dem, was Goethe den «Geist

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der Natur» nennt. Die Mineralien sind nicht alle gleich; jeder Stoff fordert sein Besonderes. Der Stoff enthält ge­wisse Geheimnisse, die wir ihm ablauschen müssen. Und auf eine Seele wie diejenige Michelangelos wirkt ein Block, der vor ihm steht, in der Weise, daß er darangeht ihn zu bearbeiten, indem er sich nur für seine Gedanken ein Mo­dell macht. Das Modell hat aber keine andere Bedeutung, als daß es zunächst seine eigene Idee gibt. Das was er schafft, dazu gibt ihm die Intention im Grunde genommen der Stein. Er steht vor dem Stein - ich will etwas radikal schildern - und so wie der Stein ist, so sieht er ihm an:so muß die Hand liegen, so muß das Bein gestellt sein, sound nicht anders muß alles sein. Michelangelo ist außerdem ein Künst­ler, der nicht ein Stück von dem Stein verloren hat, das heißt unnötig abgehauen hat. Darum beginnt er am Steine ringsherum da, wo er die Hauptfront hat, und da, wo der menschliche Organismus seinen Hauptschwerpunkt hat, zunächst leise, gleichsam wie reliefartig zeichnend die Ober­fläche zu bearbeiten, so daß zunächst etwas dasteht wie eine Art Gespenst von dem, was werden soll. Dann beginnt erst die Arbeit mit dem Steh-Bohrer - den Lauf-Bohrer kannte Michelangelo noch nicht - und dann beginnt er erst heraus-zuschlagen weitere Vertiefungen. Dann beginnt erst die lau­fende Arbeit mit Spitzhammer und Meißel, und zuletzt ist der Eindruck da, daß der Block von selbst gegeben hat, nachdem weggeschafft worden war, was nicht dazu gehörte, was er aus sich selber geben konnte. Daher würde ein Künstler wie Michelangelo niemals in derselben Weise ir­gendein Motiv in Bronze oder in einem anderen Materiale geben, wie er es in Stein gibt. Was man als Ausdruck des Gesichtes im dichterischen, novellistischen Sinne vor sich hat, das gehört ja nicht zur plastischen Kunst. Zur Plastik gehört das, was ich eben zu charakterisieren versuchte:

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Enträtseln das, was im Steine verzaubert ist; aus dem Steine selbst das herauszuholen, was die Volksseele ahnt, wenn sie da oder dort, in diesem oder jenem Steine einen verzauber­ten Ritter oder dergleichen sieht. Um das herauszuholen, dazu mußte aber Michelangelo eben eine genaue Kenntnis haben von dem, was ihm die Anatomie geben konnte, weil er mit den äußeren Sinnen sich anpassen mußte dem Mate­rial, weil er nicht mehr haben konnte den inneren Lebens­sinn, der der griechischen Kunst noch eigen war. Und durch dieses sorgfältige Studium der Anatomie steht er am Aus­gangspunkte der neueren Zeit zur Natur und ebenso zur Kunst in demselben Verhältnis, zu welchem auch die Na­turwissenschaft geführt hat. Nicht umsonst ist der Todes­tag Michelangelos der Geburtstag Galileis, eines der Schöp­fer der modernen Naturwissenschaft. Wenn Michelangelo künstlerisch zusammenfaßt, was aus einer alten Zeit her-überkommt, aber es als Künstler durchdringt mit dem An­schauen seiner Zeit, so steht er zugleich als Künstler zu der Natur in einem Verhältnis, wie der moderne Naturfor­scher in seiner Art, nur auf dem Gebiete der Wissenschaft. Das ist der andere Gesichtspunkt, den man sich insbeson­dere bei seinem David vor Augen führen kann, weil es Michelangelo dabei zu tun hatte mit einem Block, der schon dalag und der für etwas ganz anderes bestimmt war, und dem er das Geheimnis abzulauschen hatte, was er sein sollte; dann ist der wunderbare David daraus hervorgegangen.

So sehen wir denn jenen Mann ganz hineingewachsen in die innerste Natur seiner Zeit, in das, wodurch seine Zeit sich anschließt an die vorhergehende und wiederum den Ausgangspunkt bildet für die nachfolgende. Was ich aus­einandergesetzt habe, ist das echt Michelangelo'sche Wesen. Daß er Madonnen macht, daß er diese oder jene christlichen Motive darstellt, das liegt in der ganzen Kultur; das ist

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ihm von außen gegeben - mehr vielleicht als irgend einem anderen Künstler. Was er mit seiner Seele in die Zeit hin­einbrachte, das ist das, was ich zu charakterisieren versuchte, und es zeigt sich dies noch an manchem anderen. Seine Welt der Kunst ist mit der Welt, in der wir leben, eins. Seine Kunstwerke stehen in demselben Raume drinnen, in dem wir selber stehen. Das ist geradezu das Leitmotiv im Mi­chelangelo'schen Schaffen. Was er tut, steht unter dem Ein-drucke dieses Leitmotivs. Man sehe sich Michelangelos Ma­donnen an, die Madonna mit dem Kinde. Das Kind ruht bei Madonnen-Darstellungen zumeist ganz klein auf dem Schoß der Mutter. Michelangelo geht in der Medici-Kapel­le, nachdem er diese Phase durchgemacht hat, dazu über, das Kind so groß darzustellen, daß es neben der Mutter steht, daß es ausschreiten kann mit seinen Füßen, weil er es auch hineinstellen will in den Raum, in die Welt, in der wir sind. Er schafft in dem Kinde ein gleiches Wesen mit uns in realem Sinn, daher muß er es herausheben aus der Ruhe, aus der inneren Abgeschlossenheit; er muß es in Be­wegung bringen, damit es, mit Ausnahme davon, daß es in Marmor dasteht oder im Bilde festgehalten ist, in genau derselben Welt lebt, in welcher wir leben. Und selbst, wenn wir später sehen, wie er die Sixtinische Kapelle ausmalt, diese wunderbare Decke, wo er die ganze vorchristliche Zeit mit der Weltschöpfung zusammen in einer grandiosen Weise zur Darstellung gebracht hat, wenn wir die alten Propheten und Sibyllen sehen, die an den Seiten ange­bracht sind, wenn wir das alles auf uns wirken lassen und uns dann fragen: Für was interessieren wir uns denn mehr, für dasjenige, was da ausgedrückt ist, oder für die Art, wie Michelangelo das gemacht hat? - dann hat man zuweilen das Gefühl, daß die Verkürzungen an diesem oder jenem Bein, diese oder jene Stellung des Körpers, die unmittelbar

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das zum Ausdruck bringt, was ich eben als den Nerv Michelangelo'scher Kunst darzustellen versuchte, einen noch mehr interessieren als alles übrige, was an Inhalt, an No­vellistik zum Ausdruck kommt, was man in der einen oder anderen Weise enträtseln kann.

Was Wunder dann, daß dieser Künstler sich die Aufgabe setzen wollte und von Papst Julius II. darin zunächst un­terstützt wurde, etwas zu schaffen, das in seiner ganzen Konfiguration mit dem unmittelbaren Leben der Zeit zu­sammenhängt. Nicht so zusammenhängt, wie Zeus, Hera, Apollo, auch selbst noch in der Form, wie es der Apollo von Belvedere zeigt, darinnen stehen in der griechischen Welt; die stehen noch so drinnen in der griechischen Welt, daß sie gleichsam einem anderen Raume angehören, daß sie aus einem anderen Raum heraus sich offenbaren; - nein, Michelangelo will ein Werk, wahrhaftig ein gigantisches Werk schaffen, das aber so herauswachsen soll aus der Zeit, daß sich gleichsam das ganze Geschehen der Zeit, das in­nere Werden der Zeit, der Grundcharakter und die Ur­natur dieser seiner Zeit als Strömung in dieses Werk hin­einergießen. Vor Michelangelo und vor zahlreichen seiner Zeitgenossen stand Papst Julius II. da wie die mächtige Verkörperung der Zeit, dieser Papst, der sich selbst gern mit Paulus verglich. Wie der mächtige Gebieter der Zeit, so kam er sich selber vor, so stand er vor seiner Zeit. Das was die Zeit bewegte, lebte sich in seiner Seele, in seinen Taten aus. Wenn eine Seele so vor ihrer Zeit steht, hat die Seele Beziehungen zu den Gewalten, die in die Seelen hereinspie­len. Das alles, was den innersten Nerv der Zeit repräsen-tierte, sollte zusammenströmen und wie versteinert erhal­ten bleiben in diesem Werke, so daß der Kulturstrom, der in Papst Julius II. zum Ausdruck kam, erhalten bleiben sollte im Stein, in dem gigantischen «Papst-Julius-Denkmal»,

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das zu schaffen Michelangelo sich vorgenommen hatte und an dem er nicht nur das Bildnis des Papstes Julius II. anbringen wollte, sondern auch Moses, Paulus und zahl­reiche andere Gestalten, die alle die Kraft darstellen konn­ten, die hereinwirkte in einer so imposanten, kraftvollen Persönlichkeit in die Zeit, die Zeit im Innersten bewegend. Wie die Kräfte selbst wirkten, wie sie durch eine Seele zum Ausdruck kamen, so sollten sie hineinergossen werden in den Stein. Der Stein sollte forttragen, was da lebendig war und was verewigt werden sollte, in die folgenden Zeiten, damit die Geschlechter, die da kommen werden, hinblicken kön­nen zu diesem Denkmal und in ihm unmittelbar das große irdische Schriftzeichen haben für das Weiterströmen der Kulturzeit des Michelangelo Eine wahrhaft gigantische Arbeit! Was Wunder, daß die Seele Michelangelos, die sich so etwas vornehmen durfte, den Zeitgenossen so vorkam, daß sie ihn «terribile» nannten und gefürchtet haben. Er hatte etwas in sich, was unbegreiflich war.

Papst Julius II. hatte mit ihm den Plan zu diesem Grab-denkmal besprochen. 1505 ging Michelangelo wieder nach Rom. Der Papst aber hatte sich von allerlei Leuten von dem Plan abraten lassen, weil man ihm zum Beispiel sagte, daß es Unglück binge, wenn man bei Lebzeiten an seinem Grabdenkmal arbeiten ließe und dergleichen mehr. Neid und Eifersüchteleien waren dabei im Spiel, und besonders der Baumeister der Peterskirche, Bramante, lag dem Papst in den Ohren. Und so kam es, daß die Arbeit des Denkmals zwar Michelangelo übertragen wurde, daß er aber hinge­halten wurde. Ja, er mußte das Bittere erleben, daß er ein­mal beim Papst gar nicht vorgelassen wurde, als er eines Tages sich Auskunft holen wollte. Deshalb floh er aus Rom und kam nur durch besondere Versprechungen seitens des Papstes wieder zurück.

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Ich kann nicht auf alles einzelne eingehen, aber auf das, was bedeutsam ist in bezug auf sein Zeitwirken, möchte ich eingehen. An vielen Gestalten des Denkmals hat Michel­angelo gearbeitet. Geblieben sind zum Beispiel Sklaven-figuren, vor allem aber der großartige Moses, der zu diesem Denkmal gehören sollte. Aber dieses Denkmal ist nie so zustande gekommen, wie es zustandekommen sollte, nur der klägliche Rest, der um Moses herum in Rom in einer Kirche aufgestellt ist, so daß man auch wegen der Klein­heit des Raumes die ganze Bedeutung des Moses nicht überschauen kann.

Als nun Michelangelo in Rom war und man sich gleich­sam schämte, daß man ihm nicht die Möglichkeit gab, die Arbeit an dem Denkmal fortzusetzen, da suchte man ihm gleichsam eine Abschlagszahlung zu geben. Michelangelo hatte sich früher mehrfach auch in der Malerei versucht und im Grunde Großes geleistet; aber er fühlte sich niemals eigentlich als Maler. Nun suchte man ihn damit zu vertrö­sten, daß man ihm die Ausmalung der Decke der Sixti­nischen Kapelle übertrug. Ohne eigentlich nach seinen eige­nen Begriffen dafür genügend vorbereitet zu sein, machte er sich an diese Arbeit. Vier Jahre, von 1508-1512, hat er daran gearbeitet. Man braucht sich nur zu erinnern, was er aus seiner tiefen gepreßten Seele heraus über diese Zeit zu berichten hatte - während er da oben an der Decke arbei­tete, beständig den Kopf so weit zurückgewendet, daß er ihn hinterher, selbst monatelang, immer noch in einer schie­fen Stellung tragen mußte; er konnte den Kopf nicht wie­der gerade halten, und die Augenrichtung hatte sich so aus­gebildet, daß er nicht anders als in einer schiefen Stellung lesen konnte. Dabei wurde er mit den Zahlungen hingehal­ten. Dazu kam noch, daß er jeden Pfennig, den er erübrigen konnte, nach Hause schicken mußte zu seiner bedürftigen

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Familie. Es ist etwas ungeheuer Bedrückendes, hinzuschau­en auf die Art und Weise, wie Michelangelo damals in die­sen vier Jahren eines der größten Kunstwerke aller Zeiten schuf - denn das ist die Decke der Sixtinischen Kapelle. Den größten Vorwurf, den man bei der damaligen Ent­wickelung sich stellen konnte, hat Michelangelo sich gestellt:

darzustellen die Vorgänge der Menschheitsentwickelung von der Weltschöpfung an bis zu dem, was zuletzt gipfelt in dem Mysterium von Golgatha, in dem Erscheinen des Christus auf Erden. Und Michelangelo gelang es, das, was sein ganzes Arbeiten durchdrang, sein Prinzip - aber nicht in abstrakten Gedanken ergriffenes Prinzip - jetzt aus der Plastik in die Malerei zu übertragen. Wahrhaftig, wenn man den Blick zunächst hinaufwendet zu der Decke, wie dieses mächtige Gebilde herauswächst, von dem wir glau­ben, es wächst aus den Wolkenmassen heraus, die erfüllt sind mit Engelsgestalten, und inmitten durch den noch chaotischen Raum sausend das, was man Gott-Vater nennt

- wenn man zu dem aufblickt, dann hat man wirklich das Gefühl: Ja, durch den noch chaotischen Raum saust der Gott-Vater, durch sein Wort herauszaubernd aus dem chaotischen Raume die Welt. Aber dieser Raum und diese Figur, selbst alle Einzelheiten, bis zu den wehenden Haa­ren, bis zu Blick und Gebärde hin, das steht alles in dersel­ben Welt, in demselben Raume drinnen, in den wir hinein­gestellt sind. Michelangelo stellt uns gleichsam selbst immer in die Welt hinein, in die er seine Schöpfungen hineinstellt. Wir leben mit diesem Gott-Vater, und wir fühlen sein Schöpferwort die Welt durchwellen und durdiweben.

Wie die Traditionen alter Weisheit der Menschheit in Michelangelo noch nadiklingen, das tritt uns besonders ent­gegen, wenn wir jenes Bild, das die Erschaffung Adams darstellt, anblicken. Sie geht ja so vor sich, daß der den

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Weltenraum durchsausende Gott-Vater die Hand aus-streckt, und diese Hand sich fast berührt mit der Hand des noch von Schlaf umfangenen Adam; wir sehen den schlafen­den Adam, und den Schlaf gleichsam entweichend durch den Strahl, der durch den Zeigefinger des Gottes in den Zeige­finger des Adam geht, und aufwachend den Adam aus dem Weltenschlaf zum Menschendasein. Und schauen wir zurück zum Gott-Vater, so sehen wir mit ihm zugleich, eingehüllt in sein Gewand und in Wolken - so, daß selbst das Ge­wand noch getragen ist von den Mächten, die auch den Raum ordnen - Engelsgestalten, aber eine Gestalt heraus-ragend, eine bis zur Jugendlichkeit erwachsene weibliche Gestalt, wach, neugierig hinblickend zu dem eben erwa­chenden Adam. Wenn wir durch die Geisteswissenschaft prüfen, wie die weibliche und männliche Seelenwesenheit zueinander stehen, wenn wir wissen, wie die weibliche Seelenwesenheit in ihrem Ursprunge in älteren Zeiten ge­sucht werden muß als die männliche Seelenwesenheit, dann begreifen wir, was Michelangelo darstellen wollte in dieser Tradition, die er malt. Der Bibel gemäß ist Adam zuerst da; aus ihm heraus wird Eva genommen. Dem Adam Michelangelos wird Eva aus Vorzeiten zugebracht; Gott-Vater birgt sie in seinem Gewande. Tiefer als die Tradition der Bibel schaut Michelangelo in die Geheimnisse der Welt hinein. Und so geht es dann weiter: Wir sehen den Sün­denfall, die Austreibung aus dem Paradiese, bis zu Noah's Flut.

Und dann die Seitenbilder! Ich kann alles nur ganz skizzenhaft anführen: Auf der einen Seite die Bilder der Propheten> auf der anderen Seite diejenigen der Sibyllen; beides, Propheten und Sibyllen, so erscheinend, als ob sie ankündigen wollten, was der Menschheit kommen soll: das Mysterium von Golgatha, den Christus Jesus. Den Heiden

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soll er verkündet werden aus den Seelen der Sibyllen her­aus, den Juden aus den Seelen der Propheten heraus. Aber nicht rein novellistisch gedacht ist das, was Michelangelo hier charakterisiert, sondern rein künstlerisch hat er diese jüdischen Propheten gestaltet. Wenn wir sie da sitzen sehen, den einen bedächtig ü ber ein Buch gebeugt, den andern nach­denklich, einen vielleicht auch eifernd - alle deuten sie auf eines hin, was erst ganz klar wird, wenn wir den Blick zu den Sibyllen wenden. Diese Sibyllen - eigentümliche Ge­stalten sind sie. Das gegenwärtige Christentum will nicht mehr viel wissen von diesen heidnischen Vorherverkün­digern des Christus Jesus. Was sind das für Gestalten?

Im sechsten Jahrhundert vor der christlichen Zeitrech­nung treten die griechischen Philosophen auf. Für die Zei­ten vorher können nur Phantasten, wie etwa Deußen, von dem Vorhandensein einer Philosophie reden. In Ionien beginnt sie. Da versucht der menschliche Gedanke zum ersten Mal die Welt durch sich selbst zu erfassen. Da findet jenes Reflektieren des Menschen auf den Gedanken hin statt, das dann in dem großen Plato und in Aristoteles eine so wunderbare Ausgestaltung erfahren hat. Wie ein Schatten dieses, den Gedanken zur höchsten Klarheit brin­genden Geistes erscheinen die Sibyllen. Die erste tritt in Ionien auf. Unterbewußte, schauerliche Seelenkräfte, wir würden heute sagen mediale Seelenkräfte strömen in ihnen herauf; in manchmal chaotischer Weise kleiden sie das, was ihnen gegeben wird, in Worte. Manches wird durch sie chaotisch, manches auch weisheitsvoll der Menschheit ver­kündigt. Zumeist sind es orakelhafte Aussprüche, die von den Sibyllen den Menschen gesagt werden, die so oder so gedeutet werden können; oft nicht viel Gescheiteres, als bei modernen Medien. Aber dazwischen kommt bei ihnen etwas anderes: Hindeutungen auf das Christus-Ereignis, die

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so tief auf der einen Seite bei den Sibyllen genommen wer­den müssen, wie von einem anderen Gesichtspunkte die Hinweise der jüdischen Propheten. Aber wie waren diese Hindeutungen zustandegekommen? So, daß bei den Sibyl­len aus den Untergründen der Seele, aus dem, was nicht im menschlichen Selbstbewußtsein durch Nachdenken in Klar­heit gewonnen wird, die Prophezeiungen erflossen - gleich­sam medial, orakelhaft, so daß die Sibyllen selbst es nicht kontrollieren konnten, und die, welche diese Prophezei­ungen hinnahmen, es auch nicht kontrollieren wollten. So kam es heraus, - aber immer zwischen manchem Chao­tischen und manchen Torheiten der Hinweis auf jenes be­deutsame Ereignis, das die menschheitliche Entwickelung in zwei Teile spaltet. Wenn man geisteswissenschaftlich prüft, woher die Kräfte dieser Sibyllen kommen, so muß man sagen: sie kommen aus dem, was man die geistigen Kräfte der Erde selbst nennen möchte, die mehr mit den Unter­gründen der Menschenseele zusammenhängen. Wenn Wind und Wetter an uns heranspielen, so fühlt der, welcher das in Realität empfinden kann, was Goethe den Geist der Natur nennt; er fühlt, wie in allen Elementen Geist durch die Welt wallt. Ergriffen von diesem Geiste niedrigster Art, der aber in sich trug die Kraft, welche hintendierte zu der Erscheinung des Christus, waren die Sibyllen.

Die Propheten bekämpfen diesen Geist. Sie suchten, was sie gewinnen wollten, nur durch das Nachdenken, durch das klare Ich zu gewinnen. Sie wiesen alles Unterbewußte, Sibyllenhafte ab; und wenn sie die höchsten Dinge prophe­zeien wollten, so mußte es leben in ihrem vollen Bewußt­sein. Wie Nordpol und Südpol stehen sich Sibyllen und Propheten gegenüber: die Sibyllen von dem Erdengeist be­sessen - die Propheten ergriffen von dem kosmischen Geist, der sich nicht durch das unterbewußte Erleben, sondern

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durch das Vollbewußte der Seele auslebt. So standen sich Propheten und Sibyllen gegenüber, was sich dann dahin zusammendrängt, daß diejenigen, welche das Leben des Christus mitteilten, einen solchen Wert darauf legten, daß er bei denen, durch welche solche sibyllinischen Kräfte ge­wirkt haben, diese dämonischen Kräfte aus trieb. Das ist die Nachwirkung der Kraft der Propheten; auf das wollten sie sich stützen, was über dem Sibyllenhaften liegt. Des-halb legten auch diejenigen, die das Leben des Christus Je­sus mitteilten, solchen Wert darauf, daß er die Kräfte der Sibyllen austreibt als dämonische Gewalten.

So steht, den Christus-Impuls vorherverkündigend, auf der einen Seite das Prophetentum, auf der anderen Seite das Sibyllentum vor uns. Das ist das Inhaltliche, das No­vellistische der Sache. Was macht Michelangelo daraus? Schauen wir uns die Sibyllen an, zunächst die persische Si­bylle. Ein Buch sich unmittelbar vor das Gesicht haltend, ist diese persische Sibylle ganz von den elementarischen Kräften, von den niedersten spirituellen Kräften besessen, um aus den Mitteilungen dieses Buches die Zukunft vorher zu sagen. Dann die erythräische Sibylle: sie steht so vor uns, daß wir ihrem Antlitze ansehen, wie in ihr die Kräfte leben, die mit der geistigen Entwickelung zusammenhängen, die in ihr aber die unterbewußten, nicht die vollbewußten Seelenkräfte ergreifen. Ein Knabe über ihr zündet mit einer Fackel eine Lampe an; in jeder ihrer Bewegungen drückt sich das Elementarische an ihr aus. Die delphische Sibylle: wir sehen sie, wie sie nach einer Schriftrolle greift; in ihrem Antlitz drückt sich aus, elementarisdie Kraft. Wir sehen sie verwoben mit dem Element der Erde, der Wind fegt über sie hin; wir sehen es an ihren flatternden Haaren, an ihrem flatternden Gewande. Michelangelo malt sie so, daß wir sie unmittelbar mit den elementaren Kräften der

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Erde verwoben sehen. Wir sehen, wie ihre Seele ergriffen wird von den Kräften der Erde mit medialer Gewalt, und daraus schöpft sie ihre Prophezeiungen, ihre Prophetie. So stellt Michelangelo auch die Sibyllen umittelbar in das Erdendasein herein, in dem wir selbst leben, das alles mit äußeren Formen ausdrückend. Sehen Sie die cumäische Si­bylle, wie sie mit dem halbgeöffneten Munde nur lallt. Dann die libysche Sibylle. Da haben wir die ganze heid­nische Vorherverkündigung des Christus-Impulses durch die Sibyllen.

Jetzt wenden wir uns zu den Propheten. Ihre Seelen sind tief ergriffen: wir sehen es an den ernsten Antlitzen, an dem Zerwühlten, das manche haben, an den Bewegun­gen, an der Art, wie mancher liest, so daß wir glauben, er werde nie mehr abwenden sein Auge von dem, was er liest. Wir sehen sie ergriffen von den prophetischen Wahrheiten, die durch die Ewigkeiten zücken. Man kann sich im künst­lerischen Ausdruck nichts Größeres denken, was durch die äußere Form so unmittelbar zum Ausdruck bringt, was ge­wollt ist, wie diese Gegenüberstellung der Propheten und Sibyllen - beide mit derselben Notwendigkeit dargestellt, so daß wir unmittelbar aus dem Dargestellten herauslesen können, was gemeint ist. Dann brauchen wir keinen Kom­mentar, keine Bibel und nichts anderes: aus dem, was Mi­chelangelo dort an die Decke gemalt hat, können wir her­auslesen, wie es eine Vorherverkündigung des Christus-Ereignisses darstellt. - Und man könnte sagen, die ganze vordiristliche Geschichte sehen wir dann in die Wand-zwickel hineingemalt, von Bild zu Bild: die Vorfahren der Maria, grandios variiert, trotzdem es eine große Zahl von Bildern ist, überall den Charakter der Epoche aus­drückend in dem einen oder anderen Vorfahren des Chri­stus Jesus.

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Wie ist der Christus in die Welt gekommen? Die größte Antwort darauf gibt die Decke der Sixtinischen Kapelle! und wie ist die Welt geworden, damit in ihr das hat ge­schehen können, was sich als Menschheitsgeschichte bis zum Christentum hin entwickelt hat? Darauf gibt die Antwort, die im Bilde gegeben werden kann, als ein Größtes die Decke der Sixtinischen Kapelle!

Es glaubte Michelangelo, wenigstens nachdem er dieses Werk zu Ende geführt hatte, nun an dem Julius-Denkmal weiterarbeiten zu können. Es wurde viele Jahre wieder nichts. Er wurde hingehalten. Von den mancherlei Werken, die er jetzt in der Zwischenzeit schuf, ist es nicht nötig, daß wir im einzelnen davon sprechen. Aber wichtig ist folgen­des. Als man ihm in Rom durch die verschiedenen Ver­wicklungen gar nicht mehr die Möglichkeit geben konnte, das Julius-Denkmal weiterzuführen, da übertrug man ihm wiederum eine malerische Aufgabe. Er sollte die beiden Schmalwände der Sixtinischen Kapelle ausmalen. Es kam nur zur Ausmalung der Rückwand: das das «Jüngste Gericht» sollte dargestellt werden. Wenn wir es heute in Rom an Ort und Stelle anschauen - es ist leichter anzuschauen, dieses Jüngste Gericht, als die Decke, denn bei dieser muß man sich sozusagen am Boden auf den Rücken legen und mit dem Opernglas hinaufschauen -, es ist leichter anzuschauen; aber lange müssen wir es anschauen, um diese komplizierte Komposition zu enträtseln. Allerdings ist das, was Michelangelo dort an die Wand gemalt hat, heute im Grunde genommen nicht mehr vorhanden. Denn es ist nicht nur verräuchert von den vielen Altarkerzen, die beim Meßopfer gebrannt haben in der Kapelle, so daß es längst nicht mehr die ursprüngliche Frische hat, sondern dieses gewaltige Bild wurde noch zu seinen Lebzeiten, weil er zu viele Gestalten ohne Gewänder gemalt hatte, von Künst-

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lern minderen Ranges so maltraitiert und übermalt, daß die einzelnen Gestalten «angezogen» wurden; es wurde übermalt in den abscheulichsten Farbenschattierungen und Farbenmischungen. Bis in dieses Bild hinein aber kann man verfolgen, wie Michelangelo als der Künstler, der über­gehen mußte zur Epoche der Realistik, wo die Gestalten, die der Künstler schafft, in demselben Raume stehen wie wir, wie Michelangelo zugleich mit dieser seiner Zeitepoche verbunden hat das, was herübergetragen werden mußte aus der griechischen Zeit. Wenn man in dem «Jüngsten Gericht» genau anschaut den Christus als Weltenrichter, so erin­nert er zum Teil an Jupiter, zum Teil an Apollo. Herman Grimm, der von nächster Nähe aus den Kopf dieser Figur zeichnen konnte, hat immer wieder betonen müssen, daß er sehr viel Ähnlichkeit hat mit dem Kopf des Apoll von Belvedere. Wir müssen nur daran denken, daß, als Michel­angelo im Beginne des sechzehnten Jahrhunderts nach Rom kam, die Laokoon-Gruppe ausgegraben wurde, und der Herkules-Torso, und daß diese bedeutenden Überbleibsel der Antike auf ihn gewirkt haben, - daß er dies aber durchdrungen hat mit dem, was sich ihm als sein schöpfe­risches Prinzip ergeben hatte.

Und nun sehen wir im «Jüngsten Gericht» alles, was die damalige Zeit gefühlt hat in bezug auf das Schicksal der Menschenseelen am Erdenende, das, was man damals das Schicksal der Seligen und der Verdammten nannte, in groß­artiger Weise wiederum auf dem Bilde Michelangelos aus dem Raum hinauswachsend. Man kann das Bild gleichsam erst blinzelnd ansehen: man sieht dann Wolkengebilde, die so natürlich sind wie die natürlichen Wolkenbildungen. Und wenn man dann genauer hinschaut, dann sieht man, wie naturgemäß herauswadisend aus den Wolkengebilden, die Christusgestalt, die Gestalten der posaunenden Engel,

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die Märtyrer, und alles das, was zum Teil in die Seligkeit geführt, zum Teil in die Hölle gestoßen wird; und man sieht dann, wie das alles herauswächst - wieder wie naturgemäß - aus der Welt, die wir kennen. So läßt Michelan­gelo gerade in diesem wunderbaren Bilde aus der Welt, die uns bekannt ist, herauswachsen das Geheimnisvollste, was er malen will: das tiefverborgene Schicksal der Menschenseele - läßt es herauswachsen aus dem, was wir kennen, was die Sinne zeigen.

So stand Michelangelo ganz, aber wirklich ganz in seiner Zeit drinnen. Und diejenigen der Zuhörer, die sich erin­nern, wie ich im vorigen Winter Leonardo da Vinci und Raffael darzustellen versuchte, sie werden bemerkt haben, daß ich in einem ganz anderen Tone, gleichsam mit einem ganz anderen «Wie» von Leonardo da Vinci und Raffael gesprochen habe, als ich heute versuchte von Michelangelo zu sprechen. Bei Michelangelo sehen wir, wie er ganz per­sönlich mit dem, was ich als sein Zeitprinzip charakterisiert habe, verwachsen ist. Michelangelo wird ein alter Mann, erreichte ein hohes Alter von nahezu neunzig Jahren; 1564 stirbt er. Er gelangte zu seinen Schöpfungen so, daß wir sagen können: Alle Lebensalter tragen in diese Schöpfun­gen das hinein, was der Mensch den verschiedenen Lebens-altern entringen kann. Seine Persönlichkeit ist innig ver­wachsen mit dem, was er der Welt zu geben hat. Wie an­ders bei Raffael! Raffael stirbt fast in der Mitte der drei­ßiger Jahre, in demjenigen Menschenalter, wo wir - und insbesondere der Künstler erst das gewinnen kann, was ihm das eigene Gepräge gibt. So steht Raffael so vor uns, daß nichts Persönliches in seine Werke einfließt; alles er­scheint bei ihm wie eine Offenbarung überirdischer Mächte. Jmmer steht man wie vor einer überirdischen Offenbarung bei Raffael, während bei Michelangelo alles ganz persönlich

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geworden ist. Michelangelo tritt uns so entgegen wie der Gegensatz zu Raffael: Raffael ganz unpersönlich - Michel­angelo ganz persönlich. Wer immer alles von irgendeiner Schablone aus beurteilen will, wie moderne Künstler es gerade oftmals tun, der kann nicht eingehen auf die beson­dere Eigenart des einen oder des anderen; er wird den einen oder anderen vorziehen, während doch beide - und auch der dritte, Leonardo - jeder mit seinem eigenen Maßstabe gemessen werden muß. Wie aber Michelangelo ein beson­deres Künstlerisches, welches der Ausdruck des Künstle­rischen seiner Zeit ist, seinen Schöpfungen einprägte, gleich­gültig, ob plastisch oder malerisch, das zeigt gerade, daß in diesem eigenartigen Sichhineinleben in seine Zeit, wie es uns bei Michelangelo entgegentritt, das Wesentliche zu suchen ist. Daher das Umfassende seiner Werke, so daß er das, was in ihm lebt, auch wirklich universell zum Aus­druck bringen kann.

Es ist noch etwas vorhanden von Michelangelo aus den letzten Jahren - ich habe ja hier nur seine Geistesentwicke­lung im großen charakterisieren können, nicht alle seine Werke nennen können - da ist zunächst ein kleines Modell, das dann vergrößert worden ist als Holzmodell, von der Kuppel der Peterskirche, jenes Wunderwerkes der künst­lerischen Mechanik. Hier, in der Architektur, war für Mi­chelangelo der Raum unmittelbar Problem. Er hat ja nur noch erlebt, daß der gleichsam zylindrische Teil, den man die «Trommel» nennt, sich erhob, nicht mehr die Voll­endung der Kuppel. Aber er hat sie noch im Modell dargestellt. Sie sollte zum Ausdruck bringen, was un­mittelbar architektonisch das Geheimnis des Raumes aus­drückt. Sie sollte in natürlicher Weise abschließen den Raum, in dem sich eine gläubige Menge aufhalten kann, so daß sie abgeschlossen in dem Raume leben und atmen kann, in

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dem Kunstwerke leben und atmen, wie sie eben von Michel­angelo gemacht worden sind. Sein Raumgefühl, sein Hin-eintragen des Künstlerischen in dieselbe Welt, in der wir leben, brachte ihn dazu, diese wunderbare architektonische Mechanik des Raumes auszudenken. Die heutige Gestalt der Kuppel der Peterskirdie geht ja im wesentlichen auf Michelangelo zurück.

So sehen wir in Michelangelo einen Geist vor uns stehen, der wie mit reifer Seele hereintritt in die Welt des physi­schen Daseins, der diese reife Seele ganz dazu verwendet, um die Menschheitsentwickelung ein Stückchen vorwärts zu bringen, zunächst auf künstlerischem Gebiete. Was das bedeutet, es kann uns ganz besonders bei Michelangelo vor die Seele treten, bei Michelangelo, der, trotzdem er ein Größtes als Künstler geleistet hat, ein Leben führte, das voll war von Gründen zur Hypochondrie, zum Suchen nach Einsamkeit, zur Unzufriedenheit mit der Welt und dem Dasein. Und wenn man auf sich wirken läßt das, was ich gleichsam nur stammelnd habe andeuten können über die Bedeutung Michelangelos, und es vergleicht mit Worten, die Michelangelo wohl in den letzten Tagen seines Lebens hin­geschrieben haben muß über die Art, wie er sich mit seiner Seele im Menschenleben drinnen fühlte, mit dieser seiner Seele, die so Bedeutungsvolles aus geistigen Welten der Welt des Raumes und des Stoffes einzuprägen wußte, da be-kommt man so recht ein Gefühl von der Beziehung der Menschenseele zur Umgebung - und namentlich bei einer so großen Seele wie der Michelangelos zu ihrer Zeit. Er stand in seiner Zeit darinnen, aber er stand darinnen in dem Großen seiner Zeit. Als Mensch wurde er sogar schreck­lich gefunden. Papst Leo X. traute sich oft nicht, ihn kom­men zu lassen; er fürchtete ihn! So wirkte die Größe seiner Seele auf Leute, die wahrhaftig nicht furchtvoll angelegt

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waren. Aber verstanden in bezug auf sein Inneres wurde er nicht. Will man sich die Seele Michelangelos erklären, so muß man sie sehen im Zusammenhange mit seiner Zeit, mit dem Großen seiner Zeit. Die Seele selbst aber, zurückblickend auf ihr Leben, sprach die folgenden Worte, aus denen wir zugleich sehen können, wie wahr in der Seele Michelangelos doch alles war, was als das Große des christlichen Impulses in seine Schöpfungen eingegangen ist. Mit diesem Großen des christlichen Impulses fühlte er sich so einig, wie man sich nur damals, in seiner Zeit, einig fühlen konnte, in einer Zeit, die noch zusammenhing mit der früheren und die zugleich die Morgenröte einer späteren Zeit war. Man braucht nur das, was uns aus dem «Jüngsten Gericht» trotz aller Verderbnis so grandios anspricht, in München neben das gewiß bedeut­same Werk des großen Peter Cornelius zu stellen, vor das in den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts ent­standene «Jüngste Gericht» in der Ludwigskirche, und man wird das Abstrakte, das Blasse, das uns nicht Ergreifende dieses Bildes nicht zusammenstellen können mit dem, was uns von Michelangelo aus seinem «Jüngsten Gericht» an­spricht. Peter Cornelius war ein frommer Mann, ein im Verhältnis zum Christus-Impulse so frommer Mann, wie es ein Mensch im neunzehnten Jahrhundert eben sein konnte. Michelangelo lebte in der Zeit, in der die alten christlichen Impulse in bezug auf ihren Inhalt in ihrer Größe auf seine Seele noch wirken konnten, und er bildete dann aus ihnen heraus gerade das, was in der Form, im künstlerischen Wie schon ganz der Zeit angehört, in der wir selbst drinnen ste­hen. Das erzeugte in ihm die Stimmung jenes Gedichtes, das uns zeigt, wie wir uns zu ihm stellen müssen und ihn als Mensch auf uns wirken lassen müssen - jene Strophen, die wohl in den letzten Tagen seines Lebens entstanden sein mögen:

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Im Hafen lieg ich, den wir all' erreichen,

Gebrechlich war die Barke, die mich trug,

Sturmvoll die Fahrt, doch jetzt gilt es, im Buch

Des Lebens meine Rechnung auszugleichen.

Einst war die Kunst mein Glück, berauschend tränkte

Ihr Nektar mich, der so verlockend schäumte,

Idol und Göttin war sie, und ich träumte,

Bis ich erwachend seh, was sie mir schenkte!

Zwiefach wälzt sich Vernichtung auf mich zu;

Der Tod, der jetzt mich fortnimmt, ohn' Erbarmen,

Und nach ihm, jener ew'ge Tod voll Schrecken!

Marmor und Farben geben keine Ruh,

Nur Eins gibt Trost: zu schaun nach jenen Armen,

Die sich vom Kreuze uns entgegenstrecken.

Michelangelo war auch ein großer Dichter. Auch was von seinen Dichtungen auf uns gekommen ist, zeigt denselben Geist, den wir in seinen Bildwerken und in seinen Male­reien finden können. Und so fühlte er am Rande seines Le­bens! Und doch sehen wir aus diesem Gedichte, was in seiner Seele lebte und leben mußte, damit es solche Form anneh­men konnte, wie sie uns so sprechend von dem größten Ge­heimnis der Welt erzählt, etwa in den Propheten und Sibyl­len, in der Weltschöpfung, im Jüngsten Gericht, im David, im Moses und in der Pietá

Die letzten drei Zeilen des eben vorgelesenen Sonettes zeigen, daß doch etwas war in ihm, was nicht fertig wurde mit dem Weltenprozeß der Menschheit; und das war im Grunde genommen zeitlebens in ihm. Denn er steht, man möchte sagen, wie eine Zeiterscheinung, noch im Alten und schon im Neuen. Das zeigt uns auch ganz besonders jenes Werk, das er dann wiederum unter dem Einflusse eines späteren

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Papstes in Florenz ausgeführt hat: die Mediceer-Grä­ber, das man ihm auch wieder übertrug, um ihn zu vertrö­sten für ein größ eres Werk, namentlich auch die Fortsetzung der Arbeit an dem Denkmal Julius II. Für zwei Mediceer, Giuliano und Lorenzo, sollte er Grabdenkmäler errichten. Nicht nur daß diese Kapelle, in der sich die beiden Grab-denkmäler befinden, in den beiden Bildwerken - ursprüng­lich hätten es vier sein sollen - uns ganz den Michelangelo zeigt, wie wir ihn heute kennen gelernt haben, in der einen Gestalt alles sinnend, in der anderen alles tatkräftiges Wol­len und Würde. Aber wiederum so, daß wir das Gefühl haben: jeden Augenblick könnten die beiden Gestalten auf­stehen und handeln, indem sie das ausführen, was Michel­angelo in sie hineingelegt hat. Aber noch etwas anderes sehen wir in dieser Kapelle: jene vier Gestalten, zu zwei und zwei angeordnet, die man nennt «Tag» und «Nacht», «Morgenröte» und «Abenddämmerung». Ich habe sie mir oft angesehen, immer und immer wieder. Sie gehören zu demjenigen, was ich aus einer inneren geistigen Verpflich­tung heraus mir immer am längsten angesehen habe, wenn es mir vergönnt war, in Florenz zu sein. Und ich kann nicht anders, mag das der eine oder andere noch so phantastisch finden, ich kann in diesen Gestalten nicht einfach kraftlose und saftlose Allegorien sehen. Ich versuchte mit allen Mit­teln, welche die Geisteswissenschaft an die Hand gibt, dar­über nachzudenken: Wenn man bei der Menschenwesenheit davon überzeugt ist, daß in der Nacht dasjenige, was man in der Geisteswissenschaft Ich und astralischen Leib des Menschen nennt, herausgeht aus dem physischen Leib und aetherischen Leib, und der aetherische Leib zurückbleibt und kraftvoll wirkend den physischen Leib durchdringt -wie kann man das darstellen, wie muß man die Gebärde dieses Aetherleibes wählen, damit diese Wahrheit, die gerade

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durch die Geisteswissenschaft hervortritt, auch äußer­lich plastisch dargestellt werde? Wie muß man den schla­fenden Menschen darstellen, wenn man ihn so recht im Sinne der geisteswissenschaftlichen Darstellung fühlte? Nun, so muß man ihn darstellen, wie Michelangelo die «Nacht» dar­gestellt hat! Realität, aber im geistigen Sinne Realität, nicht eine Allegorie oder ein Symbol der Nacht, sondern der wirk­liche schlafende Mensch, wie er durch die Geistesforschung verstanden wird, liegt in dieser Frauengestalt vor uns, bis in die Gebärde der Hand, der Arme und des Beines. Der Mann, der so sehr die Gestalten seiner Kunstwerke in den­selben Raum hineinzustellen wußte, in dem wir selbst ste­hen, er wußte auch, was es für eine Bedeutung im Raume hat, wenn das Geistig-Seelische des Menschen das Körper-lich-Leibliche verlassen hat, dieses letztere aber noch belebt ist. Und wenn ich untersuche, wie sich die einzelnen Glieder des Menschen verhalten, und dann die anderen Gestalten ansehe, so sehe ich, wie sie sich decken mit dem, was ich hier einmal «geistige Chemie» genannt habe, wie ich diese gei­stige Chemie auseinandergesetzt habe; so stehen sie in die­ser Schöpfung Michelangelos vor mir. Geistiger Realismus im höchsten Maße!

Auch dem, der auf dem Boden der Geisteswissenschaft im engeren Sinne steht, der ersehnen möchte, daß der Kul­tur der Menschheit diese geisteswissenschaftlichen Wahrhei­ten eingeprägt werden, auch dem steht Michelangelo noch nahe, weil er am Ausgangspunkte desjenigen Zeitalters steht, das, nachdem andere, frühere Zeiten andere Auf­gaben gehabt hatten, die Aufgabe hatte, gerade die Verin­nerlichung zu suchen, die zunächst nur in der religiösen Verinnerlichung des Christentums lag, und die heute darin liegt, daß man die Menschenseele in ihrem eigenen Ich zu­sammenhängend findet mit der Seele, die durch das Weltall

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wallt und wogt. Am Ausgangspunkte dieses Zeitalters steht Michelangelo - da, wo er abgeschlossen von der Außenwelt in der einsamen Mediceerkapelle stand, ganz allein arbei­tend, oftmals in der Nacht, seine Gesundheit untergrabend, so daß die Leute Angst hatten vor seinem Aussehen, da er ganz abgemagert war und kaum noch die Beine bewegen konnte. Er war aber doch so stark, daß er nachher wieder nach Rom gehen und seine anderen Arbeiten ausführen konnte. Als er da so arbeitete, da wirkten schon in ihm die Kräfte, nach denen wir geisteswissenschaftlich wieder su­chen. Deshalb steht er uns zugleich so nahe. Und vielleicht am nächsten steht er uns, wenn wir uns ganz vertiefen in diese nicht allegorischen, sondern realistischen vier Gestal­ten, die das Geistige am Menschen ebenso Wesen und Leben von unserem Wesen und Leben sein lassen, wie Michel­angelo das früher in Verbindung mit dem äußeren Leibe bei dem Moses und bei David getan hat, und wie es ihm gelungen ist, Farbe und Form seinen Bildern in der Six­tinischen Kapelle einzuprägen.

So dürfen wir wohl sagen, was ich schon oft erwähnt habe: Geisteswissenschaft fühlt sich im Einklange mit dem besten Sehnen und Hoffen derjenigen Geister der Mensch­heit, die dem geistigen Wesen und Wirken selber nahe stan­den. Bei Michelangelo tritt es uns grandios entgegen. Wenn wir von diesem Gesichtspunkte ausgehen und ihm persön­lich in seiner Seele nahe treten wollen, dann müssen wir uns sagen: Es konnte zunächst diese Menschenseele nur glau­ben, daß sie nur einmal in das Erdendasein hineingestellt sei und die Früchte dieses Erdendaseins nicht hinübertragen könnte in die Zukunft der Menschheitsentwickelung. Dieser Durchgangspunkt mußte erst durchschritten werden, bevor die Lehre von den wiederholten Erdenleben wirken konnte, zu deren Aufnahme die gegenwärtige Menschheit wirklich

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reif sein kann, wenn sie will. So schauen wir auf Michel­angelo hin, führen uns noch einmal vor Augen, wie er selbst

- schon in sich tragend die deutlichen Merkmale der Zeit, in die wir uns auch nun versetzt fühlen - dennoch mit dem Weltprozeß, dem er selbst so viel gegeben hat, nicht fertig werden konnte:

Im Hafen lieg ich, den wir all' erreichen,

Gebrechlich war die Barke, die mich trug,

Sturmvoll die Fahrt, doch jetzt gilt es, im Buch

Des Lebens meine Rechnung auszugleichen.

Marmor und Farben geben keine Ruh,

Nur Eins gibt Trost: zu schaun nach jenen Armen,

Die sich vom Kreuze uns entgegenstrecken.

Wir haben neben alledem die Gewißheit, welche Geistes­wissenschaft geben kann: daß das, was in so bedeutungs­voller Weise dem Menschheitsprozeß gegeben wird, wie es durch Michelangelo gegeben worden ist, unvergänglich ist, daß die Früchte davon weiter und immer weiter leben wer­den in anderen Leben dieser einzigartigen Seele selber, und daß der Erde nicht verloren gehen kann, was ihr einmal eingeprägt wird.

Mag unsere heutige Zeit diese Lehre von den wieder­holten Erdenleben ebensowenig verstehen, wie die Zeit Michelangelos seine Malereien in der Sixtinischen Kapelle wenig verstanden hat, indem sie die ungewandeten Gestal­ten angezogen hat, mag unsere Zeit diese Wahrheit noch so sehr als lächerlich und phantastisch anschauen: gerade die größten Geister lehren uns lebendig, wie der Sinn des Le­bens dadurch erfüllt wird, daß wir auf die wiederholten Erdenleben blicken können und hinüb ertragen können, was in alten Epochen der Menschheit erlebt ist, in die neuen und immer neueren Epochen. Und wenn Goethe gesagt hat: die

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Natur habe den Tod erfunden, damit sie viel Leben haben könne, so sagt die Geisteswissenschaft: Nicht nur hat die Welt den Tod erfunden, daß sie viel Leben haben könne, sondern daß sie ein immer reicheres und erhöhteres Leben haben kann! Dies aber ist der einzige Gedanke, den wir würdig finden können, um ihn als einen Weltanschauungs­gedanken neben solche Gedanken hinzustellen, wie sie sich uns bei der Betrachtung von Kunstwerken ergeben, wie es diejenigen Michelangelos sind.

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DAS BÖSE IM LICHTE DER ERKENNTNIS VOM GEISTE Berlin, 15. Januar 1914

Was uns heute hier beschäftigen soll, ist im Grunde ge­nommen eine uralte Frage der Menschheit: die Frage naeh dem Ursprunge des Übels und des Bösen in der Welt. Und obwohl in unserer Gegenwart zahlreirhe Menschen der Ansicht sein werden, daß diese Frage im Grund genommen gar keine solche mehr darstellen kann, so wird doch die mensch-liche Seele immer wieder und wieder sich gedrängt fühlen sie aufzuwerfen. Denn es ist ja diese Frage keine solche, die nur von theoretisch-wissenschaftlichen Gesichtspunkten aus an unsere Seele herantritt; es ist vielmehr eine Frage, wel­cher die Menschenseele auf Schritt und Tritt im Leben be­gegnet, weil ihr Leben ebenso wie in das Gute, in das Wohltätige, so auch in das Übel und in das Böse hineingestellt ist. Man kann auf der einen Seite, man möchte sagen, die ganze Geschichte des menschlichen Denkens und Sinnens aufrollen, um sich davon völlig zu überzeugen, daß unsere Frage immer eine Frage der tieferen Geister der mensch­lichen Entwickelung war, - und man kann auf der anderen Seite noch bedeutende, hervorragende Denker des neun­zehnten Jahrhunderts und unserer Zeit studieren, und man wird finden, daß selbst bei diesen hervorragendsten Den­kern Halt gemacht wird mit aller Philosophie, mit allem Erkenntnisstreben gerade vor dieser Frage. So wollen wir denn heute das, was sich in dem Vortrags-Zyklus dieses Winters aus der Geisteswissenschaft heraus ergeben hat, als

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eine Grundlage zu betrachten versuchen, von der ausgehend man sich vielleicht einer Antwort auf das Rätsel des Übels und des Bösen nähern kann. Ich sage ausdrücklich «sich nähern kann»; denn was ich oftmals betonte - dieser be­deutungsvollen Frage gegenüber muß es ganz besonders gelten: Geisteswissenschaft eröffnet nicht nur die Blicke in Gebiete des Daseins, welche der äußeren Wissenschaft nicht erreichbar sind, sondern sie macht in einer gewissen Weise auch bescheiden. Und gerade an einer solchen Frage werden wir vielleicht erfühlen können, daß es ein Leichtes ist, die höchsten Fragen aufzuwerfen, wie sie ja gewöhnlich auf-geworfen werden, wenn man gewissermaßen am Beginne des Erkenntnisstrebens ist, daß aber wirkliches Erkenntnis-streben dazu führt, vielfach nur die ersten Schritte zu zei­gen zu den Wegen, auf denen man sich der Lösung der gro­ßen Lebensrätsel allmählich nähern kann.

Zuerst gestatten Sie mir, daß ich einiges vorausschicke, was klar machen soll, wie tief einschneidend diese Frage die Herzen und Seelen bedeutender Denker durch lange Zeiten hindurch beschäftigt hat. Wir könnten weit zurück­gehen in der Menschheitsentwickelung; wir wollen aber zu­nächst nur hinweisen auf Denker in den letzten Jahrhun­derten vor der Begründung des Christentums in Griechen-land: auf die Stoiker, jene merkwürdige Denkergruppe, welche, auf den Anschauungen des Sokrates und des Plato fußend, die Frage zu beantworten versuchte: Wie muß sich der Mensch verhalten, der sich so in das Leben hineinstellen will, daß dies dem Innersten seines Wesens entspricht, ge­wissermaßen seiner ihm vorgezeichneten und für ihn erkenn­baren Bestimmung? Dies können wir als die Grundfrage der Stoiker bezeichnen. Und als ein Ideal für den Menschen, der sich seiner Bestimmung gemäß in das Weltenall hineinzu­stellen bestrebt war, tauchte vor den Seelenaugen der Stoiker

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das Ideal des Weisen auf. - Es würde zu weit führen, wenn man in ausführlicher Art das Ideal des stoischenWeisen schildern wollte, und wie es zusammenhängt mit der gan­zen stoischen Weltanschauung. Aber das eine sei wenigstens hervorgehoben, daß im Stoizismus uns ein Bewußtsein da­von entgegentritt, daß die menschliche Entwickelung da­hin gehe, immer klarer und klarer des Menschen selbst­bewußtes Wesen, des Menschen Ich-Bewußtsein herauszu­arbeiten. Es sagte sich der stoische Weise: Dieses Ich, durch welches der Mensch in völliger Klarheit sich in die Welt hineinzustellen vermag, dieses Ich kann getrübt werden, kann gleichsam sich selber betäuben; und es betäubt sich, wenn der Mensch in das Wellen- und Wogenspiel seines Vorstellens und Empfindens sein Affektleben zu stark her­einkommen läßt. Wie eine Art geistiger Ohnmacht erschien es dem Stoiker, wenn der Mensch die Klarheit seines Ich überfluten läßt, benebeln läßt von seinem Leidenschafts­und Affektwesen. Daher: niederhalten in der menschlichen Seele Leidenschafts- und Affektwesen, Erstreben der Ruhe und des Gleichmaßes, das führt im Sinne der Stoiker zur Befreiung von den geistigen Ohnmachten der Seele.

Man sieht: was hier öfter hervorgehoben werden mußte als die ersten Schritte auf dem Wege zu einer Erkenntnis der geistigen Welt, die ja auch darin bestehen, daß das wilde Gewoge des Affekt- und Leidenschaftswesens, das gleichsam eine geistige Ohnmacht erzeugt, niedergehalten wird und die Klarheit des seelischen Schauens herausgezo­gen wird aus dem ganzen seelischen Erleben -, was so dar­gestellt wurde als die ersten Schritte auf dem Wege, der dann in das geistige Schauen hineinführt, das schwebte den Stoikern vor. Gerade diese Seite des stoischen Wesens, das in der Geschichte der Philosophie noch wenig herausgear­beitet worden ist, versuchte ich in der Neuauflage meiner

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«Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhun­dert» mit Bezug auf den Stoizismus herauszuarbeiten. So schwebt in der charakterisierten Art der Leidenschaftsbe-zwinger, der Affektbezwinger als der Weise wie ein Ideal dem Stoizismus vor. Und derjenige, der so als Weiser sich in die Weltenentwickelung hineinstellt, erkennt im Sinne des Stoizjsmus, daß diese Weltenentwickelung fähig ist, ihn aufzunehmen, daß diese Weltenentwickelung wirklich auch von Weisheit durchdrungen ist, so daß er seine Weisheit gleichsam in die Fluten der Weltenweisheit untertauchen muß.

Immer, wenn also die Frage auftaucht: wie stellt sich das menschliche Selbst in das ganze Gefüge der Weltord­nung hinein?, entsteht daher die andere Frage: Wie läßt sich mit der Weisheit der Weltenordnung, die der Mensch voraussetzen muß, wenn er sich in sie hineinstellen will, dasjenige vereinigen, was als Übel in der Breite der Welten-erfahrung herrscht, und was als Böses sich dem Weisheits­streben des Menschen entgegenstellen kann?

Nun stand vor dem Seelenauge der Stoiker das, was man später genannt hat die göttliche Vorsehung. Wie findet sich nun der Stoiker mit dem Übel und dem Bösen gegenüber diesen seinen Voraussetzungen ab?

Da taucht bei dem Stoiker schon etwas auf, was man auch heute noch, wenn man nicht in die Geisteswissenschaft selber eindringen will, sondern gleichsam nur bis zu den Pforten derselben geht, wie eine Art Rechtfertigung des Übels und des Bösen vorbringen kann; es tauchte vor dem Stoiker auf die Notwendigkeit der menschlichen Freiheit. Und nun sagte er sich: Wenn der Mensch das Ideal desWei­sen aus seiner Freiheit heraus erstreben soll, muß ihm die Möglichkeit geboten sein, es auch nicht zu erstreben. Frei­heit muß liegen in seinem Streben nach dem Ideal des Weisen.

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Damit aber muß gegeben sein, daß er auch bleiben könne bei demjenigen, aus dem er herausstreben soll; damit muß gegeben sein, daß er gleichsam untertauchen könne in das Affekt- und Leidenschaftswesen. Dann taucht er eben unter, meinte der Stoiker, in ein Reich, das zunächst nicht sein Reich ist, das eigentlich ein Reich unter seinem Wesen ist. Und der weisen Weltenordnung vorwerfen zu wollen, daß der Mensch so untertauchen könne in ein Reich, das unter ihm ist, das wäre ebenso gescheit, als wenn man der weisen Weltenordnung vorwerfen wollte, daß es unter dem Menschen ein Reich der Tiere, Pflanzen und Mineralien gibt. Daß es ein Reich gibt, in das der Mensch untertauchen kann, das seiner Weisheit entrückt ist, wußten die Stoiker; daß er selber aber aus ihm emportauchen kann, muß seine eigene freie Wahl, seine Weisheit sein.

Man sieht: der Begriff vieler vor dem Tore der Geistes-wissenschaft gelegenen Antworten nach der Bedeutung des Bösen liegt schon in der alten stoischen Weisheit; und man kann nicht sagen, daß in bezug auf die Erfassung des Bösen als solchem die späteren Jahrhunderte einen wirklichen Fortschritt zeigen. Das kann sich uns gleich herausstellen, wenn wir zu einem Geist gehen, der sonst ein außerordent­lich bedeutender Geist ist, der in der Zeit nach der Begrün­dung des Christentumes lebte und auf die Gestaltung des abendländischen Christentums einen großen Einfluß ge­nommen hat: zu Augustinus. Auch Augustinus muß über die Bedeutung des Bösen in der Welt nachdenken, forschen; und er kommt zu einem eigentümlichen Ausdruck: daß das Übel ebenso wie das eigentliche Böse gar nicht eigent­lich da seien, sondern daß sie etwas bloß Negatives seien, daß sie die Negation des Guten seien. Es sagte sich also Augustinus: Das Gute ist etwas Positives; aber da ein endliches Wesen in seiner Schwachheit das Gute nicht immer

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ausführen könne, so begrenze sich das Gute; und dieses be­grenzte Gute brauche man ebensowenig als etwas Positives erklären, wie man den Schatten, der durch das Licht her­vorgerufen würde, als etwas Positives erklären würde.Wenn man den Kirchenvater Augustinus also über das Böse reden hört, so wird man eine solche Antwort gegenüber dem, was man heute bei einem schon durch einige Jahrhunderte vor­geschrittenem Denken sich vorstellen könnte, vielleicht naiv finden. Aber wie es eigentlich mit der Frage nach der Be­deutung des Bösen steht, kann uns daraus hervorgehen, daß noch in unseren Tagen ein Gelehrter genau dieselbe Ant­wort gegeben hat: Campbell, der die sogenannte «Neue Theologie» geschrieben hat, und dessen Werke in gewissen Kreisen großes Aufsehen gemacht haben. Auch er glaubt, daß man nach dem Übel und dem Bösen nicht fragen könne, weil sie nichts Positives darstellten, sondern etwas bloß Ne­gatives seien. Auf haarspalterische, philosophische Deduk­tionen zur Widerlegung der Augustinisch-Gampbellschen Anschauung wollen wir uns nicht einlassen. Denn für jeden, der unbefangen und vorurteilslos denken kann, steht ja diese Antwort von der bloßen Negativität des Übels auf demselben Boden, wie die Antwort, die jemand geben würde, der da sagte: Was ist denn die Kälte? Kälte ist nur etwas Negatives, nämlich die Abwesenheit der Wärme. Des­halb kann man von ihr nicht als von etwas Positivem spre­chen. Zieht man sich aber, wenn es kalt ist, keinen Pelz oder Winterrock an, so wird man dann schon dieses Negative als etwas sehr Positives verspüren! Durch dieses Bild mag völlig klar werden, wie wenig man mit der wahrhaftig nicht tiefgehenden Antwort zurecht kommt, die ja auch große Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts gegeben haben:

daß man es gegenüber dem Übel und dem Bösen mit nichts Positivem zu tun habe. Mag sein, daß man es dabei mit

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nichts Positivem zu tun hat; aber dieses «Nicht-Positive» ist gerade ebenso negativ, wie etwa die Kälte gegenüber der Wärme.

Nun könnte man auch eine ganze Gruppe anderer Den­ker anführen, die durch die Vorbereitungen ihres Seelen­lebens schon, man möchte sagen, demjenigen nahekommen, was nun die Geisteswissenschaft zu sagen hat. Man könnte unter diesen zum Beispiel Plotin anführen, den Neuplato­niker, der in der nachchristlichen Zeit lebte und noch auf den Prinzipien des Plato fußte; und mit ihm führt man zu­gleich eine große Zahl anderer Denker an, die über das Böse und das Übel in der Welt nachgedacht haben. Sie versuch­ten sich klar zu machen: Der Mensch sei zusammengefügt aus einem Geistigen und einem Materiell-Leiblichen. Durch das Untertauchen in das Leibliche nehme der Mensch teil an den Eigenschaften der Materie, die von vornherein Hin­dernisse und Hemmnisse der Betätigung des Geistes ent­gegenstellt. In diesem Untertauchen des Geistes in die Ma­terie liegt eben der Ursprung des Bösen im menschlichen Leben; aber es liegt darin auch der Ursprung des Übels in der äußeren Welt.

Daß eine solche Anschauung nicht etwa bloß in einzelnen Denkerköpfen wie etwas Befriedigendes auf die große Frage nach der Bedeutung des Übels und des Bösen in der Welt gefühlt wurde, sondern weit verbreitet ist, das mag eine Bemerkung erläutern, die ich nicht unterdrücken will, weil sie vielleicht gerade unsere Situation klar legt. Ich will auf einen Denker aus einer ganz anderen Region verweisen: auf den bedeutenden japanischen Denker, den Schüler des chi­nesischen Denkers Wang-Yang-Ming, Nakae Toju. Für ihn besteht alles, was sich uns an Welterfahrungen darbietet, aus zwei Dingen, aus zwei, man möchte sagen, Wesenheiten. Die eine Wesenheit ist für ihn so, daß er zu ihr aufschaut

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wie zu dem Geistigen, und er läßt die menschliche Seele an dem Geistigen teilnehmen; diese Wesenheiten nennt er Ri. Dann sieht er hin zu dem, was sich am Menschen leiblich dar­stellt, und läßt die Leiblichkeit an allem teilnehmen, woraus sie auferbaut ist aus der Materie heraus; diese Wesenheit nennt er Ki. Und aus der besonderen Zusammensetzung von Ri und Ki entstehen ihm alle Wesen. Die Menschheit ist für diesen Denker des Ostens, der in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts gelebt hat, teilhaftig sowohl an dem Ri als an dem Ki. Dadurch aber, daß die Menschen-seele in ihrem Erleben mit ihrem Ri untertauchen muß in das Ki, strömt ihr aus dem Ki das Wollen entgegen - und mit dem Wollen das Begehren. Damit ist die Menschenseele in ihrem Leben verstrickt im Wollen und Begehren, und damit steht sie vor der Möglichkeit des Bösen. - Nicht weit ist dieser Denker des Ostens, der erst verhältnismäßig kurze Zeit vor uns, wie gesagt, in der ersten Hälfte des siebzehn­ten Jahrhunderts gelebt hat, nicht weit ist er von dem ent­fernt, was man im Abendlande, in den Zeiten des Neu-platonismus, des Plotin zum Beispiel, als den Ursprung des Bösen darzustellen versucht hat: die Verstrickung des Men­schen in die Materie. Wir werden nachher sehen, daß es wichtig ist, einmal auf diese Art hinzuweisen, sich die Frage nach dem Ursprung des Bösen zu beantworten mit der Ver­strickung des Menschen in die Materie. In den weitesten Kreisen des menschlichen Denkens tritt uns gerade dieses entgegen.

Ein Denker des neunzehnten Jahrhunderts, der wahr­haftig zu den bedeutendsten gehört, versuchte sich mit dem Übel und dem Bösen auseinanderzusetzen, und die Haupt-gedanken seines Denkens möchte ich kurz darstellen. Er sah in der Welt um sich herum Teile des Übels, Teile des mensch­lichen Bösen, und er stand als ein Philosoph, bei dem insbesondere

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die Gemütseigenschaften tief ausgebildet waren, vor dem Übel und dem Bösen: Hermann Lotze, einer der bedeutendsten Denker des neunzehnten Jahrhunderts, der den sehr bedeutenden «Mikrokosmos» zum Beispiel und andere für das neunzehnte Jahrhundert bedeutsame philo­sophische Werke geschrieben hat. Versuchen wir uns vor die Seele zu rufen, wie Hermann Lotze, also einer unserer be­deutendsten Zeitgenossen, vor dem Problem des Bösen steht.

Er sagt sich: Wegleugnen läßt sich das Böse nicht. Wie hat man sich die Frage nach dem Bösen zu beantworten ver­sucht? Man hat zum Beispiel gesagt, daß das Übel und das Böse im Leben da sein müsse; denn nur dadurch, daß sich die Menschenseele aus dem Bösen herausarbeite, könne man sie erziehen. Da nun Lotze nicht zu den Atheisten gehört, son­dern einen dieWelt durchlebenden und durchwebenden Gott annimmt, so sagt er: Wie muß man sich also im Sinne der Erziehungsidee zu dem Bösen und dem Übel stellen? Man müsse annehmen, daß Gott das Böse und das Übel gebraucht hätte, um die Menschen herauszuarbeiten und zum freien Gebrauch ihrer Seele zu erheben. Das konnte nur geschehen, indem sie selbst diese innere Arbeit verrichteten, indem sie selbst diesen inneren Zustand erlebten, der in dem Heraus-arbeiten aus dem Bösen besteht, und dadurch erst, selbst­bewußt ihr wahres Wesen und ihren wahren Wert erken­nen lernten. - Lotze wendet zugleich dagegen ein: Wer eine solche Antwort gibt, berücksichtige vor allem nicht die Tier­welt, in welcher uns wahrhaftig nicht nur das Übel sondern auch das Böse im umfassenden Sinne entgegentreten. Wie tritt uns in der Tierwelt Grausamkeit, wie tritt uns alles, was, in das Menschenleben heraufgenommen, zu den furcht-barsten Lastern werden kann, überall in der Tierwelt ent­gegen! Wer aber vermöchte der Tierwelt gegenüber die Er­ziehung ins Feld zu führen, die ja bei der Tierwelt nicht

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angeführt werden kann? So weist Lotze die Idee der Er­ziehung ab. Insbesondere macht er darauf aufmerksam, daß der Allmacht seines Gottes diese Erziehungsidee widerspre­chen würde; denn nur dann habe man nötig, meint Lotze, das Bessere in einem Wesen aus dem Schlechten herauszuar­beiten, wenn man erst das Schlechte gegeben hat. Aber das würde der Allmacht des Gottes widersprechen: erst das Schlechte herausarbeiten zu müssen, gleichsam zur Vorbe­reitung, um dann das Gute darauf auferbauen zu können.

So wendet sich denn Lotze dahin zu sagen: Vielleicht müsse man diejenigen mehr berücksichtigen, welche da sa­gen: Dasjenige, was böse, was schlecht ist, was ein Übel ist, das ist dies nicht durch die Allmacht Gottes, nicht durch den Willen irgend eines bewußten Wesens; sondern es ist mit dem, was in der Welt existiert, das Übel so verbunden, wie zum Beispiel die Tatsache, daß die drei Winkel eines Dreieckes zusammen 180 ° betragen, mit einem Dreieck verbunden ist. Wenn Gott also überhaupt eine Welt schaffen wollte, mußte er sich richten nach dem, was ohne ihn wahr ist, daß mit irgendeiner Welt, die er schaffen wollte, das Böse und das Übel verbunden ist. Er mußte also, wenn er überhaupt eine Welt schaffen wollte, das Böse und das Übel mitschaffen. - Dagegen wendet Lotze ein: Dann aber be­schränken wir erst recht das, was man als das Wirken und Weben eines göttlichen Wesens durch die Welt annehmen könne. Denn wenn man die Welt betrachtet, dann muß man sagen: Nach den allgemeinsten Gesetzen, nach dem, wie man sich dieWelterscheinungen durchdenken kann,wäre sehr wohl eine Welt denkbar ohne das Übel und das Böse. Wenn man die Welt betrachte, müsse man gerade sagen, ge­gen eine eigentliche Freiheit verstoße das Böse; es müsse also gerade durch die Willkür, durch die Freiheit des göttlichen Wesens hervorgerufen werden.

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Wir könnten noch anderes anführen, was Lotze und an­dere Denker - Lotze ist hier nur als Typus angeführt -gegenüber dem Problem und dem Rätsel des Bösen gesagt haben. Ich will nur auf das aufmerksam machen, wohin Lotze zuletzt kommt, weil das nachher für uns wichtig sein wird. So wendet sich Lotze gegen den deutschen Philoso­phen Leibniz, der ja eine «Theodizee», das heißt die Recht­fertigung Gottes gegenüber dem Übel, geschrieben hat und die Anschauung vertreten hat, daß diese Welt, wenn sie auch viel Übel enthalte, doch die bestmöglichste der Welten sei. Denn wäre sie nicht die bestmöglichste, meint Leibniz, so müsse entweder Gott die bestmöglichste Welt nicht ge­kannt haben - das verstößt gegen seine Allwissenheit; oder aber er müßte sie nicht haben schaffen wollen, das verstößt gegen seine Allgüte; oder er müßte sie nicht haben schaffen können - das verstößt gegen seine Allmacht. Nun sagt Leib­niz, da man im Denken gegen diese drei Prinzipien Gottes nicht verstoßen könne, so müsse man annehmen, daß die Welt die bestmöglichste sei. - Dagegen wendet nun Lotze ein: jedenfalls könne man nicht von einer Allmacht Gottes sprechen, wenn man in der Welt, wo doch Übel sind und Böses waltet, diese für einen Ausfluß Gottes halte. Daher müsse man sagen, so meint Lotze, Leibniz habe die All­macht Gottes beschränkt und dadurch sich die Lehre von der bestmöglichsten der Welten erkauft.

Nun meint Lotze, gebe es noch einen Ausweg. Man müsse sagen: Im großen ganzen zeige sich überall, wenn man den Kosmos betrachtet, Ordnung und Harmonie; nur im ein­zelnen sehe man Übel und Böses. Da sagt Lotze: Was aber kann man auf eine Anschauung geben, die eigentlich bloß von der Anschauung der Menschen abhängt? Denn von einer Welt, wo im großen und ganzen Ordnung und Harmonie herrschen, die man bewundern könne, und wo im einzelnen

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Übel und Böses wie schwarze Flecken sich zeigen, könne man den Ausdruck gebrauchen: Was sagt es, wenn im gro­ßen und ganzen Ordnung und Harmonie in einer Welt herr­schen, und im einzelnen überall Übel und Böses zu finden ist? Da meint dann Lotze - und das ist die Spitze seiner Ausführungen, zu der wir hintendieren wollen -, man sollte sich doch lieber das eine sagen: Das Übel und das Böse sind doch in der Welt; es muß weise sein, daß das Übel wie das Vortreffliche, das Böse wie das Gute da seien; wir können nur diese Weisheit nicht einsehen. Also sind wir gezwungen, dem Übel und dem Bösen gegenüber eine Grenze unseres Erkennens anzunehmen. Es müsse doch Weisheit geben, wel­che nicht die menschliche Weisheit ist, meint Lotze, Weis­heit, zu der wir nur nicht kommen können, und die die Übel rechtfertigt. Also in eine unbekannte Welt der Weisheit ver­setzt Lotze das weisheitsvolle Begreifen des Übels und des Bösen.

Ich habe ausdrücklich wenigstens diese, für viele mehr oder weniger pedantischen Auseinandersetzungen gemacht, weil sie uns zeigen, mit welchen Waffen man sich dem Be­greifen des Übels und des Bösen imphilosophischenDenken der Menschheit zu nähern versucht hat, und wie man dort immer wieder und wieder zu dem Geständnis gekommen ist: diese Waffen erweisen sich gegenüber einem Rätsel, das uns auf Schritt und Tritt im Leben begegnet, doch recht stumpf, ja, wie Lotze sagt, als völlig ungeeignet.

Nun gibt es ja auch andere Denker, die noch weiter als etwa Plotin hineinzuschürfen versuchten in das, was schon Untergründe des Daseins sind, die nur zu erreichen sind durch eine gewisse Entwickelung der Seele zu höherem Er­kenntnisvermögen hinauf. Ein solcher Denker ist Jacob Böhme. Und nähert man sich Jacob Böhme, so nähert man sich allerdings einem Geiste des sechzehnten, siebzehnten

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Jahrhunderts, in den nicht viele mehr in unserer Zeit ein­dringen wollen, obwohl man ihn heute wieder als eine Art Kuriosität betrachtet. Jacob Böhme versuchte einzudringen in die Tiefen der Welt und ihre Erscheinungen bis dahin, wo er in sich selber etwas aufgehend fühlte wie eine Art Theosophie, von einer Art Gottesanschauung im eigenen Innern; und nun versuchte er sich klar zu machen, wie das Böse und das Übel hinein zu verfolgen sind bis in die tief­sten Untergründe der Welt, wie Übel und Böses nicht bloß etwas Negatives sind, sondern gewissermaßen in den Un­tergründen des Welt- und Menschendaseins wurzeln. Das göttliche Wesen sieht Jacob Böhme so an, daß in ihm, wie er sagt - man muß sich an seine Ausdrucksweise erst gewöh­nen - eine «Schiedlichkeit» auftreten mußte. Ein Wesen, welches gleichsam seine Tätigkeit nur hinausfluten läßt in die Welt, könnte nie zum Erfassen seiner selbst kommen. Es mußte sich diese Tätigkeit an irgend etwas, man möchte sagen, stoßen. Im kleinen nehmen wir im Grunde genom­men jeden Morgen beim Aufwachen das wahr, was Jacob Böhme in diese seine Vorstellung einbezieht. Wenn wir auf-wachen, sind wir gewissermaßen in der Lage, aus unserm Geistig-Seelischen in unbegrenzte Weiten hinaus unsere gei­stig-seelische Tätigkeit zu entfalten. Da stoßen wir mit un­serer geistig-seelischen Tätigkeit an unsere Umgebung. Da­durch, daß wir an unsere Umgebung stoßen, werden wir unser selbst gewahr. Der Mensch wird überhaupt nur in der physischen Welt seiner selbst gewahr, indem er sich sozu­sagen an den Dingen stößt. Das göttliche Wesen kann kein solches sein, das sich an anderen stößt. Es muß seinen Wider-part, oder wie Jacob Böhme in vielen Wendungen sich aus­drückt, sein «Nein» seinem «Ja» gegenüber sich selbst set­zen. Es muß seine ins Unendlich hinausflutende Tätigkeit in sich begrenzen. Es muß in sich «schiedlich», das heißt

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unterschieden werden, muß sich gleichsam an einem be­stimmten Punkte des Umkreises seiner Tätigkeit den eige­nen Gegensatz erschaffen; so daß sich für Jacob Böhme notwendig das göttliche Wesen, damit es seiner selbst ge­wahr werden kann, selbst seinen Widerpart erschafft. Durch die Teilnahme nun eines kreatürlichen Wesen, meint Jacob Böhme, nicht nur an dem, was von dem göttlichen Wesen herausströmt, sondern was sich das göttliche Wesen notwen­digerweise als seinen Widerpart schaffen muß, entsteht das Böse, entstehen überhaupt alle Übel in der Welt. Das gött­liche Wesen setzt sich seinen Widerpart, um seiner selbst gewahr zu werden. Da kann noch nicht vom Übel und vom Bösen gesprochen werden, sondern nur von den notwen­digen Bedingungen des Gewahrwerdens des Göttlichen seiner selbst. Aber indem Kreatürliches entsteht, und indem dieses Kreatürliche sich nicht bloß hineinbettet in das hin­ausflutende Leben, sondern teilnimmt am Widerpart, ent­steht das Böse und das Übel.

Befriedigend wird gewiß für den, der geisteswissenschaft­lich versucht in die Geheimnisse des Daseins einzudringen, eine solche Antwort nicht sein. Sie ist auch hier nur ange­führt, um zu zeigen, bis zu welchen Tiefen ein sinniger Den­ker geht, wenn er nach dem Ursprunge des Bösen in der Welt forscht. Und so könnte ich vieles anführen, das uns mehr zeigen könnte, wie man sich den Rätseln, die im Übel und Bösen liegen, zu nähern versucht, als daß man etwa aus der Welt sich Antwort entgegenleuchten gefunden hätte.

Wenn wir nun an das anknüpfen, was uns gleichsam wie ein Bekenntnis eines hervorragenden Denkers des neun­zehnten Jahrhunderts entgegengetreten ist, das Bekenntnis Lotzes, so können wir etwa das Folgende sagen. Lotze ist der Ansicht, es muß irgendwo eine Weisheit geben, welche das Übel und das Böse rechtfertigt. Aber der Mensch ist in

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seinem Erkenntnisvermögen beschränkt; er kann nicht in diese Weisheit eindringen. - Stehen wir da nicht vor dem, was wir oft erwähnen mußten: daß es sozusagen ein belieb­tes Vorurteil in unserer Zeit ist, das menschliche Erkennt­nisvermögen so hinzunehmen, wie es einmal ist, und gar nicht darauf zu reflektieren, daß es etwa aus dem Zustande, in welchem es in derAlltäglichkeit ist, herauskommen könne, sich über sich selbst erheben könne, daß es sich entwickeln könne, um in andere Welten hinein zu schauen, als in die Welt des bloß Sinnlichen und des an die Sinne geknüpften Verstandes? Vielleicht stellt sich uns gerade heraus, daß so bedeutsame Fragen wie die nach dem Ursprunge des Bösen ihre Antworten deshalb nicht finden konnten, weil man gegenüber der Erkenntnis, die sich an die Sinne wendet und an den Verstand, der an die Sinneswelt gebunden ist, sich sträubte, über diese Erkenntnis hinauszuschreiten zu einer anderen Erkenntnis, die auf den Wegen gefunden werden muß, von denen hier jetzt öfter gesprochen worden ist, auf den Wegen, durch welche die Menschenseele hinübergelangt über das, was sozusagen ihre alltägliche und gewöhnliche wissenschaftliche Anschauung ist. Wir haben oft von der Möglichkeit gesprochen, daß die Menschenseele sich losringt von ihrer Leiblichkeit, daß sie wirklich jene geistige Chemie vollziehen könne, die eben das Geistig-Seelische im Men­schen loslöst von dem Leiblichen, wie die äußere Chemie den Wasserstoff aus dem Wasser. Wir haben davon gespro­chen: Wenn der Mensch so sein Geistig-Seelisches loslöst von dem Körperlich-Leiblichen, so daß er sich erhebt im Gei­stigen und seiner Leiblichkeit mit seinem Geistig-Seelischen gegenübersteht, wenn er also mit dem Seelisch-Geistigen außerhalb des Leibes ist und in einer geistigen Welt wahrzu­nehmen vermag, dann allerdings kann er durch die unmit­telbare Erfahrung, nicht in, sondern außerhalb seines Leibes,

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in die Tiefen der Welt hineinschauen, soweit sie ihm gegenüber dieser Erkenntnis zugänglich sind. Da dürfen wir uns vielleicht fragen: Was tritt uns denn entgegen, wenn wir diesen Weg der Geistesforschung wirklich zu gehen ver­suchen, den Weg, der öfter hier geschildert worden ist, und den Sie ausführlich in meinem Buche «Wie erlangt man Er­kenntnisse der höheren Welten?» dargestellt finden? Zuwel­chen Erfahrungen gelangt man, wenn man diesen Weg wirk­lich geht, um außersinnlicher Welten teilhaftig zu werden?

Nun wird uns insbesondere interessieren, wie sich zu die­sem Wege dasjenige stellt, was man im gewöhnlichen Leben das Böse nennt. Wir brauchen ja nur auf das gewöhnliche Böse, was man im Alltage das Böse nennt, etwas hinzu-schauen. Da stellt sich heraus, wenn der Geistesforscher sich auf seinen Weg begibt, um in höhere Welten hinaufzustei­gen, um wirklich mit seinem Geistig-Seelischen herauszu­kommen aus dem Leiblichen und leibfrei wahrzunehmen, daß dann alles dasjenige, auf was er zurückblicken muß als auf ein Böses, ja, nur auf ein Unvollkommenes im Leben, ihm die schwersten Hindernisse auf seinen Weg gibt. Die schwersten Hemmnisse kommen von dem, worauf man zu­rückblicken muß als auf etwas Unvollkommenes. Damit will ich nicht sagen, daß etwa die hochmütige Lehre daraus folgte, daß jeder, der dazu gelangt, als Geistesforscher in die geistige Welt hineinzuschauen, sich einen vollkommenen Menschen nennen dürfe. Das soll damit nicht gesagt sein. Aber es soll wiederholt sein, was schon einmal sehr ein­dringlich hervorgehoben worden ist: daß der Weg zur Gei­stesforschung in gewissem Sinne ein Martyrium ist, und dies auch gerade aus dem Grunde, weil man in dem Augenblick, in dem man mit dem Geistig-Seelischen aus dem Leiblichen herauskommt und der geistigen Welt teilhaftig wird, zu­rückblickt auf sein Leben mit seinen Unvollkommenheiten

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und nun weiß: Diese Unvollkommenheiten trägst du mit dir wie der Komet seinen Kometenschweif; die trägst du in dir mit hinüber in andere Leben und mußt sie auszugleichen suchen in späteren Leben. Das, worüber du bis jetzt ge­schritten bist, ohne ein Bewußtsein davon zu haben, das schaust du jetzt. Du weißt, was dir bevorsteht. - Dieses tragische Hinschauen auf das, was man im gewöhnlichen Leben ist, hängt einem an, wenn man den Weg in die gei­stige Welt hinauf sucht. Hängt es einem nicht an, so ist es nicht der wahre Weg in die geistige Welt. In der Tat muß man sagen: ein gewisser Ernst des Lebens beginnt, wenn man in die geistige Welt hineinsteigt. Und wenn man auch nichts anderes gewinnt, das eine gewinnt man: daß man das eigene Böse und die eigenen Unvollkommenheiten mit einer unendlichen Klarheit erblickt. So möchte man sagen:

man gewinnt eine Erfahrungserkenntnis von Unvollkom­menheit und Bösem schon bei den allerersten Schritten, die man in die geistige Welt hinauf macht.

Woher kommt das? Wenn man näher zusieht, woher dies kommt, so findet man dabei den Grundzug sozusagen alles menschlichen Bösen. In meiner letzten Schrift «Die Schwelle der geistigen Welt» versuchte ich gerade auf diesen Grund­zug des Bösen hinzudeuten, insofern es aus dem Menschen hervorgeht. Der gemeinsame Grundzug alles Bösen ist doch nichts anderes als Egoismus. - Wenn ich dieses im einzelnen nachweisen wollte, was ich jetzt ausführen will, so müßte ich allerdings viele Stunden sprechen; aber ich will es nur hinstellen, und jeder mag die angeschlagenen Gedanken­gänge selbst weiterverfolgen. Sie werden ja auch weiter ver­folgt werden im nächsten Vortrage, wo über die «Sittliche Grundlage des Menschenlebens» gesprochen werden soll. Im Grunde genommen geht alles menschliche Böse aus dem hervor, was wir den Egoismus nennen. Wir mögen von den

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geringsten Kleinigkeiten, die wir als menschliche Versehen ansehen, bis zu den stärksten Verbrechen hin alles verfol­gen, was menschliche Unvollkommenheiten und mensch­liches Böses sind, ob es sich uns darstellt scheinbar mehr von der Seele herkommend oder scheinbar mehr von der Leib­lichkeit kommend, der gemeinsame Grundzug, von dem Egoismus herrührend, ist überall da. Wir finden die eigent­liche Bedeutung des Bösen, wenn wir es verknüpft denken mit dem menschlichen Egoismus; und wir finden alles Hin­ausstreben über Unvollkommenheiten und Böses, wenn wir dieses Hinausstreben in der Bekämpfung dessen sehen, was wir den Egoismus nennen. Viel ist nachgedacht worden über diese oder jene ethischen Prinzipien, über diese oder jene Moralgrundlagen; gerade das zeigt sich aber, je tiefer man in ethische Prinzipien und in Moralgrundlagen untertaucht, daß der Egoismus die gemeinsame Grundlage alles mensch­lichen Bösen ist. Und so darf man sagen: der Mensch arbei­tet sich aus dem Bösen hier in der physischen Welt um so mehr heraus, je mehr er den Egoismus überwindet.

Dieses Resultat stellt sich nun neben ein anderes hin; und es stellt sich, man möchte sagen, in der Geistesforschung wie bedrückend hin, wirklich wie bedrückend. Was muß man denn ausbilden, wenn man den Weg in die geistigen Welten hinauf finden will, in jene Welten, die man anschauen muß mit dem Geistig-Seelischen außer dem Leibe?

Wenn Sie alles zusammennehmen, was ich im Laufe die­ser Vorträge angeführt habe als seelische Übungen, die an­gewendet werden müssen, um in die geistige Welt hinein-zukommen, so werden Sie finden, daß sie darauf hinaus­laufen, gewisse Seeleneigenschaften zu erstarken, welche die Seele in der Sinneswelt hat, die Seele stärker und kräftiger zu machen, sie immer mehr und mehr auf sich selbst zu stel­len. Was nun in der physisch-sinnlichen Welt als Egoismus

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hervortritt, das muß erkraftet werden, muß intensiver ge­macht werden, wenn der Mensch in die geistige Welt hin­aufsteigt. Denn nur die in sich erstarkte Seele, welche die Kräfte in sich erstarkt, die die ihrigen sind, die in ihrem Ego, in ihrem Ich wurzeln, nur diese Seele kommt in die geistigen Welten hinauf. Gerade das muß auf dem Wege in die geistigen Welten hinauf verstärkt werden, was der Mensch ablegen muß, der sich moralische Prinzipien für die physische Welt aneignen will.

Ein bedeutender Mystiker hat den Ausspruch getan:

Wenn die Rose selbst sich schmückt,

schmückt sie auch den Garten.

Es ist dies gewiß innerhalb gewisser Grenzen richtig. Aber im Menschenleben würde dennoch der Egoismus auch her­vortreten, wenn die Menschenseele sich nur als «Rose» be­trachtete, die selbst sich schmückt. Für die geistige Welt aber gilt das vollkommen. In der geistigen Welt ist in einem hö­heren Maße das vorhanden, was in dem Ausspruche liegt:

«Wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten». Wenn die Seele in die geistige Welt hinaufkommt, ist sie dort ein dienendes Glied um so mehr, je mehr sie in sich erstarkt ist und das herausgearbeitet hat, was in ihrer inneren Fülle liegt. Wie man ein Instrument nicht gebrau­chen kann, das nicht vollkommen ist, so kann sich die Seele selbst nicht brauchen, die nicht alles aus ihrem Ich, aus ihrem Ego herausgetrieben hat, was in ihr liegt.

Aus dieser Gegenüberstellung, die uns von aller Phrase hinwegführt und hineinführt in den Tatsachenbestand, der nicht verhehlt werden soll, sehen wir zunächst, daß diese Welt des Geistigen der Welt des Physisch-Sinnlichen so ge­genübersteht, daß die letztere gegenüber der ersteren ihre volle Aufgabe haben muß. Könnte der Mensch nur in der geistigen Welt leben, so würde er, weil das Gesetz gelten

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muß: «Wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten», nur die inneren Fähigkeiten entwickeln können; er könnte nicht jene Fähigkeiten entwickeln, die ihn als Altruisten mit den Menschen, mit der weiten Welt zusammenbringen. Die Stätte müssen wir gerade in der physischen Welt finden, die uns den Egoismus überwinden läßt. Wir sind nicht umsonst in der Welt zum Altruismus verpflichtet, sondern deshalb, daß wir uns den Egoismus gründlich aberziehen, wenn ich dieses triviale Wort gebrau­chen darf.

Dasselbe nun,was der Geistesforscher als das Maßgebende findet, nämlich die Erstarkung seiner Seele zum Hinauf­gehen in die geistige Welt, das ist auch das Maßgebende, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes auf natur­gemäße Weise in diejenige Welt eintritt, welche zwischen dem Tode und einer neuen Geburt liegt. Da versetzen wir uns in jene Welt, die eben der Geistesforscher durch seine Seelenentwickelung erreicht. Da hinein müssen wir daher diejenigen Eigenschaften bringen, welche die Seele innerlich stark erscheinen lassen, welche innerhalb der Seele den Satz bewahrheiten: «Wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten». In dem Augenblick, wo wir durch die Pforte des Todes gehen, treten wir in eine Welt ein, in wel­cher es auf höchste Erhöhung und Erkraftung unseres Ich ankommt. Was wir in dieser Welt zu tun haben, werden wir in dem Vortrage «Zwischen Tod und Wiedergeburt des Menschen» hören. Jetzt soll nur darauf hingedeutet wer­den, daß es in dieser geistigen Welt im wesentlichen darauf ankommt, daß sich die Seele dazu anschickt, um nach Maß­gabe dessen, was sie in früheren Erdenleben erlebt hat, sich die folgenden zu zimmern. Sie muß, wie es ihrem Schicksale entspricht, vorzugsweise zwischen dem Tode und der neuen Geburt in der geistigen Welt mit sich selbst beschäftigt sein.

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Wenn wir so die menschliche Seele betrachten, dann er­scheint sie uns von diesen zwei Gesichtspunkten aus folgen­dermaßen. Sie erscheint uns in ihrer Bedeutung für die phy­sisch-sinnliche Welt so, daß diese für sie die große Lehrstätte ist, wo sie aus sich herausgehen muß, wo Egoismus sich in Altruismus verwandeln kann, so daß sie etwas wird für den weiten Umkreis des Daseins. Und die Welt zwischen dem Tode und der nächsten Geburt erscheint uns als die­jenige, in welcher die Seele in sich erkraftet leben muß, und für welche die Seele gerade wertlos sein würde, wenn sie in diese Welt schwach und nicht erkraftet eintreten würde.

Was folgt daraus, daß die Seele diese zwei Wesenszüge hat?

Es folgt daraus, daß sich der Mensch in der Tat wohl hüten muß, dasjenige, was auf dem einen Felde, in der einen Welt ein Vorzügliches ist, nämlich die Erhöhung des Seelen-innern, in der anderen Welt zu etwas anderem anzuwenden als höchstens auch zur Erreichung der geistigen Welt; daß es aber vom Übel sein muß und in das Schlimmere um-schlägt, wenn der Mensch das, was hier in der physisch-sinnlichen Welt sich als sein Wesen ausleben muß, von dem durchdringen läßt, was ihm gerade im Reich des Geistes zur würdigen Bereitung dient. Gerade deshalb müssen wir stark sein im Geistigen zwischen Tod und neuer Geburt, in der Erstarkung und Erkraftung unseres Ich, daß wir uns ein solches physisch-sinnliches Dasein vorbereiten, das im äuße­ren Dasein, in den Taten und Gedanken der physischenWelt möglichst unegoistisch ist. Wir müssen unseren Egoismus vor unserer Geburt in der geistigen Welt dazu verwenden, um uns so selbst zu bearbeiten, müssen so auf uns selbst hinschauen, daß wir in der physischen Welt selbstlos, das heißt moralisch werden.

Hier an diesem Punkte liegt alles, was man nennen kann

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das Wertvollste für den, der in die geistige Welt vordringen will. In der Tat muß man sich klar sein, daß man sein Böses und Unvollkommenes nicht umsonst wie sein Schattenbild sieht, wenn man in der geistigen Welt ist. Das ist es, was uns zeigt, wie wir mit der Sinneswelt verbunden bleiben müssen, wie unser Karma, unser Schicksal uns an die Sin­neswelt binden muß, bis wir es in der geistigen Welt so weit gebracht haben, daß wir nicht nur mit uns allein, sondern mit der ganzen Welt leben können. Es zeigt sich, wie es vom Übel ist, dasjenige, was im geistigen Fortschritt das Wesent­liche ist, nämlich Selbstvervollkommnung, unmittelbar auf die Dinge des äußeren Lebens anzuwenden. Geistigen Fort­schritt zu suchen ist nicht etwas, wovon wir uns abhalten lassen können. Das ist vielmehr unsere Pflicht. Und Pflicht ist für den Menschen die Entwickelung, die für alle übrigen Lebewesen Gesetz ist. Aber vom Übel ist es, das, was für die geistige Entwickelung ziemt, unmittelbar auf das äußere Leben anzuwenden. Diese beiden, äußeres physisches Leben mit seiner Moralität, müssen sich notwendigerweise wie eine zweite Welt hinstellen neben das, was die Seele innerlich anstrebt, wenn sie sich der geistigen Welt nähern will.

Nun liegt aber etwas vor, was wiederum wie ein Wider­spruch erscheinen könnte. Aber man möchte sagen: von sol­chen lebendigen Widersprüchen lebt die Welt. Es mußte betont werden: man muß sich in der Seele erkraften; gerade das Ego, das Ich müsse stärker werden, um in die geistige Welt einzudringen. Aber wenn man nun bei seinem gei­stigen Aufstieg nur den Egoismus entwickeln wollte, so würde man nicht weit kommen. Was heißt das aber? Es heißt: man muß schon ohne den Egoismus in die geistige Welt eintreten; respektive man kann nicht ohne den Egois­mus eintreten - was wehmütig jeder bekennen muß, der in die geistige Welt hineinkommt -, so muß man alles Egoistische

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so objektiv vor sich haben, daß man es als sein Ego­istisches, mit dem man verbunden ist in der äußeren Welt, schaut. Man muß also ein unegoistischer Mensch zu werden trachten mit den Mitteln des physischen Lebens, weil man in der geistigen Welt nicht mehr Gelegenheit hat, unego­istisch zu werden, weil es dort auf die Erkraftung des see­lischen Lebens ankommt. Das ist der nur scheinbare Wider­spruch. Wir müssen in der geistigen Welt, auch wenn wir durch die Pforte des Todes in die geistige Welt schreiten, dort mit dem leben, was in unserem Inneren an Stärke vor­handen ist. Aber wir können diese nicht erlangen, wenn wir sie nicht erlangen durch das altruistische Leben in der phy­sischen Welt. Altruismus in der physischen Welt spiegelt sich als der richtige, den Wert erhöhende Egoismus der geisti­gen Welt.

Wir sehen, wie schwierig die Begriffe werden, wenn man sich der geistigen Welt nähert. Aber jetzt sieht man zugleich, um was es sich im menschlichen Leben handeln kann. Denn nehmen wir nun an, der Mensch trete durch die Geburt ins physische Dasein. In diesem Falle, das heißt, wenn er das Wesen, das er in der geistigen Welt vor der Geburt oder der Empfängnis, zwischen dem letzten Tode und der jetzi­gen Geburt, war, umkleidet mit dem physischen Leib, so ist die Möglichkeit vorhanden, daß er mit dem, was gleich­sam Lebenskraft der geistigen Welt sein muß, ungerechtfer­tigterweise sein Physisch-Leibliches durchzieht; daß sich der Geist verirrt im Leiblichen, indem er das, was gut ist in der geistigen Welt, herunterträgt in die physische Welt. Dann wird, was gut ist in der geistigen Welt, zum Übel, zum Bö­sen in der physischen Welt! Das ist ein bedeutsames Ge­heimnis des Daseins, daß der Mensch das, was er notwendig braucht, um ein geistiges Wesen zu sein, was gewissermaßen sein Höchstes darstellt für sein geistiges Wesen, heruntertragen

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kann in die physische Welt, und daß sein höchstes, sein bestes Geistiges sogar die tiefste Verirrung werden kann im Physisch-Sinnlichen.

Wodurch tritt das Böse im Leben ein? Wodurch ist das sogenannte Verbrechen in der Welt?

Das ist dadurch vorhanden, daß der Mensch seine bessere Natur, nicht die schlechtere, untertauchen läßt im Physisch-Leiblichen, das als solches nicht böse sein kann, und dort diejenigen Eigenschaften entwickelt, die nicht in das Phy­sisch-Leibliche hineingehören, sondern die gerade in das Geistige gehören. Warum können wir Menschen böse sein? Weil wir geistige Wesen sein dürfen! Weil wir in die Lage kommen müssen, sobald wir uns in die geistige Welt hin­einleben, diejenigen Eigenschaften zu entwickeln, die zum Schlechten werden, wenn wir sie im physisch-sinnlichen Leben anwenden. Lassen Sie diejenigen Eigenschaften, die sich in Grausamkeit, meinetwillen in Heimtücke und in anderem in der physischen Welt ausleben, herausgenommen sein aus der physisch-sinnlichen Welt, lassen Sie die Seele sich von ihnen durchdringen und sie ausleben statt in der physisch-sinnlichen Welt in der geistigen Welt, dann sind sie dort die uns weiterbringenden, die uns vervollkomm­nenden Eigenschaften. Daß der Mensch das Geistige ver­kehrt im Sinnlichen anwendet, das führt zu seinem Bösen. Und könnte er nicht böse werden, so könnte er ein geistiges Wesen nicht sein. Denn die Eigenschaften, die ihn böse ma­chen können, er muß sie haben; sonst könnte er nie in die geistige Welt hinaufkommen.

Die Vollkommenheit besteht darin, daß der Mensch lernt, sich innerlich mit der Einsicht zu durchdringen: Du darfst die Eigenschaften, die dich im physischen Leben zum bösen Menschen machen, nicht in diesem physischen Leben an­wenden; denn so viel du von ihnen dort anwendest, so viel

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entziehst du dir von den erkraftenden Eigenschaften der Seele für das Geistige, so viel schwächst du dich für die gei­stige Welt. Dort sind diese Eigenschaften am rechten Platze.

So sehen wir, wie die Geisteswissenschaft zeigt, daß das Übel und das Böse durch ihre eigene Natur darauf hinwei­sen, daß wir neben der physischen Welt eine geistig-see­lische Welt annehmen müssen. Denn warum bleibt denn das menschliche Erkenntnisvermögen etwa eines Lotze oder anderer Denker stehen, wenn sie die sinnliche Welt betrach­ten und sagen: man dringe nicht hinein in den Ursprung des Übels und des Bösen? Weil da das vorliegt - da das Erkenntnisvermögen nicht vordringen will zur geistigen Welt -, daß es das Böse nicht aufklären kann aus der phy­sischen Welt heraus, weil es Mißbrauch ist von Kräften, die in die geistige Welt hineingehören! Was Wunder also, daß kein Philosoph, der von der geistigen Welt absieht, in der physisch-sinnlichen Welt jemals das Wesen des Bösen finden kann! Und wenn man von vornherein abgeneigt ist zu einer weiteren Welt vorzudringen, um in ihr den Ursprung des Bösen zu finden, dann kommt man auch nicht zu einer Er­kenntnis des äußeren Übels, desjenigen, was uns als das Schlechte und Unvollkommene in der äußeren Welt, zum Beispiel in der tierischen Welt, begegnet. Wir müssen uns eben klar sein, daß das Übel im menschlichen Handeln da­durch entsteht, daß der Mensch das, was für eine andere Welt ein Großes, ein Vollkommenes ist, gleichsam in eine andere Welt versetzt, wo es in sein Gegenteil verkehrt wird. Wenn man aber das von den Menschen unabhängige Übel in der Welt betrachtet, das Übel, das etwa durch die Tier­welt flutet, dann muß man sagen: Ja, dann müssen wir uns eben darüber klar sein, daß nicht nur Wesen da sind wie die Menschen, welche durch ihr Leben das, was in die gei­stige Welt hineingehört und dort groß ist, in eine andere

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Welt hineintragen, wo es deplaciert ist; sondern es muß auch andere Wesen geben - und der Blick auf die Tierwelt zeigt uns eben, daß es außer den Menschen geistige Wesen geben muß, welche auf das Gebiet, wo der Mensch sein Böses nicht hineintragen kann, nun ihr Böses hintragen und so dort das Übel erzeugen. Das heißt, wir werden mit der Erkenntnis, wo der Ursprung des Bösen sitzt, zugleich dazu geführt anzuerkennen, daß nicht nur der Mensch ein Un­vollkommenes in die Welt hineinstellen kann, sondern daß auch andere Wesen da sind, welche Unvollkommenheiten in die Welt hineinbringen können. Und so sagen wir uns, daß es nicht mehr unverständlich ist, wenn der Geistesfor­scher sagt: Die Tierwelt ist im Grunde genommen eine Aus­gestaltung einer unsichtbaren Geisteswelt; aber in dieser Geisteswelt waren Wesen da, welche vor dem Menschen dasselbe gemacht haben, was der Mensch jetzt macht, indem er das Geistige unberechtigterweise in die physische Welt hineingezogen hat. Dadurch ist alles Übel in der Tierwelt entstanden.

Das sollte heute ausgeführt werden, daß diejenigen Un­recht haben, welche glauben, aus dem materiellen Dasein heraus, weil die Seele in ein materielles Dasein verstrickt ist, könne man durch dieses Verstricktsein gleichsam der Materie den Impuls des Bösen zuschreiben. Nein, das Böse entsteht gerade durch die geistigen Eigenschaften und durch die geistigen Betätigungsmöglichkeiten des Menschen. Und wir mußten uns sagen: Wo bliebe die Weisheit in der Wel­tenordnung, die den Menschen darauf beschränken wollte, bloß in der Sinneswelt das Gute zu entfalten - und nicht das Böse, wenn sie ihm dadurch, wie wir gesehen haben, notwendigerweise die Kraft nehmen müßte, um in der gei­stigen Welt vorwärts zu kommen? Dadurch daß wir ein Wesen sind, das der physischen Welt und der geistigen Welt

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zugleich angehört, und daß in uns nicht die Unvollkommen­heit, sondern die Vollkommenheit das geistige Gesetz ist, sind wir in die Lage versetzt, wie ein Pendel, das nach der einen Seite ausschlagen kann; und wir sind in die Lage ver­setzt nach der anderen Seite ausschlagen zu können, weil wir Geistwesen sind, welche Geistiges in die physische Welt hereintragen können, um es dort als Böses zu verwirklichen, wie andere, vielleicht gegenüber dem Menschen höher ste­hende Wesen das Böse dadurch verwirklichen konnten, daß sie in die Sinneswelt hereingetragen haben, was nur der Geisteswelt angehören soll.

Ich weiß sehr wohl, daß mit einer solchen Darstellung des Ursprungs des Bösen und des Übels heute etwas gesagt wird, was vielleicht nur einer geringen Anzahl von Men­schen einleuchtend sein kann, was sich aber immer mehr und mehr in das menschliche Seelenleben einleben wird. Denn man wird finden, daß das Fertigwerden mit den Pro­blemen der Welt überhaupt nur möglich ist, wenn man die­ser unserer Welt eine geistige zugrundeliegend denkt. Mit den Vollkommenheiten der sinnlichen Welt mag der Mensch

- er gibt sich dabei allerdings auch einer Illusion hin - noch fertig werden; mit den Unvollkommenheiten aber, mit dem Bösen und dem Übel, wird er nicht fertig werden, wenn er nicht aufzusuchen vermag, inwiefern dieses Böse und das Übel in der Welt sein müssen. Und er sieht ein, daß sie in der Welt sein müssen, wenn er sich sagt: es ist das Böse in der physischen Welt nur deplaciert. Würden die Eigen­schaften, die der Mensch ungerechtfertigt in der physischen Welt verwendet, und die dort Böses stiften, in der geisti­gen Welt angewendet werden, so würde er dort vorwärts schreiten.

Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß es völliger Unsinn wäre, wenn jemand aus dem eben Gesagten den Schluß ziehen

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wollte: also stellst du dar, daß nur der Bösewicht in der geistigen Welt vorwärts kommt. Das wäre eine voll­ständige Verkennung des Gesagten. Denn nur dadurch sind die Eigenschaften böse, daß sie in der Sinneswelt angewen­det werden, während sie sofort eine Metamorphose durch­machen, wenn sie in der geistigen Welt angewendet werden. Wer solchen Einwand machen wollte, der gliche dem, der da sagte: du behauptest also, es ist ganz gut, wenn der Mensch die Kraft hat, eine Uhr zu zerschlagen? Gewiß ist es gut, wenn er diese Kraft hat; er braucht aber die Kraft nicht anwenden, um die Uhr zu zerschlagen. Wenn er sie zum Heile der Menschheit anwendet, dann ist sie eine gute Kraft. Und in diesem Sinne muß man sagen: Die Kräfte, welche der Mensch ins Böse hineinfließen läßt, sind nur an diesem Orte böse; am richtigen Orte richtig angewendet, sind es gute Kräfte.

Es muß tief hineinführen in die Geheimnisse des Men­schendaseins, wenn man sich sagen kann: Wodurch wird der Mensch böse? Dadurch, daß er die Kräfte, die ihm zu seiner Vollkommenheit verliehen sind, am unrechten Orte anwendet! Wodurch ist das Böse, ist das Übel in der Welt? Dadurch, daß der Mensch die Kräfte, die ihm verliehen sind, nicht in einer für diese Kräfte geeigneten Welt an­wendet.

In unserer Gegenwart könnte man geradezu sagen: Es ist für die Seelenuntergründe schon handgreiflich die Ten­denz, die Hinneigung zu den geistigen Welten vorhanden. Das könnte einem ein genauerer intimerer Blick auf das neunzehnte Jahrhundert lehren, auf die Zeit bis in unsere Gegenwart herein. Da treten einem im neunzehnten Jahr­hundert unter den Philosophen auch Vertreter dessen ent­gegen, was man den Pessimismus genannt hat, jene Welt­anschauung, die geradezu hinblickt auf die in der Welt vorhandenen

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Übel und auf das Böse, und die daraus den Schluß zieht - einzelne haben ihn ja gezogen-, daß diese Welt über­haupt nicht als eine solche angesehen werden kann, die etwas anderes von dem Menschen will, als eben dem Ende zugeführt zu werden. Ich will nur auf Schopenhauer oder auf Eduard von Hartmann hinweisen, welche gleichsam die Erlösung für den Menschen darin gesehen haben, daß sie sagten: nur in dem Aufgehen im Weltprozesse kann der einzelne sein Heil finden, nicht aber in einem, persönliche Befriedigung gewährenden Ziel. Aber ich möchte auf etwas anderes hinweisen: daß die Seele im Zeitalter der Materie von dem Materialismus gefangen ist, und daß in diesem Zeitalter die stärkste Trostlosigkeit eintreten muß gegen-über den Übeln der Welt, gegenüber dem Bösen; denn der Materialismus lehnt eine geistige Welt ab, aus der uns erst das Licht heraus leuchtet, was dem Übel und dem Bösen seine Bedeutung gibt. Wird diese Welt abgelehnt, so ist es ganz notwendig, daß uns diese Welt der Übel und des Bö­sen in ihrer Zwecklosigkeit trostlos entgegenstarrt. - Ich will heute nicht auf Nietzsche hinweisen, sondern auf einen anderen Geist des neunzehnten Jahrhunderts. Von einem gewissen Gesichtspunkte aus möchte ich auf einen tragi­schen Denker des neunzehnten Jahrhunderts hinweisen:

von dem Gesichtspunkte aus, daß der Mensch, indem er in seine Zeit hineingestellt ist, notwendigerweise mit seiner Zeit leben muß. Das ist das Eigentümliche unseres Wesens, daß sich unser Wesen zusammenfindet mit dem Wesen der Zeit. So war es nur natürlich in der letzten Zeit, daß tief veranlagte Geister, ja, gerade die, welche ein offenes Herz hatten für das, was sich in ihrer Umgebung abspielte, tief ergriffen wurden von jener Welterklärung, die nur in den äußeren Erscheinungen das Um und Auf des Weltendaseins sehen will. Aber solche Geister konnten sich oft nicht der

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Illusion hingeben, daß man dann ungetröstet durch die Welt gehen kann, wenn man hinschauen muß auf dieses

Weltendasein, die Übel betrachten muß - und nicht auf­blicken kann zu einer geistigen Welt, in welcher sich die

Übel rechtfertigen, wie wir gesehen haben.

Ein Geist, der ganz, ich möchte sagen, die Tragik des Materialismus durchmachte, trotzdem er nicht selber Mate­rialist geworden ist, war Philipp Mainländer, der 1841 ge­boren ist. Man kann ihn, wenn man die Dinge äußerlich betrachtet, einen Nachfolger Schopenhauers nennen. Zu einer eigenartigen Weltanschauung kam Mainländer. Er war im gewissen Sinne ein tiefer Geist, aber ein Kind sei­ner Zeit, das also nur hinschauen konnte auf das, was die Welt materiell darbietet. Nun wirkte ja, darüber soll man sich nicht täuschen, dieser Materialismus gerade auf die besten Seelen ungeheuer gefangennehmend. Ja, die Men­schen, die sich nicht um das kümmern, was die Zeit und ihr Geist bieten, die egoistisch dahinleben in einem reli­giösen Bekenntnis, das ihnen einmal lieb geworden ist, die « religiösesten» Leute sind manchmal in diesem Punkte die alleregoistischsten; jedes Hinausgehen über die Dinge, in die sie sich eingelebt haben, lehnen sie ab, kümmern sich nicht um anderes, als ihnen bekannt ist. Man kann immer wieder, wenn man auf die Tragik unzähliger Menschen hin­weist, die Antwort bekommen: Ja, kann denn nicht das alte Christentum die Seelen viel besser befriedigen als eure Geisteswissenschaft? Solche Fragen stellen Geister, die nicht mitgehen mit der Zeit und sich intolerant auflehnen gegen alles, was zum Heil der Menschheit in die Kulturentwicke­lung eindringen soll.

Philipp Mainländer schaute hin auf das, was ihm die äußere Wissenschaft, was ihm unsere Zeit von ihrem mate­rialistischen Gesichtspunkte aus zu sagen wußte, und da

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konnte er eben nur finden die übelvolle Welt und den Men­schen, mit dem Bösen veranlagt. Er konnte es nicht ableug­nen, daß der Druck dieser neueren Weltanschauung so stark ist, daß er die Seele verhindert, zu einer geistigen Welt hinaufzuschauen. Denn wollen wir es uns hier nur nicht verhehlen: warum kommen denn heute sowenig Menschen zur Geisteswissenschaft? Das ist deshalb, weil der Druck der Vorurteile des Materialismus oder, wie man es heute nobler nennt, des Monismus so stark ist, daß er die Seelen verfinstert, um in die geistigen Welten einzudringen. Wenn man die Seelen unabhängig sich selber überließe und nicht durch die materialistischen Vorurteile betäubte, so würden sie sicher zur Geisteswissenschaft kommen. Aber der Druck ist groß, und erst von unserer Zeit an kann man sagen: Es ist die Epoche herangerückt, in welcher man mit einiger Aus­sicht Geisteswissenschaft vor den Menschen vertreten kann, weil die Sehnsucht der Seelen so stark geworden ist, daß die Geisteswissenschaft ein Echo in den Seelen finden muß. In dem zweiten und dritten Drittel des neunzehnten Jahr­hunderts konnte dieses Echo nicht vorhanden sein. Da war der Druck des Materialismus so stark, daß selbst eine so sehr zum Geiste hinstrebende Seele wie diejenige Philipp Mainländers niedergehalten wurde. Und da kam er denn zu einer eigenartigen Anschauung, zu der Anschauung: in der gegenwärtigen Welt finde man allerdings kein Geisti­ges. Wir haben inMainländer im neunzehntenJahrhundert einen Geist vor uns, der nur deshalb keinen großen Ein­druck auf die Zeitgenossen gemacht hat, weil der Geist des neunzehnten Jahrhunderts, trotz der großen Fortschritte auf materiellem Gebiete, ein oberflächlicher Geist war. Aber was die Seele im neunzehnten Jahrhundert fühlen mußte, das hat Mainländer, selbst wenn er allein stand, gefühlt, weil er gewissermaßen der Weise war gegenüber denjenigen,

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die sich wie in einer geistigen Ohnmacht über das hin­wegsetzten, was die Seelen in einer materialistischen oder monistischen Weltanschauung unbefriedigt lassen muß. Man braucht nicht die etwas dicken Bände der «Philosophie der Erlösung» Mainländers sich vorzunehmen, sondern nur das verhältnismäßig recht gute Büchlein von Max Seiling, um sich von dem zu unterrichten, was ich jetzt sage.

Philipp Mainländer sah also in die Welt hinaus, und er konnte sie unter dem Druck des Materialismus nur so sehen, wie sie sich den Sinnen und dem Verstande darstellt. Aber er mußte eine geistige Welt voraussetzen. Sie ist aber nicht da, sagte er sich; die Sinneswelt muß aus sich selbst erklärt werden. Und nun kommt er zu der Anschauung, daß die geistige Welt der unsrigen vorangegangen ist, daß es einst ein geistig-göttliches Dasein gegeben hat, daß unsere Seele in einem geistig-göttlichen Dasein drinnen war, daß das göttliche Dasein aus einem früheren Sein in uns überge­gangen ist, und daß unsere Welt nur da sein kann, weil Gott gestorben ist, bevor diese geistige Welt vor uns hin-gestorben ist. So sieht Mainländer eine geistige Welt, aber nicht in unserer Welt; sondern in unserer Welt sieht er nur den mit dem Übel und dem Bösen beladenen Leichnam, der nur da sein kann, damit er seiner Vernichtung über­geben wird, damit das, was dazu geführt hat, Gott und seine Geisteswelt zum Absterben zu bringen, zuletzt auch noch im Zugrundegehen des Leichnams in das Nichtsein treten könne. - Mögen Monisten oder andere Denker dar­über mehr oder weniger lächeln; wer sich aber auf die menschliche Seele besser versteht und weiß, wie Weltan­schauung inneres Schicksal der Seele werden kann, wie die ganze Seele die Nuance der Weltanschauung annehmen kann, der weiß, was ein Mensch erleben mußte, der, wie Mainländer, die geistige Welt in eine Vorzeit versetzen

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mußte und in der gegenwärtigen Welt nur den materiell zurückgebliebenen Leichnam derselben sehen konnte. Um mit den Übeln dieser Welt fertig zu werden, hat Mainlän-der zu einer solchen Weltanschauung gegriffen. Daß er mehr drinnen war in dieser seiner Weltanschauung als Schopen­hauer oder Nietzsche, als Bahnsen oder Eduard von Hart­mann, das sehen wir daran, daß ihm in dem Augenblicke seines fünfunddreißigsten Jahres, als er seine «Philosophie der Erlösung» beendet hatte, der Gedanke kam: Deine Kraft wird jetzt leiblos gebraucht, damit du das, was dir zur Erlösung der Menschheit erscheint, schneller förderst, als wenn du nach der Mitte des Lebens den Leib noch be­nutzest. Daß Mainländer es mit seiner Weltanschauung im tiefsten Ernste meinte, zeigt sich daraus, daß er, als er zu diesem Gedanken kam: Du nutzest jetzt mehr, wenn du deine Kraft ausgießest in die Welt und nicht auf deinen Leib konzentrierst, wirklich die Konsequenz gezogen hat, die Schopenhauer und die anderen nicht gezogen haben, und durch Selbstmord, und zwar Selbstmord aus Über­zeugung, starb.

Mögen Philosophen und andere über ein solches Men­schenschicksal hinwegschauen: für unsere Zeit ist ein solches Menschenschicksal doch unendlich bedeutsam, weil es uns zeigt, wie die Seele leben muß, die wirklich zu ihren Tiefen vordringen kann, zu dem, was als die Sehnsucht in unserer Zeit wieder erstehen kann - wie die Seele leben kann, die dem Problem des Bösen und des Übels in der Welt gegen­übersteht, und keinen Ausblick hat in die Welt, wo sich geistiges Licht ausbreitet und den Sinn des Bösen und des Übels erleuchtet. Es war notwendig, daß die menschliche Seele eine Zeitlang die materialistischen Fähigkeiten ent­wickelte. Man wird in einer gewissen Zukunft das geistige Leben auch, ich möchte sagen, unter «psycho-biologische Gesichtspunkte»

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stellen, Gesichtspunkte des Seelenlebens, und sich klar werden, daß, nur ins Geistige heraufgehoben, für das Menschenwesen das gilt, was wie in einem physischen Abbilde unten, bei tierischen Wesen zum Beispiel, erscheint. Gewisse tierische Wesen können lange hungern und hun­gern auch lange. Kaulquappen zum Beispiel kann man durch längeres Hungern dazu bringen, daß sie schnell die Gestalt in Frösche umwandeln. Ahnliche Verhältnisse zeigen sich bei gewissen Fischen bei längerem Hungern,weil dann Rück­bildungsprozesse eintreten, die sie fähig machen, das aus­zuführen, was sie auszuführen haben; sie hungern, weil sie die Kräfte, welche sie sonst in die Nahrungsaufnahme hin­einnehmen, zurücknehmen, um eben andere Formen auszu­bilden. Das ist ein Bild, das sich auf die Menschenseele an­wenden läßt: Durch Jahrhunderte hat sie eine Zeit durch-lebt, wo man immer von den «Grenzen menschlicher Er­kenntnis» gesprochen hat; und selbst viele, die heute glau­ben spirituell zu denken, sind noch ganz den materialisti­schen Vorstellungen hingegeben - die man nur, weil man sich ihrer schämt, heute gern monistisch nennt -, und selbst Philosophen sind hingegeben dem Grundsatz: Es kann die menschliche Erkenntnis nicht anders als Halt machen, wo sie gerade vor den größten Rätseln steht. Die Fähigkeiten, die zu dem allen führten, mußten eine Zeitlang ausgebildet werden; das heißt die Menschheit mußte eine Zeit geistiger Aushungerung durchmachen. Dies war die Zeit des Herauf­kommens des Materialismus. Die Kräfte aber, die dadurch in den Seelen zurückgehalten wurden, sie werden nun nach einem psycho-biologischen Gesetz die Menschenseele dazu führen, den Weg in die geistigen Welten hinein zu suchen. Ja, finden wird man, daß das menschliche Grübeln die Form annehmen mußte, wie sie uns bei Mainländer entgegentritt, der nicht mehr die geistige Welt in der physischen Welt

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finden konnte, weil sie ihm der Materialismus genommen hatte, und der daher vor der physischen Welt stehen bleiben mußte, dabei nur den Fehler machte zu übersehen, daß das, was unserer Welt vorliegt, uns doch die Möglichkeit gibt, in unserer Seele etwas aufzufinden, was ebenso in die Zu­kunif verweist wie die äußere Welt in die Vergangenheit weist. Denn nicht zu leugnen ist es, daß Mainländer in einem gewissen Sinne recht hatte: daß das, was unsere Welt ringsherum darbietet, die Reste einer ursprünglichen Ent­wickelung sind. Selbst die gegenwärtigen Geologen müssen heute schon zugeben, daß wir, indem wir über die Erde wandeln, über einen Leichnam hinwegschreiten. Aber was Mainländer noch nicht zeigen konnte, das ist, daß wir, in­dem wir über einen Leichnam schreiten, zugleich in unserem Innern etwas entwickeln, was geradeso Keim ist für die Zukunft, wie das, was um uns herum ist, Hinterlassenschaft der Vergangenheit ist. Und indem wir auf das blicken, was die Geisteswissenschaft der einzelnen Seele ist, kann in uns wiederaufleben, worauf Mainländer noch nicht schauen konnte, und daher verzweifeln mußte.

So stehen wir an der Grenzscheide zweier Zeitalter: des Zeitalters des Materialismus und desjenigen der Geistes­wissenschaft. Und vielleicht kann uns nichts so sehr in po­pulärer Form beweisen, wie wir, wenn wir unsere Seele recht verstehen, dem spirituellen Zeitalter der Zukunft ent­gegenleben müssen, als die Betrachtung des Übels und des Bösen, wenn wir den Blick in die lichten Höhen der Gei­steswelt hinaufwenden können. Oft habe ich gesagt, daß man sich mit solchen Betrachtungen im Einklange fühlt mit den besten Geistern aller Zeiten, die ersehnt haben, wie in immer klarerer Weise die Menschheit gegen die Zukunft hin leben müsse. Wenn nun ein solcher Geist, mit dem man sich in vollem Einklange fühlt, gegenüber der äußeren Sinneswelt

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einen Ausspruch getan hat, der wie ein Appell an eine geistige Erkenntnis ist, so dürfen wir auch damit zusam­menfassen, was heute an unsere Seele hat herantreten kön­nen, und dieses als eine Art Umwandlung eines solchen Aus­spruches anführen.

Goethe hat in seinem «Faust» etwas sagen lassen, was zeigt, wie der Mensch von dem Geiste abkommen kann. Paradigmatisch zusammengefaßt in einen schönen Spruch ist das Fernstehen des Menschen gegenüber der geistigen Welt in den Worten:

Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben,

Sucht erst den Geist herauszutreiben,

Dann hat er die Teile in seiner Hand,

Fehlt leider! nur das geistige Band.

So ist es gewissermaßen gegenüber aller Erkenntnis der Welt. Das Schicksal der Menschheit war es, durch einige Jahrhunderte hindurch sich den Teilen zu widmen. Immer mehr und mehr wird man es aber nicht bloß als einen theo­retischen Mangel, sondern als eine Tragik der Seele empfin­den, daß das geistige Band fehlt. Deshalb muß der Geistes-forscher in den Seelen heute überall erblicken, was die mei­sten Seelen noch nicht selber wissen: die Sehnsucht nach der geistigen Welt. Und wenn man so etwas ins Auge faßt, wie es die Beleuchtung der Natur des Übels und des Bösen ist, so kann man vielleicht den Goetheschen Ausspruch erwei­tern, indem man wie eine Zusammenfassung des Gesagten das Folgende nimmt.

Goethe meinte, wer nach einer Weltanschauung streben will, der darf sich nicht nur an die Teile halten, sondern muß vor allem auf das geistige Band sehen. Derjenige aber, der sich so bedeutsamen Lebensfragen nähert, wie es die Rätsel des Übels und des Bösen sind, der darf aus geisteswissenschaftlichen

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Untergründen heraus sagen, seine Über­zeugung empfindungsgemäß zusammenfassend:

Der löst der Seele Rätsel nie,

Der verweilt im bloßen Sinneslicht;

Wer das Leben will verstehen,

Muß nach Geisteshöhen streben!

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DIE SITTLICHE GRUNDLAGE DES MENSCHENLEBENS Berlin, 12. Februar 1914

Obwohl naturgemäß in diesem Zyklus von Vorträgen öfter die Rede sein mußte von dem sittlichen Leben des Menschen, von der sittlichen Weltordnung, so sei es mir doch gestattet, heute noch einmal im besonderen dasjenige zusammenzufassen, was vom Standpunkte der Geisteswissenschaft aus über die Grundlagen der sittlichen Weltord­nung im Menschenleben zu sagen ist.

Schiller hat in einer grandios einfachen Weise zum Ausdruck gebracht, man möchte sagen, aus einem allgemeinen Weltgefühl heraus den Grundcharakter des sittlichen Men­schenlebens. In den einfachen Worten drückt er das aus:

Suchst du das Höchste, das Größte?

Die Pflanze kann es dich lehren.

Was sie willenlos ist,

Sei du es wollend - das ist's.

Es werden gerade die heutigen Auseinandersetzungen viel­leicht zeigen, daß der Grundcharakter des sittlichen Lebens wirklich mit diesem Ausspruche getroffen ist. Daß aber in der zweiten Hälfte dieses Ausspruches ein Rätsel, ein be­deutsames Rätsel verborgen ist: «Was die Pflanze willenlos ist, sei du es wollend - das ist's!» darauf kommt es eben an: wie, wodurch und woher der Mensch wollend sein könnte, was die Pflanze willenlos ist. Und in dem Rätsel, das in dieser zweiten Hälfte des Schillerschen Ausspruches liegt,

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hat man im Grunde genommen auch den Grundnerv aller philosophischen und moralwissenschaftlichen Forschungen zu suchen, wie sie durch die geistige Entwickelungsgeschichte der Menschheit gehen.

In unserer Zeit ist es einer großen Anzahl von Denkern, von Persönlichkeiten, die sich mit den moralischen Fragen der Menschheit beschäftigen, kaum möglich, wirklich bis zu dem vorzudringen, aus dem heraus die doch unleugbare Tatsache einer ethischen Verpflichtung des Menschen zu ho­len ist. Wir werden sehen, wie die ethischen Verpflichtungen, die sittlichen Impulse für eine große Anzahl von Denker-persönlichkeiten wie hereinleuchten in das Leben, ohne daß aus den Voraussetzungen der für die Gegenwart charakte­ristischen Weltanschauungen leicht etwas angegeben wer­den könnte über den Ort, woher dieses Licht der sittlichen Impulse eigentlich in die Menschenseele hereinströmt.

Gerade dann, wenn wir an den Schillerschen Ausspruch anknüpfen - es sei eben nur an ihn angeknüpft - können wir eine eigentümliche, zunächst wie das sittliche Leben be­leuchtende Tatsache bemerken, die einem insbesondere dann klar vor Augen tritt, wenn man in das niederste der Natur-reiche, in das Mineralreich hinabsteigt. Nehmen wir an, wir würden den Blick auf irgendein Ding aus dem Mineralreich richten, zum Beispiel auf einen Bergkristall. Das Wesent­liche, aber nicht immer genug Bemerkbare ist das, daß man nach der ganzen Sachlage des Kosmos die Voraussetzung machen muß: wenn dieser Bergkristall, wenn dieses Natur-gebilde dasjenige zur Ausgestaltung bringt, was man als seine ihm - gebrauchen wir das Wort - eingeborenen Ge­setze anerkennen muß, so stellt es dasjenige dar, was seine Wesenheit ist. Wäre man imstande - und gewiß wird die fortlaufende Naturwissenschaft zu solchen Errungenschaf­ten kommen; als hypothetische Ausgestaltungen sind sie

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schon von einzelnen versucht worden -, aus der besonderen Substanz des Bergkristalls anzugeben, wie seine besondere Kristallgestalt, das bekannte sechsseitige Prisma, von bei­den Seiten abgeschlossen durch sechsseitige Pyramiden, sich herausergeben müsse, dann kann man auch wissen, wenn es eine solche Kristallgestalt erreicht, wie dieses sozusagen seiner Substanz nach zu erkennende Gesetz in der Außen­welt sich ausdrückt. Dann stellt es für das, was es im äuße­ren Raume ist, sein Wesen dar. - In einem gewissen Sinne können wir ein gleiches von den Wesen des Pflanzenreiches sagen, vielleicht weniger schon von den Wesen des Tier-reiches; aber im wesentlichen gilt, wenn auch etwas modi­fiziert, da ja in der Natur alles in gewissen Abstufungen nur vorhanden ist, dasselbe Gesetz im Grunde genommen auch im Tierreich. Man müßte zwar viel sagen, wenn man die Eigentümlichkeit des mit diesem Gesetz Angedeuteten auseinandersetzen wollte. Das soll hier nur angedeutet wer­den. Je tiefer man eben in diese Tatsache sich hineinver­senkt, desto mehr erkennt man, daß hier für unsere Welt­ordnung ein Punkt liegt, durch den sich der Mensch - gerade wenn man vorurteilslos in die Weltordnung hineinblickt, bemerkt man das - doch radikal von den übrigen Natur-wesen unterscheidet.

Man nehme einmal an, man könnte wirklich alle die­jenigen Bildungs- und sonstigen Gesetze erkennen, die einer menschlichen Form eingeboren sind, wie etwa die Kristall-gestalt einem Bergkristall eingeboren ist, und es würde der Mensch diese ihm eingeborene Summe von Bildekräften zum Ausdruck bringen. Dann wäre er nicht in demselben Sinne äußerlich im Raume sein Wesen darstellend, wie die übrigen Naturwesen. Denn tief im Innern des Menschen ruht das, was wir moralische Impulse nennen, und deren zunächst Charakteristisches doch das ist, daß es eine innere

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Entwickelungstendenz anfacht, dahingehend, daß der Mensch nicht wie die übrigen Naturwesen, wenn er seine natürlichen Bildekräfte zum Ausdruck bringt, dieses sein Wesen abgeschlossen darstellt. Es muß zugegeben werden, daß damit zunächst kaum etwas anderes ausgedrückt ist als, man möchte sagen, eine sogar recht triviale Tatsache, aber eine Tatsache, von der doch ausgegangen werden muß. Sie wird gerade von mehr naturalistisch oder materialistisch gefärbten Weltanschauungen nicht einmal anerkannt; aber von einem vorurteilsfreien Hinblicken auf das Dasein muß sie anerkannt werden. Es muß anerkannt werden, daß der Mensch zunächst, sagen wir, von irgendwoher etwas ver­nimmt, was sich in sein Wesen einleben will, und was ihm den Impuls gibt, sein Wesen nicht für ein abgeschlossenes halten zu können, wenn es in demselben Sinne in das Da­sein tritt, wie die anderen Naturgeschöpfe ins Dasein tre­ten. Ja, man könnte sagen: So vollkommen, so vollendet der Mensch auch seine Bildekräfte im Sinne der Bildekräfte der anderen Naturgeschöpfe ins Dasein versetzen könnte, sein Wesen würde er gegenüber den moralischen Impulsen niemals als abgeschlossen erklären können. Das führte ja dahin, jetzt von älteren Zeiten gar nicht zu sprechen, daß Kant, der große Philosoph, sich genötigt sah, sein Weltbild geradezu in zwei völlig voneinander geschiedene Teile zu scheiden: in den einen Teil, der alles darstellt, was von der Außenwelt zu erkennen ist, so zu erkennen ist, daß sich in dieses Weltbild auch der Mensch mit allen seinen organi­schen Bildekräften hineinstellt, und in den anderen Teil, der zunächst ins menschliche Dasein hereinragt nur wie den Grundton erhaltend durch den «kategorischen Imperativ»:

Handle so, daß die Maxime deines Handelns Gebot des Handelns für alle Menschen werden könnte. So etwa könnte der kategorische Imperativ ausgesprochen werden. Dieser

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andere Teil des kantischen Weltbildes stellt sich ins Men­schenleben so hinein, daß er den Grundton für den Men­schen angibt. Aber wie faßt ihn Kant auf? So, daß er seiner Natur nach aus einer ganz anderen Welt herausspricht als aus jener, die mit dem Wissens- und Erkenntnisweltbilde umfaßt wird. Und so sehr spricht er aus einer ganz anderen Welt heraus, daß Kant an diesen Teil, aus welchem der kate­gorische Imperativ herausspricht, alles anlehnt, was er an Lehren über ein göttliches Wesen, über menschliche Freiheit, über die Unsterblichkeit der Seele in diesen Teil seines Welt-bildes hereinzubekommen versucht. Und ausdrücklich meint Kant, daß man hinhorchen muß auf eine ganz andere Welt, als diejenige des gewöhnlichen menschlichen Wissens es ist, wenn man das vernehmen will, was den Menschen ver­pflichtet. Gleichsam das Eingangstor in eine über die Sin­neswelt erhabene Welt ist der kategorische Imperativ, ist dieses unbedingt verpflichtende Pflichtgebot.

So sieht man, daß es wohl empfunden wird, daß des Men­schen Wesenheit nicht abgeschlossen ist mit demjenigen, was seine Bildungskräfte sind, entsprechend den Bildungskräf­ten der anderen Geschöpfe, mit denen er zusammen den physischen Kosmos ausmacht. In unserer Zeit zeigt sich ein Merkwürdiges. Man möchte sagen: unsere Zeit der mehr materialistisch - mechanistischen, naturalistisch geordneten Denkweise kann, wenn sie sich ihren innersten Impulsen konsequent überläßt, doch eigentlich nicht von einer sol­chen Welt sprechen, von welcher selbst Kant noch in dem eben angedeuten Sinne gesprochen hat. Gewiß, es sind die wenigsten Menschen in unserer Gegenwart in bezug auf ihre Weltanschauung konsequent. Sie dehnen nicht alle Grund-gefühle, welche aus den Voraussetzungen ihrer Weltan­schauung folgen, auf das gesamte Weltbild aus. Diejenigen namentlich, die heute einem naturalistisch-materialistisch

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gefärbten Weltbilde huldigen - und die sich heute lieber Monisten nennen, müßten völlig auch nur die Möglichkeit ablehnen, in eine Welt aufzuschauen, in welche Kant wie durch eine Eingangspforte durch seinen kategorischen Im­perativ hineinschaut. Das tun sie auch. Und nicht nur solche, die mehr oder weniger auf einem naturwissenschaftlichen Boden stehen und bei denen es begreiflich ist, sondern auch viele, die sich «Psychologen» nennen, machen es so. Zahl­reiche psychologische Denker der jüngsten Vergangenheit kommen nicht mehr zurecht, wenn sie fragen: Woher kom­men denn eigentlich die sittlichen Grundlagen des Menschen­lebens? Woher kommt das, was als moralische Impulse ins Menschenleben hereinspricht, und was den Menschen den­noch unterscheidet von allen übrigen Naturwesen? Da kom­men denn die Leute dahin zusagen: Sittlichkeit, Ethik müßte darauf begründet werden, daß der einzelne nicht bloß jenen Impulsen folgt, die unmittelbar auf sein eigenes Wesen, auf sein eigenes Dasein sich richten, sondern daß er denjenigen Impulsen folgt, welche sich auf die Gesamtheit richten. Und «Sozialethik» ist ja ein Wort geworden, welches in unserer Gegenwart sehr beliebt ist. Weil man mit den Kräften, von denen man einmal glaubt, daß sie dem Erkenntnisvermögen zu Gebote stehen, zu keiner höheren Welt aufschauen kann, so sucht man in gewissen Grenzbereichen, aber, wie wir gleich sehen werden, dennoch ohne einen wirklichen Grund und Boden, Anhalt zu gewinnen bei dem, was man noch als «real» gelten lassen kann: die Gesamtheit der Menschen oder irgend eine Gruppe der Menschheit. Und man nennt das moralisch, was im Sinne dieser Gesamtheit ist, im Ge­gensatz zu dem, was der einzelne Mensch nur für sich tut. Man kann ungemein spintisierende Gedanken in der Ge­genwart finden, welche Ethik und Sittlichkeit aufrecht er­halten wollen unter diesem Gesichtspunkte einer bloßen

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Sozialethik. Aber wer diesen Dingen tiefer auf den Grund sieht - gleichgültig, ob er nach den sittlichen Impulsen für das einzelne Menschenleben forscht, oder ob er nach dem forscht, was der einzelne als Glied der Gesamtheit zu tun hat -, er muß doch eben fragen nach dem wirklichen Inhalt dessen, was zu tun ist, oder, sagen wir besser, nach dem, woher ein solcher Inhalt kommen kann, nach dem «Orte», figürlich gesprochen, von dem die sittlichen Impulse aus­gehen können. In diesem Sinne hat Schopenhauer wirklich ein glänzendes Wort gesprochen, das hier schon öfter von mir zitiert worden ist: «Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer». Er meint damit: die Kräfte und Im­pulse in der Menschenseele aufzusuchen, welche den Men­schen wirklich real zu einem sittlichen Wesen machen, das ist schwierig, während aus dem historischen Verlauf der Menschheit oder auch aus den religiösen oder sonstigen Systemen gewisse Grundsätze leicht aufzulesen sind, mit denen man dann Moral predigen kann. Nicht darauf kommt es Schopenhauer an, ob man diese oder jene Moralgrund­sätze aussprechen kann, sondern was das ist, was den mo­ralischen Impulsen als Kräfte zugrunde liegt, analog wie die Kräfte der äußeren Natur den Naturerscheinungen zu­grunde liegen.

Nun sucht Schopenhauer allerdings in seiner einseitigen Weise diese Impulse der menschlichen Natur in dem Mit­leid und Mitgefühl. Man hat mit Recht gesagt: Woher sollte jemand, der sich moralisch mit einer Sache verbunden fühlt, die nur ihn selbst und keinen anderen angeht, einen Mein­eid zu vermeiden suchen, der nur durch das Mitgefühl ver­anlaßt ist? Oder wodurch sollte jemand sittlich verhindert werden, sagen wir, sich selbst zu verstümmeln aus einem gewissen Mitgefühl heraus? Kurz, und es könnten viele solche Dinge angeführt werden: mit dem Impuls, den Schopenhauer

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findet, trifft man zwar etwas ungeheuer Umfas­sendes, trifft man etwas, was den weitaus meisten sittlichen Handlungen zugrunde liegen muß, aber als solches durch-aus nicht erschöpfend sein kann.

Lehrreich ist es unter allen Umständen, daß die Theorien, die Anschauungen und Meinungen über den Ursprung des Sittlichen um so mehr ins Leere greifen, je mehr sich irgend­eine Weltanschauung bloß dem zuneigt, was mit den äuße­ren Sinnen und dem Verstande gewonnen werden kann, der auf diese äußere Sinneswelt gerichtet ist. Es würde natür­lich zuviel Zeit in Anspruch nehmen, wenn ich ausführlich zeigen wollte, aber es könnte gezeigt werden, daß eine solche Weltanschauung, wenn sie auch in die Lage kommt, zum Beispiel die Weltanschauung irgend eines Naturbildes zu begründen, in der Tat unmöglich imstande ist, die Ur­sprungsstätte des Sittlichen anzugeben. Es bleibt das sitt­liche, das ethische Leben im Grunde genommen doch bei einer jeden solchen Weltanschauung in der Luft hängen, die nur auf die äußere Sinneswelt und auf den Verstand ge­richtet sein will, der die Tatsachen der Sinneswelt kombi­niert oder zu Gesetzen formt.

Was eben, nur einleitungsweise, gesagt worden ist, das sollte dazu hinüberleiten, auseinanderzusetzen, was im Grunde genommen nach den vorhergehenden Vorträgen ganz natürlich erscheinen muß: Wenn man voraussetzt, wie das im Sinne aller Vorträge liegt, die ich hier gehalten habe, daß unsere Sinneswelt und der Welt des Verstandes eine Welt der geistigen Wesenheiten und der geistigen Tatsachen zugrunde liegt, dann ist es eben nur naturgemäß, da man im Umkreise der Sinneswelt die Impulse des Ethischen, des Sittlichen nicht finden kann, diese Impulse in der geistigen Welt aufzusuchen. Denn vielleicht sind doch die Voraus­setzungen, die Anschauungen und Meinungen derjenigen

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richtig, welche da glauben, daß gerade irn Sittlichen etwas in die Menschennatur hereinspricht, was aus einer über­sinnlichen Welt unmittelbar kommt. So wollen wir denn mit den Voraussetzungen, die hier in diesen Vorträgen ge­macht worden sind, einmal an die Betrachtung des sittlichen Lebens herangehen. Ich werde dazu allerdings für diejeni­gen Zuhörer, die nur wenige dieser Vorträge gehört haben, einiges ganz kurz darüber zusammenfassen, wie der Geistes-forscher in die geistige Welt hinaufkommt, wo wir nun den Ursprung der sittlichen Grundlage des Menschenlebens su­chen wollen.

Öfter ist hier gesagt worden: Wenn der Mensch über das Gebiet der Sinneserfahrung und über jenes Gebiet, das die gewöhnliche Wissenschaft finden kann, hinauskommen will, so handelt es sich darum, nicht bei den Erkenntniskräften stehen zu bleiben, die der Mensch einmal hat, wenn er in die Welt hereingestellt ist. Alle Wissenschaft, alle Betrach­tung hat recht, welche in dem oft hier auseinandergesetzten Sinne von Grenzen des Erkennens spricht und von der Vor­aussetzung ausgeht, der Mensch könne nicht andere Er-kenntniskräfte entwickeln als die, welche von selbst in ihm sind, welche dadurch in ihm sind, daß er, insofern er ohne sein Zutun in die Welt hineingestellt ist, sich in dieser be-findet mit seinen Qualitäten. Aber in der Geistesforschung kommt es darauf an, daß alles, was im Menschen schon ist, weiterentwickelt wird, daß die Voraussetzung praktisch anerkannt wird: im Menschen liegen schlummernde Kräfte, welche erweckt werden können. Und hier ist öfter von den Methoden gesprochen worden, welche diese schlummernden Kräfte entwickeln können. Es ist gesprochen worden von jener «geistigen Chemie», die mit genau derselben Logik und Denkungsweise strenge vorgeht, wie die Naturwissen­schaft, aber die eben auf das geistige Gebiet sich erstreckt

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und deshalb gezwungen ist, die natürlichen Methoden und die natürliche Vorstellungsweise in einer ganz anderen Art auszubilden, als die Naturwissenschaft selber. In diesem Sinne haben wir oft auseinandergesetzt, wo die Geisteswis­senschaft im echten Sinne in unserer Zeit eine Fortsetzung der Naturwissenschaft sein muß. Ich darf auf das, was nur gleichsam erwähnt werden soll, vielleicht noch einmal zur Verdeutlichung hinweisen.

Dem Wasser, sagte ich einmal, kann man nicht ansehen, wenn man es nur als Wasser vor sich hat, daß in ihm der Wasserstoff enthalten ist, den der Chemiker durch die äußere Chemie heraussondert. Das Wasser löscht das Feuer, ist selbst nicht brennbar; Wasserstoff, ein Gas, ist brennbar und kann auch flüssig gemacht werden. Ebensowenig wie man dem Wasser ansehen kann, welches die Natur des Was-serstoffes ist, der mit dem Sauerstoff zum Wasser verbun­den ist, ebensowenig kann man dem äußeren Menschen an­sehen, was als Geistig-Seelisches an das äußerlich Leibliche gebunden ist; und so wenig als man sich davor zu fürchten hat, ein rückschrittlicher Dualist genannt zu werden, wenn man anerkennt, daß das Wasser, ein Monon, aus Wasser­stoff und Sauerstoff besteht, ebensowenig braucht man zu fürchten kein richtiger «Monist» zu sein, wenn man sagt, daß in dem, was uns im Menschen entgegentritt, ein Gei­stig-Seelisches ist, wie der Wasserstoff im Wasser, und daß dieses Geistig-Seelische von dem, was man im alltäglichen Menschen beobachten kann, so unterschieden ist, wie der Wasserstoff vom Wasser unterschieden ist. Und geistige Che­mie besteht allerdings nicht in tumultuarischen Verrichtun­gen, in etwas, was äußerlich vollzogen werden kann, wie die äußere Chemie, sondern in folgendem, was aber nur ganz kurz dargestellt werden soll. Das Genauere kann aus meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» oder aus dem Buche

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«Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» er­sehen werden.

Der Mensch ist das einzige Werkzeug, durch welches in die geistige Welt eingedrungen werden kann. Aber er muß durch besondere Übungen, die er mit seiner Seele vorneh­men muß, sich selbst bis zu dem Punkt bringen, daß er einen Sinn verbinden kann mit den Worten: Ich erlebe mich in meinem Geistig-Seelischen außerhalb des Physisch-Leib­lichen - wie der Wasserstoff sagen müßte, wenn er sich er­leben könnte: ich erlebe mich außerhalb des Sauerstoffes. Damit dieses Geistig-Seelische sich praktisch lostrennt von dem Physisch-Leiblichen, und daß der Mensch dazu kommt, einen Sinn zu verbinden mit den Worten: Ich erlebe mich imGeistig-Seelischen, aber mein Physisch-Leibliches ist außer mir, wie der Tisch außer mir ist, dazu sind ausdauernde Seelenübungen nötig, die kürzer oder länger dauern und im wesentlichen in einer Steigerung der Aufmerksamkeit bestehen, was schon im gewöhnlichen Leben wichtig ist -aber nicht Aufmerksamkeit auf einen durch Äußerliches herbeigeführten Seeleninhalt, sondern durch einen willkür­lich in den Mittelpunkt des Seelenlebens gestellten Seelen-inhalt. Wenn der Mensch dann in die Lage kommt, alle seine Seelenkräfte so anzuspannen und sie dann auf einen überschaubaren Seeleninhalt konzentriert, von dem er ganz genau weiß, welchen Seeleninhalt er selbst hineingelegt hat, dann wird allmählich durch dieses stärkere Konzentrieren der Seelenkräfte alles dasjenige zusammengedrängt, was dem Menschen die Fähigkeit gibt, sein Geistig-Seelisches herauszuheben aus dem Physisch-Leiblichen. Nur muß un­abhängig von dem Üben der sogenannten Konzentration noch die Übung der Meditation hinzutreten. Das ist etwas, was der Mensch schon im gewöhnlichen Leben kennt, aber in der Geisteswissenschaft ins Unbegrenzte gesteigert werden

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muß: Hingabe, Hingabe an den allgemeinen Weltpro­zeß. So hingegeben sein dem allgemeinen Weltensein, wie es der einzelne Mensch im Schlafe durch seine Gliederruhe ist, aber bewußt und nicht bewußtlos, das ist das zweite Erfordernis in der Geisteswissenschaft. Daß viele Menschen nicht den rechten Erfolg dieser Übungen erleben, liegt daran, daß die Menschen in dem systematischen und ausdauern­den Durchführen dieser Übungen erlahmen. Indem man durch solche Übungen den Seelenkräften eine andere Rich­tung gibt, als sie im alltäglichen Leben haben und sie in anderer Weise anspannt, als sie im Alltagsda sein angespannt sind, gelangt man wirklich dahin, daß man den merkwür­digen Augenblick erreicht, der zu erreichen möglich ist, wo man weiß: Jetzt erlebst du geistig-seelisch; aber während du dich vorher deines Gehirns und deiner Sinne bedient hast, weißt du dich jetzt herausgestiegen aus dem Leibe und außerhalb desselben, wie sonst die äußeren Gegenstände außerhalb deiner waren.

Die Anerkennung, daß so etwas möglich ist, steht heute noch am Beginne der Zeitkultur. Sie wird sich durchringen, wie sich die Wahrheiten - die Wahrheit eines Kopernikus, eines Kepler, eines Galilei - immer durchgerungen haben. Diesen standen genau dieselben, nur nuancierten rückstän­digen Erkenntniskräfte gegenüber, welche der Anerkennung der geistigen Welten heute gegenüberstehen. Wenn die Geg­ner damals Leute waren, die auf alter religiöser Überliefe­rung standen, so sind es heute sogenannte «Freigeister», die sich der Anerkennung der geisteswissenschaftlichen Erkennt­nisse entgegenstellen. Aber der Schritt zu dieser Anerken­nung wird gemacht werden, wird in demselben Sinne ge­macht werden müssen, wie zur Zeit des Kopernikus, des Galilei und des Giordano Bruno der Schritt für die äußere Naturwissenschaft gemacht worden ist. - Ich habe niemals

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die Gepflogenheit gehabt, in Abstraktionen und Spekula­tionen zu Ihnen zu sprechen, sondern ich habe immer ver­sucht, die konkreten geistigen Tatsachen anzuführen, zu denen der Mensch kommt, wenn er die angedeuteten Stufen einer geistigen Erkenntnis erreicht. Tatsächlich kann es er-lebt werden, daß der Mensch in seinem Geistig-Seelischen aus dem Physisch-Leiblichen sich heraushebt und sich so erlebt, daß er deutlich das Bewußtsein hat, welches sich durch das Erleben selbst von jeder Illusion und Halluzina­tion unterscheidet: Du erlebst dich außerhalb deines Kop­fes, und wenn du wieder untertauchst, so ist es, wie wenn du wieder anfängst, dein Gehirn als äußeres Instrument zu benutzen. Dieses Erlebnis ist, wenn es zuerst, in seinen ersten Phasen, auftritt, erschütternd. Aber es ist zu erreichen, und angegeben ist es in der Schrift: «Wie erlangt man Er­kenntnisse der höheren Welten?» Und dann tritt man in eine Welt konkreter geistiger Erlebnisse ein, wo man sich ebenso innerhalb geistiger Tatsachen befindet, wie man mit den Sinnen und dem Verstande in einer Welt konkreter Sinneswesen und Sinnestatsachen steht.

Dieser Welt, der man so gegenübersteht, tritt man ent­gegen in drei Stufen. Die erste Stufe, durch die man sich hindurchzuarbeiten hat, ist die, welche ich mir zu nennen erlaubt habe, die Stufe der imaginativen Welt. Diese ima-ginative Welt ist nicht eine eingebildete Welt, sondern eine solche, in der man die Tatsachen der geistigen Welt erlebt in einer Summe von Bildern, die wirklich so, wie die Sinnes­wahrnehmungen die Tatsachen des Raumes ausdrücken, als Bilder die Vorgänge der geistigen Welt ausdrücken. Durch diese imaginative Welt muß man sich hindurcharbeiten, muß sich vor allen Dingen so durch sie hindurcharbeiten, daß man alle Quellen von Irrtümern, die sehr zahlreich sind, nach und nach kennenlernt, so daß man nach und nach

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unterscheiden lernt, was einen täuscht und trügt, und was einem wirklichen geistigen Dasein von Wesen oder Vorgän­gen entspricht. - Man steigt dann auf zu einer zweiten Stufe der Erkenntnis, die ich mir gestatte die Inspiration zu nen­nen. Die Inspiration unterscheidet sich bei dem geistigen Wahrnehmen nur dadurch von der Imagination, daß man bei der letzteren gleichsam nur die äußere Oberfläche von geistigen Vorgängen und Wesenheiten in Bildern entgegen-scheinend hat, während man jetzt das ausbilden muß, was die geistige Wahrnehmung radikal von der äußeren Wahr­nehmung unterscheidet: daß man untertaucht in das geistige Wahrnehmen. In der Tat ist es so, daß man nicht in der Weise dem geistigen Dasein gegenübersteht, wie es im sinn­lichen Dasein ist: daß es dort ist - und ich hier; sondern beim geistigen Erkennen findet in der Tat etwas statt wie ein Ausweiten über das, was wahrgenommen wird, ein Untertauchen in das, was wahrgenommen wird. Es klingt merkwürdig, ist aber wörtlich wahr: man dehnt sich räum­lich aus mit seinem eigenen Wesen in alle die Dinge hinein, die man in der geistigen Welt wahrnimmt. Während man sonst an einem Punkt des Raumes steht, in seine Haut ein­geschlossen, und alles andere draußen ist, wird bei der gei­stigen Welt alles innere Welt, was man sonst gewohnt ist äußere Welt zu nennen. In dem lebt und webt man und geht darin auf, soweit man einzudringen in der Lage ist. Und dann gibt es noch eine höhere Stufe des Erkennens, von der heute hier nicht gesprochen zu werden braucht; das ist die Intuition, im rechten Sinne verstanden, nicht was im gewöhnlichen Sinne oft so genannt wird. Durch die Ima­gination, Inspiration und Intuition arbeitet man sich hinein in die geistige Welt.

Die Frage soll uns jetzt beschäftigen: Wenn man also aus dem Leib und aus den gewöhnlichen Erlebnissen des Daseins

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heraustritt, welcher Unterschied stellt sich dann heraus in bezug auf alles, was man Erkenntnis nennt, die von außen kommt, die man gewohnt ist von außen entgegenzunehmen

- und in bezug auf das, was man als seine sittlichen Im­pulse, als die sittlichen Ideen und Vorstellungen anspricht? Sind wir in der Lage, dann auf einen Quell des sittlichen Lebens hinzuweisen, wenn wir vielleicht diesen Quell auf­zeigen können in der Welt, die man erst erreicht, wenn man sich aus der gewöhnlichen Sinneswelt herausbegibt und mit dem eigenen geistigen Erkennen in eine geistige Welt eindringt?

Betrachten wir zunächst die Welt, die eine geistige Bil­derwelt um uns aufrichtet. Ich führe einfach so die Tat­sachen an, wie sie sich für die geistige Beobachtung ergeben. Da findet man in bezug auf alles, was man sich durch die Sinnesvorstellung erwirbt, die auf die Sinneswahrnehmung begründet ist, überhaupt was man sich erwirbt in bezug auf das, worin man im äußeren Leben drinnensteht, daß in dem Augenblick, wo man diese Welt verläßt, sich über diese Welt selber eine Art von Dunkel breitet, und es taucht auf eine neue Welt von geistigen Wesenheiten und geistigen Tat­sachen, in welcher man im Schlafe sonst auch drinnen ist; aber als Geistesforscher taucht man im bewußten Zustande in diese Welt geistiger Vorgänge und Wesenheiten unter. Indem man so in sie untertaucht, merkt man: Was du an-schaust als Farben, was du hörst als Töne in der Sinneswelt, das verschwindet; was du mit hereinnehmen kannst in die geistige Welt, ist nur eine Erinnerung daran; etwas, was man höchstens vorstellen kann. Wenn das verschwindet, taucht man so unter, daß gleichsam die Denktätigkeit, die Vorstellungstätigkeit, auch die Fühlens- und Empfindens-tätigkeit wie ergriffen wird von anderen Wesen, in die man untertaucht: Denn das ist das Wesentliche, daß man in der

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geistigen Welt in eine Welt von Wesenheiten untertaucht. Und dann gelangt man zu dem, was öfter auseinanderge­setzt worden ist: Sobald man in die geistige Welt eintaucht, findet man konkrete Tatsachen und Wesenheiten; und was man in der Sinneswelt beobachtet, das nimmt sich wirklich so aus, daß man in Wahrheit drinnen lebt in der übersinn­lichen, unsichtbaren, geistigen Welt, aber, wenn wir im Leibe eingeschlossen sind, durch die Tätigkeit des Leibes diese übersinnliche Welt uns ihr Spiegelbild entgegenwirft. In der Tat wird es zu einer konkreten Tatsache, daß die ganze äußere Welt, die man ringsherum um sich sieht, ein Spiegel­bild der geistigen Welt ist, jener geistigen Welt, von der ich auseinandergesetzt habe, daß sie zuerst die Gehirn-prozesse hervorruft, welche den Spiegelapparat herstellen, durch den die äußeren Vorgänge wahrgenommen werden, und der selbst nicht wahrzunehmen ist. Wie der Mensch sich nicht selbst wahrnimmt, wenn er einem Spiegel entgegen-geht, sondern das Spiegelbild wahrnimmt, so sieht er, wenn er in die physische Welt untertaucht, das Spiegelbild der geistigen Welt, indem sich durch die Vorgänge des Leibes die geistige Welt an dem Spiegelapparat spiegelt. Und nun merkt man, daß es sich mit der physischen Wahrnehmungs­welt gegenüber der geistigen Welt so verhält, wie mit dem Spiegelbilde zu dem Beschauer. Es ist in der Tat so: wie das Spiegelbild nur eine Bedeutung für den Beschauer hat, wenn er in den Spiegel hineinblickt und das Bild in seine Seele aufnimmt, so hat das Spiegelbild der geistigen Welt, die ganze physische Wahrnehmungswelt, die wir um uns herum haben, eine Bedeutung als «Bild» - abgesehen von dem physikalischen Vorgange, der dahintersteht. Das wird man gewahr, wenn man in die geistige Welt eintritt.

Es soll hier nicht teleologische Naturanschauung getrie­ben werden. Ich meine nicht, daß die Welt durch einen unendlichen

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Verstand so eingerichtet ist, daß der Mensch die Möglichkeit finden kann, sein Selbst auszubilden, sondern ich will einfach auf die Tatsache hinweisen, die als Tatsache gegeben ist: daß der Mensch das, was er in sein Selbst hereinnimmt, wenn er es in der Außenwelt geschaut hat, nun weiter tragen kann, wenn er es in seiner Seele emp-fangen hat. - Für das, was wir Erkenntnisurteile nennen, liegt das vor, daß diese ganze Erkenntniswelt aufgebaut wird durch einen Spiegelungsvorgang, und was im Grunde genommen als Spiegelungsvorgang verschwindet, wenn man in die geistige Welt untertaucht, wo man sofort in eine Welt geistiger Vorgänge und geistiger Wesen untertaucht, von der man weiß: sie gehört zu einem, und von ihr ist das hergenommen, was in der physischen Welt nur ein Spiegel­bild ist.

Das ist das Wesentliche, daß man in dem Augenblicke, wo man gleichsam Abschied nimmt von der Sinneswelt und in eine geistige Welt aufsteigt, erkennen lernt: Zu dem, was du selbst bist, was ohne dich nicht da wäre, und zu dem du selbst gehörst, ist nur hinzugekommen die Spiegelung, die nur dadurch zustande gekommen ist, daß du ein mensch­licher Organismus bist; und diese Spiegelung hat eine Be­deutung für dein Selbst, für dein Ich, für das, was du als Geistig-Seelisches durch die Zeitenwende trägst. Daher ist man, sobald man in der geistigen Welt sich befindet, in einer Welt, welche ohne einen da ist, von der man erkennen lernt:

sie muß sich spiegeln, damit wir sie wahrnehmen können. Aber zu dem Spiegeln kommt das Wesen selbst nicht dazu.

Jetzt schauen wir auf den Augenblick, wo wir in die imaginative Welt eintreten. Was ist es mit den sittlichen Vorstellungen,wenn man in die geistigeWelt hinaufkommt?

Was man als sittliche Impulse empfindet, das stellt sich in dem Augenblick, wo man in die imaginative Welt hineinschreitet,

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so dar, daß man es nicht anders ansprechen kann, als daß man sagt: Da hast du doch etwas erzeugt, da hast du etwas in die geistige Welt hineingestellt! Was man erkennt, hat man nicht in eine Welt hineingestellt; das hat man nur in sich selbst hineingestellt und trägt es durch die Zeitenwende weiter. Was einem sittlichen Im­puls, einer sittlichen Handlung, oder was sogar nur einem sittlichen Wollen entspricht, das ist schöpferisch; sodaß man sagen muß, wenn man es in der geistigen Welt ansieht:

Durch das, was wir mit dem Begriff des Ethischen in uns erleben, schaffen wir Wesen in der geistigen Welt. Wir sind die Urheber zunächst von Vorgängen, weiter sogar von Wesen der geistigen Welt.

Diejenigen der verehrten Zuhörer, die öfter diese Vor­träge gehört haben, wissen, daß in der Geisteswissenschaft von den wiederholten Erdenleben gesprochen wird. Dieses Erdenleben, welches wir jetzt erleben, baut sich auf eine Folge von früheren Erdenleben auf, und immer entspricht einem Erdenleben ein darauf folgendes Leben in einem gei­stigenDasein; und von unserem jetzigen IErdenleben schauen wir wieder auf die kommenden Erdenleben hinüber. - Das nun, was wir in unserm sittlichen Erleben in uns selber dar­stellen, objektiviert sich buchstäblich, zunächst zu geistigen Vorgängen. Wie ich sittlich denke und handle, das merkt man in der geistigen Welt als Vorgänge. Das sind dort Vor­gänge, die nun aus dem bloßen Selbst des Menschen heraus­gehen. Während man die Erkenntniserlebnisse nur mit dem bloßen Selbst weiterträgt und mit dem Selbst in die folgen­den Erdenleben hinüberträgt, ist das, was zum sittlichen oder zum unsittlichen Leben gehört, hineingestellt als Vor­gänge in die Welt und wirkt als solche weiter, so daß wir durch das Karma im nächsten Erdenleben wieder mit ihnen zu tun haben. Und wer in die geistigen Welten hinaufsteigt,

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der merkt, wie die sittlichen Impulse ein gewisses Verhält­nis zu dem begründen, was er als Selbst erzeugt.

Nehmen wir zum Beispiel einen der hauptsächlichsten Impulse - es würde zu weit führen, wenn ich ausführen wollte, warum ich ihn einen der hauptsächlichsten sittlichen Impulse nenne -: denjenigen, welchen der bedeutsame Psy­chologe Franz Brentano als den einzigen Impuls der sitt­lichen Weltordnung genannt hat, den Impuls der Liebe. Wer wollte denn leugnen, daß Unzähliges im sittlichen Le­ben aus den verschiedenen Stufen der Liebe - von den un­tersten Stufen der Liebe an bis zu den höchsten Stufen, bis zur spinozistischen Liebe, der amor Dei intellectualis hin -vorgeht? Alles was unter dem Impuls der Liebe geschieht, was wir zum Gebiet des Sittlichen rechnen, wie finden wir es in der imaginativen Welt? So finden wir es, daß wir alles, was unter diesem Impulse entsteht, uns vertraut finden, so daß wir sagen können: wir können mit dem, was unter dem Impulse der Liebe entsteht, in der geistigen Welt leben. Man fühlt sich mit einem solchen, das aus Liebesfähig­keit entspringt, heimisch in der geistigen Welt. Das ist das Wesentliche, was einem erscheint, sobald man in die ima­ginative Welt eintritt.

Nehmen wir aber das, was aus dem Haß entspringt, was sich als eine Handlung oder nur als eine Absicht darstellt, die vom Haß eingegeben ist. Da zeigt sich die sehr auffällige Tatsache, daß alles, was aus dem Gebiete des Hasses fließt, sich in der imaginativen Welt so zeigt, daß es Furcht ein­flößt, daß es zurückstößt. Ja, es gehört zu den tragischen Seiten des Erlebens des Geistesforschers, daß er sehen muß, wie er sich selbst in die geistige Welt hineinstellt mit den Kräften von Sympathie und Antipathie. Wahrhaftig, wie auch die Dinge liegen mögen: sobald man in die geistige Welt eintritt, kann der Fall kommen, daß man sich selbst

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sympathisch oder antipathisch vorkommt. Inder physischen Welt kommt das nicht vor, daß sich die Menschen antipathisch vorkommen; sympathisch, mag sein. Aber in der geistigen Welt ist man, wie hier den Naturgesetzen, so dort den geistigen Gesetzen unterworfen. Alles was aus der Liebe-fähigkeit, aus der Opferfähigkeit, was aus dem hervorge­gangen ist, was man aus einem sittlichen Impuls vollbringt oder als eine sittliche Gesinnung empfindet, das alles be­gründet in der geistigen Welt Vorgänge, die man im imagi­nativen Erkennen erschaut, so erschaut, daß man sich sym­pathisch sein darf ob des liebefähigen Denkens, Handelns oder Empfindens. Alles was zum Beispiel unter dem Haß oder ähnlichen Impulsen, aus Bosheit, Eitelkeit, unternom­men wird, nimmt sich in der imaginativen Welt so aus, daß man weiß: Du bist der Schöpfer dieser Vorgänge, die ein­fach die Objektivierung deiner haßerfüllten Impulse oder deiner boshaften Impulse sind; du nimmst dich innerhalb derselben so aus, daß die Vorgänge zwingen, daß du dir selber antipathisch bist. Da kann man nicht anders, als sich antipathisch sein.

Für einen Geistesforscher ist es notwendig, in gewissen Fällen in einer gründlichen Selbsterkenntnis solche Lagen ertragen zu lernen, und in Geduld ertragen zu lernen, wie sie sich in dem weiteren Karma ausnehmen. Nicht unbe­dingt soll gesagt sein, daß ein Geistesforscher solche Anti­pathie nicht haben soll, sondern daß er durchaus nicht den Willen haben soll, sich als Heiliger oder als höheren Men­schen hinzustellen. Sondern was erstrebt werden soll, das ist, daß er versuchen wird, sein sittliches Leben, was sich auf das Zusammenleben mit anderen Menschen bezieht, soweit zu veredeln, daß das Tragische des Sich-antipathisch-Füh­lens in einem verminderten Maße eintritt. Denn es bedeutet einen Zustand der furchtbarsten Spannung, daß man sich

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wie entfliehen mochte; und dieses Sich-entfliehen Mögen zeigt sich erst beim Aufsteigen in die geistige Welt. Da sieht man, woher die Impulse kommen, wodurch wir das Lie­benswerte tun - und das, was wir hassen, vermeiden lernen. Denn was man in der gewöhnlichen Welt aus solchen Im­pulsen heraus tut, das wirkt in der geistigen Welt als Kraft. Ja, man kann sagen: Wenn der Mensch in Schlaf versinkt, so wirken die Kräfte weiter, die hier eben charakterisiert worden sind als ein Vertrautsein mit der geistigen Welt oder als ein Sichfürchten in derselben, als ein sympathisches Verbundensein mit dem, was aus den eigenen Handlungen hervorgeht, oder als ein Sich-antipathisch-Sein und Sich-entfliehen-Mögen. Das wirkt stark auf den Schlaf ein und bedingt die Gesundheit des Schlafes, zum Teil wenigstens. Was sich wie ein Resultierendes aus dem Tagesleben ergibt, und was, wenn es zusammenklingend tätig ist, den Men­schen nicht einschlafen läßt, das ist es zugleich, was der Geistesforscher schauen muß.

Jetzt fragen wir uns: Woher stammen jene sittlichen Im­pulse, die in der Menschenseele sprechen?

Im gewöhnlichen Leben weiß man nicht, woher sie spre­chen. Aber sie sind da und sprechen so, daß der, welcher nur den Verstand benutzt, der die Tatsachen der Sinneswelt kombiniert und zu Gesetzen bildet, sie nicht finden kann. Woher also stammt das, was in den Menschen hereinspricht wie aus einer anderen Welt?

Nun, es ist eben als Erkenntnis erst da, wenn es in der imaginativen Welt erschaut wird. Aber es wirkt als dunkle Kräfte, deren Ursprung dunkel bleibt für das Erkennen, die aber als Impulse in die Seele hereinsprechen. Die Wirkun­gen dessen, was der Geistesforscher erschaut, werden erlebt in der Sinneswelt als sittliche Impulse; die Ursachen liegen in der geistigen Welt. Daher nimmt sich der Mensch aus als

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ein Wesen, welches sich immer sagen muß: Und wäre deine Liebekraft noch so vollkommen ausgebildet, du gehörst zu einer geistigen Welt und findest dort den anderen Teil dei­nes Wesens, wo du das erwirbst, was sich hier als sittliches Leben ausspricht - was sich zum Beispiel in dem ausspricht, was wir das Gewissen nennen, das ein sehr großes Rätsel ist, wenn man konsequent sein will.

Wir haben nun gefunden, wo die Kräfte wurzeln, die sich als Gewissen und dergleichen ausleben. Nehmen wir an, wir stünden einem Menschen gegenüber, und die beson­dere Konfiguration unseres Vorstellungslebens könnte uns veranlassen, ihn zu hassen. Was uns veranlassen könnte, ihn zu hassen, und was wir in der geistigen Welt als Vor­gänge fürchten würden, diese Stimme spricht in unsere Seele herein als: Du sollst nicht hassen! Was in der Liebesfähig­keit wirkt, und wodurch wir uns in der geistigen Welt sym­pathisch sein dürfen, das spricht herein in das Erdenleben als: Du sollst lieben! Und so ist es mit den übrigen Er­scheinungen des sittlichen Lebens, die sich zuletzt geistig zusammenkristallisieren als das Gewissen.

Und dieses Gewissen selber, wie stellt es sich als Tatsache dar in der geistigen Welt?

Man findet es noch nicht als Tatsache in der imaginativen Welt. Um es als Tatsache zu finden, muß man untertauchen in die inspirative Welt - muß so untertauchen, daß man sich ausgegossen fühlt über das gesamte Wahrnehmungsfeld im Geistigen und diese inneren Wahrnehmungen als sein Wahrnehmungsfeld wie in sich selber erlebt. Nun spricht von dort herunter der Ursprung des Gewissens. Er bedient sich nur, drückt sich aus gleichsam in dem, was in der ima­ginativen Welt erlebt werden kann, liegt aber seinem Zen­trum nach in der inspirierenden Welt. Und wenn man sich in sie erhebt und einmal probeweise versuchen würde sich

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zu fragen: Was tritt ein, wenn du von alledem abstrahierst, was dir die Stimme deines Gewissens sagt? Nimm einmal probeweise an, du könntest ebenso etwas Liebes tun, wie du etwas aus Haß tust, und nimm an, dein Gewissen spreche nicht, - so würde man merken, daß etwas eintritt, was ich zunächst durch einen Vergleich klar machen will. Ich möchte sagen, man erlebt in sich selber etwas wie einen Wasser­tropfen, der irgendwohin versetzt ist, wo es so heiß ist, daß er sofort verdampfen würde. So etwas geschieht, wenn sich probeweise in der imaginativen Welt das Gewissen aus­schaltet. Da erlebt man es: das Bewußtsein will sich gleich­sam auslöschen, verliert den Schwerpunkt; man hört auf, in der geistigen Welt sich orientierend drinnen zu sein. Es gehört zu den furchtbarsten Erlebnissen, die man dann hat:

in der geistigen Welt drinnen sein und das Bewußtsein schwinden fühlen, nachdem man sich zuerst dazu geschult hat, ein Bewußtsein heraufzutragen. Es ist ein furchtbarer Zustand, wenn Menschen, die in der Tat gewissenlos sind, oben Erlebnisse haben, wenn sie in die geistige Welt hinauf-kommen. Denn nehmen wir an, ein Mensch, der sonst nicht sehr gewissenhaft ist, käme in die geistige Welt. Die Übun­gen, die in der Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» sich finden, kann jeder ausführen, wenn er sie mit der nötigen Energie durchführt, so daß er dann in der geistigen Welt wahrnimmt. Man sollte nicht hinauf-kommen, solange es nicht heilsam ist. Daher werden auch solche Übungen anempfohlen, bei denen man das Bewußt­sein nicht verliert; so daß in dem genannten Buche solche Übungen angegeben sind, welche einen Menschen moralisch machen, damit das Bewußtsein in der geistigen Welt nicht ausgeschaltet wird. Aber nehmen wir an, ein gewissenloser Mensch würde in die geistige Welt hinaufkommen. Dann würde das eintreten, daß er sofort der Auflösung, der Verdunstung

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seines Bewußtseins verfallen würde. Solche ge­wissenlosen Geistesforscher gibt es durchaus. Solche, die sich mit einer gewissen Summe von Gewissenlosigkeit zur gei­stigen Welt erheben, haben sofort das Bedürfnis, da wir dort in eine Sphäre von Wesenheiten eintreten, sich anderen geistigen Wesenheiten zu übergeben. Menschen, die gewis­senlos bis dort hinaufgelangen, wo einem das Gewissen in seiner Realität einen festen Schwerpunkt gibt, solche Men­schen, die gleichsam dort ihr Bewußtsein «verdunsten» füh­len, ergeben sich einem anderen Wesen, machen sich von einem anderen Wesen besessen, um einen Halt zu haben. Das ist eine Erfahrung, die wirklich gemacht werden kann. Daher kommt es, daß in der Tat ein solcher Mensch, wenn er wieder in das Tagesbewußtsein zurückkehrt, nicht mehr selber das verkündet, was er in der geistigen Welt erfahren hat, sondern das, was ein Wesen, von dem er sich besessen gemacht hat, durch ihn dann spricht. Die Integrität unseres Wesens bleibt aufrechterhalten, indem wir wirklich diejenige Stimme als Kraft in uns in die inspirierende Welt hinauf-tragen, die hier als Gewissen vorhanden ist. Man fühlt sich dann in sich selbst, aber so in sich selbst, daß das, was man hervorbringt, was sich schon in der imaginativen Welt zeigt, so vorhanden ist, daß man den Schwerpunkt nicht verliert und daß es etwas ist, was einen hält und trägt. Und dieses, was da den Menschen in seinem wahren geistigen Wesen in der geistigen Welt tragen und halten kann, das spricht durch zwei Welten herunter, durch die imaginative Welt hindurch, in die Sinneswelt herunter, und das ist die Stimme des Ge­wissens.

So ist das Gewissen, von dem viele Denkerpersönlichkei­ten eigentlich den Ursprung nicht entdecken können, von dem sie so sprechen, als wenn es nur durch die soziale Ord­nung des Zusammenlebens der Menschen herausgebildet

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wäre -, so ist das Gewissen etwas, was heruntergetragen wird aus der geistigen Welt, was in seiner Wirkung da ist in dem sinnlich erlebenden Menschen und in seinem Ur­sprunge gefunden wird, wenn man in die geistige Welt hin­aufkommt. Kann man die Geheimnisse der gesamten Welt im Grunde genommen nur finden, wenn man wirklich jene Erkenntniskräfte ausbildet, von denen hier oft gesprochen worden ist, dann muß man insbesondere von der Welt des Sittlichen sagen, daß sie aus den Geistesreichen herunter ihre Impulse sendet, und daß der Mensch, wenn er sich der sitt-lichen Impulse bewußt wird, in jenem Falle ist, daß er die Wirkung dessen erlebt, was seinen Ursprung in der geistigen Welt hat. Und ein richtiges Durchschauen der sittlichen Weltordnung zeigt uns auf der einen Seite, daß Geistes-welten durch die Seele sprechen, auf der anderen Seite aber auch, daß man mit dem, was die sittlichen Impulse sind, Realitäten schafft, die weiterwirken, die man wiederfindet, Realitäten, die wir in die geistige Welt hinaussenden, und die in dieser Welt, welche der sinnlichen zugrunde liegt, Ursachen sind.

Nur andeuten konnte ich, indem ich ein weites Feld von Zwischenstufen ganz unerwähnt gelassen habe, was der Geistesforscher zu durchmessen hat, wenn er von der Sin­neswelt aufsteigt zu den geistigen Welten. Aber noch kurz erzählend möchte ich hinzufügen: Was wir so entstehen sehen, indem wir sittlich oder unsittlich handeln, was sich ausspricht in seinen Wirkungen in unseren sittlichen Im­pulsen, was wir in der imaginativen Welt wahrnehmen als aufbauende Kräfte, mit denen wir vertraut leben können, oder als zerstörende Kräfte, mit denen wir uns selbst anti­pathisch machen, das zeigt sich uns als die ersten Ursachen des Weltendaseins überhaupt. Denn wir richten den Blick hinaus in die weite Sternenwelt, wo Sicherheit, Ordnung

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und Harmonie herrschen, und wir blicken zurück in Ur­zeiten, in welchen Wesenheiten in einer ähnlichen Weise sich sittlich betätigt haben, wie wir es heute können, wo Wesen­heiten ihre sittlichen Impulse hinaussandten, die sich so un­bedeutend ausnehmen, daß sie wie Nichts erscheinen neben dem Ganzen des Weltendaseins. Aber diese sittlichen Im­pulse wachsen weiter in der Zeit! Diese sittlichen Impulse, die in Urzeiten von jenen Wesen ausgegangen sind, wuch­sen weiter und weiter - und in ihrem Wachsen wurden sie selber zu den Naturkräften. Man lernt erkennen - Zwi­schenstufen müssen dabei jetzt übersprungen werden -, wenn man das betrachtet, was man an Himmelsgesetzen findet, was einen, der die neuere Naturwissenschaft begrün­dete, Kepler, mit einer solchen Frömmigkeit erfüllte: daß im Kosmos alte und reif gewordene ursprüngliche sittliche Impulse wirken. - Diejenigen, welche in alten Zeiten Gei­stesführer im Sinne jener Epochen geworden sind - wir wissen aus früheren Vorträgen, daß man auf demselben Wege, wie man früher in den Mysterien zu den geistigen Welten aufgestiegen ist, heute nicht mehr in diese Welten aufsteigen kann; auf eine andere Weise hat das heute zu geschehen - sie haben gewisse Stufen, Grade überschreiten müssen. Unter diesen Graden war einer der höchsten der, welcher der Seele die Möglichkeit gegeben hat, in hohe Gebiete des geistigen Daseins hineinzuschauen. Es war ein solcher Grad der, den man den Grad des Sonnenhelden oder des Sonnenmenschen nannte. Warum des Sonnenmen­schen? Aus dem Grunde nannte man ihn so, weil eine solche Seele, welche in der eben charakterisierten Weise zu er­schauende Zusammenhänge in der Welt sieht, in der Tat das innere Leben soweit gebracht haben muß, daß es nicht, wenn es sich in die höchsten Gebiete des Erkennens erhebt, der inneren Willkür ausgesetzt ist, der das gewöhnliche Seelenleben

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ausgesetzt ist, sondern solchen Impulsen, die mit inner­lich erkannter und erlebter Notwendigkeit wirken, so daß man sich sagte: Weichst du von ihnen ab, so richtest du eine solche Unordnung an, wie die Sonne im Weltall anrichten würde, wenn sie auch nur eine Weile von ihrer Bahn ab­weichen würde. Weil man auf einer solchen Stufe des Er­kennens zu einer derartigen Festigkeit des inneren Lebens gelangt sein mußte, nannte man in den alten Mysterien sol­che Erkenner Sonnenmenschen. Es lag darin der Zusammen­hang, welcher besteht zwischen dem, was wir in die Welt hinaussenden, und dem, was daraus herauswächst -, so wie das, was wir als die «Gesetze des Kosmos» erleben, heraus-gewachsen ist aus sittlichen Impulsen von Wesen ferner, ferner Zeiten.

Wenn man das berücksichtigt, dann fängt man an, einen Ausspruch Kants noch anders zu erleben. Als ihm die mo­ralische Pflicht, das sittliche Bewußtsein überhaupt vor das geistige Auge trat, da sprach er die bedeutsamen Worte aus:

«Zwei Dinge sind es, die mich immer mit scheuer Ehrfurcht erfüllen: der gestirnte Himmel über mir und das mora­lische Gesetz in mir! » Solche Zusammenhänge, die erlebt worden sind, die man überschaut, wo man das moralische Gesetz gleichsam im Wirken der Zeit schaut, sie füllten ihn aus, als er von dem «Sternenhimmel über mir und dem moralischen Gesetz in mir» sprach. Wer geisteswissenschaft-lich die Urimpulse des sittlichen Lebens erkennt, der erkennt zugleich, wie mit dem wahren Wurzeiquell des menschlichen Wesens dieses sittliche Leben zusammenhängt. Daher kann Geisteswissenschaft nur im höchsten Sinne dazu führen, die­sem sittlichen Leben eine feste Basis zu geben, daß man geradezu sagen kann: Ja, alle Erkenntnis ist dazu da, daß wir uns in unserem Innern selbst finden und das, was wir so finden, durch die Welt und die Zeiten tragen; alles aber,

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was wir an sittlichen Impulsen in uns erleben, macht uns selber zu Schöpfern, zu Mitgestaltern der Welt. Begreifen können wir, wie wir uns verachten müssen als unsittliche Menschen, die Verderben bringen, Zerstörung in die Welt setzen, wenn wir erkennen: Durch die sittliche Weltordnung sind wir in einem viel realeren Sinne mit der Welt verbun­den, als durch die anderen Erkenntnisse, die wir nun in un­seren Verstand aufnehmen. Und dann erfühlt man, was so stark tiefe Geister wie Johann Gottlieb Fichte fühlten, dessen hundertsten Todestag wir vor kurzem feierten, der da sagt:

Was die Sinneswelt ist, das hat kein selbständiges, auf sich selbst begründetes Dasein; das ist nur das versinnlichte Material für die Pflicht, für die sittliche Weltordnung. Was die Geisteswissenschaft heute zutage zu fördern hat, das ahnte in bezug auf die sittliche Weltanschauung ein so stark-tiefer Geist wie Fichte, der im Grunde genommen so in die Welt schaute, daß er sich sagte: Die sittliche Weltordnung ist das Allerrealste, und das andere ist nur dazu da, daß wir ein Material haben, in dem wir zum Ausdruck bringen können, was die sittlichen Impulse sind. - Selbstverständ­lich wird auch die Geisteswissenschaft sich nicht auf den Boden der Fichteschen Weltanschauung stellen können; denn diese stellt eine Einseitigkeit dar. Sie stammt aus einer Zeit, in welcher es Geisteswissenschaft noch nicht gab. Aber man wird mit Bewunderung darauf hinblicken können, wie ein Mensch wie Fichte die sittliche Weltordnung in sich erlebte. Denn gerade das zeigt die Geisteswissenschaft: Alle anderen Erkenntnisse stellen sich uns dar wie ein Welt -Tableau; sittlich aber ist das, was wir sein müssen, wenn wir unser ganzes Wesen entwickeln wollen. Das ist das, was uns nicht bloß in uns selbst befestigt, sondern was uns mit echtem Gleichgewicht in die ganze Weltenordnung hineinstellt.

Wenn man so sieht, wie gerade die Geisteswissenschaft

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die lebendige Stütze der sittlichen Weltordnung zu finden in der Lage ist, dann tritt einem so recht vor Augen, was in diesen Vorträgen schon öfter ausgesprochen worden ist. Man steht allerdings mit der modernen Geisteswissenschaft heute noch so da, wie etwa einst Giordano Bruno vor seinen Zeit­genossen gestanden hat, als er das Weltbild über das blaue Himmelsgewölbe hinaus in unendliche Raumesweiten hin­ein erweitern wollte. Er hatte den Menschen seiner Zeit zu zeigen:Was ihr als das blaue Himmelsgewölbe wahrnehmt, das sind nur die Grenzen eures engen Anschauens. Eine solche geistige Phantasmagorie ist das, was der Mensch in sein Dasein hingesetzt hat durch Geburt oder Empfängnis und Tod. Aber ebenso, wie das blaue Himmelsgewölbe nur die enge Grenze der eigenen Anschauung im Raume ist, so sind Geburt und Tod für die menschliche Anschauung nur die Grenzen in der Zeit. Und so wie das, was der Mensch selbst sich als eine Maja hingesetzt hat als die Grenze des Raumes, als solche erkannt wurde, so eröffnen sich für die Menschenseele die Grenzen über Geburt und Tod hinaus, und anerkannt werden die unendlichen Welten, die über Geburt und Tod hinausliegen. Wir stehen heute in bezug auf die geisteswissenschaftlichen Angaben in unserer Zeit soda, wie in bezug auf die naturwissenschaftlichenAnschau-ungen die moderne Naturwissenschaft in der Morgen­röte der neueren Zeit gestanden hat. Aber man steht in einer gewissen Weise noch allein. Man steht so, daß man, wenn man ihn kennt, den unbesieglichen Glauben an die Wahr­heit, die sich durch die engsten Ritzen und Felsspalten den Weg sucht, wenn auch die entgegengesetzten Mächte gegen sie ankämpfen möchten -, daß man doch noch anders mit der Geisteswissenschaft sich vereinsamt fühlt: Man fühlt, wie sich die heutige Zeit hindrängen muß nach der Geistes­wissenschaft, wie die Seelen sie verlangen müssen, - und

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man fühlt sich im Einklang mit dem, was die bedeutendsten Geister aller Zeiten geahnt und gemeint haben, was sie oft­mals in einer einfacheren Weise ausgesprochen haben, als man es heute aussprechen muß, was sie aber dennoch nicht minder aus der die Wahrheit erfühlenden Seele heraus rich­tig ausgesprochen haben. So fühlt man sich denn, indem man aus der Geisteswissenschaft hinzuweisen hat auf die wahren Quellen des sittlichen Lebens und einer moralischen Weltordnung aus den göttlich-geistigen Welten heraus, im Einklange mit vielen anderen Geistern - und auch mit Goethe, von dem hier ein Ausspruch gebracht werden soll, der das zusammenfassen soll, was im Verlaufe dieses Vor­trages zu Ihnen gesprochen worden ist. Goethe sagte ein bedeutsames Wort in bezug auf den Quell des sittlichen Lebens, einfach, kann man sagen, für den, der das sittliche Leben wirklich fühlen kann: Ganz leise spricht ein Gott in unserer Brust, ganz leise, doch auch deutlich; er führt dazu zu erkennen, was zu ergreifen und was zu fliehen ist. Indem Goethe sagt: ganz leise, doch auch deutlich spricht ein Gott in unserer Brust, deutet er - und er zeigt das mit allen großen Persönlichkeiten und gerade mit fühlenden Persönlichkeiten, welche die Wahrheit auf diesem Gebiete ahnen konnten - gleichsam ahnend auf das hin, was durch die Geisteswissenschaft als die Impulse des sittlichen Lebens in der geistigen Welt aufgefunden werden kann. Wir schauen hinauf in die geistige Welt, und wir sagen uns: Gerade das sittliche Leben zeugt dafür, daß der Mensch seinen Ursprung in den geistigen Welten hat; denn von dort her spricht der Gott, der leise und doch ganz deutlich ankündet, was zu ergreifen, und was zu fliehen ist; er verhüllt zwar das, was der Geistesforscher als die Gründe des Ergreifens und des Fliehens schaut, aber was der Mensch an sittlichen Im­pulsen zum Ausdruck bringt, das hat seine wahren Urgründe

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in der geistigen Welt, was aus dieser sich herabsenkt in unser Gemüt, was hineinspricht in die Menschenseele als ein wirklicher Gott, als Gottesstimme aus der geistigen Welt, ankündigend des Menschen Wesen, durch das er hin-ausgreift über das, was die Geschöpfe seiner Mitwelt im Kosmos sind.

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VOLTAIRE VOM GESICHTSPUNKTE DER GEISTESWISSENSCHAFT Berlin, 26. Februar 1914

Kurz nach dem Tode Voltaires, der 1778 gestorben ist, erschien Lessings Schrift «Die Erziehung des Menschengeschlechtes», und man möchte sagen: in dieser Schrift kann in einem gewissen Sinne der Ausgangspunkt gefunden wer­den für eine im geisteswissenschaftlichen Sinne gehaltene Geschichtsbetrachtung. Diese Schrift Lessings, «Die Erzie­hung des Menschengeschlechtes», wurde in diesen Vorträgen wiederholt erwähnt. Sie sucht aus dem Bewußtsein des achtzehnten Jahrhunderts heraus Vernunftgründe zu finden für das, wofür heute die Geisteswissenschaft aus ihrer Art von Stellung wiederum eintreten muß: für des Menschen wiederholte Erdenleben.

Wer Lessings Auseinandersetzungen in dieser reifsten Schrift seines Lebens, sozusagen in dem Testament seiner geistigen Arbeit, zu Ende zu denken versucht, der wird fin­den, daß durch die Ideen dieser Schrift Zusammenhang hin­einkommt in das ganze Gefüge des menschlichen geschicht­lichen Werdens. Wir sehen in diesem geschichtlichen Werden des Menschen aufeinanderfolgende Epochen, die sich von­einander unterscheiden. Wenn wir in alte Epochen zurückblicken, so finden wir, daß die menschliche Seele anderes erlebt, daß sie ihre Ideale in anderem suchte, als in späteren Epochen. Wir können gewissermaßen sagen: Scharf heben sich durch den Charakter dessen, was sie den menschlichen Seelen zu geben vermögen, die verschiedenen Epochen des

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geschichtlichen Werdens voneinander ab. Und Sinn und Zusammenhang kommt in dieses ganze geschichtliche Wer­den hinein, wenn man denkt, daß diese Menschenseele, die nach dem Glauben, daß das Menschenleben nur einmal wäre, sozusagen nur an den Kultursegnungen und Kulturimpres­sionen einer Kulturepoche teilnehmen könnte, daß diese Menschenseele im Sinne Lessings und der neueren Geistes­wissenschaft in den wiederholten Erdenleben immer wieder und wieder erscheint; das sie sich aus jeder Epoche heraus­holt, was dieselbe der Menschenseele zu geben vermag, daß sie dann ein Leben durchmacht zwischen dem Tode und der nächsten Geburt in einer rein geistigen Welt und dann in einer nächsten Epoche wieder erscheint, selbstverständlich mit einigen Abweichungen im einzelnen individuellen Le­ben, um die Früchte, die Ergebnisse und die Eindrücke der früheren Epoche hinüberzutragen in die nächste. Deshalb können wir sagen: was uns die Menschenseele ist, das lebt durch das ganze geschichtliche Werden hindurch, das nimmt teil an allen Epochen. Und dadurch kann man wirklich, wenn man die Idee Lessings noch einmal aufgreift, von einer Art Erziehung der Menschenseele durch den Geist der auf­einanderfolgenden Epochen des geschichtlichen Erdenlebens hindurch sprechen. Wird man einmal im Sinne der neueren Geisteswissenschaft noch genauer auf das eingehen, was, man möchte sagen, in elementaren Anfängen schon in Les­sings Ideen über die Erziehung des Menschengeschlechtes liegt, dann wird man auf dem Gebiete der Geschichtsbe­trachtung, auf dem Gebiete, auf dem sich vor allem unsere Seele entwickelt, erst so weit sein, als man heute auf dem rein naturwissenschaftlichen Felde zu sein glaubt. Man wird dann im Grunde genommen erst eine Geschichte haben. Man wird dann erst Sinn und Zusammenhang in den Organis­mus des geschichtlichen Werdens hineinbringen; man wird

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erkennen, wie eine Epoche nach der anderen sich aufbaut, was die Seelen von den verschiedenen Epochen haben, war­um sie in die verschiedenen Epochen hineingestellt sind, -mit anderen Worten: man wird das gesetzmäßige Wirken und Walten der geschichtlichen Epochen ebenso erkennen, wie man heute das Wirken und Walten der von der Natur-wissenschaft zu erkennenden Kräfte der Natur kennen lernt. Dann wird das, was die Geisteswissenschaft zu sagen hat, auch nicht mehr als etwas so Phantastisches erscheinen, als was sie heute noch für so viele Menschen erscheinen könnte. Dann wird man anfangen weniger darüber zu lächeln, daß die Geisteswissenschaft für die menschliche Wesenheit nicht nur eine physisch-leibliche Hülle anerkennen muß, welche dem Menschen durch die Geburt umgewoben wird, und die aus den verschiedenen Gliedern besteht, sondern daß sie ein inneres geistig-seelisches Wesen des Menschen anerkennen muß, das aber so zu betrachten ist, daß es seine verschiede­nen Formationen, Gliederungen im Laufe der menschlichen Epochen herausentwickelt.

Im Sinne der Geisteswissenschaft unterscheiden wir näm­lich in der menschlichen Seele, so wie sie sich bis zur gegen­wärtigen Epoche entwickelt hat, eigentlich drei Gliede­rungen. Man möchte sagen: das primitivste Teil in dieser Gliederung, worin noch mehr die blinden Leidenschaften wirken und die Triebe und Affekte pulsieren, worin aber auch das hineinwirkt, was uns die Wahrnehmungen der physischen Außenwelt vermittelt, das nennen wir im Sinne der Geisteswissenschaft die Empfindungsseele. Im Unter­schiede zu dieser Empfindungsseele sprechen wir dann von einem anderen Seelengliede, das uns den Menschen schon mit einer größeren Innerlichkeit zeigt, ihn uns so zeigt, wie er sich erfassen kann, wenn er einmal den Blick von der ganzen physischen Umgebung abwendet und sich erhebt

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über das, was als mehr unbewußte Triebe und Affekte und Leidenschaften in ihm waltet. Ein solches höheres Glied der Menschenseele nennen wir die Verstandes- oder Gemüts-seele, in welchem sich das geistige Leben des Menschen schon mehr verinnerlicht. Und als ein höchstes Glied der Men­schenseele, als jenes Glied, in dem vor allem das auf sich selbst sich zurücklenkende Denken, das volle Selbstbewußt­sein des Menschen, das reinste Ichgefühl und Ichbewußtsein sich zum Ausdruck bringt, nennen wir im Sinne der Gei­steswissenschaft die Bewußtseinsseele. Aber nicht wie von Abstraktionen oder wie von willkürlich aufgestellten Be­griffen und Ideen sprechen wir von diesen drei Gliedern:

Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und Be­wußtseinsseele; sondern wir sprechen so von ihnen, daß wir zu gleicher Zeit schauen, wie im Laufe der geschicht­lichen Entwicklung der Menschheit allmählich diese drei Seelenglieder sich heranentfalten.

Wenn wir weit im geschichtlichen Werden zurückgehen würden, hinter die Zeiten, in denen Homer und Hesiod gesungen haben, in denen die griechischen Tragiker gelebt haben und die griechische Philosophie entstanden ist, so würden wir finden, was wir heute noch erkennen in den Nachklängen der alten ägyptischen und chaldäischen Kul­tur. Vieles darüber hat auch schon die äußere Forschung zutage gefördert. Die Geisteswissenschaft aber zeigt, daß in der Epoche, die hinter dem achten bis zehnten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bis ins zweite bis dritte Jahrtau­send zurück liegt, die Menschenseelen, das heißt unsere See­len, wie sie damals verleiblicht waren, etwas durchgemacht haben, was sich noch gar nicht vergleichen läßt mit dem heutigen Leben, mit der ganzen Konfiguration und Art, wie wir heute leben. Was wir heutiges Denken nennen, was uns sozusagen in der wissenschaftlichen Weltbetrachtung wie

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selbstverständlich vor Augen tritt, wäre damals noch un­möglich gewesen. Unmöglich wäre auch gewesen, daß sich die Menschenseele, man möchte sagen, in wichtigsten Augen-blicken ihres Lebens so streng geschieden, wie in sich selber vereinsamt gefühlt hätte von der übrigen Natur. Das alles war in jener Zeit noch unmöglich. Der Mensch fühlte sich mit seiner Seele wie darinnen in dem ganzen Kosmos, in der ganzen übrigen Natur, fühlte sich so wie ein Stück der übrigen Natur, wie die Hand, wenn sie Bewußtsein haben könnte, als ein Stück des Organismus sich fühlen müßte. Wir können uns eben heute nur mit Hilfe der Geisteswissen­schaft eine Vorstellung machen von dem ganz andersartigen Seelenleben, das etwa bis in das achte bis zehnte Jahrhun­dert vor unserer Zeitrechnung hinein gereicht hat. Wenn der Mensch damals gesagt hat: meine Triebe treiben mich, einen Fuß vorwärts zu setzen, oder wenn er gesagt hat:

ich atme - oder wenn er das Gefühl des Hungers oder der Sättigung gefühlt hat, so hat er in diesem Übergehen des inneren Erlebens in die Leibesbewegung etwas gefühlt, dem er sich so gegenüberstellte, wie er sich jenen anderen Erleb­nissen gegenüberstellte, wenn er sich sagte: es blitzt, es don­nert, oder, es saust der Wind durch die Bäume. Der Mensch hatte nicht geschieden, was er seelisch erlebte, von dem, was draußen vorging; er war mit dem ganzen inneren Leben drinnen in der übrigen Natur. Dafür aber, daß er sich noch nicht aus der übrigen Natur heraussondern konnte, daß er sich noch als Glied fühlte in dem großen Gesamtorganis­mus, dafür hatte er auch ein ursprüngliches Hellsehen, ein Hineinschauen in die geistige Welt. Die Natur sah er nicht so, wie er sie heute sieht, sondern durchseelt von geistigen Wesenheiten, zu denen wir uns heute wieder emporarbeiten durch die Methoden der Geisteswissenschaft. Es war in je nen Zeiten natürlich, daß man die Natur zugleich durchseelt

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und durchgeistigt schaute; aber nicht war es möglich, in solchen Gedanken, wie wir sie denken, die Naturvorgänge zu erleben, sondern man schaute sie in Bildern, und die Bilder waren das, was für uns die Naturgesetze sind, und von diesen Bildern ist bis heute in den Sagen und Mytho­logien der Völker, ja sogar in den echten Märchen etwas erhalten geblieben. Bildhaftes Vorstellen hatte der Mensch in der alten Zeit. - Diese Dinge können wir heute nicht nur mit Hilfe der Geisteswissenschaft erringen, sondern ich hoffe, daß es mir in der Neuauflage meiner «Welt- und Lebens-anschauungen im neunzehnten Jahrhundert» - aber jetzt erweitert durch eine Vorgeschichte des ganzen abendländi­schen Geisteslebens - gelungen sein wird, was ich versuchte zu zeigen: daß man rein philosophisch das Geistesleben be­trachten kann, und daß man dann finden kann, wie ein bildhaftes Vorstellen, das erst allmählich in das griechisch-lateinische Vorstellen übergegangen ist, in Urzeiten vor­handen war, und wie sich die Menschenseele durch dieses alte Vorstellen, das noch bildhaft war, hineinversetzt fühlte in den Gesamtorganismus der Welt, den sie durchseelt vor­stellen konnte. Das ging vorzugsweise in der Empfindungs-seele vor sich.

Das griechisch-römische Vorstellen, das aber heraufdau­ert bis in das vierzehnte, fünfzehnte Jahrhundert unserer nachchristlichen Zeitrechnung, nahm vorzugsweise die Ver­standes- oder Gemütsseele in Anspruch. Ich habe schon bei Gelegenheit der Vorträge über Raffael und Michelangelo das ganz andersartige Empfinden und Vorstellen jener Zei­ten darzustellen versucht. Ich habe auseinandergesetzt, wie dadurch, daß in der griechischen Welt vorzugsweise die Verstandes- oder Gemütsseele entwickelt war, der Grieche, und später war das auch beim Angehörigen der lateinischen Kultur der Fall, sich noch ganz eins fühlte mit seinem

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«Seelenleibe», wie er sich mit seiner Seele zugleich in jedem einzelnen Glied seines Leibes drinnen fühlte. Hatte eine ältere Zeit, die besonders in der Empfindungsseele lebte, ein Bewußtsein davon, daß der Mensch ein Glied der gan­zen Natur ist, so hatte der Grieche ein Bewußtsein davon, daß das, was in seinem ganzen Leibe lebte und was ihm dieser Leib geben kann, für ihn zugleich der unmittelbare, wahre Anblick der Natur ist.

Das wurde anders in der neueren Zeit; auch heute noch blickt man, weil man in die Geisteswissenschaft noch nicht eindringen will, in diese Dinge nicht mit der vollen Gründ­lichkeit hinein. Es wurde ganz besonders anders seit dem Heraufblühen der Naturwissenschaft in der Morgenröte des neueren Denkens, seit den Zeiten des Kopernikus, Kepler, Galilei, Giordano Bruno. Denn damals begann dasjenige sich zu entwickeln, was wir die Bewußtseinsseele nennen. Und sie begann sich so zu entwickeln, daß sich der Mensch jetzt erst so recht selber zum Rätsel wurde, indem er jetzt erst anfing, sich mit seinem selbständigen Seelischen ausgesondert zu fühlen von der ganzen übrigen Natur, während er aber zugleich seine Seele sich erleben fühlte als etwas Besonderes neben dem Körperlichen. So merkwürdig es klingt, so ist es doch richtig, daß, als die mehr materia­listische Strömung in den Naturwissenschaften herauf-tauchte, von dieser Zeit gesagt werden kann, daß sich die Menschenseele mehr abgesondert von der Natur fühlte.

Was für eine Zeit kam denn herauf in bezug auf die abendländische Kultur seit dem fünfzehnten Jahrhundert? Es ist das die Zeit, welche über die Natur gleichsam ein Netz von Gesetzlichkeit ausbreitet, das in unbegrenzte Raumesweiten hinausgeht. Groß und gewaltig erscheint es uns, wenn Giordano Bruno in der Morgenröte der neueren Zeit dasteht und die Kraft der Naturgesetze hinausgehend

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denkt in unendliche Himmelsweiten. Aber in diesen räum­lichen Weiten ist nicht zu finden, was der Mensch in seiner Seele erlebt. Wenn der Angehörige der alten ägyptischen oder der alten chaldäischen Kultur in die Sternenwelt hin-aufgeschaut hat, so empfand er: aus der Konstellation der Sterne geht eine Kraft hervor, die mit meinem eigenen moralischen Erleben so und so zusammenhängt. Wenn so der alte Astrologe in die Sternenwelten hinaufsah und Menschenschicksal darin empfinden konnte, so ließ dieses Naturbild noch zu, die Seele in dem Naturwirken drinnen zu denken. Jetzt aber kam eine Zeit herauf, welche es dem Menschen immer unmöglicher machte, die Seele in der Natur drinnen zu denken. Denn gerade mit dem Empor-kommen der modernen Naturwissenschaft in der neueren Zeit begann für den Menschen der Kampf mit der Frage:

Wie stelle ich mich zu dem Wirken der Natur, die mir nichts Seelenhaftes mehr entgegenstrahlen läßt? Die Men­schenseele mußte dazu kommen, sich nach der Stellung der Naturwissenschaft für die eigene Seele zu fragen. Bei Gior­dano Bruno sehen wir diesen Kampf. Als Monade denkt er die eigene Seele. Trotzdem er die Welt im Sinne der neueren Naturwissenschaft denkt, denkt er sie noch von Monaden beseelt.

Auch Leibniz, der noch im achtzehnten Jahrhundert auf die Geister so große Wirkungen ausgeübt hat, denkt die Seele als Monade, und so denkt er sie, daß sie zu der übrigen Welt in einem, ihrem eigenen Wesen möglichen Verhältnisse stehen kann. So fragt sich Leibniz: wie muß die Menschen-seele sein, damit sie Platz hat in dem, was ich mir als Natur-bild machen muß? Und er kann es sich nicht anders beant­worten, als daß er sich zugleich dieses Naturbild selber in einer ganz bestimmten Weise ausgestaltet. Wieder wird für Leibniz alles eine Zusammenfügung von Monaden. Wenn

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wir hineinschauen in irgend etwas der Natur, so finden wir dem zugrunde liegend beseelte Monaden. Was wir sehen, ist für Leibniz so, wie wenn wir auf einen Mückenschwarm hinsehen, der wie ein Wolkengebilde erscheint; kommen wir näher, so löst sich dieses Wolkengebilde in die einzel­nen Mücken auf, und der Mückenschwarm erscheint uns zuerst nur so, weil wir ihn nicht genau ansehen. Ich muß, sagt sich also Leibniz, das Naturbild so denken, daß die Menschenseele darin bestehen kann. Das konnte er nur, wenn er sie als Monade unter Monaden dachte. Daher unterscheidet er unter den Monaden dumpf dahinlebende, dann schlafende, dann träumende Monaden, dann solche, wie es die Menschenseele ist. Aber alles übrige, was ent­steht, entsteht nur dadurch, daß alles, was wir entstehen sehen, uns nur so erscheint, wie ein Mückenschwarm uns als Wolke erscheint. Und wir könnten die hervorragendsten Geister bis in unsere Tage herein aufzählen, und wir wür­den finden, daß der Kampf um die Erkenntnis der Men­schenseele gegenüber dem neueren Naturbilde sich so dar­stellt, daß die Menschenseele fühlt: Ich muß mir eine Vorstellung machen können gegenüber dem, was als Natur-bild aufkommen kann, und was mir nichts mehr von Naturseelenhaftigkeit bietet. Gegenüber diesem Kampfe ist das, was als mehr oder weniger materialistisch gefärbter Monismus auftritt, und was selbst die Menschenseele als Naturform sich aufbauend denken inöchte -, was da vor­geht in der Menschenseele, wonach die Philosophen gestrebt haben, seitdem die Natur nicht mehr beseelt gedacht wer­den kann, dem gegenüber ist aller Monismus nur eine Episode, die vorübergehen wird: Aloer die Menschenseele, die sich losgelöst, weiß von dem, was sie als Naturbild vor­stellen muß, wird immer mehr danach streben, in sich selbst zu einem Inhalt zu kommen, das heißt dazu zu kommen,

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was sie früher in alten Epochen aus der Natur selbst her­aussog.

Daher können wir sagen: Alles ist seit dem Zeitalter der neueren Naturwissenschaft darauf angelegt, die Menschen-seele in sich selber zu vertiefen, und alles weist auf den Punkt der neueren Geisteswissenschaft hin, den wir suchen, und der hier vertreten wird: daß die Menschenseele durch das Sich-Erleben in einer geistigen Welt dahin kommen inöge, sich zu wissen im ganzen Kosmos, sich getragen zu wissen von geistig-göttlichen Mächten, deren äußerer Aus-druck und äußeres Bild die äußere Natur ist. So wahr der Mensch, als er noch in seiner Empfindungsseele lebte, sich als ein Stück der ganzen Natur wußte, so wahr das grie­chisch-lateinische Zeitalter, das sich noch in der Verstandes-oder Gemütsseele erlebte, sich noch nicht herausgesondert erlebte aus der Leibeswesenheit, so wahr erlebt sich die neuere Zeit in der Bewußtseinsseele, weiß sich aber getrennt von der Natur, seit sie sich von dieser ein Bild machen muß, das nichts Seelisches mehr enthält. Erstarken und erkraften mußte die Menschenseele, um die Fülle geistiger Erlebnisse aus sich selber herauszuzaubern, die ihr die Sicherheit wie­dergeben können, die sie hatte, als sie sich noch als ein Glied des durchseelten Kosmos fühlte.

So erlebt sich die moderne Menschenseele seit dem vier­zehnten Jahrhundert in der Entwickelung der Bewußt­seinsseele. Vom achten, zehnten vorchristlichen Jahrhundert bis in die Zeit des vierzehnten, fünfzehnten nachchristlichen Jahrhunderts dauerte die Entwickelung der Verstandes-oder Gemütsseele. Was wir erleben, worin wir seit einer Zeit von vier Jahrhunderten etwa drinnenstehen, und was wir erkennen müssen, das ist, daß wir begreifen: immer reicher und reicher wird das geistige Leben werden können, das die Menschenseele aus sich hervorzaubert, damit sie

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wieder in einem geistigen Lande leben kann. Was wir als die innerliche Erfassung der Bewußtseinsseele erle­ben, das nahm seinen Ursprung in der Zeit des vier­zehnten bis sechzehnten Jahrhunderts unserer Zeitrech­nung. Wir leben also etwa vier Jahrhunderte in diesem Zeitraum darinnen.

In der Mitte dieser Zeit, die wir jetzt in ihrem inner­lichen Kampfe, in ihrem Ringen und Streben nach dem Sich-Erleben in der Bewußtseinsseele zu erkennen ver­suchten, man möchte sagen: mitten zwischen uns und dern Aufleuchten des Strebens nach der Bewußtseinsseelenent­wickelung lebte Voltaire. Und man begreift diesen Geist, wenn man ihn geschichtlich hineinstellen kann in dieses Zeitalter des Sich-Erlebens der Bewußtseinsseele. Denn Voltaire mit all seinen glänzenden Geisteseigenschaften, mit all der souveränen Verstandestätigkeit, mit all dem, was in ihm Gutes war, ist ein symptomatischer Ausdruck des Strebens nach der Bewußtseinsseelenentwickelung, ebenso wie er es mit all seinen, man möchte sagen, schlechten, schlimmen, bedenklichen Eigenschaften ist.

Zweierlei war es zunächst, was ihm in dem Zeitalter ent­gegentreten mußte, welches das Zeitalter der Bewußtseins­seelenentwickelung genannt werden kann. Das eine ist, daß ein immer glorioseres und glorioseres Naturbild, das wir nicht genug bewundern können, sich in den letzten Jahr­hunderten heranentwickelte, das seinen so hervorragenden Glanz erst erreichte in der Naturwissenschaft der neueren Zeit, ein wunderbares Naturbild, in dem aber gewisser­maßen kein Platz ist für die sich erfassende Menschenseele selbst. Und daneben bei den erleuchtetsten Geistern, viele könnten wir anführen, das Streben, jenes Rätsel zu lösen:

wie kommt die Menschenseele zu einer Vorstellung, durch welche sie sich gegenüber diesem neueren Naturbilde in sich

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selber halten kann? Das Naturbild wird immer glorioser; das Streben in der Menschenseele, sich selber zu halten, sich innere Sicherheit zu verschaffen, erscheint immer mehr und mehr so, daß wir es wie in einem auf- und abgehenden Wellengange erblicken. Denn so erblicken wir die Men­schenseele, als ob sie immer wieder einen Ansatz machen möchte, um sich selber zu finden gegenüber dem Natur-bilde, aber immer wieder zurückeilt, weil sie ohnmächtig ist, um in sich das zu finden, was in dieser Zeit aus der Bewußtseinsseele heraufgezaubert werden muß. Und so stehen wir noch mitten drinnen in dem Kampfe, der ja die wichtigste Veranlassung ist, daß sich eine Geisteswissen­schaft in die Gegenwart hineinstellen muß: in dem Kampfe um den inneren Kosmos, von dem hier in diesen Vorträgen gesprochen worden ist, und der von den Menschen gesucht werden muß. So sehen wir Geister wie Cartesius, Hume, Berkeley, Locke, alle dahin streben; gewissermaßen dieses Rätsel zu beantworten: was soll ich mit meiner Seele gegen­über dem Naturbilde draußen? Man könnte an jeden der Geister anknüpfen, der uns da entgegentritt. Wir wollen zum Beispiel an Locke anknüpfen.

Locke, der, man möchte sagen, ein symptomatischer Aus­druck für das ist, was man auf dem Gebiete des englischen Geisteslebens im Beginne des Zeitalters des Voltaire zum Begreifen der Seele gesucht hat, er erscheint uns in folgen­der Weise. Locke fühlt sich sozusagen ganz bezwungen von der Kraft des Naturbildes, fühlt sich so bezwungen, daß er sagen muß: Wir können im Grunde genommen in unserer Seele nichts finden, als was diese Seele erst aus der äußeren Natur durch die Sinne aufgenommen hat. So gewaltig wirkt das Naturbild, so imponierend, daß Locke alles menschliche Seelenleben, insofern dieses Erkenntnis ent­wickelt, zunächst auf das beschränken will, was wir auf

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Grundlage der Sinne anfachen, und was der Verstand als Weltbild kombinieren kann; und so steht er vor der Welt, daß er sich sagt: Nichts finden wir in dieser Menschenseele, was sie nicht vereinsamt machte, was sie nicht darstellte als eine «tabula rasa», als eine leere Tafel, bevor von der äußeren Natur die Sinneseindrücke kommen, welche die Seele dann bearbeitet. So sehen wir, wie die Kraft des Naturbildes zunächst so groß und gewaltig wirkt, daß er den Glauben verliert, in der Menschenseele selbst über­haupt irgend etwas zu finden. Man muß vor allen Dingen die moralisch-geistige Seite dieser Stellung Lockes ins Auge fassen. Ein Zusammenhang mit der geistigen Welt war dem Menschen gegeben in dem, was die alten Überlieferungen, die Religionen und Traditionen darboten. Bis in die Zeiten der modernen Naturwissenschaften hinein glaubte man doch mit dem Geistigen der Welt, auch durch geistige Ver­bindungsglieder, zusammenzuhängen. Jetzt war ein Natur-bild da, das so übermächtig wirkte, daß sich die Menschen-seele nicht traute, über sich selber noch etwas zu denken. Jetzt stand die Seele da, - und die Anschauung, mit der sie dastand, ging vor allem von Geistern wie Locke aus. Die Seelen sagten sich: Wissen, erkennen können wir als Men­schenseele nichts, was uns nicht durch die Sinne und durch den auf die Sinne beschränkten Verstand überliefert wird. Und jetzt kam es darauf an, gewissermaßen aus den alten Traditionen und Gefühlen, die noch aus den früheren Zei­ten heraufströmten, so viel seelisches Temperament, so viel seelische Kraft zu entwickeln, daß man neben dem, was man nur als Bild der äußeren Natur erkennen kann, irgend­eine geistig-göttliche Welt anerkannte, von der man sich aber zugestehen mußte: Glaubt man auch an sie, so kann man sie doch durch keine Erkenntnis erreichen. Das Natur-bild nahm zunächst eine Form an, die allen erkenntnismäßigen

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Zusammenhang der Menschenseele mit dem gött­lich-geistigen Weltengrunde herauswarf.

So entstand jenes Weltbild und jenes Lebenserfühlen und Weiterleben, in das Voltaire, der ja im Jahre 1694 geboren ist, also seine Jugend im Beginne des achtzehnten Jahr­hunderts durchgemacht hat, zunächst hineingestellt war. Er stand zunächst so vor dem Geiste seiner Zeit, daß es einen ungeheueren Eindruck auf ihn mache, als er, weil er ja in Frankreich früh verfolgt worden war, nach England floh und dort gerade mit jener Aufklärungsphilosophie bekannt wurde, die alles menschliche Erkennen überhaupt auf die Betrachtung des Naturbildes beschränkte und sozusagen nur auf Grund des Temperamentes der Seele noch an einer göttlich-geistigen Welt festhielt. So wurde Voltaire sozu­sagen mit seinem Innersten von diesem Weltenerleben, von diesem Seelenerfühlen in Anspruch genommen, und in sei­ner so unruhigen und doch so gescheiten Seele entstand die unmittelbare Überzeugung: Auf sicherem Boden steht man, wenn man sich auf den Boden des überwältigenden Natur­gesetzes stellt. Aber stark und kräftig war in ihm das, was ich eben das religiöse Temperament genannt habe. Die Seele ließ nicht von einem Glaubensbewußtsein eines Zu­sammenhanges mit einer geistig-göttlichen Welt. Und so sehen wir, wie bei Voltaire auf der einen Seite eine unend­lich weitgehende Bewunderung dessen entsteht, was die neuere Naturwissenschaft und das Naturbild, das vor ihm stand, gebracht haben, und eine Bewunderung solcher phi­losophischer Auseinandersetzungen, wie sie zum Beispiel Locke gebracht hatte; und auf der anderen Seite entsteht in ihm das Bedürfnis, alles aufzubringen, was der mensch­liche Geist an Gründen für ein solches Naturbild aufbrin­gen kann - und dennoch festzuhalten die alte Idee von der Unsterblichkeit der Menschenseele, von einem Zusammenhange

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des Menschen mit dem ganzen Weltendasein, von einer in gewissen Grenzen gehaltenen Freiheit der Men­schenseele. Und jetzt tritt uns ein eigentümlicher Zug an diesem Menschen Voltaire entgegen, ein Zug, der uns zeigt, wie in ihm ganz und gar ein symptomatischer Ausdruck dessen vorhanden ist, was in der ganzen Zeit lebte.

Was einem da an Voltaire entgegentritt, das wird viel-leicht am anschaulichsten, wenn man ein anderes Werk nennt, das fast zur gleichen Zeit wie Lessings «Erziehung des Menschengeschlechtes» erschienen ist, nämlich die «Kri­tik der reinen Vernunft» von Kant, wenn man überhaupt den Kantianismus anführt. Kant lebte seit seiner Jugend in ganz ähnlichen Voraussetzungen gegenüber dem Natur-bilde, wie Voltaire. Kant war im vollsten Sinne des Wortes dem «Geist der Aufklärung» zugetan. Von ihm rührt ja der Ausspruch her: Aufklärung heiße für die Menschen-seele den Mut zu haben, sich ihrer Vernunft zu bedienen enthalten in dem schönen Aufsatz «Was ist Aufklärung?». In Kant tritt für Voltaire etwas wie die vollste Konsequenz der Aufklärungsimpulse zutage. Kant steht, wie Locke und später noch Hume gestanden hat, der Macht des Natur-bildes gegenüber, das zeigte, wie die Welt und die Men­schenseele zustande kommen. Denn was als Naturbild heraufgekommen ist, läßt sich nicht ablehnen. Das wirkte imponierend! Und so imponierend wirkte dieses Natur-bild auf Locke, daß er für eine Erkenntnis alles ablehnte, was nicht aus den Sinneseindrücken und dem Verstande kommen konnte. Kant geht «prinzipiell» vor. Er ist der gründliche, prinzipielle Mensch, der alles bis auf die Prin­zipien treiben muß, und so schreibt er seine «Kritik der reinen Vernunft». Darin zeigt er, wie der Mensch ein Wis­sen überhaupt nur von dem haben kann, was die äußere Natur ist, und wie der Menschenseele von einer ganz anderen

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Seite her als derjenigen, von der das äußere Wissen herrührt, ein praktischer, aber nicht hinwegzuleugnender Glaube werden kann. In der zweiten Auflage seiner «Kri­tik der reinen Vernunft» hat Kant im Vorwort verraten, wie er sich zu den Dingen stellte: «Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.» Kant fordert für den Glauben ein Gebiet, wo das Gewissen hineinragt, wo der kategorische Imperativ spricht, der nicht ein Wissen, der aber trotzdem einen Impuls gibt, an den sich der Mensch zu halten hat, und der trotzdem zu der Gottesidee und der Idee der Freiheit führt. So mußte Kant die Sache prinzipiell angreifen, indem er die Frage auf­stellte: Wenn die Menschenseele schon unter dem Anstoß des neueren Naturbildes kein Wissen über sich selber er­langen kann, wie können wir ihr dann einen begründeten Glauben erhalten? Und er erhielt der Menschenseele einen begründeten Glauben dadurch, daß er das Wissen über­haupt aus dem Gebiete herauswarf, wo etwas über die Menschenseele zu sagen ist, indem er also das Wissen auf die äußere Welt beschränkte.

Was Kant so auf ein Prinzip bringen mußte, ohne wel­ches er nicht hätte leben können, auf ein Prinzip, an dem dann die ganze Folgezeit zehrt, das hatte Voltaire noch nicht. Er hatte nur die logische Seite, die sagte: alles Erken­nen beschränkt sich nur auf das Naturwissen. Er hatte nötig das, was Kant aus einem Prinzip, aus einem ganz Unpersönlichen hervorholte, aus der Kraft seiner Persön­lichkeit hervorzuholen. Und so sehen wir Voltaire sein ganzes Leben hindurch, das mit einer Seite des ganzen Geistesleben des achtzehnten Jahrhunderts identisch ist, das, was Kant aus dem Prinzip herzuleiten versuchte, näm­lich den kategorischen Imperativ, wir sehen es Voltaire aus seinem Temperament, aus seinem beweglichen Geist immer

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aufs neue hervorzaubern. Immer wieder sehen wir ihn in seinem langen Leben bemüht, all seinen Witz und seine Gescheitheit aufzubringen, um sich zu sagen: Wissen kön­nen wir nichts gegenüber dem Naturbilde; aber in die Bre­sche mit dir, du Menschenseele; mit Witz und Gescheitheit suche nun alle Gründe zu bringen, wie sie auch beschaffen sein mögen, ob gut oder schlecht, um zu halten, was doch gehalten werden muß gegenüber dem Naturbilde!

So lebte, möchte man sagen, in Voltaires Temperament, in Voltaires beweglichem Geist das, was bei Kant auf ein Prinzip zusammengeschrumpft ist, welches als unpersönlich gelten kann. Und wer Menschenseelen beurteilen will, der muß sich ein wenig Einblick zu verschaffen suchen in das Gefüge einer Seele mit all ihren Kämpfen, die gewisser­maßen ein ganzes langes Leben hindurch etwas halten muß, was ihr durch die Macht und Bedeutung des Naturbildes fortwährend hinschwinden kann. Wenn wir Voltaire so betrachten, und dann von dieser Grundbetrachtung aus den Blick auf das wenden, was er im einzelnen geschaffen hat, dann werden wir finden, wie er verständlich wird. Denn wie er so dastand mit seiner Seele, wie ich sie mit ein paar Strichen wie bei einer Kohlezeichnung zu geben versuchte, so hatte er im Grunde genommen eine Welt gegen sich. Was Voltaire suchte, das war ein geistiges Weltbild, in welchem Gott, Freiheit und Unsterblichkeit Platz haben, das aber dem Naturbilde gewachsen sein kann. Denn Voltaire wurde ein immer glühenderer und immer vorurteilsvollerer Be­kenner der neueren naturwissenschaftlichen Vorstellungs­weise, und dieses Streben lebte in ihm und entwickelte sich

- da es gewissermaßen als die Grundlage seines Wesens in ihm war, mit all den Formen, die manchmal einen recht unerquicklichen Charakter im Laufe seines Lebens ange­nommen haben.

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Gerade in der Zeit, in welcher wir sozusagen Voltaire sehen als den temperamentvollsten Ausdruck des Ringens der Menschenseele, sich als Bewußtseinsseele selber zu fin­den, gerade in dieser Zeit war es am wenigsten möglich sich klar zu sein, wie dieses Ringen der Menschenseele zu einem älteren Ringen der Menschenseele in früheren Epochen sich darstellt. Voltaire konnte zum Beispiel durchaus nicht zu einem reinen, edlen Bilde der griechischen Kultur kommen. Ihm erschien das, was seine Zeit wollte, was seine Zeit vor allem gegenüber der griechischen als naturwissenschaftliche Vorstellungsart hervorholen wollte, viel bedeutungsvoller und größer als das, was die Griechen mit ihrem Naturbilde gewollt hatten, welches zugleich das Bild des seelisch-geisti­gen Lebens und Webens enthielt. Weil in Voltaire der Nerv des ganzen Ringens der Bewußtseinsseele lebte, deshalb mußte er gewissermaßen eine Zeit verkennen, in welcher in jeder Form der Kultur sich noch ein Verbundensein der Menschenseele mit der übrigen Welt darstellte. Ein solches Verbundensein tritt uns noch entgegen in den Gestalten, die Homer geschaffen hat, die Aschylos, Sophokles und Euripides, diese großen griechischen Tragiker, geschaffen haben. Für Voltaire waren diese griechischen Tragiker gar nicht mit dem zu vergleichen, was die Menschheit in seiner Zeit errang. Ihm schienen vor allem die Griechen in ihren ganzen Weltanschauungen Menschen, die Fabeleien über die Natur hervorgebracht hatten; während ihm das Zeit­alter der großen naturwissenschaftlichen Entdecker als das erschien, welches die Menschen in kurzer Zeit weiter ge­bracht hat, als alle früheren Zeitalter zusammen. Ja, wahr­haftig: in dem Zeitalter, in welchem die Menschenseele dar­nach streben mußte, sich gegenüber dem Naturbilde aufrecht zu erhalten, in diesem Zeitalter mußte sie ungerecht werden gegenüber früheren Zeitaltern, in welchen die Menschenseele

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sozusagen ohne ihr Zutun noch ihre Kräfte aus der umliegenden Natur saugen konnte.

So sehen wir das Verhältnis Voltaires zu früheren Zeiten einen gleichsam tragischen Charakter annehmen; und wir sehen ihn hineingestellt in seine Umgebung wie aus dem vollständigen Gegensatze zur Welt, aus der er eigentlich hervorgewachsen ist.

Wenn man die Zeit des französischen Geisteslebens, aus der Voltaire herausgewachsen ist, überschaut, so kann man sagen: Diese Welt kümmerte sich noch wenig um die großen Rätsel, welche jetzt der naturwissenschaftlichen Vorstel­iungsweise und der sich emporringenden Bewußtseinsseele gestellt waren. Es lebte diese Welt noch in denjenigen Tra­ditionen, die gleichsam der Welt gegeben waren, damit sie sich in aller Ruhe zu dem Zeitalter der Aufklärung über sich selbst, zu dem Zeitalter der Erfassung in sich selbst hinentwickeln könne. Voltaire sah sich von einer Welt um­geben - und seine französische Welt war ja noch durchaus durchdrungen von dem starrsten intoleranten katholischen Prinzip -, die alles Seelenhafte, alles Geistige aus den Überlieferungen hervorholen wollte, und die das ablehnte, was ihm gerade teuer und wert war: dieses Stellen auf sich selber gegenüber dem Naturbilde. Und so entstand in Voltaire eine ungeheuere Aversion gegen die ganze ihn um­gebende Geisteswelt, eine Aversion, die er so früh schon in den Anklagen seines Lebens zum Ausdruck gebracht hat, daß er, man möchte sagen, ein wechselvolles Leben genug gehabt hat. Zweimal war er in der Bastille, 1717 und 1726; dann mußte er 1726 nach England fliehen, wo er sich bis zum Jahre 1729 aufhielt. Darauf kehrte er wieder nach Frankreich zurück und lebte dann vom Jahre 1734 ab eine längere Zeit hindurch zurückgezogen auf dem Schlosse der Marquise du Châtelet in Cirey in Lothringen und vertiefte

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sich damals besonders in naturwissenschaftliche Studien, die ihm zeigen sollten, wie das Weltbild im Sinne der neueren Naturwissenschaft erfaßt werden kann. Was sich ihm da herausbildete, war die Einsicht in die notwendigen Grund-bedingungen, in die geistigen Grundbedingungen der neue­ren Zeit. Man mag noch so viel gegen ihn sagen, daß er geschmeichelt hat, gelogen hat, daß er seine Freunde hinter­gangen hat, oft mit den niedrigsten Mitteln etwas zu errei­chen gesucht hat, das alles war nicht schön; aber neben dem war ein heiliger Enthusiasmus in ihm, der durch die oft zynisch-frivole Form hindurch sich so ausgesprochen hat:

Die Impulse der Menschenseele verlangen, daß die Seele aus sich selber ein Weltbild findet, sich in einem Weltbilde, welches sie vor sich hinstellen kann, erneuert. Ihm konnte zunächst nichts anderes gegeben werden als das Bild der Natur. Daher entsprang durch seinen Witz ein glühender Haß in ihm gegenüber dem Katholizismus. Er wollte vor allem mit seinem Weltbilde gegenüber dem durchdringen, was sich ihm entgegenstellte. Da war ihm jedes Mittel recht. Während er so dem Katholizismus gegenüberstand, fand er sich einerseits abgeschnitten von allem, was ihn damit ver­binden könnte; denn die ganzen Einrichtungen und Ge­bräuche des Katholizismus, das Ritualwesen, die Formen des Kultus haßte er; er sah keinen Zusammenhang mit dem, was sich ihm aus seinem Weltbilde heraus ergab, das er auf die Naturwissenschaften stützen wollte. Das andere war, daß er nur durch sein Temperament, durch seine be­wegliche, gescheite Seele an Gott, Freiheit und Unsterblich­keit festhielt; dieses aber, wodurch er daran festhalten konnte, das waren abstrakte Gedanken, unanschauliche Ideen.

Wenn der Grieche in jene Regionen hinaufgeschaut hat, wo der Mensch seine Impulse seinem Wissen nach herbekam,

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so sah er dort ein Göttlich-Geistiges walten. Sehen wir hin auf die Werke der griechischen Tragiker. Wir sehen darin die Menschenwelt dargestellt, angrenzend an eine göttlich-geistige Welt, sehen die Götterwelt hineinwirkend in die Menschenwelt und die Schicksale der Menschen durchwirkt werden von den Schicksalen der geistigen We­senheiten, und wir sehen, wie vor allem in den Vorstellun­gen der alten Zeiten Bewußtseinsinhalte lebten von diesen geistigen Wesenheiten, etwas, was lebendig werden konnte in der Dichtung. Geradeso, wie Menschen lebendig werden konnten in der Tragödie, im Epos, so konnten diese Be­wußtseinsinhalte lebendig werden in der Dichtung. Und wie sind sie lebendig geworden in den Dichtungen Homers! Und nun, wie sehen wir in dem Zeitalter, da sich die Men­schenseele herausrang von den übrigen Mitwesen, daß ihr der Zusammenhang mit solchen Wesenheiten verlorenge­gangen ist! Wir können verfolgen, wie die in der griechi­schen Dichtung noch lebendigen übersinnlichen Gestalten nach und nach immer abstrakter, immer begrifflicher wer­den, schon von Vergil an bis in die neueren Zeiten - mit der einen Ausnahme von Dante, der auf Grund einer hell­seherischen Eingebung seine «Göttliche Komödie» formte, und bei dem diese Gestalten wieder lebendig vor ihm stehen, allerdings in der Gestalt, wie er sie sehen konnte. Sonst aber sehen wir überall, wie gegen das Zeitalter der Bewußtseinsseele hin, in welchem Voltaire lebte, diese Ge­stalten immer mehr und mehr erblassen, und wie die Men­schen immer mehr und mehr sich selber überlassen sind. Wir sehen, wie die Dichter immer mehr und mehr genötigt werden, wenn sie das menschliche Leben darstellen wollen, abzusehen von einer nicht mehr vor ihnen stehenden über­sinnlichen Welt.

Voltaire, möchte man sagen, war zu groß, um bei seiner

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Überschau über das Leben absehen zu können von dem Hinblicken auf geistige Weltenwesenheiten. Dazu war sein Temperament zu groß, zu umfassend. Und das war in sei­ner Anlage. Daher das Merkwürdige, das Wunder, das uns gewissermaßen schon in seinem Jugendepos entgegentritt, in der «Henriade», wo er die Schicksale des Königs Hein­rich des Vierten schildert. Da sehen wir, wie er sich nicht beschränken kann - und nicht mag - auf das, was in der äußeren Welt vor sich geht, auf die sich die naturwissen­schaftliche Weltanschauung beschränken will. Wir sehen aber auf der anderen Seite, wie er in seinem Vorgehen sich über­all begrenzt fühlt, so daß er mit den Worten, aus denen er Freiheits-, Unsterblichkeits- und Gottesideen holt, nur mit Abstraktionen zusammenhängt. Seine Seele ist zu weit entwickelt, als daß er bei all den Kämpfen, welche damals zwischen den verschiedensten religiösen und politischen Parteien ausgefochten wurden, das Leben in seiner «Hen­riade» nur darstellen wollte wie einer, der nur als Mensch mit naturwissenschaftlicher Anschauung darauf hinschaut, und der das andere menschliche Leben nur als abstrakte Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit erfaßt. Dazu ist seine Seele zu groß. Daher sehen wir, wie in Voltaire die Sehnsucht hereinragt, die Menschenseele in Zusammen­hang zu bringen mit einer übersinnlichen Welt; wir sehen aber auch, wie es ihm unmöglich ist, aus dem Katholizismus heraus, den er haßt, eine menschenmögliche übersinnliche Welt zu erschauen. Denn die Geschichte der Heiligen war für ihn nur eine Darstellung von Legenden, und Christus war ihm mehr oder weniger ein frommer, gutmütiger Schwärmer. Dazu aber konnte sich ein Voltaire nicht ent­schließen, daß er das Menschenleben in seinen wichtigsten Ereignissen sich nur so abspielen lassen sollte, wie das war, was sich um Heinrich den Vierten von Frankreich herum

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abspielte, wie es sich anschaut, wenn man es mit den äuße­ren Sinnen erforscht und mit dem Verstande kombiniert. So treten in der Henriade merkwürdige Gestalten auf: so die «Discorde», die Zwietracht. Merkwürdig, bei dem Re­präsentanten der Aufklärung des achtzehnten Jahrhun­derts, bei Voltaire, diese Gestalt der Discorde, der Zwie­tracht! Sie schaut hinunter auf die Ereignisse von Frank­reich, die sich nicht so abspielen, wie sie es will. Sie will immer mehr und mehr Uneinigkeit unter den Menschen, damit sie ihre Zwecke erreichen kann. Mit Unmut sieht sie herunter auf das, was gegen Rom geschieht, und macht sich deshalb auf, um sich mit Rom ins Einverständnis zu setzen. So sehen wir eine mythologische Figur, die Zwietracht, von Voltaire geformt, wie sie mit Unwillen auf das schaut, was in Frankreich geschieht, und wir sehen sie dann die Reise nach Rom antreten. - Nun könnte man sagen: das alles ist Allegorie! Aber gerade aus dichterischen Impulsen heraus muß man das sagen, was ich eben sagen möchte: Diese Dis­corde nimmt ganz und gar realistische Formen an, so daß man sie nicht mehr als bloße Allegorie gelten lassen kann, so zum Beispiel wo geschildert wird, wie sie zum Papst kommt, wie sie mit ihm allein ist, und wie sie den Papst herumkriegt. Da benimmt sie sich so recht wie eine kokette Persönlichkeit aus dem Zeitalter Voltaires; da übt sie alle möglichen Verführungskünste. Gerade aus den dichterischen Impulsen heraus möchte ich sagen: Allegorien traue ich nicht dergleichen zu, was sie zuwege bringt, um den Papst für die politische Partei in Frankreich umzustimmen! Und mit dem, was der Papst ihr mitgeben kann, kehrt sie nach Frankreich zurück, wirkt wie eine Aufwieglerin, erscheint bald in der Gestalt des heiligen Franziskus, bald als Augu­stinus den Mörichen, geht von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, und als sie dann Interesse daran hat, daß Heinrich

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der Dritte nicht zum Siege kommt, bringt sie es zustande, den Dominikanermönch Jacques Clément zu verführen. In diese Schilderung hat Voltaire alles hineingelegt, was er gegen den Katholizismus im Sinne seiner religiösen Frei-geistigkeit auf der Seele hatte. Es ist interessant zu sehen, wie weit Voltaire in der Darstellung dieses Dominikaner­mönches geht, der nun von der Discorde herumbekommen werden soll, damit er den Untergang Heinrichs des Dritten herbeiführt. Ein Gebet ist in der Henriade angeführt, wel­dies Clément, der Mönch, zum Himmel hinaufsendet. Ich möchte dieses Gebet in der Übersetzung von Krafft Ihnen vorlesen, damit Sie das Gefühl erneuern, das Sie haben müssen, wenn Sie sich in Voltaire einleben in bezug auf das, was in seiner Seele gegen den Katholizismus lebte, dem er zumutet, daß einer seiner frommen Anhänger das folgende Gebet zum Himmel hinaufschickt:

«O Gott, Tyrannenfeind, der du die Kirche lenkst,

Wird man doch fortan sehn, wie du die Deinen drängst?

Wie du, dem Morde hold, meineid'ge Schurken segnest,

Und einem König, der dich schmäht, voll Huld begegnest?

0 großer Gott! zu sehr erprobt uns dein Gericht;

Dem Feinde zeige bald dein zürnend Angesicht;

Von uns laß ferne sein den Tod und das Verderben,

Und einen König, den dein Zorn uns gab, laß sterben.

Wohlan! erschütt're tief des Himmels Feuerhöh',

Und sende vor dir her den Würger, scharf und jäh,

Herab! und waffne dich und triff die Feindesheere

Mit deinem Donnerstrahl, der sie zermalm', verzehre.

Gleich Blättern, die der Wind nach Willkür knickt, zerstreut,

Laß fallen Mann und Haupt, die Kön'ge allebeid';

Auf ihren Leichen soll dann von den Bündnern allen,

Die du gerettet hast, ein Jubellied erschallen!»

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Discordia, sorgsam späh'nd, zerteilt die Lüfte, und

Vernimmt dies Grau'ngebet und trägt's zum Höllenschlund.

Sofort bringt sie von da, wo Nacht und Schreck sich gatten,

Den grausamsten Despot des Königes der Schatten.

Er kommt und fFanatism» ist seines Namens Ton,

Ein ausgeartet Kind der heil'gen Religion:

Zu ihrem Schutz bewehrt, sucht er sie zu verderben;

In ihrem Schoß erzeugt, umschlingt er sie zum Sterben.

Das betet der Dominikanermönch, um den Tod Hein­richs des Dritten und des Vierten hervorzurufen, betet es zum Himmel, damit der Gott den Tod sende. Und Dis­corde, die Zwietracht, wird von diesem Gebet des Mönches angezogen, tritt herein in die Zelle des Mönches und ruft aus den Gefilden der Hölle als Bundesgenossen den «Fana­tismus». Wieder eine Gestalt, die uns Voltaire ganz real hinstellt! Und wie spricht er von dem Fanatismus, von dem er des Glaubens ist, daß er in der neueren Zeit seine beste Stütze in den Grundsätzen der Volksgesinnung findet? So spricht er von ihm:

Er ist's, der zu Rabba, im Tale des Arnon,

Geleitet einst das Volk des Unglückssohns Ammon,

Als ihrem Gott Moloch von Schmerz erfüllte Weiber

In seinen Feuerarm gelegt der Kinder Leiber.

Dem Jephta gab er ein den unheilvollen Eid,

Und führte seinen Stahl ins Herz der holden Maid.

Von ihm gestachelt sprach einst Kalchas frevle Worte,

Und reizte hierdurch an zu Iphigeniens Morde.

In deinen Wäldern hielt, o Frankreich, er sich lang;

Dem grimmen Teutates er hoch das Rauchfaß schwang.

Vergessen hast du nicht die heil'gen Würgereien,

Druidenwerk, geübt, die Götzen zu erfreuen.

Vom hohen Kapitol erklang sein Wort voll Graus:

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«Ergreift das Christenvolk, zerreißt es, rottet's aus! »

Doch seit die ew'ge Stadt den Gottessohn erkannte,

Vom Schutt des Kapitols er sich zur Kirche wandte.

In Christenherzen nun ergoß er seine Wut:

Verfolger wurden die, die einst verspritzt ihr Blut.

Am Tower schuf er sich die ungestüme Sekte,

Die ihre freche Hand durch Königsmord befleckte.

Zu Lissabon, Madrid entfacht' er jene Flamm'

Geweihter Stöße Holz, auf welche Juda's Stamm

In feierlichem Pomp durch Priester ward gesendet,

Weil er vom Glauben nicht der Väter sich gewendet.

Und stets ging er einher, bei seiner Gleisnerei,

Im heiligen Gewand der Kirch' und Klerisei; ...

Diesen Gesellen holt sich die Discorde aus dem Höllen­schlunde herauf. Und von diesem Gesellen bekommt Clé­ment den Dolch, mit dem er Heinrich den Dritten verwun­det, so daß dieser an der Verwundung stirbt.

So sehen wir, wie geistige Mächte in die Dichtung Vol­taires hereinspielen. Wir sehen weiter, wie der heilige Lud­wig, der Ahnherr des königlichen Geschlechtes, von Gott heruntergeschickt wird, um Heinrich dem Vierten zuzu­sprechen, ihm gewissermaßen Weisheit einzuflößen, und Voltaire schreckt nicht davor zurück, dem heiligen Ludwig in den Mund zu legen, was sich alles in der Geschichte Frankreichs zutragen soll. Wir sehen weiter, wie er die Welt, die er schildert, die Zeit Heinrichs des Vierten, in einem noch übleren Sinne daran anknüpft, daß er, nachdem Heinrich zuerst siegreich vorgedrungen ist und dann er­lahmte, dies darauf zurückführt, daß ihn die Zwietracht zu dem «Tempel der Liebe» führte, wo er in einer unglück­seligen Liebe erlahmte und ermattete, bis er wieder zu einem neuen Kampfe aufgerufen wird. Man lese diese Erzählung,

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diese Schilderung des Tempels der Liebe, wie er ihn darstellt als eine Art Zauberdienst, dem die Gegner Heinrichs des Vierten ergeben sind, als eine Art Teufels-dienst mit all den Altären und Ritualien, von denen er behauptet, daß sie bei gewissen Parteien eine Rolle spielen

- und man wird sich sagen: wie Voltaire nicht durch seinen Verstand, nicht durch seinen Intellekt, nicht durch das, was er aus seinem Kampf für die Erringung der Bewußtseins-seele wird -, aber durch das, was er ist durch sein ganzes bewegliches Temperament, durch die Summe seiner Ge­mütsempfindungen dazu hinneigt, das ganze Menschen­leben in Zusammenhang zu bringen mit einer geistigen Welt - was Herman Grimm mit Recht strohern, ab­strakt findet. Aber darin, in jenem Ringen der Menschen-seele, wie es sich abspielt in dem Vorhofe des geistigen Le­bens, bevor man an eine Geisteswissenschaft denken konnte, darin lag die Tragik der Seele Voltaires, daß sie dort, wo sie wirklich wahre echte Erlebnisse, große starke Erlebnisse des Menschenlebens darstellen will, daß sie dort den Zu­sammenhang des äußeren Lebens mit einer geistigen Welt suchen muß - und diesen Zusammenhang doch nur in einer ungenügenden Weise finden kann. Daher erscheint die Henriade heute als ein «unlesbares» Gedicht, weil alles, was Voltaire an Zusammenhang der Menschenwelt und der geistigen Welt aufbringen konnte, doch im Grunde ge­nommen auf Traditionen beruht, die er nicht will, die er haßt, weil er sich außerstande fühlt, die geheimen Kräfte, die durch das Menschheitswerden gehen, irgendwie zu schildern. Man muß schon sagen: es bedurfte all der Beweg­lichkeit der Voltaire-Seele, jener Beweglichkeit, die aller­dings zu den ja berührten Mängeln der Seele führte, um sich aufrecht zu erhalten gegenüber der Tatsache, daß diese Seele in sich fühlte, wie ihr durch das äußere Naturbild

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immer mehr die Möglichkeit eines inneren Seelenhaltes ent­schwindet. Und schon in der Henriade, bei jenen Gestalten, die mythologische Figuren sind und gar nicht wie bloße Allegorien erscheinen, bemerkt man, wie diese Voltaire-Seele kämpft und nach etwas sucht, woran sie das mensch­liche Leben anklammern kann, und wie sie noch nichts findet. Man muß diese Seite bei Voltaire ins Auge fassen und wird dann im rechten Sinne würdigen, was er alles getan hat, um das menschliche Werden zu begreifen. Des­halb ist seine, trotz aller Mängel, wunderbare Charakte­ristik Karls des Zwölften oder Ludwigs des Vierzehnten so mustergültig, weil sich für ihn das größte Rätsel darin barg:

Wie wird das geschichtliche Werden erlebt? was wirken darin für Kräfte, was für welche in der Umwelt des mensch­lichen Werdens?

Nach der Gewalt, mit welcher das Naturbild auf ihn wirkte, konnte er nicht anders als mit aller Kraft und allem Zynismus auszusprechen, dabei sozusagen überall über die Stränge springend, so zum Beispiel, wenn er der Jungfrau von Orleans alles mögliche anhängt, was er gegen den Aberglauben aller Zeiten auf der Seele hat. Aber gerade die Voltaire-Seele ist eine solche, an der man erkennen kann, wie Seelen sich fühlen, welche dem Puls der Zeit so gegenüberstehen, daß sie ihn, im vollsten Sinne des Wortes, nicht schlagen hören, aber in dem Pulsen des eigenen Blutes doch verspüren: ein Zeitalter geht zu Ende, - die aber, das Leere in sich empfindend, deshalb sich sagen: Das neue Zeitalter ist noch nicht da! - Man empfindet das Tragische der Voltaire-Seele, wenn man sie so hinstellt, daß man sie wie fragend sieht: Wie findet die Menschenseele ihren Halt gegenüber dem neuen Bilde der Natur? Wir würden heute sagen: wie ringt sich die Bewußtseinsseele im Menschen heraus? Und wir finden die Antwort darauf, wenn wir auf

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Voltaire schauen, wie er den Blick auf alles hinwendet, was Frankreich an äußerer Kultur hat hervorbringen können, wie ihm abstrakt geworden sind die alten überlieferten Mächte, die aus der Vorzeit her überliefert sind, denn wir sehen, wie er den Himmel, die Hölle schildert, in einer ge­wissen Beziehung sogar großartig den Himmel, in welchen Heinrich der Vierte durch den heiligen Ludwig hinauf-geführt wird, wenn er schildert, wie die geistigen Kräfte die Naturkräfte auseinanderspalten, wie Welten durchein­anderwalten, - und wie das alles doch an den tiefsten unterbewußten Seelengründen würgt, die den Halt suchen, wo die Seele mit ihrem Wesen, mit ihrem tiefsten göttlichen Wesen verankert werden kann. Aber diesen Anker kann Voltaire nicht finden!

Als das Jahrzehnt herannahte, in welchem Voltaires Todesjahr liegt, da war in einer Seele der Keim dazu, im Menschen selber den Urquell einer Erkenntnis zu suchen, die nicht nur in die Natur hereinragt, sondern die sich auch in das geistige All hineinzuvertiefen vermag. Als Voltaire gestorben war, da trug Goethe die Idee seines «Faust» in sich, jenes Faust, an dem wir sehen, wie er eigentlich aus dem, was Voltaire die abergläubischsten Seelenvorstellun­gen genannt haben würde, eine Figur herausholt wie die des Faust, die uns zeigt, wie das tiefste Sehnen, das tiefste Wollen und das höchste Erkennen in Anknüpfung an diese Menschenseele zu suchen ist. Und unter dem Einflusse dieses Hineinblickens in die tiefsten Tiefen der Menschenseele, in welche Voltaire nicht hineinblicken konnte, weil die Macht des Naturbildes zu stark auf ihn wirkte, und weil ihm Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, die ganze geistige Welt im Grunde genommen abstrakte Ideen blieben -, unter dem Einflusse dieses Hineinblickens in die Menschenseele entstand endlich dasjenige in Goethe, was eine Figur hinstellt,

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welche recht Voltaire ähnlich ist: Mephistopheles, nur daß Faust, der in anderer Art die Geburt der Bewußt­seinsseele sucht, zu Mephistopheles sagt: «In deinem Nichts hoff ich das All zu finden!» Und im Grunde genommen ist dies das Wort, das zu Voltaire herübertönt von Goethe, der in einer anderen Art als Voltaire das Streben der neue­ren Zeit nach einem innerlichen Finden der Bewußtseins-seele und einem Verankern derselben in den geistigen Wel­ten suchte. Voltaire stellt sich dar wie der Stern einer untergehenden Welt, einer Welt, in welcher alles Streben auf die Erringung der Bewußtseinsseele geht, und herein-leuchtet, was den stärksten Zwang nach der Bewußtseins-seele hin ausübt: das naturwissenschaftliche Weltbild. Vol­taire ist dennoch der größte Stern dieser untergehenden Welt, trotzdem er nicht finden kann, was die Menschen-seele wieder nach einer geistigen Welt hin erweitert. Nichts ist charakteristischer für Voltaire als ein Ausspruch, den er in seiner Geschichte Ludwigs des Vierzehnten über Cor­neille getan hat. Da sagt er, daß Corneille auch eine fran­zösische Übersetzung des Büchelchens «Die Nachfolge Christi» von Thomas von Kempen hätte erscheinen lassen, und er hätte gehört, daß dieses Büchelchen in der franzö­sischen Übersetzung zweiunddreißig Auflagen erlebt hätte. Das kann er nicht glauben und sagt darüber: «denn es er­scheint mir so unglaublich, daß eine gesunde Seele dieses Buch nur einmal zu Ende lesen kann.» Da sehen wir an einem Punkte ausgesprochen, wie diese Voltaire-Seele nicht die Möglichkeit finden konnte, im Innern sich einen Quell zur geistigen Welt zu eröffnen.

Wir sprechen heute davon, wie die Geisteswissenschaft eine echte Fortsetzung dessen ist, wozu das naturwissen­schaftliche Weltbild den Menschen zwingt, sprechen aber auch davon, wie diese Geisteswissenschaft eine echte Fortsetzung

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des Goetheschen Weltbildes ist. Wir sprechen da­von, daß im Menschen ein zweiter Mensch wohne, der sich seelisch erleben kann, sprechen von dem, was der Mensch im Ernst ist, was sich ausdrückt in den Worten Goethes:

«Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.» Aber wir sprechen davon so, daß das Geistig-Seelische des Menschen seine geistig-seelische Heimat sucht und finden kann. Wir reden wieder in der Geisteswissenschaft von einer geistigen Welt, welcher der Mensch mit seiner geistigen Wesenheit ebenso angehört, wie er mit seinem Leiblich-Körperlichen der physischen Welt angehört. Voltaire aber ist von der Macht des Naturbildes so überwältigt, daß er gar kein Gefühl hat für den «zweiten Menschen» im Menschen. Während bald nach ihm Goethe mit aller Kraft seinen Faust nach jenem zweiten Menschen streben läßt, der aus dem körperlich-physischen Menschen heraus nach den geistigen Welten hinstrebt, sehen wir bei Voltaire, wie er nichts von einem solchen zweiten Menschen begreifen kann. Sehr cha­rakteristisch ist ein Ausspruch, den er gerade mit Bezug auf diesen zweiten Menschen tut: «Soviel ich mich auch bemühe zu finden, daß wir unser zwei sind, habe ich doch schließlich gefunden, daß ich nur einer bin.» Er kann nicht zugeben, daß ein zweiter in ihm ist. Er hat sich bemüht, aber das ist seine Tragik: er kann zuletzt nur finden, daß er nur einer ist, der an sein Gehirn gebunden ist. Das war seine tiefe Tragik, über die sich Voltaire hinweghalf durch seinen Zynismus, durch seine Frivolität sogar. Unterbewußte See­lentiefen, einen zweiten Menschen im Menschen im Zu­sammenhang mit einer geistigen Welt, - das Oberbewußt­sein durfte es sich nicht gestehen. Das Oberbewußtsein brauchte Betäubung. Die konnte er finden in dem äußeren Erleben, weil sich das äußere Erleben hingab an das groß­artige, gescheite Weltbild, das er schaffen konnte innerhalb

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der widerspruchsvollsten Seelenerlebnisse. So können wir es begreifen, daß es Voltaire recht schwer hatte, um mit sich zu­rechtzukommen, und daß er mancherlei Betäubung brauchte. Man muß schon auf die Größe dieses Menschen hinsehen, um so etwas grandios Paradoxes zu begreifen wie das, daß er sich eines Tages, es war in der Schweiz, wo er so viele Wohl­taten getan hat, todkrank stellte, damit der Priester herbei-käme, um ihm das Sterbesakrament zu geben; und nachdem er das Sakrament bekommen hatte, sprang er auf und erklärte, daß ihm das alles nur Spaß war, und verhöhnte den Priester. Man muß aber auch nur in einer so sehr «ab­geleiteten» Welt leben, die nicht den realen Zusammenhang der Menschenseele mit den geistigen Welten hat, wie Voltaire in einer solchen Welt lebte, um nicht zu dem Zu­sammenhange zu kommen, zu welchem er kommen wollte.

Schauen wir noch einmal Goethe an: Einen «Landstrei­cher» - Faust - nimmt er sich, um zu zeigen, wie die tief­sten Impulse in der Menschenseele entspringen. Und wenn wir das ganze Leben Goethes verfolgen, sehen wir, wie er in den einfachsten Seelen den menschlichen Charakter in seiner Vollsaftigkeit zu finden sucht. Voltaire lebt ganz in einer abgeleiteten Schicht, in seiner Bildungsphäre, wo alles entwurzelt ist; da kann er nicht finden, was die Menschen-seele zusammenbindet mit einer geistigen Welt, und so kann er auch nur zu jener abgeleiteten Schicht sprechen. Wir können es heute kaum begreifen, daß ein Geist wie Voltaire sagt: «Ich lasse mich nicht herbei, für Schuster und Schneider zu schreiben; um denen etwas zu geben, woran sie glauben können, dazu taugen Apostel, nicht ich.» Und nicht will er das, was er als seine heiligste Überzeugung hat, so behandelt wissen, wie wir es heute möchten: daß es eindringe in jede Menschenseele; sondern er tut den charakteristischen Ausspruch, daß er nur für die Bildungsschicht

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schreibe, weil er aus ihr hervorgewachsen ist: Den Himmel und die Erde, die sich meinem erleuchteten Geist ergeben, kann nur eine Oberschicht verstehen; das Pack ist so, daß der dümmste Himmel und die dümmste Erde gerade das beste ist!» Auch in dieser Beziehung lebt Voltaire in-nerhalb einer Kultursphäre, die eine absterbende ist. Das ist seine Tragik. Solche Kultursphären haben aber auch die Möglichkeit, in bezug auf gewisse Strömungen Reife zu entwickeln. Und jene Reife hat Voltaire entwickelt. Sie drückt sich in seinem eindringlichen, selbst im Witz sich nicht verwirrenden gescheiten Urteil aus, drückt sich in seiner gesunden, selbst in der Frivolität noch gesunden Art aus, auf die Welt zu wirken und sich mit der Welt in ein Verhältnis zu setzen. So kann man es auch begreifen, daß ein Geist, der in vieler Beziehung so groß war, wie Fried­rich der Große, zu Voltaire sich hingezogen fühlen konnte, ihn wieder abstoßen konnte, ihn gewissermaßen nach eini­ger Zeit wieder hinauswerfen konnte, doch immer wieder zu ihm zurückkommen mußte, und über ihn das Urteil fällen mußte: Dieser Voltaire verdient eigentlich nichts besseres als das Los eines gelehrten Sklaven, aber ich schätze, was er mir als sein Französisch geben kann. Und er konnte ihm noch viel mehr geben, als nur das sprachliche Element. Das habe ich heute anzudeuten versucht.

Man kann es begreifen, daß jenes achtzehnte Jahrhun­dert, das auf der einen Seite alles jenes ins rechte Licht set­zen mußte, was dem Hervordringen der Bewußtseinsseele hemmend war, was aber gerade im absteigenden Geist der Kulturströmung eine gewisse Größe zeigen mußte -, man kann es begreifen, daß dies in einer so eigenartigen Weise gerade bei Voltaire zum Ausdruck kommen mußte. Und man sieht Voltaire im rechten Lichte, wenn man als Gegenbild das hinstellt, was wir als das Positive, als

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das Fortwirkende im Sinne Lessings oder Goethes für das Streben der Menschenseele nach dem Bewußtseins­elemente hin gefunden haben. Wahrhaftig, was ich mir heute vor Ihnen von V6ltaire zu sprechen erlaubte, es kann gewiß nur dazu beitragen, ein Bewußtsein davon hervor­zurufen, wie schwierig es ist, ein objektives Bild gerade dieses eigenartigen Menschen zu gewinnen, dieses eigen­artigen Menschen, von dem wir sagen dürfen: Vieles, wo­für er gekämpft hat, wonach er gestrebt hat, es lebt als etwas Selbstverständliches heute in uns - auch in denen, die gar nicht daran denken, Voltaires Schriften zu lesen. Ja, man kann gerade bei Voltaire sagen: Über seine Schrif­ten kann die Menschheit hinauswachsen; über das, was er als Kraft war, kann sie nicht hinauswachsen; denn sie wird als ein Glied im Geistesstreben der Menschheit immer blei­ben müssen. Denn was als das Freiwerden der Menschen-seele herauskommen mußte, das beruht darauf, daß zu­nächst etwas abgetragen werden mußte durch einen so zer-setzenden, so rein bloß auflösenden, man möchte sagen, so bloß mephistophelischen Geist, wie Voltaire es war. Und nicht zu verwundern ist es, daß es auch mit dem seelisch-geistigen Geschichtsbilde Voltaires ähnlich geht, wie es mit seinen Gebeinen ergangen ist. An der Ehrenbegräbnisstelle des Pantheon zu Paris wurden sie zuerst beigesetzt; als eine andere politische Strömung ans Ruder kam, wurden sie wieder herausgeholt und zerstreut; dann, als eine dritte politische Strömung die vorige ablößte, wurden sie wieder zusammengesucht und beigesetzt. Und nun behaupten einige, daß diese wieder zurückgeholten Gebeine nicht die echten wären. Bis dahin wird das Geschichtsbild Voltaires stimmen, das, von der einen oder anderen Seite, bald wie das eines Erlösers von Unfreiheit, eines Apostels der Tole­ranz hingestellt wird, auf der anderen Seite aber wieder

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mit allem möglichen Unglimpf belegt wird! Und bei der ganzen Kompliziertheit der Persönlichkeit Voltaires kann es sehr leicht kommen, wenn man sich bemüht, daß man gegenüber dem Geschichtsbilde Voltaires alle Objektivität versucht walten zu lassen, daß dann einige vielleicht sagen, es sei nicht das rechte, - wie gegenüber den im Pantheon beige­setzten Gebeinen auch einige sagen, das seien nicht die rechten.

Trotzdem aber sage ich: Wenn die Geisteswissenschaft ihre Aufgabe in der Gegenwart und Zukunft wird erfüllen können, dann wird das Bild des großen Einreißers, des gro­ßen Auflösers, desjenigen, der soviel hinweggeräumt hat, vielleicht vor der Geisteswissenschaft in seiner vollen Ob­jektivität erstehen können. Denn das darf gesagt werden:

Voltaire ist ein Mensch - er hat es selbst gegenüber Fried­rich dem Großen ausgesprochen - mit allen Fehlern eines Menschen und, man möchte sogar sagen, ein Mensch mit allen «Wundern» eines Menschen, so recht geeignet dazu, daß sich an ihm des Dichters Ausspruch erfüllt:

Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt,

Schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.

Seine Persönlichkeit war eine solche, daß sein Bild nur «schwanken» kann. Aber trotzdem alles daran schwankt, wird man gegenüber dem Bilde Voltaires, sowohl bei denen, welchen er sympathisch ist, wie auch bei solchen, denen er unsympathisch ist, immer bekennen müssen, daß er, wie man ihn auch erfassen mag, in Liebe oder in Haß, doch ein großer Mensch gewesen ist, der eine Stelle aus-gefüllt hat in dem, was man auch in der Geisteswissenschaft nennen kann: eine fortlaufende Erziehung des Menschen-geschlechtes zu den Höhen des geistig-seelischen, in der Welt sich wissenden menschlichen Erlebens!

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ZWISCHEN TOD UND WIEDERGEBURT DES MENSCHEN Berlin, 19. März 1914

Das heutige Thema ist innerhalb dieser Serie von Vorträgen gewiß das gewagteste, und trotzdem möchte ich auch einmal über diesen ganz besonderen Gegenstand geisteswissenschaftlicher Forschung, der heute hier zur Sprache kommen soll, einige Bemerkungen machen. Ich darf gegen­über dieser verehrten Zuhörerschaft, die zum Teil durch viele Jahre bei diesen Vorträgen anwesend war, die Vor­aussetzung machen, daß schon einmal auch ein so spezieller Gegenstand geisteswissenschaftlicher Forschung hingenom­men werden wird, nachdem ich mich so oftmals bemüht habe, in einer mehr allgemeinen Art die möglichen Beweise und Belege für das Berechtigte dieser Geistesforschung hier vorzubringen. Von allen diesen Beweisen und Belegen muß heute selbstverständlich Abstand genommen werden. Denn was zu sagen sein wird über des Menschen Leben zwischen Tod und Wiedergeburt, wird im wesentlichen so zu sagen sein, daß die entsprechenden geisteswissenschaftlichen Er­gebnisse, wie sie sich dem Forscher darbieten, gleichsam in erzählender Form gegeben werden. Trotzdem das, was zu sagen sein wird, dem Gegenwartsbewußtsein gewisse begriffliche Schwierigkeiten machen wird, trotzdem es klar ist, daß das heutige Zeitbewußtsein sich noch im aller­umfassendsten Sinne ablehnend verhalten muß gegen solche, wie es heißt, «angeblichen» geisteswissenschaftlichen For­schungsresultate, so möchte ich doch einleitend folgende

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Bemerkung machen. Ich bin mir wohl bewußt, in dem Zeit­alter zu sprechen, das mehr als sechzig Jahre die große Ent­deckung Julius Robert Mayers von der Umwandlung der Naturkräfte hinter sich hat, mehr als ein halbes Jahrhun­dert die großen Entdeckungen hinter sich hat, die durch Darwin kamen, das die großen Erfolge der Naturwissen­schaft erlebt hat zum Beispiel durch die Spektralanalyse, die Errungenschaften der Astrophysik und in der neueren Zeit die der experimentellen Biologie. Voll stehend auf dem Boden der Anerkennung dieser naturwissenschaftlichen Ergebnisse, möchte ich trotzdem über das sprechen, was den Gegenstand des heutigen Themas bildet, trotz des Wider­spruches, den es bei denjenigen hervorrufen muß, die da glauben, nur unter Ablehnung geisteswissenschaftlicher Forschung und geisteswissenschaftlicher Überzeugung auf dem festen Boden der Naturwissenschaft stehen zu können. Und noch ein zweites möchte ich einleitend bemerken. Würde ich nicht klar wissen, wie innerhalb strengster gei­steswissenschaftlicher Methodik, strengster wissenschaft­licher Forderung das, was über das Leben zwischen Tod und Wiedergeburt des Menschen gesagt werden soll, ebenso haltbar ist wie die Ergebnisse der genannten naturwissen­schaftlichen Kapitel, so würde ich es in gewissem Sinne für eine Leichtfertigkeit, um nicht zu sagen Frivolität ansehen, vor dieser Versammlung über geisteswissenschaftliche For­schungsresultate zu sprechen. Denn ich bin mir der Verant­wortung voll bewußt, gerade über diese Gebiete in einem heutigen wissenschaftlichen Sinne zu sprechen. Allerdings:

selbst die ganze Art und Weise, wie die Seele zur Wahrheit und Wahrhaftigkeit des Forschens stehen muß, wenn sie die geisteswissenschaftliche Forschung unbefangen aufneh­men will, selbst diese Art und Weise der Seelenstimmung ist heute noch wenig populär. Ganz kurz möchte ich zuerst

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auf diese Seelenstimmung, auf diese Seelenverfassung ein­gehen, die beim Geistesforscher und in gewissem Sinne auch bei demjenigen vorhanden sein muß, der geisteswissen­schaftliche Forschungsresultate in ihrer Wahrheit anerken­nen soll und will.

Ein ganz anderes Verhalten zur Wahrheit und Wahr­haftigkeit, zur menschlichen Erkenntnis ist notwendig, als es unserer Zeit liegt. Wer geisteswissenschaftliche Resultate mit den Methoden, die in diesen Vorträgen erörtert wor­den sind, gewinnen will, der muß vor allen Dingen mit einer heiligen Scheu, mit einer unbegrenzten Ehrfurcht dem gegenüber stehen, was Wahrheit, was Erkenntnis genannt werden kann. Wie leicht nimmt man in unserer Zeit als Seelenverfassung gegenüber der Wahrheit diejenige hin, die über alles, was sich eben dem Menschenleben darbietet, von vornherein eine Entscheidung treffen will, so eine Ent­scheidung treffen will, daß sie voraussetzt: ich kann mit den Seelenfähigkeiten, die mir gegeben sind in der Seelen-verfassung und Seelenstimmung, in welcher ich einmal bin, mir ein Urteil erlauben über das, was über die Gebiete des Daseins und der Wirklichkeit gesagt werden kann. Der Geistesforscher und derjenige, welcher seine entsprechenden Ergebnisse entgegennehmen will, braucht doch eine andere Seelenverfassung; er braucht diejenige Seelenverfassung, welche sich sagt: Um die Wahrheit zu empfangen, um der Wahrheit teilhaftig zu werden, bedarf meine Seele vor allem der Vorbereitung, bedarf des Sichhineinlebens in eine Verfassung, die über das alltägliche Leben hinausgeht. Und wenn man in der Geisteswissenschaft drinnensteht-obwohl ich Sie bitte, diesen Ausdruck nicht in einem asketischen oder sonstigen Sinne mißzuverstehen -, so fühlt man gar sehr, ich möchte sagen, wie unmöglich die alltägliche Seelen­verfassung ist, um wirklich mit der Wahrheit, mit der Erkenntnis

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leben zu können. Man fühlt die Erkenntnis wie etwas über einem Schwebendes, dem man sich nahen kann, wenn man gleichsam über sein gewöhnliches Selbst hinaus­geht, wenn man alle in einem liegenden Kräfte anstrengt, um sich vorzubereiten, die Wahrheit würdig zu empfangen. Als unwürdig fühlt man es, wenn man unter Zugrunde­legung der alltäglichen Seelenverfassung sich ein Urteil über die Wahrheit erlauben will, - das ist etwas, was man aus der Geisteswissenschaft heraus wissen kann - und man strebt dann darnach, zu warten, bis die Seele wieder in ihrer Vorbereitung ein Stückchen vorwärts gekommen ist, bis sie in sich jene Kraft und würdige Empfängnis vorberei­tet, die der Wahrheit und Erkenntnis gegenüber berechtigt ist. Und oftmals fühlt man sich so, daß man sich sagt: Lie­ber warte ich noch, lieber gedulde ich mich und lasse die Wahrheit über mir schweben, ich darf nicht in sie hinein; denn würde ich jetzt in sie hineintreten, so würde ich sie mir vielleicht dadurch verderben, daß ich noch nicht reif für sie bin.

Mit diesen und mit vielen andern Worten, die ich noch zur Charakteristik der Sache beibringen könnte, möchte ich aufmerksam machen auf die Seelenstimmung einer heiligen Scheu, einer unbegrenzten Ehrfurcht gegenüber der Wahrheit und Wahrhaftigkeit und Erkenntnis, welche der geisteswissenschaftlichen Forschung eigen sein muß. Immer mehr und mehr ergibt sich daraus, wie die Seele über sich hinauswachsen muß, wie sie immer weniger und weniger darauf bedacht sein muß, endgültige Urteile zu fällen aus der gewöhnlichen Tagesverfassung heraus, und wie sie immer mehr und mehr Sorgfalt darauf verwenden muß, um die Kräfte zur Erreichung eines Standpunktes vor­zubereiten, welcher der Wahrheit gegenüber würdig ist. Kurz gesagt: immer mehr und mehr kommt der im geisteswissenschaftlichen

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Sinne handelnde Wahrheitssucher dazu, Sorgfalt auf die Vorbereitung der Seele zu verwenden, auf das Heranbilden von Fähigkeiten für die Wahrheit und immer mehr und mehr kommt er davon ab, mit den ge­wöhnlichen Seelenkräften, mit der gewöhnlichen Kritik an diese Wahrheit herantreten zu wollen. - Nur die Stim­mung, in welcher die Geisteswissenschaft selber solchen Dingen gegenüber ist, wie sie nunmehr ausgesprochen wer­den sollen, wollte ich mit diesen Einleitungsworten andeu­ten. Nun will ich ohne weiteres zu dem Gegenstande über­gehen, von dem ich glaube, daß er durch die Vorträge dieses Winters in genügender Art vorbereitet ist.

Wenn der Mensch durch die Todespforte geht, so gehört er einer Welt an, die allerdings nur der Geistesforschung zugänglich ist, Geistesforschung in dem Sinne, wie sie in den bisherigen Vorträgen hier vertreten worden ist. Diese Geistesforschung kann eine Erkenntnis gewinnen, welche nur durch die sich leibfrei wissende Seele erlangt werden kann. Die Methoden haben wir öfter besprochen, wodurch die Menschenseele wirklich dazu kommt, Erkenntnisse nicht nur dadurch zu gewinnen, daß sie sich ihres Leibes, ihrer Sinne bedient, um mit der Außenwelt in Berührung zu kommen, sondern indem sie wirklich aus dem Leibe heraus­tritt, so daß dieser Leib außer ihr steht, wie sonst ein äuße­rer Gegenstand sich außer ihr befindet, und daß sie sich in der Absonderung von ihrem Leibe, in einer geistigen Um­welt sich wissend, erlebt. Wie die Seele des Geistesforschers dazu kommt, das ist öfter auseinandergesetzt worden; und sie kommt dadurch in jene Welt, welche der Mensch betritt, wenn er die Pforte des Todes durchschreitet. Und nun will ich ohne weitere Vorbereitung erzählen, was der Geistes-forscher durch die hier seit langem erörterten Methoden

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über das Leben des Menschen zwischen Tod und Wieder­geburt zu sagen hat.

Das erste, was die Menschenseele erlebt, wenn sie nach dem Tode auf naturgemäßem Wege leibfrei geworden ist, wie der Geistesforscher für vorübergehende Augenblicke seines Lebens leibfrei werden kann, das ist eine Verände­rung ihrer Stellung zu dem, was wir sonst die Gedanken­welt nennen. Wir haben es oft betont, daß die Menschen­seele in sich trägt die Kräfte des Denkens, des Fühlens und des Wollens. Es ist diese Einteilung der Kräfte der Men­schenseele im Grunde genommen nur richtig für das Leben der Seele im Leibe, zwischen Geburt und Tod, und ich werde heute neben dem allgemein Gewagten des Themas noch mit der Schwierigkeit zu kämpfen haben, für eine ganz andersartige Welt, die der Mensch zwischen dem Tode und der nächsten Geburt zu durchleben hat, geeignete Aus­drücke zu finden. Denn die Ausdrücke der Sprache sind für das Sinnesleben geprägt, das wir im sinnlichen Leibe durch­machen; und nur dadurch, daß ich versuchen werde, die ganz andersartigen Seelenerlebnisse nach dem Tode von einem gewissen Gesichtspunkte aus zu charakterisieren, der sich der Worte in einer annähernden Weise bedient, werde ich mit diesem, dem gewöhnlichen Erkennen entlegene Ge­biet zurechtkommen. Es ist ja dabei zu berücksichtigen, daß wir über ein Gebiet zu sprechen haben, für welches uns eigentlich die Worte fehlen.

Nachdem also der Mensch durch die Pforte des Todes geschritten ist, macht er ein Erlebnis durch in bezug auf das, was wir sein Denken, seine Gedanken nennen. Das Gedankenleben haben wir ja so im Leben zwischen Geburt und Tod, daß wir sagen: die Gedanken sind in unserer Seele, wir denken. Und diese Gedanken sind uns zwischen Geburt und Tod höchstens Bilder einer äußeren Wirklichkeit.

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Wenn der Mensch seinen physischen Leib abgelegt hat, dann werden die Gedanken in einer eigenartigen Weise zu einer äußeren Realität. Das ist das erste Erlebnis, welches der Verstorbene in der geistigen Welt hat, daß er die Gedanken wie losgelöst von sich empfindet, daß sie drau­ßen, gleichsam außer seiner Seele sind, wie in dem Leben zwischen Geburt und Tod die sinnlichen Gegenstände draußen, außer uns sind. Es ist wie ein Herauswandern der Gedanken in eine seelische Außenwelt. Es machen, könnte man sagen, die Gedanken einen gewissen Weg durch; einen solchen Weg machen sie durch, daß sie von dem unmittelbaren seelischen Erleben ähnlich sich loslösen wie die Gedanken, die im gewöhnlichen Leben unsere Er­innerungen werden; nur daß wir bei unsern Erinnerungen das Gefühl haben; sie tauchen in ein unbewußtes Erleben hinunter, aus dem sie im entsprechenden Momente wieder hervorgeholt werden können; sie entreißen sich dem Ge­genwartsleben, aber so, daß wir die Empfindung haben, daß sie in uns sind. Nach dem Tode reißen sich die Gedan­ken auch los, aber so, daß die ganze Gedankenwelt, welche der Mensch im Leben zwischen Geburt und Tod angesam­melt hat, zu einer objektiven Welt wird. Sie reißen sich nicht los, daß wir das Bewußtsein haben: sie gehen hinunter in ein unbestimmtes Dunkel; sondern sie verselbständigen sich in der Weise, daß sie dann eine geistige Gedanken-Außenwelt außer uns bilden. In dieser Welt ist in Form von Gedanken alles, was wir im letzten Lebenslaufe zwi­schen Geburt und Tod an Lebenserfahrungen so gewonnen haben, daß wir uns sagen können: wir haben ein Leben durchlebt, haben dieses oder jenes erfahren und sind da­durch an Lebenserfahrungen eben reicher geworden. Dies ist gleichsam auseinandergelöst, wie zu einer Art Lebens­tableau geworden, von dem wir uns sagen: das hast du in

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deinem letzten Leben so erfahren, daß es zu einer gedank­lichen Lebenserfahrung wird; das steht um die Seele herum nach dem Tode. Aber nicht so steht es herum, daß es sich wie flüchtige Gedanken ausnimmt, sondern es nimmt sich so aus, wie wenn die Gedanken in dem Augenblick, da sie sich von der Seele losreißen und selbständiges Leben ge­winnen, dichter, lebendiger, in sich bewegter würden und eine Welt von Wesenheiten bilden. Diese Welt, in der wir also dann leben, ist die Welt aus unsern herauswandernden Gedanken, die ein selbständiges Dasein haben.

Diese Welt wird auch oftmals geschildert wie eine Art von Erinnerungstableau an das letzte Leben. In der Tat ist sie wie ein Erinnerungstableau, aber wie eines, das sich selbständig gemacht hat, und von dem wir wissen: Das hast du dir erworben, aber das steht da in der Außenwelt drin­nen, objektiviert; das lebt!

Nun dauert dieses Erleben der Seele in der objektiv gewordenen Gedankenwelt verschieden lange, individuell verschieden für die einzelnen Menschen, aber doch nur nach Tagen. Denn nach Tagen - ich habe in meiner «Geheim-wissenschaft im Umriß» darauf aufmerksam gemacht, wie dies mit dem menschlichen Leben zusammenhängt -, nach Tagen erlebt dann der Mensch, der durch die Pforte des Todes geschritten ist, wie diese ganze Welt, die gleichsam seine Welt geworden ist, sich entfernt, sich wie in einer geistigen Perspektive von ihm entfernt, wie wenn sie weit, weit in der geistigen Sphäre von ihm wegginge. Nach Tagen dauert es, bis der Zeitpunkt dieses Weggehens, dieses Immer-dünner-und-dünner-Werdens, dieses Immer-nebeli­ger-und-nebeliger-, Immer-dämmeriger-und-dämmeriger­Werdens der Gedankenwelt eintritt, die da in die Ferne rückt. Ich habe in meiner «Geheimwissenschaft» darauf aufmerksam gemacht, daß es sich der geisteswissenschaftlichen

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Forschung ergibt, daß es bei denjenigen Menschen länger dauert, die im Leben vor dem Tode leichter, ich will sagen, ohne die Kräfte zu verlieren, die Tage ohne zu schlafen zubringen können. Solange man im Leben un­gefähr fähig ist, die Tage ohne zu schlafen zuzubringen, solange dauert dieses Erinnerungstableau. Das kann man durch die geisteswissenschaftliche Forschung herausfinden. Wer daher früher ermüdet - aber dabei kommt es vor allem darauf an, welche Kräfte der Mensch hat -, wer es also gar nicht ohne Schlaf aushalten kann, wenn es nötig sein sollte einmal länger zu wachen, bei dem entfernt sich das Erinnerungstableau früher als bei einem, der sich anstren­gen kann, um seine Kräfte länger ohne Schlaf aufrecht­zuerhalten. Man braucht sich aber nicht nach dieser Rich­tung anstrengen, sondern es handelt sich nur darum, was der Mensch in dieser Beziehung möglicherweise leisten kann.

Damit hängt auch das zusammen, was als das neue Be­wußtsein auftritt. Was wir als unser gewöhnliches Bewußt­sein, als unser gewöhnliches Wachbewußtsein zwischen Geburt und Tod haben, das wird dadurch angefacht, daß wir mit den Gegenständen der Außenwelt zusammen­stoßen. Im Schlafe tun wir das nicht, da haben wir dann auch nicht unser gewöhnliches Bewußtsein; aber wir stoßen uns ja auch mit dem Gehör, mit den Augen an der Außen­welt, und dadurch haben wir das alltägliche Bewußtsein. So, wie das Bewußtsein im gewöhnlichen Leben durch den Verkehr mit der Außenwelt angefacht wird, so wird unser Bewußtsein nach dem Tode dadurch entfaltet, daß sich der Mensch im Zusammenhange weiß mit dem, was ich als das Gedankenerlebnis nach dem Tode geschildert habe, das sich entfernt. Und das ist auch die Anfachung des Bewußtseins nach dem Tode, die darin besteht, daß der Seele die Empfindung

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bleibt: Deine Gedanken sind in Fernen gegangen, du mußt sie suchen! Damit könnte ich denEindruckcharak­terisieren, den dann die Seele erlebt, und der die Kraft bildet, daß das geistige Bewußtsein nach dem Tode ange­facht wird: Du mußt deine in Fernen gegangenen Gedan­ken suchen! Dieses Wissen von den fortgegangenen Ge­danken bildet einen Teil des Selbstbewußtseins nach dem Tode. Wir werden gleich nachher sehen, welche Rolle diese Art des Selbstbewußtseins weiter spielt.

In einer anderen Weise als die Gedankenwelt verändert sich nach dem Tode dasjenige, was wir die Willenswelt, die Gefühiswelt nennen können. Eigentlich kann man nach dem Tode gar nicht von einer solchen Trennung von Ge­fühlsleben und Willensleben sprechen, wie man das im Leben zwischen Geburt und Tod kann; daher muß ich schon die Ausdrücke gebrauchen: Es ist in der Seele nach dem Tode etwas vorhanden wie ein wollendes oder begeh­rendes Gefühl, oder wie ein ganz von dem Gefühl durch­drungener Wille. Die Ausdrücke, die wir für Gefühl und Wille haben, passen nicht für die Zeit nach dem Tode. Für diese Zeit ist das Gefühl viel mehr demjenigen ähnlich, was man im Willen erlebt; und der Wille ist viel mehr von Gefühl durchdrungen, als im Leben zwischen Geburt und Tod. Während die Gedanken nach dem Tode gleichsam eine Welt außer der Seele werden, muß man von dem ge­wollten Gefühl und dem gefühlten Willen sagen, daß diese sich viel enger und intimer mit der Seele zusammenbinden. Und nun beginnt mit der Seele außer dem angedeuteten Teil des Selbstbewußtseins noch dieses: daß sie sich erlebt in einem erstarkten und erkraffeten, gefühlten Wollen und einem gewollten Gefühl. Das bildet ein unendlich inten­siveres Innenleben, als das Innenleben der Seele ist, wenn sie im Leibe lebt. Der Mensch fühlt, wenn die Gedanken

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sich entfernt haben, zunächst lange Zeit, eine Zeit, die nach Jahrzehnten dauern kann, als seine hauptsächliche Welt sein Inneres. Dieses sein Inneres wird so mächtig, daß er -wenn ich das Wort gebrauchen darf, obwohl es auch nicht recht für das Post mortem-Leben paßt -, die Aufmerk­samkeit auf das richten muß, was da im Innern als das ge­fühlte Wollen und gewollte Fühlen aufstrebt. Und nach Jahren dauert es, daß dieses gefühlte Wollen oder gewollte Gefühl wie zurückschaut auf das verflossene Erdenleben. Die Menschenseele fühlt nach dem Tode etwas wie ein Ver­langen, wie ein Hinneigen nach dem gefühlten Wollen und gewollten Gefühl, und damit nach dem, was das letzte Leben geboten hat. Jedes Leben ist ja so, daß man sagen kann: es bietet uns so manches, aber die Möglichkeiten des Erlebens sind weit größer als das, was der Mensch in Wirk­lichkeit in sich aufnimmt. Wenn der Mensch durch die Pforte des Todes schreitet, so fühlt er wollend, oder er will fühlend alles das durchleben, was er, ich kann nicht sagen, weiß, sondern von dem er fühlt: Du hättest es noch erleben können. Alle die unbestimmten Affekte, alles an möglichen Erlebnissen, was uns das Leben hätte bringen können und nicht gebracht hat, das alles tritt herein in den Zusammen­hang mit dem vorherigen Leben, in das, was die Seele durchmacht. Insbesondere das, was die Seele nach ihrer Empfindung hätte tun sollen, tritt als starke, als intensive innere Erlebnisse auf. Was etwa die Seele schuldig gewor­den ist gegenüber anderen Menschen, was sie gegen andere verstoßen hat, das alles tritt auf als das Gefühl der man­gelnden Liebe, der wir uns im Leben zwischen Geburt und Tod gar nicht bewußt sind; das wird intensiv empfunden.

Daher können wir sagen: Es vergehen nach dem Tode Jahre, in denen die Seele damit beschäftigt ist, allmählich sich von dem letzten Leben loszureißen, den Zusammenhang

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mit dem letzten Leben sich abzugewöhnen. Diese Jahre vergehen so, daß wir nicht etwa herausgerissen sind aus den Erlebnissen des letzten Lebens. Wir hängen zusam­men mit den Menschen, die wir verlassen haben, die wir geliebt haben; aber wir hängen dadurch zusammen, daß wir im Leben gewisse Gefühle und Zusammenhänge mit ihnen gewonnen haben; und auf dem Umwege dessen, was uns das Leben geboten oder versagt hat, hängen wir mit ihnen zusammen. Man muß sich ja immer hierbei bildlich ausdrücken. Man kann durchaus nach dem Tode in Zu­sammenhang bleiben mit dem, dem man im Leben nahe­stand, aber nur dadurch, daß man einen Zusammenhang hat in den Gefühlen, die man im Leben mit ihm gehabt hat. Dadurch bildet sich ein intensiver Zusammenhang mit ihm heraus. Man lebt nach dem Tode mit den Lebenden zu­sammen, aber auch mit den schon Verstorbenen, mit denen man im Leben einen Zusammenhang gehabt hat. So muß man sich also das Leben nach dem Tode vorstellen, daß es in dieser Weise durch Jahre hindurch dauert. Es ist vor­zugsweise ein Leben, in welchem die Seele alles, was sie will und begehrt und verlangt, gleichsam im gefühlten und gewollten Erinnerungszusammenhange mit dem letzten Le­ben durchlebt.

Wenn man geisteswissenschaftlich nachzuforschen ver­sucht, wie lange diese Zeit dauert, so kommt man darauf, daß ohne Einfluß auf diese Jahre nach dem Tode, deren Inhalt eben geschildert worden ist, das Leben in den ersten Kindesjahren ist. Das Leben von der Geburt bis zu dem Zeitpunkte, bis zu welchem wir uns später zurückerinnern, wo wir unser Selbstbewußtsein innerlich erleben lernen, diese Zeit ist für diese Jahre zunächst bedeutungslos, und auch das Leben, das auf die Mitte der zwanziger Jahre folgt, ist für die einzelnen Menschen mehr oder weniger

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nicht von Bedeutung für die Länge jenes Seelenzustandes, den ich eben geschildert habe; so daß man etwa die Zeit zwischen dem dritten, vierten, fünften Lebensjahre und der Mitte der zwanziger Jahre, dem vierundzwanzigsten, fünfundzwanzigsten Jahre, als die durchschnittliche Zahl an Jahren anzunehmen hat, welche die Seele so durchlebt, wie es eben geschildert worden ist, daß die Seele ihr Selbst­bewußtsein dadurch hat, daß sie weiß: Fortgegangen ist deine Gedankenwelt mit deinen Lebenserfahrungen, sie ist jetzt in der Ferne. Du hast einen Zusammenhang, eine Ver­wandtschaft zu diesem Gedankenerlebnis, und du mußt es wieder finden, denn es ist das, wodurch du im Erdenleben geworden bist, was du bist; aber es hat sich entfernt. Wie einem Außenleben, von dem man weiß, daß es da ist, steht man diesen in Gedanken verwandelten Lebenserfahrungen gegenüber. Und die andere Welt, die man nach dem Tode durchlebt, wenn diese Gedankenwelt fortgegangen ist, sie durchlebt man so, daß man sie in dem in seinem Innern erstarkten Wollen und Fühlen erlebt.

Dann kommt die Zeit, da man sich dem bloßen erstark­ten Innenleben entringt, wo es so ist, wie wenn nach und nach aus dem Geistigen auftauchen würden Wesenheiten, welche der geistigen Welt so angepaßt sind, wie die Wesen der physischen Welt - Mineralien, Pflanzen, Tiere und phy­sische Menschen, dieser sinnlich physischen Welt angepaßt sind. Das heißt, man lebt sich aus sich selbst heraus und in eine geistige Welt hinein. Man lebt sich in der Weise in eine geistige Umwelt hinein, daß man ihr gegenüber nun eine ganz andere Empfindung hat als im Leibe der Sinneswelt gegenüber. Vieles müßte ich anführen, um diese ganz an­dersgeartete Empfindung zu charakterisieren; aber eines nur, was prägnant ist, möchte ich dafür anführen.

Wenn wir durch das Auge die Gegenstände der Außenwelt

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sehen, sagen wir, wir sehen sie, wenn Licht von irgend­einer Lichtquelle auf sie fällt, so sind sie uns dadurch be­wußt, daß sie von diesem Licht beleuchtet werden, wenn wir sie sehen. Indem wir nun aus dem Zustande des Rück­fühlens auf unser letztes Erdenleben uns hineinleben in den objektiven Zustand der geistigen Welt, haben wir das Er­lebnis: Du hast da aus der Zeit des letzten Erdenlebens in dir etwas ausreifen lassen wie inneres Licht, wie innere Seelenkraft, und das gibt dir jetzt immer mehr die Mög­lichkeit, die äußere Welt der geistigen Wesenheiten und Vorgänge anzuschauen und wahrzunehmen, innerhalb ihrer zu leben. Kann man die Zeit jenes geschilderten Seelen-zustandes wie eine Art Abgewöhnen des Zusammenhanges mit dem durchlebten Erdenleben empfinden, wie ein Sich-herausreißen aus ihm, wie ein Sichfreimachen von dem­selben, so erlebt man nun, daß im tiefsten Innern dieses fühlenden Wollens und wollenden Fühlens jene Innenwelt, die im Grunde genommen die Innenwelt vieler Jahre ist, in sich gereift hat - wie die Pflanzenblüte den Samen in sich gereift hat - dieses innere Licht, das man von sich wie eine Kraft ausbreitet und durch das einem die Vorgänge und Wesenhejten der äußeren geistigen Welt sichtbar werden. Man weiß dann: hätte man nicht dieses innere Licht in sich ausgebildet, so wäre es dunkel um einen in der geistigen Welt, so würde man nichts wahrnehmen. Die Kraft, die man anwenden muß, um den Zusammenhang mit dem letzten Erdenleben zu überwinden, ist zugleich diejenige Kraft, die aufgewendet werden muß und die wie eine innere Leuchtkraft ist. Da erwacht eine Seelenkraft, für die man erst recht keine Worte in der gewöhnlichen Welt hat, denn so etwas gibt es im gewöhnlichen Sinnesleben nur für den, der durch Geistesforschung eben in die geistige Welt ein­dringt. Wenn ich mich eines Wortes bedienen will für das,

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was der Mensch wie eine aus ihm selbst herauskommende Kraft der Beleuchtung der geistigen Umwelt erlebt, so möchte ich sagen: Es ist etwas wie eine kreative Willens-entfaltung, die zugleich von intensivem Fühlen durchdrun­gen ist. Etwas Schöpferisches ist da drinnen; man fühlt sich wie einen Teil des Weltalls, der aber in diesem eben be­sprochenen Teile schöpferisch ist, der die geistige Welt über-strömt. Und man hat die Empfindung: Dieses Sichwissen als einen Teil des Weltalls macht dir die geistige Welt erst fühlbar, wissend erlebbar, indem man das erlebt, was man nennen kann die «Seelenheit» nach dem Tode und ein Sich­einleben in das, was immer mehr und mehr an Sichtbarkeit, an Erlebbarkeit an einen herantritt.

Ich schildere heute diese Welt zwischen dem Tode und der nächsten Geburt, ich möchte sagen, mehr von einem innerlich erfahrenen, von einem inneren Zustande aus. In meiner «Theosophie» oder in meiner « Geheimwissenschaft» habe ich diese Welt mehr für die geisteswissenschaftliche Anschauung von außen geschildert. Da ich aber überhaupt nicht liebe mich zu wiederholen, so wähle ich heute den anderen Weg. Wer aber weiß, von wievielen Gesichts­punkten aus man ein Gebiet der Sinneswelt schildern kann, der wird wissen, daß es ganz dasselbe ist, was ich mit an­dern Worten in den genannten Büchern charakterisiert habe.

Wie seelisch sich einlebend in die Welt der geistigen Vor­gänge und geistigen Wesenheiten, so empfindet sich die Seele. Und ausdrücklich muß gesagt werden: Zu diesen geistigen Vorgängen und geistigen Wesenheiten, in welche sich die Seele durch die eigene Leuchtekraft einlebt, gehören auch jene Menschenseelen, mit denen man im Leben eine Verbindung angeknüpft hat - allerdings nur diese, und nicht auch jene, mit denen man keine Verbindung angeknüpft

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hat. So kann man sagen: Während man bis jetzt durch Jahre hindurch mehr sein Inneres erlebt hat in wol­lendem Verlangen und fühlendem Wollen, beginnt man jetzt immer mehr und mehr, objektiv die geistige Außen­weit zu erleben, man beginnt, in ihr arbeiten zu können, wie man in der Sinneswelt arbeitet nach seinen entspre­chenden Aufgaben und Erlebnissen. Nur eines muß er­wähnt werden: Was man so als innerliche Leuchtekraft erlebt, das entwickelt sich nach und nach, allmählich und, wie man sagen kann mit einem Ausdruck, der dem Geistes-forscher geläufig ist, zyklisch, in Lebenskreisen. So ent­wickelt es sich, daß man fühlt: In dir ist die Leuchtekraft erwacht; sie macht es dir möglich, gewisse andere Wesen­heiten und Vorgänge der geistigen Welt zu erleben; aber sie erlahmt in einer gewissen Beziehung wieder, dämmert wieder ab. Wenn man sie eine Zeitlang gebraucht hat, dämmert sie ab. Wie man, um einen Vergleich des gewöhn­lichen Sinnenlebens zu gebrauchen, wenn es gegen den Abend zugeht, die Sonne äußerlich untergehen fühlt, so fühlt man im Leben zwischen Tod und Wiedergeburt im­mer mehr und mehr, wie die innere Leuchtekraft erlahmt. Dann aber, wenn diese erlahmt ist, tritt ein anderer Zu­stand ein. In diesem fühlt sich die Seele erst recht stark in ihrem Innern, das sie nun wiederholt durchlebt; aber wie-der, wenn ich mich des Ausdruckes bedienen darf, wie innerlich erlebt sie das, was sie aus dem anderen Zustande herübergebracht hat, wo sie die Leuchtekraft entwickelt hatte. So muß man sagen, daß die Zustände, in denen wir allen geistigen Vorgängen und Wesenheiten hingegeben sind, abwechseln mit denjenigen, wo das innere Licht wie­der abdämmert und endlich ganz erlischt, wo aber unser gefühltes Wollen und gewolltes Fühlen wieder erwacht, jetzt aber so erwacht, daß in ihm wie erinnernd alles lebt,

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was von uns in der geistigen Welt erlebt worden ist, was also von außen kommt. Auf diese Weise hat man Zustände, die abwechseln, wie wenn man einmal in der Außenwelt lebte, dann wieder die Außenwelt ganz in sich hereinge­nommen hätte, so daß sie wie in Form von inneren Erleb­nissen auftauchte, gleichsam ganz in unserem Innern lebte -wie wenn umschlossen von der Hülle unserer Seele nun in uns lebte, was wir vorher äußerlich erlebt haben. Es ist ein Wechsel zwischen diesen zwei Zuständen. Wir können sie auch so bezeichnen, daß wir sagen: Einmal erleben wir uns wie in ausgebreiteter Geselligkeit mit der ganzen geistigen Welt; dann wechselt dieser Zustand ab mit innerer Einsam­keit, mit einem Von-sich-Wissen in der Seele, mit einem In-sich-Haben des ganzen erlebten geistigen Kosmos. Aber zugleich wissen wir: Jetzt lebst du in dir; was da erlebt wird, ist das, was deine Seele behalten hat, und du bist jetzt in keiner Verbindung mit etwas anderem. - Mit der Regelmäßigkeit wie Schlafen und Wachen im Leben ab­wechseln, so wechseln diese Zustände in der geistigen Welt zwischen Tod und neuer Geburt: der Zustand des seelischen Sichausbreitens in einer seelischen Außenwelt - mit dem Zustande des innerlichen Sich-selbst-Genießens und von Sich-selbst-Wissens, wo man fühlt: jetzt bist du in dir allein, mit Abschließung aller äußeren Vorgänge und We­senheiten; jetzt erlebst du in dir. Diese beiden Zustände müssen abwechseln, denn nur dadurch erhält sich die innere Leuchtekraft, daß der Mensch immer wieder und wieder auf sich zurückgewiesen wird. - Genauer sind diese Vor­gänge beleuchtet in meiner Schrift «Die Schwelle der gei­stigen Welt». - Dieses Sich-Erleben in Zyklen, in dem einsamen, dann wieder in einem geselligen Leben, ist not­wendig, denn dadurch erhält sich die Leuchtekraft. Und das geht so weiter, daß man in immer reichere und reichere

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Geisteswelten sich einlebt, zu denen man immer mehr und mehr innere Leuchtekraft braucht. Das geht eine lange Zeit hindurch. Dann erfühlt man, wie man dadurch, daß man sich eingelebt hat in diese Geisteswelten, einer gewissen Grenze unterworfen ist, die zusammenhängt mit den Fähig­keiten, die man sich im Leben angeeignet hat. Die eine Seele schafft sich einen kleineren, die andere einen größeren Hori­zont, einen Horizont über eine größere oder kleinere gei­stige Welt.

Aber dann kommt eine Zeit, wo man die innere Leuchte-kraft abnehmen fühlt. Das geschieht, wenn man der Mitte der Zeit zulebt zwischen Tod und nächster Geburt. Da er­lebt man so, daß man fühlt: Jetzt wird die innere Leuchte-kraft immer geringer und geringer; jetzt kannst du immer weniger und weniger von dem, was um dich herum ist, be­leuchten. Immer dämmeriger und dämmeriger wird es, und die Zeit rückt heran, wo dann jene Zeiten immer bedeuten­der werden, in welchen das innere Erleben intensiver und intensiver wird, wo das, was man schon erlebt hat an inne­rem Erleben, auf- und abwogt. Reicher und reicher wird das innere Erleben, in der Überschau wird es dunkler und dunkler, bis es der Mitte der Zeit zwischen Tod und Wie­dergeburt zugeht, wo man das erlebt, was ich in meinem Mysteriendrama «Der Seelen Erwachen» die geistige Mit­ternacht genannt habe. Denn da erlebt man eine Zeit, wo man erfüllt ist von der geistigen Welt, wo man aufwacht, aber aufwacht in die «Nacht», wo man sich erlebt wie ab­geschlossen in der geistigen Welt. Es ist ein Gefühl inten­sivsten In-sich-Erlebens in der Mitte zwischen Tod und Wiedergeburt. Dieses In-sich-Erleben bringt einen Zustand hervor, von dem man sagen muß: er ist auf die Dauer für die Seele unerträglich. Es ist ein Wissen von einem Wissen, das unerträglich ist, das man nicht haben will, weil es nur

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Wissen ist. Man fühlt in sich: Du trägst eine Welt in dir, die du nur wissend erlebst, indem du weißt, daß du in der Realität von ihr abgeschlossen bist; du hast die Leuchte-kraft über sie verloren. Die Nacht in der geistigen Welt tritt ein. Aber in diesem Zustande haben wir Erlebnisse, die sonst im Leibe des Erdenlebens nur seelisch passiv sind. Die werden jetzt zu etwas Aktivem. Und während man sich so immer mehr und mehr in die Dämmerung und end­lich in die Nacht der geistigen Welt hineinlebt, wird die Sehnsucht nach einer Außenwelt immer größer und größer; und während die Sehnsucht, der Wunsch nach der Welt des Erdenlebens etwas ist, was von außen seine Befriedi­gung finden muß, ist das, was man so erlebt in der geistigen Mitternacht als Sehnsucht, eine Kraft, die sich ausbildet, wie sich bei uns unter entsprechenden Bedingungen die elektrische oder magnetische Kraft ausbildet. Es ist eine Sehnsucht in der Seele, die eine neue Kraft gebiert, eine Kraft, welche wieder eine Außenwelt vor die Seele hinzau­bern kann. Immer mehr und mehr hat sich ja die Seele in eine geistige Innenwelt hineingelebt; diese ist immer größer und größer, immer gewaltiger und gewaltiger geworden. Aber in ihr lebt die Sehnsucht, wieder eine Außenwelt um sich zu haben. Diese Sehnsucht ist eine aktive Kraft, und dies, wozu es die Sehnsucht bringt, ist eine Außenwelt, aber eine von ganz eigentümlicher Art.

Das erste, was wir erleben, nachdem wir die Mitte zwi­schen Tod und Wiedergeburt erreicht haben, das ist, daß sich eine Außenwelt vor uns hinstellt, die aber doch wie­der keine ist. Wir stehen nämlich, wenn wir aus der Ein­samkeit erwachen, Bildern gegenüber, die aus unserm vor­hergehenden Erdenleben auftauchen. Also eine Außenwelt, die doch wieder unsere vergangene Außenwelt ist, steht um uns herum, und die Sehnsucht hat uns zu ihr geführt, die

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eine aktive Kraft ist. So stehen wir eine Zeitlang unsern verflossenen Erdenerlebnissen gegenüber in der Weise, daß sie für uns Außenwelt sind, daß wir wie beurteilend ihnen gegenüberstehen. Während wir sie erlebt haben, standen wir in ihnen drinnen; jetzt stehen wir ihnen gegenüber.

Und nun entsteht zu der schon entwickelten Sehnsucht eine andere. Es entsteht die Sehnsucht, in erneuertem Er­denleben dasjenige auszugleichen, was die alten Erdenleben an Mängeln, an Unvollkommenheiten gegenüber dem neu erwachten Bewußtsein aufweisen. Jetzt tritt die Zeit ein, in welcher die Seele fühlt, was sie zu tun hat in bezug auf die Gedanken, die von ihr fortgeeilt sind. Sie empfängt jetzt das sichere Wissen, das in der zweiten Hälfte des Lebens zwischen Tod und neuer Geburt erwacht: Deine Gedankenerfahrungen sind dir vorangeeilt; du kannst sie nur auf dem Umwege eines neuen Erdenlebens wieder­finden. Und aus diesem zweiten Erlebnis, jenem gegenüber dem alten Erdenleben und dem Wissen: Du kannst deine vorangeeilten Gedanken nur finden, wenn du sie wieder in einem neuen Erdenleben zurückrufst, - aus dem entsteht der instinktive Drang nach einem neuen Erdenleben. Der läßt sich nicht beurteilen nach dem letzten Erdenleben. In dem angedeuteten Zeitpunkte findet es die Seele selbst­verständlich, sich mit dem wieder zu vereinigen, was von ihr selbst fortgegangen ist an Gedanken, und was sie nur finden kann auf dem Umwege eines neuen Erdenlebens, wo sie auch nur die Möglichkeit findet, das auszubessern, was ihr an Unvollkommenheiten und Mängeln im Anblick der vergangenen Erdenleben gegenübergetreten ist.

Und jetzt treten immer neue und neue Erlebnisse aus dem Dämmerdunkel der geistigen Welt auf. Das tritt auf, was man nennen kann: Verbindung mit nächststehenden Menschen. Wir haben sie gehabt, diese Verbindung, bevor

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wir die Zeit vor dem bezeichneten Mittelpunkte erlebt haben; aber wir lebten so mit den uns nächststehenden Menschen, daß wir mit ihnen arbeiteten in der geistigen Welt, daß wir mit ihnen im Geiste verbunden waren. Jetzt tauchen sie wieder auf; jetzt tauchen diejenigen auf aus unserem eigenen Erdenleben, denen gegenüber wir unser Leben unausgeglichen haben; die tauchen auf, mit denen wir blutsverwandt waren, denen wir im Leben nahegestan­den haben. So tauchen sie auf, daß wir an ihrem Auftau­chen beurteilen können, was noch an uns unausgeglichen ist, was wir ihnen noch schuldig sind, was wir ihnen gegen­über noch auszugleichen haben. Wir fühlen uns mit diesen Seelen, die da auftreten, so verbunden, wie wir uns ver­bunden fühlen müssen nach dem Ergebnis des Zusammen-lebens mit ihnen in früheren Erdenleben. Das ist das erste, was wir nach unserm eigenen Erdenleben erleben: wie wir in einem neuen Erdenleben mit den Seelen zusammenleben wollen, mit welchen wir früher in einer näheren Weise zusammengelebt haben. Und im weiteren Verlaufe dieser Zeit treten die uns mehr fernstehenden Seelen auf, die­jenigen, mit denen wir einen Zusammenhang im Leben gehabt haben in der Weise, daß wir etwa mit ihnen ein gleiches religiöses Bekenntnis hatten, daß wir ein Volk mit ihnen bildeten, in einer gewissen Weise ein Ganzes mit ihnen bildeten. Die Seelen also, welche in unsern irdischen Werdegang hineingestellt waren, treten so auf, daß sich aus diesem Auftreten ergeben kann, wie unsere Seele ihre neue Erdenverkörperung bilden muß, um das zu suchen, was sich als Wirkung aus den früheren Erdenleben ergeben muß im Leben mit den Seelen, welche da auftreten. - End­lich tritt aus dem Dämmerdunkel des Geistigen der Zu­sammenhang mit Seelen auf oder auch mit anderem Gei­stigen im Erdenleben, den man einen idealen nennen kann.

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Nachdem man die Überschau über sein verflossenes Erden­leben erlebt hat, nachdem man die Überschau über die Menschen erlebt hat, die einem im verflossenen Erdenleben nahegestanden haben, die Gemeinschaften, welche einem nahegestanden haben, tritt einem nun lebendig entgegen, welche Menschen einem im Leben als ideale Gestalten ent­gegengeleuchtet haben, wenn man ihnen auch persönlich ferngestanden hat. Das, was man im Erdenleben seine per­sönlichen Ideale, seine geistige Welt nennt, das tritt einem am spätesten entgegen.

Aus diesen Erlebnissen bildet sich in der Seele selbst die Kraft heraus, sich wieder mit dem Erdenleben zu verbin­den. Nur muß ich noch erwähnen, daß auch in der zweiten Hälfte des Daseins zwischen Tod und neuer Geburt das Leben wieder so verläuft, daß es sich in Kreisen, zyklisch, abspielt. Wir müssen da wieder unterscheiden die Zeit des Lebens in jener Außenwelt, wo wir unsere früheren Freunde und Verwandten, unsere Ideale und so weiter erschauen, gleichsam äußerlich objektiv erleben, und dann jene andere Zeit, wo wir ihnen entzogen sind, wo wir sie nur in unserm Innern haben. Das wechselt wieder mit Notwendigkeit für die Seele ab, wie im gewöhnlichen Leben Wachen und Schlafen, Tag und Nacht abwechseln. Und aus den Kräften, die sich in der Seele durch den Anblick alles desjenigen entwickeln, was ich eben charakterisiert habe, entsteht in der Seele die Fähigkeit, zunächst geistig-seelisch sich das Urbild des neuen Erdenlebens auszubilden. Was wir haben fortschicken müssen als die in Gedanken verwandelten Lebenserfahrungen, das schauen wir noch nicht gleich, wenn wir in die zweite Hälfte des Lebens zwischen Tod und Wiedergeburt eintreten. Aber es liegt in dem kreativen Wollen und in dem kreativen Fühlen, daß die Seele dieses Leben als Kraftsteigerung empfindet; und diese Kraftsteigerung

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bewirkt, daß aus der umliegenden geistigen Substanz sich etwas wie das Urbild zu einem neuen Leben ankristalli­siert. In der geistigen Welt ist nämlich ein anderes Verhält­nis zwischen dem Wahrnehmen und dem seelischen Erleben, als in der physischen Welt. In der physischen Welt nehmen wir die Außenwelt wahr; sie ist dann in unseren Gedanken darinnen, aber die Gedanken sind passiv. Wenn wir die gei­stige Welt in der geschilderten Weise erleben, wenn wir die seelischen Überbleibsel unseres vergangenen Lebens, der uns Nahestehenden, unserer früheren Freunde, unserer Ideale, in der geistigen Welt ansehen, so bildet das eine Kraft aus, die uns durchlebt und durchwebt; das macht, daß wir erkraftet werden. Und dieses Erkraftetwerden ist dasselbe, was uns zu einem neuen Erdenleben hintreibt. - Sie wer­den schon entschuldigen, daß mancherlei Ausdrücke so ge­wählt werden müssen, daß sie ungewöhnlich sind; aber es werden ja auch für das gewöhnliche Leben ungewöhnliche Verhältnisse geschildert.

Immer mehr und mehr treten nun für den Menschen, der sich die äußere geistige Welt um sich herum beleuchtet, die erst unbestimmt gefühlten Kräfte auf, die zu den entflohe­nen Lebenserfahrungen hingehen. Das Urbild eines neuen Lebens wird immer bestimmter und bestimmter, und das macht, daß der Mensch durch die Kräfte, die in ihn selbst gelegt werden, sich hinuntergetrieben fühlt zum physischen Erdenleben, in der Weise sich hinuntergetrieben fühlt, daß er sich durch dasjenige Elternpaar angezogen fühlt, welches ihm die körperliche Hülle geben kann, die dem in der geistigen Welt geschaffenen Urbilde seines kommenden Erdenlebens am meisten entsprechen kann. Ein Dreifaches verbindet sich also bei der Wiedergeburt des Menschen:

das Männliche, das Weibliche und das Geistige. Man kann sagen: Lange bevor der Mensch mit der Geburt in das neue

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Erdenleben tritt, zieht diese ausgebildete Kraft zu dem betreffenden Elternpaare hin; denn der Mensch ist inner­lich, substantiell, diese Kraft, welche sich auswächst, könnte man sagen, als die Kraft, welche zunächst zu dem Urbilde und dann zu dem neuen Erdenleben hintreibt. Aber gerade dabei können sich die verschiedensten Verhältnisse abspie­len. Was dabei in Betracht kommt, ist zunächst einmal, daß der Mensch hierbei einen Rückblick hat auf seine frü­heren Erdenleben. Er gelangt dadurch ganz selbstver­ständlich zu der innerlichen Sehnsucht nach einem neuen Erdenleben. Aber nun kann das eintreten, daß der Mensch sehr gut in sich fühlt: Du mußt dich auf der Erde ver­körpern; aber du kannst nicht bis dahin kommen, wo du dich in einem neuen Erdenleibe so verkörpern kannst, daß du die Lebenserfahrungen ergreifen kannst, welche dir vorangeeilt sind.

Betrachten wir diesen Fall, der sich durchaus der geisti­gen Erfahrung ergibt. Wenn wir im Erdenleben stehen, so machen wir durchaus nicht alle die Erdenerfahrungen, die wir machen könnten. Es braucht ja nicht der Geistes­wissenschaft, um dies einzusehen; denn wenn schon im Erdenleben vieles an unserer Aufmerksamkeit vorbeigeht, so muß man um so mehr sagen, daß vieles an uns heran-dringt, was wir uns nicht zum Bewußtsein bringen. Mit andern Worten: wenn wir achtgeben, dann müssen wir uns gerade gestehen, daß wir nicht die Erfahrungen machen, welche wir machen könnten. Aber die Erfahrungen, die Erlebnisse, kommen doch an uns heran. Wenn wir uns dem Leben gegenüber als Schüler betrachten, so müssen wir sagen: alles das kommt an uns heran. Dieses Erlebnis ge­hört auch zu unseren Erfahrungen im Leben zwischen Tod und Wiedergeburt. Aber wenn wir in die zweite Hälfte dieses Lebens kommen, haben wir uns davon überzeugt:

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Du kannst jetzt nicht mit allem, was du dir angeeignet hast, zu dem Punkte kommen, wo du dich mit einem neuen Erdenleben voll verbinden kannst. Da tritt dann die Notwendigkeit ein, sich früher, als es durch die davon­geeilten Gedanken notwendig wäre, mit einem neuen Er­denleben zu verbinden - und sich dabei vorzuhalten: Erst in einem weiteren Erdenleben, ja vielleicht erst nach zwei oder drei Erdenleben wirst du an dem Punkte angelangt sein, wo du deine jetzt fortgeeilten Gedanken erlebst. Das wird bei einem solchen Menschen bewirken, daß er nicht das intensive Verlangen nach dem Erdenleben hat, wie er es im anderen Falle haben würde und das Leben voll ergreifen würde. Es gibt die Möglichkeit, daß der Mensch sich nicht intensiv genug mit dem Erdenleben verbindet; er hat wohl die Kraft erlangt, sich wieder zu verkörpern, aber nicht jene Kraft, daß er alles hätte erleben können, was zu erleben war. Daher hat er in einem solchen Falle nicht genug in den Tiefen der Seele liegende Freude am Erdenleben. Alles was einen Menschen dazu bringt, das Erdenleben nicht wichtig genug oder nicht voll genug zu nehmen, kommt von dieser Seite her. Und hier zeigt sich dem Geistesforscher etwas, was ihm oft schwer auf der Seele liegt.

Als Geistesforscher steht man mit Teilnahme allem Leben gegenüber. Nehmen wir an, man schaue sich als Geistes-forscher ein Verbrecherleben an, das im umfassendsten Sinne gegen die menschliche Ordnung gerichtet ist. Man kann, selbst wenn man die Schuld nicht ableugnen will, das tiefste Mitleid mit einem solchen Leben haben und es erklären wollen aus seinem Lebenszusammenhange heraus. Wenn man sich bemüht, für eine solche Frage eine Antwort zu gewinnen, so stellt sich die Antwort so heraus, daß Menschen eigentlich zum Unrecht, zum Verbrechen kommen,

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die nicht in der Lage sind, durch die angedeuteten Verhältnisse das Leben in seinem vollen Gewicht zu neh­men. Ich habe mich überzeugt, indem ich bis zu der so­genannten Verbrechersprache diesen Dingen nachgegangen bin, daß selbst darin etwas liegt von einem Nicht-wichtig-Nehmen, von einem Unterschätzen und Verachten des Le­bens. Ein solches Nicht-wichtig-Nehmen braucht nicht im Vollbewußtsein zu liegen. Das Vollbewußtsein weiß oft wenig von dem, was in den Tiefen der Seele vorhanden ist. Der Verbrecher entwickelt oft ein starkes Selbstgefühl, er will das Leben; aber in den Tiefen der Seele, zu welchen das Bewußtsein nicht hinunterdringt, da lebt die Lebens-verachtung. Daß er nicht den Ort erreicht hat, bis zu dem seine fortgegangenen Gedanken gegangen sind, das ist der Grund, weshalb er das Leben nicht voll ernst nimmt. Man suche in dem Leben von Verbrechern, und man wird fin­den, daß verächtliche Stimmung gegenüber dem Leben da ist, bis in die Ausdrücke der Gaunersprache hinein. Un­geheuere Rätsel enthüllen sich da dem aufmerksamen Le­bensbetrachter. Ich möchte sagen: geistige Frühgeburten sind es, die sich da entwickeln. Deshalb ist es, daß sie nicht die Kraft hatten, weil sie zu früh kamen, das Leben voll ernst zu nehmen, um das im Leben zu entwickelnde Ver­antwortlichkeitsgefühl im ganzen Sinne des Wortes zu ent­wickeln. Ein Leben, das wenigstens annähernd bis zu jenem Zeitpunkte gelangt ist, bis wohin die in objektive Wesen­heiten verwandelten Gedanken vorangeeilt sind, das wächst am innerlichsten mit dem Erdenleben zusammen; das wächst zusammen mit den Kräften, die nur auf der Erde ausgebildet werden können: des Gewissens, der Erdenliebe, der Verantwortung, das wächst zusammen mit alledem, was das Erdenleben wichtig nimmt, so daß sich Sittlichkeit, Moral entwickelt. Denn man muß gegenüber dem Erdenleben

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das Gefühl haben, daß man sich ganz mit ihm ver­binden muß, wenn rechte Sittlichkeit, rechte Moralität in der Seele erwachsen soll. Das ist zum Beispiel eines, was uns erklärlich wird, wenn wir das menschliche Leben in dem Lichte betrachten, das die Geisteswissenschaft geben kann, und es bereichert in der Tat unsere Gefühle und Empfindungen dem Leben wie den Menschen gegenüber, weil wir, wenn wir sie verstehen, leichter zurechtkommen und uns dem Leben gegenüber leichter orientieren können.

Der Geistesforscher findet zum Beispiel ein Leben, wel­ches in der Zeit zwischen Geburt und Tod früher, als es nor­mal ist, entweder durch Krankheit oder durch Unglück abgeschlossen wird. Im wesentlichen wirkt das für das andere Leben zwischen Tod und Wiedergeburt so, daß durch das frühzeitige, sei es durch Unglück oder durch Krankheit herbeigeführte Eindringen in die geistige Welt Kräfte für die Seele geschaffen werden, welche sonst für sie nicht dagewesen wären. So sonderbar es klingt, so paradox es erscheinen mag: was uns aus unserm früheren Erden­leben fehlen kann, um alle Kräfte zu entwickeln, die uns wiederum durch andere Verhältnisse eigen sein können, das kann uns vielleicht nur dadurch kommen, daß wir unser Leben früher abschließen, als es für einen Menschen normal ist. Niemals aber wird die Geisteswissenschaft einem Men­schen irgendwie die Berechtigung für einen künstlichen Ab­schluß des Lebens geben, der von ihm selbst vor dem nor­malen oder dem durch sonstige Verhältnisse herbeigeführ­ten Lebensende ausgehen könnte.

Man muß sagen: Gerade wenn man in dieser Weise in das geistige Leben zwischen Tod und Wiedergeburt hinein-zusehen versucht, wird man gewahr: ganz andere Kräfte spielen dort, als jene im Leben zwischen Geburt und Tod, aber Kräfte, die sich naturgemäß anreihen, möchte man

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sagen, an alles, was uns das äußere Leben im Leibe bietet. Offen gestehe ich: Niemals hätte ich durch irgendwelche bloß philosophischen Gedanken, durch irgendwelche Ver­standesanstrengungen zu dem kommen können, was ich heute vor Ihnen auszusprechen wagte; nur auf dem Wege der Geistesforschung, der hier so oft geschildert worden ist, können sich diese Dinge ergeben. Wenn man sie aber dann hat und sich fragt: Passen sie zu dem Erdenleben hinzu, zu dem, was wir zwischen Geburt und Tod erleben? so stellt sich allerdings eine vollständige Anpassung an das Leben dar. Und wenn auch die Frage entstehen könnte:

Warum erinnert sich der Mensch nicht an die früheren Er­denleben? so kann geantwortet werden: Der Geistesfor­scher sieht, indem der Mensch aus dem Leben zwischen Tod und Wiedergeburt heruntersteigt zu einem irdischen Leben, daß er die Kräfte, welche sich an alles zurückerinnern könnten, was ich jetzt erzählt habe, zunächst verwenden muß zur inneren Ausgestaltung, zur plastischen Ausgestal­tung seines sinnlich-physischen Leibes, der ja vom Menschen selber plastisch ausgestaltet und auch erhalten wird. Was der Mensch an Kräften aufwendet, um die Dämmerung der ersten Kindesjahre in waches Bewußtsein für das spätere Erdenleben zu verwandeln, was er aufwendet, um den Leib so umzuwandeln, daß das dämmernde Kindheits­leben zum wachen Leben sich umwandeln kann, das ist von denjenigen Kräften aufgewendet, welche der Mensch umwandeln könnte, um sich seiner früheren Erdenleben zu erinnern. In den Leib hinein fließen sie, stark machen sie den Menschen in bezug auf das Leben zwischen Geburt und Tod. Und erst wenn der Geistesforscher seine Seele losreißt von dem physischen Leib, wenn er zu einem Erleben außer dem physischen Leibe kommt, wenn er also die Kräfte wie­derum frei macht, welche der Mensch sonst dazu verwendet,

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um seine Augen zum Sehen zu veranlassen, um seine Ohren zum Hören, seine Glieder zum Bewegen zu bringen, wenn er diese Kräfte anwendet, um rein in der Seele zu erleben, dann dehnt sich sein Blick über den rein geistigen Horizont aus, wo das erlebt wird, was ich heute geschildert habe. Es werden also die Kräfte der Rückerinnerung, die man etwa im Menschen vermuten könnte, vom Geistes-forscher in ihrer Umwandelung geschaut.

Man kann sagen: Im Menschen ist der ewige, der un­sterbliche Seelenkern. Aber in dem Leben zwischen Geburt und Tod wird er zunächst so verwendet, daß er in den Verrichtungen des sinnlichen Leibes aufgeht. Allerdings kann man mit Bezug auf die heutige Zeit sagen: Wir stehen in einer Übergangszeit, in welcher der Mensch ein neues Verhältnis zum Leibe gewinnen wird, wo er auch einem verstärkten Innenleben des Leibes zueilt. Deshalb fühlt die Geisteswissenschaft die Aufgabe, dasjenige, was sie er­kundet, auch mitzuteilen, weil sich die Seele von Leben zu Leben dahin entfaltet, daß sie immer innerlicher und inner­licher sich gestaltet und, indem sie der Zukunft entgegen-eilt, das heute Gesagte einsehen wird als ein notwendiges Wissen, ohne welches sie in ihrer ganzen Verfassung nicht wird leben können; und dann wird sich durch ein Wieder-eintreten eines natürlichen hellseherischen Zustandes das­jenige als erklärlich ergeben, worauf jetzt aufmerksam gemacht werden konnte.

So geht die Geistesforschung, wenn sie von der Unsterb­lichkeit der Seele spricht, einen anderen Weg als jenen, den eine bloße Begriffsphilosophie gehen kann. Die Geistes­wissenschaft tritt nicht so an die Unsterblichkeitsfrage heran, daß sie die Unsterblichkeit beweisen will, sondern sie geht so vor, daß sie zunächst die Wege sucht, wie man die Seele selber finden kann, daß sie die Wege nach der Seele,

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nach der Wesentlichkeit der Seele sucht. Und hat man die Seele, weiß man, wie sie sich innerlich erlebt, dann hat man nicht nötig, äußerliche philosophische Beweise zu ersinnen für die Unsterblichkeit der Seele. Denn man merkt dann:

Was über den Tod hinausführt, was durch ein Leben zwi­schen Tod und Wiedergeburt durchgeht und zu einem im-mer wieder erneuerten Erdenleben führt, das ist im Leben zwischen Geburt und Tod schon in uns drinnen, und indem wir es in uns erkennen, erkennen wir es zugleich in seiner Unsterblichkeit. Das ist hier im Leben so gewiß enthalten, wie wir beim Pflanzenkeim wissen: er wird sich entwickeln, indem er ein neues Pflanzenwesen hervorbringen wird. So können wir bei der Seele wissen, daß sie unsterblich ist. Aber vom Pflanzenkeim wissen wir, daß er zur mensch­lichen Nahrung verwendet werden kann. Ein solches äußer­liches Abziehen ist bei dem menschlichen Seelenkern nicht wahrzunehmen; sondern gewiß ist es, daß das, was in der Seele lebt, zugleich die Anwartschaft ist für folgende Erden-leben, und damit die Anwartschaft auf die Unsterblichkeit der Seele, und nicht zu etwas anderem zur Verwendung kommt, wie es beim Pflanzenkeim sein kann. Daher darf man von der Unsterblichkeit einer jeden Seele sprechen.

Daß dies, was jetzt gesagt worden ist, heute dem Zeit-bewußtsein noch sehr entgegengesetzt ist, habe ich am An­fang der heutigen Betrachtung bereits erwähnt. Wie sollte aber das Zeitbewußtsein in einer wohlgefälligen Weise zu dem hinblicken, was im heutigen und in anderen Vorträgen ausgeführt worden ist? Fühlt sich doch dieses Zeitbewußt­sein auf der einen Seite voller Sehnsucht, etwas über die Seele zu wissen; auf der anderen Seite aber ist es wieder darauf erpicht, die Erkenntniskräfte einzuschränken, wenn man etwas wissen will. Man schilt die Geisteswissenschaft oft der Unlogik und des Aberglaubens. Nun, die Geisteswissenschaft

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kann das ertragen. Denn wenn sie auf die «Logik» blickt, die ihr glaubt gegnerisch sein zu müssen, dann weiß sie, woher es kommt, daß sich Geisteswissen­schaft nur so langsam in die Gemüter der Menschen ein-leben kann. Und wiederum - ich habe so manches Buch und so manche zeitgenössische Erscheinung hier in den Vor­trägen erwähnen müssen - kann ich auf ein Buch hinweisen, welches Gedanken über den Tod bringt. Dort findet sich ein merkwürdiges Wort, das ich nur aus formalen Gründen anführe: Die Unsterblichkeit kann nicht bewiesen werden. Selbst Plato und der auf ihm fußende Mendelssohn waren nicht in der Lage, die Unsterblichkeit und die Einfachheit der Seele zu erhärten; denn wenn man auch die Einfachheit der Seele zugeben will, so ist die Seele doch ein Gegenstand des inneren Beharrens, der unbewiesen und unbeweisbar ist. Man braucht sich auf die weiteren Ausführungen nicht einzulassen; denn wer imstande ist, den Satz hinzuschrei­ben: Plato und selbst Mendelssohn haben aus der Unzer­störbarkeit der Seele nicht ihre Unsterblichkeit beweisen können, der sollte auch nur gleich schreiben: Man kann aus der roten Farbe der Rose ihre Unsterblichkeit nicht be­weisen. Denn wenn man von der Unsterblichkeit der Seele redet, dann kann man nicht, wenn man nicht gedankenlos ist, davon sprechen, daß sie nicht unsterblich ist, weil es nicht bewiesen werden kann. - Derlei Dinge werden heute hingeschrieben und stehen in einem Werke, das ein großes Publikum haben wird und auch hat, weil solche Bücher unsern Zeitgenossen gefallen, und weil über solche Dinge, wie sie eben charakterisiert worden sind, hinweggelesen wird. So wird über manches hinweggelesen, was prinzipiell ist bei dem, was sich am stärksten als Gegnerschaft gegen die Geisteswissenschaft aufwirft. Wirft man der Geistes-wissenschaft Unlogik vor, so schaue man sich vor allem

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seine eigene Logik an. Über alle anderen Einwände gegen die Geisteswissenschaft ist hier oft gesprochen worden; ich will deshalb nicht darauf zurückkommen, sondern nur an­führen, was ich wie eine Schlußempfindung auch in andern Vorträgen schon vorgebracht habe:

Man fühlt sich mit den Ergebnissen der Geisteswissen­schaft doch immer wieder mit den allererleuchtetsten Gei­stern der irdischen Menschheitsenwickelung einig; haben sie auch Geisteswissenschaft nicht gehabt, denn sie ist erst in unserer Zeit so möglich, wie wir sie heute haben können, so haben sie doch jene Richtung geahnt, in welcher die Gei­steswissenschaft sich bewegt. Und wenn auf der einen Seite manches monistische oder sonstige Gemüt von der Un­beweisbarkeit der Unsterblichkeit spricht, so möchte man als Geistesforscher doch auf einen Großen unter den ahnen­den Geistern in dieser Beziehung hinweisen, mit dem man sich einig fühlt. - Was sagt denn die Geisteswissenschaft, wenn man sie dem Geiste nach nimmt, über das, was ich auszuführen versuchte? Sie zeigt uns dasjenige in uns, was sich schon zwischen Geburt und Tod so entwickelt, daß es, wenn es vom Leibe befreit wird, alle die Zustände durch­machen muß, die heute geschildert worden sind. Man lernt die Menschenseele, die im Menschenleibe ruht, auch zwi­schen Geburt und Tod nicht kennen, wenn man nicht weiß, wessen sie zwischen Tod und Wiedergeburt fähig ist. Wenn manche religiöse Bekenntnisse etwa die Geisteswissenschaft nicht mit sich im Einklang fühlen, weil sie eine erweiterte Gottesvorstellung schafft, so kann man diesen religiösen Bekenntnissen gegenüber nur sagen: Wie schwachmütig seid ihr mit eurer Gottesvorstellung, mit eurem religiösen Emp­finden! Das kommt einem so vor, als wenn man dem Co­lumbus gesagt hätte: Entdecke nicht Amerika! denn warum solltest du dieses unbekannte Land entdecken? In unserm

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Lande scheint die Sonne so schön; kann man wissen, ob sie in einem andern Lande ebenso schön scheint? - Da hätte der Vernünftige gesagt: Oh, so schön wie hier wird sie überall scheinen! - Der Geisteswissenschafter sieht, was ihm seine Gottesvorstellung ist. Und die ist so, daß er sie als groß empfindet, wie eine leuchtende Geistessonne! Und er weiß, daß schwachmütig sein muß die Gottesvorstellung, schwachmütig die religiöse Empfindung, schwachmütig der Glaube derjenigen, die da sagen: Der Gott, den wir in un­serm religiösen Leben verehren, er wird nicht walten in den Welten des geisteswissenschaftlichen Forschers. Aber ist das religiöse Empfinden nur stark genug, so wird es von dieser Gottesvorstellung des Geistesforschers auch das Leuchten in den Welten des Geistigen empfinden, und die Gottes-vorstellung wird durch die Geisteswissenschaft ebensowenig Schaden erleiden, wie sie auch nicht durch Kopernikus und Galilei geschädigt worden ist. Aber die Geisteswissenschaft weiß, daß die Seele schon im Leibe sich für das Leben zwi­schen Tod und Wiedergeburt vorbereitet; und Sinn und Bedeutung bekommt das Leben zwischen Geburt und Tod, indem wir hinschauen auf das Dasein zwischen Tod und nächster Geburt. Dadurch fühlen wir uns im Einklange mit den Geistern, die zu den erleuchtetsten gehören, von denen einer ahnend vorausnahm, was wir uns heute vor die Seele gestellt haben. Goethe sagte einmal: Ich möchte mit Lorenzo von Medici sagen, daß die auch schon für dieses Leben tot sind, die auf ein anderes nicht hoffen. Mit diesen Worten fühlt sich die Geisteswissenschaft so im Einklange, daß sie weiß: Die Seele muß aufnehmen, was ihr werden kann, indem sie auf dasjenige hinblickt, was ihr außer und nach dem Leben im Leibe werden kann. Wie der Pflanzenkeim nur dadurch eine Berechtigung hat, daß er einem neuen Pflanzenleben entgegenlebt, so ist auch dasjenige, dem wir

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mit unserer Seele entgegenleben, nicht das, was wir schon in uns haben, sondern das, was wir erhoffen können. Am stärksten beweist sich die Unsterblichkeit dadurch, daß wir nur hinschauen brauchen auf die Kräfte, von welchen wir leben; denn wir leben von den Kräften, die wir uns als die unsterblichen Kräfte erhoffen können. Ja, die Geisteswissen­schaft führt uns zu der unser ganzes Leben durchleuchten­den und durchdringenden Grundempfindung, die Goethe so schön mit den eben angeführten Worten ausgesprochen hat. Die Geisteswissenschaft sagt uns, beweist uns und be­legt uns das Gefühl dafür, daß derjenige schon für das Leben im Leibe tot ist, der auf das Leben im Geiste und auf das, was die Seele dem Geiste nach für die ganze Welt ist, nicht hoffen kann!

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HOMUNKULUS Berlin, 26. März 1914

Wie die Geisteswissenschaft in dem hier gemeinten Sinne sich hineinstellen will in das Geistes- und in das ganze Kulturleben der Gegenwart, das ist des öfteren hier an­gedeutet worden. Audi von dem, was sie den Menschen sein und bringen kann, ist öfters gesprochen worden, und das wird ausführlich im letzten Vortrage dargestellt werden. Es ist audi im Verlaufe dieser Wintervorträge immer wie­der darauf hingewiesen worden, wie es begreiflich ist, daß auf der einen Seite zahlreiche Seelen der Gegenwart, vielleicht mehr als sie es schon wissen, aus ihrem tiefsten Emp­finden heraus, man möchte sagen, aus ihren unterbewußten Seelenkräften heraus nach dieser Geisteswissenschaft wie instinktiv streben; und auf der andern Seite ist es ebenso begreiflich, daß aus der allgemeinen Geistesbildung unserer Zeit heraus sich Gegnerschaft über Gegnerschaft gegen die Geisteswissenschaft ergibt. Es sind dem Geistesforscher auch die gegen sie gemachten Einwände, obgleich sie auf Vor­urteilen beruhen, begreiflich, ja sogar selbstverständlich. Auch das ist öfter betont worden. Aber nicht zum gering­sten Teil hängt die ganze Stellung unserer Zeitkultur zu einer möglichen Geisteswissenschaft davon ab, daß man nicht einsehen will, wie diese Geisteswissenschaft, wenig­stens so wie sie in diesen Vorträgen gemeint ist, im Grunde genommen alle andern Weltanschauungen verstehen, be­greifen und die Gründe, die von dieser oder jener Seite gegen sie vorgebracht werden, in ihrem Gehalt, in ihrer

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Bedeutung voll würdigen kann. Es ist aufmerksam gemacht worden, wie die Geisteswissenschaft der große Kreis sein will, der die menschliche Erkenntnis erweitert über alle in unser Leben hereinleuchtenden Gebiete, und wie alle an­dern Weltanschauungen kleine Kreise innerhalb dieses gro­ßen Kreises sind, die daher selbstverständlich von ihren Standpunkten aus glauben Recht zu haben. Die Geistes­wissenschaft ist meistens in der Lage, in bezug auf das, was diese Weltanschauungen Positives vorbringen, Ja zu sagen. Das kann man aber von andern Weltanschauungen aus, die in der Gegenwart geltend gemacht werden, allerdings nicht im gleichen Sinne sagen. Denn gerade auf den Standpunkt wird man sich nicht stellen: dieses oder jenes - sei es für den Materialismus, sei es für den Spiritualismus, für den Realismus vorzubringen, sei als ein in einer gewissen Be­ziehung Einseitiges zu betrachten, und erst in dem Hinaus­gehen über diese Einseitigkeit bestehe die Möglichkeit, eine den Menschen befriedigende Erkenntnis zu gewinnen. Auf ihrem Gebiete ist oftmals diejenige Weltanschauung, die als die einseitige erscheinen muß, voll berechtigt, so berechtigt, daß sie an ihrem Platze Wahrheiten hervorzubringen, auf­zudecken, zu entdecken vermag. Die Geisteswissenschaft kann nur nicht dabei stehen bleiben, diese Wahrheiten als etwas Allumfassendes anzuerkennen, sondern sie muß dazu übergehen, sie an ihren richtigen Ort zu stellen. So haben wir es insbesondere auf geisteswissenschaftlichem Gebiete mit der Gegnerschaft derjenigen Weltanschauung zu tun, die sich, nach ihrer Anschauung, eben fest auf dem Boden der modernen Wissenschaft glaubt, und die von ihrem Ge­sichtspunkte aus in der Geisteswissenschaft vielfach nichts anderes sehen muß, ich sage ausdrücklich: sehen muß, als Phantastereien und Träumereien. Um von anderem ab­zusehen, sei eine Form von Weltanschauung herausgegriffen,

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die sich sicher glaubt, indem sie vorgibt - und dies in begreiflicher Weise von ihrem Gesichtspunkte aus auch tun muß -, auf dem festen Boden strenger wissenschaftlicher Methodik zu stehen. Ich will diese Weltanschauung, ich möchte sagen, für unsere Zeit, ein wenig radikal charakteri­sieren, die Weltanschauung, welche da sagt: Wenn wir den Menschen ins Auge fassen wollen, müssen wir, wenn wir auf dem Boden der Wissenschaft bleiben, reflektieren auf die physischen, chemischen und mineralischen Kräfte und Stoffe, die ihn zusammensetzen; und wir müssen uns klar sein, daß, wie irgendein anderes Wesen nach den Gesetzen der Natur zusammengesetzt ist, auch der Mensch, als die Krone der Schöpfung, auferbaut ist.

Und so meint diese Weltanschauung: wenn es ihr einmal gelungen sein wird, alle die natürlichen Gesetze und Stoffe kennenzulernen, die im menschlichen Nervensystem bis in die feinsten Vorgänge des Gehirnes herauf walten, dann wird es auch, soweit es wissenschaftlich moglich ist, klar sein, wie aus den in Naturgesetze eingespannten Vorgängen hervorgehen menschliches Denken, menschliches Fühlen, menschliches Wollen. Den Menschen rein naturwissenschaft­lich zu begreifen, ist ein Ideal, will man es einseitig fest­halten: ein berechtigtes Ideal dieser Weltanschauung.

Ich weiß, daß ich, indem ich eben etwas radikal dieses Ideal geschildert habe, zwar den Widerspruch hervor­rufen muß von manchem etwas ernster und mit mehr wissenschaftlicher Würde vorgehenden Forscher, als man noch vor kurzem bemerken konnte, von Forschern, welche gewiß heute schon sagen: Von jener mehr materialistischen Weltanschauungsgesinnung sei man abgekommen, die da glaubt, wenn der Mensch rein nach den äußeren Natur-vorgängen begriffen ist, dann sei er in seiner Ganzheit be­griffen. Allein nicht darauf kommt es an, daß da oder dort

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schon zugegeben wird, daß man den Menschen nicht be­griffen hat, wenn man die rein natürlichen Vorgänge kennt, die in semem Nervensystem bis ins Gehirn herauf vor­gehen; sondern darauf kommt es an, daß trotz dieses Bewußtseins selbst in den wissenschaftlichen Methoden auch der philosophisch denkenden Zeitgenossen nichts an­deres waltet als die Anschauung, die sich auf diese natür­lichen Vorgänge stellt. Denn man wird eben heute noch in den weitesten Kreisen, die glauben auf wissenschaftlicher Grundlage aufzubauen, eine Anschauung abweisen, wie sie hier als Geisteswissenschaft gemeint ist.

Diese Anschauung der Geisteswissenschaft wird aus ihren Forschungsresultaten heraus streng zugeben müssen, daß mit all dem Denken, mit all dem Forschen, das durch seine natürliche Beschaffenheit geeignet ist, Vorgänge der Sinnes-welt zu überschauen und dieselben bis hinein in die Vor­gänge des Nervensystemes zu beschreiben und mit diesen zu überschauen, doch nichts anderes gefunden werden könnte als der rein natürliche Mensch; daß aber in diesem rein natürlichen Menschen wie in einer Hülle dasjenige waltet, was wir kennengelernt haben als übergehend von Erdenleben zu Erdenleben, was nach jedem Erdenleben ein Dasein in einer rein geistigen Welt zwischen dem Tode und einer neuen Geburt durchmacht, wie ich es das letzte MaI hier darzustellen wagte. Die Geisteswissenschaft muß, sagte ich, sich klar sein, daß dies, was so ewig in der menschlichen Natur waltet, für alle Philosophie, die sich nur an die für die natürliche Anschauung geeigneten Kräfte wenden will, verborgen bleiben muß; daß dieses Ewige in der mensch­lichen Natur nur erforscht werden kann mit Kräften, von denen hier öfter gesprochen worden ist, mit den Kräften, die in einer innerlichen Entwickelung errungen werden, wie es genauer beschrieben ist in meiner «Geheimwissenschaft

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im Umriß» und in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» Aber selbst Philoso­phen, die heute die Notwendigkeit des geistigen Lebens betonen, ja, selbst der Philosoph, der auf so sonderbare Weise berühmt geworden ist, Rudolf Eucken, der in einer feuilletonistisch gehaltenen Philosophie immer wieder und wieder vom «Geiste» spricht, er wird sich da, wo er vom Geiste spricht, auch nur auf das beschränken, was der natürliche Mensch ist; und nirgends verrät er, daß er eine Empfindung dafür hat, daß Geist und Geisteswelt nur mit den Geisteskräften erforscht werden können, die aus der Seele erst durch bestimmte geisteswissenschaftliche Metho­den hervorgeholt werden müssen.

Nun ist die Geisteswissenschaft nicht der Gegner solcher naturwissenschaftlicher Anschauungen, auch nicht der Geg­ner solcher philosophischer Weltanschauungen, sondern sie muß diese nur in ihre Grenzen weisen, muß zeigen, was sie vermögen und was sie darstellen können. In bezug auf diese Stellung der Geisteswissenschaft zu den andern Welt­anschauungen ist auch hier immer wieder und wieder be­tont worden, daß sich die Geisteswissenschaft im Einklange fühlt mit denjenigen Geistern der Menschheitsentwicke­lung, die zwar noch nicht Geisteswissenschaft hatten, denn Geisteswissenschaft kann nur ein Produkt unserer Zeit sein, die aber trotzdem, weil sie aus ihrem tiefsten seelischen Empfinden und Fuhlen heraus eine grundliche Ahnung von der Wahrheit hatten, in einer klaren, verständlichen Art sprachen, wo sie diese Ahnung zum Ausdruck brachten, so daß sich die Geisteswissenschaft mit ihnen im Einklange fühlen kann.

Wie das mit Bezug auf zwei Geister des neunzehnten Jahrhunderts der Fall ist, davon möchte ich heute zu Ihnen sprechen, damit gleichsam diesen Vortrag in die Reihe

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der diesjährigen Vorträge einfügend, möchte es zeigen an Goethe und an Robert Hamerling, an Goethe, dem All­bekannten, und an Hamerling, dem trotz seiner weiten Verbreitung vor kurzem noch wenig Bekannten. Und zwar möchte ich sprechen über ein Problem, das sich wie aus einem tiefen geisteswissenschaftlichen Fühlen heraus, aber dabei echt dichterisch, die beiden Poeten gestellt haben, und ich möchte zuerst die geisteswissenschaftliche Färbung die­ses Problems betonen.

Ich möchte sagen: Könnte nicht einmal in einem Kopfe der Gedanke aufkeimen: was wird denn dann eigentlich, wenn man sich eine Form, eine Gestalt des Menschen aus­bildet, welche so recht im Sinne einer rein natürlichen Denkweise gehalten ist, wenn man sich den Menschen als eine Wesenheit in der Weise ausdenkt, daß man zu diesem Gedanken nichts von dem zu Hilfe nimmt, was man er­kennen kann, wenn man auf die tiefer in der Menschen-seele liegenden, auf die ewigen Kräfte in der Menschenseele reflektiert? Welches Bild entsteht, wenn man gleichsam nur ausdenkt: Wir haben die Kräfte und Stoffe, die wir kennen

- wir kennen sie vielleicht noch nicht alle, aber das Ideal der Naturwissenschaft geht dahin, sie alle kennenzulernen und in ihrer Wirkungsweise zu beobachten - wir haben die Naturgesetze und versuchen uns den Menschen so zu den­ken, wie er sich im Bilde ergeben könnte, wenn man nichts zu Hilfe nähme als die natürlichen Kräfte und Stoffe und die Naturgesetze?

Der Geisteswissenschafter kann ein solches Bild nur be­urteilen von dem Standpunkte aus, der hier oft betont wor­den ist. Wenn man die in der Seele schlummernden Kräfte entwickelt zu geistigem Schauen, so gelangt man dazu, sich in der Seele zu erleben, so daß man in einer Art sich erlebt und in einer Art erkennt, wie diese zu entwickelnden

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Fähigkeiten der Seele nicht gebunden sind an die Sinne und auch nicht an die Kräfte des Gehirns. Man erlebt auf diese Weise, daß man wirklich mit der Seele außerhalb seiner Sinneswerkzeuge, außerhalb des Gehirns, des Leibes ist, ja, alles was an den Leib gebunden ist, wie ein äußeres Objekt vor sich hat. Das, worin man sonst immer wohnt, was man sonst als zu seinem Ich gehörig ansieht, seinen Leib: man hat ihn in der geistigen Forschung so vor sich, wie ich jetzt den Tisch vor mir habe. Aber auch das eigene Geschick, insofern es sich in der äußeren Welt abspielt, hat man vor sich. Man ist ein neuer Mensch geworden, dem gegenüber dasjenige, was man vorher war, objektiv ge­worden ist und außerhalb seiner ist. - Wenn man so nun außerhalb seines Menschenleibes stehend den Menschen be­trachtet, erlangt man die Möglichkeit zu beurteilen: wie­viel hat das Geltung, was man als Menschenbild sich aus­denken kann mit bloß natürlichen Substanzen, natürlichen Gesetzen und Fähigkeiten? Und man gelangt zu der Ein­sicht: Oh, dieses Bild ist keineswegs irreal, sondern es stellt etwas sehr Reales dar; aber für den Menschen ist es in der Sinneswelt gar nicht einmal wirklich, sondern es ist ein Glied, ein Teil der menschlichen Wesenheit, es durchdringt und durdikraftet den Menschen.

Diejenigen der verehrten Zuhörer, die sich an den ge­wagten Versuch von vor acht Tagen erinnern, werden ge­hört haben, wie die Menschenseele, nachdem sie das rein geistige Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt durchgemacht hat, mit den in diesem Leben entwickelten Kräften wieder hereintritt in das Erdenleben, wie sie hin­gezogen wird zu einem Elternpaar, wie sie sich hineinfügt in das, was man die vererbten Kräfte, die von Vater und Mutter, kurz, die aus der Vererbungsströmung herkom­menden Kräfte nennen kann. Aber der Geistesforscher wird

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aufmerksam dabei, daß das, was sich da als Menschenseele gleichsam niedersenkt zu einer neuen Erdenverkörperung, sich umhüllen muß, sich einkleiden muß während des Ein­dringens in die physische Verkörperung in Kräfte, die gleichsam ein Extrakt der ganzen physischen Natur sind. Bevor das Menschenwesen, das ewige Menschenwesen, zu seiner Verkörperung eilt, muß es gleichsam aus der geistigen Substanz Kräfte heranziehen, Geistessubstanzen heran­ziehen, durch die es das Bild verfestigt, welches es sich rein geistig wie ein Urbild für die nächste Verkörperung aus­gebildet hat und das sich dann physisch verkörpern will innerhalb der Vererbungslinie. Wir können sagen: Es stellt sich bei der menschlichen Wiederverkörperung ein Zwi­schenglied hinein zwischen das rein Geistige, das da waltet zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, und dasjenige, was dann in der physischen Welt als Mensch vor uns steht. In diesem, was da in der physischen Welt als Mensch vor uns steht, haben wir eben das, was von Vater und Mutter abstammt, und dasjenige, was aus den früheren Erden-verkörperungen herkommt, das Geistig-Seelische. Aber da­zwischen ist, man möchte sagen, ein rein ätherischer Mensch, ein geistiger Mensch noch, der übersinnlich, unsichtbar ist, der aber in sich die Kräfte enthält, die wie ein Extrakt des ganzen physischen Weltgeschehens sind. Merkwürdig ist es:

wenn der Mensch sich auf dem festen Boden der Natur­wissenschaft glaubt und ein Menschenbild sich ausformt nach natürlichen Substanzen, nach natürlichen Kräften und Gesetzen, dann gelangt er zu einem Bilde, das in diesem physischen Menschen, der ja auch die ewige Seele enthält, gar nicht wirklich ist, das ein Abstraktum ist, eine bloße Abstraktion, das aber waltet und webt in diesem physi­schen Menschen, das aber auch das ist, in welches sich der Mensch einkleidet, bevor er zur physischen Verkörperung

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herunterkommt. Was der Mensch dem ewigen geistigen Le­ben entreißt und hineinzwängt in das zwischen Geburt und Tod verlaufende Erdenleben, das in uns, was uns zwingt, nach und nach vom Sterben unseres irdischen Lebens zu reden, was in uns waltet zwischen Geburt und Tod, heraus­gerissen aus den geistigen Welten, was selber geistig ist, aber uns aus dem Physischen heraushebt und dem Geiste übergibt: das ist ein reales Wesen für den Geistesforscher, nur ist es nicht sichtbar, es ist nur für höheres Schauen zu ergründen.

So entsteht die merkwürdige Tatsache, daß diejenigen nicht ganz Unrecht haben, welche glauben materialistisch oder monistisch richtig zu denken, indem sie sich rein nach natürlichen Gesetzen ein phantastisches Bild des Menschen formen, das rein nach natürlichen Kräften aufgebaut ist, das für den Menschen Bedeutung hat zwischen Geburt und Tod, und das während des Erdenlebens bewirkt, daß die Seele gleichsam ihr ganzes geistiges Leben vergißt. So aber, aus bloß natürlichen Stoffen gedacht und mit nur natür­lichen Gesetzen durchsetzt, ist es nicht als Naturgebilde vorhanden, sondern es durchwirkt nur die menschliche Na­tur, es ist ein Zwischenglied zwischen dem äußeren und dem ewigen Menschen, der durch die physische Welt geht. Und als solches, man möchte sagen, «Übersinnlich-Sinn­liches» hat Goethe dieses Gebilde angesehen, und er hat es als solches charakterisiert im zweiten Teile seiner Lebens-dichtung, in seinem «Faust», als den Homunkulus Und genau dasjenige, was Goethe mit seinem Homunkulus ge­meint hat, baut phantastisch auf die materialistische oder, wie sie sich heute nennt, die monistische Weltanschauung als das Bild des Menschen. Dieses Bild des Menschen ist aber nicht in Wahrheit vorhanden. Es durchtränkt den Menschen; es ist das, was den Menschen seiner ewigen Bedeutung

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zwischen Geburt und Tod entkleidet und herein­kraftet in die physisch-sinnliche Natur. Diese letztere ist ein Drittes, was zu den beiden andern hinzukommt. Indem der materialistische Denker glaubt, mit seinem Bilde vom Menschen das Allerwirklichste vor uns hinzustellen, stellt er eine Abstraktion, stellt er ein Übersinnliches hin. Dieses Ideal des modernen Monismus, diesen Homunkulus, dieses, was der moderne Monismus als «Mensch» schildern möchte, das verwendet Goethe im zweiten Teil seines Faust zu einer ganz besonderen Mission. - Ich kann, damit der Vortrag nicht gar zu sehr in die Länge geht, diese Dinge nur kurz andeuten.

Faust ist unter der Führung - oder durch die Verfüh­rung - des Mephistopheles durch das hindurchgegangen, was aus dem ersten Teile der Dichtung bekannt ist. Er hat alle Phasen des Erkenntnistriebes durchgemacht, hat alle Qualen des Erkenntnisstrebens kennengelernt, ist durch­gegangen durch menschliche schwere Schuld, und im zwei­ten Teile der Dichtung stellt Goethe nun den Faust dar, wie er entrissen ist dem gewöhnlichen Vorstellen. Faust soll nicht die Möglichkeit gewinnen, in die Welt dadurch weiter einzudringen, daß er mit dem gewöhnlichen Be­wußtsein, mit den alltäglichen Kräften seiner Seele sich wieder emporringt aus alledem, was seine Seele durch­gemacht hat; sondern es wird uns eine Nacht, das heißt ein Entrücktsein von Fausts Bewußtsein im Beginn des zweiten Teiles der Dichtung vorgeführt, und aus den geistigen Wel­ten heraus wird im Schlafbewußtsein in ihn hineinversenkt an Kräften, was ihm zwar nicht gleich klar zum Bewußt­sein kommt, wovon aber Goethe andeutet, daß es in Fausts Seele wirksam sein wird, wo die ewigen Kräfte walten, damit Faust weiterkommen soll. Daher sprechen Geister in seinen Schlaf hinein, Ariel, und andere. Deshalb spürt

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er des «Lebens Pulse» wieder «frisch lebendig» schlagen, ist dem Leben zurückgegeben und kann wieder den Lebens­kampf neu beginnen. - Ich will von allem übrigen absehen und nur anführen, daß von ihm verlangt wird, daß er das Bild von Paris und Helena heraufbeschwören soll, das Bild von Helena, der schönsten Frau. Faust bekommt selbst den Drang, Helena zu schauen; und man begreift es nach Goe­thes Schilderung, daß er selbst diesen Drang bekommt.

Mephistopheles, was ist er für eine Gestalt? Er stellt sich neben Faust hin als das Geistwesen, das den Menschen hal­ten will an der rein äußerlich-sinnlichen Welt, an dem natürlichen Dasein. Mephistopheles ist durchaus ein Geistes-wesen, aber er ist dasjenige Wesen, das für den Men­schen und vor dem Menschen die geistige Welt verneint. Von Mephistopheles muß Faust verlangen, er solle es ihm möglich machen, in diejenigen Gebiete des Daseins vor­zudringen, wo das Ewig-Seelische der Helena waltet. Me­phistopheles kann dem Faust nur den Schlüssel zu dieser Welt geben; denn es ist die Welt der Mütter, der urewigen Kräfte des geistigen Daseins, jener Welt, worin die ewigen seelisch-geistigen Mächte walten. Und jetzt entspinnt sich im zweiten Teil des «Faust» ein Gespräch, bei dem sich gegen­überstehen die wirklich geisteswissenschaftliche Gesinnung des Faust, und die Ablehnung dieser Gesinnung in Me­phistopheles, der jene Welt, in die Faust eindringen will, als ein Nichts hinstellt. - Aber Faust entgegnet ihm: «In deinem Nichts hoff' ich das All zu finden!» Es ist auch für Mephistopheles die Welt, in die Faust dringen will, ein Nichts. - Faust trifft in dem Reiche der Mütter die Ur­gestalt, das heißt das Ewige der Helena. Er bringt es her­auf. Unreif ist er, sich dem gegenüberzustellen. Ich will nicht alles berühren, was sich noch abspielt, sondern nur dies eine: Faust ist nicht so geläutert, wie in solchem Streben

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die Kräfte geläutert sein müssen bei einem, der dem Geistigen wirklich gegenüberstehen will. Wie einer sinn­lichen Erscheinung nähert er sich der Helena, und die Folge ist, daß er paralysiert wird durch Helena. Sein Bewußtsein wird ihm entrissen durch sein übersprudelndes Leiden­schaftsleben. In der Paralyse entspringt sein Traum, der ihn hinführt in das Reich, wo Helena gelebt hat.

Nun entstand für Goethe die große Frage: Wie kann das Leben des Faust dichterisch weitergeführt werden? Goethe war kein symbolischer Dichter; sondern er war ein realisti­scher Dichter, wenn auch ein geistig realistischer. Und es entstand in ihm die Frage: Faust muß der Helena gegen­überstehen können als Mensch, das heißt wie sie als Mensch lebte; sie muß also heruntersteigen in das Reich der Men­schen, sie muß sich verkörpern, und Faust muß der Helena als Mensch gegenübertreten können: wie ist das zu machen, im geistig-realistischen Sinne zu machen?

Da gedachte er jenes Studiums, das er früher gepflogen hatte; denn in den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts schrieb er diese Szene. Aber das, was er in seiner Jugend an geistiger Wissenschaft studiert hatte, wirkte sich immer mehr und mehr aus. Daher ist der zweite Teil dieser Dichtung um so viel reifer, was ja allerdings bewirkt hat, daß manche Geister diesen zweiten Teil als ein jämmerliches Produkt des altgewordenen Goethe hin-gestellt haben, weil sie damit nichts anfangen konnten. Es war also für Goethe die Frage: Wie kann ich meine geistes-wissenschaftlichen Studien verwerten, um Faust dahin zu bringen, wo das Geistige der Helena zu suchen ist? Da erinnerte er sich an das, was er bei Paracelsus gelesen hatte in dessem Werke «De generatione rerum»: an den «Ho­munkulus». Paracelsus gibt darin an, wie ein Bild eines rein natürlichen Menschen in dem vorgeschilderten Zustande

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hergestellt werden kann, so daß ihn der Mensch wirklich sehen kann. - Es würde zu weit führen, auf das einzugehen, was Paracelsus darstellt, schon deshalb, weil uns die Ausführungen des Paracelsus heute ganz und gar nicht genügen. Ich will also mehr im Stile der heutigen Geisteswissenschaft auf die Sache eingehen, und nicht auf das, was Paracelsus dargestellt hat. - Er redet davon, daß man verschiedene Stoffe zusammenmischen und sie be­handeln kann nach der Methode der damaligen Zeit. Wenn man darauf eingeht, wie die Menschen zu Paracelsus' Zeit in dieser Beziehung dachten, so kam es nicht so sehr darauf an, wie die Stoffe sich mischten, wie sie sich zersetzten und neue Verbindungen eingingen, sondern darauf kam es an, daß der Mensch davor stand und die Sache auf seine Seele wirken ließ. Und die Wirkung dieser Vorgänge rief etwas hervor in der menschlichen Seele; das bewirkte nun ein heute durch andere Mittel herzustellendes Hellsehen. Da wurde dann jene Gestalt geschaut, die Paracelsus schildert, die wirklich ein Paradigma des Menschen ist, ein Mensch­lein, aber nur leuchtend, ohne Körper, nicht verkörperlicht. Das Wesentliche im Sinne der heutigen Geisteswissenschaft ist es, daß durch jene Mischungen und Beräucherungen jener Bewußtseinszustand hergestellt wurde, in dem der Homun­kulus sichtbar wurde, der die Bedeutung hatte, von der ich gesprochen habe.

So sagte sich Goethe, an das anknüpfend, was er bei Paracelsus gelesen hatte: Dieser Homunkulus ist ja ein Wesen, das zwischen Übersinnlichem und Sinnlichem drin­nen steht, und zwar in der Weise, daß es den Menschen aus dem Urewigen heruntertragen kann in die physisch-sinnliche Welt, das in dem Menschen wirkt als Kraft, aber nicht selber verkörpert ist. Und Goethe formte den Ho­munkulus zu einer dichterischen Gestalt. Und zwar stellte

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er nun zunächst einen Geist hin von solcher Art, von der man im Sinne des Faust sagen kann: sie suchen gierig nach Schätzen und sind froh, wenn sie Regenwürmer finden. Einen solchen Geist stellt Goethe in dem Wagner hin, eine Gestalt, die wirklich ein Ideal der heutigen Weltanschau­ungsmenschen ist, die nach Schätzen suchen und froh sind, wenn sie die Gesetze der Regenwürmer finden.

Nach zwei Seiten hin ergab sich für Goethe das Bild des Wagner. Denn erstens gibt es neben einem «Faust»-Buch auch ein «Wagner»-Buch; und dann gab es wirklich einen merkwürdigen Mann zur Zeit Goethes: Johann Jakob Wagner hieß er. Der sagte, daß man wirklich, wenn man nach bestimmten Methoden Stoffe und so weiter in der Re­torte zusammenmische, ein Menschlein bekomme. Aus die­sen zwei Wagner-Gestalten, aus der des Wagner-Buches und aus dem Johann Jakob Wagner, schmolz Goethe eine Figur, den Wagner der Dichtung zusammen. Und so ent­stand die Gestalt jenes Wagner, der vor seiner Retorte steht und die Stoffe zusammenmischt und nun wartet, bis das «artige Menschlein», der Homunkulus, entsteht. Er würde nicht entstehen, so ohne weiteres. Weder in der Re­torte des Johann Jakob Wagner noch in der des Goethe­schen Wagner würde das entstehen, was ein Mensch ist, oder was mancher modern sich glaubende Wissenschaftler als den Menschen denkt, wenn sich nicht in die Vorgänge Mephistopheles einschleichen würde, wenn nicht die geistige Kraft des Mephistopheles im Hintergrunde wirkte. Und so entsteht in der Retorte des Wagner ein rein geistiges Wesen, leuchtend, das aber nun wünscht verkörpert zu werden, dem es nicht an geistigen Eigenschaften fehlt, wohl aber an greifbar Tüchtigem - ein Wesen, das die materialistische Weltanschauung als den Menschen ansieht:

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Ihm fehlt es nicht an geistigen Eigenschaften,

Doch gar zu sehr am greiflich Tüchtighaften.

Bis jetzt gibt ihm das Glas allein Gewicht,

Doch wär' er gern zunächst verkörperlicht.

Homunkulus möchte sich auch verkörperlichen, aber er ist ein bloß im Geistigen lebendes Wesen. Denn die, welche das «Wirkliche» suchen, stellen ein arges Abstraktum hin. Aber Wagner kann ja nichts anderes glauben, als daß er im Wirklichen die Überzeugung bewirkt habe. Und so steht er vor der Retorte und glaubt:

Es wird! die Masse regt sich klarer!

Die Überzeugung wahrer, wahrer!

Diese Stelle versteht man allerdings heute noch in der Faust-Literatur so wenig, daß die Menschen glauben, es handele sich um eine «Überzeugung», wie um ein Bekennt­nis. Goethe meint es aber, wie es auch im Sinne von Nietz­sches «Übermensch» gemeint ist, als Überzeugung.

Dieser Homunkulus erweist sich nun wirklich als ein Wesen, welches der geistigen Welt angehört. Denn gleich macht er sich in einer sonderbaren Weise über den Faust selber her. Faust lebt in Träumen an das alte Griechenland. Homunkulus ist ein Hellseher; er sieht alles, was Faust träumt. Warum? Weil er, wie Goethe ihn darstellt, vor­gestellt ist in der geistigen Welt, nicht herausgeboren aus der physischen Welt. Der Mensch hat ihn als Kräfte in sich. Da verliert der Homunkulus seine Abstraktion. Man wird sogar den Monisten zugeben, daß dieses Abstraktum, wenn sie es wirklich sehen würden in der geistigen Welt, wo es Realität hat, dort sogar hellseherisch wäre. Denn der Ho­munkulus, der Mensch, wie ihn zum Beispiel Ludwig Büch­ner und andere ausgedacht haben, existiert als geistiges

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Wesen und ist in der geistigen Welt ein hellsehendes Wesen. Das würde ja allerdings ein Mensch wie Ludwig Büchner nicht vermuten. Daher kann tatsächlich Homunkulus der Führer werden in die Gebiete, wo sich Helena wiederver­körpern soll in einem neuen Erdengebiete, wo sie vor Faust auftreten soll. Aber dazu muß sich Homunkulus erst die Kräfte aneignen, die in der physischen Natur liegen, von allem übrigen abgesehen.

Homunkulus wird als ein heilseherisches Wesen für Faust der Führer in der «klassischen Walpurgisnacht». Und dort läßt er sich Rat geben von den alten Philosophen, von Thales und Anaxagoras, und auch von Proteus, wie er, der gar so gern verkörperlicht wäre, dem es «nicht an gei­stigen Eigenschaften» fehlt, dafür aber um so mehr am «greiflich Tüchtighaften», zu einem natürlichen Dasein kommen könnte. Wenn doch einmal die Materialisten oder Monisten sich klar machen wollten: wie kann das, was wir uns ausphantasieren, zu einem natürlichen Dasein kom­men?! Proteus gibt dem Homunkulus den Rat, sich durch alle Reiche der Natur durchzuentwickeln. Wunderbar ist bei Goethe der Hinweis darauf, wo es sich um das Durch­gehen durch das Pflanzenreich handelt; da sagt Homun­kulus:

Es grunelt so, und mir behagt der Duft! «Gruneln», was vom «Grünen» hergeleitet ist, um das wirksame frische Leben der im Wirkenden empfundenen Pflanzenwelt dar­zustellen. Aber eines wird dem Homunkulus gesagt: daß er auf diesem Wege nur bis zu dem Zeitpunkt kommen kann, wo es bis zu dem Mensch-Werden geht. Er ist der Vermittler zwischen dem Körperlichen und dem Ewigen. Wo es zur Geburt geht, da muß er sich in die natürlichen Kräfte hineinstürzen, muß in den bloß kosmischen Elemen­ten aufgehen. Daher wird dem Homunkulus gesagt: Mache

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das alles durch, und «bis zum Menschen hast zu Zeit». Und dann wird ihm bedeutet:

Nur strebe nicht nach höhern Orten:

Denn bist du erst ein Mensch geworden,

Dann ist es völlig aus mit dir.

Wie wunderbar stimmt das mit dem, was Homunkulus als Mission beim Menschwerden hat; denn wenn er erst Mensch geworden ist, geht er völlig auf in die Menschennatur. Daher wird ihm gesagt: Bleibe hier, strebe nicht nach höhern Orten. - «Orten» muß es hier heißen. Der Abschreiber hat nämlich da einen Fehler gemacht. Dieser Teil des «Faust» ist nur in der Abschrift vorhanden, und da Goethe mit frankfurterischem Anklang gesprochen hat, so hat der Schreiber statt «Orten» - «Orden» verstanden, und die modernen Faust-Kommentatoren haben geglaubt, daß so­gar schon der alte Proteus von «Orden» gesprochen hat, eine der unglücklichsten Ideen, die sich in die Faust-Lite­ratur eingeschlichen hat.

Großartig wird gerade das Aufgehen des Homunkulus in die Elemente geschildert, wo die Helena entstehen soll, wo sie dadurch vor Faust hintreten soll, daß sich ihr Ewiges vereinigt mit den Kräften, die von den Elementen kommen, so daß sie dadurch in das Erdendasein eintreten kann. Die Sirenen sagen:

Welch feuriges Wunder verklärt uns die Wellen,

Die gegeneinander sich funkelnd zerschellen?

So leuchtet's und schwanket und hellet hinan:

Die Körper, sie glühen auf nächtlicher Bahn,

Und rings ist alles vom Feuer umronnen;

So herrsche denn Eros, der alles begonnen!

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Das heißt: wenn der Mensch aus dem ewig Geistigen durch das, was auf Erden die Liebe, Eros, genannt wird, in das irdische Dasein tritt, so zeigt sich für das hellseheri­sche Anschauen dieses Aufgehen in Wellen, in Wogen. «Wogen» sind geistig gemeint. Daher heißt es also:

Heil dem Meere! Heil den Wogen!

Von dem heiligen Feuer umzogen;

Heil dem Wasser! Heil dem Feuer!

Heil dem seltenen Abenteuer!

Heil den mildgewognen Lüften!

Heil geheimnisreichen Grüften!

Hochgefeiert seid allhier

Element' ihr alle vier!

Das heißt, der Homunkulus geht wirklich jetzt als solcher in die Elemente auf, und Helena tritt nun im dritten Akt auf. Die wiederverkörperte Helena, an der Faust nicht zerschellen wird, tritt auf.

So hat Goethe in echt dichterischer Weise die Gestalt des Homunkulus zu verwenden gewußt. So ist auch in Goethes Augen Homunkulus dasjenige im Menschen, was ein rein mechanisches Dasein führt, worinnen rein mecha­nische Kräfte walten. Aber der Mensch ist dadurch das höchste Glied der Erdenschöpfung, daß diese Kräfte in dem Augenblick, wo sie in ihn eintreten, sich auflösen. Aber was der Mensch nicht in Wirklichkeit ist, das kann er in seiner Einbildung sein. Das ist ja des Menschen Freiheit, daß er sich ein Bild machen kann von seinem Ideal, und daß er, ob er zwar in sich ein ewiges Geistig-Seelisches hat, das von Leben zu Leben geht und eine geistige Welt zwischen Tod und neuer Geburt durchläuft, doch dieses ewige Geistig-Seelische ableugnen kann, es nicht zu berücksichtigen braucht, und daß er sich vorstellen kann: ich bin nur ein Wesen, das

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aus rein natürlichen Stoffen und Kräften besteht. Dann kann er auch in einer entsprechenden Weise leben.

In einer Zeit, die theoretisch den Materialismus hervor­bringt, die theoretisch in der gekennzeichneten Weise denkt, ist es nicht unbedenklich, daß sie in ihrem ganzen Lebens­gebaren, in ihrer ganzen Lebenshaltung etwas hat, was das Ewig-Geistige ableugnet und gerade das zum natürlichen Menschen macht, was wir jetzt als Homunkulus kennen­gelernt haben. Es muß ein gewisser Drang, ein Trieb da sein, die Homunkulus-Kräfte besonders zu entwickeln; dann wird man Geschmack haben an einer Weltanschauung, die den Homunkulus als den Menschen hinstellt.

Es war zu Anfang der sechziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts; da kam ein sonderbarer Schlagruf durch die Seelenkunde. Von der Seelenkunde hat man immer ge­glaubt, daß die Menschen in bezug auf die Seele in das Homunkeltum nicht so weit hineinkommen würden, daß sie von der Seele nichts wissen wollten und nur das rein Körperliche anerkennen wollten. Doch da entstand der Schlagruf «Seelenkunde ohne Seele» - bis zu Wundt hin. Das heißt also: man will die bloßen Erscheinungen des Seelenlebens, Wohlwollen, Freude, Trauer und so weiter, bis in die Einzelheiten studieren. Das sind eben «Vorkomm­nisse», sagt man sich; aber an die Seele selbst wendet man sich nicht. - Es liegt selbstverständlich in der Natur des Homunkulismus, die Seele abzuleugnen; denn sieht man in dem Homunkulus den wahren Menschen, so muß man die Seele ableugnen, denn der Homunkulismus läßt sich mit der Seele nicht vereinbaren. Eine Zeit, in welcher für die Psychologie der Schlagruf «Psychologie ohne Seele» hat entstehen können, muß selbstverständlich als einen gehei­men Trieb des Menschenlebens das Homunkeltum dar­stellen. Eine Zeit, in welcher es heißt: der Mensch ist nur

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das, was mit den gewöhnlichen, an das Nervensystem ge­bundenen Kräften zu erkennen ist, eine solche Zeit wird in der Mehrzahl ihrer Menschen auch homunkelhafte Züge zeigen.

Da kann dann in einem Dichter der Gedanke entstehen:

Wie wäre es denn, wenn ich der Zeit den Spiegel vorhalte und ihr zeige: du stellst dir vor, was aus dir herauskommen würde, wenn du glaubtest, wirklich nur aus rein natürlichen Kräften und Gesetzen zu entstehen. Nehmen wir einmal einen Dichter, der den Schlagruf «Psychologie ohne Seele» ernst nimmt und sich sagt: Nicht nur haben die Menschen dies gesagt, sondern sie leben auch darnach. Ich will einmal einen Menschen hinstellen, der richtig nach dem Bilde ge­dacht ist, wie sie sich ihn denken. Sie wissen nur nicht, daß er so ist, wie er wirkt. Aber ich will einmal konsequent ausdenken, was aus dem Bilde des modernen Materialisten oder Monisten werden würde.

Solche Gedanken wirkten in Robert Hamerling, und auf seinem Krankenlager hat er diese Gedanken ausgeführt und das Bild des «Homunkulus» in die Welt hinaus-geschickt. Mir kommt vor, diese Dichtung ist heute wenig bekannt, obwohl sie in den ersten fünf Monaten nach ihrem Erscheinen in fünftausend Exemplaren abgesetzt worden ist. Dies ist aber auch etwas, was im Sinne des Homun­kulismus - will sagen: im Sinne unserer heutigen Zeit ge­legen ist. - Hamerling hat den «Homunkulus» so geschaf­fen, wie ich versuchen will, ihn jetzt in ganz wenigen Worten darzustellen. Ich darf ihn so darstellen. Wie ich bei Goethe nun nach mehr als dreißigjährigem Goethe­Studium dazu gekommen bin, das, was ich über Goethe sage, für richtig halten zu müssen, so darf ich das auch in Hinsicht auf Hamerling. Denn kurz nachdem der «Ho­munkulus» von Hamerling erschienen war, schrieb ich eine

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Abhandlung über den «Homunkulus», und Hamerling schrieb mir noch, daß ich seine Idee voll getroffen habe.

Robert Hamerling hatte die Idee gefaßt, einmal vor den modernen Menschen hinzustellen, was in den Anschauun­gen liegt, wenn der Mensch nur aus rein natürlichen Kräften und Stoffen und nach den natürlichen Gesetzen zusammen­gesetzt gedacht wird. Daher läßt er den modernen Pro­fessor Ernst machen, einen Menschen aufzubauen gemäß den natürlichen Kräften und Gesetzen. Gewiß, der Natur­gelehrte, welcher glaubt eine Weltanschauung aus den Naturgesetzen aufzubauen, wird ja sagen: man kann es heute noch nicht, einen Menschen in dieser Weise zusammen­setzen. Der Dichter aber darf sagen: Nehmen wir an, es wäre dieser Zeitpunkt schon eingetreten, was eigentlich nach der Theorie derjenigen durchaus begründet sein kann, welche da glauben auf dem festen Boden der modernen Wissenschaft zu stehen. So also sehen wir den gelehrten Monisten bei Robert Hamerling vor der Retorte stehen, sehen ihn die Stoffe entsprechend behandeln - und auf­treten das artige Menschlein Homunkulus:

«Bravo, Doktorchen!» so rief er

Noch ein zweites Mal, indem er

Fröstelnd in ein Wämschen schlüpfte,

Welches schon für ihn bereit lag;

Und mit gnäd'ger Miene klopft' er

Auf die Achsel dem Erzeuger.

«So im Ganzen und vom reinen

Chemisch-physiolog'schen Standpunkt

Aus betrachtet, ist, mein Lieber,

Was du schufst, ein respektables,

Lobenswürdiges Stück Arbeit.

Im Detail, da wäre freilich

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Mancherlei davon zu sagen.»

Also fortfuhr der Homunkel,

Ließ dann einige gelehrte,

Schätzenswerte Winke fallen,

Sprach von Albumin sehr vieles,

Von Fibrin, von Globulin auch,

Keratin, Mucin und and'rem,

Und von regelrechter Mischung,

Und belehrte seinen Schöpfer

Und Erzeuger gründlich; wie er s

Hätte besser machen können.

So ist er denn da in der Wirklichkeit - das heißt in der Wirklichkeit des Dichters, wie er ausgedacht ist in den Köpfen so mancher materialistisch gesinnter Leute, die nach Hamerlings Anschauung aus der Gesinnung der heutigen Zeit heraus denken. Und aus dieser materialistischen Ge­sinnung, die dem «artigen Menschlein» mitgegeben wird, entsteht ja auch das, was dieses Menschlein als erste Nei­gung zeigt. Wenn man heute die Welt anschaut mit den Neigungen der «jüngsten» Leute, so begreift man schon, wie der Homunkulus zu dergleichen kommen kann:

Allgemach begann zu kritteln

Und zu nörgeln an dem Buche,

Welches er in Händen hatte,

Der Homunkel. Int'ressant war

Dies dem Doktor, er notierte

Die Bemerkung ins Notizbuch:

«Erste litterar'sche Regung

Eines Menschleins - Rezensieren.»

Nun aber will es gar nicht gehen. Denn selbstverständ­lich: der Homunkulus wächst aus den Gedanken seines

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Erzeugers, sagen wir: seines Überzeugers heraus und bringt so manches mit, was in dessen Gedanken lebte aus der ganzen Verfassung unserer Zeit heraus. Er ist nervös; die Nervosität bringt er mit. Da kann sein gelehrter Erzeuger doch nichts beginnen, und er wirft ihn deshalb noch einmal in die Retorte zurück, macht ihn noch einmal zum Menschenkeim, und läßt ihn wenigstens von mütterlicher Seite aus richtig empfangen, ausgetragen werden; so daß wir doch nicht einen ganz richtigen Homunkulus vor uns haben, sondern einen, der bloß ohne natürlichen Vater ist.

Dann macht er seine Lehrjahre durch. Selbstverständlich wird er auch zum Dichter. Er erlebt, was so manche Dichter erleben in unserer Zeit: er sucht sich seine Verleger. Es ent­spinnt sich ein artiges Verhältnis nicht nur zu seinem Ver­leger, sondern auch zu dessen Tochter, die ihm zugesprochen wird, wenn seine Gedichte die nötige Verbreitung finden. «Verbindungen» hat man selbstverständlich in der Zeit des Homunkulismus. Das Buch wird glänzend gelobt; wie kann Homunkulus es anders glauben! Aber siehe da: als das Jahr zu Ende ist, hat der Verleger nur dreizehn Exem­plare verkauft. Er entzieht ihm also die Tochter, und Ho­munkulus muß weiter seinen Lebensweg suchen. - Alle möglichen Wege schlägt er ein. So kommt er auch an einen Badeort, und dort lernt er die Sitten und Gebräuche des Homunkulismus, will sagen: die Sitten und Gebräuche des modernen Badelebens kennen. Darnach faßt er den Plan, eine Zeitung zu gründen, ein «Blatt für Alles und für Alle.» Und dazu drängen sich, weil es wenig kostet und keiner Partei angehört, «Hof- und Staats- und andere Räte, oder auch die Führer mächt'ger zahlungsfähiger Parteien», die Leiter großer Bank- und Handelsfirmen, und schreiben ihre Leitartikel und Berichte. - Ich bitte aber zu berücksichtigen:

da der «Homunkulus» Robert Hamerlings im Jahre 1887

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erschienen ist, so kann damit keine Satire gemeint sein auf etwas, was erst der heutige Tag aufgebracht hätte, auf Dinge also, die erst viel später erschienen sind. - Aber selbstverständlich ist Homunkulus damit nicht zufrieden; er strebt etwas Höheres noch an. Er verhandelt sein Blatt an ein Aktienunternehmen - das ist wieder keine Satire! -und widmet sich dann seinen weiteren Unternehmungen. Da wird er dann zum «Billionär», und lebt als solcher in einer sehr eigenartigen Weise. Ich möchte das eine betonen, daß er sich so recht hineinlebt in die Zeit des Homunkulis­mus. Was der Nicht-Homunkulismus erreichen läßt durch leblose Kräfte, wenn zum Beispiel etwas gestützt werden soll, wenn Säulen aufgestellt werden, von denen etwas ge­tragen wird: das alles gehört noch den vergangenen Zeiten an. Große Schlangen, die gezähmt werden, stehen bei Ho­munkulus in seinem Gartenpavillon und halten dessen Kuppeldach. Eichhörnchen hatte man früher abgerichtet und in Käfigen eingesperrt. Das hat Homunkulus nicht getan; er läßt sie als Automaten funktionieren. Das ist der richtige Homunkulismus. So etwas würde schon heraus­kommen, wenn manche heute schon existierende Gedanken weiterentwickelt werden.

Aber man kommt ja auch, selbst wenn man Billionär ist, nicht zu einem wirklich befriedigenden Leben. Ein «Seelen-leben» kannte ja Homunkulus nicht, denn er hatte doch keine Seele. So ist er also äußerst unbefriedigt von seinem Dasein, und deshalb stürzt er sich in den Rhein. Da rettet ihn ein Wesen, das auch keine Seele hat: die Nixe Lurley. Und Homunkulus und Lurley werden nun ein Paar. Und weil ihnen alle alten Welten nicht genügen, so wandern sie nach einem ganz neuen Gebiete aus. - Es würde noch zu schildern sein die interessante «literarische Walpurgis­nacht», die beim Hochzeitsfest der beiden, des Homunkels

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und der Lurley, gefeiert wird. Es wird da manches aus unserer Zeit getroffen. Man müßte sich nur zurückreduzie­ren auf die Zeit Hamerlings, aber man würde auch hier dasselbe sagen müssen, daß es keine Satire sein soll auf heutige Verhältnisse:

Ganz verfallen herbem Weltschmerz,

Bittrem Lebensüberdrusse,

Finsterer Melancholei,

Prometheisch-geierbissig

Lebersiechem Pessimismus,

War der Schwarm der Wasserdichter;

Fanden alles miserabel,

Nur nicht ihre eig'nen Verse.

Wohler in der Haut um vieles

War den Wein- und Bierpoeten.

Diesen war die Welt soeben

Recht, und nur an einem Übel

Krankten sie: der Wasserscheu.

Die Absinthpoeten schließlich,

Mit den Wein- und Bierpoeten

Teilten sie die Wasserscheu,

Und den Geierbiß des finster'n,

Melancholisch-überdrüss' gen,

Lebersiechen Pessimismus

Mit dem Schwarm der Wasserdichter:

Und sie waren doppelt elend.

So wird das, was als «Kunst und Literatur» waltet, recht interessant durchgenommen.

Sie wandern also aus in eine Gegend, die noch nicht an­gekränkelt ist von dem Glauben an die Seele. Der seelen-lose Mann und die seelenlose Nixe wandern aus in ein Eldorado. Es ist das ein Eldorado auch manches Parteiwesens;

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und manches, was an Parteiwesen heute waltet, ist in einer großartigen Weise geschildert. Ich will nur andeu­ten, daß Homunkulus auch hier mit der Begründung seines Musterstaates, des Eldorado, doch nicht zurecht kommt; sogar seine Lurley wird ihm abgenommen von einem Par­teimann, der herumgeht mit der Devise: «Wir lassen uns nicht majorisieren!» Aber: «er ist ein Charakter», sagt sich Lurley, und Homunkulus muß weiterziehen. Doch er ist ein erfinderischer Kopf und will nun wirklich die Dinge in ihren letzten Konsequenzen denken. Er sagt sich: Mit den Menschen ist nichts anzufangen, wenn man den Ho­munkulismus in die Realität umsetzen will; sie sind doch nicht dazu zu haben. Aber warum sollte man nicht die letzten Konsequenzen ziehen? Könnte man nicht die Affen zu Menschen heranbilden? Lehrt doch schon die moderne Wissenschaft, daß sich die Menschen aus den Affen heraus­gebildet haben. Man sammle also die besten Exemplare von ihnen zusammen und mache sie recht schnell zu Men­schen! - So faßt er also seinen Plan: er gründet ein Unter­nehmen, in welchem er die Affen zu Menschen machen will, ein ganz neues Reich. Und nun wird uns über die Affen-schule erzählt:

Über Unruh' nur beklagten

Sich der Affenschule Meister,

Denn es rissen diese edlen

Sprößlinge von den gewissen

Angewöhnungen der Rasse

Schwer sich los: von der, zum Beispiel,

Überall emporzuklettern.

Auch vergaßen sie zuweilen

Sich so weit, in langen Stunden

Ernsten Unterrichts einander

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Abzufangen Ungeziefer,

Machten auch wohl gar in tollem

Schwarm sich über den Erzieher

Her, um ihm den Kopf zu lausen. -

Als gebildet nun die Affen,

Machten Konkurrenz den Menschen

Sie auf jeglichem Gebiete.

Zu den schönen Künsten waren

Trefflich sie durch angebor'nes

Nachahmungstalent befähigt.

Ohnegleichen - selbstverständlich -

Waren sie als Bühnenkünstler,

Unternahmen Gastspielreisen

Mit dem glänzendsten Erfolge.

Posse, Lustspiel, Operette,

Parodie - war ihr Gebiet.

Kabinetts- und Meisterstücke

Drastischer und feinster Komik,

Wie man nie sie schaute, waren

Die Gesichter, die sie schnitten.

Weitberühmte Liedertafeln

Hatten sie - Brüllaffen waren

Die Solisten, und sie schlugen

Hie und da bei Preiswettsingen

Menschliche Gesangvereine.

Paviane, faunisch grinsend,

Bildeten sich aus zu Stutzern,

Eleganten Pflastertretern,

Gaben auch auf Bällen flotte

Tänzer ab, und das galante

Wesen, das sie kecklich zeigten

Bei den Frauen, war zum Teile

Sehr nach dem Geschmack der letzter'n.

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Was die Affenfrauen anlangt,

Taten sie den Menschenfrauen

Bald es gleich und bald zuvor auch

In der Kunst des Kokettierens.

Immer modisch sich zu kleiden,

Wer verstünde solches besser

Als ein Affe? Sie verstanden

Sich mit Zierat zu behängen

Und mit Quasten, Bändern, Schleifen...

und so weiter. Aber trotzdem es so weit ging, ließ sich doch nicht aus «Affentum plus Bildung», meint Hamerling, ein Mensch machen. Die Affen beriefen sich zwar auf so man­chen «Affenahnherrn», aber sie brachten es doch nur in einer menschlichen «Tugend» zu einer Menschenähnlich­keit: in der Tugend der Überzeugung. Sie erklärten bald, daß es eigentlich sehr minderwertig sei, Mensch zu sein; denn nicht einmal «Affen» seien sie geworden, diese Men­schen. Das führte bald dazu, daß der, wie es heißt, zum Affen-Rektor gewählte Affe «Doktor Krallfratz» Homun­kulus' Stelle einnahm. So war denn dieser durch den Dok­tor Krallfratz verdrängt. Aber damit war doch für die Affen wenig Glück zu machen. Die Menschen wurden zwar nicht fertig mit diesen zu Menschen gewordenen Affen; aber in wilden Gegenden wurden die dort noch im Ur­zustande lebenden Menschen mit ihnen fertig: da erschlug man einfach die zu Menschen gewordenen Affen.

Nun kommt ein Kapitel, welches Hamerling sehr übel genommen worden ist - Hamerling wollte nicht unter die Antisemiten gehen; er hat sich streng dagegen verwahrt -wo er im achten Gesang Homunkulus auch zum Führer der nach Palästina auswandernden Juden machte, die es hier unter den heutigen Zeitverhältnissen nicht mehr aushalten.

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Man sollte glauben, daß dies in einer Zeit, welche die Be­strebungen des Zionismus kennt, nicht als etwas besonders Auffälliges gelten sollte. Wichtig ist aber, was sich nun für Homunkulus daraus ergibt: er wird von den Juden ge­kreuzigt, weil sie es nicht ertragen, mit ihm zusammen zu sein. Und besucht wird er, als er, allein, ans Kreuz ge­bunden dahängt, nur von Ahasver, dem ewigen Juden. Durch ihn wird er dann von seinen Banden erlöst, und so müssen sie nun zusammen weiterwandern, Homunkulus und Ahasver.

Homunkulus hat zwar das, was er glaubt aus der mo­dernen Wissenschaft gewonnen zu haben, bis zu den letzten Konsequenzen gedacht. Aber, und auch das soll vorkommen bei Leuten, die sich mit Weltanschauungsfragen beschäfti­gen, er hat sich nicht eigentlich so recht mit der wirklichen Wissenschaft befaßt. Jetzt beginnt er, sich mit wissenschaft­lichen Problemen zu beschäftigen. Da gelingt es ihm in der Tat einen Versuch zu machen: einen großen Teil der Menschheit für eine Idee zu gewinnen, die zuerst aufgetre­ten ist beim Philosophen des Unbewußten aus dem Pessi­mismus heraus, der in gewissem Sinne auch ein Homunku­lismus ist: aus Eduard von Hartmanns pessimistischer Philosophie heraus. Es wissen ja heute nicht mehr sehr viele, was der Pessimismus den Menschen zu verkünden hat: Oh, die Welt ist schlecht, so schlecht wie möglich, und am besten ist es, aus dieser schlechten Welt wieder heraus­zukommen. Dazu ist notwendig, daß man sich klar ist:

durch den Willen ist die Welt entstanden, und wenn alle Menschen den Willensentschluß fassen, das Dasein auf­zuheben, so wird durch die Einheit aller Willensentschlüsse wieder die Welt und das Leben aufgehoben. Eduard von Hartmann beschreibt es ausführlich, wie es möglich wäre, die Menschheit aus der Welt zu schaffen durch einen einigen

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Willen. - Homunkulus gründet unter diesem Gesichts­punkte eine Gesellschaft, nicht nur von Menschen, auch von Tieren. Es werden Kongresse abgehalten, Reden ge­halten und so weiter. Zum Schlusse kommt es wirklich dahin, daß der Zeitpunkt festgesetzt wird, an welchem bei allen Menschen zugleich der Entschluß gefaßt werden soll:

«Jetzt willst du nicht mehr sein!» Und selbst die Erde soll dabei zugrunde gehen. Alle sind sich einig; der Tag, die Stunde kommt heran, aber, nur die Sonne hält es auf. Was war geschehen? Homunkulus und Lurley hatten sich ein Kind gewünscht, konnten es aber in Eldorado nicht bekom­men. Daher nahmen sie von den dort lebenden Urmenschen zwei Kinder an: Eldo und Dora wurden sie genannt. Aber diese beiden konnten sich nicht hineinfinden in das Homun­keltum. Und jetzt, als an dem festgesetzten Tag alle Men­schen zur Ausführung des Entschlusses zusammenkommen, und Eldo und Dora nach langer Trennung sich wieder­sehen, da verlieben sie sich, aber, sie kommen dadurch zu spät. Sie fehlten an der ganzen Menschheit bei der Willens-vereinigung, und alle Anstrengungen waren umsonst. Und Homunkulus selbst hat die herangezogen, die seinen Ent­schluß zunichte machen! Oh, der Homunkulismus wird schon auf die mannigfaltigste Weise aus sich selbst heraus die «Eldo und Dora» erzeugen, die zu spät kommen wer­den, wenn der Homunkulismus die letzten Konsequenzen ziehen will! Dann wird die Sonne des Geisteslebens, der geistigen Wissenschaft aufgehen!

Aber etwas muß aus seiner Wissenschaft heraus Homun­kulus zuletzt erreichen. Er baut, nachdem er alle Natur­kräfte durchforscht hat, ein Riesenfernrohr, durch das er in die weitesten Gebiete der Welt sehen kann, das alles ins Riesenhafte vergrößert, wodurch die moderne Weltanschau­ung groß geworden. Und neben diesem Riesenfernrohr

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konstruiert er ein Riesenhörrohr und ein Riesenriechrohr; und er baut außerdem, ja, was alles noch, was aus den mechanischen Kräften heraus gewonnen werden kann! Aus diesen mechanischen Kräften im allermodernsten Stile etwas zu bauen, unternimmt er: er baut ein Riesenluftschiff. Ich bemerke noch einmal: im Jahre 1887 ist die Geschichte des lenkbaren Luftschiffes durch Robert Hamerling in seinem Homunkulus geschrieben! Und auf diesem lenkbaren Luft-schiff begibt sich Homunkulus aus der Erdensphäre heraus. Und er kann auf seinem Luftschiff schneller dahinsausen, als das Licht geht. Aber zufrieden ist er nicht mit dem, was er alles kann: er kann auf seinem Luftschiff im Welten­raum herumfahren, kann hinaussehen mit seinem Riesen­fernrohr in die Welt der Sterne, kann hinaushören mit seinem Riesenhörrohr auf die Erde, und er spricht durch ein Riesensprachrohr herunter zu den Menschen, und saust so herum. Da kommt er auf seiner Fahrt in eine Gewitter­wolke, es schlägt der Blitz in sein Luftschiff ein, die Ruder, die Motore kann er nicht vernichten, aber die Steuerkraft vernichtet er! So ist Homunkulus jetzt mit seinem Luft-fahrzeug den Elementarkräften übergeben. Nur eines kann er noch mitnehmen: Als er einmal noch an die Erde heran­kommt, entdeckt er den Leichnam der Lurley und führte sie auch auf seinem lenkbaren Riesenluftschiff mit. - So kann Hamerling sein Epos mit den Worten schließen:

Wem nicht die Natur, die heil'ge,

Die geheimnisvolle Mutter,

Gab das Leben durch die Liebe,

Gab das Leben in der Liebe,

Dem verweigert auch den Tod sie,

Und den schönsten Tod vor allem,

Das Ersterben in der Liebe -

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Und kein Grab der sel'gen Ruhe,

Keine Stätte ew'gen Friedens

Hat für ihn das weite Weltall.

Wer vermag zu sagen, wo

Und wie lang' mit dem Homunkel

Und der Nixe, die gesellt ihm,

Das verkohlte Riesenluftschiff

In der ehernen Gesetze,

In des Stoffs, der Kräfte Wirbel

Auf den schrankenlosen Bahnen

Jagt das waltende Verhängnis?

Sonntagskinder noch erblicken

Manchesmal in Sternennächten

Jenes Wrack als dunklen Irrstern

Hoch in unermess'ner Ferne,

Und das Schicksal ahnen schaudernd

Sie des ewig Ruhelosen.

So hat Hamerling auf seine Art gezeigt, daß das, was der Homunkulismus ausdenkt, nicht der Welt angehören kann, in der die menschliche Seele, die von Leben zu Leben waltet, lebt, sondern nur den rein mechanischen Kräften. Und fortgerissen von den mechanischen Naturkräften wird der Hamerlingsche Homunkulus Für den Dichter durfte sich diese Idee in der Tat hinstellen, die Idee: daß der moderne Mensch, der sich sein rein natürliches Menschheits-ideal ausbildet, eigentlich nur das in sich anschaut, was in Wirklichkeit eine Abstraktion, ein Unwirkliches ist und den rein natürlichen Elementen angehört. Das meint auch Hamerling, wie es Goethe gesagt hat, wo sich der Homun­kulus in die Elemente auflöst:

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Heil den mildgewognen Lüften!

Heil geheimnisreichen Grüften!

Hochgefeiert seid allhier,

Element' ihr alle vier!

Während aber der Goethesche Homunkulus seine Kräfte beisteuert zur Menschwerdung der Helena, muß der Ho­munkulus Hamerlings als ein seelenloses Wesen, als der Repräsentant desjenigen Menschheitsideales, das die Seele leugnet, aufgehen in die Elemente des Kosmos.

Man darf schon sagen: Hamerling hatte die Absicht - ob er es erreicht hat oder nicht, das zu beurteilen überlasse ich andern - jener modernen Gesinnung, die vom Geiste nichts wissen will und sich ein vom Geiste entblößtes Mensch­heitsideal hinzaubert, das Spiegelbild vorzuhalten. Ob das Spiegelbild auch erkannt wird, ist eine andere Frage. Aber es ist ja etwas, was in der physischen Natur nicht wirklich ist, was also mit Recht diejenigen leugnen können, die es gerade aufstellen. Merkwürdiges Verhängnis! Goethe löst ein wenig das Rätsel. Er erinnert an das andere Wort:

«Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie beim Kragen hätte.» Der Wagner, der in seiner Retorte den Ho­munkulus erzeugt, merkt auch nicht den, der ihn eigentlich erzeugt: den Teufel. Denn Mephistopheles ist es, der die geistigen Kräfte hineinbringt. Von dem «Vater aller Hin­dernisse» ist es eingegeben, was ein Produkt der modernen Wissenschaft ist, was der Materialismus als den modernen Menschen hinstellen will.

Ein drittes Mal noch habe ich vom Homunkulus gelesen. Ich sage es mit verschämtem Zagen, will aber doch vor einer Bemerkung nicht zurückschrecken, die sich mir schon einmal aufgedrängt hat. Ich las ein Buch des gelehrten Nationalökonomen Werner Sombart, das den modernen

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Wirtschaftsmenschen schildert. Lesen Sie das Schlußkapitel über den Bourgeois; es ist sehr interessant geschrieben; und zuletzt tritt heraus der moderne Wirtschaftsmensch, der erfaßt wird von den Kräften, die im modernen Wirtschafts­leben walten, der wie mit Fangarmen von ihnen erfaßt wird, der von Unternehmen zu Unternehmen getrieben wird. Das Letzte, sagt Sombart, hat er noch verloren: die Religion. «Religion ist zum Geschäft geworden.» Da steckt der moderne Mensch, man merkt ihn förmlich, in der Som­bartschen Menschheit drinnen. Wer etwas davon weiß, wird sagen müssen: Ist er denn nicht da? schildern ihn nicht die Nationalökonomen?!

So geht aus allem hervor, wie durch die lebendige Er­fassung des geistigen Lebens der Homunkulismus über­wunden werden soll. Wie der Homunkulismus vieles nicht sehen kann, so sieht er auch nicht, wozu ihn seine eigenen Kräfte führen. Die Dichter versuchten es darzustellen, und die Geisteswissenschaft fühlt sich durchaus im Einklange mit solchen Poeten, die aus ihrer Ahnung heraus das er-fühlten, was die Geisteswissenschaft neu begründen muß. Was die Geisteswissenschaft dem Menschen als Lebensgut sein kann, wie sie ihn ergreifen kann, wie sie seine Seele erfassen kann, wie sie der einzig wahre, der einzig echte Überwinder alles Homunkulismus ist, das soll im nächsten Vortrage dargestellt werden. Heute wollte ich eben zur Anschauung bringen, wie das, was in den Verhältnissen der Gegenwart als Homunkulismus in mancherlei Strö­mungen unserer Zeit waltet, durchaus auch von Geistern, die mit offenen Augen und offenen Sinnen geschaut haben, erkannt worden ist.

Ich glaube, man wird Hamerling verstehen auf dem Boden der Geisteswissenschaft; man wird gerade die letzten Worte, die ich mir schon anzuführen erlaubte, verstehen:

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Wer vermag zu sagen, wo

Und wie lang' mit dem Homunkel

Und der Nixe, die gesellt ihm,

Das verkohlte Riesenluftschiff

In der ehernen Gesetze,

In des Stoffs, der Kräfte Wirbel

Auf den schrankenlosen Bahnen

Jagt das waltende Verhängnis?

Sonntagskinder noch erblicken

Manchesmal in Sternennächten

Jenes Wrack als dunklen Irrstern

Hoch in unermess'ner Ferne,

Und das Schicksal ahnen schaudernd

Sie des ewig Ruhelosen.

Aber vielleicht darf man auch diesem Ausspruch gegen­über ein recht weit bekanntes Wort zur Geltung bringen:

Warum mit dem Auge des Sonntagskindes in die Weiten des Weltalls blicken, um das Wrack des Riesenluftschiffes aufzusuchen? Der «Munkel» liegt so nahe, es kann ihn Sombart sogar schildern! Er liegt dem modernen Menschen ganz nahe, und zu hoffen ist nur, daß recht viele ahnende und sehende Seelen in dieser Beziehung durch die Geistes­wissenschaft ein wenig Sonntagskinder werden, daß sie den ganz nahen, man möchte sagen, in unsere Zeitbildung ein­gebetteten Homunkulismus, das Wrack einer nur mit na­türlichen Kräften genährten Weltanschauung, sehen. Und immer mehr und mehr solcher Sonntagskinder, durch die Geisteswissenschaft zu Sonntagskindern gewordene Men­schen, wird es geben. Und was auch, der Ausdruck sei mir verziehen, der Homunkulismus gegen die Geisteswissen­schaft wird vorbringen können: die Geisteswissenschaft wird der Menschheit das geben, was sie, wenn sie sich immer

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besser und besser verstehen lernen wird, doch nicht ent­behren kann, wonach sie lechzen und worauf sie hoffen muß: die Seele, und mit der Seele das geistige Leben, wo­nach heute schon viele verlangen. Daher braucht man um die Zukunft der Geisteswissenschaft nicht besorgt sein.

Von dieser Unbesorgtheit und von der Hoffnung der Geisteswissenschaft für die Zukunft soll im letzten dieser Wintervorträge gesprochen werden.

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GEISTESWISSENSCHAFT ALS LEBENSGUT Berlin, 23. April 1914

Mit einer Betrachtung über die Bedeutung der Geistes­wissenschaft für das menschliche Leben möchte ich die Vor­tragsreihe dieses Winters am heutigen Abend beschließen.

Es war ja während dieser Vortragsreihe des öfteren dar­auf hingewiesen worden, daß die Geisteswissenschaft nicht bloß eine Theorie über die Welt sein will, die man annimmt oder ablehnt wie andere Theorien, sondern daß die Geistes­wissenschaft hofft ein wirkliches neues Lebenselement sein zu können, etwas, das eindringen kann in den ganzen Menschen, in die Verfassung des ganzen Menschen, in die, man möchte sagen, «Weltenstimmung» des ganzen Men­schen, und daß der Mensch durch solches Durchdringen mit Geisteswissenschaft an ihr ein wirkliches Lebensgut hat. Was in dieser Beziehung schon an den entsprechenden Stel­len der einzelnen Vorträge angedeutet worden ist, es soll heute nicht nur zusammengefaßt, sondern etwas ausführ­licher beleuchtet werden.

Im Verlaufe der Vorträge dieses Winters ist ja gerade darauf immer wieder und wieder hingewiesen worden, wie Geistesforschung auf etwas ganz anderem beruht als jeg­liche andere Forschung, besonders jegliche andere Forschung in unserer Zeit. Erwähnt wurde, daß bei jeder andern For­schung, ja überhaupt bei jeder Betätigung der menschlichen Seele im Leben es vor allem darauf ankommt, daß der Mensch seine Urteilskräfte, seine Willenskräfte, so wie er sie einmal hat, entfaltet, und daß er sie unmittelbar anwendet.

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Stehen wir dem Leben gegenüber, so sind wir ge­zwungen, an unser Urteil unmittelbar zu appellieren, um in diesem oder jenem Sinne eine Entscheidung zu treffen; und andererseits, stehen wir dem Leben so gegenüber, daß unser Wille in Anspruch genommen werden soll, so können wir nur jene Willensstärke zur Anwendung bringen, die wir entfaltet haben durch unsere normale Erziehung. Kurz, wir sind in jedem Augenblicke des gewöhnlichen Lebens, aber auch der gewöhnlichen Wissenschaft, dazu gezwungen, uns selber so hinzunehmen, wie wir nun einmal sind.

Demgegenüber steht die Geisteswissenschaft eigentlich ganz anders da. Und gerade die Tatsache, daß sie in dieser Beziehung ganz anders ist, schafft ihr ja Gegner und Wider­sacher in unserer Zeit in Hülle und Fülle. Der Geistesfor­scher kann sich nicht so nehmen, wie er ist. Bei der Schil­derung des Lebens zwischen dem Tode und einer neuen Geburt habe ich das besonders hervorgehoben. Was wir sonst im Leben unmittelbar auf die äußere Welt anwenden, was wir von unserer Urteilskraft, von unserm Willen und den sonstigen Seelenimpulsen entfalten, unmittelbar im Augenblick sozusagen entfalten und anwenden müssen auf die äußere Welt, um über diese Entscheidungen zu treffen oder auf sie zu wirken, das verwendet der Geistesforscher zunächst wie zu einer Vorbereitung für den Erkenntnis-standpunkt, den er erst nach dieser Vorbereitung gewinnen soll. Die Reife des Urteils, die Stärke des Willens werden zunächst nicht nach außen hin angewendet, nicht so, daß wir unmittelbar Entscheidungen treffen oder Willensakte in Szene setzen, sondern sie werden in einem geistigen Prozeß so angewendet, daß der Geistesforscher die innere Technik, die innere Handhabung der Urteilskräfte darauf verwendet, seine Seele vorwärts zu bringen, sie immer reifer und reifer zu machen. Und der Wille wird so geübt,

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daß eine Entwickelung der Seele zu einem andern Gesichts­punkt möglich ist, als der ist, auf dem man schon steht. Man könnte daher sagen: Was sonst unmittelbar auf die Welt angewendet wird - in der Geistesforschung wird es zur Vorbereitung angewendet für das, was nach dieser Vorbereitung erst gewonnen werden soll. Daß die Seele sich umschaffe zu einem andern Erkenntnis- und Willens-instrument, als sie zunächst ist, darauf kommt es an. Daher auch jene Stimmung, in welcher der Geistesforscher der Erkenntnis gegenüber ist, und von der ich schon in diesen Vorträgen gesprochen habe, jene Stimmung, die sich darin ausdrückt, daß er eigentlich immer das Gefühl hat: Was du sonst unmittelbar angewendet hast, um die Dinge zu beurteilen - jetzt mußt du es abziehen von der äußeren Welt, um dich selbst vorwärts zu bringen; jetzt mußt du warten, bis deine Seele reif geworden ist, um die Erkennt­nis der Wahrheit an dich herankommen zu lassen.

So wird das, was sonst gleichsam von unserer Seele nach außen strömt, zunächst auf die Arbeit an dieser Seele selbst verwendet. Dadurch aber wird über den Menschen eine Stimmung der Aktivität gebracht, eine Stimmung des inne­ren Tätigseins, nicht jene Stimmung des einfachen Hin­nehmens der Welt, des Sich-Uberlassens der Welt; und damit werden in der Seele aufgerufen die Kräfte, die man nennen könnte die neuen Tätigkeitskräfte der Seele.

Und dann haben wir anderes gesehen, wovon man sagen kann, daß es das eben Gesagte sogar noch weiter bekräftigt und erhärtet: daß alles, was zunächst an äußeren Sinnes­wahrnehmungen oder an Denken und Vorstellen, die an das Gehirn gebunden sind, dem Menschen zur Verfügung stehen, der Geistesforschung keine Erkenntniskräfte liefern kann, sondern daß die Geisteswissenschaft zunächst appel­lieren muß an die Belebung von Kräften, welche sonst in

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der Seele schlummernd bleiben. Aufmerksam habe ich ge­macht, daß die wirklich im echten wahren Sinne hellsehe­risch zu nennende Erkenntnis darauf beruht, daß in jedem Augenblick der geisteswissenschaftliche Forscher in die Vor­gänge und Dinge, die er erkennen will, selber untertauchen muß, und daß dies, was er wahrnehmen und erkennen will, sofort erlischt, wenn er nicht mit seiner ganzen tätigen Seele untertaucht. Einer äußeren Farbe oder einem äußeren Ton gibt man sich passiv hin; sie wirken auf uns. Was wir in der geistigen Welt erkennen wollen, kann nur in Tätig­keit erkannt werden. In dem Augenblick, wo wir uns in der geistigen Welt mit passiver Seele den Dingen und Wesen­heiten gegenüberstellen, würde das Erkannte erlöschen oder sich in Halluzinationen oder Illusionen verwandeln, wenn es noch da ist. Keinen Augenblick darf die Seele auf dem geistigen Felde ruhen.

Wenn wir dies bedenken, daß die Seele zu den Stufen der geistigen Erkenntnis, die ich dargestellt habe in meiner «Geheimwissenschaft» und in «Wie erlangt man Erkennt­nisse höherer Welten?» als die Stufen des imaginativen, des inspirierten und des intuitiven Erkennens, nur aufsteigen kann, indem sie fortdauernd innere Tätigkeit entfaltet, dann werden wir einsehen, daß die geisteswissenschaftliche Forschung den Menschen nur Erkenntnisse überliefern kann, die auch eine besondere Art des Verständnisses notwendig machen. Ich habe schon wiederholt darauf hingewiesen, daß man, um zu verstehen, was der Geistesforscher in den geistigen Welten erkundet, nicht selber Geistesforscher zu sein braucht, obwohl die genannten Bücher zeigen, daß in unserer Zeit bis zu einem gewissen Grade jeder ein Geistes-forscher werden kann. Denn es gibt in jeder Seele eine unmittelbare, geheime Sprache, durch die sie verstehen kann, was der Geistesforscher sagt, auch wenn sie nicht

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selbst geistesforscherisch tätig sein kann, wie man ein Bild verstehen kann, auch wenn man nicht Maler ist. Aber auch zu diesem Verständnis muß sich die Seele des Menschen der Gegenwart erst hindurchringen; denn nichts ist dem Menschen der Gegenwart näherliegend als zu sagen: Die Wahrheit muß an mich herankommen; ich muß mich passiv zu ihr verhalten, sie muß mir gegeben werden! Man fühlt sich förmlich unsicher, wenn man erst etwas tun soll, wenn man die Seele erst heranbilden soll, um die Wahrheit zu erkennen. Daher kann dem Geistesforscher sehr leicht ent­gegengehalten werden: Du stellst Wahrheitsbegriffe auf, die nicht so sind, wie die Wahrheitsbegriffe des äußeren Lebens oder der äußeren Wissenschaft; und diese Wahr­heitsbegriffe sagen: ich glaube, was mir durch die Tatsachen bekräftigt ist, was ich mir sozusagen offenbaren lasse durch die Tatsachen.

Vor vielen Jahren gestattete ich mir, diese Art, der Er­kenntnis und dem Leben gegenüberzustehen, auf der einen Seite Tatsachenfanatismus zu nennen. Auf der andern Seite steht eine gewisse Dogmatik, der man sich hingibt, eine Dogmatik der Tatsachen, die für die Seele ganz dasselbe bedeutet, wenn sie auch auf einem andern Felde liegt, als irgendeine andere Dogmatik. Man fühlt sozusagen, daß man keine innere Kraft, ich möchte sagen, keine Schwung-und Tragkraft hat, um die Wahrheit zu erfassen, um die Wahrheit in der Seele gegenwärtig sein zu lassen, wenn man sich nicht mehr am Gängelbande der äußeren Tat­sachen oder der diese Tatsachen beschreibenden äußeren Wissenschaft geführt weiß. Geisteswissenschaft macht aller­dings notwendig, weil sie über Dinge und Vorgänge zu sprechen hat, die nicht dem Felde des gewöhnlichen Lebens angehören, daß man sich durchringt zu einem Verständnis, das nicht an einem Gängelbande der äußeren Tatsachen

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hängt und das sich auch nicht einer Dogmatik der Tatsachen unterwirft, sondern das in einem inneren, seelischen Erleben das Licht der Wahrheit leuchtend erfühlt. Inneres Erfassen der lebendigen Wahrheit ist das, woran sich die moderne Seele erst gewöhnen muß. Man kann geradezu sagen: die moderne Seele ist nicht fähig, sich aufzuraffen, jene starken inneren Kräfte zu entwickeln, die notwendig sind, um sich die Wahrheit nicht diktieren zu lassen, sondern sie un­mittelbar zu erleben. Dieses Gefühl aber ist notwendig, wenn die geisteswissenschaftlichen Ergebnisse geprüft und verstanden werden sollen von den Seelen. Wenn man sich aber zu einem solchen inneren Erleben der Wahrheit durch-ringt, dann ist für jede Seele Geisteswissenschaft unmittel­bar verständlich. Denn nicht das spricht gegen die Geistes­wissenschaft, was manche gegen sie vorbringen, daß da oder dort, irgendwo auf dem Felde der Naturwissenschaft oder der Geschichtswissenschaft etwas wäre, wovon man sagen könnte: das kann doch davon überzeugen, daß die sogenannten geisteswissenschaftlichen Wahrheiten Irrtümer oder Phantastereien wären. Nichts ist im ganzen Umfange der naturwissenschaftlichen oder der geschichtswissenschaft­lichen Erkenntnis da, was nicht im vollen Einklange stände mit den Erkenntnissen der Geisteswissenschaft. Das wurde in diesen Vorträgen oft betont. Aber die, welche sich zu­nächst in das naturwissenschaftliche Denken eingewöhnen, auch in das geschichtswissenschaftliche Denken, die gewöh­nen sich gewisse Denkgewohnheiten an, saugen gleichsam Vorurteile damit ein, und diese Vorurteile sind es, die man erst überwinden muß. Nicht aus den Urteilen der Wissen­schaft heraus, sondern aus der Vorurteilshaftigkeit heraus erwächst die Gegnerschaft gegen die Geisteswissenschaft. Und wenn man bedenkt, was in den hier gehaltenen Vor­trägen gesagt worden ist: daß durch die Geisteswissenschaft

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Erkenntniskräfte geschaffen werden, die nicht wie ein passi­ves Hinschauen mit den Augen oder wie ein passives Hin­hören mit den Ohren sind, sondern wie eine innere Geste, wie ein inneres Hinhören mit der Seelenphysiognomie, was also etwas Aktives werden muß, wenn die Seele in die geistige Welt eindringen will, so wird man begreifen, daß der Geisteswissenschaft Verständnis auch nur entgegen­gebracht werden kann, wenn sich die Menschenseelen all­mählich daran gewöhnen, aus ihren Tiefen die tätigen See­lenkräfte heraufzuholen, jene Kräfte, die als freie innere Betätigungen in der Seele belebt werden müssen.

Ich habe es aus dieser Gesinnung heraus bisher geradezu vermieden, obwohl das in der Zukunft einmal bei schwie­rigen Problemen nicht wird vermieden werden können, irgendwie durch Illustrationen oder Lichtbilder diesen Vor­trägen zu Hilfe zu kommen. Die moderne Seele ist nur zu sehr geneigt, irgend etwas passiv anzuschauen. Aber was die Geisteswissenschaft zutage fördert, muß innerlich er­griffen werden, muß mitgedacht, mitgefühlt, ja oftmals mitgewollt und mitempfunden werden. Indem die Geistes­wissenschaft an das appelliert, was zwar in jeder Seele vor­handen ist, aber in den Seelen oft nur schlummert, ruft sie in der Seele für das geistige Leben selbst Kräfte auf, die, wenn sie für dieses betätigt werden, ein hohes Lebensgut dar­stellen, ein Lebensgut, welches immer mehr und mehr von den Menschenseelen gebraucht werden wird. Nur wer kurz­sichtig ist, könnte leugnen, daß dieses Menschenleben immer komplizierter und komplizierter wird, daß unsere Ent­wickelung im Erdendasein so verläuft, daß immer mehr und mehr innere Orientierungskräfte notwendig sein wer­den, um nach jeder Richtung hin mit dem Leben zurecht zu kommen. Außer den mancherlei anderen Gründen, die für das Eintreten der Geisteswissenschaft in die Gegenwartskultur

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sprechen, ist vor allen Dingen auch der geltend, daß die Menschenseelen, rein um sich äußerlich im Leben zu orientieren, diese stärkeren Kräfte werden beanspruchen müssen, je mehr wir uns in die Zukunft hineinleben. Das Leben selbst wird diese stärkeren Kräfte von den Menschen­seelen verlangen.

Wir können selbstverständlich in einer kurzen Vortrags-betrachtung nicht alles vorbringen, was die Geisteswissen­schaft - ich sage jetzt nicht Geistesforschung - an Lebens-gütern durch das lebendige Verständnis und Begreifen dessen, was die Geistesforschung zutage fördert, dem Leben zu bieten hat; wir können nur die einzelnen Kategorien im ganzen charakterisieren. Da möchte ich zunächst von dem ausgehen, was unmittelbar mit dem einzelnen Men­schen zusammenhängt.

Ich habe öfter in anderen Zusammenhängen hingewiesen auf das Wesen jenes rhythmischen Wechsels, der im mensch­lichen Leben im Verlaufe von vierundzwanzig Stunden eintritt: auf Wachen und Schlafen. Was darüber vom Standpunkte der Geisteswissenschaft aus zu sagen ist, das ist in den verschiedenen Vorträgen ja zum Teil erwähnt. Heute soll nur das gleichsam angedeudet werden, daß der Mensch in dem gewöhnlichen normalen Schlafe neben dem, was er für seine unmittelbare Seelenstimmung von diesem Schlafe hat und unmittelbar subjektiv verspüren kann, daß er außer diesem in dem Schlafe ein Gesundungsmittel ganz besonderer Art hat. Sie brauchen heute nur die äußere ärztliche Wissenschaft zu hören, so wird sie, soweit sie ver­ständig ist, durchaus der Anschauung sein, daß wir im Schlafe, in einem richtigen gesunden Schlafe, ein Heilmittel haben. Denn der Schlaf ist dasjenige, was im ganzen Men­schenwesen solche Kräfte entfaltet, die einen gewissen, täg­lich stattfindenden Kräfteverbrauch ausgleichen. Während

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das Wachleben in einer gewissen Weise, man möchte sagen, aus Erschöpfungs- und Ermüdungszuständen, aus Abarbei­tungszuständen heraus den Körper schwächt, während das gewöhnliche Wachleben aus den Quellen des Erkrankens schöpft - selbstverständlich nicht immer, aber schöpfen kann, haben wir es im Schlafe vorzugsweise mit der Ent­faltung der Gesundungskräfte zu tun. Man braucht nicht so weit zu gehen, dem Menschen einen so reichlichen Schlaf zu empfehlen, wie es ein ganz bekannter Arzt vor kurzem in Berlin getan hat; aber das bleibt bestehen: daß im Schlafe auf den Menschen gesunde Kräfte wirken, und daß jeder, der das Leben von diesem Gesichtspunkte aus durchschauen kann, sagen wird: Zu den besten Heilmitteln für manches Kranksein gehört die Herbeiführung von gesundem Schlaf. Ich kann natürlich in diesem Vortrage nicht von dieser Her­beiführung eines gesunden Schlafes sprechen. Ob die Gei­steswissenschaft etwas ganz besonderes darüber zu sagen hat, das bei anderer Gelegenheit.

Nun kann das Menschenwesen durch das, was sich im Schlafe entfaltet, im Grunde genommen nur wiederher­stellen, was wir verbraucht haben. Im Schlafe ist die Seele, wie die Geisteswissenschaft zeigt und wie hier öfter aus­geführt worden ist, aus dem physischen Leibe des Menschen heraus entfernt; das Geistig-Seelische ist in seiner eigenen Welt, in der geistigen Welt. Und dieses andersartige Ver­hältnis der Seele zum Leibe, als es im Wachsein der Fall ist, hängt zusammen mit der Aufrufung von gesundenden Kräften. Die Geistesforschung ruft nun, wie wir gesehen haben, das Geistig-Seelische des Menschen auf, frei vom Leiblichen, vom Physischen zu werden - denn anders kann man nicht Geistig-Seelisches erforschen -. Alles, was der Geistesforscher erforscht, wird außerhalb vom physischen Leibe erforscht. Wenn er das so Erforschte in Begriffe und

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Worte bringt, und wenn die Menschenseele sich wirklich ein Verständnis für das erwirbt, was er zu sagen hat, dann wird sich auf diese Seele, die nicht selbst geistesforschend ist, sondern nur verständnisvoll den gemachten Mitteilun­gen entgegenkommt, ein ganz besonderer Einfluß geltend machen. Diese Seele wird sich innerlich bemühen, jene Kräfte aufzurufen, die man nennen kann Verständniskräfte für die Ergebnisse der Geistesforschung. Das sind Kräfte, die mehr oder weniger unabhängig von dem physischen Leibe sind. Indem wir das, was die Sinne uns bieten, was der Verstand uns bietet, der sich an das Gehirn bindet, uns zum Verständnis bringen, bleiben wir auch mit diesem Ver­ständnis abhängig von unserer Leiblichkeit, strengen den Leib an, nutzen ihn ab, lassen unsere Tätigkeit verlaufen in der ganzen Sphäre, aus welcher auch das Erkranken kommt. Versetzen wir uns dagegen mit unserm Verständnis - aber mit unserm lebendigen Verständnis - in das, was die Gei­steswissenschaft darbietet, so leben und weben wir in der Sphäre der gesunden Kräfte.

Wenn dies leicht geleugnet werden kann, selbstverständ­lich: «leicht», und wenn gesagt werden kann: nun, man kennt ja viele Leute, die sich mit den Ergebnissen der Gei­steswissenschaft befassen und durchaus nicht einen solchen Eindruck machen, als ob sie im Felde der Gesundungskräfte leben, so kann dergleichen ganz berechtigt sein. Es soll durchaus nicht als unberechtigt hingestellt werden. Aber es muß dagegen gesagt werden: Nicht dadurch, daß man in derselben Weise, wie man sich mit anderen Wissenschaften oder mit dem gewöhnlichen Leben beschäftigt, sich auch mit den Ergebnissen der Geisteswissenschaft befaßt, dringt man in diese ein. Was ich im letzten Vortrage das «Homunkel­tum» genannt habe, kann man ebensogut wie in andern Wissenschaften auch in der Geisteswissenschaft entfalten.

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Wenn man Geisteswissenschaft ebenso begreifen will, wie man sonst die Ergebnisse der gewöhnlichen Wissenschaften verstehen will, dann hat man zu ihr nicht das rechte Ver­hältnis. Geisteswissenschaft kommt heraus aus der Geistes­forschung, aus dem geistigen Leben des Geistesforschers, aus einem fortwährenden Tätigsein; und das Verständnis, das ihr entgegengebracht wird, appelliert nur zum gering­sten Teile an das Ermüden des physischen Leibes, das heißt an das, woran die gebräuchlichen Erkenntniskräfte des ge­wöhnlichen Lebens appellieren. Dadurch muß aber die Wahrheit selber, sowohl für den Geistesforscher wie auch für den Bekenner und Versteher der Geisteswissenschaft, etwas werden wie ein lebendiges Wesen. Das wird es auch. Während man sonst die Wahrheit empfängt wie eine Sum­me von Urteilen, wie etwas, das man eben bloß denkt, empfängt man Geisteswissenschaft wie etwas, was die Seele wie ein geistiges Blut durchzieht, was sie innerlich belebt. Man empfängt die Wahrheit wie eine Summe von geistigen lebendigen Wesen; man fühlt sich wie von lebendigem Dasein durch die Geisteswissenschaft durchdrungen, wenn man ihr wirklich Verständnis entgegenbringt. Dann aber wirkt sie tatsächlich gesund, wirkt gesundend bis in den physischen Leib hinein. Und wie der Schlaf, währenddes­sen die Seele ja auch außerhalb des physischen Leibes ist, im wahren Sinne des Wortes ein Heilmittel gegen manches Kranksein genannt werden kann, so kann auch die Geistes­wissenschaft als ein solches Heilmittel genannt werden. Sie kann ein Heilmittel genannt werden allerdings nur von denen, die folgendes wohl verstehen wollen, das wichtig ist. Es ist begreiflich: man wird ebenso, wie man an die äu­ßere ärztliche Wissenschaft oder Kunst herankommt, auch an die Geisteswissenschaft herankommen, weil man die­selben Denkgewohnheiten beibehält. Oft auch, wenn man

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in sie eindringen will, wird man sagen: Was für ein Heil­mittel hast du für diese Krankheit, welches für jene? Und oft wird von der Geisteswissenschaft die Angabe von Heil­mitteln gefordert. Gewiß, die Geisteswissenschaft wird auch zutage fördern, was wirkliche konkrete Heilmittel sind; aber man muß verstehen, daß sie nicht nur dieses oder jenes Heilmittel angeben will, sondern daß sie vor allem sich gibt. Nur wird sie nicht immer mit Verständnis hin­genommen. Was die Geisteswissenschaft sagen kann, wenn man nach einer Heilmethode fragt, ist die Antwort: Nimm mich selber, dann wirst du meine heilenden Kräfte verspü­ren! Aber das ist unbequem für manchen, der oft etwas ganz anderes sucht. - Natürlich wäre es eine Trivialität, wenn man einwenden würde, daß manchem, der sich mit Geistes­wissenschaft beschäftigte, und der früh gestorben oder von dieser oder jener Krankheit befallen worden ist, diese Geisteswissenschaft nichts helfen konnte. Denn man müßte erst die Gegenprobe bringen: ob jemand, der sich mit Hilfe der Geisteswissenschaft bis zum 45. Jahre erhalten hat, nicht vielleicht ohne sie nur 35 oder 40 Jahre alt geworden wäre. Die Methoden der Widerlegung sind oft nicht so leicht.

Vor allem muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß der Schlaf nur das ausgleichen kann, was im physischen Leibe verdorben oder verbraucht ist, also im Grunde ge­nommen Kräfte aus den geistigen Welten nur so weit schöp­fen kann, als die Grenzen der geistigen Anlagen gehen, die der Mensch durch die Geburt ins Dasein bringt. Es holt die Geisteswissenschaft ihre Kräfte aus derjenigen Welt heraus, mit welcher der Mensch geistig zusammenhängt. Man kann deshalb sagen: der Schlaf ist ein Heilmittel insofern, als er verbrauchte, abgearbeitete Kräfte ausgleichen kann. Die Geisteswissenschaft führt entweder durch das, was sie sel­ber ist, oder was sie zu geben vermag, dem Menschen Kräfte

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zu, die er nicht schon in sich hat, die nicht schon in seinen Anlagen sind; sie eröffnet dem Menschen einen höheren Quell der Gesundung, als ihm das gewöhnliche, normale Leben auch mit dem besten Schlafe verschaffen kann. Und was so von der Seele aus gleichsam gesundend ausstrahlen kann durch das lebendige Sich-hinein-Finden in die Geistes­wissenschaft, das möchte man vergleichen mit dem, was ge­wöhnliche ärztliche Kunst vermag, indem man sagt: Auch die gewöhnliche ärztliche Kunst vermag im Grunde genom­men nur diejenigen Heilkräfte zur Gesundung des Men­schen aufzurufen, die schon im Menschen sind, die nur unterdrückt sind durch entgegengesetzte Kräfte. Die Gei­steswissenschaft dagegen bringt neue Kräfte im Menschen zur Wirksamkeit, Kräfte, die sich erst entwickeln, die noch nicht veranlagt sind; sie appelliert nicht nur an den Men­schen als Mikrokosmos, sondern an den Zusammenhang des Menschen als Mikrokosmos, mit der großen geistigen Welt.

Um dies noch anschaulicher zu machen, möchte ich auf etwas hinweisen, was schon an der Grenze von Physischem und Geistigem steht. Obzwar es durchaus richtig ist, daß die Geisteswissenschaft dem Menschen ein Lebensgut gibt, durch das er in einer gewissen Beziehung Erkrankungen vorbeugen kann, die ihn sonst befallen würden, so tritt uns, wenn man sich nur ein wenig mit Geisteswissenschaft beschäftigt, ein noch viel bedeutenderes Lebensgut für das Leben der Seele selber sehr springend in die Augen. Ich meine das Gedächtnis. Wer hätte nicht über ein Nachlassen des Gedächtnisses zu klagen, wenn er in die Jahre kommt! Wer nur ein wenig mit Menschen in Berührung kommt, der weiß, wie sehr Gedächtnis- und andere Kräfte, wenn man in die Jahre kommt, nachlassen, und wieviel über dieses Nachlassen geklagt wird. Die Kräfte, mit denen wir für

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unser Gedächtnis ausgerüstet sind aus dem Fonds des Men­schenlebens heraus, wie wir durch die Geburt ins Dasein treten, diese Kräfte erschöpfen sich. Und man könnte äußer­lich noch so gesund leben, sie erschöpften sich doch; und ob­zwar durch manche äußere Mittel manches gebessert wer­den könnte, was ungebessert ist, es erschöpften sich doch die Kräfte, die uns angeboren sind.

Das wird man aber finden: wenn man innerlich tätig ergreift, was die Geisteswissenschaft dem Menschen zu ge­ben hat, und wenn man sich ganz andere Denkgewohn­heiten und Vorstellungsarten als die gewöhnlichen aneig­net, so wird man bemerken, daß die Kräfte, die früher die Gedächtniskräfte waren, wenn man in die Jahre kommt, zwar abnehmen, daß sie aber durch etwas ersetzt werden, was ein viel besseres Gedächtnis ist. Es tritt allmählich aus den geistigen Untergründen der Seele das auf, was man nennen kann ein Zurückschauen auf die Ereignisse. Wie wir sonst auf die Dinge im Raume hinschauen, so lernen wir allmählich hinschauen auf die Dinge in der Zeit. Die Kräfte, die das Gedächtnis sonst nicht entwickelt, weil es für gewöhnlich einen Reservefonds im unmittelbaren Leib­lichen hat, die verborgen bleiben, bis wir in die Jahre kom­men, diese verborgen schlummernden Gedächtniskräfte werden hervorgeholt aus der Seele: Anschauungskräfte des Vergangenen. Und bei richtigem Einleben in die Geistes­wissenschaft anerziehen wir uns im Laufe des Lebens etwas, was unser gewöhnliches, anerzogenes Gedächtnis fortsetzt, wodurch ein Mensch, der wirklich Geisteswissenschaft le­bendig ergreift, viel länger ausgestattet bleibt mit der Möglichkeit, Vergangenes zu überschauen, wie auch die Möglichkeit bekommt, sich aus dem Vergangenen Richt-kräfte für die Zukunft zu holen, als einer, der sich nicht auf Geisteswissenschaft einlassen will. Wer auf solche Dinge

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in ihren feineren Unterscheidungen eingeht, wird schon be­merken, wie das Gedächtnis zu etwas anderem wird, aber nicht etwas Treuloseres wird, sondern etwas, was getreuer wirkt als das Gedächtnis, das uns durch die leiblichen Kräfte angeboren ist.

Das ist es, was uns zeigt, nicht von Tag zu Tag, aber für eine sorgfältige Beobachtung des Lebens, wie erfrischend und kräftigend die Lebensgüter sind, die von der Geistes­wissenschaft der menschlichen Seele gegeben werden kön­nen, und noch anderes. Selbstverständlich wird die Geistes­wissenschaft nicht dasjenige, was physisch im Körper da oder dort zerstört ist, geistig heilen können. Geisteswissen­schaft wird niemals in einen Fanatismus verfallen, der als eine fanatische Gegnerschaft gegen die äußere wissenschaft­liche Medizin gerichtet sein könnte, wie es in ähnlichen Richtungen auf diesem Gebiete manchmal zutage tritt; sie wird darauf aufmerksam machen, daß das, was physisch zu heilen ist, auch physisch geheilt werden muß. Aber das, wohinein die Kräfte eines verstärkten geistigen Lebens, wie es durch die Geisteswissenschaft erzeugt werden kann, sich ergießen können, das gibt ein grenzenloses Lebensgut.

Wie ist doch bei dem materialistischen Sinn der Menschen gerade das, was ihnen gut ist in gesundheitlicher oder in lebensförderlicher Beziehung, allmählich zu einem bloßen trockenen Wissen geworden! Nicht um etwas zu beweisen, sondern nur um etwas zu erläutern, möchte ich darauf hin­weisen, wie wir die Heilinstinkte - die Empfindung für das, was dem Organismus gut tut - bei den Tieren beobach­ten können. Beim Menschen aber können wir, hervorgeru­fen durch die Tätigkeitskräfte, die an Gehirn und Nerven­system gebunden sind, die Tendenz finden, sich von dem gesunden Leben immer mehr zu entfernen, und dadurch würde er in bezug auf das, was ihm gut tut, zuletzt alles

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in äußeres, trockenes Wissen verwandeln wollen. Man sieht heute schon Menschen, die nicht mehr ganz ihren Instinkt entwickeln können, der ihnen beim Essen sagt: jetzt hast du genug, sondern die neben ihrem Teller eine Waage stehen haben und nun wiegen, wieviel das Stück Fleisch wiegt, das sie essen dürfen. Das ist nur etwas radikal aus­gedrückt; aber wer die Dinge verfolgt, wird sehen, wie sich die Lebensempfindungen allmählich immer mehr in ein ab­gesondertes abstraktes Wissen verwandeln. Das drückt sich auch darin aus, daß die Menschen in bezug auf ihr Gesund-sein und Kranksein gar nicht mehr aus sich selbst, aus ihrem Gefühl heraus handeln können, sondern die Sorge dafür einem andern übergeben möchten.

In dieser Beziehung wird die Geisteswissenschaft den Menschen ein außerordentlich bedeutsames Lebensgut sein können, indem sie nach Durchdringung einer Welt strebt, von welcher der Mensch zwar nur abzustammen scheint, in der er aber noch drinnen steht. Denn in Wahrheit ist der Mensch seinem seelischen und physischen Wesen nach aus dem Geiste entsprungen. Und während man sich mit dem Teile seines Wesens, das an das Gehirn und Nervensystem gebunden ist, von den Lebensinstinkten entfernt, nähert man sich durch ein verständnisvolles Einleben in die Geistes­wissenschaft wieder dem lebendigen, tätigen Leben, so daß der, welcher das lebendige Verständnis für die Geisteswis­senschaft in sich entwickelt, zwar nicht den tierischen Trie­ben überlassen wird; er wird sie vom Geiste aus so durch­dringen, daß er sich allerdings nicht von einem abgesonder­ten, abstrakten Wissen vorschreiben läßt: das sollst du essen, soviel sollst du trinken, soviel spazieren gehn, turnen und so weiter; sondern dazu wird es kommen, daß er die Triebe unmittelbar vergeistigt, daß er das geistige Gut, welches er durch die Geisteswissenschaft empfängt, einfließen läßt in

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seine Triebe und dadurch weiß: dies sollst du so und so machen im Leben! Man könnte geradezu sagen: Der Mensch hat sich durch die Erkenntnis, die an das Gehirn und Ner­vensystem gebunden ist, vom Leben entfernt; durch die Geisteswissenschaft aber durchdringt er wieder das Leben mit einem neuen Inhalt, und dadurch wird er wieder un­mittelbar wissen: das ist gut für dich, das ist vorteilhaft für dich, jenes ist nicht gut für dich! Er wird mit Sicherheit durch das Leben gehen; er wird fest und orientiert im Le­ben drinnen stehen, weil er eine Brücke schaffen wird zwi­schen den tiefsten Gründen des Lebens und seinem Dasein um sich herum. Und das wird sich erstrecken nicht nur auf Gesundsein und Kranksein, sondern auf alles Leben.

Bedenken wir: notwendig haben wir, wenn wir gesund sein wollen, an geistige Kräfte zu appellieren, die tätige sind, die in lebendiger Richtung aufsteigen. Wenn wir sonst im Leben urteilen, so geschieht es in der Weise, daß wir unser Urteil abhängig machen von dem, was wir gesehen haben; wir bleiben mit unserer eigenen Seele dabei ganz passiv. Und gerade da ist die gewöhnliche Wissenschaft, wenn sie Urteile fällen soll, stolz darauf, die Richtkräfte, die Schlag- und Schwungkräfte des Urteilens nicht aus der eigenen Seele heraus zu nehmen. Dieses Zum-Leben-Brin­gen der Wahrheitskräfte, der Beurteilungskräfte der Seele ist das eine, was die Geisteswissenschaft dem Menschen als Lebensgut bringen kann. Immer mehr muß sich die Seele, die in die Geisteswissenschaft eindringen will, daran ge­wöhnen, sich nicht Urteile geben zu lassen, sondern tätig zu urteilen, sich einen inneren Quell des Urteilens zu er­öffnen. Dadurch erlangt sie, was man nennen möchte Ge­schicklichkeit des Urteilens, innerliche Freiheit, die Urteils-kräfte zu handhaben, Geistesgegenwart, die unmittelbar aus der Seele entspringt, wenn sie nötig hat, sich in der Welt

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zu orientieren oder sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Voraussehen könnte man ein Lebensgut der Geisteswissen­schaft, das in der folgenden Weise charakterisiert werden kann.

Nehmen wir an, daß wir zu erziehen haben, und die Entwickelung des jungen Menschen wird in das Licht der Geisteswissenschaft gebracht, wird von der Geisteswissen­schaft beleuchtet werden. Dadurch wird der Mensch in einer anderen Weise heranwachsen, wird so heranwachsen, daß er immer mehr geneigt ist, wo er steht und geht im Leben, an den inneren Quell, an die Schwung- und Schlagkraft des inneren Urteils zu appellieren, Geistesgegenwart zu ent­wickeln, die Wahrheit innerlich zu erleben. So wird er durch das Leben schreiten. Und so werden Menschen, deren Erziehung geleitet worden ist im Sinne der Geisteswissen­schaft, sich ganz anders ins Leben hineinstellen, als die, deren Erziehung wahrhaftig nicht im Lichte der Geistes­wissenschaft gestanden hat, sich ins Leben hineinfinden müssen. Sie werden in sich instinktiv fühlen, weil das Den­ken nicht ein abstraktes sein wird, sondern in die Gefühle hineingehen wird: Dieses oder jenes ist für mich gut, zu beginnen! Wie steht heute mancher innerhalb unserer ma­terialistischen Kultur mit seinem Leben, mit seinem Denken und Urteilen da und weiß nicht: Wozu tauge ich? Was soll ich tun? Das wird immer weniger und weniger vorkommen, wenn die mit Geisteswissenschaft bekannten Seelen in La­gen kommen, wo sie sich entscheiden müssen. Sie werden so fühlen, daß ihre vergeistigten Instinkte ihnen Freude machen. Diese Freude wird sie nicht täuschen; sie wird die richtige sein, und sie werden sich ins Leben richtig hinein-finden.

Wer die Geisteswissenschaft heute vertritt, steht zu ihr, wenn sie wirklich wie aus seiner eigenen Gesinnung heraus

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erfließen soll, in einer andern Weise, als man zu einer an­dern Geistesströmung steht. Aber nicht dadurch hat man die rechte Gesinnung zu ihr, daß man von den Ergebnissen dieser Geisteswissenschaft subjektiv begeistert ist, und daß man den Drang hat, diese Ergebnisse vor seine Mit­menschen hinzutragen. Da würde vielleicht heute noch, wo es nicht zu den Annehmlichkeiten des Lebens gehört, Geisteswissenschaft zu vertreten, mancher mit diesem oder jenem zurückhalten, wenn man nur so zu den Zielen der Geisteswissenschaft käme, wie man zu den Zielen der an­deren Wissenschaften kommt. Aber man kommt zu dem, was einem den Mund öffnet über die Erkenntnisse der Geisteswissenschaft, wenn man erkennt, wie eine Kultur, die immer mehr und mehr, auch wo man nicht materia­listisch sein will, materialistische Färbung angenommen hat, in die Seelen und Gemüter eindringt und diese immer pas­siver und passiver macht, und wenn man weiter mit Bezug auf das, wo der Mensch immer mehr und mehr sich im Leben orientieren und sich ins Leben hineinstellen lernt, erkennt, wie die Geisteswissenschaft eine Notwendigkeit des fortgehenden Lebens ist. Und wenn man erkennt, wie jene Kräfte ersterben müssen, die den Menschen auf natür­liche Weise sicher ins Leben hineinstellen, dann wird einem das, was geisteswissenschaftliche Erkenntnis ist, auf die Lippen gedrängt, wird einem abgefordert; und dann möchte man mehr haben, als die ja in mancher Beziehung wider­spenstige menschliche Sprache bietet, um der Menschheit zu zeigen, wie notwendig im weiteren Menschheitsfortschritt das Lebensgut ist, das in unserer Zeit allein die Geistes­wissenschaft geben kann.

Und wenn innerhalb unserer modernen Kultur weniger bemerkt wird, was es eigentlich heißt: ganz unterworfen sein einer Dogmatik der Tatsachen, ganz abhängig sein von

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dem durch diesen Tatsachenfanatismus herbeigeführten Spezialistentum in der Wissenschaft, dann begreift man vielleicht, was es heißt, daß die Geisteswissenschaft den Menschen dazu führt, innere Elastizitat, innere Beweglich­keit, innere Biegsamkeit, Lebendigkeit der Urteilsfähigkeit zu bekommen und dadurch erst das zu werden, was man einen innerlich freien Menschen nennen kann, der sich so ins Leben hineinstellen kann, daß er den Grundquell des Lebens selber erfaßt, indem das Wesen seiner Seele mit den Urkräften des Daseins einen Zusammenhang hat. Immer mehr wird es für die Menschheit notwendig sein, innere Elastizität, gleichsam inneres Turnen - wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf: inneres «Tanzen» der Urteils­kräfte in feiner innerer Tätigkeit zu entwickeln. Das wird als ein Lebensgut die Geisteswissenschaft der Mensch­heit zu bringen haben. Ein Denken, welches die Kraft der Wahrheit in sich selber trägt, das der Mensch brauchen wird der komplizierter werdenden Zukunft gegenüber, das ist ein Lebensgut, das die Geisteswissenschaft der Mensch­heit geben kann. Und zwar aus dem Grunde wird man sich gewöhnen müssen, Verständnis für das zu entwickeln, was nur innerlich erfaßt werden kann, weil man sich damit durch die Geisteswissenschaft verbündet mit der innerlich lebendigen Wahrheit, die sich zum Urteilen nicht von außen drängen läßt, sondern die belebt ist von der lebendigen Kraft der Wahrheit; wie der Organismus innerlich von der lebendigen Kraft des Blutes belebt ist. Und wie der Organismus von der lebendigen Kraft des Blutes belebt wird und durch dieselbe im rechten Verhältnis atmend zur Außenwelt steht, so wird die Geisteswissenschaft dem Menschen die Fähigkeit geben, von der innerlich lebendigen Wahrheit wie von einem geistig-seelischen Herzen durchlebt zu sein, das in der Welt der Umgebung da atmet, wo Geistiges

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eingeatmet werden muß, um die Seele so gesund, so leistungsfähig und stark zu machen, daß sie der inneren Atemluft das entgegenstellen kann, was sie zu einer freien inneren organischen Kraft macht, zu der Kraft, die im Blute pulsiert.

Man möchte sagen: in der Gegenwart ist man nicht im­stande, an dies geistige Atmen zu glauben. In der Zukunft wird man an das innere Herz für das geistige Atmen zu glauben vermögen und dadurch menschliche Freiheit für die Seele entwickeln. Wie das, was der Mensch als Lebewesen ist, nur dadurch entwickelt werden kann, daß er nicht nur die Atemluft in sich lebendig einzusaugen vermag, sondern sie lebendig umwandelt und in feiner Weise einen abgeson­derten lebendigen Organismus entwickelt, leiblich, so wird er geistig immer mehr und mehr inneres seelisches Blut ent­wickeln, das ihn belebt, und das, indem er sich betätigt und das äußere Wissen und die äußere Erkenntnis umwandelt, den Menschen erst zum wahren freien Wesen macht.

Und wenn wir von der Erkenntnisseite auf die Willens-seite sehen, dann müssen wir bedenken, daß die Geistes­wissenschaft an den Menschen heranbringt Vorstellungen, Begriffe, Ideen, Ergebnisse der Geistesforschung, die ge­wissermaßen frei in der Seele leben, so frei in ihr leben, daß sie unabhängig sind von dem Seelischen, von dem äußerlich Leiblichen, auch von Trieben und äußeren Eindrücken. Wie handelt denn der Mensch unter gewöhnlichen Umständen? Er handelt auf äußere Eindrücke oder auf äußere Trieb-veranlassung hin. Mit dem, was mit dem äußeren Organis­mus zusammenhängt, hat die Geisteswissenschaft nichts zu tun. Sie erfüllt den Menschen mit dem, was im Organismus nur wohnt, was aus der geistigen Welt, und nicht unmittel­bar aus dem Organismus stammt. Es fällt für den Men­schen immer mehr und mehr die Möglichkeit weg, auf

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äußere Antriebe und äußere Sensationen hin zu handeln; aber was ihm aus der Geisteswissenschaft zukommt, das lie­fert ihm innere Kräfte, so daß er von innen heraus zum Handeln kommt. Das gibt einen bedeutsamen Einschlag für das Menschenleben.

Welche Kraft allein ist es denn, die zum Handeln kom­men kann, wenn nicht das, was uns von der äußeren Welt abgefordert wird, die Impulse zum Handeln liefert? Welche Impulse können dann wirken?

Man wird durch eine leichte Erwägung sehen, daß es ein umfassender Impuls sein muß, der dadurch in die Seele dringt, daß diese von einer umfassend wirkenden Kraft erfüllt wird: das ist der Impuls der Liebe, der aus der Seele unmittelbar herausströmt, aber nur dann unmittelbar aus ihr herausströmt, wenn sie von innerlichen Impulsen ge­trieben wird. Es wird die Geisteswissenschaft, Verständnis für die Geisteswissenschaft, dem Menschen ein Lebensgut liefern, das von unbegrenztem Wert ist: ein immer freieres und freieres Hinneigen zu seinem Handeln, was allein die Kraft des Handelns beleben kann, wenn die Impulse gei­stige sind, und damit zur Kraft der Liebe.

Ich habe es in diesen Vorträgen öfters ausgesprochen:

Geisteswissenschaft ist für das Leben die große Schule der Liebe. Nicht daß die Geistewissenschaft bei jeder Gelegen­heit von Liebe reden will. Dieses Reden von Liebe und wie­der Liebe erinnert einen erst an das Wort Schopenhauers:

«Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer», aber noch an etwas anderes. Wenn man immer nur so reden hört von Liebe! Liebe! Liebe! - wenn man hört, daß sich Ver­eine begründen, welche die Liebe predigen wollen - die Geisteswissenschaft darf vielleicht doch manchmal die Din­ge radikal bezeichnen; es wird aber schon herausgefunden werden können, was jeweilig gemeint ist -, dann kommt es

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einem so vor wie bei den braven Schildbürgern, die das Licht in Säcke fassen und in die Häuser entleeren wollten. Aber so leert sich die Liebe nicht in die Seele. Es ist mit der Menschenseele ähnlich wie mit einem Ofen, dem man nicht zureden braucht, das Zimmer warm zu machen, da dies seine Ofenaufgabe wäre; er tut es von selbst, wenn wir Holz in ihn hineinbringen und es anzünden. Vielleicht konnte jemand dazu sagen: dem Holz sieht man es ja gar nicht an, daß es Wärme gibt. Und doch gibt es Wärme! In­dem wir das ganz anders aussehende Holz in den Ofen hineinbringen und es anzünden, bringen wir Wärme in unser Haus. Indem wir uns an die geisteswissenschaftlichen Begriffe gewöhnen, gewöhnen wir uns an eine freie Urteils-fähigkeit, an eine freie Orientierungsfähigkeit in der Welt. Indem wir uns dadurch das Gedächtnis befruchten, bringen wir in unsere Seele herein die Impulse der menschlichen Liebefähigkeit und gewöhnen uns an sie. Und so sicher es ist, daß Wärme in einem Hause entsteht, wenn das Holz richtig verwendet wird, so sicher ist es, daß Liebe, werk­tätige Menschenliebe, die wirklich helfen kann, entzündet wird durch jene Impulse, die mit der Geisteswissenschaft in die Seelen einziehen. Geisteswissenschaftliche Begriffe sind das Heizmaterial der Seele für die Liebe.

Gewiß kann man auch da wieder viel einwenden. Vor allem könnte eingewendet werden, daß manche, nach ihrer Ansicht, an denjenigen, die sich mit Geisteswissenschaft be­schäftigen, nicht genug Liebe finden. Aber da muß sich schon der Mensch dazu aufschwingen, daß etwas, was da oder dort das Aussehen der Lieblosigkeit an sich tragen könnte, vielleicht doch recht liebevoll sein kann. Wenn zum Beispiel jemand aus einem verkehrten Instinkt oder aus reinem Egoismus heraus dieses oder jenes weniger Erfreu­liche anrichtet, und er wird aus einem gesunden Instinkt

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heraus angeschnauzt, so kann dies eine bessere Betätigung der Liebe sein als manches Wort, das in solchem Augen­blicke wohl «liebevoll» sein könnte, aber zu gar nichts hel­fen würde als zu einem Verschlimmern des Zustandes, aus dem heraus der Betreffende diesen oder jenen Irrtum be­gangen hat. - Das aber wird die rechte, wahre Erfahrung liefern: daß niemand, der sich mit der Geisteswissenschaft durchdringt, ohne ihren Einfluß bleibt in bezug auf die Liebe-Entfaltung.

Geisteswissenschaft wird als ein merkwürdiges Lebensgut wirken gerade auf sittlichem Gebiete, auf dem Gebiete von Menschenhilfe und Menschenwirksamkeit. Sie wird nicht wirken wie äußere Mittel, die abschrecken sollen vor die­sem oder jenem. Sie wird anders wirken, wird still in der Seele wirken, aber in der Seele jedes Einzelnen, so daß er die rechten Wege der Liebe-Betätigung findet. Geistes­wissenschaft wird wirken wie das Gewissen, so, wie die innere Stimme des Gewissens nicht äußerlich vielleicht straft, die aber um so sicherer der Seele ein Führer ist. Wer sich in die geisteswissenschaftlichen Begriffe einlebt, wird es er­fahren, daß da, wo er im wahren Sinne des Wortes Unrecht tut, die Geisteswissenschaft eine Kraft in ihn gesetzt hat, die wie eine Verstärkung des Gewissens wirkt, wie korri­gierend, dem Leben Richtung weisend. Und so wird die Geisteswissenschaft nicht durch Programme, nicht durch äußere Vereine, nicht durch Wirksamkeiten wie sie sonst üblich sind, wenn man dieses oder jenes verbreiten will, zum besten auf sittlichem Gebiete wirken; sondern sie wird wirken, sagen wir, indem sie sich der Kultur einverleibt, wie das durch die Menschheit schreitende moralische Ge­wissen. In der Erhöhung der moralischen Gewissenhaftig­keit, die sich jeder Seele einfügen wird, welche sich mit Gei­steswissenschaft durchdringt, wird der ganzen modernen

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Kultur ein Lebensgut gegeben werden, wenn die Geistes­wissenschaft Verständnis findet.

Wenn man sie so betrachtet, wird man sich einen Begriff von dem verschaffen können, was sie sein kann für die ge­sunde, physisch und moralisch gesunde Belebung der Men­schenseele für das Freiwerden und freie Gestalten dieser Menschenseele. Man wird nicht mehr leugnen, daß sie in physischer und moralischer Beziehung ein unbegrenztes Lebensgut sein kann, ein Lebensgut, das man gar sehr brau­chen wird, wie ich schon öfters erwähnt habe, in das man sich in der Zukunft immer mehr und mehr hineinzuleben ge­nötigt sehen wird, ein Lebensgut, welches vor allen Dingen dadurch leuchtend und belebend für den Menschen wird sein können, weil es darauf ausgeht, innerlich durchschaut zu werden, weil es gleichsam nicht von außen an den Men­schen herantritt, sondern sich innerlich mit seiner Seele ver­bindet, ihm nicht ein äußeres Wissen überliefert, sondern die Seele zu etwas macht, was dieser Seele wahrhaftig wür­dig ist. Wenn man dies einsehen wird - und man wird es nach und nach schon einsehen -, dann wird die Geistes­wissenschaft weniger feindlich angesehen werden von de­nen, die sie heute noch sehr, sehr feindlich ansehen. Heute ist es noch durchaus begreiflich, wenn Leute mit ihrem ma­terialistisch gefärbten Wissen kommen und sagen: Erkennt­nis, die den Menschen belebt und trägt, gewinnt man ja auch, wenn man den Blick auf die Außenwelt richtet; da gewinnt man richtige Erkenntnis. Das ist gewiß richtig. Aber schauen wir einmal hin, jetzt nicht bloß theoretisch, sondern lebensvoll, und sehen wir: die Geisteswissenschaft gibt eben überall das lebensvolle Wissen; und halten wir dagegen, was eine materialistisch gefärbte Weltanschauung dem Menschen geben kann.

Jene Menschen, die selbst noch ein solches materialistischatomistisches

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Weltgebäude aufbauen, die sozusagen an sei­nem Ursprunge stehen, betätigen dabei noch ihre Seele. Haeckel selber, Qstwald, seine nächsten Schüler und an­dere, die sind noch aktiv dabei; die können noch innere Kräfte ausbauen, und man könnte noch das, was sie mit ihrer Wissenschaft sich selbst innerlich erarbeiten, mit dem vergleichen, was durch die Geisteswissenschaft gewonnen wird, indem diese an die inneren Seelenkräfte des Menschen appelliert. Bei denen aber, die bei dem Zustandekommen solcher materialistischer Weltansichten nicht mehr in erster Reihe stehen, oder wo eine solche Weltauffassung passiv übernommen wird, da entspricht das, was als materiali­stische Weltanschauung auf die Seele wirkt, einem Nah­rungsmittel, das nicht verdaut wird, das die Kräfte nicht entwickeln kann, die entwickelt werden müssen, wonach die Seele wirklich hungert. Man kann ja auch den Hunger sich vertreiben, ohne daß man wirklich ißt. Es geht. Aber was der Hunger andeutet, das kann nicht vertrieben werden für den äußeren Organismus ohne Essen. So kann man auch den Hunger der Seele nach geistigem Lebensgut ersticken, indem man durch materialistische Weltanschau­ung den Appetit für das geistige Leben verdirbt. Aber auf die Dauer geht das für die Menschenseele nicht.

Es soll hier nicht über Wahrheit und Irrtum im Spiritis­mus gesprochen werden. Er enthält gewiß manches Körn­chen Wahrheit, nicht nur Irrtum oder Schwindel und der­gleichen. Darauf möchte ich nur hinweisen, daß die, welche auf dem Boden einer materialistischen Weltanschauung stehen, diesen Spiritismus scheinbar nicht billigen. Wenn man so über ihn denkt mit einem Denken, das sich nicht innerlich belebt, dann wird man nur sagen können, daß die materialistische Weltanschauung gleich ferne steht dem Spiritismus wie der Geisteswissenschaft. Wenn man aber

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wirklich hineinschaut in das Werden der Welt, dann weiß man etwas ganz anderes. Dann weiß man, daß der Hunger der Seele nach geistigem Lebensgut nicht erstickt werden kann, und daß die Materialisten es sind, welche den Spiri­tismus hervorbringen! Man bekämpft von materialistischer Seite die Geisteswissenschaft. Aber man wird sehen, daß überall da, wo es gelingt die Geisteswissenschaft nicht hoch­kommen zu lassen, die spiritistischen Vereine und Zirkel sich bilden! Die Väter des Spiritismus sind die Philosophen und materialistischen Weltanschauungsleute. Mit einem Denken, das nur abstrakt denkt, durchschaut man diesen Zusammenhang nicht. Da macht man denselben Denkfeh­ler wie der, welcher sagt: Ich habe vor, einen recht guten Sohn aus dem Kinde zu bilden, das jetzt geboren worden ist; ich mache mir alles dazu zurecht. Aber der Sohn wird durchaus nicht immer so, wie der Vater es sich gedacht hat; er kann unter Umständen ein recht schlimmer BaIg werden. Was sich die Materialisten für Vorstellungen machen über die Weltenzusammenhänge, das hat mit dem lebendigen Leben nichts zu tun. Und so kann es kommen, daß sie den «Sohn» erzeugen, den BaIg, den sie selber als solchen Sohn nicht kennen. Denn der Spiritismus ist der Sohn des Ma­terialismus. Warum ist das so? Weil der Appetit der Seele nach geistigem Leben den Hunger nicht stillen kann, und es schließlich dahin kommt, wie es der Physiker oder Che­miker macht, wo die äußeren Ereignisse des Lebens vor­geführt werden, wo ohne inneres Mittun der «Geist» vor­geführt werden soll. Das ist bequemer, als in jedem Mo­mente, wo man zum Geist aufsteigen soll, sich innerlich an­strengen zu müssen. Aber das ist auch nichts anderes als ein Suchen nach demselben Weltbild, das der Materialismus hervorbringt. - Ich will das nur als ein Beispiel dafür an­führen, wie sich ein abstraktes Denken hereinstellt in das

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Leben. Ein solches Denken wird selbstverständlich glauben, daß der Materialismus nicht den Spiritismus erzeugen kann. Wie sollte er auch! Ein Denken dagegen, das innere Schlag-und Tragkraft hat in der Sphäre der Wahrheit, wird in ganz anderem Sinne die Welt durchschauen, und durch sol­ches Denken wird sich der Mensch ganz anders in die Welt hineinstellen können als durch ein abstraktes, totes Denken, das auch nur ein «Homunkulismus» ist, wie es das letzte Mal ausgeführt wurde.

So sehen wir, daß Geisteswissenschaft wirklich als eine Summe von Lebensgütern bezeichnet werden kann. Zwar wird der, welcher das Leben erschöpft glaubt in den bloß äußeren Gütern, das Gesagte nicht für so unendlich wert­voll halten. Aber wer da weiß, wie selbst die äußeren Gü­ter abhängig sind von dem inneren Orientierungsvermögen der Seele in der Welt und von den Gesundungskräften der Seele in sich selber, der wird auch mit Bezug auf alle sozialen Verhältnisse und was heute als Anlaß zu so vielen «Kuren» dient, die aber doch nichts sind als äußerliche Kuren und die zu nichts anderem als äußerlichen Maßnah­men führen können, den Gedanken nicht gewagt finden, daß solche Verhältnisse erst richtig gesehen werden können und wie dafür erst die richtigen Heilmittel gefunden wer­den können, wenn sich die Menschen zur Geisteswissen­schaft aufschwingen werden. Und man muß wirklich sagen:

in alledem ist etwas enthalten, was einem die Worte auf die Lippen drängt, wenn man über Geisteswissenschaft spricht.

Viel Gegnerschaft, viel Feindschaft findet diese Geistes­wissenschaft heute noch. Ich habe im Laufe dieses Winters wiederholt darauf hingewiesen, daß sich solche Gegner fin­den müssen. Und ihre Gründe sind ja so schlagend, schein­bar schlagend, weil sie so leicht gefunden werden können,

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und weil sie im Grunde so ungemein einleuchtend sind. Man kann so gut jeden Gegner der Geisteswissenschaft wirklich verstehen, und dabei braucht dieser gar nicht einmal Unrichtiges zu sagen; er kann sogar etwas ganz Rich­tiges sagen. Lassen Sie mich zum Schlusse noch erwähnen, wie er Richtiges sagen kann.

Nehmen wir an, jemand, der ein ganz gescheiter Mensch sein kann, sagt: Da kommt ein Geistesforscher und redet so allerlei verkehrtes Zeug, was Kant längst widerlegt hat

- die, welche auf Kant fußen, sagen so-, denn Kant hat schon längst erwiesen, daß das Vermögen des Menschen nicht ausreicht, um in die geistige Welt einzudringen; und wenn dieser Geistesforscher Kant studieren würde, dann würde er darüber bald schweigen.

Es ist nicht ganz unrichtig, was der gescheite Mann

- gescheit sind sie alle! - sagt. Es kann ganz richtig sein. Wenn jemand zur Zeit, da es noch kein Mikroskop gegeben hat, sagte, daß man keine anderen Dinge finden könne als die makroskopischen sind, weil das menschliche Auge in anderes nicht hineinsehen kann, so kann dies ganz scharf­sinnig sein. Aber was nützt es für den weiteren Fortschritt des menschlichen Denkens und Lebens? Trotzdem es richtig ist, daß das menschliche Auge nicht bis zu den Zellen der Organismen sehen kann, weil das Sehvermögen begrenzt ist, haben sich die Menschen doch das Mikroskop konstru­iert, und ebenso das Teleskop, und sehen nun dorthin, wo­hin das Sehvermögen des menschlichen Auges nicht reicht. Wie es sehr scharfsinnig sein kann, daß jemand beweist, daß das menschliche Auge keine Zellen und dergleichen zu sehen imstande ist, so kann es sehr richtig sein, was jene Menschen vorbringen, die von der Begrenztheit des mensch­lichen Erkenntnisvermögens sprechen. Aber kommt es dar­auf an, ob es richtig ist oder nicht? Wie es richtig ist, daß

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das menschliche Auge keine Zellen sehen kann, aber wie die Kultur zu einer Verschärfung des Auges geführt hat, so gibt es geistige Methoden, die trotz der Richtigkeit des Kantianismus in bezug auf die Begrenztheit des Erkennt­nisvermögens eine Erstarkung, eine Erkräftigung des See­lenlebens herbeiführen, so daß der Mensch in die geistige Welt hineinsehen kann. Solches und auch anderes noch, was jemand als Gegner der Geisteswissenschaft anführt, muß begriffen und verstanden werden.

Wirklich nicht, um zu renommieren oder um etwas zu rühmen, sondern um etwas mitzuteilen, was nun doch ein­mal gesagt werden darf, sei dieses erwähnt: daß sich doch nun immer mehr und mehr Menschen finden, die den leben­digen, fruchtbaren Impuls, der durch die Geisteswissen­schaft geht, auch in der Gegenwart erspüren. Zeugnis dafür ist, daß wir immerhin in der Lage sind, eine Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach bei Basel, Kanton Solo­thurn, zu erbauen. Es ist damit nicht die Absicht vorhan­den, die Geisteswissenschaft auf einen Ort zu konzentrie­ren; das muß durchaus zur Geltung gebracht werden. Son­dern es soll damit der Beweis erbracht werden, daß wir in der Lage sind zu zeigen, wie die Geisteswissenschaft durch Schaffung von architektonischen, plastischen und maleri­schen Formen und in dem Zusammenstimmen dieser ein­zelnen Wirkungen in einem solchen Baue sich betätigen kann, schöpferisch sein kann. Es sollte mit diesem Bau nur ein Modell dafür gegeben sein, daß die Geisteswissenschaft das Leben unmittelbar anzufassen in der Lage ist. Und daß sich zu den verhältnismäßig großen Mitteln, die notwendig waren, um diesen Hochschulbau zu schaffen, Freunde der Geisteswissenschaft gefunden haben, ist schon ein Beweis dafür, daß diese Geisteswissenschaft in den Seelen der Gegenwart zum Teil doch wurzelt.

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Nur nebenbei soll erwähnt werden, daß über diesen Hochschulbau für Geisteswissenschaft in Dornach alle mög­lichen Märchen in die Welt gesetzt werden, so zum Beispiel das jüngste Märchen, das mir auf den Tisch gelegt worden ist: daß diese Hochschule, die in der Tat einmal in Mün­chen gebaut werden sollte, deshalb nicht gebaut werden konnte, weil wir dort abgewiesen worden wären. Und allerlei anderes märchenhaftes Zeug wird im Zusammen­hang damit vorgebracht. In Wahrheit aber verhalten sich die Dinge so, daß wir nicht abgewiesen worden sind, son­dern daß gewisse Kreise in München, die immerhin, wenn etwas verwirklicht werden soll, erst gefragt werden müs­sen, mit ihrem Sachverständigenurteil nicht fertig werden konnten. Die Verhältnisse lagen also so, daß diese Kreise mit ihrem Sachverständigenurteil wohl zehn Jahre auf sich warten lassen konnten; wir konnten aber mit dem Bau nicht zehn Jahre warten! - Ein anderes Märchen erzählt, daß wegen des Baues unter verschiedenen Städten eine Art Wettstreit entstanden wäre, und daß andere Städte bei diesem allgemeinen Wettbewerb der Städte gegen Mün­chen den Sieg davongetragen hätten. Es soll damit nichts gesagt sein gegen die ja kunstreiche Stadt München; aber das darf doch gesagt werden: wenn es jetzt den Münchenern leid geworden sein soll um die nun wo anders gebaute Hochschule für Geisteswissenschaft, so haben sich doch nicht so viele Städte darum gerissen! So gerissen hat man sich noch nicht um uns. Im übrigen ist die betreffende Zeitung nicht besonders gut unterrichtet, wenn sie schreibt: es «scheine» Basel als günstigste Stadt aus diesem Wettbewerb hervorzugehen.

Ich will das nur erwähnen, weil durch den Bau dieser Hochschule für Geisteswissenschaft auch jetzt da oder dort mehr Gegner gegen die Geisteswissenschaft auftauchen, und

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weil es ein äußeres Zeichen dafür sein kann, wie die Geistes­wissenschaft doch schon Verständnis findet, daß an den Bau dieser Hochschule geschritten werden konnte, auf daß ein solches künstlerisches Wahrzeichen für das, was die Geistes­wissenschaft will, in der Welt da sein kann. Diejenigen allerdings, die durchaus Gegner der Geisteswissenschaft sein wollen, bringen immer das vor, daß sie sagen: Wer sind sie denn, diese Anhänger der Geisteswissenschaft? Urteils-lose Menschen! Menschen, die auf Glauben oder Autorität leicht hinhören! Aber gewöhnlich sind diese Leute, die so reden, Menschen, die recht gern haben möchten, daß man auf ihre Autorität oder auf das, was sie als Autorität an­sehen, hinhören! Und weil die Bekenner der Geisteswissen­schaft das nicht tun, sondern es bis zu einer gewissen Vor­urteilslosigkeit, auf die allein in der Geisteswissenschaft gerechnet wird, gebracht haben, deshalb sind jene Leute Gegner. Vorurteilslosigkeit, frei sein von den Vorurteilen einer materialistisch gefärbten oder sonstwie dogmatischen Weltanschauung wird aber notwendig sein, wenn man der Geisteswissenschaft Verständnis entgegenbringen will. Und mit diesem Verständnis wird man hereinrufen in die Seele die Lebensgüter auf moralischem, auf dem Erkenntnis- und auf dem Willensgebiete, wie es heute angedeutet wurde, bei denen, die sich wirklich intimer auf diese Geisteswissen­schaft einlassen. Wer aber ihr lebendiges Leben verspürt und erfaßt, dem wird immer mehr eines klar werden:

Diese Geisteswissenschaft ist verbunden mit dem, was der Zukunft der Menschheit notwendiges neues Lebensblut, geistiges Lebensblut geben muß. Mag auch das, was mit dieser Geisteswissenschaft zusammenhängt, manche Kin­derkrankheiten hervorrufen - so wie sie hier gemeint ist, steht ja diese Geisteswissenschaft durchaus im Anfange ihres Wirkens -; es soll in keiner Weise alles gerechtfertigt

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werden, was sich zeigt, wo man glaubt, sie walte richtig. Eines darf vielleicht gerade heute, wo mit diesem Vortrage diese Winterserie abgeschlossen wird, am Schlusse ausge­sprochen werden. Irgend etwas, was von außen her dazu verlockt, was uns in der gleichen Weise innerlich zum Ver­treten der Geisteswissenschaft führen könnte, so wie man zu anderen Geistesströmungen geführt wird - das ist es eigentlich nicht, was dem Geistesforscher die Worte auf die Lippen drängt, was ihn den Versuch machen läßt, diese Geisteswissenschaft an die Mitmenschen heranzubringen; sondern einzig und allein die Erkenntnis: daß mit dieser Geisteswissenschaft die echten, die wahren und fruchtbaren Lebensgüter, nach denen jede Seele, die sich selbst verstehen will, hungern muß, in diese Menschenseele einziehen könn­ten, und daß diese menschliche Seele, auch wenn sie es heute noch nicht weiß, darnach lechzt, daß sie diese Lebensgüter haben muß, wenn sie nicht veröden soll. Dies ist die Emp­findung, die sich dem Vertreter der Geisteswissenschaft auf­drängt, die in ihm lebt, indem er sie vertritt. Und mit diesem Bekenntnis möchte ich diese Wintervorträge also schließen:

Wie wenn das wahrhaft Echte einer fruchtbaren Zu­kunftskultur, welcher der Mensch entgegenleben soll, den Vertreter der Geisteswissenschaft anblicken und von ihm fordern würde, daß er diese Geisteswissenschaft vertrete, so steht sie vor ihm, diese Wissenschaft selber. Was ihn er­füllt an Hoffnung, an Zuversicht für das Leben und für das Heilsame der Geisteswissenschaft in bezug auf die Mensch­heit der Zukunft, das drängt sich zusammen in eine Emp­findung von etwas Echtem; und er kann nicht anders, als an dieser Empfindung des Echten der Menschennatur den Glau­ben entwickeln, der aus einem wahren Wissen stammt, der in einer gewissen Beziehung deshalb auch weiß: Diese Geisteswissenschaft

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muß, auch wenn ihr noch so viele Gegner er­wachsen, wirken; sie muß dauern, sie muß siegen. Und so wie sie dem echt gesinnten Bekenner erscheint, ist sie das Echte der Zukunftsentwickelung der Menschheit. Nicht das Unwahre, Unechte, sondern nur das Echte kann wirken, kann dauern, kann siegen!

Mit dem Ausdrucke der Zuversicht für die Geisteswissen­schaft schließe ich diese Wintervorträge.

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HINWEISE

Diese zwölf im Architektenhaus zu Berlin im Winterhalbjahr 1913/14 gehaltenen Vorträge erscheinen hier erstmalig gesammelt. Sie sind zuerst in Einzelheften als Reihe «Geisteswissenschaft als Forderung unserer Zeit» Basel 1936-40 erschienen. Rudolf Steiner weist in seinem Buch «Mein Lebensgang» mit folgenden Worten auf die Bedeutung dieses Teiles seiner Vortragstätigkeit hin:

«Es war nicht etwa die in der Theosophischen Gesellschaft vereinigte Mitgliederschaft, auf die Marie von Sivers (Marie Steiner) und ich zählten, sondern diejenigen Menschen überhaupt, die sich mit Herz und Sinn einfanden, wenn ernst zu nehmende Geist-Erkenntnis gepflegt wurde. Das Wirken innerhalb der damals bestehenden Zweige der Theosophischen Gesellschaft, das notwendig als Ausgangspunkt war, bildete daher nur einen Teil unserer Tätigkeit. Die Hauptsache war die Einrichtung von öffentlichen Vorträgen, in denen ich zu einem Publikum sprach, das außerhalb der Theosophischen Gesellschaft stand und das zu meinen Vorträgen nur wegen deren Inhalt kam.«

Zu Seite:

7 Zur Einführung. Aus dem Vorwort von Marie Steiner zu

«Wendepunkte des Geisteslebens», Dresden 1940.

9 seit einer Reihe von Jahren: seit 1903.

38 Wilson spricht: W. Wilson, «Die neue Freiheit». München 1913

Seite 40ff.

57 Pythagoras: Diogenes Laertius, «Leben und Meinungen be­

rühmter Philosophen», VIII. Buch, 1. Kapitel: Pythagoras.

61 Emil Du Bois-Reymond: «Über die Grenzen des Naturerken­

nens», Leipzig 1872.

«Die sieben Welträtsel», Leipzig 1882.

65 des dänischen Forschers Lange: Carl Georg Lange, 1834-1900,

Professor der Pathologie, lebte in Kopenhagen. «Über Gemüts­

bewegungen», 1887.

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72 Johann Gottlieb Fichte: «Einige Vorlesungen über die Bestim­

mung des Gelehrten.> 1794. Schluß der dritten Vorlesung.

73 Fichte: Bestimmung des Gelehrten. Letzter Absatz der Vorrede.

74 Albrecht von Haller, 1708-1777. Schweizer Botaniker, Medizi­

ner und Dichter.

78 Albrecht Ritschl, 1822-1889. Ab 1853 Professor der Theologie

in Bonn, später, bis zum Tode, in Göttingen.

82 Leopold von Schroeder, Dorpat 1851-1920 Wien, war seit 1899

Professor der Indologie in Wien.

89 wie zum Beispiel Bergson: Henri Bergson, 1859-1941. Pro­

fessor der Philosophie in Paris.

92 Die Kunst: wörtlich «Das Schöne ist eine Manifestation ge­

heimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig

wären verborgen geblieben.> Goethe: «Sprüche in Prosa»,

11. Abteilung, Kunst.

93 «denn indem der Mensch»: Goethe, Winckelmann.

103 in wunderbarer Weise Goethe: Rudolf Steiner hielt am 25. De­

zember 1907 in Köln einen Vortrag über die «Geheimnisse»,

der unter dem Titel «Die Geheimnisse, ein Weihnachts- und

Ostergedicht von Goethe» in Dornach 1931 erschienen ist.

109 Goethe: «Anschauende Urteilskraft> in: «Bildung und Um-

bildung organischer Naturen>.

110 Goethe: «Zahme Xenien.»

112 was Tod bedeutet: «Der Tod bei Mensch, Tier und Pflanze»,

Vortrag von Rudolf Steiner in Berlin am 29. Februar 1912.

Max Müller: Dessau 1823-1900 Oxford. Professor der Orien­talistik in Oxford.

131 August Forel: 1848-1931. Seit 1879 Professor der Psychiatrie

in Zürich.

140 von dem wir eine Schilderung gehen werden: Im Vortrag vom

19. März 1914 «Zwischen Tod und Wiedergeburt des Menschen».

141 Maurice Maeterlinck, 1862-1949. Belgischer Dichter, erhielt

1911 den Nobelpreis. «Vom Tode», deutsch 1913.

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144 daß nicht nur das Goethe-Wort wahr ist: aus dem Fragment

«Die Natur»: «Leben ist ihre schönste Erfindung und der Tod

ist ihr Kunstgriff, Viel Leben zu haben.»

147 Lessing: «Die Erziehung des Menschengeschlechts». Wörtlich:

«Ist diese Hypothese darum so lächerlich, weil sie die älteste ist? weil der menschliche Verstand, ehe ihn die Sophisterei der Schule zerstreut und geschwächt hatte, sogleich darauf verfiel?» Einzelausgabe Stuttgart 1958 in der Reihe «Denken, Schauen, Sinnen» Band 1.

168 ein wirklich großer Geist: Nietzsche in «Also sprach Zara­

thustra».

179 Mc Gilvary, Evander Bradley, Bangkok 1864 - nach 1945 in

den Vereinigten Staaten von Amerika. Philosophischer Schrift­

steller.

Deinhardt in Bromberg: Johann Heinrich Deinhardt, 1805 bis

1867. Deinhardts «Kleine Schriften»: Über die Vernunftgründe

für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Seite 319ff.

Leipzig, Teubner 1869.

183 «Raphaels Mission im Lichte der Wissenschaft vom Geiste»,

Vortrag in Berlin am 30. Januar 1913. «Lionardos geistige

Größe am Wendepunkt zur neueren Zeit», Vortrag in Berlin

am 13. Februar 1913.

187 Herman Grimm: «Leben Michelangelos». Siehe auch die be­

deutende Einleitung zur großen illustrierten Ausgabe von 1900.

191 Donatello, 1386-1466, Florentiner Bildhauer. Der David, um

1430 entstanden, steht in Florenz.

Andrea del Verrocchio, 1436 in Florenz geboren, starb 1488 in

Venedig. Maler und Bildhauer. Sein David, 1465 entstanden,

steht in Florenz.

193 Domenico GhirlandaiQ 1449-1494. Florentiner Maler.

Lorenzo de'Medici, il Magnifico, 1449-1492 in Florenz.

195 Giovanni Cimabue, Florentiner Maler, 1240-1302.

Giotto di Bondone, um 1266-1337, Florentiner Maler und Bau­

meister.

201 Nicht umsonst ist der Todestag Michelangelos der Geburtstag

Galileis: der 18. Februar 1564.

203 Papst Julius II. Geboren 1443, von 1503-1513 Papst.

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204 Donato Bramante, 1444-1514, Baumeister der Hochrenaissance.

205 in Rom in einer Kirche: in San Pietro in Vincoli.

207 Propheten und Sibyllen: Rudolf Steiner sprach ausführlich von ihnen im Zyklus «Von der Suche nach dem heiligen Gral. Christus und die geistige Welt» Leipzig 1913/1914. Dornach 1934.

216 Papst Leo X.: Geboren in Florenz 1475, Giovanni de' Medici,

von 1513-1521 Papst.

217 Peter von Cornelius: 1783-1867.

218 Im Hafen lieg ich: in der Übertragung von Herman Grimm. Aus «Über Künstler und Kunstwerke», I. Jahrgang, Berlin 1865, Seite 95.

219 Mediceer-Gräber: Siehe Rudolf Steiner, «Das Leben zwischen dem Tode und der neuen Geburt im Verhältnis zu den kos­mischen Tatsachen». Berlin 1912. Gedruckt: Dornach 1936.

220 geistige Chemie: Siehe den Vortrag vom 30. Oktober 1913, «Die geistige Welt und die Geisteswissenschaft».

227 in der Neuauflage meiner «Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert»: «Die Rätsel der Philosophie» 1914. Stuttgart 1955.

229 R. J. Campbell «Die Neue Theologie», deutsch Jena 1910.

230 Plotin: 205-270, der bedeutendste Neuplatoniker. In Ägypten geboren, lebte später in Rom.

Nakae Toju, «der Weise von Omi», 1605-1678. Er wandelte die Lehre des chinesischen Weisen Wang-Yang-Ming in eine dem japanischen Geistesleben gemäße Form um.

232 Hermann Lotze: Bautzen 1817-1881 Berlin. Seit 1844 Pro­fessor der Philosophie. «Mikrokosmos», Ideen zur Natur­geschichte und Geschichte der Menschheit, 1856-1864. Über Lotze vergleiche auch Rudolf Steiner, «Die Rätsel der Philo­sophie» im Kapitel «Moderne idealistische Weltanschauungen».

242 Ein bedeutender Mystiker: Gemeint ist vielleicht Angelus Sile­sius. Das Zitat stammt aus «Welt und Ich» von Friedrich Rückert.

253 Philipp Mainländer: 1841-1876, lebte in Offenbach.

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255 Philipp Mainländer: «Philosophie der Erlösung», 1876 er-

schienen.

gute Büchlein: Max Seiling, «Ein neuer Messias», 1888.

256 J. F. A. Bahnsen: 18301881, lebte in Lauenburg/Holstein.

259 Goethe hat in seinem Faust etwas sagen lassen: Mephistopheles in Faust I. Studierzimmer.

261 Schiller: Epigramme.

290 Goethe, von dem hier ein Ausspruch gebracht werden soll:

wörtlich «Ganz leise spricht ein Gott in unserer Brust, Ganz leise, ganz vernehmlich zeigt uns an,

Was zu ergreifen ist und was zu fliehn.»

Torquato Tasso, 2. Aufzug, 2. Auftritt.

292 Voltaire: eigentlich François Marie Arouet. 1694-1778.

303 wir wollen zum Beispiel an Locke anknüpfen: John Locke,

1632-1704. Locke kann als Begründer der kritischen Erkenntnis­theorie gelten.

313 Voltaires Henriade: übersetzt von Ph. L. Krafft, Leipzig, Re­clam o. J.

315 Henriade, V. Gesang.

326 Prolog zum Wallenstein, gesprochen bei Wiedereröffnung der Schaubühne in Weimar 1798.

357 kann ich auf ein Buch hinweisen: Artur Brausewetter «Gedan­ken über den Tod», Stuttgart 1913 Seite 198, wörtlich: «Die Unsterblichkeit zu beweisen ist unmöglich. Weder Plato noch dem auf ihm fußenden Mendelssohn ist es gelungen, sie aus der Einfachheit und Unzerstörbarkeit der Seele zu erhärten. Mögen wir auch der Seele eine einfache Natur einräumen, so bleibt doch ihre Beharrlichkeit als bloßer Gegenstand des inneren Sin­nens unerwiesen und unerweislich.»

365 Rudolf Eucken, 1846-1926. Philosoph, seit 1871 Professor, erhielt 1908 den Nobelpreis für Literatur.

372 Paracelsus: «De generatione rerum», Basel 1574. I. Buch Seite 7 ff.

374 Johann Jakob Wagner, 1775-1841. Deutscher Philosoph, lebte in Ulm.

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381 schrieb ich eine Abhandlung über den «Homunkulus»: in «Deut­

sche Wochenschrift». Berlin-Wien, VI. Jahrgang, Nr.16 und 17.

Wieder abgedruckt in «Veröffentlichungen aus dem Literarischen

Frühwerk» Heft XXIII, Seite 11, Dornach 1948.

381 Hamerling: «Homunkulus.» Hier zitiert nach Hamerling,

Werke in vier Bänden, Leipzig, Max Hesse o. J. II. Band, i. Ge­

sang, Seite 9ff; 5. Gesang, Seite 83 ff; 7. Gesang, Seite 145ff;

10. Gesang, Seite 264ff.

393 Werner Sombart, 1863-1941, seit 1890 Professor der National­

ökonomie. «Der Bourgeois» erschien 1913.

426 eine Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach: das erste

Goetheanum, dessen Grundstein am 20. September 1913 gelegt

worden ist.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.