GA 59

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

ÖFFENTLICHE VORTRÄGE

Metamorphosen des Seelenlebens

Sieben öffentliche Vorträge
gehalten zwischen dem 5. Dezember 1909
und 12. Mai 1910


GA 59

1958

Inhaltsverzeichnis


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DIE MISSION DES ZORNES

Wenn man sich von dem Gesichtspunkte aus, von dem aus hier das Seelenleben betrachtet werden soll, in die mensch­liche Seele vertieft, kann einem immer wiederum der uralte Ausspruch des griechischen Weisen Heraklit in den Sinn kommen: «Einer Seele Grenzen kannst du niemals finden, und wenn du auch alle Straßen abliefest; so umfassend ist der Seele Wesen.» Vom Seelenleben soll hier gesprochen werden nicht in dem Sinne, wie es wohl gegenwärtig häufig geschieht vom Standpunkte landläufiger Seelenlehre oder Psychologie aus, sondern es soll von dem Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft aus gesprochen werden. Geisteswis­senschaft steht fest auf dem Boden, daß sich hinter allem, was den äußeren Sinnen gegeben ist, was dem an die äuße­ren Sinne gebundenen Verstande gegeben ist, als Quell und als Urgründe dieses äußeren Daseins ein wirkliches, reales Geistiges findet; und daß der Mensch imstande ist, dieses Geistige auch wirklich zu erforschen. Es ist ja öfter in diesen Vorträgen hier angeführt worden, wodurch sich diese Gei­steswissenschaft oder Theosophie unterscheidet von so man­cherlei Standpunkten der heutigen Gegenwart, und nur kurz soll an diese Unterschiede erinnert werden. Gewöhn­lich spricht man im äußeren Leben und in der äußeren Wissenschaft davon, daß des Menschen Erkennen an diese oder jene Grenze gebunden ist, daß man dieses oder jenes nicht erkennen könne, weil nun einmal dem Menschen diese oder jene Grenzen der Erkenntnis gesteckt seien. Und so wird der eine vielleicht, wenn er nicht ganz abweisen will,

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eine übersinnliche, eine geistige Welt, sagen: lassen wir diese geistige Welt auf sich beruhen, denn der Mensch kann ja doch nur, weil er einmal geartet ist, wie er eben ist, in die physische Welt eindringen und höchstens sich Vorstel­lungen machen gemäß seinem Verstand über dasjenige, was hinter dieser physischen Welt ist nach Hypothesen und dergleichen. Ein anderer wird vielleicht, noch ausbauend diese Anschauung, sagen, es gehe uns überhaupt eine über­sinnliche Welt gar nichts an. Die Geisteswissenschaft steht nicht auf diesem Boden, sondern sie sagt, dasjenige, was Weltinhalt ist, ist unendlich; dasjenige, was in die Erkenntnisse des Menschen hereinfällt, ist davon abhängig, daß der Mensch Organe dafür hat. Niemals würde der Mensch darauf kommen können, daß es eine farbige und von Licht erfüllte Welt gibt, wenn er nicht Augen hätte; niemals würde ein Mensch darauf kommen können, daß es eine von Tönen durchdrungene Welt gibt, wenn er nicht Ohren hätte. Mit jedem neuen Organ, mit jeder Möglichkeit eines neuen Wahrnehmens erschließt sich eine neue Seite, ein neues Gebiet der Welt. Und so steht Geisteswissenschaft auf dem Boden, daß die Grenzen menschlicher Erkenntnis nur jeweilig sein können; daß sie erweitert werden können; daß in unserer Seele verborgene Fähigkeiten liegen, die wir herausholen können aus ihr; und daß gerade so wie bei dem Blindgeborenen, der operiert wird, aus der Dunkelheit und Finsternis Licht und Farbe herausdringt, bei demjenigen, der die verborgenen geistig-seelischen Fähigkeiten in sich erweckt, aus der Welt, die vorher nur so war, wie die äußeren Sinne sie vermittelten, dasjenige, was als Geistiges immer um uns herum ist, und was wir nur ohne die geistigen Organe nicht erkennen können,

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herausdringen wird. Die Geisteswissenschaft oder Theosophie sagt nicht da oder dort seien Erkenntnisgrenzen, sondern: wie haben wir uns selber umzubilden, um immer tiefer in diese Welt hineinzudringen, um umfassendere Erlebnisse aus dieser Welt heraus zu machen? Und immer wieder muß Geisteswissenschaft hinweisen auf das große Ereignis, durch das der Mensch ein Geistesforscher wird, um in die geistigen Welten hineinzusehen, wie der physi­sche Forscher mit dem Mikroskop in die physischen Welten hineinsieht. Gegenüber der geistigen Welt, muß man allerdings sagen, gilt das Goethesche Wort:

«Geheimnisvoll am lichten Tag

Läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben,

Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,

Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.»

Ein äußerliches, aus Linsen oder sonstigen Bestandteilen zusammengesetztes Instrument hat der geisteswissenschaft­liche Forscher nicht. Seine Seele selbst muß er umwandeln zu einem Instrument; dann erlebt er auf höherer Stufe jenen gewaltigen Augenblick der Erweckung seiner Seele, da er hineinschauen kann in eine geistige Welt, wie der operierte Blinde in eine Welt hineinschauen kann, die er vorher nicht wahrgenommen hat. Auch das ist des öfteren betont worden, daß nicht ein jeder Geistesforscher zu wer­den braucht, um heute dasjenige anzuerkennen, was der Erweckte der Welt mitzuteilen hat; denn wenn die Erkenntnisse der Geistesforschung mitgeteilt werden, dann genügt für jeden Menschen der unbefangene Wahrheits­sinn, die gewöhnliche Logik, um das anzuerkennen, was

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der Geistesforscher mitzuteilen hat. Zum Forschen gehört das geöffnete Auge des hellsichtigen Menschen; zum Anerkennen der Mitteilungen gehört gesunder Wahrheitssinn; natürliches, unbefangenes, durch kein Vorurteil getrübtes Gefühl, natürliche Vernünftigkeit. Darauf also kommt es an, daß wir Seelenlehre, Seelenbeobachtung im Sinne dieser Geistesforschung auffassen, wenn wir in den folgenden Vorträgen zunächst über einige den Menschen interessie­rende Eigenschaften dieser Seele zu sprechen haben. Gerade wie derjenige nur in Wasserstoff, Sauerstoff und anderen chemischen Elementen forschen kann, der sich die Fähig­keiten dazu erwirbt, so kann nur derjenige, dessen geistiges Auge geöffnet ist, hineinschauen in das, was seelisches Leben ist. Um die Seele zu erforschen, muß man in der Lage sein, sozusagen in seelischer Substanz Beobachtungen anzustellen. Da müssen wir allerdings die Seele nicht als etwas Unbestimmtes, Nebuloses ansehen, in dem da herumschwirren Gefühle und Gedanken und Willensimpulse, sondern wir müssen uns noch einmal heute skizzenhaft be­kannt machen mit dem, was in früheren Vorträgen hier über denselben Gegenstand gesagt worden ist.

So wie wir den Menschen ansehen, so stellt er sich dar als eine viel kompliziertere Wesenheit, als ihn die äußere Wissenschaft nimmt. Dasjenige, was die äußere physische Beobachtung vom Menschen kennt, ist für die Geistes­wissenschaft nur ein Teil der menschlichen Wesenheit: der äußere physische Leib, den der Mensch gemeinschaftlich hat mit allem Mineralischen unserer Umgebung. Da drin­nen herrschen dieselben Gesetze, wirken dieselben Substan­zen wie in der äußeren, mineralisch-physischen Welt. Aber über das hinausgehend, anerkennen wir in der Geisteswissenschaft

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nicht bloß durch logisches Schließen, sondern durch Beobachtungen ein zweites Glied der menschlichen Wesenheit: dasjenige, was wir nennen den Ätherleib oder Lebensleib. Nur skizzenhaft können wir heute auf diese Gliederung der menschlichen Natur hinweisen; denn unsere Aufgabe ist eine ganz andere heute; sie muß sich nur auf die Kenntnis dieser Gliederung der menschlichen Natur aufbauen. Den Ätherleib oder Lebensleib hat der Mensch nicht bloß gemeinschaftlich mit demjenigen in seiner Um­gebung, was physisch-mineralisch ist, sondern mit alle dem, was lebt. Ich sagte, daß derjenige, der ein Geistesforscher geworden ist, der die Seele zu einem Instrument gemacht hat, um hineinzuschauen in die geistigen Welten, diesen Äther- oder Lebensleib kennt aus unmittelbarer Beobach­tung. Aber auch der unbefangene Wahrheitssinn kann, wenn er nicht durch die heutigen Vorurteile getrübt ist, diesen Äther- oder Lebensleib anerkennen. Denn nehmen wir den physischen Leib: er hat in sich dieselben physischen, chemischen Gesetze wie die äußere physisch-mineralische Welt. Wann zeigen sich uns diese physischen Gesetze? Dann zeigen sie sich uns, wenn der Mensch uns entgegen­tritt ohne das Leben. Wo der Mensch durch die Pforte des Todes gegangen ist, da sehen wir, welches die dem physi­schen Leib eingeborenen Gesetze sind. Es sind diejenigen Gesetze, die den Leib auflösen, die den Leib in ganz an­derer Weise beherrschen, als er beherrscht wird zwischen Geburt und Tod. Dieselben Gesetze sind auch ji':ner im physischen Menschenleibe. Daß er ihnen nicht folgt, das kommt daher, weil innerhalb dieses physischen Menschenleibes zwischen Geburt und Tod ein Kämpfer ist gegen den Zerfall des physischen Leibes, eben der Äther- oder Lebensleib.

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Dann unterscheiden wir ein drittes Glied der mensch­lichen Wesenheit: den Träger von Lust und Leid, von Freude und Schmerz, von Trieben, Begierden und Leiden­schaften, von alle dem, was wir im Grunde genommen schon als Seelisches bezeichnen; aber eben den Träger, nicht dieses Seelische selber. Ihn hat der Mensch mit all den Wesen um ihn herum gemeinschaftlich, welche eine gewisse Form des Bewußtseins haben, mit den Tieren. Dieses dritte Glied der menschlichen Wesenheit nennen wir den astra­lischen oder Bewußtseinsleib. Und damit haben wir er­schöpft, was wir die Leiblichkeit des Menschen nennen. Drei Glieder hat diese Leiblichkeit des Menschen: Physi­scher Leib, Äther- oder Lebensleib und Astral- oder Bewußtseinsleib. Innerhalb dieser drei Glieder erkennen wir in dem Menschen dasjenige, durch das der Mensch die Krone der Erdenschöpfung ist, das er nun nicht gemein­schaftlich hat mit irgend etwas anderem. Es ist schon oft darauf hingewiesen worden, daß unsere Sprache in einem einzigen kleinen Worte etwas hat, wodurch wir gerade hingeführt werden auf dieses Innere des Menschen, durch das er die Krone der Erdenschöpfung ist. Den Blumen­strauß hier kann ein jeder: Blumenstrauß, die Uhr kann jeder: Uhr, das Pult kann jeder: Pult, den Stuhl ein jeder:

Stuhl, die Flamme ein jeder: Flamme nennen. Eines gibt es aber, was niemals als Name an unser Ohr klingen kann, wenn es uns selber bedeutet, was als Name aus unserem eigenen Innern heraussprießen muß, wenn es uns selbst bedeuten soll. Das ist dasjenige, was mit dem kleinen Namen « Ich » ausgedrückt ist. Überlegen Sie doch einmal, ob das Wörtchen «Ich » an Ihr Ohr klingen kann von außen her, wenn es Sie selbst bedeutet. Wollen Sie sich als

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Ich bezeichnen, dann muß dieses Ich von Ihnen selber her­ausklingen und die Bezeichnung für Ihr innerstes Wesen sein. Daher sahen die großen Religionen und Weltanschau­ungen immer in diesem Namen den «unaussprechlichen Namen » dessen, was eben von außen nicht bezeichnet wer­den kann; und wir stehen mit dieser Bezeichnung « Ich »vor jener innersten Wesenheit des Menschen, die man das göttliche Glied im Menschen nennen kann. Damit machen wir den Menschen nicht zu einem Gott. Ebensowenig wie wir den Tropfen, den wir aus dem Meere herausnehmen, zum Meere machen, wenn wir sagen: er ist gleicher Sub­stanz mit dem ganzen Meere; ebensowenig machen wir das Ich zu einem Gotte, wenn wir sagen, es ist gleicher Substanz und Wesenheit mit dem die Welt durchpulsenden und durchwebenden Göttlichen.

Durch dieses sein eigentlich inneres Wesen unterliegt der Mensch derjenigen Erscheinung der Welt, die die Geistes-wissenschaft in vollem Sinne ernst und real nimmt; jener Erscheinung, deren Bezeichnung auf den heutigen Menschen faszinierend zwar wirkt, die aber doch in bezug auf den Menschen nur ernst und ehrlich genommen wird von der Geisteswissenschaft. Es ist die Tatsache des Lebens, die wir mit dem Worte Entwickelung bezeichnen. Wie faszinierend wirkt dieses Wort auf den Menschen der Gegenwart, wenn er hinweist auf die niederen Lebewesen, die sich allmählich heraufgebildet haben zu höheren Stufen; wie faszinierend wirkt es, wenn gesagt werden kann, der Mensch selber habe sich von den niederen Daseinsformen heraufentwik­kelt zu seiner jetzigen Höhe! Geisteswissenschaft nimmt das Wort Entwickelung vor allen Dingen in bezug auf den Menschen ernst. Sie macht darauf aufmerksam, daß er,

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indem er ein selbstbewußtes Wesen, ein Wesen mit einer inneren, aus seinem Mittelpunkt herausquellenden Tätig­keit ist, die « Entwickelung » ergreifen soll nicht bloß da­durch, daß er hinausblickt in die Welt und sagt: Da ent­wickelt sich Unvollkommenes zu Vollkommenerem, son­dern: weil er hineingestellt ist als ein tätiges Wesen, darum muß er selber Entwickelung machen. Nicht können wir stehenbleiben mit dem Begriff der Entwickelung vor dem­jenigen, was entstanden ist, sondern wir müssen uns klar sein darüber, daß der Mensch Entwickelung machen muß; daß er die Stufe der Entwickelung, die er erreicht hat, über sich hinaus führen muß; daß er immer neue Kräfte ent­wickeln muß, daß er immer vollkommener und vollkom­mener wird. Die Geisteswissenschaft kommt nun zu einem entsprechenden Begriff der Entwickelung in bezug auf das Menschenwesen, indem sie heute einen Satz zu vertreten sucht, der für ein anderes Gebiet seit gar nicht so langer Zeit schon vertreten worden ist, und den die Geisteswissen­schaft nun für ein höheres Gebiet heute in demselben Stil zu vertreten sucht. Die Menschen denken nur gewöhnlich nicht daran, daß noch im Beginne des siebzehnten Jahr­hunderts nicht nur Laien, sondern auch die Gelehrsamkeit geglaubt hat, daß sich niedere Tiere einfach aus Fluß-schlamm entwickeln. Das beruht auf ungenauer Beobach­tung; und es war der große Naturforscher Francesco Redi, welcher im siebzehnten Jahrhundert zuerst den Satz ver­treten hat: Lebendiges kann nur aus Lebendigem kommen. Wohlgemerkt, mit all den Einschränkungen, wie es heute gemeint ist, sei dieser Satz hier angeführt. Selbstverständ­lich ist es so, daß heute niemand glauben wird, irgend ein niederes Tier, ein Regenwurm, könne aus Flußschlamm

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wachsen, sondern das ist ungenau beobachtet. Wenn ein Regenwurm entstehen soll, so muß ein Regenwurm-Keim da sein. Dennoch konnte im siebzehnten Jahrhundert Fran­cesco Redi nur mit genauer Not dem Schicksal des Gior­dano Bruno entgehen. Denn er war durch diesen Satz ein gewaltiger Ketzer geworden. Nun, heute ist es nicht üblich, daß man Ketzer so behandelt wie dazumal, wenigstens nicht in allen Gegenden der Erde; aber etwas anderes ist modern geworden dafür. Man betrachtet diejenigen, die heute etwas, was augenblicklich widerspricht dem Glauben jener, die in ihrem Hochmut den Gipfel aller Weltanschau­ung errungen zu haben vermeinen, als Phantasten, als Träumer, wenn nicht als noch Schlimmeres. Das ist die heutige Art von Inquisition in unseren Gegenden. Mag es sein. Es wird doch demjenigen, was Geisteswissenschaft in bezug auf Erscheinungen auf höheren Gebieten ganz ähn­lich wie Francesco Redi auf niederem Gebiet behauptet, ebenso ergehen wie jener Behauptung Redis. So wie er den Satz vertreten hat: Lebendiges kann nur aus Lebendigem kommen! so hat Geisteswissenschaft den Satz vertreten:

Geistig-Seelisches kann nur aus Geistig-Seelischem entstehen! Und nichts anderes als eine Folge dieses Satzes ist dasjenige, was man öfters heute belächelt als den Ausfluß einer tollen Phantasie: Das Gesetz von der Wiederverkörperung. Heute glauben zahlreiche Menschen noch, wenn sie sehen, was als Seelisch-Geistiges vom ersten Tag der Geburt an sich her­ausentwickelt aus der Körperlichkeit, wenn sie sehen, wie aus der ersten verwischten Physiognomie sich immer be­stimmtere Gesichtszüge herausentwickeln, wie dieBewegun­gen immer individueller und individueller werden; wie immer mehr und mehr die Fähigkeiten herausquellen - sie

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glauben, das sei eine Folge dessen, was physisch gegeben ist als Vater, Mutter, Großeltern, kurz, als physische Ahnenreihe.

Eine ungenaue Beobachtung ist das, wie es eine ungenaue Beobachtung war, als man geglaubt hat, daß der Regen­wurm und andere niedere Lebewesen aus Schlamm ent­stünden. Nur weil man nicht zurückzugehen vermag mit der heutigen sinnenfälligen Anschauung auf das Geistig-Seelische, aus dem dasjenige heraus sich entwickelt hat, was wir heute als Geistig-Seelisches vor uns haben; nur deshalb hält man das, was man auf physische Vererbungsgesetze zu­rückführt, für etwas, was aus dem dunklen Untergrund des Physischen sich heraushebt. Wir sehen in der Geistes­wissenschaft zurück zu früheren Erdenleben, in denen der Mensch die Anlagen zu den Fähigkeiten gelegt hat, die jetzt, in dieser Verkörperung, herauskommen. Und wir betrachten das heutige Leben zwischen Geburt und Tod als neue Ursache von künftigen Erdenleben. Seelisch-Geistiges entsteht nur aus Seelisch-Geistigem. Es wird die Zeit nicht ferne sein, in der dieser Satz so selbstverständliche Wahr­heit sein wird, wie der Satz des Francesco Redi: Lebendiges kann nur aus Lebendigem kommen! es seit dem siebzehnten Jahrhundert geworden ist. Nur ist jener Satz des Fran­cesco Redi eines eingeschränkten Interesses fähig; der Satz aber, den die Geisteswissenschaft heute zu vertreten hat:

Geistig-Seelisches entwickelt sich aus Geistig-Seelischem -der Mensch lebt nicht einmal, sondern in wiederholten Erdenleben, und jedes Erdenleben ist die Wirkung der früheren Erdenleben und der Ausgangspunkt zahlreicher folgender Leben - der Satz hat Interesse für jeden Men­schen. Alle Zuversicht des Lebens, alle Sicherheit in unserer

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Arbeit, die Lösung alles dessen, was als Rätsel uns ent­gegentritt, hängt an dieser Erkenntnis. Der Mensch wird immer mehr und mehr aus dieser Erkenntnis Kraft saugen für alles Dasein, Zuversicht und Hoffnung für dasjenige, was in die Zukunft hinein wirken soll. Daher interessieren diese Sätze jeden Menschen.

Was ist nun, was von Dasein zu Dasein arbeitet, was in früheren Erdenleben seinen Anfang genommen hat, und was sich durch all die Erdenleben hindurchwindet? Das ist das menschliche Ich, das mit jenem für äußere Wesen un­aussprechlichen Namen in unserer Sprache bezeichnet wird. Das Ich des Menschen geht von Leben zu Leben, und so, indem es von Leben zu Leben geht, vollzieht es die Ent­wickelung.

Wie geschieht diese Entwickelung? Dadurch geschieht diese Entwickelung, daß die drei niederen Glieder der menschlichen Wesenheit von dem Ich aus bearbeitet wer­den. Da haben wir den astralischen Leib, den Träger von Lust und Leid, von Freude und Schmerz, von Trieb, Be­gierde und Leidenschaft. Betrachten wir einen auf niedriger Stufe stehenden Menschen, dessen Ich noch wenig gearbeitet hat zur Reinigung des astralischen Leibes: er folgt mit seinem Ich als ein Sklave den Trieben, Begierden und Lei­denschaften. Vergleichen wir einen solchen Menschen mit einem andern, höher stehenden, dessen Ich so gearbeitet hat am astralischen Leib, daß es umgewandelt hat die niederen Triebe, Begierden und Leidenschaften in sittliche Ideale, in ethische Urteile, dann haben wir zunächst ein Anfangsbild von der Arbeit des Ichs an dem astralischen Leib des Menschen.

So sehen wir das Ich von innen heraus arbeiten an den

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Hüllen des Menschen, zunächst an der astralischen Hülle, an der Bewußtseinshülle. Wir können also sagen: An jedem Menschen, der heute vor uns steht, können wir unterschei­den dasjenige, was sozusagen ohne seine Arbeit ihm mit­gegeben ist im Dasein - denjenigen Teil des astralischen Leibes, an dem das Ich noch nicht gearbeitet hat, und den­jenigen Teil, den das Ich bewußt schon umgearbeitet hat. Denjenigen Teil des astralischen Leibes, den das Ich schon verwandelt hat, den bezeichnen wir mit Geistselbst oder Manas. Dann kann das Ich stärker und stärker werden, und es wandelt dann auch den Äther- oder Lebensleib um. Dasjenige, was das Ich umgewandelt hat am Äther- oder Lebensleib, das bezeichnen wir als Lebensgeist. Und wenn das Ich immer stärker und stärker wird, so daß es die Kraft gewinnt, bis in den physischen Leib hinein umgestaltend zu wirken, so bezeichnen wir den Teil des physischen Lei­bes, der dann umgearbeitet ist, der aber nicht gesehen wer­den kann mit den gewöhnlichen Augen, weil er übersinn­lich ist, als eigentlichen Geistesmenschen.

So sehen wir, wie die Entwickelung geschieht. Die äuße­ren Glieder des Menschen, die er ohne sein Zutun erhalten hat, die gestaltet das Ich um.

Wir haben bis jetzt gesprochen von der bewußten Um­gestaltung des astralischen Leibes. Aber bevor das Ich fähig geworden ist, so bewußt zu arbeiten, hat es schon seit grauer Vorzeit unbewußt oder - besser gesagt - unter­bewußt gearbeitet an seinen drei äußeren Gliedern; und zunächst an dem astralischen Leibe, an dem Träger von Lust und Leid, von Freude und Schmerz, von Trieben, Be­gierden und Leidenschaften. Und den Teil des astralischen Leibes, den das Ich unbewußt umgearbeitet hat, den wir

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also heute schon als umgewandelten astralischen Leib in uns tragen, den bezeichnen wir als das erste seelische Glied des Menschen, als die Empfindungsseele. So also lebt das Ich im Innern des Menschen, und es hat sich, bevor der Mensch so weit zum Bewußtsein gekommen ist, daß er bewußt umarbeiten kann seine Triebe, Begierden und so weiter, in dem astralischen Leibe die Empfindungsseele ge­schaffen. In dem Äther- oder Lebensleibe hat das Ich geschaffen, ohne daß es bewußt arbeiten konnte im vor-bewußten Zustande, dasjenige, was wir bezeichnen als die Verstandes- oder Gemütsseele. Wiederum in dem physi­schen Leib hat das Ich sich geschaffen das Organ eines inne­ren Seelengliedes, das wir bezeichnen als die Bewußtseins-seele. So daß wir drei Seelenglieder, innerhalb derer das Ich wirkt, im Menschen zu unterscheiden haben; wir haben die Empfindungsseele, die Verstandes- oder Gemütsseele und die Bewußtseinsseele. Nicht ein Verschwommenes, Nebuloses ist für die Geisteswissenschaft diese menschliche Seele, sondern sie ist uns ein inneres Wesensglied des Men­schen, bestehend aus Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und Bewußtseinsseele.

Nun wollen wir uns einmal, da alle diese Betrachtungen sich auf diese drei Seelenglieder und die Arbeit des Ichs innerhalb derselben beziehen, vorhalten, wie wir uns einen Begriff machen können von demjenigen, was diese drei Seelenglieder sind, wie sie uns entgegentreten. Der Geistes-forscher kennt sie aus der unmittelbaren Anschauung; aber auch durch die Vernünftigkeit können wir uns einen Begriff davon machen. Da brauchen wir uns zum Beispiel nur zu denken: die Rose sei vor uns. Wir nehmen sie wahr. So­lange wir sie wahrnehmen, bekommen wir von außen einen

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Eindruck. Wir nennen das die Wahrnehmung der Rose. In dem Augenblick nun, wo wir den Blick abwenden von der Rose, behalten wir ein inneres Bild von ihr. Da bleibt etwas, was wir nun mit uns herumtragen können, ein Bild der Rose. Wir müssen unterscheiden diese zwei Momente, den Moment, wo wir der Rose gegenüberstehen, und das, durch welches wir das Bild der Rose, ohne daß sie vor uns steht, in der Vorstellung, als inneres Besitztum der Seele mit uns herumtragen können. Es ist notwendig, gerade die­ses hervorzuheben, weil die Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts gerade hier die unglaublichsten Vorstellungen hervorgerufen hat. Wir brauchen nur zu denken an die Schopenhauersche Philosophie, deren erster Satz ist: « Die Welt ist meine Vorstellung.» Man braucht sich nur klar einen Begriff zu machen von demjenigen, was Wahrneh­mung ist, und von demjenigen, was Vorstellung ist. Vor­stellung unterscheidet sich von der Wahrnehmung. Das sieht der denkende Mensch ein, wenn er sich nur vorhält die Vorstellung eines recht heißen, eines furchtbar heißen Stahles, eines Stahles meinetwillen von noch soviel Grad Celsius. Der unterscheidet sich, wenn wir ihn uns nur in der Vorstellung gegeben sein lassen, von dem Stahl der Wahrnehmung. Der Stahl der Wahrnehmung in unserem Falle brennt; der vorgestellte Stahl brennt nicht, und wenn er auch noch so heiß vorgestellt wird. Für die Wahrneh­mung müssen wir mit der Außenwelt in Korrespondenz treten; die Vorstellung ist Besitztum der Seele. Wir können genau die Grenze ziehen zwischen demjenigen, was wir innerlich erleben, und der Außenwelt. In dem Augenblick, wo wir anfangen, innerlich zu erleben, da beginnt das­jenige, was wir nennen Empfindungsseele gegenüber demjenigen,

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was Empfindungsleib ist, der uns zum Beispiel Wahrnehmung vermittelt, der es möglich macht, daß wir empfinden können die Farbe der Rose. In der Empfin­dungsseele liegen also die Vorstellungen, liegt aber auch alles dasjenige, was wir nennen können unsere Sympathien und Antipathien, unsere Gefühle, unsere Empfindungen, die wir erleben den Dingen gegenüber. Wenn wir die Rose schön nennen, so ist dieses innere Erlebnis ein Gut der Empfindungsseele. Wer nicht unterscheiden will zwischen Wahrnehmung und Vorstellung, dem inneren Besitztum der Vorstellung, die in der Empfindungsseele wurzelt, der möge sich klar machen eben, daß ein glühender wirklicher Stahl brennt, ein vorgestellter aber nicht. Als ich das auch einmal gesagt hatte, da entgegnete man mir: Ja! es könne jemand so lebendig sich selber eine Art von Suggestion geben, daß er zum Beispiel, wenn er nur denke an eine Limonade, er auch schon einen Limonadengeschmack habe, so daß wir nicht ganz unterscheiden können zwischen inne­rem Erlebnis und äußerer Welt. Ich antwortete ihm: So weit kann es allerdings jemand bringen, daß er ohne äußere Limonade den Geschmack der Limonade sich viel-leicht vergegenwärtigen kann; ob ihm aber diese vorge­stellte Limonade auch den Durst löscht, das ist eine andere Frage. Man wird schon die Grenze angeben können zwi­schen demjenigen, was wirklich draußen ist, und demjeni­gen, was innerlich erlebt wird. Genau da, wo das innere Erlebnis beginnt, da beginnt die Empfindungsseele gegen­über dem Empfindungsleib.

Ein höheres Glied nun, durch Arbeit des Ichs am Äther-leib hergestellt, ist dasjenige, was wir die Verstandes- oder Gemütsseele nennen. Wir werden im Vortrag über die

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« Mission der Wahrheit » von dieser Verstandes- oder Ge­mütsseele zu sprechen haben, wie wir heute insbesondere von der Empfindungsseele sprechen müssen. Durch die Ver­standes- oder Gemütsseele erlebt der Mensch dasjenige, was er nun nicht bloß als etwas hat, was durch die Außen­welt angeregt und in ihm fortgetragen wird; sondern durch sie erlebt der Mensch in sich dasjenige, was er vielleicht auf Grund der Außenwelt erlebt, aber nur dann, wenn er in sei­nem Innern sozusagen die äußere Anregung fortsetzt. Wenn wir nicht nur äußere Wahrnehmungen machen und sie in unserer Empfindungsseele wieder aufleben lassen, sondern wenn wir nachdenken darüber, wenn wir uns ihnen hinge­ben, wenn wir weiteres erleben, dann bauen sie sich auf, dann gestalten sie sich uns zu Gedanken, zu Urteilen, zum ganzen Inhalt unseres Gemüts. Was wir da innerlich erleben nur dadurch, daß unsere Seele weiterlebt die Anregungen der Außenwelt, das nennen wir Verstandes- oder Gemütsseele.

Dann haben wir ein Drittes dadurch, daß das Ich in dem physischen Leib sich die Organe geschaffen hat, um wieder herauszugehen aus sich, und was es erlebt hat an Urteilen, Begriffen, Ideen, Gemüt, wieder zusammenzubringen mit der Außenwelt. Wenn in der Seele das Ich dieses dritte Glied entwickelt, so nennen wir das Bewußtseinsseele, weil die Seele nicht bloß Erlebnisse hat auf Grund der An­regungen, die von außen kommen, weil sie dasjenige, was sie innerlich erlebt, zum Wissen macht über die Außenwelt. Wenn wir unsere Gefühle, die wir in uns erleben, so ge­stalten, daß sie uns aufklären über den Inhalt der Welt, dann wird unser Denk-, Urteils-, Gemüts-Inhalt zum Wis­sen von der Außenwelt. Wir sprechen von einer Bewußt­seinsseele, durch die wir die Geheimnisse der Außenwelt

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ergründen; wir sprechen von einer Bewußtseinsseele, durch die wir wissende, erkennende Menschen sind.

Das Ich ist es aber, das in diesen drei Gliedern der mensch­lichen Seele unablässig arbeitet an den drei Seelengliedern des Menschen, an der Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und Bewußtseinsseele. Und je mehr es arbeitet, innerlich gebundene Kräfte loslöst, je fähiger und fähiger es macht diese drei Seelenglieder, desto weiter schreitet der Mensch in seiner Entwickelung. Das Ich ist der Akteur, das tätige Wesen, durch das der Mensch Entwickelung nicht bloß erkennen, sondern Entwickelung machen kann, durch das er fortschreitet, inimer weiter und weiter, so daß seine früheren Verkörperungen diese drei Seelenglieder innerlich unvollkommen zeigten und mit jedem neuen Leben der Inhalt, das Leben von Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und Bewußtseinsseele immer reicher und rei­cher, immer umfassender und umfassender wird. Das ist menschliche Entwickelung von Leben zu Leben, Arbeit des Ichs zunächst an den drei Seelengliedern, an der Empfin­dungsseele, der Verstandes- oder Gemütsseele und an der Bewußtseinsseele. Indem dieses Ich so arbeitet, müssen wir uns klar sein, daß dieses Ich selber sozusagen darstellt eine Art « zweischneidigen Schwertes». Oh, dieses Ich des Men­schen, es ist auf der einen Seite dasjenige in des Menschen Wesenheit, durch das er allein im wahren Sinne des Wortes Mensch sein kann. Wir würden ein Wesen sein, das sozu­sagen untätig mit der Außenwelt verschmolzen wäre, wenn wir diesen Mittelpunkt nicht hätten. Unsere Begriffe und Ideen müssen in diesem Mittelpunkt gefaßt sein; immer mehr und mehr Begriffe und Ideen müssen in diesem Ich sich erleben; immer reichere Gemütsinhalte, immer reichere

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Anregungen müssen wir von der Außenwelt erhalten. Wir sind um so mehr Mensch, je voller, je reicher, je umfäng­licher dieses unser Ich wird. Daher muß durch die verschie­denen Leben hindurch dieses Ich sich immer mehr und mehr bereichern, ein Mittelpunkt werden, durch den der Mensch sich nicht nur in die Außenwelt hineingliedert, sondern durch das er Anreger ist. Der Mensch ist um so mehr Mensch, je mehr wir spüren, daß im Punkte seines Ichs eine reiche Summe von Impulsen liegt. Je mehr er aus­strahlt von seiner Eigenheit, je mehr er aufgenommen hat, desto mehr ist er Mensch; je reicher die Ichheit ist, desto vollkommener ist der Mensch als Mensch.

Das ist die eine Seite des Ichs, die uns die Entwicklungs­verpflichtung auferlegt, alles zu tun, um es so reich, so viel­seitig als möglich zu machen. Aber es gibt auch eine Kehr­seite für diesen Fortschritt des Ichs zu immer reicherem und vollerem Inhalt. Das ist dasjenige, was wir bezeichnen als Selbstsucht oder Egoismus. Würde der Mensch das Wort Selbstsucht oder Egoismus nur als ein Schlagwort nehmen und sagen, man muß selbstlos werden, dann wäre das natürlich schlimm, wie jeder Gebrauch eines Schlagwortes als Schlagwort schlimm ist. Des Menschen Aufgabe ist es in der Tat, sich reicher und reicher zu machen; das ist nicht dasselbe, wie selbstsüchtig werden, wenn diese Bereiche­rung des Ichs verknüpft ist damit, daß das Ich sich ver­härtet in sich selber, daß es sich abschließt mit seiner Be­reicherung. Da wird der Mensch zwar reicher und reicher, aber er wird zugleich den Zusammenhang mit der Welt verlieren, und seine Bereicherung würde bedeuten, daß ihm die Welt und er der Welt nichts mehr geben kann; daß er doch mit der Zeit vergehen würde, weil er, indem er strebt,

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sein Ich zu bereichern, alles im Ich behält und damit den Zusammenhang mit der Welt verliert. Der Mensch würde durch diese Karikatur seiner Ich-Entwickelung zu gleicher Zeit verarmen. Selbstsucht verarmt und verödet den Men­schen. So ist das Ich ein zweischneidiges Schwert, indem es arbeitet an den drei Seelengliedern. Es muß auf der einen Seite so arbeiten, daß es immer reicher und reicher wird, voller und voller sich gestaltet, daß es ein kräftiger Mittel­punkt wird, von dem viel ausstrahlen kann; aber es muß alles dasjenige, was es in sich aufnimmt, wiederum in Har­monie bringen mit dem, was in der Umgebung lebt. Es muß eben in demselben Maße, in dem es sich in sich hinein-entwickelt, zu gleicher Zeit aus sich herausgehen, mit allem Dasein zusammenfließen. Es muß zu gleicher Zeit eine selbsteigene Wesenheit werden und auf der andern Seite selbstlos werden. Nur wenn das Ich nach diesen beiden Seiten hin, die sich scheinbar widersprechen, arbeitet, indem es sich immer mehr und mehr bereichert und auf der andern Seite selbstlos wird, dann kann die Entwickelung des Men­schen so vorwärts gehen, daß er zu seiner eigenen Befrie­digung und zum Heil und Fortschritt des Daseins sich ent­wickelt. Nur muß das Ich an jedem der drei Seelenglieder so arbeiten, daß nach diesen beiden Seiten hin der mensch­lichen Entwickelung Rechnung getragen wird.

Nun aber, wenn das menschliche Ich arbeitet an den drei Seelengliedern, so erwacht es selber nach und nach. Es ist ja in allem Leben Entwickelung; und wir sehen, daß die verschiedenen Glieder der menschlichen Seele in verschiede­nem Grade beim heutigen Menschen entwickelt sind. Am stärksten ist die Empfindungsseele entwickelt. Und in die­ser Empfindungsseele ist alles dasjenige, was innerlich erlebt

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wird an Lust und Leid, Freude und Schmerz, Trieben, Begierden und Leidenschaften, an allen Stimmungen und Affekten, an demjenigen, was unter unmittelbarer An­regung in der Wahrnehmungswelt erwacht in der Seele. Das erlebt der Mensch auf gewissen untergeordneten Stufen der Entwickelung in seiner Empfindungsseele sozusagen dumpf. Da ist das Ich noch nicht zum vollen Dasein er­wacht. Erst wenn das Seelenleben sich fortsetzt in sich selber, wenn der Mensch in sich arbeitet, dann wird das Ich deutlicher und deutlicher, dann wird es sich immer mehr und mehr bewußt. Eigentlich ist das Ich, sofern die Empfindungsseele erwacht, etwas, was dumpf brütet. Immer klarer und klarer wird sich das Ich erst, indem der Mensch sich heraufentwickelt zu einem reicheren Leben in der Ver­standesseele; und am klarsten erscheint sich das Ich, wenn es sich in der Bewußtseinsseele unterscheidet von derAußen­welt, indem der Mensch ein wissendes Wesen wird und sich als eine Ichheit unterscheidet von der Außenwelt. Das kann er nur in seiner Bewußtseinsseele.

So haben wir das Ich dumpf brütend in der Empfin­dungsseele; da drinnen sind die Wogen von Lust und Leid, von Freude und Schmerz; da kann das Ich kaum wahrge­nommen werden, da wird es fortgerissen in diesem Wogen von Affekten und Leidenschaften und so weiter. Erst in­dem das Ich dazu kommt, die Verstandesseele weiter aus­zubilden zu klar umrissenen Begriffen und Ideen, wenn es zu klaren Urteilen kommt, erst dann wird es immer in sich selber voller und klarer, und am klarsten wird es eben erst in der Bewußtseinsseele. So müssen wir sagen: Der Mensch soll sich durch sein Ich erziehen, der Mensch soll durch sein Ich die Möglichkeit haben, sich vorwärts zu entwickeln;

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aber dieses Ich erwacht in einem Zustande, wo es noch ganz hingegeben ist an die Wogen, die eben als Lust und Leid, Freude und Schmerz, als Triebe, Begierden und Leiden­schaften in dieser Empfindungsseele sind. Ist nun etwas in dieser Empfindungsseele, was in gewisser Weise Erzieher des Menschen sein kann, da das Ich noch selber unbeholfen ist?

Wir werden sehen, wie in der Verstandesseele etwas Platz greift, was das Ich in die Lage versetzt, seine Er­ziehung selbst in die Hand zu nehmen. Bei der Empfin-dungsseele ist das noch nicht vorhanden. Da muß es ge­leitet werden von demjenigen, was ohne sein Zutun in der Empfindungsseele Platz greift. Eine Kraft, ein Element der Empfindungsseele soll nun heute herausgehoben werden und in seiner Bedeutung, in seiner Mission für die Er­ziehung des Ichs nach zwei Seiten hin betrachtet werden, und das ist, was vielleicht am meisten Anstoß in diesem Zusammenhang erregen kann, dasjenige, was wir den Zorn nennen. Der Zorn gehört zu demjenigen, was in der Emp­findungsseele auflebt, in der das Ich noch dumpf darinnen brütet. Oder stehen wir in einer selbstbewußten Beziehung zu irgendeinem Wesen der Außenwelt, über das wir wegen seiner Handlungsweise in Zorn erglühen? Vergegenwär­tigen wir uns einmal den Unterschied zwischen zwei Men­schen, die, sagen wir, Erzieher sind. Der eine ist bereits so abgeklärt, daß er zu lichtvollen inneren Urteilen gekom­men ist. Er sieht in völliger Gelassenheit, was sein Zögling an verkehrter Handlungsweise vollbringt, weil seine Ge­mütsseele zur Entwickelung gekommen ist. Und auch seine Bewußtseinsseele sieht voll Gelassenheit die Fehler seines Kindes an, und er kann, wenn dies nötig ist, die angemessene

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Strafe ausdenken. Ohne daß ihn durchzuckt irgend­eine Leidenschaft, geht er über zu der betreffenden Strafe, die bemessen ist nach den Gründen des ethischen Urteils, des pädagogischen Urteils, die angemessen ist dem Ver­gehen des Kindes. Anders ist es bei demjenigen Erzieher, der sein Ich noch nicht so weit gebracht hat, daß er ruhig bleibt, der noch nicht zur inneren Klarheit gekommen ist, der nicht in sich ausdenken kann, was zu geschehen hat, wenn das Kind dieses oder jenes gemacht hat; er kann aber im Zorn erglühen über die verkehrte Handlungsweise des Kindes. Ist dieser Zorn immer unangemessen dem Ereig­nisse der Außenwelt? Nein, das ist er nicht immer. Und das ist es, was wir festhalten müssen. Gewissermaßen hat die Weisheit unserer Entwickelung vorgesorgt, daß, ehe wir imstande sind, mit unserem Urteil aus Verstandes- und Bewußtseinsseele heraus das Angemessene für ein Ereignis der Außenwelt zu finden, uns das Gefühl, der Affekt über­mannt. Etwas in unserer Empfindungsseele tritt auf als eine Folge der Tat in der Außenwelt. Wir sind noch nicht reif, im Urteil zu finden, was der Außenwelt angemessen ist; wir sind aber fähig, in unserer Empfindungsseele aus der Summe unserer Empfindungen heraus zu reagieren auf dasjenige, was uns entgegentritt von der Umwelt. Von all dem, was die Empfindungsseele durchlebt, sei also der Zorn herausgehoben. Der ist ein Vorbote von demjenigen, was einmal da sein wird. Erst urteilen wir aus unserem Zorn heraus über ein Ereignis der Außenwelt; dann wer­den wir, indem wir erst unbewußt lernen, nicht überein­zustimmen mit demjenigen, was nicht sein soll - unbewußt lernen durch den Zorn - gerade durch dieses Urteilen immer reifer und reifer werden zum lichterfüllten Urteilen

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in der höheren Seele. So ist der Zorn in gewissem Gebiete ein Erzieher des Menschen. Er ist da als ein inneres Erleb­nis, bevor wir so reif sind, ein lichterfülltes Urteil zu fällen über dasjenige, was nicht sein soll. So müssen wir jenen Zorn ansehen, der den Jüngling überkommt mit seinem noch nicht herangereiften Urteil, welcher sich noch nicht ein gelassenes Urteil bilden kann, der aber im Zorn erglühen kann, wenn er in seiner Umgebung eine Ungerechtigkeit oder Torheit sieht, was seinem Ideale nicht entspricht. Und wir sprechen dann mit Recht von einem edlen Zorn. Dieser Zorn ist ein dumpfes Urteil, das in der Empfindungsseele gefällt wird, ehe denn wir reif sind, in lichter Klarheit das Urteil zu fällen. Ja, der Zorn ist der Erzieher zu dieser lichten Klarheit. Denn niemand wird besser zu einem in sich selber sicheren Urteil geführt als derjenige, der aus einer alten edlen Seelenanlage heraus sich so entwickelt hat, daß er über das Unedle, Unmoralische, Törichte hat er­glühen können in edlem Zorn. Und der Zorn hat die Mis­sion, des Menschen Ich heraufzuheben in die höheren Ge­biete. Das ist seine Mission. Er ist ein Lehrer in uns selber. Bevor wir uns führen können, bevor wir in lichtvoller Klarheit urteilen können, führt er uns in dem, was wir schon können. Es muß natürlich alles beim Menschen aus-arten können, da er ein freies Wesen werden soll. Daher kann dasjenige, was für ihn ein Erzieher sein kann, zur Freiheit und Selbständigkeit des Urteils ausarten. Der Zorn kann in Wut ausarten, so daß der ärgste Egoismus befrie­digt wird. Aber so muß es sein, wenn der Mensch sich zur Freiheit entwickeln können soll. Dabei darf nicht ver­kannt werden, daß dasjenige, was zum Bösen werden kann, da wo es auftritt in seiner rechten Bedeutung, gerade

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die Mission haben kann, den Menschen vorwärts zu brin­gen. Weil der Mensch das Gute in Böses verkehren kann, deshalb wird dasjenige, was als Eigenschaft im guten Sinne sich ausbildet, gerade das Eigentum des menschlichen Ichs sein können. So ist der Zorn aufzufassen als Morgenröte dessen, was den Menschen zur Gelassenheit erheben kann.

Aber dieser Zorn, wenn er auf dieser einen Seite der Er­zieher des Ichs ist, ist auf der andern Seite auch dasjenige, was uns merkwürdigerweise zeigt, daß er die andere Eigen­schaft des Ichs, die Selbstlosigkeit des Ichs, ausprägt. Was kommt denn aus diesem Ich heraus, indem der Zorn uns übermannt bei einer ungerechten oder törichten Handlung in der Umgebung? Stellen wir uns einer solchen Tatsache gegenüber: der Zorn übermannt uns. In uns ist etwas, was anders spricht als das, was da vor uns steht. Die Tatsache des Zorns drückt sich so aus, daß in uns etwas ist, was sich stellt gegen die Außenwelt; das heißt, es kündigt sich der Zorn an; es will sicher werden gegenüber demjenigen, was da draußen steht. Das Voll-Inhaltliche des Ichs wird da herangezogen. Würden wir eine Torheit sehen oder eine Ungerechtigkeit und dabei nicht in edlem Zorn erglühen können, dann würde die Außenwelt mit diesen Tatsachen gleichgültig an uns vorübergehen; das heißt, wir würden mit der Außenwelt zusammenfließen, wir würden nicht spüren den Stachel unseres eigenen Ichs; wir würden das Ich nicht spüren in seiner Entfaltung. Der Zorn aber macht es reich, ruft es heraus, damit es sich der Außenwelt gegen­überstellen kann. Aber auf der andern Seite erzieht der Zorn auch das andere im Ich, die Selbstlosigkeit. Wenn dieser Zorn dasjenige ist, was wir als edlen Zorn bezeich­nen können, dann wirkt er so, daß der Mensch da, wo er

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den Zorn erlebt, zu gleicher Zeit eine Herabdämpfung sei­nes Ich-Gefühles hat. Es ist etwas wie eine Seelen-Ohn­macht, was durch den Zorn in uns erwacht, wenn wir ihm nicht hingegeben sind in Wut. Wenn wir unsere Seele mit diesem Zorn durchfühlen, dann kommt so etwas zustande wie eine Seelen-Ohnmacht, dann wird das Ich dumpfer und dumpfer. Indem es sich herausstellt im Gegensatz zur Außenwelt, löscht es sich auf der anderen Seite wieder aus. Der Mensch kommt durch die Heftigkeit des Zorns, den er in sich verbeißt, zu gleicher Zeit zur Entwickelung der Selbstlosigkeit. Beide Seiten des Ichs werden durch den Zorn zur Enwickelung gebracht. Der Zorn hat die Mission, Selbst-Eigenheit in uns entstehen zu lassen, und zu gleicher Zeit wird diese Selbsteigenheit in Selbstlosigkeit umgewan­delt. Derjenige, der den Zorn in sich selber erlebt, erlebt etwas, was die Volks-Phantasie wunderbar zur Darstel­lung bringt. Sie kennen vielleicht alle den Volks-Ausdruck « sich giften » Man nennt Zornigsein « giften », indem un­sere Volks-Phantasie gerade wunderbar dasjenige an sol­chen Lehren hier erlebt, was manchmal Gelehrsamkeit nicht fühlen kann. Der Zorn, der in die Seele sich hineinfrißt, ist ein Gift, das heißt etwas, was dämpfend für die Selbst-eigenheit des Ichs wirkt. Indem man sagt: er giftet sich, weist man auf diese andere Erziehungsmethode des Zornes hin, auf die Ausbildung der Selbstlosigkeit. So ist der Zorn in der Tat etwas, was nach diesen zwei Seiten der mensch­lichen Erziehung eine Mission hat, und wir sehen, wie er der Vorbote unserer Selbständigkeit und Selbstlosigkeit wird, solange das Ich nicht selber eingreifen kann in seine eigene Erziehung. Wir würden zerfließen, wenn alles um uns her uns gleichgültig bleiben würde, wenn wir noch

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nicht ein gelassenes Urteil fällen können. Wir würden nicht selbstlos werden, sondern im schlechten Sinne unselbstän­dig, ohne Ichheit, wenn nicht, bevor wir unser Ich zum klaren, lichtvollen Urteil herauf entwickelt haben, wir uns selbständig machen können durch den Zorn, da wo die Außenwelt unserem eigenen Innern nicht angemessen ist. Und dieser Zorn ist für den Geisteswissenschafter wirk­lich eine Morgenröte für etwas ganz anderes noch.

Wer das Leben betrachtet, der wird sehen, daß derjenige, der nicht in edlem Zorn erglühen kann über ein Unrecht oder eine Torheit, auch niemals zur wahren Milde und Liebe kommen kann. Wenn Sie das Leben betrachten, so werden Sie sehen, daß derjenige, solange er nötig hat, sich in der Weise zu erziehen, daß er einem Unrecht oder einer Torheit gegenüber in edlem Zorn erglühen kann, im schön­sten Sinne auch sich ausbildet jenes liebedurchglühte Herz, das aus der Liebe heraus das Gute tut. Liebe und Milde sind die andere Seite des edlen Zornes. Überwundener Zorn, geläuterter Zorn wandelt sich in Liebe und Milde. Eine liebende Hand, sie wird selten in der Welt zu finden sein, wenn sie nicht auch in der Lage war, in gewissen Zei­ten sich zur Faust zu ballen über dasjenige, was in edlem Zorn über ein Unrecht oder eine Torheit gefühlt werden kann. Das sind Dinge, die zusammen gehören.

In einer phrasenhaften Theosophie könnte man sagen:

Ja, der Mensch muß seine Leidenschaften überwinden. Er muß sie läutern und reinigen. « Überwinden » heißt nicht, sich um eine Sache herumschleichen, ihr hübsch ausweichen. Das ist ein sonderbares Opfer, das manche bringen wollen, indem sie den leidenschaftlichen Menschen ablegen wollen dadurch, daß sie sich um ihn herumschleichen, ihm ausweichen

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. Opfern kann man nur dasjenige, was man erst hat; und was man nicht hat, kann man nicht opfern. Über­winden kann den Zorn nur derjenige, der zuerst im Zorn erglühen konnte; denn erst muß man dasjenige haben, was man überwinden soll. Man muß sich nicht vorbeischleichen, sondern solche Eigenschaften muß man in sich verwandeln. Dazu müssen sie aber erst da sein.

Wenn wir den Zorn verwandeln, wenn wir heraufstei­gen von demjenigen, was in der Empfindungsseele als edler Zorn erglüht bis in die Verstandes- und Bewußtseinsseele, dann wird Liebe und Milde und eine segnende Hand aus dem Zorn heraus sich entwickeln.

Verwandelter Zorn ist Liebe im Leben. So sagt es uns die Realität. Daher hat der Zorn, der in sich selber maß­voll auftritt im Leben, die Mission, den Menschen zur Liebe zu führen; wir können ihn bezeichnen als den Er­zieher zur Liebe. Und nicht umsonst nennt man das, was sich in der Welt zeigt wie ein Unbestimmtes, aus der Weis­heit der Welt Herausfließendes, das ausgleicht, was nicht sein soll, den göttlichen Zorn im Gegensatz zur göttlichen Liebe. Aber wir wissen auch, daß diese beiden Dinge zu­sammengehören, daß das eine ohne das andere nicht be­stehen kann. Im Leben bedingen und bestimmen sich diese Dinge.

Nun sehen wir, wie die Kunst, die Dichtung, da, wo sie größer wird, uns zeigt dasjenige, was Urweltweisheit ist. Und so wie wir, wenn wir über die Mission der Wahrheit zu sprechen haben, zeigen können, wie Goethe in einer seiner größten Dichtungen - wenn sie auch äußerlich klein vor uns auftritt -, in seiner « Pandora », uns klar zum Aus­druck bringt, was er über die Mission der Wahrheit gedacht

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hat, so können wir, wenn auch nicht so deutlich wie dort, sehen, wie an einer gewaltigen Weltdichtung, an dem « Gefesselten Prometheus » des Aeschylos uns sozusagen das welthistorische Phänomen des Zornes entgegentritt.

Sie kennen wohl wahrscheinlich den Inhalt jener Sage, welche dem Drama des Aeschylos zugrunde liegt. Prome­theus ist ein Sprößling des alten Titanengeschlechtes, wel­ches ablöst das erste Göttergeschlecht, das die griechische Sage hineinstellt in die Entwickelung der Erde und der Menschheit. Uranos und Gäa sind diejenigen, die zur er­sten Göttergeneration gehören. Uranos wird abgelöst durch Kronos oder Saturn. Dann wiederum werden die Titanen gestürzt von dem dritten Göttergeschlecht, das seinen An­führer in Zeus hat. Prometheus war ein Sprößling der Titanen; er hat aber doch im Kampf gegen die Titanen an der Seite des Zeus gestanden, so daß er in gewisser Be­ziehung ein Freund des Zeus genannt werden kann; aber er ist dem Zeus doch nur ein halber Freund. Als auf der Erde, so erzählt die Sage weiter, Zeus die Herrschaft an­getreten hat, da war das Menschengeschlecht so weit, daß es in einen anderen Gang kam, daß die alten Fähigkeiten, die die Menschen der Urzeit hatten, immer dumpfer und dumpfer wurden. Zeus wollte die Menschen ausrotten, wollte ein anderes Geschlecht auf die Erde bringen. Pro­metheus aber beschloß, den Menschen ihre Fortentwicke­lung möglich zu machen. Prometheus brachte den Menschen die Möglichkeit der Sprache, der Erkenntnis der äußeren Welt, der Schrift und endlich auch des Feuers, so daß das Menschengeschlecht durch die Handhabung von Schrift und Sprache, durch die Handhabung des Feuers aus seinem Niedergange sich wieder erheben konnte.

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Nun steht mit all dem, was dargestellt wird als der Menschheit Geschenk durch Prometheus, in Verbindung, wenn wir die Sache tiefer betrachten, das menschliche Ich. Und verstehen wir die griechische Sage richtig, so müssen wir sagen: da wird uns Zeus vorgeführt als eine göttliche Kraft, welche beseelt und durchgeistigt solche Menschen, bei denen das Ich noch nicht zum Ausdruck gekommen ist. Wenn wir zurückgehen in der Entwickelung unserer Erde, so finden wir eine Menschheit, in der das Ich noch dumpf brütet. Dieses Ich mußte besondere Fähigkeiten bekom­men, um sich zu erziehen. Die Gaben, die Zeus zunächst verleihen konnte, waren nicht geeignet, den Menschen wei­ter zu bringen. In bezug auf seinen Astralleib, in bezug auf dasjenige, was ohne das Ich im Menschen ist, da ist Zeus der Schenker, der Geber. Er beschloß, das Menschen­geschlecht auszurotten, weil er nicht fähig war, das Ich zur Entwickelung zu bringen. Prometheus bringt mit all den Gaben, die er gibt, die Fähigkeit, zum Ich sich zu erziehen.

Das ist der tiefere Sinn dieser Sage. Prometheus also ist derjenige, der den Menschen es möglich macht, das Ich auf sich selbst zu stellen, es immer reicher und voller zu ma­chen. Gerade das verstand man in Griechenland unter der Gabe des Prometheus: die Fähigkeit des Ichs, sich immer reicher und reicher, sich immer voller und voller zu machen.

Nun haben wir aber gerade heute gesehen: wenn das Ich nur diese eine Eigenschaft ausbilden würde, dann würde es mit der Zeit doch verarmen; denn es würde sich abschlie­ßen von der Außenwelt. Das ist nur die eine Seite des Ichs, sich immer reicher und reicher zu machen. Diesen Inhalt muß das Ich wieder heraustragen, das Ich muß sich in Ein­klang versetzen mit aller Umwelt, wenn es nicht verarmen

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will. Prometheus konnte den Menschen nur die eine Gabe bringen, die das Ich immer voller und voller, immer in­haltsreicher und inhaltsreicher machte. Dadurch mußte Prometheus herausfordern gerade diejenigen Mächte, welche aus dem ganzen Weltendasein heraus das Ich in der rich­tigen Weise dämpfen, damit es selbstlos werden kann, da­mit es auch die andere Seite ausbilden kann. Was beim einzelnen Menschen der Zorn wirklich bewirkt auf der einen Seite, daß er das Ich auf sich selbst stellt, daß er den Stachel aus ihm ersprießen läßt, der es entgegenstellt einer ganzen Welt, und was der Zorn auf der andern Seite be­wirkt dadurch, daß er das Ich zu gleicher Zeit herabdämpft, der Mensch durch diesen Affekt sozusagen in sich selber den Zorn hineinfrißt, das Ich dumpfer wird, das wird welt-geschichtlich dargestellt in dem Kampf zwischen Prome­theus und Zeus. Prometheus bringt dem Ich die Fähigkei­ten, durch die es immer reicher und reicher wird. Dasjenige, was Zeus nun zu tun hat, das ist zu wirken so, wie im einzelnen Menschen der Zorn wirkt. Daher kommt über das, was Prometheus wirkt, der Zorn des Zeus und löscht die Macht des Ichs in Prometheus aus. Die Sage erzählt weiter, daß Prometheus bestraft wird von Zeus für seine Tat, weil er die Menschheit unzeitig in der Ichförderung vorwärts gebracht hat. Er wird an einen Felsen angeschmie­det. Dasjenige, was da dieses Menschheits-Ich aussteht, an-geschmiedet an den Felsen, was es erlebt an innerem Auf­ruhr, das kommt so grandios in der Dichtung des Aeschylos zum Ausdruck.

So sehen wir durch den Zorn des Zeus niedergedämpft den Repräsentanten des menschlichen Ichs. So wie das ein­zelne Ich des Menschen herabgedämpft wird, in sich selber

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hineingebracht wird, wenn es diesen Zorn in sich selber verbirgt, wie es dadurch auf das richtige Maß herunter­gebracht wird, so wird Prometheus durch den Zorn des Zeus angeschmiedet, das heißt, in seiner Tätigkeit auf das richtige Maß zurückgeführt. Es wird, wie der Zorn flutet durch die einzelne Seele, das Ich angekettet, wenn es ganz in der Ichheit sich ausleben will. Wie es angeschiniedet wird, indem der Zorn das Ich-Bewußtsein hinunterdrängt, so wird das Ich des Prometheus am Felsen angeschmiedet. Das ist das Eigentümliche der umfassenden Sage, daß sie solch umfassende Wahrheiten, die für den einzelnen Men­schen sowohl wie für die ganze Menschheit gelten, in ge­waltigen Bildern hinstellt. Das ist das Eigentümliche der Sage, daß sie den Menschen in Bildern anschauen läßt das­jenige, was in der eigenen Seele erlebt werden soll. Und so blicken wir hin nach dem am Kaukasus-Felsen angeschmie­deten Prometheus und sehen in ihm einen Repräsentanten des menschlichen Ichs, das vorwärts kommen will, wenn es noch in der Emfindungsseele dumpf brütet, das angeschmie­det wird, damit es sich nicht ins Maßlose austoben kann.

Und dann hören wir weiter, wie Prometheus weiß, daß Zeus wird verstummen müssen mit seinem Zorn, wenn er gestürzt wird durch den Sohn einer Sterblichen. Das wird Zeus in seiner Herrschaft ablösen, was da geboren wird aus einer Sterblichen heraus. Aus dem sterblichen Menschen heraus wird geboren werden - wie das Ich entfesselt wird durch die Mission des Zornes auf einer unteren Stufe - das Ich auf einer höheren Stufe, das unsterbliche Ich. Auf einer höheren Stufe wird herausgeboren aus dem sterblichen Menschen die unsterbliche Seele. Und wie Prometheus hin-schaut auf einen, der die Herrschaft des Zeus ablösen wird,

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die Herrschaft jenes Gottes, der den Zorn über Prometheus, das heißt über das menschliche Ich gießen kann, damit die­ses Ich nicht maßlos über sich hinausschreitet, wie Zeus ab­gelöst wird durch Christus Jesus, so wird das einzelne Ich, das gefesselt wird durch den Zorn, nach dem umgewandel­ten Zorn in das liebende Ich verwandelt, in die Liebe, die der verwandelte edle Zorn ist. Wir sehen jenes Ich, das segnend milde und liebevoll in die Außenwelt eingreift, sich herausentwickeln aus dem durch den Zorn gefesselten Ich, wie wir heraus sich entwickeln sehen einen Gott der Liebe, der das Ich hegt und pflegt, das zunächst in einer älteren Zeit durch den Zorn des Gottes Zeus gefesselt wer­den mußte, um nicht hinauszugreifen über sein Maß.

So sehen wir auch in der Fortsetzung dieser Sage ein Außentableau der Menschheitsentwickelung. Wir müssen dieses Außentableau dieser Mythe selber so ergreifen, daß es uns lebendig für das ganze Erdenwesen gibt dasjenige, was der einzelne Mensch in sich selber erlebt aus dem durch die Mission des Zornes erzogenen Ich zum befreiten Ich. das die Liebe entfaltet.

Wenn wir das so nehmen, dann verstehen wir, was da gewirkt hat, was diese Sage herausgestaltet hat, und was Aeschylos aus diesem Stoffe gemacht hat. Wir fühlen wahr­haftig seelisches Blut, das in uns pulsiert; wir fühlen es im Fortgang der Prometheus-Sage; wir spüren es in der dra­matischen Gestaltung dieses Stoffes durch Aeschylos.

So finden wir förmlich etwas wie eine Nutzanwendung dessen, was wir in der Seele erleben können, in diesem grie­chischen Drama. So ist es mit allen großen Dichtungen, mit allen großen Kunstwerken überhaupt, daß sie aus den gro­ßen typischen Erlebnissen der Menschenseele hervorgehen.

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So haben wir heute gesehen, wie aus einem Affekt heraus durch die Läuterung dieses Affektes das Ich erzogen wird. So werden wir im nächsten Vortrag sehen, wie das Ich reif wird, sich selbst zu erziehen in der Verstandes- oder Ge­mütsseele, indem es ergreift die Mission der Wahrheit auf einer höheren Stufe.

So hat uns unsere Betrachtung gezeigt, wie auch aus demjenigen, was wir als Nutzanwendung gesehen haben, sich uns bewahrheitet das Wort des großen griechischen Weisen Heraklit:

« Der Seele Grenzen kannst du nimmer ergründen, und wenn du auch alle Straßen abliefest; so umfassend ist der Seele Wesen. »

Ja es ist so, daß die Seele ein so umfassendes Wesen hat, daß wir es nicht ergründen können unmittelbar. Geistes­wissenschaft aber mit dem geöffneten Auge des Sehers führt doch hinein in die Seelen-Substanz, und wir kom­men weiter und weiter im Ergründen jenes geheimnisvol­len Wesens, das unsere Seele darstellt, wenn wir sie mit den Augen des Geisteswissenschafters betrachten. Wahr­haftig, wir können sagen auf der einen Seite: die Seele ist abgrundtief; aber wir wenden uns ein, wenn wir diesen Ausspruch selber in seinem Ernst ergreifen: sind der Seele Grenzen so weit, daß wir alle Straßen durchlaufen müssen, so können wir auch Hoffnung haben, wenn wir diese Gren­zen der Seele selber erweitern, wenn wir das benützen, daß dieser Seele Grenzen weit sind, daß wir mit der Seele immer weiter und weiter kommen.

Dieser Hoffnungsstrahl gerade ergießt sich in unser Er­kenntnisstreben, wenn wir nicht bloß mit Resignation, son­dern mit Zuversicht den wahren Ausspruch des Heraklit

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aufnehmen, nämlich - : der Seele Grenzen sind so weit, daß du alle Straßen durchlaufen mögest, und du wirst sie doch nicht ergründen. So umfassend ist ihr Wesen.

Ergreifen wir dieses umfassende Wesen; es wird uns führen immer mehr und mehr in die Lösung der Rätsel des Daseins.

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DIE MISSION DER WAHRHEIT

Unseren Vortrag über die Mission des Zornes - der ge­fesselte Prometheus - konnten wir schließen mit dem Aus­spruch Heraklits: Die Grenzen der Seele zu finden, ist schwer, und wenn man alle Straßen durchwandeln würde; denn unendlich tief ist der Seele Grund! Wir haben diese Tiefe innerhalb der Wirkung und im Ineinanderspielen der Seelenkräfte kennengelernt. Es tritt uns die Wahrheit die­ses Ausspruches gerade dann ganz besonders vor die Seele, wenn man aufbaut auf dem, was gestern unsern Ausgangs­punkt bildete, wenn man ins Auge faßt des Menschen tief-innerstes Wesen. Im Ich ist er sozusagen am geistigsten, und davon sind wir ausgegangen. Das Ich ist dasjenige Glied seiner Wesenheit, welches hinzukommt zu denen, die er mit den drei unteren Reichen der Mineral-, Pflanzen-und Tierwelt gemeinsam hat.

Seinen physischen Leib hat er ja gemeinsam mit den Mi­neralien, Pflanzen und Tieren, den Ätherleib nur mit den Pflanzen und Tieren, den Astralleib endlich nur mit den Tieren. Durch das Ich kann der Mensch erst eigentlich Mensch sein, kann er sich von Stufe zu Stufe weiterent­wickeln. Dieses Ich arbeitet an seinen übrigen Gliedern, läutert und reinigt die Triebe, Neigungen, Begierden und Leidenschaften des Astralleibes und wird den ätherischen und physischen Leib auf immer höhere und höhere Stufen führen. Aber gerade wenn man dieses Ich ins Auge faßt, dann zeigt sich, daß dieses menschliche Ich, dieses hohe und würdige Glied der menschlichen Wesenheit, wie eingeklemmt

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ist zwischen zwei Extremen. Der Mensch soll durch das Ich immer mehr und mehr ein Wesen werden, das seinen Mittelpunkt in sich selber hat. Aus dem Ich heraus müssen die Gedanken, Gefühle und Willens-Im­pulse entspringen. Je mehr der Mensch den festen und in­haltsvollen Mittelpunkt in sich hat, desto mehr strahlt aus von seiner Wesenheit, desto mehr vermag er der Welt zu geben, desto inhaltsvoller und stärker wird sein Wirken und alles, was von ihm ausgeht. Falls der Mensch nicht in der Lage ist, diesen Mittelpunkt in sich zu finden, ist er der Gefahr ausgesetzt, sich zu verlieren in einer falsch verstandenen Betätigung seines Ichs. Er würde zerfließen in der Welt und wirkungslos durch das Leben gehen. Auf der andern Seite kann er einem andern Extrem verfallen. So wie der Mensch sich auf der einen Seite verlieren kann, wenn er nicht alles tut, um sein Ich inhaltvoller und kräf­tiger zu machen, so kann er, wenn er nur bestrebt ist, das Ich zu erhöhen, diesem Ich immer mehr und mehr zuzu­führen, so kann er in das andere verderbliche Extrem ver­fallen, das in die von aller menschlichen Gemeinsamkeit abführende Selbstsucht führt. Auf der andern Seite steht also die Selbstsucht, der in sich verhärtende und verschlie­ßende Egoismus, der das Ich vom Wege seiner Entwicke­lung abbringen kann. In diese zwei Dinge ist das Ich ein­geschlossen. Wenn wir nun die menschliche Seele betrachten, so zeigt sich uns, daß der Mensch zunächst in sich hat, was wir bereits Empfindungs-, Verstandes- und Bewußtseins-Seele nannten. Wir haben nun zunächst eine Seelen-Eigen­schaft kennengelernt, welche - für manchen vielleicht in überraschender Weise - eine Art Erzieher der Empfin­dungsseele ist: den Zorn. Wer den Vortrag über die Mission

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des Zorns einseitig betrachtet, wird vieles dagegen ein­zuwenden haben. Wenn man jedoch auf die eigentlichen Untergründe der Sache mehr und mehr eingeht, werden sich wichtige Rätsel des Lebens lösen.

In welcher Beziehung ist der Zorn eine Art Erzieher der Seele - speziell der Empfindungsseele - und der Vorläufer der Liebe? Man kann fragen: Führt nicht der Zorn dazu, daß der Mensch sich verlieren kann oder zu wilden, un­moralischen und lieblosen Handlungen hingerissen wird? Wenn man nur die wilden und ungerechtfertigten Aus­brüche des Zornes ins Auge faßt, hat man eine falsche An­schauung dessen, was über die Mission des Zornes angeführt wurde. Nicht dadurch, daß er zu ungerechtfertigten Aus-brüchen führt, wird er der Erzieher der Seele, sondern durch das, was er im Innern der Seele tut. Um uns die Arbeit des Zornes an der Seele zu vergegenwärtigen, neh­men wir an, zwei Menschen stünden vor einem zu erzie­henden Kinde, das etwas Unrechtes begeht. Der eine Er­zieher wird aufwallen und sich zu Handlungen der Strafe hinreißen lassen; der zweite Erzieher sei eine Seele, die nicht aufwallen kann im Zorn, die aber in dem Sinne, wie wir das gestern gemeint haben, noch nicht in der Lage ist, wirklich mit voller Gelassenheit aus dem Ich heraus das Rechte zu tun. Was wird für ein Unterschied sein in den Handlungen zweier solcher Erzieher? Ein Aufwallen des Zornes wird nicht nur zur Folge haben eine Strafhandlung, die man dem Kinde zufügt, sondern der Zorn ist etwas, was in der Seele wühlt, was in der Seele des Menschen wirkt und gerade so wirkt, daß es die Selbstsucht tötet. Wie ein Gift wirkt der Zorn auf die Selbstsucht der Seele. Und wenn wir abwarten, wird sich uns zeigen, daß er

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allmählich die Kräfte der Seele umwandelt und der Liebe fähig macht. Derjenige dagegen, der nicht reif ist für Ge­lassenheit und doch aus kalter Berechnung heraus die Straf­handlung ausführt, wird, weil der Zorn nicht als Gift in ihm wirkt, immer mehr und mehr ein kalter Egoist werden. Der Zorn wirkt eben innerlich, und als solcher ist er als Seeleneigenschaft zu bezeichnen. Überall wo der Zorn auf­tritt, ist er als ein Regulator für die Ausbrüche der mensch­lichen Selbstsucht anzusehen, welche unberechtigt sind. Der Zorn muß da sein, sonst müßte er nicht bekämpft werden. In der Überwindung des Zornes wird die Seele immer bes­ser und besser. Wenn der Mensch etwas durchsetzen will, was er für das Rechte hält und zornig wird, so ist dieser Zorn ein Verminderer der selbstsüchtig wirkenden Kräfte. Er dämpft sie und treibt sie herunter in bezug auf ihre Wirksamkeit. Im Zorne haben wir eine Seeleneigenschaft, welche gerade dadurch, daß sie überwunden wird und der Mensch sich von ihr befreit und immer mehr sich über sie erhebt, die Selbstlosigkeit im Menschen heranzieht und durch dieses Heranziehen der Selbstlosigkeit das Ich immer stärker und stärker macht. Dieses Spiel des Ichs mit dem Zorn, das spielt sich ab in der menschlichen Empfindungs­seele. Ein anderes Spiel zwischen der Seele und anderen Seelenerlebnissen spielt sich ab in dem, was wir Verstan­des- oder Gemütsseele nennen. So wie die menschliche Seele Eigenschaften hat, die sie überwinden muß, um immer höher zu steigen, so muß sie auch in sich Kräfte ausbilden, die sie sozusagen pflegen und lieben darf, trotzdem sie in ihr aufsteigen. Sie muß Kräfte haben, denen sie sich hin­geben darf, so daß sie sich, wenn sie sich durchsetzt, nicht schwächt, sondern stärkt. Würde der Mensch in Handlungen,

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in denen er sich durchsetzen muß, nicht zornig werden, so würde er sich schwächen.

Er wird sich gerade dadurch in der Stärke seiner Seele erhöhen, daß er sich so recht liebend in sie hinein versenkt; er wird sich gerade dadurch zu hohen Stufen des Ichs hin-aufleben; und das Ausgezeichnete, das, was die Seele in sich selbst lieben darf, dasjenige, wodurch sie sich nicht zur Selbstsucht, sondern zur Selbstlosigkeit erzieht, wenn sie es liebt, - das ist die Wahrheit. Die Wahrheit erzieht die Verstandes- oder Gemütsseele. Wie der Zorn eine Eigen­schaft der Seele ist, die überwunden werden muß, wenn der Mensch höher steigen will, so ist die Wahrheit, ob­wohl sie eine Eigenschaft der Seele sein soll, etwas, was der Mensch von vornherein lieben soll. Eine innere Pflege der Wahrheit ist absolut notwendig, um die Seele höher und höher steigen zu lassen.

Welche Eigenschaft der Wahrheit ist es, die den Men­schen weiter und weiter führt und von Stufe zu Stufe höher bringt, wenn er sich der Wahrheit bedient? Die Wahrheit hat zu ihrem Gegenteil, als Gegenüberstehendes, die Lüge und den Irrtum. Wir wollen sehen, wie der Mensch vorwärts kommt durch die Überwindung von Irrtum und Lüge, indem er die Wahrheit zu seinem großen Ideal macht und ihm nachstrebt.

Eine höhere Wahrheit soll er anstreben, wie er anderer­seits den Zorn zu etwas machen muß, was sein Feind ist, den er immer mehr und mehr beseitigen muß. Wahrheit soll für ihn etwas werden, was er lieben und mit dem In­nersten der Seele verbinden soll, um zu immer höheren und höheren Stufen zu gelangen. Trotzdem haben aus­gezeichnete Dichter und Denker mit Recht davon gesprochen,

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daß der volle Besitz der Wahrheit für den Menschen gar nicht zu erreichen sein soll. Lessing zum Beispiel sagt, die reine Wahrheit sei nicht für den Menschen, sondern nur das ewige Streben nach Wahrheit. Man wird von Lessing darauf hingewiesen, daß die Wahrheit eine ferne Göttin ist, der sich der Mensch nur nähern kann, die aber im Grunde genommen nie zu erreichen ist. In dem Aufrücken der Natur der Wahrheit, in dem, daß die Seele ein höheres Streben nach Wahrheit in sich wach werden läßt, liegt, was die Seele immer weiter und weiter steigen läßt. Da es ein ewiges Streben nach der Wahrheit gibt und das Wort Wahrheit etwas so Mannigfaltiges bedeutet und ist, so wird man vernünftigerweise nur davon sprechen können, daß der Mensch die Wahrheit erfassen soll, daß er eigentlichen Wahrheitssinn entwickeln soll. Man wird daher nicht spre­chen von einer einzigen umfassenden Wahrheit.

In diesem Vortrage soll nun die Idee der Wahrheit im rechten Sinne betrachtet werden; und es wird sich uns in klarer Weise zeigen, daß der Mensch durch die Entwicke­lung des Wahrheitssinnes in seinem Innern erfüllt wird von einer vorwärtstreibenden Kraft, die ihn zur Selbst-losigkeit führt.

Der Mensch strebt nach Wahrheit. Da wo die Menschen aus dem Bestehenden heraus versuchten, sich über die Dinge eine Anschauung zu machen, kann man auf den aller-verschiedensten Gebieten des Lebens finden, daß sie da oft in der entgegengesetzten Weise sich aussprechen. Wenn man sieht, was der eine und demgegenüber der andere für Wahrheit hält, so könnte man glauben, daß das Wahr­heitsstreben die Menschen zu den entgegengesetztesten An­schauungen und Meinungen bringt. Wenn man jedoch unbefangen

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beobachtet, wird man die Leitfäden finden kön­nen, die uns zeigen, wie es eigentlich kommt, daß die Men­schen zu so verschiedenen Meinungen kommen, trotzdem sie die Wahrheit suchen.

Ein Beispiel möge uns das erläutern. Vor kurzer Zeit ist der bekannte amerikanische Multimillionär Harriman gestorben. Er ist einer von den wenigen Millionären, die sich mit allgemein menschlichen Gedanken beschäftigen. In Aphorismen, die nach seinem Tode gefunden wurden, ist ein merkwürdiger Ausspruch dieses Wahrheitssuchers ent­halten. Er sagt : Kein Mensch ist in dieser Welt unersetzlich, und ein jeder kann, wenn er aus dieser Welt verschwindet, durch einen andern an seinem Platze ersetzt werden. Wenn ich meine Arbeit aus der Hand legen werde, so wird ein anderer Mensch kommen, der meine Arbeit aufnehmen wird. Die Eisenbahnen werden genau so fahren wie früher, die Dividenden werden ebenso verteilt werden, und so ist es im Grunde genommen mit jedem Menschen. So ist dieser Mensch aufgestiegen zu einer allgemein geltenden Wahr­heit: Kein Mensch ist unersetzlich!

Stellen wir neben diesen Ausspruch den eines andern Mannes, der hier in Berlin lange Zeit gewirkt hat in außer-ordentlicher Weise durch seine verschiedenen Vorlesungen über das Leben Michelangelos und Raffaels und Goethes :

einen Ausspruch des Kunsthistorikers Herman Grimm. Als Treitschke gestorben war, hat Herman Grimm ungefähr folgenden Ausspruch in einem seiner Aufsätze getan: Nun ist Treitschke auch dahingegangen, und man merkt gerade jetzt, was er geleistet hat. Niemand kann an seinen Platz treten und seine Arbeit in der Weise fortsetzen, wie dieser Mann sie geleistet hat. Man hat das Gefühl, daß in dem Umkreis,

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in dem Treitschke lehrte, alles anders vor sich geht. Interessant ist es dabei, zu beobachten, daß Herman Grimm nicht die Worte anknüpft: und so ist es bei allen Menschen.

Hier haben wir zwei Leute, den amerikanischen Multi­millionär und Herman Grimm, die aus ihren Betrachtun­gen zu genau den entgegengesetzten Wahrheiten kommen. Woran liegt das nun? Wenn wir die zwei Betrachtungs­weisen sorgfältig vergleichen, so finden wir einen Leit­faden. Bedenken Sie, daß Harriman ausgeht davon, daß er sagt: wenn ich meine Arbeit aus den Händen lege, so wird sie ein anderer fortsetzen; daß er gar nicht loskommt von sich selber. Der andere Mensch bringt sich selber gar nicht ins Spiel; er spricht gar nicht von sich, frägt gar nicht, was man von ihm für Meinungen und Wahrheiten gewinnen könnte. Er geht auf in der Betrachtung des anderen. Wer ein Gefühl dafür hat, wird ohne Zweifel herausfinden, wel­cher von beiden das Richtige gesagt hat. Man braucht sich nur einmal die Frage vorzulegen : Wer hat denn Goethes Arbeit fortgesetzt, als er sie aus der Hand gelegt hat? Wer ein Gefühl dafür hat, wird wissen, daß Harriman in seiner Betrachtung daran krankt, daß er nicht von sich los-gekommen ist. Daraus schon können Sie ein wenig den Schluß ziehen, daß es der Wahrheit geradezu schädlich ist, wenn man sie sucht und nicht von sich loskommen kann. Der Wahrheit dient es gerade, wenn man von sich loskom­men kann. Kann Wahrheit schon dasjenige sein, was eine Ansicht über die Dinge gibt?

Eine Ansicht ist eine Art gedankliches Spiegelbild der Außenwelt. Muß deshalb, weil wir irgend etwas denken, weil wir bei einer Betrachtung dieses oder jenes festsetzen, das ein richtiges Bild sein?

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Nehme man einen photographischen Apparat zur Auf­nahme eines merkwürdigen Baumes. Man stellt sich in eine Ecke und macht mit dem Apparat ein Bild des Baumes. Wenn wir dieses eine Bild an einem fremden Orte zeigen, gibt das ein wirkliches Bild des Baumes? Es gibt ein Bild von einer Seite; es gibt nicht die Wahrheit über den Baum. Kein Mensch wird sich auf Grund des Bildes den Baum vorstellen können, wenn er nur das eine Bild ins Auge faßt. Wodurch könnte man über die Wahrheit des Baumes mehr erfahren, wenn man ihn nicht gesehen hat? Wenn man ihn von vier Seiten photographieren würde, dann würde man um den Baum herumgegangen sein, und durch Vergleichen der Bilder würde man schließlich etwas be­kommen, was ein wahres Bild des Baumes gibt. Man hat die dadurch gewonnene Vorstellung von dem Baume un­abhängig gemacht vom eigenen Standorte. Wenden wir diesen Vergleich auf den Menschen an. Was hier durch äußere Vorgänge bewirkt wird, das tut der Mensch, der bei seiner Betrachtung der Dinge von sich selber loskommt. Sich ausschalten bei der Betrachtung der Dinge, das wird er durch seine eigene Persönlichkeit machen. Wird sich der Mensch bewußt, daß, wenn er eine Meinung faßt, wenn er dieses oder jenes in einer Weise anschaut, er vor allen Din­gen wissen muß, daß alle gefaßten Meinungen abhängig sind von unserem eigenen Standpunkte, von unseren eige­nen Eigenschaften und von unserer eigenen Individualität; wird man sich dessen bewußt und versucht man, alles das abzuziehen von dem, was man Wahrheit nennen will, -dann führt man das aus, was in unserem Vergleiche der Photograph ausgeführt hat. Die erste Anforderung an den wirklichen Wahrheitssinn ist, loszukommen von sich selber;

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ins Auge zu fassen, was von unserem Standpunkte abhängt.

Würde der amerikanische Multimillionär von sich los-gekommen sein, so würde er gewußt haben, daß ein Unter­schied ist zwischen ihm und anderen Menschen. Wir haben an einem Beispiele, das uns die alltäglichen Verhältnisse zeigt, gesehen, wie dann, wenn der Mensch nicht von sich loskommen kann, wenn er sich nicht bewußt wird, was er zu den Dingen hinzubringt durch seinen Standpunkt oder Ausgangspunkt, wie dann notwendigerweise eine einge­schränkte Meinung, aber keine Wahrheit entstehen kann. Das zeigt sich auch im Großen. Wer ein wenig hinein-schaut in die wirkliche geistige Entwickelung der Menschen und vergleicht, was alles als Wahrheit auftritt, der wird bei einer tiefergehenden Betrachtung finden, daß die Men­schen, wenn sie eine Wahrheit aussprechen, zunächst los­kommen sollten von ihrer eigenen Individualität. Man wird begreifen, daß die verschiedensten Ansichten über die Wahrheit herauskommen, weil die Menschen sich nicht bewußt geworden sind, was sie selber durch ihren Stand­punkt an Einschränkungen in bezug auf ihre Auffassungen gemacht haben. - Habe ich Ihnen vorhin ein naheliegendes Beispiel gegeben, so soll uns weiter auch ein fernliegendes Beispiel zu einem tieferen Verständnis führen. Wenn man Aufschluß bekommen will über die Schönheit, so beschäf­tigt man sich mit der Ästhetik, das heißt mit dem, was uns die Formen des Schönen lehren. Was das Schöne ist, das tritt uns in der Außenwelt entgegen. Wie erfahren wir nun, was wahr ist über das Schöne? Da mussen wir uns auch klar sein darüber, daß wir auch loskommen müssen von dem, was wir durch unsere eigene Individualität und

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durch unsere Eigenart eingeschränkt haben an dem Schö­nen. Da ist zum Beispiel ein Ästhetiker des neunzehnten Jahrhunderts - der deutsche Ästhetiker Solger; der wollte das Wesen des Schönen seiner Wahrheit nach erforschen. Das Schöne tritt uns in der äußeren physischen Welt ent­gegen. Das konnte auch Solger nicht ableugnen. Er war aber ein Mensch, der eine einseitige theosophische Anschau­ung hatte; und deshalb hat er auch eine einseitige theo­sophische Ästhetik geliefert. Daher konnte ihn auch an dem schönen Bilde nur dasjenige interessieren, was durch­scheint aus dem schönen Bilde in der für ihn einzig be­stehenden Geistigkeit. Nur insofern an einem schönen Produkte das Geistige erscheint, ist es für ihn schön. Solger war ein einseitiger Theosoph, der die sinnlichen Erschei­nungen erklären wollte aus dem Übersinnlichen, aber dabei vergaß, daß das sinnlich Wirkliche auch eine Daseins-berechtigung hat, weil er nicht loskommen konnte von sei­nem Vorurteil und sogleich durch eine mißverstandene Theosophie ins Geistige hinaufsteigen wollte.

Ein anderer Ästhetiker, Robert Zimmermann, kam dazu, gerade das Gegenbild zu begründen. Man kann sagen, daß Solger eine mißverstandene theosophische Ästhetik be­gründen wollte; ebenso kann man mit Recht sagen, Zim­mermann begründete eine mißverstandene anti-theosophi­sche Anschauungsweise in seiner Ästhetik. Er hatte nur einen Sinn für das, was sich ergab an Symmetrie und Anti-Symmetrie, an Einklang und Mißklang. Er hatte keinen Sinn dafür, von dem Schönen zurückzugehen auf dasjenige, was in dem Schönen erscheint. So wurde seine Ästhetik ebenfalls einseitig, ähnlich der Ästhetik Solgers. Alles Wahr­heitsstreben kann leiden dadurch, daß der Mensch nicht

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Rücksicht nimmt darauf, daß er zum Wahrheitsstreben von sich loskommen muß. Von sich loskommen kann der Mensch nur nach und nach. Aber das ist das Auszeichnende der Wahrheit, daß sie im strengsten Sinne fordert, daß man von sich ganz absieht und alles vergißt, wenn man durch sie weiterrücken will. Sie hat also eine Eigenschaft, welche sie unterscheidet von allem übrigen, nämlich die, daß man ganz in sich sein kann, in seinem Ich leben kann, in seinem Wahrheitsstreben, und dennoch etwas gewinnt in seinem Ich - wenn man dieses Leben im Ich durchmacht , was im Grunde genommen mit dem egoistischen Ich nichts zu tun hat.

Wenn der Mensch in seinem Streben in der Welt etwas hat, wo er sich durchsetzen will, dann ist es sein Egoismus. Wenn er etwas tun will, was er für das Richtige hält und das gegen jemand durchsetzen will und dabei in Zorn ent­flammt, dann ist das ein Ausdruck der Selbstsucht. Dieser Ausdruck der Selbstsucht muß gebändigt werden, wenn er zur Wahrheit aufsteigen will. Wahrheit ist also etwas, was wir im Innersten erleben. Und dennoch, obwohl wir sie in uns selbst erleben, kommen wir dadurch immer mehr und mehr los von unserem Selbste durch sie. Dazu ist allerdings nötig, daß in das Streben nach Wahrheit sich wirklich nichts anderes hineinmischt als die Liebe zur Wahrheit sel­ber. Wenn sich Leidenschaften, Triebe und Begierden, von denen die Empfindungsseele erst geläutert und gereinigt werden muß, bevor die Verstandesseele nach Wahrheit streben kann, hineinmischen, so kann der Mensch nicht los von sich; denn diese machen es, daß sein Ich sich auf einen bestimmten Gesichtspunkt stellt. Daher wird sich die Wahr­heit nur dem ergeben, der versucht, bei ihrer Auffindung

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Leidenschaften, Begierden und Triebe in sich zu überwinden und sie nicht mitsprechen zu lassen. Liebe darf die einzige Leidenschaft sein, die beim Aufsuchen der Wahrheit nicht abgestreift werden muß. Die Wahrheit ist ein hohes Ziel. Das zeigt sich daran, daß sie sich dem Menschen heute in der eben geforderten Form nur ergibt auf einem einge­schränkten äußeren Gebiete.

Nur auf dem Gebiete der Mathematik, des Rechnens und Zählens hat die Menschheit im allgemeinen heute die­ses Ziel erreicht, weil dieses das Gebiet ist, wo der Mensch seine Leidenschaften, Triebe und Begierden gezügelt hat und nicht mitsprechen läßt. Warum sind alle Menschen dar­über einig, daß drei mal drei gleich neun und nicht gleich zehn ist? Weil sie, wenn sie darüber entscheiden, ihre Lei­denschaften, Triebe und Begierden zum Stillstand gebracht haben. Bei dieser einfachen Sache, bei der Mathematik, hat es die Menschheit heute schon dahin gebracht, Leidenschaf­ten, Triebe und Begierden schweigen zu lassen. Wenn sie es nicht dahin gebracht hätte, würde manche Hausfrau recht gerne haben, daß sie neun Groschen für eine Mark geben kann. Da würden die Leidenschaften mitreden. Das ist eben notwendig für jegliches Aufsuchen der Wahrheit, daß wir die Triebe und Begierden schweigen lassen. Die Men­schen würden in bezug auf die höchsten Wahrheiten zur Einigkeit kommen, wenn sie in bezug auf diese höchsten Wahrheiten soweit wären, wie sie in bezug auf diese Wahr­heit auf dem Gebiete der Mathematik schon sind. Aber diese Wahrheiten sind etwas, was wir in der innersten Seele erfassen, und dadurch, daß wir sie so erfassen, haben wir sie. Wenn hundert oder gar tausend und mehr Men­schen uns widersprechen, wir haben sie doch und wissen,

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daß drei mal drei gleich neun ist, weil wir sie in unserem Innersten erfaßt haben. Würden die hundert und tausend Menschen, welche anderer Meinung sind, sich unabhängig machen von sich selber, so würden sie zu derselben Wahr­heit kommen. Was ist also der Weg zum gegenseitigen Ver­ständnis und zur menschlichen Einigkeit? Wir verstehen uns auf dem Gebiete des Rechnens und Zählens, weil wir das Geforderte hier erreicht haben; in demselben Maße, wie wir die Wahrheit finden, herrscht Friede, Eintracht und Harmonie unter den Menschen.

Das ist das Wesentliche, daß wir die Wahrheit als etwas zu erfassen suchen, was sich uns nur in unserem tiefsten Selbste ergibt; und daß die Wahrheit etwas ist, was dieMenschen immer wieder zusammenführt, weil sie aus dem

Tiefinnersten der Seele jedem Menschen entgegenleuchtet. So ist die Wahrheit die Führerin der Menschen zur

Einigkeit und zum gegenseitigen Verständnis. Damit ist sie auch die Vorbereiterin von Gerechtigkeit und Liebe, eine Vorbereiterin, die wir gerade pflegen sollen; während wir den andern Vorboten, den wir gestern kennengelernt ha­ben, besiegen müssen, wenn er uns über die Selbstsucht hinausführen soll. Das ist die Mission der Wahrheit, daß wir sie immer mehr und mehr lieben und aufnehmen dür­fen, und daß wir sie in uns selbst pflegen sollen. Indem wir uns in unserem Selbste der Wahrheit ergeben, wird es selbst immer stärker, und wir werden gerade dadurch loskom­men von dem Selbste: Je mehr wir Zorn im Selbste ent­wickeln, desto schwächer machen wir es, und je mehr wir Wahrheit in dem Selbste entwickeln, um so stärker machen wir das Selbst. Die Wahrheit ist eine strenge Göttin, die deshalb auch fordert, daß sie in den Mittelpunkt einer

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alleinigen Liebe in unserem Selbst gestellt wird. In dem Moment, wo man nicht loskommt von sich selber und etwas anderes ihr gegenüberstellt, etwas anderes höher stellt als sie, rächt sie sich sofort. Der englische Dichter Coleridge hat einen Ausspruch getan, der bezeichnend sein kann dafür, wie der Mensch sich zur Wahrheit zu stellen hat. Er sagt : Wer das Christentum mehr liebt als die Wahrheit, der wird bald sehen, daß er seine christliche Sekte mehr liebt als das Christentum, und er wird sehen, daß er sich mehr liebt als seine Sekte. -In diesem Ausspruche liegt wirklich ungeheuer viel; dar­innen liegt vor allem, daß ein der Wahrheit entgegen ge­richtetes Streben gerade zum Egoismus, zu einer den Men­schen herabdrückenden Selbstsucht führt. Wahrheit, sie kann die einzige Liebe sein, die das Ich von sich losbringt. Und in dem Augenblick, wo man ihr etwas vorzieht, wird man in gleichem Maße finden, daß man der Selbstsucht verfällt. Das ist es, was man zu erwarten hat, wenn man die Wahrheit geringer achtet als etwas anderes. Das ist der strenge Ernst, aber auch das Große und Bedeutsame an der Mission der Wahrheit für die Erziehung der menschlichen Seele. Die Wahrheit richtet sich nach niemand, und finden kann sie nur derjenige, der sich ihr ergibt. Das können wir daran ersehen, daß in dem Augenblick, wo der Mensch nicht um der Wahrheit willen liebt, sondern um seiner selbst wil­len, weil er sich an seine Meinungen hängt, daß der Mensch in diesem Augenblicke als ein anti-soziales Wesen wirkt, das immer fort und fort herausstrebt aus der menschlichen Ge­meinsamkeit. Sehen wir einmal hin auf diejenigen, die nicht danach streben, die Wahrheit um der Wahrheit willen zu lieben, die eine bestimmte Anzahl von Ansichten zu

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ihrer Wahrheit gemacht haben: sie lieben nichts als den Besitz ihrer Seele. Diese Menschen werden die intolerante­sten sein. Diejenigen Menschen, die die Wahrheit ihrer eigenen Anschauungen und Meinungen wegen lieben, das sind jene, welche nicht dulden wollen, daß ein anderer zum Wahrheitsuchen auf ganz anderem Wege geht. Daraus er­geben sich dann die Lebenskonflikte. Sie sind diejenigen, die jedem Steine in den Weg werfen, der andere Anlagen hat als sie und daher zu anderen Meinungen kommt, als sie haben.

Führt ehrliches Wahrheitsstreben zu allgemeinem Men­schenverständnis, so führt das Umgekehrte, die Liebe zur Wahrheit um der eigenen Persönlichkeit willen, zur Zer­störung der Freiheit, zur Intoleranz der andern Persön­lichkeit gegenüber. Wahrheit ergibt sich in dem, was wir die Verstandes- oder Gemütsseele des Menschen nennen.

Wahrheit suchen, Wahrheit durch eigene Arbeit sich erwerben kann nur ein denkendes Wesen. Indem sich der Mensch Wahrheit erwirbt durch sein Denken, muß er sich immer mehr und mehr klar werden, daß dadurch das ge­samte Gebiet der Wahrheit in zwei Teile zerfällt. Für die Wahrheit gibt es zwei Formen. Diejenige, die gewonnen wird, indem wir hinschauen auf irgend etwas, was uns in der Außenwelt vorliegt, hinschauen auf die umliegende Natur, Stück für Stück sie erforschen, um ihre Wahrheiten, Gesetze und Weistümer kennenzulernen. Wenn wir also den Blick schweifen lassen über die Welt, über den Umfang des Erlebten, dann kommen wir zu jener Wahrheit, die man nennen kann « die Wahrheit des Nachdenkens » Wir haben gestern gesehen, daß die ganze Natur von Weisheit durchdrungen ist, daß in allen Dingen Weisheit lebt. In

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der Pflanze lebt dasjenige, was wir nachher als Idee der Pflanze gewinnen. Weisheit lebt in der Pflanze, und wir bemächtigen uns dieser Weisheit. So steht der Mensch der Welt gegenüber, und er kann voraussetzen, daß aus der Weisheit die Welt entsprungen ist, und daß er durch sein Denken dasjenige wiederfindet, was an der Produktion, an der Schöpfung der Welt beteiligt ist. Das ist die Wahrheit, die er durch Nachdenken gewinnt.

Es gibt nun noch andere Wahrheiten. Diese kann der Mensch nicht durch bloßes Nachdenken, sondern sie kann der Mensch nur gewinnen, wenn er hinausgeht über das, was im äußeren Leben gegeben werden kann. Im gewöhn­lichen Leben sieht man schon, daß der Mensch, wenn er sich ein Werkzeug oder ein Instrument anfertigt, Gesetze aus­denken muß, die er nicht durch bloßes Nachdenken gewin­nen kann. So könnte zum Beispiel der Mensch durch blo­ßes Nachdenken über die Welt keine Uhr machen; denn die Welt hat nirgends ihre Gesetze so zusammengestellt, daß eine Uhr in der äußeren Natur schon vorhanden wäre. Das ist die zweite Art von Wahrheit, die wir dadurch gewinnen können, daß wir dasjenige vorausdenken, was sich nicht im äußeren Erlebnis und nicht im äußeren Beobachten er­gibt. Es gibt also zweierlei Wahrheiten, und das sind zwei streng voneinander geschiedene Gebiete der Wahrheit. Wir haben zu sondern solche Wahrheiten, die durch Nach­denken über die äußere Beobachtung für uns entstehen, und solche, die durch Vordenken entstehen.

Wodurch sind nun die letzteren wahr? Derjenige, der eine Uhr ausdenken würde, der könnte uns lange den Be­weis liefern dafür, daß er richtig gedacht hat. Wir werden ihm solange kein richtiges Vertrauen schenken, solange er

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nicht zeigen kann, daß die Uhr wirklich dasjenige in der Welt darstellt, was er vorgedacht hat. Dasjenige, was wir vordenken, muß sich realisieren, muß sich in die Wirklich­keit einleben können; es muß dasjenige, was wir vorgedacht haben, uns in der Wirklichkeit draußen entgegentreten können. Solcher Art sind aber auch die geisteswissenschaft­lichen oder anthroposophischen Wahrheiten. Sie sind solche, die man nicht an den äußeren Erlebnissen zunächst be­obachten kann.

Kein äußeres Erlebnis der Natur kann uns das, was über den ewigen Wesenskern des Menschen schon öfters betont wurde, bestätigen. Wir können unmöglich aus der äußeren Beobachtung heraus die Wahrheit gewinnen, daß das menschliche Ich immer wieder und wieder in neuen Ver­körperungen erscheint. Wer zu dieser Wahrheit gelangen will, muß sich über das äußere Erlebnis erheben. Er muß in seiner Seele eine Wahrheit erfassen können, die er nicht im äußeren Erlebnis zunächst hat, aber sie muß sich auch im äußeren Leben realisieren. Man kann eine solche Wahr­heit nicht so beweisen wie die erste Art Wahrheit, die wir nachgedachte Wahrheit genannt haben. Man kann sie nur beweisen dadurch, daß man ihre Anwendung im Leben zeigt. Dafür gibt es aber auch keinen anderen Beweis als eine Widerspiegelung im Leben. Wer hineinschaut in das Leben und es betrachtet mit der Erkenntnis, daß die Seele immer wiederkehrt; und betrachtet, was sich abspielt zwi­schen Geburt und Tod, was da die Seele immer wieder er­lebt; und da betrachtet, welche Befriedigung diese Idee gewähren und welche Kraft sie im Leben geben kann, ihre Fruchtbarkeit im Leben verfolgt - und auch noch im an­deren Sinne verfolgt, indem er sich zum Beispiel sagt: wie

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kann ich die Kraft einer Kindesseele entwickeln, wenn ich voraussetze, daß da eine Seele sich herausarbeitet, die schon immer da war? - dem leuchtet diese Wahrheit und Idee in der äußeren Wirklichkeit entgegen; sie erweist sich ihm fruchtbar. Alle anderen Beweise sind unrichtig. Einzig und allein die Bewahrheitung solcher vorgedachter Wahrheiten im Leben ist als ein Beweis ihrer Richtigkeit zu betrachten. Vorgedachte Wahrheiten, die nicht aus der Beobachtung gewonnen werden können, können auch nicht so bewiesen werden wie nachgedachte Wahrheiten. Sie können sich nur an der Wirklichkeit bewähren und fruchtbar erweisen. Es ist ein gewaltiger Unterschied zwischen dem Beweis der ersten und zweiten Art Wahrheit. Die zweite ist eigentlich eine im Geiste erfaßte, die sich bewähren soll in der äuße­ren Beobachtung, im Leben.

Wie werden nun diese zwei Gebiete der Wahrheit er­zieherisch auf die menschliche Seele wirken? Da ist ein gro­ßer Unterschied, ob der Mensch bloß sich hingibt den nach-gedachten, oder ob er sich hingibt bloß vorgedachten Wahrheiten. Sehen wir uns einmal das an, was der Mensch als nachgedachte Wahrheit gewinnt. Wir sagen mit Recht:

wenn wir uns in die Weisheit der Natur vertiefen und uns in uns selber ein Spiegel- und Wahrheitsbild der Natur verschafft haben, dann haben wir in uns dasselbe, woraus sie entsprossen ist, woraus sie wirkt; wir haben dasjenige, was in der Natur als Schöpferisches wirkt, in unserem Wahrheitsbegriff der Natur. Aber es ist ein gewaltiger Unterschied. Während die Weisheit in der Natur schöpfe­risch ist, während die volle Wirklichkeit aus ihr heraus sprießt, ist unsere Wahrheit nur ein Spiegelbild, eine nach-gedachte und untätige; etwas, was ohnmächtig geworden

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ist durch unser Naturdenken. So können wir uns ein weit-herziges und weites Bild der Wahrheit der Welt schaffen:

das Schöpferische, das Produktive ist aus diesem Wahr­heitsbild herausgenommen. Daher wirkt auch dieses Wahr­heitsbild in bezug auf die Entwickelung unseres Ichs zu­nächst verödend und ausleerend. Die schöpferische Kraft des Ichs wird lahm und erstirbt sozusagen; das Selbst wird nicht stark und kann sich gar nicht mehr der Welt gegen­überstellen, wenn es nur nachgedachte Wahrheiten sucht. Nichts wirkt so sehr auf das Vereinsamen, auf das Ver­öden, auf das Zurückziehen in sein Ich, auf die Verfein­dung mit der Welt, als das bloße Nachdenken über die Welt. Kalter Egoist kann der Mensch werden, wenn er bloß erforschen will, was draußen in der Welt ist. Wofür will er eigentlich diese Wahrheit? Will er für die Götter diese Wahrheit verwenden?

Wenn er nur diese nachgedachte Wahrheit erforschen will, so will er für sich etwas haben, und er ist auf dem Wege, durch die Wahrheit ein kalter Egoist und Menschen-feind zu werden im weiteren Verlauf seines Lebens. Er geht hinaus und wird ein Einsiedler oder sondert sich auf andere Weise ab von der Menschheit; denn er will das­jenige, was in der Welt ist, für seine Wahrheit haben. Alles einseitige Einsiedlertum, alles Menschenfeindliche können Sie finden, wenn Sie diesen Weg verfolgen. Die Seele wird immer mehr und mehr austrocknen in bezug auf Gemein­schaftssinn; sie wird immer ärmer, trotzdem die Wahrheit sie reicher machen sollte. Der Mensch hört auf, wenn er bloß diese Art Wahrheit erforscht, im Gemeinsamkeits­sinn Mensch zu sein. Er wird Sonderling oder Einseitig­keitsmensch, gleichgültig, ob er hinausgeht oder sich einschließt;

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verhärten wird die Seele in beiden Fällen. Daher werden Sie sehen, daß je mehr der Mensch zum bloßen Nachdenken kommt, desto unfruchtbarer wird die Seele in diesem Nachdenken. Versuchen wir, uns einmal das vor­zustellen, wie durch bloßes Nachdenken die Seele verödet. Betrachten wir einmal die Natur draußen: da haben wir eine Summe von Pflanzen vor uns. Aus der lebendigen Weisheit der Welt sind sie gebildet. In ihnen ist produktive Kraft, und diese Weisheit hat sie aus sich selber hervor­sprießen lassen. Nun kommt derjenige, der ein Künstler ist. Er stellt sich mit der Seele dem, was ihm das Bild der Natur gibt, entgegen. Er denkt nicht bloß nach, sondern er läßt jene schöpferische, produktive Kraft in sich wirken. Er bringt hervor ein Kunstwerk; aber darinnen ist nicht bloß vorhanden ein Nachgedanke, sondern produktive Kraft. Jetzt kommt aber einer, der versucht, hinter den Gedanken des Bildes zu kommen. Er denkt über das Bild nach. Da ist die Wirklichkeit weiter filtriert, aber sie ist zu gleicher Zeit verödet. Versuchen Sie, den Prozeß weiter­zuführen. Wenn die Seele in dieser Weise einen Gedanken aus der Beobachtung herausgeschält hat, dann ist der Ab­schluß da, und die Seele ist fertig damit. Man müßte nur noch sich Gedanken über den Gedanken machen. Damit kommt man in das Lächerliche hinein. Der begonnene Pro­zeß dörrt selber aus.

Anders ist es auf dem Gebiete des Vordenkens. Hier ist der Mensch in anderer Lage, da er selber produktiv ist. Da verwirklicht er im Leben seine Gedanken; da ist er etwas, was nach dem Vorbilde der schaffenden Natur sel­ber wirkt. In einem solchen Falle ist der Mensch, wenn er über die bloße Beobachtung hinausgeht, wenn er nicht bloß

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nachdenkt, sondern in der Seele etwas aufsteigen läßt, was ihm die bloße Beobachtung nicht geben kann. Alle geistes­wissenschaftlichen Wahrheiten sind solche, bei denen die Seele produktiv veranlagt sein muß. Hier muß die Seele Vordenker sein. Alles bloße Nachdenken ist bei diesen Wahrheiten vom Übel und führt zur Täuschung in bezug auf die geisteswissenschaftlichen Wahrheiten. Dafür haben die vorgedachten Wahrheiten ein anderes. Der Mensch kann nur auf einem beschränkten Gebiete die Wahrheit vordenken. Er kann nur sozusagen ein Stümper sein gegen­über der schöpferischen Weisheit der Welt. Eine unendliche Menge ist vorhanden von dem, worüber wir unsere nach-gedachten Wahrheiten haben, und ein sehr beschränktes Gebiet ermöglicht es uns, vorgedachte Wahrheiten zu ha­ben. Es wird also bei der zweiten Art Wahrheit der Kreis enger, aber die produktiven Kräfte erhöhen sich; die Seele wird frisch und weiter und weiter. Sie wird selbst immer göttlicher und göttlicher in sich, wenn sie das in sich nach-bildet, was das Wesentliche ist in der schöpferischen, gött­lichen Tätigkeit in der Welt. So stehen sich die beiden Wahrheiten, die vor- und nachgedachten, in der Welt ge­genüber. Daher wird die nachgedachte Wahrheit, die auf dem bloßen Erforschen des Gegebenen, auf dem Forschen in dem Erlebten beruht, sie wird immer ins Abstrakte führen; immer trockener wird dabei die Seele werden und wird keine Nahrung finden können. Diejenige Wahrheit aber, die nicht an dem äußeren Erlebnis gewonnen wird, sie ist schöpferisch; und aus ihrer Kraft weist sie dem Men-schen eine Stelle im Weltall an, wo er Mittatiger ist an dem, was in die Zukunft hinein entsteht.

Das Vergangene kann im wahren Sinne des Wortes nur

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Nachgedachtes sein. Das Vorgedachte ist etwas, was ein Anfang ist für ein Hineinwachsen in die Zukunft. So wird der Mensch ein Bürger, ein Schaffender für die Zukunft. Er erstreckt die Kraft seines Ichs von dem Punkte der Gegen­wart in die Zukunft hinein, indem er nicht bloß das Nach-gedachte, sondern auch das Vorgedachte in den Wahrheiten zu seinem Eigentume macht. Das ist das Befreiende der vorgedachten Wahrheiten. Derjenige, der sozusagen selber mittatig ist auf dem Gebiete des Wahrheitsstrebens, der wird bald erfahren, wie ihn das bloße Nachdenken ver­armt; und er wird es begreiflich finden, wie der bloße Nachdenker immer öder und abstrakter wird und seinen Geist mit öden Begriffs-Gespinsten und blutleeren Abstrak­tionen erfüllt. Das kann dazu führen, daß der Geist zum Zweifel darüber kommt, ob er an der Weltengestaltung teilhaben kann. Wie herausgestoßen und zum bloßen Ge­nuß der Wahrheit verurteilt kann sich der Mensch fühlen, wenn er bloß ein Nachdenker der Wahrheit ist. Das aber, was vorgedachte Wahrheit ist und uns als solche im Leben entgegentritt, das erfüllt die Seele und macht sie warm, erfüllt sie mit neuer Kraft auf jeder Stufe des Lebens. Be­seligend ist es für den Menschen, wenn er solche vorgedachte Wahrheiten zu erfassen vermag, um dann den Erscheinun­gen des Lebens gegenüberzutreten und sich zu sagen : jetzt verstehe ich nicht bloß, was da ist, sondern was da ist, wird nun erklärlich, weil ich vorher etwas davon gewußt habe. Nun können wir mit den geisteswissenschaftlichenWahr­heiten auch an den Menschen herantreten. Unverständlich bleiben uns die Menschen, wenn wir bloß die nachgedach­ten Wahrheiten kennen. Haben wir dagegen die geistes-wissenschaftlichen Wahrheiten, da werden uns die Menschen

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immer verständlicher; und wir werden auch immer mehr Interesse finden können an der Welt und mit der Welt immer mehr verwachsen. Freude und Genugtuung werden wir empfinden darüber, daß uns die Bestätigung der vorgedachten Wahrheiten in Wirklichkeit entgegen­tritt. Das ist das Beseligende und Befriedigende an den geisteswissenschaftlichen Wahrheiten, daß sie zuerst erfaßt werden müssen, bevor sie sich im Leben realisieren können; und daß der Mensch dadurch immer reicher und reicher wird. Indem wir mit den nachgedachten Wahrheiten arbei­ten und in uns eine abstrakte Ideenwelt pflegen, entfernen wir uns von der Welt; wenn wir mit den vorgedachten Wahrheiten an die Welt herantreten, werden wir immer reicher und reicher und befriedigter. Wir erleben dadurch allmählich ein völliges Hineinverweben in die Erscheinun­gen, mit denen wir eins werden. Wir kommen immer mehr los von unserem Selbste, während wir dagegen zum raffi­nierten Egoisten werden durch die nachgedachten Wahr­heiten. Um das Bestehen und die Bewahrheitung der vor-gedachten Wahrheiten zu finden, mussen wir sie erst haben; und dazu ist nötig, daß wir aus uns heraustreten und ins Leben hineintreten, um ihre Anwendung auf jedem Gebiete des Lebens zu suchen. So sind es besonders die vorgedach­ten Wahrheiten, die uns von uns losbringen und uns in hohem Grade mit dem erfüllen, was der Wahrheitssinn in sich haben muß.

Solche Dinge hat ein jeder gefühlt, der ein wirklicher Wahrheitssucher war. Es ruhte tief in Goethes Seele diese Meinung von der Wahrheit, als er den herrlichen, gran­diosen, weithin leuchtenden Ausspruch tat: «Was fruchtbar ist allein ist wahr! »

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Aber auch das war in Goethes Seele gegenwärtig, daß der Mensch verwachsen sein muß mit der Wahrheit, wenn überhaupt ein Verständnis mit anderen Menschen möglich sein soll. Durch nichts werden die Menschen mehr ent­fremdet und entfernen sich voneinander, als wenn sie fremd werden dem Wahrheitsstreben und dem Wahrheits­sinn. Es ist ebenfalls ein Ausspruch Goethes : « Eine falsche Lehre läßt sich nicht widerlegen, denn sie ruht ja auf der Überzeugung, daß das Falsche wahr sei! » Selbstverständ­lich kann jetzt gleich jemand einwenden, man könne, wenn man logische Gründe vorbringe, das Falsche widerlegen. Das meint Goethe nicht; er ist eben der Überzeugung, daß eine falsche Anschauung nicht durch logische Schlüsse wider­legt werden kann, und meint, die praktische und frucht­bare Anwendung der Wahrheit im Leben müsse dem Men­schen in seinem Wahrheitsstreben alleinige Richtschnur sein. Deshalb, weil Goethe so tief in seiner Seele mit der Wahr­heit verwachsen war, konnte er das schöne Wahrheits-Drama skizzieren, das er 1807 in seiner Pandora anfing niederzuschreiben. « Pandora » ist Fragment und als solches ein Produkt seines reichen Schaffens. Es ist reifste und süßeste Frucht. Wenn man es auf sich wirken läßt, muß man sich sagen : es ist Fragment geblieben, aber es ist in jeder Zeile so großartig und gewaltig, daß man sagen könnte, es ist reinste und größte Kunst. Man versuche ein­mal, sich hier einzuleben und den Dialog auf sich wirken zu lassen, und beachte einmal, wie anders die Personen sprechen, die eine Passion, einen treibenden Charakter haben, und die andern, welche einen zurückhaltenden Cha­rakter haben.

« Pandora » zeigt uns, wie Goethe in der Lage war, zum

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Größten einen Anlauf zu nehmen, - um aber dann zu er­lahmen. Die Aufgabe war zwar zu groß, um sie zu Ende zu führen; aber es genügt uns, um zu ahnen, wie tief Goethe eingedrungen war in die Probleme der Seelen-Erziehung. Vor seiner Seele stand alles, was die Seele überwinden muß, um aufzusteigen; vor seiner Seele stand alles, was wir gestern über den Zorn, was wir über den gefesselten Pro­metheus kennengelernt haben, und auch das, was wir über die andere Erzieherin der menschlichen Seele, was wir über den Wahrheitssinn heute gesagt haben. Wie nahe diese bei­den Dinge in ihrer Wirkung auf die menschliche Seele ver­wandt sind, kann man auch aus den Gesichtsausdrücken, die sie beim Menschen verursachen, ersehen. Man versuche einmal, sich vorzustellen einen Menschen, der in Zorn ge­rät, und einen Menschen, auf den die Wahrheit wirkt, den die Wahrheit als ein inneres Licht durchdringt. Da sieht man, wie der zornige Mensch seine Stirne runzelt. Warum tut er das? Eine solche Stirne runzelt sich, weil im Innern eine überschüssige Kraft wie ein Gift wirkt, welche nieder-halten muß einen überschüssigen Egoismus, der vernichten will dasjenige, was neben ihm ist, was neben dem eigenen Selbste besteht. In der geballten Faust des Zornigen hat man zu sehen das in sich verschlossene, nicht in die Außen­welt eingehen wollende, zornige Selbst. Man vergleiche damit den physiognomischen Ausdruck dessen, der die Wahrheit findet. Wenn jemand das Licht der Wahrheit er­blickt, runzelt er auch die Stirne, aber es ist dieses Stirn­runzeln etwas, wodurch sich das Selbst erweitert. Hier wol­len die Runzeln in hingebungsvoller Liebe die ganze Welt ergreifen, um sie einzusaugen. Auch leuchten können die Augen dessen, der der Welt ihre Geheimnisse ablauschen

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will. Leuchtend suchen sie zu umfassen und zu umspannen, was außer uns in der Welt vorhanden ist. Los kommt der Mensch von sich selber, und nicht ballen tut sich die Hand dessen, der vom Lichte der Wahrheit erfüllt ist, sondern seine Hand streckt sich; und in der gestreckten Hand ist vorhanden das Aufsaugen des Wesens der Welt. So zeigt sich physiognomisch der ganze Unterschied zwischen der Wahrheit und dem Zorn. Führt einerseits der Zorn zu einem Hineindrängen des Menschen in sein Selbst, so führt das Streben nach der Wahrheit andererseits zu einem Auf­schließen und Hineinwachsen des Menschen in die Außen­welt; und um so mehr wächst der Mensch hinein in die Außenwelt, je mehr er sich aufschwingt von den nach-gedachten Wahrheiten zu den vorgedachten. Daher stellt Goethe in seiner Pandora einander gegenüber diejenigen Gestalten, welche Repräsentanten sein können für das, was in der Seele wirkt. Sie sollen gleichsam symbolisch die ein­zelnen Eigenschaften und Fähigkeiten der Seele in ein Spiel treten lassen. Wenn Sie die Pandora aufschlagen, sehen Sie gleich am Anfang etwas höchst Merkwürdiges. Gleich in der Angabe der ersten Szenerie kann Ihnen etwas auf­fallen, was im höchsten Grade bedeutsam ist. Hier sehen wir auf seiten des Prometheus angegeben eine Szene, die erfüllt ist von Werkzeugen, welche der Mensch selber fabri­ziert. Überall sind Menschenkräfte tätig gewesen; alles aber ist in gewissem Sinne roh und unbequem. Dem gegen­über ist gestellt die Szene des Epimetheus, des andern Tita­nen. Dessen Schauplatz ist so, daß alles in gewisser Be­ziehung vollkommen gemacht ist; denn wir sehen weniger dasjenige, was der Mensch als Schöpfer hervorbringt, son­dern alles ist Zusammenstellung dessen, was die Natur schon

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hervorgebracht hat. Alles ist aus dem Nachdenken hervor­gegangen. Hier haben wir ein Zusammenstellen und Zu­sammenformen, ein symmetrisches Anordnen dessen, was in der Natur da ist. Asymmetrisch und roh ist die Szene des Prometheus; wohlgebildet und symmetrisch sind die Erscheinungen und Formen der Natur bei Epimetheus. Den Abschluß dieser Szene des Epimetheus bildet ein Ausblick in eine wunderbare Landschaft. Warum ist das alles so an­geordnet? Wir brauchen nur die beiden Gestalten zu neh­men : Prometheus, der Vordenkende, und Epimetheus, der Nachdenkende. Diese zwei in der Seele wirkenden Kräfte stellte Goethe in den beiden Titanen-Brüdern einander gegenüber. Einerseits haben wir dasjenige, was vorzugs­weise im Menschen unter dem Sterne des Vordenkens steht, im Prometheus; da ist der Mensch eingeschränkt in unge­schlachte Kräfte, aber er ist produktiv. Er kann noch nicht seine Schöpfungen so vollkommen gestalten wie die Natur die ihrigen. Er kann noch nicht in Harmonie formen, aber alles Geschaffene entspringt aus seinen eigenen Kräften und Werkzeugen. Es fehlt ihm aber auch der Sinn dafür, auf eine große Natur-Szenerie hinauszuschauen.

Wir sehen auf der andern Seite bei Epimetheus, dem Nachdenker, in dem, was er zustande gebracht hat, das, was ihm die Vorzeit überliefert hat, symmetrisch ange­ordnet. Weil er aber Nachdenker ist, sehen wir bei ihm auch im Hintergrunde eine schöne Landschaft ausgebreitet, die dem Menschen eigenartigen Genuß bietet. Dann tritt uns Epimetheus entgegen, der uns seine eigenartige Natur enthüllt und uns sagt, wie er dazu da ist, um das Vergan­gene auf sich wirken zu lassen und über das, was bereits geschehen ist und was dem Auge entgegentritt, nachzudenken

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. Und er zeigt uns in seiner Rede, was das für eine unbe­friedigte Gemütsstimmung zuweilen in der Seele hervor­ruft. Er empfindet kaum einen Unterschied zwischen Tag und Nacht. Wir können kurz sagen : das auf die höchste Spitze getriebene Nachdenken wird uns in Epimetheus vorgeführt. Dann aber tritt uns Prometheus entgegen mit der Fackel in der Hand, noch aus der Nacht heraustretend. In seiner Gefolgschaft sehen wir Schmiede, die Hand an­legen an das, was der Mensch selber hervorbringt, und er selber sagt uns etwas sehr Merkwürdiges, das wir, wenn wir Goethe richtig verstehen, nicht mißverstehen werden. Die Schmiede rühmen die Tätigkeit, die zu etwas Produk­tivem führt. Sie rühmen, daß der Mensch da auch man­cherlei zerstören muß. Sie rühmen in einseitiger Weise das Feuer. Der Mensch, der allseitig Nachdenker ist, wird nicht das einzelne auf Kosten des anderen loben. Er wird sich einen Überblick über das Ganze machen. Prometheus aber sagt gleich :

« Des tät'gen Manns Behagen sei Parteilichkeit.»

Er rühmt gerade die Tatsache, daß man, um tätig zu sein, eingeschränkt sein muß. Es wird sich in der Natur das Richtige dadurch bewähren, daß das Unrichtige sich zer­stört. Aber vorwärts mit dem, was man kann, das ist es, was Prometheus den Schmieden einschärft. Er ist der Wir­kende, der mit der Fackel aus der Nacht herauskommt, um zu zeigen, wie aus der Tiefe seiner Seele seine vordenk­liche Wahrheit herauskommt. Für ihn ist es nicht so, daß er wie Epimetheus in traumhafter Weise keinen Unter­schied finden kann zwischen Tag und Nacht und alles in der Welt als Traum empfindet. Denn seine Seele hat ge­arbeitet, und in ihrer eigenen dunklen Nacht hat sie zuerst

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die Gedanken erfaßt, die jetzt aus ihr heraustreten. Das sind aber keine Träume, sondern dasjenige, wofür die Seele ihr Blut gegeben hat. Dadurch trägt sie sich in die Welt hinein und kommt los von sich selber. Zugleich läuft sie aber auch Gefahr, sich zu verlieren. Prometheus selbst braucht sich zwar noch nicht zu verlieren, wenn aber etwas Einseitiges in der Welt zustandekommt, dann zeigt sich das in seiner Nachfolgerschaft. Der Sohn des Prometheus, Phi­leros, ist bereits geneigt, dasjenige, was geschaffen wurde, zu lieben und es genießen zu wollen, während der Vater Prometheus noch in der ganzen Schaffenskraft des Lebens darinnen ist. In Phileros ist die Kraft des Vordenkens in einseitiger Weise ausgebildet. Er stürmt hinaus in das Leben, nicht wissend, wo er seiner Genußsucht eine Befriedigung verschaffen kann. Nicht übergehen kann auf diesen Sohn dasjenige, was Prometheus als befruchtende Kraft des Schaf­fens in sich hat; und unverständlich muß er daher auch für Epimetheus erscheinen, der aus einer reichen Lebenserfah­rung heraus ihm Anleitung geben will in seinem dahin­stürmenden Leben.

In grandioser Weise wird uns ferner gezeigt, wie das wirkt, was bloßes Nachdenken gewähren kann. Es wird angeknüpft an den Mythos, daß Zeus, als er Prometheus an den Felsen schlagen ließ, dem Menschen anheftete Pan­dora, die Allbegabte.

«Allschönst und allbegabtest regte sie sich hehr

Dem Staunenden entgegen, forschend holden Blicks,

Ob ich, dem strengen Bruder gleich, wegwiese sie.

Doch nur zu mächtig war mir schon das Herz erregt,

Die holde Braut empfing ich mit berauschtem Sinn.

Sodann geheimnisreicher Mitgift naht' ich mich,

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Des irdenen Gefäßes hoher Wohlgestalt. Verschlossen stand's » ----

Prometheus hatte seinen Bruder Epimetheus gewarnt, dieses Geschenk der Götter anzunehmen. Der Bruder aber nimmt es doch an. Geöffnet wird dieses Geschenk, weil Epi­metheus anders geartet ist als sein Bruder, und alle mensch­lichen Qualen fallen heraus; nur eines bleibt darinnen - die Hoffnung bleibt darinnen. Was ist Pandora? Was hat man bei dieser Allbegabten zu empfinden? Wahrlich ein Myste­rium der menschlichen Seele verbirgt sich in ihr. Dasjenige, was dem nachdenkenden Menschen in der Welt geblieben ist, ist das tote Produkt, das abstrakte Spiegelbild der von Hephaistos geschmiedeten mechanischen Gedanken. Ein Ohnmächtiges ist diese Weisheit gegenüber der allseitig schaffenden Weisheit, die die Welt aus sich hervorsprießen läßt.

Was kann dieses abstrakte Spiegelbild dem Menschen geben? Wir haben gesehen, wie diese Wahrheit unfruchtbar sein kann, wie sie die menschliche Seele verödet, und be­greifen es, daß aus der Pandora-Büchse herausfallen alle Qualen der Menschen, alles, was auf die menschliche Seele verödend wirkt. In Pandora haben wir zu sehen die zur Schöpfung ohnmächtige Wahrheit, die nachgedachte Wahr­heit. Sie repräsentiert uns das bloße mechanischeGedanken­bild; einen Gedankenmechanismus bildende, nachgedachte Wahrheit im Lebendig-Schöpferischen der Welt. Nur eines bleibt dem bloßen Nachdenker. Während der Vordenker sein Ich verbindet mit der Zukunft und loskommt von sich und in die Zukunft hinein lebt, bleibt dem Nachdenker in bezug auf die Zukunft dieses eine: die Hoffnung, daß die Dinge geschehen werden. Da er nicht selber teilnimmt als

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Vordenker an dem Wirken in die Zukunft hinein, bleibt ihm bloß die Hoffnung. Goethe faßt den Mythos ganz tief, indem er in seinem Drama « Pandora » aus der Ehe des Epimetheus mit Pandora hervorgehen läßt zwei Kinder. Das eine Kind ist die Hoffnung Elpore, das andere Epi­meleia, die Sorgende, diejenige, die bewahrt, was da ist. In der Tat, der Mensch hat in seiner Seele zwei Kinder, zwei Sprößlinge der toten, abstrakten, mechanisch gefaßten Wahrheit. Sie ist unfruchtbar und wirkt nicht in die Zu­kunft hinein, weil sie nur nachgedachte Wahrheit ist und nur nachdenken kann, was da ist, aber nicht schöpferisch tätig sein kann. Diese Menschen können nur hoffen, daß geschehen wird, was wahr ist. Diese Tatsache stellt Goethe in geradezu grandios realistischer Weise in seiner Elpore dar, indem er zeigt, wie sie dem Menschen, wenn er fragt, ob dieses oder jenes geschehen wird, immer nur die eine Antwort gibt: Ja, ja. Wenn ein prometheischer Mensch vor die Welt träte und von der Zukunft spräche, so würde er sagen : ich hoffe nichts, aber ich will mit meinen eigenen Kräften auf die Zukunft gestaltend wirken. Wenn der Mensch aber bloß Nachdenker ist, richtet er seine Gedan­ken auf das, was geschehen ist, und andererseits hofft er in die Zukunft hinein; denn auf die Frage: wird das oder jenes geschehen? sagt die Elpore immer: Ja, ja! Das hören wir sie immerfort antworten. Damit ist die eine Tochter des nachdenklichen Seelenwesens in ausgezeichneter Weise charakterisiert. Damit ist sie skizziert in ihrer Unfrucht­barkeit. Die andere Tochter dieser Seelenkraft ist jene, welche acht zu geben hat, Sorge zu tragen hat für das, was schon da ist. Sie ordnet in Symmetrie alles Geschaffene, und kann nichts, was aus eigenen Kräften entspringt, hinzufügen

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zu dem, was da ist durch die lebendig schaffende Weisheit. Diese totbleibende, nachdenkliche Weisheit bringt Epimeleia hervor, indem das, was da ist, einfach geschützt werden soll vor der Zerstörung. Da aber alles, was sich nicht weiter entwickelt, immer mehr der Zerstörung ent­gegengehen muß, so sehen wir, wie die Sorge immer größer und größer wird; und wie durch das bloße nachdenkliche Element nicht das Fruchtbare, sondern das Zerstörende selbst eintritt in die Welt. Das charakterisiert Goethe wun­derbar, indem er Phileros in Epimeleia sich verlieben läßt. Wir sehen ihn in Eifersucht entbrannt Epimeleia verfolgen, die bei den Titanenbrüdern Schutz gegen ihn findet.

Zu gleicher Zeit sehen wir als Folge eintreten Streit und Zwietracht. Daher tritt uns Epimeleia entgegen, indem sie ankündigt, daß gerade das, was sie liebt, ihr nach dem Leben trachtet. Jedes weitere Wort bei Goethe zeigt, wie tief er in die Seelengeheimnisse des Vor- und Nachdenkens hineingeschaut hat. Wir sehen, wie Goethe in der wunder-barsten Weise kontrastiert hat das Vordenken an den Schmieden und das, was stehen, bleibt in der Natur, an den Hirten. Diese nehmen dasjenige, was die Natur von sich selbst bietet, was schon da ist. Die Schmiede aber formen die Natur um. Deshalb sagt Prometheus von den Hirten :

Frieden suchen sie, aber Befriedigung in der Seele werden sie nicht finden!

- « Entwandelt friedlich! Friede findend geht ihr nicht. » -Denn in das Unfruchtbare der Natur führt nur hinein alles dasjenige, was bloß das Vorhandene erhalten will.

So stellt uns Goethe die vor- und nachdenkliche Wahr­heit in den Bildern des Prometheus und Epimetheus und allen Persönlichkeiten, die an ihnen hängen, gegenüber. Sie

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sind die Repräsentanten jener Seelenkräfte, die aus einer allzu starken, einseitigen Neigung zur einen oder zur an­deren Art des menschlichen Wahrheitsstrebens hervorgehen können. Und nachdem nur Unheil gebracht worden ist durch das, was einseitig wirkt in der menschlichen Seele, nachdem wir gesehen haben, wie Unheil bewirkt wird, wenn der Mensch bloßer Vordenker ist oder Nachdenker, sehen wir zum Schluß hervortreten dasjenige, was allein Erlösung bringen kann, nämlich das Zusammenwirken der beiden Titanenbrüder. Das Drama wird weitergeführt da­durch, daß im Besitz dieses Epimetheus ein Brand entsteht. Prometheus, der gewillt ist, Gebautes einzureißen, falls es seinem Zwecke nicht mehr genügt, gibt seinem Bruder den Rat, hinzueilen und zu versuchen durch das, was er ist, der Zerstörung Einhalt zu tun. In Epimetheus aber ist jeder Sinn für die Zerstörung erstorben. Er denkt an die Gestalt der Pandora und ist ganz in Nachdenken versunken.

Interessant ist auch das Gespräch zwischen Prometheus und Epimetheus über die Pandora selbst. Epimetheus schwärmt von Pandora.

Prometheus :

« Die Hochgestalt aus altem Dunkel tritt auch mir;

Hephaisten selbst gelingt sie nicht zum zweitenmal. »

Epimetheus :

« Auch du erwähnest solchen Ursprungs Fabelwahn? Aus göttlich altem Kraftgeschlechte stammt sie her :

Uranione, Heren gleich und Schwester Zeus'. »

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Prometheus :

« Doch schmückt' Hephaistos wohlbedenkend reich sie aus, Ein goldnes Hauptnetz flechtend erst mit kluger Hand, Die feinsten Drähte wirkend, strickend mannigfach. »

Wir sehen dabei auch, wie das mechanische, bloß ab­strakt Nachgeschaffene sich in jedem Satze des Prometheus wiederfindet. Dann tritt uns entgegen Eos, die Morgen­röte. Sie tritt vor der Sonne auf. Sie kündigt dieses Licht an, hat aber dieses Licht bereits in sich. Sie ist nicht bloß das, was aus dem tiefen Dunkel der Nacht heraus schafft, sondern der Übergang zu etwas, was die Nacht überwun­den hat. Prometheus erscheint mit der Fackel, weil er aus der Nacht herauskommt. Mit seinem künstlichen Lichte soll angedeutet werden, wie er aus der Nacht heraus schafft. Epimetheus kann zwar bewundern, was das Licht der Sonne gibt, aber er empfindet alles nur wie einen Traum. Er ist die bloß nachdenkliche Seele. Wie wenn es der Auf­merksamkeit der bloß schaffenden Seele des Prometheus entginge, so ist es in dem, was Prometheus am Licht des Tages spricht. Er sagt auch, seine Menschen sind dazu be­rufen, nicht bloß Sonne und Licht zu sehen, sondern zu be­leuchten. Jetzt tritt Eos, die Morgenröte, « Aurora » hervor. Sie fordert den Menschen auf, überall das Richtige zu tun und tätig zu sein. Phileros soll sich verbinden mit den Kräf­ten, die es ihm möglich machen, sich zu retten, nachdem er schon den Tod gesucht hat. Neben die Schmiede, die ein­geschränkte Arbeit tun im Vordenken, neben die Hirten, die das nehmen, was schon da ist, treten die Fischer ein, die das Wasserelement besorgen. Und jetzt sehen wir, wie Eos einen Rat gibt:

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« Jugendröte, Tagesblüte,

Bring' ich schöner heut als jemals

Aus den unerforschten Tiefen

Des Okeanos herüber.

Hurtiger entschüttelt heute

Mir den Schlaf, die ihr des Meeres

Felsumsteilte Bucht bewohnet,

Ernste Fischer! frisch vom Lager!

Euer Werkzeug nehmt zur Hand.

Schnell entwickelt eure Netze,

Die bekannte Flut umzingelnd :

Eines schönen Fangs Gewißheit

Ruf' ich euch ermunternd zu.

Schwimmet, Schwimmer! taucht, ihr Taucher!

Spähet, Späher, auf dem Felsen!

Ufer wimmle wie die Fluten,

Wimmle schnell von Tätigkeit! »

Nun wird uns in wunderbarer Weise der Sohn des Pro­metheus entgegenführt, wie er sich auf Wellen und Wogen rettet und die Kraft in sich mit der Kraft der Wogen ver­bindet. So verbindet sich in der Rettung Phileros' das, was schaffende Kraft in ihm ist, mit dem, was als schaffende Kraft in der Natur ersprießt. Das tätige, das schaffende Element seiner Natur tritt in wirkungsvolle Verbindung mit dem schaffenden, sprießenden Element der Natur. In dieser Weise versöhnt sich das Element des Prometheus mit dem Element des Epimetheus.

So stellt Goethe als eine aussichtsvolle Lösung hin, wie das, was nachdenkend aus der Natur gewonnen wird, seine produktive Anspannung bekommt durch das vordenkende

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Element. Das letztere bekommt seine richtige Kraft durch eine wahrheitsgetreue Aufnahme dessen, was « die Götter droben gewähren. »

«. . . . . . . . . . . .- Merke:

Was zu wünschen ist, ihr unten fühlt es;

Was zu geben sei, die wissen's droben.

Groß beginnet ihr Titanen; aber leiten

Zu dem ewig Guten, ewig Schönen,

Ist der Götter Werk; die laßt gewähren! »

Vereinigen müssen sich Prometheus und Epimetheus in der menschlichen Seele; dann kommt dasjenige heraus, was zum Heile für beide, zum Heile für die Menschheit sein muß. Es sollte eben in dem ganzen Drama gezeigt werden, wie durch ein allseitiges Ergreifen der Wahrheit nicht der einzelne, sondern das ganze Menschengeschlecht befriedigt wird. Goethe wollte eben gerade das, was das wahre Wesen der Wahrheit ist, den Menschen hinstellen, um zu zeigen, wie die Wahrheit nicht für das einzelne Selbst ist, sondern wie sie das ganze Menschengeschlecht vereinigen und be­friedigen soll, und wie Liebe und Friede durch die Wahr­heit unter die Menschen kommt. Dann verwandelt sich auch die Hoffnung in unserer Seele, die zunächst nur zu allem ja sagen, aber nicht verwirklichen kann. Schließen sollte da­her das Gedicht damit, daß uns die verwandelte Elpore, Elpore thraseia, entgegentritt, die sagt, sie sei nicht mehr die Wahrsagerin, sondern sei eingezogen in die mensch­liche Seele, damit der Mensch nicht nur Hoffnung hat für die Zukunft, sondern Kraft hat, mitzuarbeiten und zu ver­wirklichen, was er selber in sich durch seine produktive Kraft zu schaffen vermag! Glauben an das, was die Wahr- heit

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aus der Seele macht: das ist erst die volle, die ganze Wahrheit, die den Prometheus und den Epimetheus versöhnt,

Natürlich konnte in diesen skizzenhaften Andeutungen nur wenig angegeben werden von dem, was überhaupt aus dem Gedicht herausgeholt werden kann. Jene tiefe Weis­heit, die das Fragment aus Goethes Seele losgelöst hat, wird erst derjenige finden, der auf geisteswissenschaftliche Denkweise gestützt an das Gedicht herangeht. Ihm kann zuströmen eine sättigende, erlösende Kraft, die belebend auf ihn wirken kann.

Nicht unerwähnt möge aber das Folgende bleiben, das uns ebenfalls viel lehren kann. Goethe läßt in seiner Pan­dora einen merkwürdig schönen Ausdruck fallen; er sagt, es müssen zusammenwirken die göttliche Weisheit der Welt, die herunterströmt, und das, was wir vermöge un­serer prometheischen Kraft, vermöge unseres Vordenkens selbst gewinnen können. Dasjenige, was uns selbst sagt, was Weisheit ist und uns in der Welt entgegenströmt, nennt er das Wort. Dasjenige aber, was in der Seele lebt und mit dem Worte, mit dem Nachdenken des Epimetheus sich ver­binden muß, das ist die Tat des Prometheus. So sehen wir, daß aus der Verbindung des Logos oder Wortes mit der Tat dasjenige Ideal ersprießt, das Goethe in seiner Pandora als Resultat seiner reichen Lebenserfahrungen vor uns hin-stellen wollte. Prometheus tut gegen Ende des Gedichtes den merkwürdigen Ausspruch: «Des echten Mannes wahre Feier ist die Tat! » Das ist diejenige Wahrheit, die sich ver­schließt dem nachdenklichen Element der Seele.

Wenn wir die ganze Dichtung auf uns wirken lassen, können wir eine Anschauung gewinnen von der großen heroischen Entwicklungssehnsucht derjenigen Menschen,

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wie Goethe einer war, und von jener großen Bescheiden­heit, die nicht glaubt, auf einer Stufe stehen bleiben zu müssen, die nicht glaubt, wenn sie etwas erreicht hat, nicht darüber hinausgehen zu müssen. Goethe war ein Lehrling des Lebens sein ganzes Leben lang und hat sich daher im­mer eingestanden, daß, wenn man um eine Erfahrung rei­cher geworden ist, man überwinden muß, was man vorher für richtig gehalten hat. Goethe fand auch als junger Mann, wo er gelegentlich seiner ersten Faustbearbeitungen einige Übersetzungen in der Bibel ausführte, daß die Worte: « Im Anfang war das Wort! » anders lauten müßten. Er würde übersetzen: « Im Anfang war die Tat! » Das war damals der junge Goethe, der damals auch ein Fragment über den Prometheus schrieb. Da sehen wir den bloß tätigen, den bloß prometheischen Menschen, den jungen Goethe, der glaubte, daß bloße Kraftentwickelung, ohne befruchtet zu sein von der Weltweisheit, vorwärts kommen könnte. Der reife Goethe mit allen seinen Lebenserfahrungen hat ein­gesehen, daß es unrichtig wäre, das Wort gering zu schät­zen, und daß das Wort sich verbinden muß mit der Tat. In Wahrheit hat Goethe auch seinen Faust umgeschrieben in der Zeit, als er seine Pandora geschrieben hat. So müssen wir Goethe im Reifegange seines Werdens verstehen; das können wir aber nur, wenn wir begreifen, was Wahrheit in allen ihren Formen ist.

Es wird für den Menschen immer gut sein, wenn er sich hinaufringt zu der Anschauung, wie die Wahrheit erst all­mählich erfaßt werden kann. Daher ist es auch recht gut, wenn der Mensch allseitiger, ehrlicher und echter Wahr­heitssucher ist, daß er sich eingesteht, nachdem er diese oder jene Wahrheit gefunden hat und nun berufen ist, in kräftiger,

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überwältigender Art seine gefundene Wahrheit ins Le­ben einzuführen: es sind keine Gründe dafür vorhanden, auf diese einmal gefundene Wahrheit zu pochen. Kein Grund ist vorhanden, jemals bei einer erkannten Sache stehen zu bleiben, sondern dasjenige, wozu uns solche Er­kenntnis, wie wir sie durch die heutige und gestrige Be­trachtung gefunden haben, führt, ist, daß der Mensch, trotzdem er feststehen muß auf dem Boden der errungenen Wahrheit und eintreten muß für die Wahrheit, zeitweise sich zurückziehen muß in sein Selbst, wie Goethe das getan hat. Wenn der Mensch in dieser Weise sich in sein Selbst zurückzieht, wird er zum Ausdruck aller der Kräfte, die ihm erwachsen, aus dem Bewußtsein der errungenen Wahr­heit doch wiederum das haben, was ihm das richtige Maß gibt und ihn zurückführt auf den Standpunkt, den er eigentlich einnehmen soll. Von dem gesteigerten Bewußt­sein der Wahrheit sollen wir immer wieder in uns einkeh­ren und uns mit Goethe sagen: Vieles von dem, was wir einst als Wahrheit erforscht haben, ist so, daß es heute nur Traum und traumhafte Erinnerung ist, und das, was wir heute schon denken, ist etwas, was keineswegs bestehen kann, wenn wir es tiefer prüfen. So sagte sich Goethe im­mer wieder die Worte, die er ausgesprochen hat in bezug auf sein eigenes ehrliches Wahrheitssuchen, und so sollte sich jeder Mensch in seinen einsamen Stunden sagen :

« Ganz und gar

Bin ich ein armer Wicht.

Meine Träume sind nicht wahr,

Und meine Gedanken geraten nicht. »

Wenn wir das fühlen können, werden wir zurechtkommen gegenüber unserem hohen Ideale, gegenüber der Wahrheit.

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DIE MISSION DER ANDACHT

Sie alle kennen die Worte, mit denen Goethe ein großes Lebenswerk, seinen Faust, beschlossen hat:

«Alles Vergängliche

Ist nur ein Gleichnis;

Das Unzulängliche

Hier wird's Erreichnis;

Das Unbeschreibliche

Hier ist's getan;

Das Ewig-Weibliche

Zieht uns hinan.»

Es sollte heute gar nicht gesagt zu werden brauchen, daß in diesem Falle das Ewig-Weibliche nichts zu tun hat mit Mann und Frau, sondern daß sich Goethe in diesem Falle eines uralten Sprachgebrauches bedient. In allen mystischen Weltanschauungen - und Goethe nennt gerade die Summe dieser Worte einen Chorus mysticus - in allen solchen my­stischen Weltanschauungen wird darauf hingewiesen, daß in der Seele ein zunächst unbestimmter Zug lebt nach et­was, was die Seele noch nicht erkannt hat, womit sie sich noch nicht vereinigt hat, und nach dem sie streben muß. Dieses zunächst im Geiste dunkel von der Seele zu Er-ahnende, nach dem sie hinstrebt, mit dem sie sich vereini­gen will, das nennt Goethe im Einklang mit den Mystikern der verschiedenen Zeiten das Ewig-Weibliche, und der ganze Sinn des zweiten Teiles des Faust ist ein Beweis für diese Auffassung der letzten Worte.

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Nun könnte man diesem Chorus mysticus mit seinen lapidaren Worten eine Art « Unio mystica » entgegen­stellen; das ist dasjenige, was wiederum von den im echten Sinne, im klaren Sinne mystisch Denkenden genannt wurde:

die dem Menschen erreichbare Vereinigung mit diesem in geistiger Ferne befindlichen Ewig-Weiblichen.

Wenn die eigene Seele hinaufgelangt und sich eins fühlt damit, dann ist dasjenige da, was mit dem Ausdruck mysti­sche Vereinigung, « Unio mystica » benannt wird. Diese Unio mystica, diese mystische Vereinigung ist der höchste Gipfel dessen, wovon wir in diesem Vortrag zu sprechen haben werden. Wir haben in den letzten Vorträgen ge­sehen, besonders in den Vorträgen über die Mission des Zornes und über die Mission der Wahrheit, daß des Men­schen Seele ein in der Entwickelung begriffenes Wesen ist. Wir haben in der Hauptsache angeführt einerseits Eigen­schaften, denen gegenüber die Seele streben muß, sie zu überwinden, wodurch zum Beispiel der Zorn zu einem Er­zieher der Seele werden kann, und haben andererseits aus­geführt, welche eigenartige Erzieherin die Wahrheit für die menschliche Seele ist.

Die menschliche Seele ist in einer Entwickelung begrif­fen, deren Ende und Ziel sie nicht zu jeder Zeit absehen kann. Dasjenige, was sich entwickelt hat, können wir zur Not vor uns hinstellen und können, wenn es vor uns steht, zufrieden sein damit, daß wir sagen: es hat sich aus irgend etwas anderem bis zum jetzigen Punkte heran entwickelt. Das können wir nicht sagen bei einem Wesen, wie die menschliche Seele es ist, die mitten in dieser Entwickelung darinnen steht, und die das Handelnde in dieser Entwicke­lung ist. Diese menschliche Seele muß fühlen, da sie sich

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bisher entwickelt hat, daß sie sich weiter entwickeln muß. Und sie muß sich als eine selbstbewußte Seele sagen: Wie kann ich nicht nur denken darüber, wie ich mich entwickelt habe, sondern auch wie ich mich entwickeln werde? Nun haben wir schon öfters davon gesprochen, daß für den wirklich geisteswissenschaftlichen Betrachter diese mensch­liche Seele mit ihrem gesamten inneren Leben in drei Glie­der zerfällt. Es ist nicht möglich, daß diese Gliederung der menschlichen Seele heute wieder ausführlich vorgeführt wird; aber es ist gut, damit der Vortrag auch für sich ver­arbeitet werden kann, daß darauf aufmerksam gemacht wird. Wir unterscheiden in der menschlichen Seele drei

Glieder: das, was wir Empfindungsseele, dasjenige, was wir Verstandes- oder Gemütsseele und dasjenige, was wir die Bewußtseinsseele nennen. Was wir Empfindungsseele nennen, das kann da sein im Leben, ohne daß es viel vom Denken durchdrungen wird. Die Empfindungsseele ist zu­nächst dasjenige, was die äußeren Eindrücke auffängt. Sie ist dasjenige Glied der menschlichen Seele, welches die Wahrnehmungen der Sinne ins Innere hinein weiter schickt. Diese Empfindungsseele ist es auch, was dann aufsteigen läßt im Innern das, was sich als Lust- und Unlust-Gefühl, als innere Freude, als inneres Schmerzgefühl anschließt an das von außen Gebrachte und Beobachtete. Diese Emp­findungsseele ist zunächst dasjenige, aus dem aufsteigen die Triebe und Instinkte und Leidenschaften und Affekte der menschlichen Natur. Der Mensch hat sich aus dieser Emp­findungsseele heraus entwickelt; er ist zu Höhen aufgestie­gen; er hat diese Empfindungsseele durchdrungen mit sei­nem Denken und mit dem vom Denken geleiteten Gefühl. Und in dieser Verstandes- oder Gemütsseele, die wir als

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das zweite Glied anführten, haben wir nicht zu suchen jenes unbestimmte Gefühl, das wie aus der Tiefe herauf-steigt, sondern das Gefühl, das sich allmählich von dem inneren Lichte des Denkens durchströmen läßt. Zugleich haben wir in dieser Verstandes- oder Gemütsseele das­jenige zu sehen, aus dem heraus allmählich erscheint das, was wir das menschliche Ich nennen; jenen Mittelpunkt in unserer Seele, welcher zum eigentlichen Selbste führen kann, der es möglich macht, daß wir die Eigenschaften un­serer Seele von innen heraus läutern und reinigen und ver­arbeiten, so daß wir Herr und Leiter und Führer werden innerhalb unserer Willensimpulse, innerhalb unseres Ge­fühls- und Gedankenlebens.

Dieses Ich hat, wie bereits erwähnt wurde, zwei Seiten. Die eine Möglichkeit der Entwickelung ist das, was der Mensch erreichen soll: daß er in sich einen immer stärkeren und stärkeren Mittelpunkt seines Wesens hat, daß das­jenige, was er werden kann für seine Umgebung, was er werden kann für alles Leben, immer kräftiger und kräfti­ger aus seinem Selbste ausstrahlt. Die Erfüllung der Seele mit einem inneren Gehalt, der sie wertvoller und wert­voller macht für die Umwelt und sie zugleich mit immer größerer Selbständigkeit begabt, das ist die eine Seite der Ichentwickelung.

Die Kehrseite dieser Entwickelung des Selbstes ist die Selbstsucht, der Egoismus. Ein zu schwaches Selbst verliert sich im Leben, versinkt sozusagen in die Außenwelt. Ein solches Selbst aber, das alles in sich hineingenießen, hinein-begehren und hineindenken und -brüten möchte, ein sol­ches Ich verhärtet sich in Selbstsucht und Egoismus.

Damit haben wir in Kürze dasjenige umschrieben, was

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zum Inhalt der Verstandes- oder Gemütsseele gehört. Wir haben in einer gewissen Weise gesehen, daß die wilden Triebe, zu denen zum Beispiel der Zorn gehört, Erzieher werden für die Seele in bezug auf die Entwickelung des Ichs, wenn sie überwunden werden, besiegt werden.

Wir haben gesehen, daß die Verstandes- oder Gemüts­seele sich in positiver Weise erzieht durch die Wahrheit, wenn die Wahrheit als etwas verstanden wird, was man völlig in sich selber besitzen soll, wovon man in jedem Augenblick sich Rechenschaft geben soll und was, obwohl es innerster Besitz ist, uns zugleich hinausführt, das Ich erweitert und das Ich stärker und stärker und selbstloser macht, gerade durch sich selbst.

So haben wir gesehen, was da für Erziehungsmittel, Selbst-Erziehungsmittel vorhanden sind für die Empfin­dungs- und Verstandesseele.

Unsere Frage muß nun sein: gibt es auch ein solches Mit­tel für die Bewußtseinsseele, des höchsten menschlichen Seelengliedes? Wir können uns auch fragen: Was wird denn sozusagen in der Bewußtseinsseele entwickelt ohne ihr Zutun, entsprechend den Trieben und Begierden in der Empfindungsseele? Was wird in ihr entwickelt, wie es so­zusagen den menschlichen Anlagen entspricht, so daß es sich der Mensch eigentlich nur in geringem Maße geben kann, wenn es ihm nicht wie durch eine Anlage zukommt? Da ist etwas, was noch aus der Verstandesseele herausragt in die Bewußtseinsseele: das ist das Denken. Die Stärke, die Klugheit des Denkens ist es. Nur dadurch aber kann die Bewußtseinsseele zur Ausbildung kommen, daß der Mensch ein Denker wird; denn die Selbstbewußtseinsseele soll wissen, wissen von der Welt und von sich selbst. Sie

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kann nur durch das höchste Instrument des Wissens zur Entwickelung kommen, nämlich durch das Denken. In bezug auf die äußere Welt, auf die Sinneswelt, ist die äußere Empfindung und Wahrnehmung dasjenige, was uns das Wissen vermittelt, indem äußere Empfindung und Wahrnehmung uns die Anregung gibt von dem, was um uns herum ist, über die Dinge der sinnlichen Außenwelt zu wissen. Dazu gehört, daß man sich ihr überläßt, nicht stumm ist ihr gegenüber. Sie aber, die sinnliche Außenwelt selber ist es, die uns anregt und die uns auch den äußeren Wissensdrang und Wissensdurst befriedigen kann durch die Beobachtung ihrer selbst. Anders aber ist es mit Bezug auf dasjenige, wovon immer wieder in diesen geisteswissen­schaftlichen Vorträgen die Rede sein soll. Anders ist es mit dem Wissen vom Nichtsinnlichen, von dem Übersinnlichen. Das Nichtsinnliche ist zunächst für den Menschen nicht da. Will er es aber in sein Wissen aufnehmen, will er seine Bewußtseinsseele davon durchdringen, dann muß er, weil der Gegenstand des Wissens außen nicht da ist, von innen einen Antrieb empfangen; von innen muß der Impuls dazu ausgehen. Dieser Impuls, der von innen ausgeht, muß das Denken anregen, muß das Denken durchströmen und durchsetzen; wenn aber ein solcher Impuls von der Seele ausgehen soll, so kann er nur von den Kräften ausgehen, die in der Seele sind, und das sind Gefühl und Wille außer dem Denken. Und wenn das Denken sich nicht anregen läßt von den beiden, wird es nie getrieben werden in eine übersinnliche Welt. Damit ist nicht gesagt, daß dasjenige, was übersinnlich ist, nur ein Gefühl ist, sondern daß der Führer aus dem Menschen heraus in das Übersinnliche Ge­fühl und Wille sein muß. Dasjenige, was uns führt, ist nicht

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dasjenige, was wir suchen. Suchen muß der Mensch die übersinnliche Welt, weil sie ihm zunächst ein Unbekanntes ist. Von Anfang an muß er von innen heraus an Gefühl und Willen einen Führer haben. Welche Eigenschaften aber müssen Gefühl und Wille annehmen, wenn sie Führer wer­den sollen in die geistige Welt, in die übersinnliche Welt?

Zunächst könnte überhaupt jemand daran Anstoß neh­men, daß das Gefühl ein Führer zum Wissen sein soll. Eine einfache Erwägung kann uns jedoch zeigen, daß das Ge­fühl unter allen Umständen ein Führer sein muß zum Wis­sen. Wer es ernst nimmt mit dem Wissen, wird ohne Zwei­fel zugeben, daß der Mensch in bezug auf die Erwerbung seines Wissens logisch vorgehen soll, daß Logik ihn durch­setzen und ihn führen soll. Durch die Logik sollen die­jenigen Dinge, die wir in unser Wissen aufnehmen, be­wiesen werden. Der Logik bedienen wir uns als Instrument, um das, was wir in das Wissen aufnehmen, zu beweisen. Wenn aber Logik dieses Instrument ist, wodurch kann wie­der die Logik bewiesen werden? Da kann man sagen: sie kann durch sich selbst bewiesen werden. Dann aber muß es wenigstens eine Möglichkeit geben, bevor man anfängt, Logik mit Logik zu beweisen, sie mit dem Gefühl zu um­fassen. Logisches Denken kann zunächst nicht bewiesen werden durch logisches Denken, sondern lediglich durch das Gefühl, und alles, was Logik ist, wird zunachst bewie­sen durch das Gefühl, durch das untrügliche, in der mensch­lichen Seele befindliche Wahrheitsgefühl. So sieht man an diesem klassischen Beispiel, daß Logik selber das Gefühl zur Grundlage hat, daß das Gefühl die Grundlage abgibt für das Denken. Das Gefühl muß den Anstoß geben zur Bewahrheitung des Denkens. Welcher Art muß das Gefühl

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werden, wenn es nicht nur den Anstoß geben soll zum Denken überhaupt, sondern zu einem Denken über Wel­ten, die zunächst dem Menschen unbekannt sind, die der Mensch zunächst nicht überschauen kann?

Die Eigenschaft, die das Gefühl annehmen muß, um zu einem Unbekannten zu führen, das muß eine Kraft sein, die aus dem Innern heraus hinstrebt zu dem Unbekannten, zu dem, was man noch nicht kennt. Wenn die menschliche Seele hinstrebt zu irgend etwas anderem; wenn diese menschliche Seele umfassen will etwas anderes mit dem Gefühl, ein solches Gefühl nennt man Liebe. Liebe kann man zu etwas Bekanntem haben, und man muß Liebe zu vielem Bekannten in der Welt haben. Aber da Liebe ein Gefühl ist, und das Gefühl für das Denken die Grundlage sein muß im umfassendsten Sinne des Wortes, so müssen wir, wenn durch das Denken gefunden werden soll ein Übersinnliches, uns klar sein darüber, daß das Umfassen des Unbekannten, des Übersinnlichen durch das Gefühl vorher möglich sein muß, bevor gedacht werden kann. Das heißt: es muß dem Menschen möglich sein, - die unbefan­gene Beobachtung beweist es, daß es möglich ist, - daß Liebe entwickelt wird zum Unbekannten, zum Übersinn­lichen, bevor sie dieses Übersinnliche denken kann. Liebe zum Übersinnlichen, bevor man imstande ist, es mit dem Lichte des Gedankens zu durchdringen, ist möglich, ist not­wendig. Aber auch der Wille kann sich durchströmen mit einer Kraft, welche hinausgeht nach dem unbekannten Übersinnlichen, bevor das Denken an dieses Übersinnliche heran kann. Diejenige Eigenschaft des Willens, durch welche der Mensch die Ziele und die Absichten des Unbekannten ausführen will in seinem Willen, bevor er dieses Unbekannte

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umfassen kann mit dem Lichte des Gedankens, das ist die Ergebenheit in dieses Übersinnliche. So kann der Wille entwickeln die Ergebenheit in das Unbekannte, das Gefühl kann entwickeln die Liebe zum Unbekannten; und wenn sich beide vereinigen, Ergebenheit des Willens in das Unbekannte und Liebe zu diesem Unbekannten, dann ent­steht durch ihre Vereinigung dasjenige, was wir im wah­ren Sinne des Wortes Andacht nennen. Und wenn Andacht die Vereinigung ist, die Durchdringung ist, die gegenseitige Befruchtung ist von Liebe zum Unbekannten und Ergeben­heit in das Unbekannte, dann wird diese Andacht sein der vereinigte Anstoß, der uns hineinführen kann in dieses Unbekannte, damit das Denken sich seiner bemächtigen kann. So wird Andacht zum Erzieher der Bewußtseinsseele. Denn wenn diese Bewußtseinsseele hinstrebt nach dem, was ihr zunächst verborgen ist, so kann man auch im ge­wöhnlichen Leben von Andacht sprechen. Steht der Mensch einem Unbekannten gegenüber, das er noch nicht umfassen kann, gedanklich noch nicht erreichen kann, trotzdem es ein äußerlich Wirkliches ist, so kann man davon sprechen, daß er dem Unbekannten sich nähert in Liebe und Erge­benheit. Niemals wird die Bewußtseinsseele zu einem Wis­sen kommen auch über ein äußeres Ding, wenn sie sich diesem Ding nicht mit Liebe und Ergebenheit nähert; denn unsere Seele geht vorüber an den Dingen, denen sie sich nicht nähert mit Liebe und Ergebenheit oder mit anderen Worten in Andacht. Diese ist der Führer zur Erkenntnis, zum Wissen des Unbekannten. Liebe und Ergebenheit sind es schon im gewöhnlichen Leben, sie sind es insbesondere da, wo die Welt des Übersinnlichen in Betracht kommt. Überall aber, wo die Seele erzogen werden soll, handelt es

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sich darum, daß diese Seele erzieht, miterzieht und sich er­ziehen läßt durch dasjenige, was wir als den Mittelpunkt der Seele bezeichnet haben: das Ich, durch das der Mensch ein Selbstbewußtsein hat. Wenn wir gesehen haben, daß das Ich sich immer mehr und mehr herausarbeitet, immer kräftiger und kräftiger wird durch die Überwindung ge­wisser Seeleneigenschaften, wie zum Beispiel des Zornes, durch die Pflege anderer Seeleneigenschaften, wie des Wahr­heitssinnes, so müssen wir sagen, daß mit diesen Eigen­schaften die Selbsterziehung des Ichs aufhört; hier beginnt die Erziehung durch die Andacht. Der Zorn will überwun­den, abgestreift werden; der Wahrheitssinn soll das Ich durchströmen. Die Andacht soll aus dem Ich herausströ­men und zu dem Ding hinströmen, das erkannt werden soll. So hebt sich das Ich aus der Empfindungs- und Ver­standesseele heraus durch Überwindung des Zornes und anderer Affekte und durch die Pflege des Wahrheitssinnes, so läßt es sich heranziehen zur Bewußtseinsseele immer mehr und mehr durch die Andacht. Wird diese Andacht immer größer und größer und mächtiger und mächtiger, dann kann man davon sprechen, daß diese Andacht ein mächtiger Zug wird nach dem, was Goethe charakterisiert mit den Worten:

« Alles Vergängliche

Ist nur ein Gleichnis;

Das Unzulängliche

Hier wird's Erreichnis;

Das Unbeschreibliche

Hier ist's getan;

Das Ewig-Weibliche

Zieht uns hinan. »

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Nach dem Ewigen, nach dem, womit sich die Seele immer mehr vereinigen will, fühlt die Seele sich mächtig hinge­zogen durch die Kraft der Andacht in sich selber. Nun aber hat das Ich zwei Seiten. Das Ich hat die Notwendigkeit, seine Selbststärke und Selbsttätigkeit immer mehr und mehr zu erhöhen, immer mehr und mehr ein inhaltsvolles Selbst zu werden. Es hat die Aufgabe, ein solches Selbst zu werden, das nicht in Selbstsucht verkommt und in Egois­mus verhärtet. Wenn es sich darum handelt, weiter hinauf zu schreiten zu dem Wissen von dem Unbekannten und Übersinnlichen, wenn die Andacht zur Selbsterzieherin ge­macht wird, da liegt stark die Gefahr nahe, daß dieses Ich, dieses Selbst des Menschen, sich verlieren könnte. Vor allen Dingen kann es sich dadurch verlieren, daß des Men­schen Wille in steter Ergebenheit der Welt sich gegenüber-stellt. Ergebenheit bewirkt zuletzt, wenn sie immer mehr und mehr überhand nimmt, daß das Ich aus sich hinaus schreitet, daß es ganz aufgeht in d,em Andern, dem es er­geben ist, daß es in dem Andern sich verliert. So kann sich das Ich nicht mehr in dem Andern finden; denn man muß das Ich hinausdrängen in das Andere, wenn man es drau­ßen finden will. Ergebenheit, durch die das Ich sich ver­lieren würde, ließe sich vergleichen mit dem, was man nen­nen könnte eine seelische Ohnmacht, zum Unterschied von einer körperlichen Ohnmacht. In der letzteren sinkt das Ich hinunter durch körperliches Sichverlieren in ein un­bestimmtes Dunkel; in der seelischen Ohnmacht verliert sich das Ich bloß seelisch, trotzdem es körperlich intakt sein kann, trotzdem es die Außenwelt wahrnehmen kann. Das Ich kann sich seelisch verlieren, wenn es nicht mehr die Kraft hat, wenn es nicht mehr mächtig genug ist, den Willen

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selber zu lenken und auszustreuen die eigene Wesenheit in den Willen hinein, wenn es sich in den Anderen verliert durch die Ergebung. Dieses insbesondere würde das Ex­trem sein dessen, was man nennt Abtötung des eigenen Willens. Wenn der Wille des eigenen Seibstes abgetötet wird, dann will der Mensch nicht mehr selber, dann hat er den Willen zum Verzicht auf eigenes Handeln gebracht; dann will das Andere oder der Andere, dem man ergeben ist, dann hat man sich selbst verloren. Und wenn dieser Zustand überhand nimmt, kann er im Gegensatz zur kör­perlichen Ohnmacht, ein bleibender Ohnmachtszustand der Seele werden. Nur das vom Ich durchglühte Ergebenheits­Gefühl, die Ergebenheit, in die man sich hinein versenkt und das Ich mitnimmt, nur die kann zum Heile sein für die menschliche Seele. Wodurch kann aber die Ergebenheit das Ich überall mit hineinnehmen? - Das Ich, das Selbst des Menschen kann sich nirgends hinführen lassen als ein menschliches Selbst, wenn es nicht das Wissen, das den­kende Wissen von sich bewahrt. In der Bewußtseinsseele ist zunächst wie eine natürliche Gabe das Denken ausgebildet. Das Denken ist es, was einzig und allein das Ich vor einem Sichverlieren behüten kann, wenn es durch Ergebenheit hinausgeht in die Welt. Kann der Wille der Führer sein für die menschliche Seele, um aus sich herauszugehen, so muß diese menschliche Seele, wenn sie zu irgend etwas außer­halb geführt worden ist durch den Willen, Anspruch ma­chen darauf, daß sie da, wo sie die Grenze dieses Äußeren verläßt, von dem Lichte des Denkens erhellt wird. Das Denken kann nicht von innen herausführen; das Heraus­führen geschieht durch die Ergebenheit; dann muß sogleich das Denken in Anwendung kommen und muß, sobald der

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Wille hinausgeführt hat, sich anstrengen, mit dem Lichte des Gedankens dasjenige zu durchdringen, dem die Seele ergeben ist. Es muß, mit anderen Worten, vorhanden sein der Wille zum Denken über dasjenige, dem man ergeben ist. Überhaupt in dem Augenblick, wo der Ergebenheits­wille den Willen zum Denken verliert, ist er der Gefahr ausgesetzt, sich selbst zu verlieren; ein Wille, der von vorn­herein prinzipiell verzichten würde, über sein Objekt der Ergebung zu denken, könnte zu einem Extrem führen, zur bleibenden Ohnmacht der menschlichen Seele.

Kann auch die Liebe, das andere Element der mensch­lichen Andacht, einem solchen Schicksal verfallen? In die Liebe muß sich etwas ergießen, was vom menschlichen Selbste einem Unbekannten gegenüber ausstrahlt: damit in keinem Augenblicke die Aufrechterhaltung des Ichs fehlt. Das Ich muß hinein wollen in alles, was Gegenstand seiner Andacht werden soll; und es muß sich aufrechterhalten wollen gegenüber all dem, was in Liebe umfaßt werden soll, gegenüber dem Unbekannten, dem Übersinnlichen, gegenüber dem Außenstehenden. Was wird im besonderen Liebe dann, wenn das Ich sich nicht aufrecht erhält bis zu der Grenze, wo wir das Unbekannte antreffen, wenn es das Unbekannte nicht von dem Lichte des Gedankens und von dem Lichte des vernünftigen Urteils durchstrahlen las­sen will? Eine solche Liebe wird zu dem, was man Schwär­merei nennt. Da aber das Ich in der Verstandesseele lebt, so kann dieses Ich des Menschen von der Verstandes- und Gemütsseele ausgehend seinen Weg beginnen zum äußeren Unbekannten; da aber kann es nicht mehr sich selbst ganz auslöschen. Der Wille kann sich abtöten; wenn aber das Ich, wenn die Seele durch das Gefühl das Äußere umfassen

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will, so kann es sich nicht abtöten: das Ich bleibt immer im Gefühl vorhanden; aber weil es vom Denken und Wollen nicht gestützt wird, stürmt es ohne Halt hinaus. Und die­ses Hinausstürmen des Ichs, seiner selbst unbewußt, das führt dazu, daß eine solche Liebe zum Unbekannten, die nicht den Willen hat zum kräftigen Denken, es dazu bringt, daß die Seele immer mehr der Schwärmerei verfallen kann. In dieser ist etwas, was man bezeichnen kann - wie man in ähnlicher Weise die Ergebenheit, wenn sie sich verliert, bezeichnen kann mit seelischer Ohnmacht - mit seelischem Schlafwandel: gerade so wie man von einem körperlichen Schlafwandeln sprechen kann. Ein Schwärmer ist derjenige, der sein kräftiges Ich in das Unbekannte nicht mitnimmt, der nur mit den untergeordneten Kräften des Ichs in das Äußere eindringen will; und ein solcher wird, da er seine ganze Kraft des Ichs nicht aus dem Bewußtsein heraus-strömen läßt, das Unbekannte zu erfassen suchen, wie man das Unbekannte in der Traumwelt erfaßt. Wenn die Schwärmerei immer mehr die Seele ergreift, wird sie zu dem, was man einen fortdauernden Traumzustand oder Schlafwandel der Seele nennen kann. Wo die Seele außer­stande kommt, sich in ein richtiges Verhältnis zur Welt und zu anderen Menschen zu setzen, wo sie hinaus stürmt in das Leben, weil sie es scheut, vom Lichte des Denkens Gebrauch zu machen, und es versäumt, sich in ein richtiges Verhältnis zu den Dingen und Wesenheiten, die um sie herum sind, zu setzen: eine solche Seele, ein solches Ich, das zum seelischen Schlafwandel übergeht, muß in die Irre gehen, muß wie ein Irrlicht durch die Welt gehen.

Das hat seinen Grund darinnen, daß ein solches Schwär­men, welches in seiner Liebe zum Unbekannten nicht vom

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Ich durchglüht ist, sich scheut, volle Denkklarheit, volles helles Licht über das eigene Ich zu gewinnen, und daß es Abstand davon nimmt, das eigene Ich überall mitzuneh­men im starken Denken, im starken Selbstbewußtsein. Je schwächer das Selbstbewußtsein ist, desto leichter ist Schwärmerei möglich; nur dadurch, daß die Seele verfällt in Denkträgheit, daß die Seele nicht den Willen hat, da wo sie Unbekanntes trifft, sich von dem Lichte des Den­kens durchleuchten zu lassen, nur dadurch ist es möglich, daß eine solche Seele solche Eigenschaften erhält, die man Aberglauben in allen Formen nennen kann. Die schwär­merische Seele, die in einem Liebesgefühlstraum dahin-wandelt, wie im Schlafe durch das Leben geht, die denk-träge Seele, die nicht volles Selbstbewußtsein hinaustragen will in die Welt, die ist geeignet dazu, in blinder Weise alles zu glauben, weil sie notwendig einen Hang dazu haben muß, nicht durch eigene innere Anstrengung, die das Denken erfordert, nicht durch die Selbsttätigkeit des Den­kens in die Dinge einzudringen, sondern sich Wahrheit und Wissen über die Dinge diktieren zu lassen. Dazu braucht man nicht selbsttätig aus dem Innern heraus schöpferisch zu denken. Damit wir ein Äußeres, das uns durch die Sinne dargeboten wird, erkennen, dazu brauchen wir ein selbst-schöpferisches Denken; damit wir das Übersinnliche erken­nen, und in welcher Form immer das Übersinnliche unsere Erkenntnis sein soll, darf niemals das Übersinnliche von uns in irgend einer Weise mit Ausschluß des Denkens ge­wußt sein wollen. In dem Augenblicke, wo wir es durch bloße Beobachtung erfassen wollen, sind wir in bezug auf das Übersinnliche allen möglichen Täuschungen und Irr­tümern ausgesetzt. Und alle Irrtümer und aller Aberglaube

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und alles dasjenige, wodurch man in irgend einer Weise un­richtig oder lügenhaft in das Übersinnliche hineingeführt werden kann, alles das kann letzten Endes nur darauf be­ruhen, daß der Mensch in bezug auf sein Selbstbewußtsein sich nicht durchleuchten läßt von dem selbstschöpferischen Denken. Niemand kann es passieren, daß er in der Auf­nahme von irgend etwas, was Kunde bringen soll aus der geistigen Welt, betrogen wird, wenn er den Willen zum selbsttätigen Denken hat. Das ist aber auch das wirklich einzige Mittel; ein anderes ausreichendes Mittel gibt es gar nicht. Das kann und wird jeder Geistesforscher sagen, und je mehr der Wille zu einem selbstschöpferischen Den­ken vorhanden ist, desto mehr ist die Möglichkeit vorhan­den, die übersinnliche Welt in ihrer Wahrheit, Klarheit und Untrüglichkeit zu erkennen. So sehen wir zu gleicher Zeit, daß wir etwas brauchen zur Selbsterziehung des Ichs, das da immer mehr und mehr in die Bewußtseinsseele hin-aufführt; welches Leiter der Seele ist bei Erziehung der Bewußtseinsseele, allem unbekannten Physischen und un­bekannten Übersinnlichen gegenüber: Andacht, zusammen­gesetzt aus Liebe und Ergebenheit. Wenn Liebe und Er­gebenheit durchströmt und durchglüht sind von dem rich­tigen Selbstgefühl, so werden sie zu Stufen, die uns immer höher und höher leiten und immer höher aufwärts führen. Die richtige Andacht, in welcher Form sie auch immer die Seele durchsetzt und durchglüht - sei es in der Gebets­oder in anderer Form - kann nie in die Irre gehen; das­jenige lernt man am besten kennen, zu dem man zuerst in Andacht, das heißt in Liebe und Hingebung erglüht war. - Und eine gesunde Erziehung wird insbesondere berücksichtigen müssen, welche Kraft in bezug auf die

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Entwickelung der Seele ihr der Impuls der Andacht geben kann. Dem Kind ist ein großer Teil der Welt unbekannt; will man es in der besten Weise zum Erkennen und Be­urteilen des ihm Unbekannten anleiten, so erweckt man die Andacht zu diesem Unbekannten; und nie wird man sich täuschen darin, daß eine richtig geleitete Andacht wirklich zu dem in der Welt führt, was wahre Lebenserfahrung auf allen Gebieten genannt werden kann.

Oh, es ist etwas Bedeutsames für diese menschliche Seele auch im späteren Leben, wenn sie zurückschauen kann in die Kindheit und viel, viel Verehrung bis zur Andacht ge­bracht hat. Jene Seele, die in der Zeit ihrer Kindheit in der Lage war, oft und oft zu verehrten Persönlichkeiten auf­zublicken, in inniger Andacht aufzublicken zu Dingen, die mit dem noch geringen Verstande zu überschauen für sie unmöglich war, bringt einen guten Impuls für die weitere, höhere Entwickelung des Lebens. Man denkt immer mit Dankbarkeit an den Gang der Ereignisse zurück, wenn man sich zum Beispiel erinnert, daß man in seiner Kindheit in der Lage war, innerhalb der Familie von einer hervor­ragenden Persönlichkeit zu hören, von der alle mit Hin­gebung und Verehrung sprachen. Eine heilige Scheu senkt sich in die Seele, die die Andacht insbesondere zu etwas so Intimem machen kann. Mit Gefühlen, die nur in der Andacht berührt werden, erzählt man, wie man mit beben­der Hand die Klinke berührte und mit scheuer Ehrfurcht in das Zimmer der verehrten Persönlichkeit trat, die man zum ersten Male sehen konnte, nachdem so viel in Ehr­furcht und Verehrung von ihr gesprochen wurde. Gegen­über getreten zu sein, nur ein paar Worte gesprochen und gehört zu haben, nachdem Andacht vorausging, das ist

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einer der besten Impulse dazu. Diese Andacht kann ins­besondere leiten, wenn wir die höchsten Fragen, die Rätsel des Daseins suchen wollen. Sie kann uns ein Führer sein, wenn wir diese wichtigsten Aufgaben der Seele zu lösen versuchen, suchen wollen nach dem, zu dem wir hinauf-streben und mit dem wir uns vereinigen wollen. Hier ist gerade die Andacht eine Kraft, die uns hinaufzieht und dadurch, daß sie uns heranzieht, kräftigend und festigend auf den seelischen Organismus des Menschen wirkt. Wie ist das möglich? Versuche man einmal, sich aus dem äuße­ren Ausdruck der Andacht klarzumachen, wie gerade in der äußeren Geste des Menschen die Andacht wirkt. Sie wirkt gerade da, wo die bedeutendste Fähigkeit des Men­schen sich entwickelt, als äußerer Ausdruck. Was tut der andächtige Mensch im äußeren Ausdruck? Er beugt das Knie, faltet die Hände und bewegt das Haupt zu dem in Andacht verehrten Wesen oder Gegenstand.

Das sind diejenigen Organe des Menschen, durch die sich das Ich, und vor allen Dingen dasjenige, was wir die höhe­ren Seelenglieder des Menschen nennen, am intensivsten ausleben kann. Der Mensch steht physisch aufrecht im Le­ben durch seine stramm gehaltenen Beine. Der Mensch wird ein Segnender im Leben, das heißt er strahlt die Wesenheit seines eigenen Ichs durch seine Hände aus; und er wird ein solcher, der Himmel und Erde beobachtet durch das­jenige, was in seinem Haupte ist durch Bewegung seines Hauptes. Die Beobachtung der Menschen aber lehrt uns ferner, daß in selbstbewußter Tatkraft unsere Beine am besten gestreckt werden, wenn sie sich zuerst dazu ver­standen haben, gegenüber dem wirklich zu Verehrenden die Knie zu beugen. Denn in dem Knie-Beugen liegt die

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Aufnahme einer Kraft, die wie in unsern Organismus hin­einstrebt. Diejenigen Knie, die sich strecken, ohne jemals gelernt zu haben, sich in Andacht in die Kniebeuge zu be­geben, die spreizen nur dasjenige, was sie immer gehabt, die spreizen die eigene Nichtigkeit, zu der sie nichts hinzu­gefügt haben. Die Beine aber, die sich bequemt haben zum Kniebeugen, nehmen mit dem Strecken der Knie eine neue Kraft auf, und jetzt spreizt sich nicht die Nichtigkeit, son­dern das, was neu aufgenommen wurde. Diejenigen Hände, die segnen wollen, die trösten wollen, ohne daß sie vorher in Ehrfurcht und Andacht sich gefaltet haben, die können nicht viel hingeben von Liebe und Segen als ihre eigene Nichtigkeit. Die Hand aber, welche gelernt hat sich zu falten, die hat mit dem Falten zur Andacht eine Kraft aufgenommen, die jetzt die Hand durchströmen kann; und sie ist eine mächtig vom Selbste durchzogene Hand ge­worden. Denn der Weg jener Kraft, die durch gefaltete Hände aufgenommen wird, der Weg geht, bevor er sich in die Hände ergießt, durch das menschliche Herz und ent­zündet die Liebe; und die Andacht der gefalteten Hände wird, indem sie geht durch das Herz und in die Hände fließt, zum Segen. Der Kopf, der die ganze Welt beschaut, der überall seine Augen hinrichtet und seine Ohren hinein-spreizt, mag noch so viel durchmessen mit Augen und Ohren, er kann überall den Dingen nur seine eigene Leerheit gegenüberstellen. Jener Kopf aber, der sich in Andacht zu den Dingen hingeneigt hat, der wird wiederum aus der An­dacht eine Kraft schöpfen, die ihn durchströmt; der wird nicht seine eigene Leerheit, sondern die Gefühle, die er durch die Andacht aufgenommen hat, den Dingen entgegenbringen. Wer mit einem gesunden Sinn den äußeren Ausdruck,

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die Geste des Menschen studiert und weiß, was so im Men­schen vorgeht, was da in lebendigem Zusammenhang ist, wird sehen, wird aus der äußeren Physiognomie der An­dacht entnehmen können, wie diese Andacht unser Ich er­greift und die Selbstkraft erhöht, und wie diese erhöhte Selbstkraft die Möglichkeit hat, hineinzudringen in die un­bekannten Dinge. Wollen wir in die unbekannten Dinge hineindringen, so müssen wir ihnen unsere Fähigkeiten entgegenbringen; und das tun wir, wenn wir uns ihnen mit Liebe und Ergebenheit nähern. So sehen wir, daß das Ich nicht schwächer wird durch die Andacht, sondern daß es stärker und kräftiger wird. Durch diese Selbsterziehung, durch die Andacht werden hinaufgehoben des Menschen dunkle Gefühle und Triebe, hinaufgehoben des Menschen Gefühle von Sympathie und Antipathie zu den Dingen. Jene Gefühle von Sympathie und Antipathie, die unbe­wußt oder unterbewußt in unsere Seele hereintreten, ohne daß wir ein Urteil darüber haben, ohne daß sie vom Licht durchleuchtet sind, gerade diese Gefühle werden her­aufgeläutert dadurch, daß sich das Ich in der Andacht er­zieht und immer mehr und mehr in die höheren Seelen­glieder heraufdringt. Dadurch wird alles dasjenige, was Sympathie und Antipathie ist, was wie dunkle Gewalt wirkt, welche irren kann, von dem Lichte der Seele durch­setzt. Was früher unerleuchtete Sympathie und Antipathie war, wird Urteil, Gefüihlsurteil, das wird entweder ästhe­tischer Geschmack oder richtig geleitetes moralisches Ge­fühl. Die Seele, die sich in Andacht erzogen hat, wird ihre dunkle Sympathie und Antipathie, ihre dunklen Lust- und Unlust-Gefühle läutern zu dem, was man nennen kann:

Gefühl für das Schöne und Gefühl für das Gute. Die Seele,

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die ihren Willen in der richtigen Weise zur Ergebenheit in der Andacht geläutert hat, die wird, wenn sie sich Selbst­gefühl und Selbstbewußtsein dabei gerettet hat, jene dunk­len Triebe und Instinkte, welche sonst die menschlichen Begierden und Willensimpulse durchsetzen, läutern und allmählich aus ihnen diejenigen inneren Impulse heraus-bilden, die wir moralische Ideale nennen. Andacht ist die Seibsterziehung der Seele von den dunklen Trieben und Instinkten, von den Begierden und Leidenschaften des Le­bens zu den moralischen Idealen des Lebens. Andacht ist etwas, was wir wie einen Keim in die Seele hineinsäen:

und er geht auf.

Wer das Leben unbefangen betrachtet, kann das noch an einem anderen Beispiel sehen. Wir sehen überall, daß der Mensch im Laufe seines Lebens eine aufsteigende und eine absteigende Entwickelung durchwandert. Im Kind­heits- und Jugendalter liegt eine aufsteigende Entwicke­lung, dann bleibt die Entwickelung eine Weile stillstehen; dann beginnt im späteren Alter, im Greisenalter eine ab­steigende Entwickelung. Man kann in einer gewissen Weise sagen, daß die absteigende Entwickelung am Ende des Le­bens in einer entgegengesetzten Richtung das hat, was Kindheit und Jugend entwickelt haben; aber in einer eigen­tümlichen Weise zeigen sich die Eigenschaften, die im Kind­heits- und Jugendalter aufgenommen werden, im späteren Leben wieder. Wer das Leben wirklich beobachtet, der kann sehen, daß bei Kindern, die viel aufgenommen haben von gut geleiteter Andacht, diese Saat im Alter aufgeht. Eine solche Andacht erscheint im Alter als Kraft, im Leben zu wirken. Kraft ist dasjenige, was als das Gegenteil der Andacht, die in der Jugend gepflegt worden ist, im Alter

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erscheint. Eine andachtslose Jugend, eine Jugend, in der nicht entwickelt worden ist richtig geleitete Ergebenheit des Willens und richtig geleitete Gefühle der Liebe, wird sich hinentwickeln zu einem Alter, das schwach und kraft­los ist. Andacht schreiben wir der menschlichen Seele zu, die sich entwickeln soll. Dann aber muß es zum Wesen dieser Andacht gehören, daß eine in der Entwickelung begriffene Seele von dieser Andacht ergriffen werden kann und er­griffen werden soll.

Wie steht es mit der entsprechenden Eigenschaft bei dem, wozu wir hinaufschauen in Andacht? Schauen wir mit Liebe zu einem anderen Wesen, dann können wir in der Liebe des anderen Wesens zu uns selber dasjenige wieder erblicken, was vielleicht entwickelt wird. Können wir auch einmal in solchem umgekehrten Sinne von der Andacht sprechen? Daß das im allgemeinen nicht richtig wäre, wird sich uns daraus ergeben, daß wir uns sagen müssen: wenn der Mensch dem Gotte in Liebe ergeben ist, so kann er wissen, daß der Gott auch in Liebe zu ihm sich hinneigt. Andacht entwickelt der Mensch zu dem, was er immer sei­nen Gott im Weltall nennt. Das Gegenteil zur Andacht konnen wir nicht wiederum eine Andacht nennen. Von einer göttlichen Andacht gegenüber dem Menschen können wir nicht sprechen. Was ist in dieser Beziehung gerade das Gegenteil von der Andacht? Was strahlt der Andacht ent­gegen, wenn sie aufblickt zu ihrem Göttlichen? Dasjenige, was sie selber nicht mit ihrem Willen und nicht mit ihper Macht umfassen kann, das strahlt ihr entgegen: das Mäch­tige, und, wenn es sich um ein Göttliches handelt, das All­mächtige. Was wir in der Jugend erarbeitet haben in der Andacht, das leuchtet uns im Alter als Lebensmacht entgegen,

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und das, was wir ein Göttliches nennen, dem wir uns in Andacht hingewandt haben, es strahlt uns zurück als Erlebnis der Allmacht. Das ist die Empfindung der All­macht, gleichgültig, ob wir zu dem Sternenhimmel in seiner unendlichen Herrlichkeit hinaufblicken, und die Andacht erglüht zu dem, was uns da von allen Seiten umringt, und was wir nicht umfassen können; oder ob wir aufblicken zu dem, was uns in dieser oder jener Form unser unsicht­barer Gott ist, der dieses Weltall durchlebt und durch­schwebt. Wir blicken von unserer Andacht aus zur All­macht auf; und es entsteht aus dieser Empfindung das, was uns wissen läßt, daß wir nicht anders hineindringen kön­nen, nicht anders zu einer Vereinigung kommen können mit dem, was über uns steht, als dadurch, daß wir zuerst von unten hinauf ihm in Andacht entgegengehen. Der All­macht nahen wir uns, indem wir uns in Andacht versenken. Daher kann man, wenn man richtig spricht, sprechen von einer solchen Allmacht, während man in einem feinen Wortgefühl eigentlich nicht von einer Alliebe sprechen kann. Die Macht kann sich vergrößern und erhöhen. Hat jemand Macht über zwei oder drei Wesen, so ist er doppelt oder dreimal so mächtig. Die Macht wächst in demselben Maße wie die Zahl der Wesen, über die sie sich erstreckt. Anders ist es bei der Liebe*. Wenn ein Kind geliebt wird von einer Mutter, so schließt das nicht aus, daß die Mutter mit demselben Grad von Liebe das zweite der Kinder liebt und ebenso das dritte und vierte. Es braucht die Liebe sich durchaus nicht zu verdoppeln und verdreifachen. Und es ist eine falsche Redewendung, wenn jemand sagt: ich muß

- - -

* Hier fehlt ein Satz in der Nachschrift.

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meine Liebe teilen, weil sie sich auf zwei Wesen erstrecken soll. - Man spricht für ein feines Sprachgefühl ebenso un­richtig, wenn man von Aliwissenheit wie wenn man von einer unbestimmten Alliebe spricht. Liebe hat keinen Grad und läßt sich nicht mit Zahlen umgrenzen.

Liebe ist ein Teil der Andacht, und Ergebenheit ist der andere Teil der Andacht. Mit der Ergebenheit hat es eine ähnliche Bewandtnis wie mit der Liebe. Wir können dem einen Unbekannten ergeben sein und dem andern Unbe­kannten, wenn wir dieses Gefühl der Ergebenheit über­haupt haben. Ergebenheit kann sich ihrem Grade nach ver­stärken, sie braucht sich aber nicht dadurch, daß sie einer Anzahl von Wesen gegenübertritt, zu teilen oder zu ver­vielfältigen. Weil diese beiden, Liebe und Ergebenheit, sich nicht zu teilen brauchen, so machen sie es nicht notwendig, daß das Ich, welches eine Einheit bilden soll, sich zu ver­lieren und zu zersplittern braucht, wenn es in Liebe sich ergibt einem Unbekannten, und in Ergebenheit sich hin-wendet zu einem Unbekannten. So sind Liebe und Ergeben­heit die richtigen Führer hinauf zum Unbekannten, und die Erzieher der Seele aus der Verstandesseele zur Bewußt­seinsseele. Erzieht die Überwindung des Zornes die Emp­findungsseele, der Wahrheitssinn, das Wahrheitsstreben unsere Verstandesseele, so erzieht die Andacht unsere Be­wußtseinsseele. Immer mehr und mehr Wissen, immer rei­chere und reichere Erkenntnis erlangt der Mensch durch die Erziehung der Bewußtseinsseele in der Andacht. Diese An­dacht muß aber von dem Gesichtspunkte eines das Licht des Denkens nicht scheuenden Selbstbewußtseins geleitet und geführt sein. Lassen wir Liebe ausströmen, dann macht es die Liebe durch ihren eigenen Wert, daß wir unser Selbst

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mitbringen dürfen; sind wir in Ergebenheit geneigt, dann macht es die Ergebenheit ebenfalls durch ihren eigenen Wert, daß wir unser Selbst mitbringen dürfen. Wir kön­nen uns zwar, aber wir brauchen uns nicht zu verlieren. Darauf kommt es an; und das darf insbesondere dann nicht vergessen werden, wenn der Andachts-Impuls auf die Erziehung angewandt wird. Es darf keine blinde, unbe­wußt wirkende Andacht herangezogen werden. Es muß mit der Pflege der Andacht die Pflege eines gesunden Selbst­gefühls einhergehen.

Nennt die Mystik aller Zeiten, und nennt Goethe jenes Unbestimmte und Unbekannte, zu dem die Seele hinge­zogen wird, das Ewig-Weibliche, dann dürfen wir das­jenige, was die Andacht immerzu durchziehen muß, ohne mißverstanden zu werden, das Ewig-Männliche nennen; denn wie das Ewig-Weibliche im Sinne der Mystik und Goethes in Mann und Frau ist, so ist dieses Ewig-Männ­liche, dieses gesunde Selbstgefühl in aller Andacht in Mann und Frau. Und wenn uns der Chorus mysticus von Goethe im Sinne der Mystik vorgehalten wird, so dürfen wir da­durch, daß wir kennengelernt haben die Mission der An­dacht, die uns dem Unbekannten entgegenführt, hinzu­fügen dasjenige, was die Andacht durchziehen muß: das Ewig-Männliche.

So können wir jetzt dieses Erlebnis der menschlichen Seele, in der sich alle Andacht zusammenströmend verhält, in der alle Andacht sich ausprägt und gipfelt, die Vereini­gung mit dem Unbekannten, zu dem wir hinstreben: diese Unio mystica, diese mystische Vereinigung, die können wir jetzt mit dem, was wir über die Mission der Andacht ge­hört haben, richtig auffassen.

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Jede Unio mystica führt zum Unheil der Seele, wenn das Ich sich verliert, indem es sich vereinigen will mit irgend einem Unbekannten. Das Ich bringt einem solchen Unbekannten auch nichts Wertvolles entgegen, wenn es sich selber verloren hat. Opfern sich dem Unbekannten, um das eigene Selbst in der Unio mystica dem Unbekannten hinzutragen, dazu ist notwendig, daß man etwas hat zu opfern, daß man etwas geworden ist. Wenn man ein schwa­ches Ich, ein nicht in sich selbst starkes Ich vereinigt mit dem, was über uns ist, so hat unsere Vereinigung keinen Wert. Die Unio mystica hat nur dann einen Wert, wenn das starke Ich hinaufsteigt zu den Regionen, von denen uns der Chorus mysticus spricht. Spricht uns Goethe von den Regionen, zu denen die höhere Andacht führen kann, um da die höchsten Erkenntnisse zu gewinnen, sagt uns sein Chorus mysticus mit den schönen Worten:

« Alles Vergängliche

Ist nur ein Gleichnis;

Das Unzulängliche

Hier wird's Erreichnis;

Das Unbeschreibliche

Hier ist's getan;

Das Ewig-Weibliche

Zieht uns hinan »

dann kann die richtig verstandene Unio mystica antworten darauf: Ja

« Alles Vergängliche

Ist nur ein Gleichnis;

Das Unzulängliche

Hier wird's Erreichnis;

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Das Unbeschreibliche

Hier ist's getan;

Das Ewig-Männliche

Zieht uns hinan.

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DER MENSCHLICHE CHARAKTER

Es kann einen tiefen Eindruck auf die menschliche Seele machen, wenn man die Worte liest, die Goethe nieder­geschrieben hat in Anknüpfung an die Betrachtung von Schillers Schädel. Diese Betrachtung konnte er anstellen, als er zugegen war beim Ausgraben von Schillers Leichnam, da dieser aus dem provisorischen Grab, in dem er war, in die weimarische Fürstengruft hinübergetragen werden sollte.

Da nahm Goethe Schillers Schädel in die Hand und glaubte an der Formung und Prägung dieses wunderbaren Gebildes das ganze Wesen von Schillers Geist wie in einem Abdruck wiederzuerkennen. Wie da das geistige Wesen sich ausdrückt in den Linien und Formen der Materie, das inspirierte Goethe zu den schönsten Worten:

«Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen,

Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare,

Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen,

Wie sie das Geist-Erzeugte fest bewahre! »

Wer eine solche Stimmung wie diejenige, die damals durch Goethes Seele zog, zu würdigen versteht, der wird leicht, von ihr ausgehend, seine Gedanken hinlenken kön­nen zu all jenen Erscheinungen im Leben, wo ein Inneres sich herausarbeitet, um sich in materieller Form, in plasti­scher Gestaltung, in Linien und sonstigem äußerlich zu offenbaren. Im eminentesten Sinn aber haben wir ein sol­ches Prägen und Abdrücken, ein solches Offenbaren eines inneren Wesens in demjenigen vor uns, was wir den menschlichen

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Charakter nennen. In dem menschlichen Charakter drückt sich ja auf die mannigfaltigste Weise aus, was der Mensch immer wieder und wiederum darlebt; ein Einheit­liches verstehen wir darunter, wenn wir von dem mensch­lichen Charakter sprechen. Ja, wir haben dabei das Gefühl, daß Charakter etwas ist, was - sozusagen - zum ganzen Wesen des Menschen notwendig gehört, und daß es sich uns als Fehler darstellt, wenn das, was der Mensch denkt, emp­findet und tut, sich nicht in einer gewissen Weise zu einem Einklang vereinigen läßt. Von einem Bruch im mensch­lichen Wesen, von einem Bruch in seinem Charakter spre­chen wir als von etwas wirklich Fehlerhaftem in seiner Natur. Wenn sich der Mensch im Privatleben mit diesem oder jenem Grundsatz und Ideal äußert, und ein andermal im öffentlichen Leben in ganz entgegengesetzter oder we­nigstens abweichender Weise, so sprechen wir davon, daß sein Wesen auseinanderfällt, daß sein Charakter einen Bruch hat. Und man ist sich bewußt, daß ein solcher Bruch den Menschen überhaupt im Leben in schwierige Lagen oder gar wohl in den Schiffbruch hineintreiben kann. Was eine solche Zerspaltung des menschlichen Wesens bedeutet, darauf wollte Goethe hinweisen in einem bemerkenswer­ten Spruch, den er seinem Faust einverleibt hat. Einen Spruch berühren wir da, der sehr häufig, sogar von Men­schen, die da glauben zu wissen, was Goethe im Innersten wollte, falsch angeführt wird. Es ist gemeint der Spruch im Goetheschen Faust:

« Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,

Die eine will sich von der andern trennen;

Die eine hält in derber Liebeslust

Sich an die Welt mit klammernden Organen;

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Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust

Zu den Gefilden hoher Ahnen. »

Diese Zweispaltung in der Seele wird sehr häufig so an­geführt, als ob sie etwas Erstrebenswertes für den Men­schen sei. Goethe charakterisiert sie durchaus nicht unbe­dingt als etwas Erstrebenswertes, sondern es zeigt sich an der Stelle ganz genau, daß er den Faust in jener Epoche sagen lassen will, wie unglückselig er sich fühlt unter dem Eindruck der zwei Triebe, von denen der eine nach idealen Höhen geht, der andere nach dem Irdischen herunterstrebt. Etwas Unbefriedigendes soll damit angedeutet werden. Gerade dasjenige, worüber Faust hinaus soll, das will Goethe damit charakterisieren. Wir dürfen diesen Zwie­spalt nicht anführen als etwas Berechtigtes im menschlichen Charakter, sondern nur als etwas, was gerade durch den einheitlichen Charakter, der gewonnen werden soll, zu überwinden ist.

Wenn wir aber das Wesen des menschlichen Charakters vor unsere Seele treten lassen wollen, so müssen wir auch heute wieder berücksichtigen, was wir zur Charakte­ristik des Wesens der Andacht skizzierten. Wir haben wie­derum zu berücksichtigen, daß dasjenige, was wir das eigentliche menschliche Seelenleben, das menschliche Innere nennen, nicht einfach ein Chaos von durcheinanderwogen­den Empfindungen, Trieben, Vorstellungen, Leidenschaf­ten, Idealen ist; sondern wir haben uns mit aller Klarheit zu sagen, daß diese menschliche Seele in drei voneinander gesonderte Glieder zerfällt; daß wir ganz genau unter­scheiden können: das unterste Seelenglied, die Empfin­dungsseele; das mittlere Seelenglied, die Verstandes- oder Gemütsseele; und das höchste Seelenglied, die Bewußtseinsseele.

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Diese drei Glieder sind im menschlichen Seelenleben zu unterscheiden. Sie dürfen aber in dieser menschlichen Seele nicht auseinanderfallen. Die menschliche Seele muß eine Einheit sein. Was verbindet nun im Menschen diese drei Seelenglieder zu einer Einheit? Das ist eben dasjenige, was wir im eigentlichen Sinne das menschliche « Ich», den Träger des menschlichen Selbstbewußtseins nennen.

So erscheint uns denn dieses menschliche Seelenwesen so, daß wir es zerspalten müssen in seine drei Glieder - das unterste Seelenglied: die Empfindungsseele, das mittlere Seelenglied: die Verstandesseele oder Gemütsseele, und das höchste Seelenglied: die Bewußtseinsseele-, und es erscheint uns das Ich gleichsam als das Tätige, als der Akteur, der innerhalb unseres Seelenwesens auf den drei Seelengliedern spielt, wie ein Mensch spielt auf den Saiten seines Instru­ments. Und jene Harmonie oder Disharmonie, welche das Ich hervorbringt aus dem Zusammenspiel der drei Seelen-glieder, ist das, was dem menschlichen Charakter zugrunde liegt.

Das Ich ist wirklich etwas wie ein innerer Musiker, der bald die Empfindungsseele, bald die Verstandesseele oder Gemütsseele, bald die Bewußtseinsseele mit einem kräfti gen Schlag in Tätigkeit versetzt; aber zusammenklingend erweisen sich die Wirkungen dieser drei Seelenglieder wie eine Harmonie oder Disharmonie, die sich vom Menschen aus offenbaren und als die eigentliche Grundlage seines Charakters erscheinen. Freilich, so haben wir den Charak­ter nur ganz abstrakt bezeichnet, denn wenn wir ihn ver­stehen wollen, wie er im Menschen eigentlich auftritt, dann müssen wir etwas tiefer noch eingehen auf das ganze menschliche Leben und Wesen; wir müssen zeigen, wie sich

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dieses harmonische und disharmonische Spiel des Ichs auf den Seelengliedern, in der ganzen menschlichen Persönlich­keit, wie sie vor uns steht, ausprägt, wie sie nach außen sich offenbart.

Dieses Menschenleben - das haben wir schon öfter be­tont - tritt uns ja so vor Augen, daß es alltäglich weechselt zwischen den Zuständen des Wachens und den Zuständen des Schlafes. Wenn der Mensch des Abends einschläft, so sinken in ein unbestimmtes Dunkel hinunter seine Emp­findungen, seine Lust, sein Leid, seine Freude, sein Schmerz, alle Triebe, Begierden und Leidenschaften, alle Vorstellun­gen und Wahrnehmungen, Ideen und Ideale; und das eigentliche Innere geht über in einen Zustand des Un-bewußtseins oder des Unterbewußtseins.

Was ist da geschehen?

Nun, was da geschehen ist beim Einschlafen, das wird uns klar, wenn wir uns an etwas erinnern, was schon aus­einandergesetzt worden ist: daß der Mensch ein kompli­ziertes Wesen ist für die Geisteswissenschaft, daß er sich überhaupt aus verschiedenen Gliedern bestehend darstellt. Was uns hierüber schon bekannt ist, muß heute wieder skizziert werden, damit wir das ganze Wesen des Charak­ters begreifen können, das da dem Menschen zugrunde liegt.

Alles das am Menschen, was uns gegenüber der äußeren Sinneswelt zutage tritt, was wir mit Augen sehen können, mit Händen greifen können, was die äußere Wissenschaft allein betrachten kann, das nennt Geisteswissenschaft den physischen Leib des Menschen. Das aber, was diesen phy­sischen Leib des Menschen durchzieht und durchwebt, das, was diesen physischen Leib zwischen Geburt und Tod ver­hindert ein Leichnam zu sein, seinen eigenen physischen

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und chemischen Kräften zu folgen, das nennen wir in der Geisteswissenschaft den Äther- oder Lebensleib. Im Grunde setzt sich der äußere Mensch aus dem physischen und Äther-leibe zusammen. Dann haben wir ein drittes Glied der menschlichen Wesenheit; das ist der Träger von alledem, was wir hinuntersinken sehen mit dem Einschlafen in ein unbestimmtes Dunkel. Dieses dritte Glied der menschlichen Wesenheit bezeichnen wir mit dem Ausdruck astralischer Leib. Dieser astralische Leib ist der Träger von Lust und Leid, Freude und Schmerz, von Trieben, Begierden und Leidenschaften, von alledem, was eben im Wachleben auf-und abwogt in der Seele. Und in diesem Astralleibe ist der eigentliche Mittelpunkt unseres Wesens: das Ich. Für un­seren gewöhnlichen Menschen gliedert sich aber dieser Astralleib weiter, denn in ihm finden wir als Unterglieder gleichsam dasjenige, was Ihnen aufgezählt worden ist als die Seelenglieder: die Empfindungsseele, die Verstandes-seele, die Bewußtseinsseele.

Wenn nun der Mensch des Abends einschläft, so bleiben im Bette liegen physischer Leib und Ätherleib; heraus tritt der Astralleib mit all dem, was wir Empfindungsseele, Ver­standes- oder Gemütsseele, Bewußtseinsseele nennen; her­aus tritt auch das Ich. Astralleib und Ich nun, in ihrer gan­zen Wesenheit, sind während des Schlafzustandes in einer geistigen Welt. Warum kehrt der Mensch jede Nacht in diese geistige Welt ein? Warum muß er seinen physischen Leib und seinen Ätherleib jede Nacht zurücklassen? Das hat seinen guten Sinn für das menschliche Leben. Wir kön­nen diesen Sinn so recht vor unsere Seele stellen, wenn wir jetzt einmal die folgende Betrachtung anstellen: Die Gei­steswissenschaft sagt uns, der Astralleib ist der Träger von

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Lust und Leid, von Freude und Schmerz, von Trieben, Begierden und Leidenschaften! Schön! Aber das sind ja gerade diejenigen Erlebnisse, die in ein unbestimmtes Dun­kel hinuntersinken beim Einschlafen. Dennoch behauptet man, daß der Astralleib mit dem Ich in geistigen Welten ist - der eigentliche innere Mensch ist in einer geistigen Welt, ist mit dem Astralleib in einer geistigen Welt. - Aber Triebe und Leidenschaften, alles dasjenige, was eigentlich im Astralleib sitzt, das gerade schwindet doch sozusagen in ein unbestimmtes Dunkel während der Nacht hinab. Ist das nicht ein Widerspruch?

Nun, der Widerspruch ist bloß scheinbar. In der Tat ist der Astralleib der Träger von Lust und Leid, von Freude und Schmerz, von allen auf- und abwogenden inneren See­lenerlebnissen des Tages; aber er kann sie nicht durch sich selber, so wie der Mensch heute ist, wahrnehmen.

Damit dieser Astralleib und das Ich wahrnehmen kön­nen ihre eigenen Erlebnisse, sind sie darauf angewiesen, daß sich diese inneren Erlebnisse äußerlich spiegeln; und spiegeln können sie sich nur, wenn des Morgens beim Auf­wachen das Ich mit dem Astralleib untertaucht in den Äther- und physischen Leib. Da wirkt für alles das, was der Mensch innerlich erlebt, für alle Lust und alles Leid, für Freude und Schmerz und so weiter der physische, aber namentlich der Ätherleib wie ein Spiegel, der zurückwirft, was wir im Innern erleben. Wie wir uns selber in einem Spiegel sehen, so sehen wir dasjenige, was wir im Astralleib erleben, aus dem Spiegel unseres physischen und unseres Ätherleibes; aber wir dürfen nicht glauben, daß dieses See­lenleben, das vom Morgen bis zum Abend sich vor unserer Seele abspielt, zu seinem Zustandekommen keine Arbeit

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erfordert. Des Menschen Inneres, das Ich und der Astral­leib, alles dasjenige, was Bewußtseinsseele, Verstandesseele, Empfndungsseele ist, das muß arbeiten mit seinen Kräften an dem physischen Leib und an dem Ätherleib, muß sozu­sagen durch seine Wechselwirkung auf diese beiden Leiber des Menschen das auf- und abwogende Leben des Tages erst erzeugen.

Während dieses Erlebens des Tages werden nun gewisse Kräfte verbraucht. In dieser Wechselwirkung des mensch­lichen Innern mit dem Äußern des Menschen werden fort­während Seelenkräfte verbraucht. Das drückt sich dadurch aus, daß der Mensch am Abend sich ermüdet fühlt, das heißt nicht imstande ist, aus dem Innern heraus jene Kräfte zu finden, die ihm möglich machen, in das Getriebe von Äther- und physischem Leibe einzugreifen. Wenn des Abends der Mensch in der Ermüdung fühlt, wie dasjenige zuerst erlahmt, was am meisten von seinem Geist in die Materie hineinspielt, wenn er sich ohnmächtig des Spre­chens fühlt, wenn Gesicht, Geruch, Geschmack und zuletzt das Gehör, der geistigste der Sinne, nach und nach dahin-schwinden, weil der Mensch nicht aus dem Innern heraus die Kräfte entfalten kann, dann zeigt uns das, wie die Kräfte während des Tageslebens verbraucht sind.

Woher stammen nun die Kräfte, welche da vom Morgen bis zum Abend verbraucht werden? Diese Kräfte stammen aus dem Nachtleben, aus dem Schlafzustand. Während des Lebens, das die Seele vom Einschlafen bis zum Aufwachen führt, saugt sie sich gleichsam voll mit jenen Kräften, die sie braucht, um das ganze Tagesleben vor uns hinzaubern zu können. Im Tagesleben kann sie ihre Kräfte entwickeln, aber sie kann aus ihm nicht die Kräfte ziehen, die sie zum

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Aufbau braucht. - Es ist selbstverständlich, daß die ver­schiedenen Hypothesen, die über den Ersatz der im Tage verbrauchten Kräfte von der äußeren Wissenschaft gegeben werden, auch der Geisteswissenschaft bekannt sind; aber darauf brauchen wir jetzt nicht einzugehen. - So also können wir sagen: Wenn die Seele aus dem Schlafzustand heraus- und in den Wachzustand übergeht, bringt sie sich aus dem Lande, das gleichsam ihre geistige Heimat ist, die Kräfte mit, die sie den ganzen Tag über verwenden muß zum Aufbau jenes Seelenlebens, das sie vor uns hinzaubert. So wissen wir also, was die Seele sich mitbringt aus der gei­stigen Welt heraus, wenn sie des Morgens aufwacht.

Fragen wir uns jetzt das andere: Trägt die Seele nichts am Abend, wenn sie einschläft, in die geistige Welt hinein?

Was bringt sich die Seele des Abends in den Zustand, den wir Schlaf nennen, aus dem Wachzustand mit hinein?

Wenn wir das einmal durchdringen wollen, was sich die Seele aus der äußeren Welt der physischen Wirklichkeit, in der sie von Erlebnis zu Erlebnis geht während des Wa­chens, hineinbringt in das geistige Wesen des Schlafes, dann mussen wir uns vor allen Dingen an dasjenige halten, was wir die persönliche Entwickelung des Menschen zwischen Geburt und Tod nennen. Diese Entwickelung des Menschen tritt uns ja darin entgegen, daß uns der Mensch in einem späteren Lebenszustand reifer, mehr durchdrungen von Lebenserfahrung und Lebensweisheit erscheint, daß er in einem späteren Lebensalter gewisse Fähigkeiten und Kräfte sich erworben hat, die er in früherem Lebensalter nicht hatte.

Daß der Mensch aus der Außenwelt etwas in sich hinein-nimmt und es umgestaltet in seinem Innern, davon können

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wir uns schon überzeugen, wenn wir folgendes überlegen:

Zwischen 1770 und 1815 haben sich gewisse Ereignisse ab­gespielt, die für die Weltentwickelung von großer Bedeu­tung waren. Die verschiedensten Menschen haben diese Ereignisse mitgemacht. Es gab nun solche Menschen, die sie mitgemacht haben, an denen aber diese Ereignisse stumm vorbeigegangen waren; andere hat es gegeben, auf welche diese Ereignisse so gewirkt haben, daß sie sich mit Lebens­erfahrung, mit Lebensweisheit erfüllt haben, so daß sie auf eine höhere Stufe ihres Seelenlebens hinaufgestiegen sind.

Was ist da eigentlich geschehen?

Das zeigt sich uns am besten an einem einfachen Ereig­nis des menschlichen Lebens. Nehmen wir die Entwicke­lung des Menschen in bezug auf das Schreibenkönnen. Was ist eigentlich geschehen, damit wir imstande sind, in einem bestimmten Augenblick unseres Lebens die Feder ansetzen und unsere Gedanken durch die Schrift ausdrücken zu kön­nen? Da mußte früher mancherlei geschehen. Eine ganze Reihe von Erlebnissen mußte gemacht werden, vom ersten Versuche an, die Feder in die Hand zu nehmen, den ersten Strich zu machen, bis zu all den Bemühungen, die zuletzt dahin führten, daß wir diese Kunst auch wirklich ver­standen. Wenn wir uns erinnern, was sich da alles abspielen mußte, durch Monate und Jahre hindurch, wenn wir uns erinnern an alles, was wir durchgemacht haben dabei, viel­leicht an Strafen, Verweisen und dergleichen, um endlich umzuwandeln eine Reihe von Erlebnissen in die Fähigkeit des Schreibenkönnens, dann müssen wir sagen: es sind Er­lebnisse umgegossen, umgeschmolzen worden, so daß sie gleichsam wie in einer Essenz erscheinen im späteren Leben

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in dem, was wir die Fähigkeit des Schreibenkönnens nen­nen.

Geisteswissenschaft zeigt, wie das geschieht, wie eine Reihe von Erlebnissen zusammenrinnt, gleichsam gerinnt in eine Fähigkeit. Das aber könnte niemals geschehen, wenn der Mensch nicht immer und immer wieder durch den Schlaf durchgehen könnte. Derjenige, der das Leben be­obachtet, der wird wissen, was sich schon im Alltag zeigt:

wenn wir uns bemühen, dies oder jenes uns einzuprägen, dann erfährt das Einprägen und Behalten eine wesentliche Förderung, wenn wir wieder darüber schlafen können; dann wird es unser Eigentum. Und so ist es im ganzen menschlichen Leben.

Dasjenige, was wir an Erlebnissen durchmachen, muß sich vereinigen mit unserer Seele; es muß von dieser ver­arbeitet werden; es muß zur Gerinnung gebracht werden, um in Fähigkeit umgebildet werden zu können.

Diesen ganzen Prozeß vollzieht die Seele während des Schlafzustandes. Die Tageserlebnisse, die sich ausbreiten in der Zeit, die rinnen zusammen während des nächtlichen Schlafes und gießen sich um in dasjenige, was wir geron­nene Erlebnisse, menschliche Fähigkeiten nennen. So zeigt sich uns, was wir des Abends mitnehmen aus den äußeren Erlebnissen, nämlich dasjenige, was dann umgewandelt wird und umgewoben zu unseren Fähigkeiten. So steigert sich unser Leben dadurch, daß die Erlebnisse des Tages umgegossen werden während der Nacht in Fähigkeiten, in Kräfte.

Das heutige Zeitbewußtsein hat von diesen Dingen nicht viel Ahnung; aber es war nicht immer so; es gab Zeiten, in denen man aus einem alten Hellsehertum heraus über diese

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Dinge wohl Bescheid wußte. Da soll nur ein Beispiel an­geführt werden, wo ein Dichter in einer höchst merkwürdi­gen Weise bildlich zeigt, wie er sich dieser Umwandlung be­wußt war. Der alte Dichter Homer, der mit Recht auch ein Seher genannt wird, schildert uns in seiner Odyssee, wie Penelope in der Abwesenheit ihres Gatten von einer An­zahl von Freiern bestürmt wird, und wie sie ihnen ver­spricht, sich erst dann zu entscheiden, wenn sie ein Gewebe fertig gebracht hätte. Sie löste aber in der Nacht immer wieder auf, was sie bei Tag gewoben hatte. Wenn ein Dich­ter darstellen will, wie eine Reihe von Erlebnissen, die wir am Tage haben, eine Reihe von Erlebnissen, wie es diejeni­gen derPenelope mit den Freiern waren, sich nicht zu irgend einer Fähigkeit umbilden sollen und nicht zusammenrinnen sollen zu der Fähigkeit des Entschlusses, dann muß er dar­stellen, wie das, was die Tageserlebnisse weben, des Nachts wieder aufgedröselt werden muß, denn sonst würde es sich unweigerlich umgestalten zur Fähigkeit des Entscheidens. Solche Dinge können demjenigen, der nur vom heutigen Bewußtsein erfüllt ist, wie eine Haarspalterei erscheinen, und er kann glauben, daß man in die Dichter etwas hinein-trägt; aber die Großen unter den Menschen waren wirklich nur diejenigen, die aus den großen Weltgeheimnissen her­aus gearbeitet haben, und man hat, wenn man heute schön von Ursprünglichkeit und ähnlichem redet, keine Ahnung davon, aus welchen Tiefen die wirklich großen Kunst­leistungen der Welt gekommen sind.

Also wir sehen, wie sich die äußeren Erlebnisse, die wir hineinnehmen in den Schlafzustand der Seele, umgießen in Fähigkeiten und Kräfte, und wie die menschliche Seele da­durch vorrückt in dem Leben zwischen Geburt und Tod,

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wie sie etwas hineinbringt in die geistige Welt, um es wie­derum herauszubringen zu einer Steigerung der mensch­lichen Seele. Wenn wir aber dann diese Entwickelung zwi­schen der Geburt und dem Tode betrachten, dann müssen wir sagen: Oh, es ist dem Menschen eine gewisse enge Grenze gesetzt in bezug auf diese Entwickelung. Diese Grenze tritt uns dann besonders vor die Seele, wenn wir uns überlegen, daß wir zwar an unseren Seelenfähigkeiten arbeiten und sie steigern können, daß wir sie umgestalten können und in einer späteren Epoche des Lebens mit einer vollkommeneren Seele existieren als in einer früheren Epoche, aber daß hier eine Grenze der Entwickelung ist. Man kann gewisse Fähigkeiten im Menschen entwickeln, aber alles das nicht, was nur dadurch vorwärts schreiten könnte, daß wir das Organ des physischen und des Äther-leibes umgestalteten. Diese sind mit ihren bestimmten An­lagen von der Geburt an vorhanden; wir finden sie vor. Wir können uns zum Beispiel nur dann ein gewisses Musik-verständnis aneignen, wenn wir von vornherein die Anlage zu einem musikalischen Gehör haben. Das ist ein krasser Fall, an dem sich zeigt, daß die Umwandlung scheitern kann, und daß sich die Erlebnisse zwar mit unserer Seele vereinigen können, wir aber darauf verzichten müssen, sie uns einzuverleiben. Wenn wir solche Grenzen finden an unserem Leibesleben, dann müssen wir verzichten, zwi­schen Geburt und Tod diese Erlebnisse in unser Leibesleben hineinzuverweben. Weil das so ist, so müssen wir, wenn wir das menschliche Leben von einem höheren Standpunkt aus betrachten, die Möglichkeit, diesen Leib zersprengen, ablegen zu können, geradezu als etwas ungeheuer Heil-sames, als etwas ungeheuer Bedeutsames für unser gesamtes

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menschliches Leben betrachten. Daran scheitert unsere Um­wandlungsfähigkeit für den menschlichen Leib, daß wir diesen Ätherleib und physischen Leib jeden Morgen wieder vorfinden. Im Tode erst legen wir ihn ab. Wir schreiten durch die Pforte des Todes in eine geistige Welt hinein. Da, in dieser geistigen Welt, wo wir jetzt nicht mehr einen phy­sischen und Ätherleib als Hindernis vorfinden, da können wir innerhalb der geistigen Substanzialitäten alles das­jenige ausbilden, was wir erleben konnten zwischen Geburt und Tod, dem gegenüber wir aber resignieren mußten, weil wir an Grenzen stießen. - Wenn wir aus der geistigen Welt wiederum in ein neues Leben treten, dann erst können wir diese Kräfte, die wir dem geistigen Urbilde einverwoben haben, eintreten lassen in ein Dasein, das wir uns jetzt pla­stisch gestalten können in dem zunächst weichen Menschen-leib. Nun erst können wir mit unserem Wesen verweben dasjenige, was wir uns im vorhergehenden Leben zwar an­eignen, nicht aber auch hineintragen konnten in unser We­sen. So ist die Steigerung des Lebens möglich durch den Tod, weil wir dasjenige, was wir uns in einem Leben als Frucht der Erlebnisse nicht einverleiben konnten, nun im nächsten Leben uns einverweben können. Dasjenige, was das eigentliche menschliche Innere ist, was am Menschen durch die Leiber sich zum Dasein arbeitet, das tritt durch die Pforte des Todes von einem Leben zum anderen. Der Mensch hat nun nicht bloß die Möglichkeit, gewissermaßen zu arbeiten im Gröberen an seiner plastischen Leiblichkeit, damit er in diese plastische Leiblichkeit hineinprägt das­jenige, was er vorher nicht hineinprägen konnte, sondern er hat auch die Möglichkeit, gewisse feinere Früchte der vorhergehenden Leben in sein ganzes Wesen einzuprägen.

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Wenn wir einen Menschen durch die Geburt ins Dasein treten sehen, so können wir sagen: So wie das Ich und der Astralleib mit Empfindungsseele, Verstandes- oder Ge­mütsseele und Bewußtseinsseele durch die Geburt ins Da­sein treten, so sind sie nicht bestimmungslos, sondern ihnen sind bestimmte Eigenschaften, bestimmte Merkmale eigen, die sie sich aus vorhergehenden Leben mitgebracht haben. Im Gröberen arbeitet der Mensch in das Plastische seines Leibes schon vor der Geburt alles das hinein, was er vorher als Früchte erhalten hat; aber im Feineren arbeitet der Mensch - und das zeichnet ihn dem Tiere gegenüber aus -auch nach der Geburt während seiner ganzen Kindheit und Jugendzeit, er arbeitet in die feinere Gliederung sei­ner äußeren und auch inneren Natur alles das hinein, was das Ich sich an Bestimmungsmerkmalen, an Bestim­mungsgründen aus seinem vorhergehenden Leben mitge­bracht hat. Und daß da das Ich hineinarbeitet und wie das Ich da arbeitet aus dem Wesen des Menschen heraus, sich in dem ausprägend, was es darlebt in der Welt, das ist es, was als der Charakter des Menschen hereintritt in diese Welt. Dieses Ich des Menschen arbeitet ja zwischen der Geburt und dem Tode, indem es auf dem Instrumente der Seele, der Empfindungs-, der Verstandes- und der Bewußt­seinsseele erklingen läßt, was es sich erarbeitet hat. Aber es arbeitet nicht so in dieser Seele, daß das Ich etwa als ein Äußerliches dem gegenüberstünde, was als Triebe, Begier­den und Leidenschaften in der Empfindungsseele lebt, nein, das Ich eignet sich selber, wie zu seinem inneren Wesen gehörig, die Triebe, Begierden und Leidenschaften an: das Ich ist eins mit ihnen, ist auch eins mit seinen Erkenntnissen und mit seinem Wissen in der Bewußtseinsseele.

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Daher nimmt sich der Mensch dasjenige, was er sich in diesen Seelengliedern an Harmonie und Disharmonie er­arbeitet, durch die Pforte des Todes mit und arbeitet es in dem neuen Leben in die menschliche Äußerlichkeit hinein. Es prägt sich so das menschliche Ich mit dem, was es aus einem vorhergehenden Leben her geworden ist, in einem neuen Leben aus. Deshalb erscheint uns der Charakter zwar als etwas Bestimmtes, als etwas Angeborenes, aber doch wiederum als etwas, was sich nach und nach im Leben erst herausentwickelt.

Das Tier ist seinem Charakter nach von allem Anfange an durch die Geburt bestimmt, ist voll ausgeprägt; es kann nicht plastisch arbeiten an seinem Äußeren; der Mensch aber hat gerade diesen Vorzug, daß er bei seiner Geburt auftritt, ohne einen bestimmten Charakter nach außen zu zeigen, daß er aber in demjenigen, was in den tiefen Unter­gründen seines Wesens schlummert, was von früheren Le­ben her in dieses Dasein hereingeraten ist, Kräfte hat, die sich in dieses unbestimmte Äußere hineinarbeiten und so den Charakter allmählich formen, insoweit er durch das vorige Leben bestimmt ist.

So sehen wir, wie der Mensch in gewisser Beziehung einen angeborenen Charakter hat, der aber im Laufe des Lebens erst nach und nach sich auslebt. Wenn wir dies ins Auge fassen, so werden wir verstehen können, daß selbst große Persönlichkeiten sich irren konnten in bezug auf Be­urteilung des menschlichen Charakters. Es gibt Philoso­phen, die behaupten, der menschliche Charakter könne sich nicht ändern, er sei als ein ganz Bestimmtes im Innern vor­handen. Das ist aber nicht richtig, nur insofern ist es zu­treffend, als uns dasjenige, was von vorhergehenden Le­- ben

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stammt, wie ein angeborener Charakter entgegentritt. Das ist es also, was als menschliches Zentrum aus dem In­nern des menschlichen Wesens sich herausarbeitet und allen einzelnen Gliedern des Menschen das gemeinsame Siegel aufprägt, den gemeinsamen Charakter verleiht. Dieser Charakter geht sozusagen in das Seelische selbst hinein, er geht hinein auch in die äußeren Leibesglieder. Wir sehen das Innere sich gleichsam so nach außen ergießen, daß es alles nach sich in gewisser Weise formt, und wir empfinden, wie dieses innere Zentrum die einzelnen Glieder des Men­schen zusammenhält. Bis in das äußere Leibliche hinein empfinden wir etwas, was uns als Abdruck der inneren Wesenheit in dem Äußeren des Menschen erscheinen kann.

Das, was man gewöhnlich theoretisch nicht gehörig be­achtet, das hat einmal ein Künstler ganz wunderbar zur Darstellung gebracht. Er zeigt die menschliche Natur in dem Augenblick, wo das menschliche Ich, das zusammen-haltend allen Gliedern einen Mittelpunkt bildet, eine Ein­heit gibt, für sie verloren geht; er zeigt, wie dann die ein­zelnen Wesensglieder, ein jedes sich selbst folgend, das eine die Richtung dahin und das andere dorthin nimmt. Es gibt ein großes berühmtes Kunstwerk, das uns gerade diesen Augenblick der menschlichen Wesenheit festhält, wo der Mensch desjenigen verlustig wird, was seinem Charakter zugrunde liegt, was dem ganzen Menschenwesen angehört. Es ist hier gemeint ein Kunstwerk, das vielfach mißver­standen worden ist. Glauben Sie nicht, daß hier eine billige Kritik angelegt werden soll an Geistern, deren Wirken von mir im höchsten Sinne Verehrung entgegengebracht wird; aber gerade darin zeigt sich die Schwierigkeit des mensch­lichen Weges zur Wahrheit, daß gewissen Erscheinungen

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gegenüber, gerade aus einem ungeheueren Wahrheitstrieb heraus, selbst große Geister irren.

Einer der größten deutschen Kunstkenner, Winckelmann, mußte aus den ganzen Voraussetzungen seines Wesens her­aus irren gegenüber jenem Kunstwerk, welches unter dem Namen Laokoon bekannt ist. Diese Winckelmannsche Er-klärung des Laokoon bewundert man vielfach. Man ist sich klar darüber in vielen Kreisen, daß man Besseres gar nicht sagen kann, als was Winckelmann gesagt hat über die Ge­stalt des Laokoon, jenes Priesters von Troja, der inmitten seiner beiden Söhne von Schlangen umwunden, zu Tode gepreßt wird. Winckelmann, der in schöner Begeisterung dem Kunstwerk gegenüberstand, sagte: man sähe hier den Priester Laokoon, der in jeder Form, die sich in seinem Leibe darstellt, edel und groß einen unendlichen Schmerz zum Ausdruck bringt, vor allen Dingen den Vaterschmerz. Er steht zwischen den Söhnen; die Schlangen umwinden die Leiber. Der Vater - so meint Winckelmann - merkt den Schmerz seiner Söhne und in seinem Vaterempfinden er-fühlt er jenes Ungeheuere, das den Unterleib einzieht und das Ganze des Schmerzes herauspreßt. Wir könnten die Ge­stalt des Laokoon aus dem verstehen, daß er sich selbst vergißt, indem er von unendlichem Mitleid für die Söhne seines Blutes entbrennt.

Es ist eine schöne Erklärung, die Winckelmann von die­sem Schmerz des Laokoon gegeben hat, aber derjenige, der Gewissen hat und immer wieder und wieder, weil er ge­rade Winckelmann als große Persönlichkeit verehrt, den Laokoon ansieht, der muß sich zuletzt sagen: Winckelmann muß hier geirrt haben, denn es ist ganz unmöglich, daß in der Gruppe der Moment gegeben ist, der aus dem Mitleid

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hervorgeht. Der Kopf ist so gerichtet, daß der Vater seine Söhne gar nicht sieht. Es ist ganz falsch dargestellt, wie Winckelmann die Gruppe ansah. Wenn wir die Gruppe an­sehen und ein unmittelbares Empfinden haben, dann werden wir uns klar darüber, daß wir in der Laokoon-Gruppe den ganz bestimmten Moment gegeben haben, wo durch die Um­ringelung der Schlange dasjenige, was wir das menschliche Ich nennen, aus dem Leibe des Laokoon heraus ist, wo die einzel­nen des Ichs entblößten Triebe, ein jeder bis in das Körper­liche hinein, seinen Weg gehen. So sehen wir, wie der Unter­leib, der Kopf, jedes einzelne Glied seinen Weg geht und nicht in einen charaktervollen Einklang gebracht werden mit der äußeren Gestalt, weil das Ich eben entschwunden ist.

Ein solcher Moment, der uns im Äußerlich-Körperlichen zeigt, wie der Mensch den einheitlichen Charakter verliert, wenn das Ich schwindet, das als starker Mittelpunkt selbst die Leibesglieder zusammenfügt, ein solcher Moment ist uns im Laokoon dargestellt. Und gerade, wenn wir so etwas wirken lassen auf unsere Seele, dann dringen wir bis in jenes Einheitliche vor, das sich uns als das Zusammen­stimmende der Leibesglieder ausdrückt, das hineinprägt dasjenige, was wir den menschlichen Charakter nennen.

Nun aber müssen wir uns fragen: Wenn das richtig ist, daß der Mensch in gewisser Beziehung seinen Charakter angeboren hat - und das läßt sich nicht leugnen, denn jeder Blick ins Leben kann uns lehren, daß über eine bestimmte Grenze hinaus alles dasjenige, was der Mensch mitbringt, sich durch alle Mühe nicht verändern läßt -, wenn der Mensch auf der einen Seite den Charakter angeboren hat, ist es da doch möglich, daß der Mensch etwas tut, um den Charakter in gewisser Weise umzuformen?

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Ja, insofern nämlich der Charakter dem Seelenleben an­gehört, insofern er demjenigen angehört, was, ohne daß wir eine Grenze finden an den äußeren Leibesgliedern, wenn wir des Morgens aufwachen, umgebildet werden kann am Zusammenstimmen der einzelnen Seelenglieder, an Verstärkung der Kräfte der Empfindungsseele, der Ver­standes- oder Gemütsseele und der Bewußtseinsseele, in­sofern kann auch noch am Charakter fortgebildet werden durch das persönliche Leben zwischen Geburt und Tod.

Darüber etwas zu wissen, ist besonders wichtig für die Erziehung. Wie es außerordentlich wichtig ist, die Unter­schiede und die Wesenheit der menschlichen Temperamente zu kennen, wenn man ein richtiger Erzieher sein soll: so notwendig ist es, auch etwas über den menschlichen Cha­rakter zu wissen, und auch darüber etwas zu wissen, was der Mensch tun kann zwischen Geburt und Tod, um diesen Charakter umzuformen, der in gewisser Beziehung durch das vorhergehende Leben und seine Früchte bestimmt ist. Wenn wir das wissen wollen, dann müssen wir uns klar sein, daß der Mensch in seinem persönlichen Leben gewisse, allgemein typische Entwickelungsepochen durchmacht. Sie finden die nötigen Anhaltspunkte für das, was jetzt skiz­zenhaft angedeutet wird in meinem Schriftchen: « Die Er­ziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissen­schaft. » Der Mensch macht zunächst eine Epoche durch vom Momente seiner Geburt bis zu der Zeit, wo der Zahn-wechsel um das siebente Jahr herum eintritt. Das ist die Epoche, wo vorzugsweise der physische Leib durch äußeren Einfluß ausgebildet werden kann. Von diesem siebenten Jahre an, von dem Zahnwechsel bis zum dreizehnten, vier­zehnten, fünfzehnten Jahre, bis zur Geschlechtsreife, ist

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eine Epoche, wo vorzugsweise sein Ätherleib ausgebildet werden kann, das zweite Glied der menschlichen Wesen­heit. Dann tritt der Mensch in eine dritte Epoche ein, wo vorzugsweise sein Astralleib, der niedrigere Astralleib, ge­bildet werden kann; und dann kommt, etwa vom einund­zwanzigsten Jahre angefangen, das Lebensalter, wo der Mensch nun gleichsam wie eine selbständige, freie Wesen­heit der Welt gegenüber steht und selber an der Ausbildung seiner Seele arbeitet. Da sind die Jahre von zwanzig bis achtundzwanzig wichtig für die Entwickelung der Kräfte der Empfindungsseele.

Die nächsten sieben Jahre etwa - das sind immer nur Durchschnittszahlen - bis zum fünfunddreißigsten Jahre sind besonders wichtig für die Entwickelung der Verstan­des- oder Gemütsseele, die wir insbesondere dadurch zur Ausbildung bringen können, daß wir mit dem Leben in Wechselwirkung treten. Wer das Leben nicht beobachten will, der mag darin Unsinn sehen; wer aber das Leben mit offenen Augen betrachtet, der wird wissen, daß gewisse Wesensglieder des Menschen insbesondere in gewissen Epo­chen des Lebens ausgebildet werden können. In den ersten zwanziger Jahren sind wir besonders imstande, durch Wechselwirkung mit dem Leben unsere Begierden, Triebe, Leidenschaften und so weiter an den Eindrücken und Ein­flüssen der Außenwelt zu entfalten. Ein Werden an Kräf­ten werden wir fühlen können durch entsprechende Wech­selwirkung der Verstandesseele mit der Umwelt; und der­jenige, der da weiß, was wirkliche Erkenntnis ist, der weiß auch, daß alles frühere Aneignen von Erkenntnissen nur Vorbereitung sein kann; daß jene Reife des Lebens, wo man wirklich überschauend sich Erkenntnisse aneignen

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kann, im Grunde genommen durchschnittlich erst mit dem fünfunddreißigsten Jahre eintritt. Solche Gesetze gibt es. Nur derjenige wird sie nicht beobachten, der überhaupt das menschliche Leben nicht beobachten will.

Wenn wir das ins Auge fassen, dann sehen wir, wie die­ses menschliche Leben zwischen Geburt und Tod gegliedert ist. Daraus aber, daß das Ich so arbeitet, daß es die Seelen­glieder abstimmt gegeneinander, daß es aber auch das­jenige, was es erarbeitet, gliedern muß nach Maßgabe der äußerlichen Leiblichkeit, daraus werden wir einsehen, wie wichtig es ist, als Erzieher zu wissen, daß bis zum siebenten Jahre der äußere physische Leib seine Entwickelung er­fährt. Alles dasjenige, was auf den physischen Leib ein­wirken kann von der physischen Welt, was ihn mit Kraft und Stärke ausstattet, das kann nur in dieser ersten Epoche an den Menschen herangebracht werden. Nun besteht ein geheimnisvoller Zusammenhang zwischen dem physischen Leib und der Bewußtseinsseele, der bei genauer Beobach­tung des Lebens gründlich hervorgehen kann.

Wenn nun das Ich stark werden soll, so daß es sich mit den Kräften der Bewußtseinsseele im späteren Leben, also erst nach dem fünfunddreißigsten Jahre, durchsetzen soll; wenn das Ich so arbeiten soll im Seelenleben, daß es durch die Durchdringung der Bewußtseinsseele herausgehen kann aus sich selber zu einem Wissen von der Welt, so darf es an dem physischen Leib keine Grenze finden, denn der phy­sische Leib gerade kann dasjenige sein, was der Bewußt­seinsseele und dem Ich die größten Hindernisse entgegen­setzt, wenn dieses Ich nicht verschlossen bleiben will im In­nern, sondern heraus will zu einem offenen Wechselver­kehr mit der Welt. Da wir aber innerhalb gewisser Grenzen

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durch die Erziehung dem Kinde bis zum siebenten Jahr Kräfte zuführen können für den physischen Leib, so sehen wir hier einen merkwürdigen Lebenszusammenhang. Oh, es ist nicht gleichgültig für das spätere Leben des Menschen, was der Erzieher mit dem Kinde vornimmt! Nur diejeni­gen, die das Leben nicht zu beobachten verstehen, die wis­sen nichts von solchen Lebensgeheimnissen; wer aber ver­gleichen kann frühestes Kindesalter mit demjenigen, was vom fünfunddreißigsten Jahre an auftritt an freiem Wech­selverkehr mit der Welt, der weiß, daß wir einem Men­schen, der mit der Welt in offenen Verkehr treten soll, der auf die Welt eingehen und nicht verschlossen in sich selber ruhen soll, daß wir dem die größten Wohltaten erweisen können, wenn wir in entsprechender Weise in der ersten Epoche seines Lebens auf ihn wirken. Was wir da dem Kinde zuführen an Freuden des unmittelbaren physischen Lebens, an Liebe, die einströmt aus seiner Umgebung, das führt dem physischen Leibe Kräfte zu, das macht ihn bil­dungsfähig, das macht ihn gleichsam weich und plastisch.

Und so viel Freude und so viel Liebe und Glück wir dem Kinde in dieser ersten Lebensepoche zuführen, um so weni­ger Hindernisse und Hemmnisse hat der Mensch dann spä­ter, wenn er aus seiner Bewußtseinsseele heraus, durch die Arbeit des Ichs, das auf der Bewußtseinsseele wie auf einer Saite spielt, einen offenen, einen freien, mit der Welt in Wechselwirkung tretenden Charakter bilden soll. - Alles das, was wir an Unliebe, was wir an finsteren Lebensschick­salen, an Schmerz das Kind bis zum siebenten Lebensjahre er­tragen lassen, verhärtet seinen physischen Leib, und das alles schafft dann Hindernisse für das spätere Lebensalter. Und in dem gekennzeichneten späteren Lebensalter tritt dann

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das auf, was man einen verschlossenen Charakter nennt, ein Charakter, der in seiner Seele sein ganzes Wesen ver­sperrt und nicht zu einem freien offenen Verkehr mit all den Eindrücken der Außenwelt gelangen kann. So geheim­nisvoll sind die Zusammenhänge im Leben.

Und wiederum gibt es Zusammenhänge zwischen dem Äther- oder Lebensleib und demjenigen, was in der zwei­ten Lebensepoche sich besonders ausbildet. Zwischen dem Atherleib und der Verstandes- oder Gemütsseele besteht ein Zusammenhang. In der Verstandesseele ruhen die Kräfte, die durch das Spiel des Ichs auf dieser Seele ihr entlockt werden können. Das sind alle die Kräfte, die den Menschen zu einem Menschen der Initiative, des Mutes oder zu einem Menschen der Feigheit, der Unentschlossenheit, der Lässig­keit heranbilden. Je nachdem das Ich stärker ist oder schwächer, je nachdem lebt sich der Mensch als feiger oder mutvoller Charakter dar. Dann aber, wenn der Mensch die beste Gelegenheit hat, durch das Wechselverhältnis mit dem Leben diese Eigenschaft der Verstandes- oder Gemüts-seele sich besonders einzuprägen, sie besonders zu einem festen Charakter zu machen, dann kann er Hemmnisse und Hindernisse finden an seinem Äther- oder Lebensleib. Brin­gen wir nun dem Äther- oder Lebensleib zwischen dem siebenten, dreizehnten, vierzehnten Jahre alles dasjenige bei, was ihn durchdringen kann mit solchen Kräften, an denen ihm im späteren Leben kein Widerstand erwächst -also gerade für die Jahre 28 bis 35-, dann haben wir für die Erziehung dieses Menschen etwas getan, wofür er uns innig danken muß. Wenn wir einem Menschen die Mög­lichkeit geben, zwischen dem siebenten und dreizehnten Jahre neben uns so zu stehen, daß wir ihm eine Autorität

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sein können, daß wir ihm persönlich ein Wahrheitsträger sind, wenn in diesem Alter, für welches Autorität etwas besonders Heilsames ist, wir als Lehrer, als Eltern oder Er­zieher neben dem jungen Menschen so stehen, daß dieser sich sagt: was sie uns darleben, das ist wahr, - dann stei­gern wir die Kräfte des Ätherleibes, und der Mensch wird dann im späteren Lebensalter, vom achtundzwanzigsten bis fünfunddreißigsten Jahre, am wenigsten Widerstand finden am Äther- oder Lebensleib; er wird dann, entspre­chend der Anlage seines Ichs, zu einem mutvollen Menschen mit Initiative werden können. Wir können also durch diese geheimnisvollen Zusammenhänge des Lebens, wenn wir sie kennen, in ungeheuer heilsamer Weise auf den Men­schen einwirken.

Es ist in unserer chaotischen Bildung verlorengegangen das Bewußtsein von solchen Zusammenhängen, die man früher instinktiv gekannt hat. Da kann man immer mit Wohlbehagen betrachten, was ältere Lehrer wie aus einem tiefen Instinkt oder aus Inspiration heraus über diese Dinge noch gewußt haben. Da muß man sagen: Die alte Rotteck­sche Weltgeschichte mag heute da und dort überholt sein; wenn man aber mit Menschenverständnis diese alte Rot­tecksche Weltgeschichte in die Hand nimmt, die wir, als wir jung waren, in den Bibliotheken unserer Väter gefun­den haben, denn da wurde sie gelesen, so findet man eine eigentümliche Darstellungsweise, eine Darstellungsweise, die zeigt, daß jener Badenser Lehrer, der in Freiburg Geschichte gelehrt hat, nicht nur trocken und nüchtern gelehrt hat. Wenn man nur das Vorwort liest zu dieser Rotteckschen Weltgeschichte, die ihrem Geist nach etwas Außerordent­liches ist, dann hat man das Gefühl: Das ist ein Mensch,

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der spricht zu der Jugend aus dem Bewußtsein heraus: Du mußt dem Menschen in diesem Alter - zwischen vierzehn und einundzwanzig Jahren, wo der Astralleib zur Ent­wickelung kommt, - die Kräfte zuführen, die aus schönen, großen Idealen hervorgehen. Überall sucht Rotteck heraus­zuholen, was den Menschen erfüllen kann mit der Größe der Ideen der Helden, mit Begeisterung für das, was Men­schen gewollt, gelitten haben im Verlauf der Menschheits-entwickelung. Und solch ein Bewußtsein hat seine volle Be­rechtigung; denn dasjenige, was in den Astralleib in diesem Lebensalter, von vierzehn bis einundzwanzig Jahren, in solcher Art hineingegossen wird, das kommt unmittelbar nachher der Empfindungsseele zugute, wenn das Ich im freien Wechselspiel mit der Welt den Charakter erarbeiten will. In der Empfindungsseele wird eingeprägt, das heißt dem Charakter wird einverleibt dasjenige, was an hohen Idealen, an Begeisterung in die Seele geflossen ist. Das wird dem Ich selber einverleibt, das wird dem Charakter auf-geprägt.

So sehen wir, wie in der Tat dadurch, daß in einer ge­wissen Weise die menschlichen Hüllen, der physische Leib, der Äther- oder Lebensleib, der Astralleib noch plastisch sind, sie durch die Erziehung dieses oder jenes beigefügt erhalten können in der Jugend, und es dadurch möglich machen, daß später der Mensch an seinem Charakter arbei­tet. Wenn das Nötige nicht geschehen ist, dann wird es schwierig, am Charakter zu arbeiten; da sind dann die stärksten Mittel notwendig. Dann wird es notwendig, daß der Mensch sich ganz bewußt hingibt einer tief innerlichen meditativen Betrachtung gewisser Eigenschaften und Ge­fühle, die er bewußt einprägt in das Seelenerleben. Solch

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ein Mensch muß versuchen, die Kulturströmungen, die als Bekenntnisse zum Beispiel religiöser Art nicht nur wie Theorien sprechen wollen, inhaltlich zu erleben. Den gro­ßen Weltanschauungen, dem, was uns im späteren Leben noch mit unseren Begriffen und Empfindungen, mit unse­ren Ideen in die großen umfassenden Weltengeheimnisse hineinführt, dem müssen wir uns wieder und wiederum hingeben, nicht nur in einmaliger Betrachtung. Wenn wir uns in solche Weltgeheimnisse vertiefen können, uns ihnen immer wieder gerne hingeben, wenn sie uns eingeprägt werden in Gebeten, die wir tagtäglich wiederholen, dann können wir selbst noch im späteren Leben durch das Spiel des Ichs unseren Charakter umprägen.

Das erste dabei ist, daß der Mensch also dasjenige, was seinem Ich einverleibt ist, was sein Ich sich erobert, in seine Seelenglieder, in die Empfindungsseele, in die Verstandes-oder Gemütsseele und in die Bewußtseinsseele hineinprägt. Nun vermag der Mensch im allgemeinen nicht viel über die äußere Leiblichkeit. Wir haben gesehen, daß der Mensch eine Grenze hat an der äußeren Leiblichkeit, daß sie mit gewissen Anlagen ausgestattet ist; doch wenn wir genauer beobachten, so sehen wir, daß allerdings diese Grenze den­noch zuläßt, daß der Mensch auch zwischen Geburt und Tod an seiner äußeren Leiblichkeit arbeitet.

Wer wird nicht schon beobachtet haben, wie ein Mensch, der sich wirklich tieferen Erkenntnissen durch ein Jahr­zehnt zum Beispiel hingibt, - solchen Erkenntnissen, welche nicht graue Lehre bleiben, sondern die sich umgestalten in Lust und Leid, in Seligkeit und Schmerz, die im Grunde erst dadurch zu wirklicher Erkenntnis werden und sich mit dem Ich verweben, - wer wird nicht beobachtet haben, daß

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da selbst die Physiognomie, die Geste, das ganze Gehaben des Menschen sich umändert, wie das Arbeiten des Ichs so­zusagen bis in die äußere Leiblichkeit hineingeht!

Aber viel ist es nicht, was da der Mensch durch das, was er sich im Leben zwischen Geburt und Tod erwirbt, in seine äußere Leiblichkeit einprägen kann. Das meiste von dem, was er sich so erwirbt, ist etwas, dem gegenüber er ver­zichten muß, das er sich aufbewahren muß für ein nächstes Leben. Dafür bringt der Mensch mancherlei aus früheren Leben mit und kann, wenn er sich die innere Fähigkeit dazu erwirbt, es steigern durch das, was er sich zwischen Geburt und Tod erarbeitet.

Und so sehen wir, wie der Mensch bis in die Leiblichkeit hinein arbeiten kann, wie der Charakter nicht bloß im in­neren Seelenleben sich begrenzt, sondern herausdringt in die äußeren Leibesglieder. Dasjenige am Menschen, in dem sich das Äußerste seines innersten Charakters besonders ausprägt, das ist in erster Linie sein mimisches Spiel; ferner das, was wir nennen können seine Physiognomie, und drit­tens die plastische Bildung der Knochen seines Schädels, dasjenige, was uns in der Schädelkunde entgegentritt.

Wenn wir uns nun fragen: Wie kommt der Charakter des Menschen bis in der Äußerlichkeit, in seiner Geste, Physiognomie und Knochenbildung zum Ausdruck? - so haben wir dazu wiederum einen Anhaltspunkt durch jene geisteswissenschaftliche Vertiefung in die menschliche We­senheit, die sagen kann: das Ich arbeitet bildend zunächst an der Empfindungsseele, die alle Triebe, Begierden, Lei­denschaften, kurz, alles das umschließt, was man innere Impulse des Willens nennen kann. Dasjenige, was das Ich auf dieser Saite des Seelenlebens spielt, das kommt dann im

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Äußeren, in der Geste zur Darstellung. Was in der Emp­findungsseele als Charakter innerlich sich auslebt, offenbart sich nach außen in der Mimik, in der Geste, und wir kön­nen sagen, daß uns diese Geste vom Innern des Menschen gerade in bezug auf seinen Charakter viel verraten kann.

Wenn beim Menschen auch vorzugsweise aus seinem Charakterwesen heraus das Ich in der Empfindungsseele arbeitet, so spielt doch das, was das Ich gleichsam anschlägt auf der Saite der Empfindungsseele, in die anderen Seelen-glieder hinein. Wenn das Ich vorzugsweise an der Empfin­dungsseele arbeitet, dann klingt besonders stark die Emp­findungsseele, und es müssen mitklingen die anderen; das drückt sich aber in der Geste aus. Alles dasjenige, was sich im gröbsten Stile bloß in der Empfindungsseele ausprägt, kommt in der Geste zum Erscheinen im menschlichen Un­terleib. Wer sich in Wohlbehagen auf den Bauch klopft, bei dem können wir genau sehen, wie er ganz mit seinem Charakter in der Empfindungsseele eingeschlossen lebt, wie wenig bei ihm zum Ausdruck kommt von dem, was seine Willensimpulse in den höheren Seelengliedern sind.

Wenn aber das Ich, das in der Empfindungsseele vor­zugsweise lebt, doch aber das, was es an Trieben, Begier­den, Willensentschlüssen in dieser Empfindungsseele aus-lebt, heraufschlägt in die Verstandesseele, dann kommt das in einer Geste zum Ausdruck, die sich auf dasjenige Organ des Menschen bezieht, das vorzugsweise der äußere Aus­druck ist für die Verstandes- oder Gemütsseele: hier in der Gegend des Herzens. Daher sehen wir bei denjenigen Men­schen, die den sogenannten Brustton der Überzeugung ha­ben, die aus ihren Empfindungen heraus zwar sprechen, aber imstande sind, diese Empfindungen doch umzuprägen

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in Worte und das auszudrücken: daß sie sich ans Herz schlagen. Nicht aus der Objektivität des Urteils heraus reden sie, sondern aus Leidenschaft. Wir können den lei­denschaftlichen Charakter, der aber in die Verstandesseele heraufschlägt, wir können den Menschen, der zwar ganz in der Empfindungsseele lebt, der aber durch sein starkes Ich fähig ist, die Töne heraufschlagen zu lassen in die Verstan­desseele, erkennen, wenn er sich besonders breit hinstellt.

Es gibt Volksredner, die den Daumen in die Westen-löcher hineinstecken und sich breit vor das Publikum hin-stellen: das sind diejenigen, die aus der unmittelbaren Empfindungsseele heraus sprechen, die das, was sie ego­istisch und ganz persönlich, nicht aus der Objektivität her­aus empfinden, inWorte umprägen, aber jetzt mit der Geste

- Daumen in den Westenlöchern - bekräftigen.

Diejenigen Menschen, welche bis in die Bewußtseinsseele heraufklingen lassen, was in ihrer Empfindungsseele vom Ich ausgeprägt und angeschlagen ist, das sind solche, die durch ihre Geste an dem Organ arbeiten, das insbesondere der äußerliche Ausdruck der Bewußtseinsseele ist. Solche Menschen zeigen es klar, wenn sie es besonders schwer ha­ben, das, was sie innerlich fühlen, zu einer gewissen Ent­scheidung zu bringen; es erscheint uns wie ein äußerlicher Abdruck dieser Entscheidung, wenn der Mensch den Finger an die Nase legt, wenn er das insbesondere andeuten will, wie schwer es ihm wird, das aus den Tiefen der Bewußt­seinsseele zu heben.

Und so können wir sehen, wie alles, was eigentlich in den Seelengliedern sich ausprägt als die charakterisierte Arbeit des Ichs, sich hinausergießt bis in die Geste.

Wir können aber sehen, wenn der Mensch vorzugsweise

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in der Verstandes- oder Gemütsseele lebt, was also schon näher dem menschlichen Innern liegt, was also am Men­schen nicht von außen bestimmt ist, worunter er nicht skla­visch seufzt, was mehr sein Eigentum ist, wie das sich kundgibt im physiognomischen Ausdruck namentlich sei­nes Gesichtes. Wenn das Ich die Saite der Verstandesseele anschlägt, diese aber hinunterklingt in die Empfindungs seele, wenn der Mensch zunächst zwar fähig ist, mit seinem Ich in der Verstandesseele zu leben, aber alles, was dann darinnen ist, sich hinunterdrückt in die Empfindungsseele; wenn sein Urteil ihn so durchdringt, daß er erglüht für sein Urteil, dann sehen wir, wie sich das ausdrückt in der zu­rücktretenden Stirn, in dem hervortretenden Kinn. Was eigentlich in der Verstandesseele erlebt wird und nur hin­unterklingt in die Empfindungsseele, das drückt sich aus an den unteren Partien des Gesichts. Wenn der Mensch das­jenige entfaltet, was gerade die Verstandesseele entfalten kann, den Einklang zwischen dem Äußeren und dem In­nern, wo der Mensch weder durch inneres Grübeln ver­schlossen, noch durch völliges Hingegebensein leer wird im Innern, wo ein schöner Einklang ist zwischen dem Äußern und Innern, wenn also vorzugsweise das Ich in seiner Cha­rakterprägung in der Verstandesseele lebt, so drückt sich das in der Mittelpartie des Gesichts - dem äußeren Aus­druck für die Verstandes- oder Gemütsseele - aus.

Und hier können wir sehen, wie fruchtbar Geistes­wissenschaft wird für die Kulturbetrachtung; sie zeigt, daß die aufeinanderfolgenden Eigenschaften auch bei den auf­einanderfolgenden Völkern in der Weltentwickelung ganz besonders sich ausprägen. So war die Verstandes- oder Ge­mütsseele insbesondere im alten Griechentum ausgeprägt.

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Da war jener schöne Einklang zwischen dem Äußern und dem Innern da, da war vorhanden das, was man in der Geisteswissenschaft nennt den charaktervollen Ausdruck des Ichs in der Verstandes- oder Gemütsseele Bei den Griechen tritt uns daher in der äußeren Gestaltung die griechische Nase in ihrer Vollendung entgegen. Wahr ist es, daß wir solche Dinge erst verstehen, wenn wir das Äußere, das in die Materie Geprägte begreifen aus den geistigen Untergründen heraus, aus denen es hervorgeht.

Und der physiognomische Ausdruck, der entsteht, wenn der Mensch das, was vorzugsweise in der Verstandes- oder Gemütsseele lebt, heraufbringt bis zum Wissen, wenn er es auslebt in der Bewußtseinsseele, der ergibt die hervortre­tende Stirne. In diesem physiognomischen Ausdruck liegt die Offenbarung der Verstandes- oder Gemütsseele; daher drückt sich dies in einer besonderen Stirnbildung aus, gleich­sam in die Bewußtseinsseele hinaufströmend das, was das Ich in der Verstandesseele arbeitet.

Wenn aber der Mensch ganz besonders lebt mit seinem Ich, so daß er charaktervoll dasjenige, was das Wesen des Ichs ist, in seiner Bewußtseinsseele ausprägt, dann kann er zum Beispiel das, was das Ich anschlägt, auf der Saite der Bewußtseinsseele hinunterdrängen in die Verstandes- oder Gemütsseele und in die Empfindungsseele. Dieses letztere ist eine gewisse höhere Vollendung der menschlichen Ent­wickelung. Nur in unserer Bewußtseinsseele können wir durchdrungen werden von den hohen sittlichen Idealen, von den großen Erkenntnisüberblicken über die Welt.

Das alles muß in unserer Bewußtseinsseele leben. Das­jenige, was das Ich der Bewußtseinsseele an Kräften gibt, damit diese Erkenntnisse und einen Überblick über die

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Welt gewinnen kann; dasjenige, was das Ich der Bewußt­seinsseele geben kann, damit in dieser leben können hohe sittliche Ideale, hohe ästhetische Anschauungen, das kann sich herunterdrücken und kann Enthusiasmus, Leidenschaft werden, das, was man nennen kann innere Wärme der Empfindungsseele. - Das tritt ein, wenn der Mensch er­glühen kann für dasjenige, was er erkennt. Dann ist das Edelste, wozu sich der Mensch zunächst erheben kann, wie­derum heruntergebracht bis in die Empfindungsseele. So erhöht der Mensch die Empfindungsseele, wenn er sie durchströmen läßt mit dem, was zuerst in der Bewußt­seinsseele vorhanden ist. Allerdings, was wir so in der Be­wußtseinsseele erleben, was als der Ideal-Charakter er­scheinen kann durch die Arbeit des Ichs in der Bewußt­seinsseele, das kann, weil unsere äußere Leiblichkeit durch die Anlagen, die wir bei der Geburt mitbringen, begrenzt ist, nicht hineingeprägt werden in die menschliche Leib­lichkeit. Demgegenüber müssen wir darauf verzichten, es in die Leiblichkeit hineinzuprägen; das kann ein Ausdruck werden eines edlen Seelencharakters, aber bis in einen Aus­druck der äußeren Leiblichkeit können wir es nimmermehr hineinbringen. Wir müssen es mitnehmen durch die Pforte des Todes, dann aber ist es die mächtigste Kraft für das nächste Leben.

Was wir durchfeuert haben in der Empfindungsseele mit jener Leidenschaft, die erglühen kann für hohe sittliche Ideale, was wir so in die Empfindungsseele gegossen haben und was wir mitnehmen können durch die Pforte des To­des, das können wir hinübertragen in das neue Leben, und da kann es die mächtigste plastische Kraft entwickeln. Wir sehen im neuen Leben in der Schädelbildung, in den verschied

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enen Erhöhungen und Vertiefungen des Schädels zum Ausdruck kommen, was wir an hohen sittlichen Idealen uns erarbeitet haben. - So sehen wir herüberleben bis in die Knochen hinein dasjenige, was der Mensch aus sich ge­macht hat; daher müssen wir auch erkennen, daß alles, was sich auf die Erkenntnis der eigentlichen Knochenbildung des Schädels bezieht, auf die Erkenntnis der Erhöhungen und Vertiefungen im Schädelbau, daß das schließen läßt auf den Charakter, daß das individuell ist. Es ist Hohn, wenn man glaubt, allgemeine Schemen, allgemeine typische Grundsätze aufstellen zu können für die Schädelkunde. Nein, so etwas gibt es nicht. Für jeden Menschen gibt es eine besondere Schädelkunde; denn dasjenige, was er als Schädel mitbringt, bringt er sich aus vorhergehenden Le­ben mit, und das muß man bei jedem Menschen erkennen. So gibt es hierfür keine allgemeine Wissenschaft. Nur Ab­straktlinge, die alles auf Schemen bringen wollen, die kön­nen Schädelkunde im allgemeinen Sinn begründen; wer da weiß, was den Menschen bis in die Knochen hinein formt, wie das eben geschildert wurde, der wird nur von einer in­dividuellen Erkenntnis am Knochenbau des Menschen spre­chen können. Damit haben wir auch etwas in dieser Schä­delbildung, was bei jedem Menschen anders ist, und wofür wir den Grund nimmer im Einzelleben finden. In der Schä­delbildung können wir greifen dasjenige, was man Wieder-verkörperung nennt; denn in den Formen des menschlichen Schädels greifen wir, was der Mensch in früheren Leben aus sich gemacht hat. Da wird Reinkarnation oder Wieder-verkörperung handgreiflich. Man muß nur erst wissen, wo man die Dinge in der Welt aufzugreifen hat.

So sehen wir, daß man dasjenige, was in einer gewissen

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Weise aus dem menschlichen Charakter herauswächst, bis in das härteste Gebilde hinein seinem Ursprung nach zu suchen hat, und wir sehen im menschlichen Charakter ein wunderbares Rätsel vor uns. Wir haben damit begonnen, diesen menschlichen Charakter zu schildern, wie das Ich ihn prägt in den Gebilden der Empfindungsseele, Verstandes-oder Gemütsseele und Bewußtseinsseele. Wir sahen dann, wie dasjenige, was das Ich in ihnen erarbeitet, sich in die äußere Leiblichkeit hineinprägt, bis in die Geste, in die Physiognomie, ja bis in die Knochen hinein. Und indem das Menschenwesen von der Geburt bis zum Tode und zu einer neuen Geburt geführt wird, sehen wir, wie das innere Wesen am Äußern arbeitet, im Menschen einen Charakter dem inneren Seelenleben aufprägend, und auch dem, was das äußere Bild und Gleichnis für dieses Innere ist, dem äußeren Leib. Und so verstehen wir wohl, wie es uns tief ergreifen kann, wenn wir im Laokoon den äußeren Leibes-charakter auseinanderfallen sehen in die einzelnen Glieder; wir sehen gleichsam das Verschwinden des Charakters, der zum Wesen des Menschen gehört, an der äußeren Geste an diesem Kunstwerk. Hier haben wir vor uns, was uns so recht das Herausarbeiten in die Materie erweist, und um­gekehrt wiederum etwas, was uns zeigt, wie die Anlagen, die wir von früher mitgebracht haben, uns bestimmen, wie in der Tat für ein Leben lang die materielle Ausgestaltung für den Geist bestimmend ist, und wie der Geist, indem er das Leben zersprengt, in einem neuen Leben jenen Charak­ter zum Ausdruck bringen kann, den er als Frucht für das neue Leben erwirbt. Da kann uns eine Stimmung ergreifen, die anklingt an jene Stimmung Goethes, die er empfand, da er Schillers Schädel in der Hand hielt und sagte: In den

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Formen dieses Schädels sehe ich materiell den Geist ein­geprägt; charaktervoll eingeprägt, was mir entgegentönte in den Dichtungen Schillers, in den Worten der Freund­schaft, die so oftmals zu mir geklungen haben; ja, hier sehe 1ch, wie Geist in der Materie arbeitete. Und wenn ich die­ses Stück Materie betrachte, so zeigt es mir in seinen edlen Formen, wie frühere Leben dasjenige vorbereiteten, was mir in Schillers Geist so gewaltig entgegenleuchtete.

So lehrt uns diese Betrachtung als eigene Überzeugung den Ausspruch wiederholen, den Goethe der Betrachtung von Schillers Schädel gegenüber getan hat:

«Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen,

Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare,

Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen,

Wie sie das Geist-Erzeugte fest bewahre.»

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DAS WESEN DES EGOISMUS

Irgendwo und irgendwann wurde einmal eine Gesellschaft begründet. Sie hatte auf ihr Programm geschrieben:

«Die Abschaffung des Egoismus»; das heißt sie wollte ihre Mit­glieder dazu verpflichten, sich zur Selbstlosigkeit, zur Frei­heit von allem Egoismus zu erziehen. Sie hatte, wie das alle Gesellschaften tun, sich ihren Präsidenten gewählt, und es handelte sich nun darum, dasjenige, was der Haupt-grundsatz dieser Gesellschaft war, von ihr aus in der Welt zu propagieren. Es wurde in dieser Gesellschaft in der man­nigfaltigsten Weise immer wieder und wieder betont, daß keines der Mitglieder irgendwo, namentlich innerhalb der Gesellschaft, auch nur den geringsten egoistischen Wunsch für sich haben sollte; oder gar laut werden lassen sollte irgend etwas von einem egoistischen Begehren und der­gleichen.

Nun war das gewiß eine Gesellschaft mit einem außer­ordentlich lobenswerten Programm und mit einem hohen menschlichen Ziel. Aber man konnte nicht zugleich sagen, daß die Mitglieder in sich selber suchten die Verwirklichung gerade desjenigen, was der allererste Programmpunkt war. Sie lernten kaum irgendwie kennen menschliche unego­istische Wünsche. Es spielte sich sehr häufig innerhalb der Gesellschaft das Folgende ab. Der eine sagte: «Ja, ich möchte dies und das. Das könnte mir doch von der Gesellschaft gewährt werden. Aber wenn ich zum Vorsitzenden gehe, so bringe ich einen egoistischen Wunsch vor. Das ist ganz gegen das Programm der Gesellschaft, das geht doch nicht! »

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Da sagte ein anderer: « Ganz einfach: Ich gehe für dich. Da vertrete ich deinen Wunsch und bringe etwas vor, was ganz und gar selbstlos ist. Aber sieh einmal! Ich möchte auch etwas haben. Das ist freilich auch etwas durchaus Egoistisches. Das kann man in unserer Gesellschaft nicht vorbringen nach unserem Hauptprogrammpunkt! » Da sagte nun der erste: «Wenn du für mich so selbstlos bist, so werde ich für dich auch etwas tun. Ich werde für dich zum Vor­sitzenden gehen und das verlangen, was du willst! » Und so geschah es. Erst kam der eine zum Vorsitzenden; dann, zwei Stunden später, kam der andere. Beide hatten ganz unegoistische Wünsche vorgebracht. Aber das vollzog sich nun nicht nur einmal, sondern das war eigentlich in dieser Gesellschaft so gang und gäbe. Und es konnte selten etwas Egoistisches, irgendein egoistischer Wunsch eines Mitglie­des erfüllt werden; denn er wurde immer in der selbstlose­sten Weise von dem andern vorgebracht.

Ich sagte, « irgendwo und irgendwann » gab es diese Ge­sellschaft. Selbstverständlich ist das, was ich eben charakte­risiert habe, eine durchaus hypothetische Gesellschaft. Aber wer ein wenig im Leben Umschau hält, der wird vielleicht sagen: Ein wenig ist von dieser Gesellschaft überall und immer! Es sollte ja auch das, was eben gesagt worden ist, nur vorgebracht werden, um zu kennzeichnen, wie gerade das Wort « Egoismus » eines von denjenigen ist, die im eminentesten Sinne zu Schlagworten werden können, wenn sie nicht unmittelbar in bezug auf das, was sie bezeichnen, in der Welt auftreten, sondern wenn sie in einer Maske, in einem Deckmantel auftreten und in einer gewissen Weise dadurch über sich selbst hinwegtäuschen können.

Das Schlagwort Egoimus und auch sein Gegenteil, das ja

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seit langer Zeit üblich geworden ist, der Altruismus, die Selbstlosigkeit, sollen uns heute beschäftigen. Aber nicht als Schlagwörter, sondern indem wir ein wenig in das Wesen des Egoismus eindringen wollen. Wo vom Stand­punkte der Geisteswissenschaft derlei Dinge betrachtet wer­den, handelt es sich ja immer weniger darum: Was für eine Sympathie oder Antipathie kann diese oder jene Eigen­schaft hervorrufen? Wie kann man sie nach diesem oder jenem schon einmal vorhandenen menschlichen Urteil wer­ten? sondern es handelt sich vielmehr darum, zu zeigen, wie das, worauf sich das betreffende Wort bezieht, in der menschlichen Seele oder sonst in der Realität entspringt, und in welchen Grenzen es geltend ist; und wenn es be­kämpft werden soll als diese oder jene Eigenschaft, wie weit es sich dann bekämpfen läßt durch die menschliche Natur oder die sonstigen Wesenheiten des Daseins.

Seinem Wort nach würde ja der Egoismus diejenige menschliche Eigenschaft sein, wodurch der Mensch solche Interessen im Auge hat, die der Erhöhung seiner eigenen Persönlichkeit förderlich sind; während das Gegenteil, der Altruismus, diejenige menschliche Eigenschaft wäre, welche bezweckte, die menschlichen Fähigkeiten in den Dienst An­derer, der ganzen Außenwelt zu stellen. Wie sehr man, wenn man nicht auf die Sache eingeht, sondern sich an Worte hält, gerade hier auf einem gefährlichen Boden steht, das kann eine ganz einfache Betrachtung zeigen. Nehmen wir an, irgend jemand erwiese sich als ein besonderer Wohl-täter nach dieser oder jener Seite hin. Es könnte durchaus sein, daß er ein Wohltäter nur aus Egoismus ist, vielleicht aus ganz kleinlichen egoistischen Eigenschaften, vielleicht aus Eitelkeit oder dergleichen. Damit, daß jemand so ohne

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weiteres ein « Egoist » genannt wird, ist er in bezug auf seinen Charakter noch ganz und gar nicht abgetan. Denn wenn der Mensch nur sich befriedigen will, aber lauter edle Eigenschaften hat, so daß er sich dann am besten ge­fördert sieht, wenn er den Interessen anderer dient, so kann man sich ja einen solchen « Egoisten » vielleicht gerade ge­fallen lassen. Das scheint ein Spiel mit Worten zu sein, ist es aber nicht, weil dieses Spiel mit Worten unser ganzes Leben und Dasein durchsetzt und überall, auf allen Ge­bieten des Daseins, zum Ausdruck kommt.

Für alle Dinge, die sich im Menschen finden, können wir wenigstens etwas Analoges, etwas, das als Gleichnis dienen kann, im übrigen Weltall finden. Daß wir für diese hervor­ragende Eigenschaft der menschlichen Natur gleichnisweise etwas im Weltall finden können, das mag uns ja der Schil­lersche Spruch andeuten:

« Suchst du das Höchste, das Größte, die Pflanze kann es dich lehren:

Was sie willenlos ist, sei du es wollend! - das ist's! »

Schiller stellt darin vor den Menschen das Pflanzendasein hin und empfiehlt ihm, in seinem Charakter etwas auszu­bilden, was so edel wie die Pflanze auf einer gewissen niederen Stufe ist. Und der große deutsche Mystiker Ange­lus Silesius spricht ungefähr dasselbe aus:

« Die Ros' ist ohn Warum, sie blühet, weil sie blühet,

Sie acht't nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.»

Auch da werden wir auf das Pflanzendasein hingewiesen. Die Pflanze nimmt, was sie zum Wachstum braucht, in sich auf; sie fragt nicht nach «Warum » und «Weil»; sie blüht,

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weil sie blüht, und kümmert sich nicht darum, wem sie dient. Und dennoch: weil sie ihre Lebenskräfte in sich auf­nimmt, weil sie aus der Umgebung alles herauszieht, was sie gerade für sich braucht, dadurch gerade wird sie für ihre Umgebung - schließlich auch für den Menschen - das­jenige, was sie sein kann. Sie wird das denkbar nützlichste Geschöpf, wenn sie gerade jenen Gebieten der Pflanzenwelt angehört, die dem Leben der höheren Wesen dienen kön­nen. Und es ist zwar schon oftmals gesagt worden, ist aber durchaus nicht trivial, wenn noch einmal gesagt wird:

«Wenn die Rose selbst sich schmückt,

Schmückt sie auch den Garten. »

Der Garten wird geschmückt durch die Rose, wenn sie selbst so schön wie möglich ist. Wir können das einmal verbinden mit dem Wort Egoismus und sagen: Wenn die Rose so recht egoistisch schön sein will, sich so herrlich als möglich gestalten will, wird durch sie der Garten so schön als möglich. Dürfen wir das, was sich so an einem niederen Naturreich ausdrückt, in gewisser Weise auch auf den Men­schen ausdehnen? Wir brauchen es gar nicht zu tun; viele andere haben es vor uns getan, und am schönsten hat es Goethe getan. Als Goethe ausdrücken wollte, was der Mensch im eigentlichsten Sinne des Wortes ist, wodurch er am meisten die Würde und den ganzen Inhalt seines Daseins zeigt, sprach er die Worte aus: «Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und wer­ten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt: dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt

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aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern.» Und ein andermal sagt Goethe in dem herrlichen Buche über «Winckelmann », wo auch die eben angeführten Worte stehen: « Indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervor­zubringen hat. Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ord­nung, Harmonie und Bedeutung aufruft, und sich endlich bis zur Produktion des Kunstwerkes erhebt.»

Die ganze Gesinnungsart Goethes zeigt uns aber, daß er nur spezialisiert auf den Künstler, und wie er namentlich meint: Wenn der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist, nimmt er alles zusammen, was die Welt in ihm aus­drücken kann und zeigt zuletzt der Welt aus sich selbst her­aus ihr Spiegelbild; und die Natur würde aufjauchzen, wenn sie dieses ihr Spiegelbild in der Seele des Menschen wahrnehmen und empfinden könnte! Was heißt das anders als: Alles, was uns im Weltendasein umgibt, was draußen Natur, was draußen Geist ist, konzentriert sich im Men­schen, steigt hinauf auf einen Gipfel und wird in dem ein­zelnen Menschen, in dieser menschlichen Individualität, in diesem menschlichen Ego so schön, so wahr, so vollkommen als möglich sein. Daher wird der Mensch sein Dasein am besten erfüllen, wenn er so viel als möglich heranzieht aus der Umwelt, und dieses sein Ich, sein Ego, so reich als mög­lich gestaltet. Dann eignet er sich alles an, was in der Welt ist, und was in ihm selbst zur Blüte, ja, zur Frucht des Daseins kommen kann.

Es liegt einer solchen Anschauungsweise zugrunde, daß der Mensch gar nicht genug tun kann, um wirklich in sich

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selber alles zusammenzufassen, was in der Umwelt ist, um eine Art Blüte und Gipfel des übrigen Daseins darzustel­len. Wollte man das « Egoismus » nennen, so könnte man es ja tun. Man könnte dann sagen: Das menschliche Ego ist dazu da, ein Organ zu sein für das, was sonst ewig in der übrigen Natur verborgen bliebe, und was nur dadurch zum Ausdruck kommen kann, daß es im menschlichen Geiste sich konzentriert. So möchte man sagen, daß es zum Wesen des Menschen gehört, in seinem Selbst zusammenzufassen das übrige Dasein, das um ihn herum ist. Nun liegt es aber in der Natur und im Wesen des Menschen, daß er das­jenige, was als allgemeines Gesetz draußen in den niederen Reichen zum Höchsten, zum Größten führt, in sich selbst zur Verirrung, zum Irrtum bringen kann. Das ist verbun­den mit dem, was wir menschliche Freiheit nennen. Nie­mals könnte der Mensch ein freies Dasein haben, wenn er nicht in sich selber die Fähigkeit hätte, gewisse Kräfte, die in ihm sind, in einseitiger Weise zu mißbrauchen, so daß diese Kräfte auf der einen Seite zum höchsten Dasein füh­ren, auf der anderen Seite das Dasein verkehren, vielleicht sogar zur Karikatur machen. Das kann uns durch einen einfachen Vergleich klar werden. Gehen wir noch einmal zur Pflanze zurück.

Bei der Pflanze fällt es uns gar nicht ein, im allgemeinen von Egoismus zu sprechen. Nur um uns das Gesetz des Egoismus in der ganzen Welt klar zu machen, haben wir gesagt: Was sich an den Pflanzen ausdrückt, könnte Egois­mus genannt werden. Aber bei der Pflanze sprechen wir keineswegs von Egoismus. Wenn das Pflanzendasein nicht im materialistischen Sinne, sondern dem Geiste nach be­trachtet wird, dann kann man bemerken, daß die Pflanze

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in gewisser Weise gefeit ist, überhaupt zum Egoismus zu kommen. Auf der einen Seite ist sie wohl in ihrem Dasein darauf angewiesen, sich so schön zu machen, als es ihr mög­lich ist. Und sie fragt sich nicht: Wem dient diese Schönheit? Wenn aber die Pflanze ihr ganzes Dasein in sich selber zu­sammenfaßt, wenn sie zur höchsten Entfaltung ihres Eigen-wesens aufsteigt, dann ist für sie bereits der Zeitpunkt ein­getreten, wo sie dieses Eigenwesen abgeben muß. Es ist etwas Eigentümliches um den Sinn des Pflanzendaseins. Goethe sagt sehr schön in seinen Sprüchen in Prosa (973):

« In den Blüten tritt das vegetabilische Gesetz in seine höchste Erscheinung, und die Rose wäre nur wieder der Gipfel dieser Erscheinung. Die Frucht kann nie schön sein, denn da tritt das vegetabilische Gesetz in sich (ins bloße Gesetz) zurück.» Das heißt, ihm ist klar, daß die Pflanze, wenn sie blüht, ihr eigenes Gesetz am augenscheinlichsten zum Ausdruck bringt. In dem Augenblick, wo sie blüht, muß sie aber auch bereit sein, ihr Schönstes in der Be­fruchtung abzugeben, da ist sie angewiesen, dieses ihr Selbst hinzuopfern an ihre Nachfolgerin, an den Fruchtkeim. Da­her liegt wirklich etwas Großes darinnen, daß die Pflanze in dem Augenblick, wo sie zur Ausprägung ihres Ichs kom­men würde, sich selbst hinopfern muß. Das heißt, wir sehen an diesem niederen Reiche, daß der Egoismus in der Natur bis zu einem Punkt heransteigt, wo er sich selbst vernichtet, wo er sich hingibt, um etwas Neues hervorzubringen. Was am höchsten in der Pflanze entfaltet ist, was man die Indi­vidualität, das Selbst der Pflanze nennen könnte, was mit der Blüte in voller Schönheit hervorbricht, das beginnt zu welken in dem Moment, wo der neue Pflanzenkeim her­vorgebracht ist.

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Nun fragen wir uns einmal: Ist im Menschenreiche viel­leicht etwas Ahnliches der Fall? Und in der Tat, wenn wir die Natur und das Geistesleben eben dem Geiste nach be­trachten, werden wir finden, daß im Menschenreiche etwas ganz Ähnliches der Fall ist. Der Mensch ist ja nicht nur da­zu berufen, Wesen seinesgleichen hervorzubringen, das heißt in der Gattung zu leben, sondern, was über die Gattung hinausgeht, das Leben der Individualität in sich selber zu führen. Was Egoismus beim Menschen ist, werden wir in seiner wahren Gestalt erst richtig erkennen können, wenn wir die Wesenheit des Menschen so vor uns hinstellen, wie wir das in den letzten Vorträgen kennengelernt haben.

Im geisteswissenschaftlichen Sinne betrachten wir den Menschen nicht bloß als einen physischen Leib, den ja der Mensch gemeinschaftlich hat mit der ganzen mineralischen Natur; sondern wir sprechen davon, daß der Mensch in sich trägt als ein höheres Glied seiner Wesenheit zunächst den Atherleib oder Lebensleib, den er mit allem Lebenden gemeinschaftlich hat; daß er sodann mit dem gesamten Tier-reich gemeinsam hat den Träger von Lust und Leid, Freude und Schmerz, den wir den astralischen Leib oder den Be­wußtseinsleib nennen; und wir sprechen davon, daß inner­halb dieser drei Glieder des Menschen sein eigentlicher Wesenskern lebt, das Ich. Dieses Ich müssen wir auch als den Träger des Egoismus im berechtigten und unberechtig­ten Sinne ansehen. Nun besteht alle Entwickelung des Men­schen darin, daß er von seinem Ich aus die drei übrigen Glieder seiner Wesenheit umgestaltet. Auf einer unvoll­kommenen Stufe des Daseins ist das Ich der Sklave der drei unteren Glieder, des physischen Leibes, des Ätherleibes und des astralischen Leibes. Wenn wir nun den astralischen

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Leib betrachten, können wir sagen: der Mensch folgt auf einer untergeordneten Stufe seines Daseins allen Trieben, Begierden und Leidenschaften. Aber je höher er sich ent­wickelt, desto mehr läutert er seinen astralischen Leib, das heißt, er verwandelt dasjenige, dessen Sklave er ist, in etwas, was von seiner höheren Natur, von seinem Ich aus beherrscht wird, so daß das Ich immer mehr und mehr Herrscher und Läuterer wird der übrigen Glieder der menschlichen Wesenheit. Und auch das ist schon in vorher­gehenden Vorträgen angeführt worden, daß der Mensch heute mitten in dieser Entwickelung drinnen steht und einer Zukunft entgegengeht, in welcher das Ich immer mehr Herrscher geworden sein wird über alle drei Glieder der menschlichen Natur. Denn indem der Mensch den astrali­schen Leib umwandelt, erzeugt er in demselben dasjenige, was wir das « Geistselbst » nennen, oder mit einem Aus­druck der orientalischen Philosophie « Manas » Wie der Mensch heute lebt, hat er einen Teil seines astralischen Leibes umgewandelt in Manas. Weiter wird es dem Men­schen in der Zukunft möglich sein, seinen Ätherleib um­zugestalten; und den so umgestalteten Teil des Ä therleibes nennt man den « Lebensgeist », oder die « Buddhi » mit einem Ausdruck der orientalischen Philosophie. Und wenn der Mensch Herr wird über die Vorgänge seines physi­schen Leibes, dann bezeichnen wir diesen umgewandelten Teil des physischen Leibes als «Atman » oder als den « Geistesmenschen » So blicken wir auf eine Zukunft, von der heute nur die Anfänge vor uns stehen, in welcher der Mensch bewußt von seinem Ich aus der Regeler, der Herr­scher sein wird über seine gesamte Tätigkeit.

Aber was so einmal bewußt dem Menschen zu eigen sein

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wird, das ist in der menschlichen Natur vorbereitet seit langen Zeiten. Und in einer gewissen Weise hat das Ich auch schon unbewußt oder unterbewußt gearbeitet an den drei Gliedern der menschlichen Natur. Wir finden, daß dieses Ich schon in grauer Vorzeit einen Teil des astralischen Leibes, den wir auch den Empfindungsleib nennen, umge­wandelt hat in die « Empfindungsseele »; daß umgewandelt worden ist ein Teil des Ätherleibes in dasjenige, was wir in den verflossenen Vorträgen «Verstandesseele» oder «Ge­mütsseele» nannten; und endlich ist ein Teil des physischen Leibes umgewandelt zum Dienste des Ichs, das ist die « Be­wußtseinsseele » So haben wir drei Glieder der mensch­lichen Wesenheit als Innerlichkeit der menschlichen Natur:

die Empfindungsseele, die im Grunde genommen wurzelt im Empfindungsleib; die Verstandes- oder Gemütsseele, die im Ätherleibe wurzelt; und die Bewußtseinsseele, die im physischen Leibe wurzelt. Des Menschen Innerlichkeit interessiert uns heute vor allen Dingen insoweit, als das Verhältnis seines Empfindungsleibes zur Empfindungsseele in Betracht kommt.

Wenn wir einen Menschen heranwachsen sehen von der Geburtsstunde an und betrachten, wie immer mehr und mehr seine Fähigkeiten sich wie aus dunklen Untergründen seiner Leiblichkeit herausentwickeln, so können wir sagen:

Da arbeitet sich an das Tageslicht herauf des Menschen Emp­findungsseele. Denn den Empfindungsleib hat der Mensch auferbaut erhalten aus der ganzen Umgebung seines Seins heraus. Das können wir verstehen, wenn wir uns wieder an ein Goethewort erinnern: Das Auge ist vom Lichte für das Licht gebildet. Wenn wir irgendein menschliches Sinnes­organ nehmen, durch das der Mensch zum Bewußtsein der

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physischen Außenwelt kommt, so gilt nicht nur der eine, von Schopenhauer einseitig hervorgekehrte Satz, daß das Licht nicht wahrgenommen werden könnte, wenn der Mensch kein Auge hätte, sondern auf der andern Seite gilt ebenso der Satz: Wenn es kein Licht gäbe, könnte es kein Auge geben. In unendlich langen Zeiträumen hat - wie Goethe sagt - das Licht, das überall ausgebreitet ist, am Organismus gearbeitet, indem es aus unbestimmten Anfän­gen jenes Organ herausgearbeitet hat, das heute fähig ist, das Licht zu schauen. Das Auge ist durch das Licht am Lichte für das Licht gebildet. Wenn wir auf unsere Umwelt schauen, können wir darin die Kräfte sehen, die am Men­schen die Fähigkeiten herausgearbeitet haben, dieser Um­welt sich bewußt zu werden. So ist der ganze Empfindungs­leib, das ganze Gefüge, wodurch wir in ein Verhältnis kom­men zur Umwelt, herausgearbeitet aus den lebendigen Kräften der Umwelt. Daran haben wir als Menschen keinen Anteil. Ein Produkt, eine Blüte der Umwelt ist der astra­lische Leib. Darinnen erscheint nun im Empfindungsleib die Empfindungsseele. Diese Empfindungsseele ist dadurch entstanden, daß das Ich gewissermaßen herausgliederte, plastisch herausgestaltete aus der Substanz des Empfin­dungsleibes die Empfindungsseele. So lebt das Ich im Emp-findungsleib und saugt gleichsam die Substanz heraus für die Empfindungsseele.

Nun kann dieses Ich in zweifacher Weise arbeiten: Ein­mal so, daß es in sich selber jene innerlichen seelischen Fähigkeiten der Empfindungsseele entwickelt, die im Ein­klang stehen mit den Fähigkeiten und Eigenschaften des Empfindungsleibes und damit harmonisch zusammenklin­gen. Das kann uns klar werden an einem Beispiel, das wir

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der Erziehung entnehmen können. Gerade die Erziehung gibt uns die schönsten und praktischsten Grundsätze für das, was Geisteswissenschaft ist.

Der Empfindungsleib ist herausgebaut aus der Um­gebung. An dem Empfindungsleib arbeiten diejenigen, welche als Erzieher um das Kind herum sind vom Anfang des physischen Daseins an. Sie können dem Empfindungs-leib dasjenige übermitteln, was das Ich anweist, solche seelischen Eigenschaften zu haben, die mit den Eigenschaf-~ ten des Empfindungsleibes im Einklang stehen. Aber es kann auch etwas an das Kind herangebracht werden, was widerspricht den Eigenschaften des Empfindungsleibes. Wenn das Kind so erzogen wird, daß es in der lebendigsten Weise Interesse hat für alles, was durch seine Augen in es eintritt, wenn es in der richtigen Weise sich zu erfreuen vermag an den Farben und Formen, oder wenn es sich in der richtigen Weise zu beseligen weiß an dem Ton, wenn es allmählich Harmonie hervorzubringen vermag zwischen dem, was von außen hereinscheint, und dem, was in der Empfindungsseele auftaucht als Freude, als Lust, als Anteil und Interesse am Dasein, dann ist das, was von innen kommt, ein richtiges Spiegelbild des Daseins; dann kann das zusammenklingen, was in der Seele lebt, mit dem äuße­ren Dasein. Dann können wir davon sprechen, daß der Mensch nicht nur in sich lebt, nicht nur fähig ist, in seinem Empfindungsleib eine Empfindungsseele auszugestalten, sondern daß er fähig geworden ist, wieder aus sich heraus-zugehen; da ist er nicht nur imstande, dasjenige, wozu ihn die Natur befähigt, zu sehen, zu hören, sondern da ist er imstande, zu dem Gesehenen, zu dem Gehörten wieder hinauszugehen, sich zu ergießen in die Umwelt, zu leben in

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dem, was ihm sein Empfindungsleib vermittelt. Dann ist nicht nur Einklang zwischen Empfindungsleib und Emp­findungsseele vorhanden, dann ist Einklang vorhanden zwischen der Umwelt und den Erlebnissen der Empfin­dungsseele. Dann ergießt sich die Empfindungsseele in die Umwelt; dann ist der Mensch wirklich eine Art Spiegel des Universums, eine Art Mikrokosmos, eine kleine Welt, die sich - nach Goethe - mit Behagen fühlt in der weiten, schö­nen und großen Welt.

Wir können noch ein anderes Beispiel gebrauchen: Wenn ein Kind heranwachsen würde auf einer einsamen Insel, fern von jeder menschlichen Gesellschaft, dann könnte es gewisse Fähigkeiten nicht in sich entwickeln. Es würde nicht Sprache, nicht die Fähigkeit des Denkens, nicht jene edlen Eigenschaften entwickeln, die nur aus dem Zusammenleben mit Menschen aufleuchten können in der menschlichen Seele. Denn das sind Eigenschaften, die sich im Innern des Men­schen, in der Seele entwickeln.

Nun kann der Mensch sich so entwickeln, daß er mit sei­nen Eigenschaften wieder herausgeht aus sich selber, einen Einklang schafft mit der Umwelt; oder aber er kann auch diese Eigenschaften in sich selber verhärten, sie in sich selber zum Vertrocknen bringen. Zum Vertrocknen bringt der Mensch dasjenige, was in der Empfindungsseele auftaucht, wenn er zwar die Eindrücke der Außenwelt, Farbe, Ton und so weiter in sich aufnimmt, aber in sich selber kein Echo erweckt, um mit Lust und Interesse die Eindrücke wieder in die Außenwelt hinauszuergießen. Verhärtet wird der Mensch in sich, wenn er das, was er am Umgange mit Menschen entwickeln kann, nicht wiederum anwendet, um es im Zusammenhange mit Menschen auszuleben. Wenn er

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sich abschließt, nur in sich selber damit leben will, dann kommt er in eine Disharmonie zwischen sich und dem, was ihn umgibt. Eine Kluft richtet er auf zwischen seiner Empfindungsseele und seinem Empfindungsleib. Wenn der Mensch sich abschließt, nachdem er zuerst die Früchte der Menschheitsentwickelung genossen hat, wenn er das, was nur innerhalb seiner Mitmenschenwelt gedeihen kann, nicht wieder in den Dienst der Menschheit stellt, dann wird eine Kluft errichtet zwischen dem Menschen und der Umwelt; sei es der ganzen großen Umwelt, wenn der Mensch sich ohne Interesse der Außenwelt gegenüber stellt; sei es der menschlichen Umwelt, von der er die schönsten Interessen empfangen hat. Und die Folge ist, daß der Mensch in sich selber vertrocknet. Denn was von außen an den Menschen herankommt, kann nur den Menschen fördern und beleben, wenn es nicht losgerissen wird von seiner Wurzel. Es ist so, wie wenn der Mensch losgerissen würde von seiner Le­benswurzel, wenn er nicht sein Seelisches in seine Außen­welt ergießen wollte. Und wenn der Mensch seinen Ab­schluß von der Außenwelt immer mehr und mehr steigert, so ist das Dahinwelken, der Tod des seelischen Lebens die Folge. Das ist gerade die schlimme Seite des Egoismus, die wir jetzt zu charakterisieren haben, die dadurch entsteht, daß der Mensch mit seinem Ich so arbeitet, daß er eine Kluft aufrichtet zwischen sich und der Umwelt.

Wenn der Egoismus diese Form annimmt, daß der Mensch nicht die Blüte der ganzen Außenwelt ist und nicht fortwährend ernährt und belebt wird von der Außenwelt, dann führt er zu seinem eigenen Ersterben. Das ist der Rie­gel, der im allgemeinen dem Egoismus vorgeschoben ist. Und hier zeigt sich, worinnen das Wesen des Egoismus be­steht

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: es besteht auf der einen Seite darin, daß in der Tat das Weltall, das um uns herum ist, in dem Menschen selber einen Gipfel und eine Blüte erlangt dadurch, daß der Mensch die Kräfte dieses Weltalls in sich hineinziehen kann; daß er aber andererseits dasjenige bewußt ausführen muß, was die Pflanze unbewußt ausführt. In dem Augenblick, wo die Pflanze in sich selbst ihr Wesen ausprägen soll, führt dasjenige, was hinter der Pflanze ist, das Egoistische der Pflanze in eine neue Pflanze über. Aber der Mensch als ein selbstbewußtes Wesen, als ein Ich-Träger, ist in die Lage versetzt, diesen Einklang in sich selber herzustellen. Was er von außen empfängt, das soll er auf einer gewissen Stufe wiederum hingeben, sozusagen ein höheres Ich in seinem Ich gebären, das nicht in sich verhärtet, sondern das mit der ganzen übrigen Welt sich in Einklang setzt.

Diese Erkenntnis kann dem Menschen auch durch die Betrachtung des Lebens kommen, daß der Egoismus, wenn er sich einseitig ausbildet, sich in sich selber ertötet. Die gewöhnliche Betrachtung des Lebens kann dazu führen, dies zu bewahrheiten. Wir brauchen nur einmal auf die­jenigen Menschen zu schauen, die keinen lebendigen Anteil haben können an der großen Gesetzmäßigkeit und an der Schönheit der Natur, aus der heraus der menschliche Or­ganismus selber gebildet ist. 0 wie leidvoll muß es den­jenigen berühren, der die ganzen Zusammenhänge betrach­ten kann, wenn die Menschen gleichgültig an all dem vor­übergehen, da doch ihr Auge, ihr Ohr aus dem Äußeren entstanden ist, wenn sie sich dem verschließen, worinnen die Wurzeln ihres Daseins liegen und nur in sich selber grübelnd sein wollen. Da sehen wir, wie das Dasein, das in dieser Weise in sich selber verkehrt wird, den Menschen

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auch wiederum straft. Der Mensch, der achtlos an dem vor­beigeht, dem er sein eigenes Dasein verdankt, der geht als ein blasierter Mensch durch die Welt; und die Folge ist, daß er von Begierde zu Begierde eilt und gar nicht er­kennt, daß er dasjenige, was ihn befriedigen soll, sucht in einem unbestimmten Nebulosen, während er selber sein Wesen ausgießen sollte in dasjenige hinein, aus dem das Seinige genommen ist. Wer durch die Welt geht und sagt:

Ach, die Menschen sind mir so zur Last, ich kann gar nichts mit ihnen anfangen; ein jeder stört mir mein Dasein; ich bin viel zu gut für diese Welt! der sollte nur bedenken, daß er dasjenige verleugnet, aus dem er selber hervorgewachsen ist. Wäre er auf einer einsamen Insel aufgezogen worden ohne die Menschheit, für die er sich zu gut hält, er wäre dumm geblieben, er hätte gar nicht die Fähigkeiten ent­wickelt, die er hat. Was er an sich so groß und lobenswert findet, könnte nicht da sein ohne diejenigen Menschen, mit denen er nichts anfangen kann. Er müßte sich klar sein, daß er nur durch seine Willkür das, was in ihm lebt, ab-trennt von seiner Umgebung, daß er dasjenige, was sich so auflehnt gegen die Umgebung, gerade der Umgebung zu verdanken hat. Wenn der Mensch sich so auflehnt gegen Natur- und Menschendasein, erstirbt in ihm nicht nur das Interesse für Natur- und Menschendasein, sondern dann verwelkt in ihm die Lebenskraft; dann geht er durch ein ödes, unbefriedigtes Dasein. Alle diejenigen Existenzen, die in Weltschmerz schwelgen, weil sie nirgends Interesse fassen können, die sollten sich einmal fragen: Wo ist der Grund meines Egoismus? Hier zeigt sich aber auch, daß es im Weltall ein Gesetz gibt: die Selbstkorrektur alles Da­seins. Wo der Egoismus verkehrt auftritt, da führt er zur

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Verödung des Daseins. Wenn der Mensch ohne Anteil an seinen Mitmenschen und an der übrigen Welt durch das Leben geht, dann läßt er nicht nur seine Kräfte ungehoben, die er aufwenden könnte für Welt und Dasein, sondern er verödet und vernichtet sich selber. Das ist das Gute am Egoismus, daß er, wenn er auf die Spitze getrieben wird, den Menschen zermalmt.

Wenn wir das große Gesetz, das wir aus dem Wesen des Egoismus gewonnen haben, jetzt anwenden auf die ver-~ schiedenen Fähigkeiten der menschlichen Seele, können wir jetzt zum Beispiel fragen: Wie wirkt nun der menschliche Egoismus zurück auf die Bewußtseinsseele, wodurch der Mensch zum Wissen, zur Erkenntnis seiner Umwelt kommt? Mit anderen Worten: Wann kann nur eine Erkenntnis wirklich fruchtbar sein? Nur dann kann eine Erkenntnis wirklich fruchtbar sein, wenn sie den Menschen in Ein­klang bringt mit der ganzen übrigen Welt; das heißt nur diejenigen Begriffe und Ideen sind wirklich belebend für die menschliche Seele, die genommen sind aus der Umwelt, aus dem lebendigen Weltbild. Nur wenn wir eins werden mit der Welt, wird diese Erkenntnis belebend sein. Daher ist alle Erkenntnis, welche von der Seele loskommt, welche vor allen Dingen die großen Wahrheiten des Daseins Schritt für Schritt sucht, so gesundheitsfördernd für die Seele -und von da aus auch für den äußeren physischen Leib des Menschen. Dagegen ist alles, was uns herausbringt aus dem lebendigen Zusammenhang mit der Welt, alles Grübeln in sich selber, was nur in sich hineinbrütet, etwas, was uns in Mißklang bringt mit der ganzen übrigen Welt, uns in uns selber verhärtet. Hier ist wiederum Gelegenheit, hinzuwei­sen auf das weit und breit vorhandene Mißverständnis des

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Wortes «Erkenne dich selbst!» welches seine Bedeutung hat für alle Zeiten. Erst wenn der Mensch begriffen hat, daß er der ganzen Welt angehört, daß sein Selbst nicht nur innerhalb seiner Haut liegt, sondern über die ganze Welt ausgebreitet ist, über Sonne, Sterne, über alle Wesen der Erde, und daß sich dieses Selbst nur einen Ausdruck verschafft innerhalb seiner Haut, erst wenn er seine Ver­wobenheit mit der ganzen Welt erkannt hat, kann er den Spruch anwenden: « Erkenne dich selbst! » Dann ist Selbst­erkenntnis Welterkenntnis. Wenn er sich aber nicht vorher damit durchdrungen hat, ist er genau so gescheit wie der einzelne Finger, der etwa glauben wollte, er könnte ein eigenes Selbst entfalten ohne den Organismus. Schneiden Sie ihn ab, so wird er ganz gewiß in drei Wochen kein Finger mehr sein. Der Finger gibt sich nicht der Illusion hin, daß er ohne den Organismus bestehen kann. Nur der Mensch meint, daß er ohne Zusammenhang sein könnte mit der Welt. Welterkenntnis ist Selbsterkenntnis, und Selbsterkenntnis ist Welterkenntnis. Und alles Brüten in sich selber ist nur ein Zeichen, daß wir nicht von uns los­kommen können.

Daher ist es ein ungeheurer Unfug, der gerade heute in gewissen theosophischen Kreisen getrieben wird, wenn man sagt: Nicht in der Welt draußen, nicht in den vom Geist durchwobenen Erscheinungen, sondern in dem eige­nen Selbst liege die Lösung der Daseinsrätsel. « Den Gott in der eigenen Brust finden», so hört man heute manche An­weisung geben. « Ihr braucht euch nicht zu bemühen, drau­ßen im Weltall nach Offenbarungen des Weltgeistes zu suchen; blickt nur in euch selber hinein, da findet ihr schon alles! » Eine solche Anweisung erweist dem Menschen einen

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recht schlechten Dienst; sie macht ihn hochmütig, egoistisch in bezug auf die Erkenntnis. Dadurch kommt es denn, daß gewisse theosophische Richtungen, statt den Menschen zur Selbstlosigkeit zu erziehen, statt ihn loszulösen von seinem eigenen Selbst und in Verbindung zu bringen mit den gro­ßen Daseinsrätseln, ihn in sich selber verhärten, wenn sie behaupten, er könne die ganze Wahrheit und die ganze Weisheit in sich selber finden. An den Hochmut, an die Eitelkeit der Menschen kann man appellieren, wenn man sagt: Ihr braucht nichts zu lernen in der Welt; ihr findet alles in euch selber! An die Wahrheit appelliert man nur, wenn man zeigt, daß der Einklang mit der großen Welt uns dahin führt, wo der Mensch in sich selber größer und dadurch innerhalb der Welt größer werden kann.

So ist es auch mit dem, was wir das menschliche Gefühl, den ganzen Inhalt der menschlichen Gemüts- oder Ver­standesseele nennen können. Das wird kräftiger, wenn der Mensch eine Harmonie herzustellen weiß zwischen sich und der Außenwelt. Nicht dadurch kann der Mensch stark und kräftig werden, daß er vom Morgen bis zum Abend darüber nachbrütet: Was soll ich jetzt denken? Was soll ich jetzt tun? Was tut mir nun wieder weh? und so weiter, sondern dadurch, daß er auf sein Herz wirken läßt, was an Schönheit und Größe in der ganzen Umgebung ist, daß er Verständnis und Interesse hat für alles, was in andern Herzen warm erglüht, oder was andere Menschen entbeh­ren. In dem Aufsteigenlassen derjenigen Gefühle, welche Verständnis, lebendigen Anteil entwickeln mit unserer Um­welt, bilden wir Lebenskräfte in der Gefühlswelt in uns selber aus. Da überwinden wir den engherzigen Egoismus und erhöhen und bereichern unser Ich, indem wir es in

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Einklang stellen in dem wahren Egoismus mit unserer Um­welt. Das kommt insbesondere zum Ausdruck, wo das menschliche Wollen in Betracht kommt, die eigentliche Be­wußtseinsseele. So lange der Mensch nur wollen kann für sich selber, so lange seine Willensimpulse nur das anstre­ben, was seinem eigenen Wesen förderlich ist, wird er sich immer in sich unbefriedigt fühlen. Erst wenn er in der Außenwelt sieht das Spiegelbild seines Willensentschlusses, wenn sich da die Verwirklichung seiner Willensimpulse ab­spielt, kann er sagen, daß er sein Wollen mit dem in Ein­klang gebracht hat, was in der Umwelt geschieht. Da ist es in der Tat so, daß unsere eigene Stärke und Kraft nicht an dem ausgebildet wird, was wir für uns selber wollen, sondern daß wir wollen für die Umwelt, für die anderen Menschen; daß sich unser Wille realisiert und als Spiegel­bild wieder in uns hereinscheint. Wie das Licht das Auge aus uns herausbildet, so bildet unsere Seelenstärke aus uns selber heraus die Welt unserer Taten, unseres Wirkens.

So sehen wir, wie der Mensch als selbstbewußtes Wesen durch eine richtige Erfassung seines Ich, seines Ego, den Einklang herstellt mit dem, was wir die Außenwelt nen­nen, bis er aus sich herauswächst und das vollzieht, was wir nennen können die « Geburt eines höheren Menschen», und er etwas in sich hervorbringt, wie die Pflanze auf einer niederen Stufe aus sich ein neues Wesen hervorbringt da, wo sie vor der Gefahr steht, sich selber zu verhärten. So müssen wir das Wesen des Egoismus erfassen. Gerade das Ich, das sich befruchten läßt von der Umwelt, das auf einem Gipfel des Daseins ein neues Ich hervorbringt, wird dazu reif sein, überzufließen in den Taten, welche sich sonst nur ausdrücken können in wertlosen Forderungen, in wertlosen

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sittlichen Postulaten. Denn nur durch Welterkenntnis wird ein Wollen entfacht, das sich auch wieder auf die Welt beziehen kann. Durch irgendwelche Programmpunkte einer Gesellschaft wird man niemals zur Erfüllung sittlicher For­derungen kommen können, und wenn noch so viele Ge­sellschaften die allgemeine Menschenliebe zu ihrem ersten programmpullkt haben. Alles gewöhnliche Predigen von Menschenliebe nimmt sich da nicht anders aus, als wenn ein Ofen in einem kalten Zimmer steht und man zu ihm sagt: « Lieber Ofen, deine sittliche Ofenpflicht ist es, das Zimmer warm zu machen! » Da könnten Sie sich stunden­lang, tagelang hinstellen,... dem Ofen wird es gar nicht ein-fallen, das Zimmer warm zu machen. So fällt es Menschen gar nicht ein, Menschenliebe zu üben, wenn Sie auch jahr­hundertelang predigen, daß sich die Menschen lieben sollen. Führen Sie aber das menschliche Ego zusammen mit dem ganzen Welteninhalt, lassen Sie den Menschen Anteil ge­winnen an dem, was zuerst hervorbricht aus den physischen Blumen, aus all den Schönheiten der Natur, dann werden Sie schon sehen, daß diese Anteilnahme auch wiederum die Grundlage ist für den höheren Anteil, den der Mensch am Menschen gewinnen kann. Und dadurch, daß der Mensch menschliche Wesenheiten, menschliche Naturen kennen lernt, dadurch lernt er in der Tat, wenn er Auge in Auge dem andern gegenübersteht, Verständnis zu haben für seine Fehler, für seine Vorzüge.

Solche Weisheit, die herausgeboren ist aus lebendiger Welteinsicht, geht über in das Blut, in die Taten, in den Willen. Und was man « Menschenliebe » nennt, das wird geboren aus solcher Weisheit heraus. Gerade so wie Sie gar nicht schwatzen brauchen vor dem Ofen: « Lieber Ofen,

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es ist deine Pflicht, das Zimmer warm zu machen! » sondern einfach Holz und Feuer hineinlegen und einheizen, so soll­ten Sie dem Menschen Holz und Feuer geben, die seine Seele entzünden, erwärmen und durchleuchten: das ist lebendige Welterkenntnis, wo Verständnis der menschlichen Natur, wo harmonisches Zusammenklingen des mensch­lichen Ego mit der übrigen Außenwelt vorhanden ist. Da ersteht auch die lebendige Menschenliebe, das, was hinaus-fließen kann von Herz zu Herz, was die Menschen zusam­menführt und erkennen lehrt, daß die Taten, die wir nur für uns selber tun, uns ertöten, uns veröden, daß aber die Taten, die fördernd aufgehen im Leben des andern, ein Spiegelbild sind, das auf unsere eigene Kraft zurückgeht. So wird durch den richtig verstandenen Egoismus unser Ich reich und entwicklungsfähig, wenn wir so viel als möglich unser eigenes Selbst ausleben an dem Selbst des andern, wenn wir nicht nur Eigengefühle, sondern so viel als mög­lich Mitgefühle entwickeln. So betrachtet die Geisteswissen-schaft das Wesen des Egoismus.

Alle diejenigen, welche in ernster, würdiger Weise über das Dasein nachgedacht haben, hat vor allen Dingen das Wesen dessen, was wir heute berührt haben, im tiefsten Sinne interessiert. Das Wesen des Egoismus mußte die höchststehenden Menschen gerade in der Zeit interessieren, als sich der Mensch losgerissen hatte aus gewissen Bezie­hungen zu seiner Umgebung. Das achtzehnte Jahrhundert ist ja dasjenige, wo des Menschen Individualität sich los-rang aus der Umgebung. Einer derjenigen, die sich mit dem Problem des menschlichen Egoismus, des menschlichen Ich, befaßt haben, ist Goethe. Und die eigentliche Dichtung des Egoismus hat er uns gegeben wie ein Beispiel aus der

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Welt für das, was er über das Wesen des Egoismus gedacht hat. Diese Dichtung ist sein « Wilhelm Meister».

In ähnlicher Weise, wie ihn der Faust durch das Leben begleitet hat, so hat auch die Dichtung von « Wilhelm Meisters Lehrjahren » und die Fortsetzung als « Wilhelm Meisters Wanderjahre » Goethe durch das Leben begleitet. Bereits in den siebziger Jahren des achtzehnten Jahrhun­derts hat Goethe die Aufgabe in sich gefühlt, das eigen­artige Leben des Wilhelm Meisters als eine Art Abbild seines Lebens zu gestalten; und im höchsten Alter, als er bereits am Vorabend seines Todes stand, hat er diese zweite Dichtung in den « Wanderjahren » vollendet. Nun würde es zwar zu weit führen, auf die Einzelheiten des Wilhelm Meister einzugehen. Dennoch darf ich Sie vielleicht noch ein wenig auf das Problem des Egoismus skizzenhaft auf­merksam machen, wie es uns bei Goethe entgegentritt.

Man könnte sagen: So recht einen raffinierten Egoisten schildert Goethe in seinem Wilhelm Meister. Herausgebo-~ ren ist Wilhelm Meister aus dem Kaufmannsstande. Aber er ist egoistisch genug, um nicht, was ihm doch als Pflicht bedeutet wird, in diesem Beruf zu bleiben. Was will er denn eigentlich? Es zeigt sich gerade, daß er das eigene Selbst so hoch als möglich entwickeln will, so frei als mög­lich aus sich herausgestalten will. Eine Art vollkommener Mensch zu werden, das lebt in ihm als dunkle Ahnung. Nun führt Goethe diesen Wilhelm Meister durch die ver­schiedensten Lebensschicksale, um zu zeigen, wie das Leben wirkt an dieser Individualität, um sie höher zu bringen. Zwar weiß Goethe ganz genau, daß Wilhelm Meister her­umgetrieben wird durch allerlei Lebensverhältnisse und doch nicht an ein ganz bestimmtes Ziel kommt. Daher

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nennt er ihn an einer Stelle einen « armen Hund »; aber zugleich sagt er, daß er doch wisse, daß ein Mensch, wenn er auch durch Dummheit und Verirrung sich hindurch-arbeiten muß, doch durch gewisse Kräfte, die nun einmal in derWelt sind, an ein gewisses Ziel oder wenigstens einen gewissen Weg geführt wird. Es ist Goethes niemals aus seiner Seele entschwundene Meinung, daß das Menschen­leben nie völlig dem Zufalle unterliegt, sondern ebenso wie alle Dinge unter Gesetzen steht, und zwar unter gei­stigen Gesetzen. Deshalb sagt Goethe: Das ganze mensch­liche Geschlecht sei als ein großes, aufstrebendes Indivi­duum zu betrachten, das sich über das Zufällige zum Herrn mache. So will Goethe zeigen, wie Wilhelm Meister immer darauf aus ist, sein Ego zu erhöhen, zu bereichern und zu vervollkommnen. Aber zu gleicher Zeit führt Goethe seinen Wilhelm Meister in Lebensverhältnisse, denen im Grunde genommen der Unterboden des tatsächlichen Lebens man­gelt. Nun könnten wir zwar aus der Natur des achtzehnten Jahrhunderts uns begreiflich machen, warum er ihn dem realen Leben entrückt. Er führt ihn nämlich in die Sphäre des Schauspielertums hinein. Er soll also nicht den einen realen Lebensberuf gehen, sondern durch Kreise, die den Schein des Lebens, das Bild des Lebens entfalten. Die Kunst selber ist ja in gewisser Beziehung ein Bild des Lebens. Sie steht nicht in der unmittelbaren Wirklichkeit drinnen; sie erhebt sich über die unmittelbare Wirklichkeit. Goethe war sich wohl bewußt, daß derjenige, der als Künstler mit sei­ner Kunst allein steht, in die Gefahr kommt, den festen Boden der Wirklichkeit zu verlieren. Es ist ein schönes Wort, daß die Muse zwar begleiten, aber nicht leiten kann durch das Leben. Zunächst überläßt sich Wilhelm Meister

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durchaus der Leitung der Kräfte, die in der Kunst liegen, und zwar in seiner besonders der auf den schönen Schein gehenden Kunst, der Schauspielkunst.

Wenn wir ein wenig dieses Leben des Wilhelm Meisters an uns vorüberziehen lassen, dann sehen wir, wie in der Tat er hin- und hergerissen wird durch Unbefriedigung und Freude. Zwei Episoden sind vor allem wichtig für das Verständnis des ersten Teils des Wilhelm Meister, der « Lehrjahre». Herumgerissen zwischen Unbefriedigung und Lebensfreude wird Wilhelm Meister in seiner Schauspieler­Umgebung. Er gelangt endlich so weit, daß er zu einer Art Mustervorstellung des « Hamlet » kommt und gerade dadurch eine gewisse Befriedigung innerhalb desjenigen Elementes erlebt, in das er hineingetrieben ist. Dadurch erhöht er sein Ich. Die zwei Episoden, die in die Lehrjahre eingestreut sind, zeigen uns aber so recht, was Goethe im Hintergrunde hat: nämlich das Wesen des Egoismus. Da ist zunächst die Episode mit der kleinen Mignon, die Wil­helm Meister bei einer etwas zweifelhaften Gesellschaft findet, und die ihn wie eine wunderbare Figur ein Stück begleitet. Es ist sehr merkwürdig, was Goethe einmal im späteren Alter zu dem Kanzler von Müller in einer bedeu­tungsvollen Weise über Mignon äußerte. Er knüpfte an ein Wort an, das Frau von Staël gebrauchte: daß alles, was über Mignon gesagt ist, eigentlich eine Episode ist, die gar nicht in die Dichtung hineingehöre. Goethe meinte: es wäre in der Tat eine Episode, und wer nur an dem äußeren Fortgang der Erzählung Interesse habe, der könne schon sagen, diese Episode könnte ja auch fortbleiben. Aber es wäre ganz unrecht, meinte Goethe, zu glauben, daß die Geschichte der Mignon nur eine Episode sei; sondern der

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ganze Wilhelm Meister sei eigentlich wegen dieser merk­würdigen Gestalt gedichtet. Nun drückte sich ja Goethe im unmittelbaren Gespräch so aus, daß er gewisse Dinge radi­kal darstellte, die nicht so wörtlich zu nehmen sind. Aber wenn wir tiefer hineingehen, können wir auch sehen, war-um er dieses Wort zu dem Kanzler von Müller sagte. In dieser Gestalt der oder des Mignon - diese kleine Figur sollte eigentlich gar keinen Eigennamen haben, denn sie sollte bedeuten der « Liebling » - stellt Goethe dar ein Menschenwesen, das gerade so lange lebt, bis sich in ihm der Keim eines solchen Egoismus ausbilden könnte, der überhaupt als Egoismus in Frage kommt. Sehr merkwürdig ist die ganze Psychologie dieser Mignon. Da entwickelt sich dieses Mädchen, entwickelt eigentlich in einer naiven Weise alles, was man nennen könnte: Aufgehen im äußeren Leben. Niemals bemerkt man an dieser Wesenheit irgend eine Eigenschaft, welche uns zeigen könnte, daß es selbst die­jenigen Dinge, die andere Menschen nur aus der Selbstsucht heraus tun, auch aus der Selbstsucht tun würde; sondern es tut sie aus der Selbstverständlichkeit seiner Natur her­aus. Man möchte sagen, dieses kleine Wesen wäre kein Mensch, wenn es nicht alles das tun würde; es ist noch so naiv, es ist noch ganz so Mensch, daß sich der Egoismus noch nicht geregt hat. In dem Augenblicke, da in Wilhelm Meister eine Lebensepisode beginnt, die das Band zerreißt, das ihn mit Mignon verbindet, da welkt sie dahin und stirbt wie die Pflanze, die auch stirbt, wenn sie einen ge­wissen Punkt des Daseins erreicht hat. Sie ist ein Wesen, das noch gar nicht Mensch ist, noch gar nicht « Ich » ist, welches das kindlich Naive, die allgemeine Menschlichkeit im Zusammenhang mit der ganzen Umwelt zum Ausdruck

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bringt. Und sie stirbt wie die Pflanze. Man könnte sagen, anwendbar ist auf Mignon wirklich der Spruch:

« Die Ros' ist ohn Warum, sie blühet, weil sie blühet,

Sie acht't nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.»

Da könnte man wirklich sagen: Zwei Dinge, von zwei ver­schiedenen Menschen gemacht, sind zwei ganz verschiedene Dinge, wenn sie auch dasselbe darstellen! Was andere aus Egoismus tun, das tut sie aus der Selbstverständlichkeit ihrer Natur heraus; und in dem Augenblick, wo in Frage kommen könnte, daß so etwas wie eine egoistische Regung in ihrer Seele erwacht, da stirbt sie. Das ist das Zauber­hafte an diesem Wesen, daß wir einen Menschen ohne Ich­heit vor uns haben, und daß sie unsern Händen entfällt, als sich der Egoismus regen könnte. Und da Goethe vor allem an dem Wilhelm Meister das Problem des Egoismus interessierte, so finden wir es begreiflich, daß ihm damals die Worte kamen: Was ihr in Wilhelm Meister suchen sollt, das findet ihr eigentlich an dem Gegenbilde, an Mi­gnon. Was in dem kleinen Geschöpf sich zeigt, gleich in dem Augenblicke ersterbend, als es da sein will, das ist es gerade, was dem Wilhelm Meister so große Schwierigkeiten macht, um sein Ich zu entwickeln, und deswegen er durch die ganze Erziehung der Lebensschule durchgeführt wer­den soll.

Dann ist eingeflochten in den Wilhelm Meister - schein­bar ohne Zusammenhang - jener Teil, der betitelt ist die «Bekenntnisse einer schönen Seele». Man weiß ja, daß diese « Bekenntnisse » fast wörtlich entnommen sind den Auf­zeichnungen der Freundin Goethes, Susanne von Kletten­berg. Was aus dem Herzen dieser Dame floß, das haben

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wir in den « Bekenntnissen einer schönen Seele » zu suchen, die wir in Wilhelm Meister finden. Da zeigt sich gerade in diesen Bekenntnissen - man könnte sagen - an einem höch­sten Punkt das Wesen des Egoismus. Und wie? Diese schöne Seele, Susanne von Klettenberg, ist ja zu hohen Stufen des menschlichen Lebens hinaufgestiegen. Aber sie zeigt gerade in diesen Bekenntnissen, wenn wir in jene hohen Regionen den Menschen hinauf verfolgen, die Gefahren des Egois­mus, die Kehrseite der Bereicherung, der Inhaltserfüllung des Ichs. Denn ihre eigene Entwickelung gibt uns Susanne von Klettenberg in den Bekenntnissen einer schönen Seele. Da zeigt sie erst, wie sie Freude hat an der Umgebung wie andere Menschen, wie aber dann eines Tages etwas in ihrer Seele erwacht, das ihr sagt: In dir lebt etwas, was dich dem Gotte in dir näher bringt! Das erste, was sie da erlebt, das ist, daß diese inneren Erlebnisse sie der äußeren Welt entfremden. Sie hat kein Interesse an der Umgebung. Sie findet überall Freude und Seligkeit und namentlich ein in­neres Glück in dem Verkehr, den sie hat mit dem, was sie innerlich ihren « Gott » nennt und erlebt. Sie zieht sich ganz in ihr Innenleben zurück. Im Grunde genommen fühlt diese schöne Seele, daß das eigentlich nichts anderes ist als ein raffinierter Egoismus. Dieses Aufdämmern eines Gei­stigen im Innern, das den Menschen der Umwelt entfrem­det, das ihn kalt und herzlos macht gegen die Umwelt, ihn herausschält aus der Umwelt, das mag ihm zunächst eine Befriedigung, ein gewisses Glück gewähren. Auf die Dauer gibt es ihm kein Glück. Denn dadurch, daß es ihn der Um­welt entfremdet, verödet es ihn in sich selber. Aber diese schöne Seele ist zugleich eine energisch in sich strebende Seele, und so kommt sie von Stufe zu Stufe. Sie kann sich

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nicht völlig loslösen von dem, was von außen kommen und die Harmonie herstellen kann. So sucht sie immer die geheimnisvollen Untergründe in den Symbolen der ver­schiedenen Religionen, um dasjenige gespiegelt zu sehen, was in ihrem Ego als ihr Göttliches aufgestiegen ist. Aber das ist ihr im Grunde genommen nicht genügend, was sie da in den äußeren Formen erleben kann. Sie will weiter. Und da wird sie zu einer merkwürdigen Stufe ihres Lebens geführt. Da sagt sie sich eines Tages: Alles, was als Mensch­heit auf unserer Erde ist, das ist dem Gotte nicht zu ge­ring gewesen, als daß er herabgestiegen wäre und sich sel­ber in einem Menschen verkörpert hätte. Und da fühlt sie die Außenwelt in diesem Momente nicht etwa erniedrigt deswegen, weil sie nicht das Geistige selber, sondern nur der Ausdruck des Geistigen ist, oder weil sie etwa gar einen Abfall des Geistigen darstellt, sondern in diesem Augen­blicke fühlt sie, daß diese Außenwelt wirklich geistdurch­drungen ist, und daß der Mensch kein Recht hat, sich los­zulösen von dem, was ihn umgibt. Da tauchte ein anderes Erlebnis auf, das ihr sagte: Wahr ist es, was im Beginne un­serer Zeitrechnung in Palästina sich zugetragen haben soll. Sie nimmt teil daran, sie erlebt selber in sich den ganzen Lebensgang des Christus Jesus bis zur Kreuzigung und zum Sterben. Sie erlebt in der Menschheit das Göttliche, und sie erlebt es so, wie sie klar schildert, daß alles äußere Bildhafte, alles, was physisch-sinnlich in Bildern auftauchen könnte, zurücktritt; daß es ein rein geistig-seelisches Erleb­nis, ein unsichtbar Sichtbares, ein unhörbar Hörbares wird. Sie fühlt sich jetzt vereinigt nicht mit einem abstrakten Göttlichen, sondern mit einer Göttlichkeit, die der Erden­welt selber angehört. Wieder aber hat sie sich in einer gewissen

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Weise entfernt und findet nicht den Weg zu den gewöhnlichen Lebensverhältnissen. Da tritt etwas an sie heran, wodurch sie imstande wird, in jedem einzelnen Na­turobjekt, in jedem Einzeldasein, in all den Verhältnissen, die uns täglich umgeben, etwas zu erblicken, was Ausprä­gung des Geistigen ist. Das betrachtet sie als eine Art höchste Stufe. - Und es ist charakteristisch für Goethe, daß er selbst eine Art Bekenntnis gefunden hat, wo er die « Bekenntnisse einer schönen Seele » mitteilen konnte.

Was wollte er daran als einen wichtigen Erziehungs-punkt für Meister zeigen? Wilhelm Meister sollte dieses Manuskript lesen und dadurch um eine Stufe höher geführt werden. Es sollte ihm gezeigt werden, daß der Mensch in sich selber ein lebendiges, reges Seelenleben gar nicht hoch genug entwickeln kann; daß er gar nicht hoch und weit genug gehen kann in dem, was man Umgang mit der gei­stigen Welt nennen kann; daß aber ein Sichabschließen von der Außenwelt nicht zu einer Befriedigung seines Daseins führen kann, und daß der Mensch erst dann die große Welt um uns herum versteht, wenn er sein reich gewordenes Inneres über die Umwelt ausgießt.

So will Goethe zeigen: Man kann die Umwelt zunächst anschauen so, wie sie ist. Da wird man das gewöhnliche Triviale sehen und wird haften an dem Alltäglichen. Da wird man vielleicht sagen: Das ist das gewöhnliche Alltäg­liche, das Geistige findet man nur in seinem Innern! Und man kann es in seinem Innern auf einer höchsten Stufe fin­den. Aber wenn man es dort gefunden hat, ist man um so mehr um seines eigenen Selbstes willen verpflichtet, wieder in die Außenwelt zu gehen. Dann findet man das, was man früher gewöhnlich gefunden hat, in seiner Geistigkeit. Dieselbe

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Welt kann vorliegen einmal dem Trivialing, und ein­mal demjenigen, der in seinem Innern den Geist gefunden hat. Der eine findet die gewöhnliche triviale Welt des heu­tigen Monismus, der andere findet in dieser selben Welt, weil er zuerst die eigenen geistigen Fähigkeiten bereichert und die Organe in sich entwickelt hat, dasGeistige hinter allemSinn­lichen. So ist für Goethe diese Innenentwickelung ein Um­weg, um Welterkenntnis zu gewinnen. Das stellt vor allem jene Seele dar, die Goethe in dem Wilhelm Meister charak­terisiert. Wilhelm Meister wird gerade dadurch vorwärts gebracht, daß geheimere Vorgänge des Lebens auf ihn ein­wirken. Weniger sind es die äußeren Erlebnisse, als gerade das Sich-lebendig-Hineinversetzen in die Erlebnisse und in den Entwickelungsgang einer solchen anderen Seele.

Man hat an Goethes Wilhelm Meister getadelt, daß hin­ter ihm steht, nachdem die « Lehrjahre » des Wilhelm Meister zu Ende gehen, so etwas wie eine geheime Gesell­schaft, die für ihn selber unsichtbar den Menschen leitet. Man hat gesagt, das könnte den heutigen Menschen nicht mehr interessieren; so etwas gab es nur im achtzehnten Jahrhundert. Aber für Goethe lag hinter allem etwas ganz anderes. Es sollte gezeigt werden, daß das Ego des Meister wirklich den Weg finden sollte durch die verschiedenen Labyrinthe des Lebens, und daß eine gewisse geistige Füh­rung in der Menschheit vorhanden ist. Was uns in Wilhelm Meister als die « Gesellschaft des Turmes » entgegentritt, durch die Wilhelm Meister geleitet wird, das sollte nur eine Einkleidung sein der geistigen Mächte und Kräfte, welche den Menschen führen, wenn auch sein eigener Le­bensweg durch « Dummheit und Verwirrung gehen möge »; so wird Meister weiter geführt durch unsichtbare Mächte.

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In unserer Zeit wird ja über solche Dinge recht von oben herunter abgesprochen. Aber in unserer Zeit haben ja auch die Philister das einzige Recht gepachtet, über solche Per­sönlichkeiten, wie Goethe zum Beispiel, ein abschließendes Urteil zu fällen. Wer die Welt kennt, der wird zwar zu­geben: Niemand kann in einem Menschen mehr finden, als er selber in sich hat. Und so könnte das jeder gegenüber Goethe behaupten. Aber just der Philister behauptet das nicht; sondern er findet alles, was in Goethe ist. Und wehe dem, der etwas anderes behauptet. Denn er hat die ganze Weisheit in sich und kann die ganze Weisheit überschauen! Selbstverständlich wird dadurch Goethe zum Philister! Das ist nicht Goethes Schuld.

So wird Wilhelm Meister weitergeführt in dem zweiten Teil, in den « Wanderjahren». Nun haben sich Philister und Nichtphilister über das Kompositionslose und Un­künstlerische der Wanderjahre aufgeregt. Ja, es ist etwas Arges, was uns Goethe da aufgetischt hat. Da hat er auf der Höhe seines Lebens aus seinen eigenen Lebenserfahrun­gen heraus darstellen wollen, wie ein Mensch durch die verschiedensten Labyrinthe des Lebens durchgehen kann. Er hat in gewisser Weise ein Spiegelbild von sich selber darstellen wollen. Und er sagt auch, wie das zustandege­kommen ist. Zunächst hatte er sich mit dem ersten Teil der « Wanderjahre » recht viel Mühe gegeben. Wir wollen nichts beschönigen. Dann fing man aber an mit dem Druck, bevor eben das weitere fertig war. Und nun stellte sich heraus, daß der Drucker schneller setzen als Goethe schrei­ben konnte. Goethe führte nun skizzenhaft die Handlung fort. Er hatte in früheren Jahren verschiedenes geschrie­ben an Märchen und Novellen, so zum Beispiel die Geschichte

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von der « Heiligen Familie», die Geschichte von dem « nußbraunen Mädchen», auch das « Märchen von der neuen Melusine » und anderes. Das alles ist in den « Wan­derjahren » enthalten, obwohl es ursprünglich nicht dafür bestimmt war. Da verfuhr Goethe so, daß er an verschie­denen Stellen solche Geschichten hineinlegte und schnell Übergänge machte. Das ist recht kompositionslos. Aber die Geschichte ging trotzdem nicht schnell genug. Da hatte Goethe noch manche Arbeiten von früher. Die gab er sei­nem Sekretär Eckermann und sagte ihm: Schieben Sie da­von hinein, was hineinzuschieben geht! So machte Ecker­mann zurecht, was noch da war, und die einzelnen Teile sind dann auch oft recht lose zusammengelötet. Da kann man sagen: Das ist ein ganz kompositionsloses Werk! Und wer es vom künstlerischen Standpunkt aus beurteilen will, der mag es tun. Aber schließlich hat Eckermann keine Zeile dazu geschrieben! Das sind alles Goethes Arbeiten, und zwar solche Arbeiten, in denen er immer zum Ausdruck brachte, was in seiner Seele gelebt hatte. Und immer stand vor ihm die Gestalt des Wilhelm Meister. So konnte er die Ereignisse des Lebens, welche auf seine Seele gewirkt hat­ten, da hineinnehmen. So hatten sie auf ihn selber gewirkt. Und da der « Wilhelm Meister » ein Spiegelbild von ihm selber ist, so stellen sich diese Dinge im Grunde genom­men ebenso fortschlängelnd in den Verlauf der Dichtung hinein, wie sie sich für Goethe selber fortschlängelnd dar­gestellt haben. Und wir bekommen durchaus kein unzu­treffendes Bild dadurch. Man hat gesagt: Da ist keine Spannung drinnen! da wird immerfort durch weise Aus­führungen die Handlung unterbrochen! Man hat den Ro­man nicht gelesen und kritisiert ihn in Grund und Boden.

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Die Betreffenden hatten von ihrem Standpunkt aus natür­lich recht. Aber es gibt einen andern Standpunkt. Man kann nämlich Ungeheures lernen gerade an diesen Wander­jahren, wenn man das Interesse und den Willen hat, um sich hinaufzuranken an den Erlebnissen, von denen Goethe selber gelernt hat. Und das ist auch etwas. Muß denn im­mer alles eine gute Komposition haben, wenn etwas da ist, was uns in anderer Weise dienen kann? Ist denn das so schlimm? Vielleicht für solche ist es sehr schlimm, daß soviel Weisheit im Wilhelm Meister ist, welche schon alles wissen und welche nichts mehr zu lernen brauchen.

Gerade im zweiten Teil findet sich in wunderbarer Weise ausgedrückt, wie sich das Ich immer mehr und mehr er­höhen und zum Gipfel des Daseins werden kann. Da wird uns insbesondere schön gezeigt, wie Willielm Meister seinen Sohn nach einer ganz merkwürdigen Erziehungsanstalt bringt. Wiederum haben Philister ein ganz absprechendes Urteil über diese Erziehungsanstalt gefällt. Sie haben gar nicht daran gedacht, daß Goethe diese Anstalt nicht da oder dort in Wirklichkeit umsetzen wollte, sondern daß er, wie symbolisch, eine Art Anschauung über das Erziehungs­wesen in seiner « pädagogischen Provinz » geben wollte. Da fällt denen, die dieser Anstalt näher treten, gleich auf, wie in gewissen Gebärden sich auslebt, was in des Menschen Seele ist. Da ist eine Gebärde, wo die Hände auf der Brust zusammengeschlagen werden und die Zöglinge nach oben blicken. Sodann sieht man eine Gebärde, wo die Hände auf dem Rücken zusammengenommen werden, wenn der Mensch neben den Menschen sich stellt. Aber etwas ganz Besonderes gibt es, wo das Seelische durch die Gebärde des sich zur Erde Neigens zum Ausdruck kommt. Auf die

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Frage, was das alles für eine Bedeutung habe, wird erklärt, daß die Knaben in der Seele, in ihrem Ich erwachen lassen sollen, was man die « drei Ehrfurchten » nennt, und wo­durch der Mensch seine Seele immer höher und höher hin­aufentwickeln kann. Sie werden als das wichtigste Er­zjehungsprinzip vor den Menschen hingestellt. Zuerst soll der Mensch in Ehrfurcht aufschauen lernen zu dem, was über ihm ist; dann soll er Ehrfurcht lernen vor dem, was unter ihm ist, damit er in entsprechender Weise weiß, wie er aus dem, was unter ihm ist, wiederum herausgewachsen ist; dann soll er lernen Ehrfurcht haben vor dem, was neben ihm ist, was gleichwertig ist als Mensch neben Mensch; denn dadurch erst kann der Mensch die rechte Ehrfurcht vor dem eigenen Ich haben. Dadurch kommt er in die richtige Harmonie zur Umwelt, wenn er die richtige Ehr­furcht hat gegen das, was über ihm ist, gegen das, was unter ihm ist und gegen das, was neben ihm ist. Dadurch wird auch sein Ego in der richtigen Weise entwickelt, und der Egoismus kann nicht irregehen.

Dann wird gezeigt, wie die wichtigsten Religionen der Menschheit hineinwirken sollen in die menschliche Seele. Die Volks- oder ethnisd'en Religionen sollen sich hineinleben als solche Götter oder Geister, die über dem Menschen stehen; dann soll sich einleben, was man nennen könnte die philosophischen Religionen, durch das, was sich als Ehr­furcht vor dem Gleichen in die Seele senkt; und dasjenige, was uns hinunterführt in das Dasein, was sonst leicht ver­achtet werden kann, was uns den Tod, den Schmerz und die Hindernisse in der Welt in der richtigen Weise mit Ehrfurcht betrachten läßt, das führt uns zum richtigen Ver­ständnis der christlichen Religion. Denn das wird betont,

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daß die christliche Religion uns zeigt, wie der Gott hin­untersteigt in die sinnlichen Hüllen, wie er auf sich nimmt die ganze Misere des Lebens und durch alles Menschliche hindurchgeht. Die Ehrfurcht vor dem Unteren soll gerade ein richtiges Verständnis der christlichen Religion geben.

So wird uns die genaue Entwickelung des Menschen ge­zeigt. Und Goethe stellt uns dann dar, wie Wilhelm Mei­ster hineingeführt wird in eine Art Tempel, wo in bedeu­tungsvollen Bildern die drei Religionen von frühester Ju­gend an den Knaben, die da erzogen werden sollen, vor die Seele treten, und wie alles in Einklang gebracht werden soll in dieser utopischen Erziehungsanstalt. Aber diese An­stalt drückt mehr eine Denkweisheit, eine Vorstellungsart aus, wie der Mensch aufwachsen soll von frühester Kindheit an, damit er auf der einen Seite den Zusammenklang findet mit der Umwelt und auf der anderen Seite wiederum auch die Möglichkeit, immer höher und höher sein Ich hinaufzu­führen. Bis ins einzelnste wird das dargestellt. Es wird zum Beispiel gezeigt, wie sich die Knaben nicht unterscheiden durch Äußerlichkeiten; sie haben nicht gleiche Kleider, die sie nach den Altersstufen erhalten; sondern sie werden hingeführt zu Kleidern der verschiedensten Art, wo sie selber auswählen sollen. So wird dadurch die Eigenart der Kinder entwickelt. Ja, weil immer eine Art von Korpsgeist sich geltend macht, und das Individuelle zurücktritt gegenüber dem Nach­machen eines Mächtigeren, so daß einzelne Knaben die Uniformen eines anderen wählen, so wird sogar der Grund­satz verfolgt, daß nach einiger Zeit solche Kleider dann fortgetan und durch andere allmählich ersetzt werden. Kurz, Goethe will darstellen, wie der heranwachsende Mensch erzogen werden soll - bis auf die Gebärden hin; in

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all dem was ihn auf der einen Seite führen kann zu Har­monie mit der Umwelt, und was auf der andern Seite wie­der die individuelle innere Freiheit entwickelt - bis auf den Anzug hin.

Man nennt das vielleicht eine Phantasterei; man sucht auch zu behaupten, daß so etwas niemals in dieser Gestalt bestanden hat. Aber Goethe selbst wollte ja davon nur sagen, daß es irgendwie und irgendwann verwirklicht wer­den kann, daß diese Gedanken einfließen sollen ins Überall und Immer und sich einleben, wo sie sich einleben können. Diejenigen, welche das nicht für möglich halten, könnte man aufmerksam machen auf Fichte, der vor seinen Stu­denten ein hohes Ideal entwickelte; aber er war sich be­wußt und sagte besonders für diejenigen, die von Wirk­lichkeit nicht viel wissen, aber sich doch Wirklichkeitsgeister nennen: Daß die Ideale im gewöhnlichen Leben sich nicht unmittelbar verwirklichen lassen, das wissen wir andern auch, vielleicht sogar noch besser; aber wir wissen auch, daß Ideale dafür da sein müssen, um dem Leben ein Re­gulativ zu sein, und um sich in Leben umzusetzen!... Das ist etwas, was immer wieder betont werden muß. Und diejenigen, welche keine Ideale haben wollen, von denen sagt Fichte, sie zeigen dadurch nur, daß in der Rechnung der Vorsehung auf sie eben nicht gezählt worden sei. Und er setzt hinzu, es möge ihnen ein guter Gott zur rechten Zeit Regen und Sonnenschein, eine gute Verdauung und womöglich auch gute Gedanken verleihen! Dieses selbst­verständliche Wort könnte man auch gegenüber denjenigen anwenden, welche von der Erziehungsanstalt in Goethes Wilhelm Meister behaupten, daß sie sich nicht verwirk­lichen lasse. Sie läßt sich verwirklichen im Größten und im

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Kleinsten, wenn Menschen dazu vorhanden sind, die solche Grundsätze auch unter unsern alltäglichen Verhältnissen in das Leben einzuführen versuchen.

Und eine zweite Episode im Wilhelm Meister ist die­jenige, wo uns eine Persönlichkeit vorgeführt wird, die im höchsten Maße zeigt das Aufgehen des Ichs in dem großen Selbst der Welt. Diese Persönlichkeit wird uns in der merk­würdigen Gestalt der Makarie geschildert. Da zeigt Goethe eine Persönlichkeit, die innerlich erwacht ist, die den Geist in sich selber so weit entwickelt hat, daß sie in dem lebt, was die Welt als Geist durchzieht. Goethe stellt sie so dar, daß sie durch ein inneres Wissen, was in ihr lebt nach der Auferweckung ihrer Seele, durch die Entfesselung ihrer inneren Kräfte dasjenige von innen heraus weiß, was ein geschickter, auf der Höhe seiner Zeit stehender Astronom über die Bahnen der Sterne berechnet. Was höchste geistes-wissenschaftliche Untersuchungen sind, das stellt Goethe dar an der Stelle, wo er zum Ausdruck bringt, wie sich die Seele gerade durch Geisteswissenschaft einleben kann in das ganze Universum, wie Selbsterkenntnis Welterkennt­nis und Welterkenntnis Selbsterkenntnis werden kann.

So stellt er gleichsam um seinen Wilhelm Meister herum lauter Bilder, die uns zeigen, wie das menschliche Selbst sich entwickeln muß. Im rechten Sinne ist Goethes Wilhelm Mei­ster von Anfang bis zu Ende ein Beispiel für die Entwicke­lung des Menschen in der Weise, daß das Wesen des Egois­mus in bezug auf diese Entwickelung ins Auge gefaßt wird.

Wenn wir bei einem Dichter einen Ausdruck eines so be­deutsamen Problemes der Geisteswissenschaft sehen, so ist das für uns ein neuer Beweis dafür - was sich uns schon

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zeigte bei Betrachtungen über den « Faust», über das « Mär­chen von der grünen Schlange und der schönen Lilie » und über die «Pandora » -, daß wir in Goethe einen Genius vor uns haben, der eins ist mit dem, was wir als Geisteswissen­schaft im echten, wahren Sinne bezeichnen. Goethe selber spricht so, wenn er sagt: Das Wesen des Egoismus zu er­fassen ist nur möglich, wenn man den Menschen seiner gan­zen Wesenheit nach betrachtet, wenn man weiß, wie das Weltall den Menschen aus dem Geiste heraus dahin führen mußte, daß er in die Versuchungen des Egoismus fällt. Hätte der Mensch nicht in den Egoismus fallen können, so könnte er auch nicht wie eine Blüte alles dessen dastehen, was draußen ausgebreitet ist. Verfällt er aber dieser Ver­suchung, so verfällt er dem, was ihn selber ertötet. So ist die Weisheit in der ganzen Welt die, daß alles, was in der Welt gut ist, sich überschlagen kann, um in dem Men­schen als Freiheit erscheinen zu können; daß aber in dem Augenblick, wo der Mensch seine Freiheit mißbraucht, wo es sich im Menschen überschlägt, eine Selbstkorrektur eintritt.

Das ist wieder ein solches Kapitel, das uns zeigt, wie alles Üble, alles Schlimme in der Menschennatur, wenn wir es von einem höheren Gesichtspunkt aus betrachten, sich umwandeln kann in das Gute, in das, was dem Menschen ein Unterpfand ist für seinen ewigen, stetig steigenden Fortschritt. So werden uns alle Lehren der Geisteswissen­schaft, wenn wir uns nicht scheuen, bis in die Tiefen des Schmerzes, des Übels hinunterzusteigen, etwas, was zu den höchsten Höhen des Geistes und aller Menschlichkeit führt, und was uns eine Bestätigung dessen ist, was aus der alten griechischen Weisheit und Dichtung zu uns herübertönt als

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das schöne Wort, mit dem wir unsere heutige Betrachtung abschließen wollen:

Der Mensch ist eines Schattens Traum, doch wenn der Sonne Strahl hereinscheint zu ihm, gottgesandt, so wird hell der Tag und reizdurchtränkt alles Leben!

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DAS MENSCHLICHE GEWISSEN

Gestatten Sie, daß ich den heutigen Vortrag mit einer persönlichen Erinnerung beginne. Sie bezieht sich auf ein kleines Erlebnis, das ich als ganz junger Mensch hatte, und das zu den Dingen gehört, die, wenn auch scheinbar ganz klein und unbedeutend, doch für das Leben immer wieder schöne Erinnerungen bilden können.

Als ganz junger Mensch hörte ich einmal die Vorträge eines Dozenten über Literaturgeschichte. Der betreffende Vortragende begann damals seinen Kursus mit einer Be­trachtung des Geisteslebens zur Zeit Lessings und wollte einleiten eine Reihe von Betrachtungen, die durch die litera­rische Entwickelung der zweiten Hälfte des achtzehnten und eines Teiles des neunzehnten Jahrhunderts führen soll­ten. Und er begann mit Worten, welche einen tiefen Ein­druck machen konnten. Er wollte den Hauptcharakterzug, der in das literarische Geistesleben zur Zeit Lessings hineinkam, dadurch charakterisieren, daß er sagte: «Das künst­lerische Bewußtsein bekam ein ästhetisches Gewissen.» Wenn man sich dann aus dem, was er weiter ausführte, zurechtlegte, was er mit diesem Ausspruch eigentlich sagen wollte - diskutieren wollen wir über die Berechtigung die­ser Behauptung nicht -, so war es etwa folgendes: In die ganzen künstlerischen Betrachtungen und in alle Absichten der künstlerischen Leistungen, die sich an das Bestreben Lessings und anderer Zeitgenossen anschlossen, kam hinein der tiefste Ernst, durch den sie die Kunst nicht bloß zu etwas machen wollten, was wie ein Anhängsel des Lebens

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dasteht, was nur da ist, um auch nur etwas hinzuzufügen zu den verschiedenen anderen Vergnügungen des Lebens; sondern sie wollten die Kunst vielmehr zu etwas machen, was sich als ein notwendiger Faktor jedes menschenwür~ digen Daseins in die Entwickelung einfügen muß. Die Kunst zu erheben zu einer ernsten und würdigen Mensch­heitsangelegenheit, die mitzusprechen hat in dem Chor, in welchem gesprochen wird über die großen fruchtbringen den Angelegenheiten der Menschheit, das sei das Ziel ge­wesen der Geister, die jene Epoche begannen. - Das wollte jener Literarhistoriker sagen, indem er betonte: Es kam in das künstlerisch-dichterische Leben hinein ästhetisches Gewissen.

Warum konnte denn ein solcher Ausspruch eine Bedeu­tung haben für eine Seele, die hinhorchen wollte auf die Rätsel des Daseins, wie sie sich in diesem oder jenem Men­schenkopf spiegeln? Aus dem Grunde konnte ein solcher Ausdruck eine Bedeutung gewinnen, weil die Kunstauffas­sung geadelt werden sollte, indem sie mit einem Ausdruck belegt wurde, über dessen Bedeutung für alles Menschen-dasein, für alle Menschenwürde und Menschenbestimmung kein Zweifel bestehen kann. Mit einem Ausdruck sollte der Ernst des künstlerischen Wirkens belegt werden, über dessen Bedeutung sozusagen eine Diskussion ausgeschlossen ist. Und es ist etwas daran, wenn wir davon sprechen, daß in irgendeiner Angelegenheit jene Seelenerlebnisse eine Be­deutung haben, die wir mit dem Ausdruck « Gewissen »bezeichnen, weil wir dadurch gleichsam die betreffenden Angelegenheiten hinaufheben wollen zu einer Sphäre, in der sie geadelt werden. Das heißt aber mit anderen Wor­ten: Die menschliche Seele verspürt, wenn der Ausdruck

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« Gewissen » ausgesprochen wird, daß etwas berührt wird von dem Wertvollsten im menschlichen Seelenleben, etwas von dem, was einen Mangel bedeuten würde für dieses Seelenleben, wenn es nicht in ihm vorhanden wäre. Und wie oft ist gesagt worden, um das Große und Bedeutungs­volle dessen zu charakterisieren, was mit dem Wort « Ge­wissen » bezeichnet wird - ganz gleichgültig, ob das der andere bildlich oder wirklich versteht: Was sich als Ge­wissen ankündigt in der menschlichen Seele, ist die Stimme Gottes in dieser Seele. Und man wird auch kaum finden, daß es irgendeinen Menschen geben kann, wenn er auch noch sowenig über höhere geistige Angelegenheiten nach­zudenken bereit ist, der nicht irgendeinen Begriff sich von dem gemacht hätte, was man gemeinhin das « Gewissen »nennt. Ein jeder hat ja so ungefähr das Gefühl: Was es auch sein mag, es ist eine Stimme, die mit einer unwider­leglichen Gewalt in der einzelnen Menschenbrust Entschei­dungen trifft über das, was gut und was schlecht oder böse ist; über das, was getan werden soll, damit der Mensch mit sich selber einverstanden sein kann, und was unter­lassen werden muß, damit der Mensch nicht an den Punkt kommt, wo er sich selber in gewissem Sinne mit Verachtung behandeln muß. Daher können wir sagen: Das Gewissen erscheint jeder einzelnen Menschenseele als etwas Heiliges in der Menschenbrust, als etwas, worüber es verhältnis­mäßig sogar leicht ist, irgendeine Ansicht zu gewinnen.

Anders allerdings stellt sich die Sache, wenn wir ein wenig die menschliche Geschichte und das menschliche Gei­stesleben betrachten. Wer würde denn nicht, wenn er eine solche geistige Angelegenheit ins Auge faßt, und wenn er tiefer zu sehen sich bemüht, ein wenig Umschau halten bei

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denen, wo er ein Wissen darüber voraussetzen kann: bei den Philosophen? Allerdings wurde es ihm da gegenüber einer solchen Angelegenheit so ergehen wie gegenüber so vielen anderen Menschheitsangelegenheiten: Die Erklärun­gen, die man bei den verschiedenen Philosophen über das Gewissen findet, unterscheiden sich, wenigstens scheinbar, beträchtlich voneinander, wenn sie auch immer einen mehr oder weniger dunklen Kern enthalten, der überall gleich ist. Aber das wäre nicht das Schlimmste. Wer sich recht viel Mühe geben wollte, die verschiedenen Philosophen alter und neuerer Zeit zu fragen, was sie unter dem Gewissen verstanden haben, der würde finden, daß er mancherlei recht schöne Sätze bekäme, - auch mancherlei recht schwer verständliche Sätze -, daß er aber nichts Rechtes träfe, von dem er sich sagen könnte, daß es vollständig und zweifel­los dasjenige zum Ausdruck brächte, wovon er fühlt: das ist das Gewissen! - Es würde allerdings heute viel zu weit führen, würde ich Ihnen eine Blütenlese geben von dem, was als die verschiedenen Erklärungen über das Gewissen Jahrhunderte hindurch von seiten gerade der philosophi­schen Führer der Menschheit gesagt worden ist. Da könnte hingewiesen werden darauf, daß etwa von dem ersten Drittel des Mittelalters an und dann durch die ganze mit­telalterliche Philosophie hindurch, wenn vom Gewissen die Rede war, immer gesagt worden ist, das Gewissen sei eine Kraft der menschlichen Seele, welche fähig ist, unmittel­bar Aussagen zu machen über das, was der Mensch tun und lassen soll. Aber - so sagen zum Beispiel die Philoso­phen des Mittelalters - es liegt diesem Kraftmoment in der menschlichen Seele noch etwas anderes zugrunde, noch etwas Feineres als das Gewissen selber. Eine Persönlichkeit,

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deren Name hier auch schon öfter genannt worden ist, Mei­ster Eckhart spricht davon, daß dem Gewissen zugrunde läge ein ganz kleiner Funke, der gleichsam als ein Ewiges in die Menschenseele gelegt worden ist, und der mit einer unwiderstehlichen Gewalt, wenn er vernommen wird, an­zeigt die Gesetze des Guten und des Bösen.

Wenn wir dann in die neue Zeit heraufkommen, finden wir wieder die verschiedensten Erklärungen über das Ge­wissen; darunter auch solche, welche einen eigentümlichen Eindruck hervorrufen müssen, weil sie deutlich an der Stirn geschrieben tragen, daß sie den ganzen Ernst jener inneren Gottesstimme, die wir das Gewissen nennen, eigentlich nicht zum Ausdruck bringen. Es gibt Philoso­phen, welche davon sprechen, daß das Gewissen eigentlich etwas sei, was der Mensch sich dadurch erringt, daß er im­mer mehr und mehr Lebenserfahrungen in seine Seele auf­nimmt, immer mehr und mehr erlebt, was für ihn nützlich, schädlich, vervollkommnend und so weiter ist oder nicht. Und aus dieser Summe von Erfahrungen bilde sich sozu­sagen der Niederschlag eines Urteils, das dann spräche:

Tue das, tue das nicht! - Es gibt andere Philosophen, welche dem Gewissen wiederum die höchste Lobrede ge­halten haben, die man ihm nur halten kann. Zu diesen letzten gehört der große deutsche Philosoph Johann Gott-lieb Fichte, der, wenn er auf das Grundprinzip alles mensch­lichen Denkens und Seins hinweisen wollte, vor allen Din­gen auf das menschliche Ich hindeutete, aber nicht auf das vergängliche, persönliche Ich, sondern auf den ewigen Grundkern im Menschen. Er wies zugleich darauf hin, daß das Höchste, was der Mensch erleben kann in seinem Ich, das Gewissen sei. Und er sprach es geradezu aus, daß der

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Mensch nichts Höheres erleben könne als das Urteil in sich:

Das mußt du tun, weil es deinem Gewissen widerspräche, es nicht zu tun. Darüber könne man, was Majestät, was Adel des Urteils betrifft, überhaupt nicht hinausgehen. Und wenn Fichte gerade der Philosoph ist, der am aller­stärksten von allen Philosophen auf die Kraft und Bedeu­tung des menschlichen Ichs hingewiesen hat, so ist es cha­rakteristisch, daß er als den bedeutendsten Impuls im menschlichen Ich wiederum das Gewissen hinstellt.

Je mehr wir allerdings dann in die neuere Zeit hinauf-kommen, und je mehr sich das Denken einem materialisti­schen Grundcharakter nähert, desto mehr finden wir, daß das Gewissen - nicht für die menschliche Brust und nicht für das menschliche Herz, wohl aber für das Denken der mehr oder weniger materialistisch angehauchten Philoso­phen in seiner Majestät sehr stark herabgedrückt wird. Nur durch ein Beispiel soll das beleuchtet werden.

In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gibt es einen Philosophen, der ganz gewiß in bezug auf Vornehmheit der Seele, in bezug auf menschliches, harmo­nisiertes Fühlen, in bezug auf Weitherzigkeit der Ge­sinnung zu den schönsten und herrlichsten Persönlichkei­ten gehört. Er ist heute schon wenig mehr genannt: ich meine Bartholomäus Carneri. Wenn Sie seine Schriften durchgehen, finden Sie trotz der Vornehmheit seiner Denk­weise, trotz der Weitherzigkeit seiner Gesinnung, weil er ganz angehaucht war von der materialistischen Denk­weise seines Jahrhunderts, daß er das Gewissen so charak­terisiert: Was können wir uns unter dem Gewissen vorstel­len? Es ist doch im Grunde genommen nichts anderes als eine Summe von Gewohnheiten und anerzogenen Urteilen,

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die wir in der ersten Jugend aufgenommen haben, die uns eingeprägt sind durch Erziehung und Leben, deren wir uns nicht mehr genau bewußt sind. Aus unseren anerzoge­nen Gewohnheiten heraus spricht es: « Das sollst du tun -das sollst du nicht tun! »

Also auf die äußeren Lebenserfahrungen und Lebens-gewohnheiten, und zwar auf die engumschränktesten, wird hier der ganze Umfang des Gewissens zurückgeführt. Ja andere, noch mehr materialistisch angehauchte Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts sind noch weiter gegangen. Und interessant ist in dieser Beziehung die Schrift eines Philosophen, der in seiner mittleren Zeit auf Friedrich Nietzsche einen großen Einfluß gehabt hat: Paul Rée. Von ihm gibt es eine Schrift über die Entstehung des Gewissens. Sie ist interessant, nicht weil man auch nur in einem ein­zigen Satze beistimmen könnte, sondern als ein Symptom für die Anschauungen unserer ganzen Zeit. Darin wird un­gefähr ausgeführt - seien wir uns bewußt: wenn man etwas kurz sagen und mit ein paar scharfen Linien darstellen muß, wird es dadurch in manchen Einzelheiten etwas ver­zerrt werden müssen -: Die Menschheit hat sich in bezug auf alle Eigenschaften entwickelt, also auch in bezug auf das Gewissen. Ursprünglich hatten die Menschen das über­haupt nicht, was wir das Gewissen nennen. Das ist nur ein Vorurteil, und zwar eines der gewaltigsten, wenn man das Gewissen für etwas Ewiges hält. Ursprünglich ist so etwas wie eine Stimme, die uns sagt: « Das sollst du tun! das sollst du nicht tun! » eine Stimme, die wir als das Ge­wissen bezeichnen - so meint Paul Rée - überhaupt nicht vorhanden gewesen. Aber es entwickelte sich das, was wir den Rache-Trieb nennen könnten. Das war das Ursprünglichste.

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Wenn einem irgend etwas angetan war, entwickelte sich der Rache-Trieb, dasjenige wieder zurückzugeben, was einem angetan worden war. Und durch die Komplikation der Lebensverhältnisse kam es dahin, daß in sozialen Ver­bänden die Rache den Mächten übergeben wurde, denen man die Ausführung übertrug. So gewöhnte sich der Mensch daran, zu glauben, daß auf jede Tat, durch die ein anderer geschädigt wird, etwas folgen müsse, was man früher « Rache » genannt hat. So bildete sich das Urteil heraus, daß gewisse Taten, die schlimme Folgen haben, ausgeglichen werden müssen durch andere Taten. Und aus der Weiter­bildung dieses Urteils entstand dann ein Zusammenhang zwischen gewissen Gefühlen, die der Mensch haben kann, wenn eine Tat getan ist, oder selbst, wenn er in die Ver­suchung kommt, etwas zu tun. Das hat der Mensch ver­gessen, daß ursprünglich der Rache-Trieb lebendig war; das aber hat sich festgesetzt im Gefühl, daß eine Handlung folgen müsse als Ausgleich auf eine schädigende Tat. So glaubt der Mensch jetzt, daß eine « innere Stimme » spräche, während es in Wahrheit nur die nach innen verschlagene Stimme des Rache -Triebes ist. - Da haben wir einen extre­men Fall, dadurch extrem, weil durch eine solche Auseinan­dersetzung das Gewissen als eine vollständige Illusion hin-gestellt wird.

Aber auf der anderen Seite müssen wir doch wieder zu­gestehen, daß auch jene Menschen viel zu weit gehen, welche behaupten, das Gewissen sei etwas, was als eine Tatsache immer vorhanden gewesen sei, so lange es überhaupt Men­schen auf der Erde gäbe; daß es sozusagen etwas Ewiges sei. Indem sowohl dort, wo mehr geistig gedacht wird, wie auch dort, wo man das Gewissen als reine Illusion erklärt,

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Fehler gemacht werden, ist eine Verständigung auf diesem Gebiete sehr schwierig, trotzdem es sich um eine alltägliche - aber alltäglich-heilige - Sache unseres menschlichen Innern handelt. Schon durch eine Umschau bei den Philosophen könnte man entnehmen, daß über das Gewissen selbst bei den besten unserer menschlichen Persönlichkeiten früher anders gedacht worden ist, als wir es heute müssen. Es ist mit Recht hingewiesen worden von Leuten, die doch etwas tiefer sehen in solchen Sachen, daß wir zum Beispiel bei einer so hehren Persönlichkeit wie Sokrates im Grunde ge­nommen gar nicht so etwas finden wie das, was wir heute als « Gewissen » bezeichnen. Denn wenn wir sagen: das Ge­wissen ist eine Stimme, welche selbst in der Brust des naiv­sten Menschen spricht und die wie mit göttlich-heiligem Impuls sagt: «Dies sollst du tun! das sollst du lassen! » so nimmt sich demgegenüber die von Sokrates gemachte und dann auf Plato übergegangene Behauptung doch etwas an­ders aus. Beide behaupten, daß Tugend etwas sei, was lehr-bar sei, was man lernen könne. Sokrates will also sagen:

Wenn der Mensch sich klare Begriffe bildet über das, was er tun oder nicht tun soll, so kann er durch Lernen, durch ein Wissen von der Tugend dazu kommen, allmählich tugendhaft zu handeln.

Wer nun auf dem heutigen Begriff des Gewissens fest­steht, könnte dagegen einwenden: Das wäre eigentlich recht schlimm, wenn man erst abwarten müßte, bis man gelernt hat, was gut oder schlecht ist, um zu einem tugendhaften Handeln zu kommen. Das Gewissen ist etwas, was mit viel elementarerer Gewalt in der menschlichen Seele spricht

- und längst im einzelnen Falle vernehmbar spricht: « Das sollst du tun und das lassen! » bevor wir uns die höheren

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Ideen gebildet haben über das, was gut und böse ist, bevor wir also eine Morallehre aufgenommen haben. Und Gewis­sen ist etwas, was eine gewisseRuhe in die menschliche Seele einziehen läßt, wenn der Mensch sich sagen kann: Du hast etwas getan, womit du einverstanden sein kannst. Schlimm wäre es - so kann mancher sagen - wenn wir erst viel ler­nen müßten über Wesen und Charakter der Tugend, um zu einer Zustimmung über unser Handeln kommen zu wol­len. Deshalb können wir sagen: Jener Philosoph, zu dem wir wie zu einem Märtyrer der Philosophie aufsehen, der durch seinen Tod geadelt und gekrönt hat sein philoso­phisches Werk, Sokrates, er stellt uns einen Tugendbegriff hin, der sich schwer mit dem heutigen Begriff vom Gewis­sen vereinigen läßt. Und selbst bei den späteren griechischen Denkern wird immer noch gesagt, daß man sich durch Ler­nen in der Tugend vervollkommnen könne; was im Grunde der ursprünglichen elementaren Macht des Gewissens wider­sprechen würde.

Woher kann es nun kommen, daß eine so hehre und ge­waltig erscheinende Persönlichkeit wie Sokrates eigentlich den Begriff, den wir uns heute vom Gewissen machen, noch nicht kennt, trotzdem wir fühlen, wenn wir an Sokrates herantreten, so wie ihn uns Plato als Unterredner darstellt, daß aus seinen Worten der reinste Moralsinn, die höchste Tugendkraft spricht?

Das kommt von nichts anderem her als davon, daß selbst diejenigen Begriffe, Vorstellungen und inneren Seelenerleb­nisse, die heute der Mensch so fühlt, als waren sie ihm gleichsam eingeboren, auch im Laufe der Zeit von der Men­schenseele erst errungen worden sind. Wer zurückgeht in das Geistesleben der Menschheit, der wird allerdings finden,

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daß der Begriff des Gewissens und das Gefühl vom Gewissen in den alten Zeiten - auch beim griechischen Volke

- nicht in derselben Art vorhanden waren, wie sie heute gedacht und gefühlt werden. Entstanden ist der Begriff des Gewissens. Aber nicht auf so leichte Weise durch äußere Erfahrung und äußere Wissenschaft kann der Mensch etwas lernen über die Entstehung des Gewissens, wie es etwa durch Paul Rée versucht worden ist; sondern da muß schon tiefer hineingeleuchtet werden in die menschliche Seele.

Nun haben wir es in diesem Winter gerade als Aufgabe dieser Vorträge betrachtet, in das Gefüge der menschlichen Seele tiefer hineinzuleuchten; und zwar mit jenem Lichte, das entnommen ist einer Entwickelung der menschlichen Seele zu höheren Erkenntnisfähigkeiten hinauf. Es wurde ja alles Seelenleben so dargestellt, wie es sich zeigt dem ge­öffneten Auge des Sehers; jenem Auge, das nicht nur die äußere Sinneswelt sieht und sich nicht nur ein Wissen er­ringt von der Sinneswelt, sondern das hinter den Schleier der Sinneswelt in die Region schaut, wo die eigentlichen Ursprünge der Sinneswelt liegen: in die geistigen Unter­gründe dieser Sinneswelt. Und auf der anderen Seite wurde wiederholt darauf hingewiesen - zum Beispiel in dem Vor-trage «Was ist Mystik? » - wie über dasjenige hinaus, was uns im Alltagsleben als unser Seelenleben erscheint, das seherische Bewußtsein in tiefere Regionen der Seele hinein-führt. Wir glauben im gewöhnlichen Leben der Seele schon tiefere Untergründe zu erkennen, wenn wir in uns selber blicken und die Gedanken-, Gefühls- und Willenserlebnisse finden. Es ist aber darauf hingewiesen worden, wie das, was sich unserer Seele im tagwachenden Zustand zeigt, im Grunde nur die Außenseite für das eigentlich Geistige ist

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Geradeso, wie wir den Schleier des Daseins schauen müssen, wenn wir dessen Untergründe finden wollen, hinter das, was uns unsere Augen zeigen, was uns unsere Ohren hören lassen, was uns unser Verstand durch das Gehirn erkennen läßt, so müssen wir hinter unser Denken, Fühlen und Wol­len schauen, auch hinter die Gründe dessen, was wir in un­serem Innern als das gewöhnliche Seelenleben haben, wenn wir die eigentlichen Ursachen, die geistigen Untergründe unseres eigenen Lebens kennenlernen wollen.

Von solchen Gesichtspunkten sind wir ausgegangen, um das menschliche Seelenleben in seinen mancherlei Verzwei­gungen zu beleuchten. Da hat sich uns herausgestellt, daß dieses menschliche Seelenleben in drei voneinander zu unter~ scheidenden Gebieten zu betrachten ist; - wohl gemerkt, ich sage nicht « zu trennenden Gebieten »! Als das unterste Glied des Seelenlebens hat sich uns die « Empfindungsseele »dargestellt. Bei einem Menschen, der noch ganz hingegeben ist seinen Trieben, Begierden und Leidenschaften, der es noch nicht dahin gebracht hat, seine Affekte und Leiden­schaften zu läutern und zu reinigen und von seinem Ich aus Herr über sie zu werden, sprechen wir davon, daß die Emp-~ findungsseele das Übergewicht hat. Wenn der Mensch dann immer mehr und mehr Herr wird über Triebe, Begierden und Leidenschaften, dann zeigt sich uns ein höheres Seelen-glied: die « Verstandes~ oder Gemütsseele » Darin macht sich geltend, was im Menschen lebt als Wahrheitssinn, als Mitgefühl mit anderen Menschen und dergleichen. Die Ver~ standesseele entwickelt sich aus der Empfindungsseele her­aus. Und das höchste Seelenglied, zu dem sich der Mensch zunächst aufschwingen kann - er wird in der Zukunft noch höhere Glieder entwickeln -, haben wir die « Bewußtseinsseele »

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genannt. Während der Mensch in der Empfindungs­seele das, was als äußere Eindrücke von außen auf ihn wirkt, mit seinen Trieben und Leidenschaften beantwortet, steigt er in seine Gemütsseele hinauf, um, ohne lediglich auf Triebe und Leidenschaften zu hören, die Eindrücke der Welt zu beantworten. Wenn er seine Triebe, Begierden und Leidenschaften läutert, entwickelt sich die Verstandesseele. Wenn er dann mit dem, was er sich in seinem Innern er­obert hat, wiederum herantritt an die äußere Welt, wenn er sich innerlich Vorstellungen erworben hat, um die Welt zu begreifen, und sich sagt: Meine Vorstellungen und Be­griffe sind dazu da, um mir dieWelt verständlich zu machen, wenn er gleichsam wieder aus sich herausgeht, um sich ein Bewußtsein zu erwerben von dem, was draußen in der Welt vorhanden ist, dann steigt er hinauf zur Bewußtseins-seele.

Was ist es, was sich in der menschlichen Seele durch diese drei Seelenglieder hinaufarbeitet? - Das ist das menschliche Ich, jener Einheitspunkt des menschlichen Innern, durch den alles zusammengehalten wird, was gleichsam wie auf drei Saiten des Seelenlebens spielt, indem es sie in der ver­schiedensten Weise zusammenklingen läßt, konsonierend oder dissonierend. Diese Gewalt im Innern, die sich da­durch geltend macht, daß sie die Begriffe wieder verbindet mit den Dingen der Welt, nennen wir das menschliche Ich, das anwesend ist in allen drei Seelengliedern wie ein inne­rer Künstler, der auf dem menschlichen Seelenwesen spielt wie auf drei Saiten. Aber was wir so sehen wie eine Art inneren Spiels des Ich innerhalb unserer Seelenglieder, das hat sich doch erst nach und nach entwickelt. Ja, die ganze Art des jetzigen Bewußtseins hat sich erst nach und nach

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entwickelt. Und wir verstehen am besten, wie dieses mensch~ liche Bewußtsein und das heutige menschliche Seelenleben sich aus der Urzeit hereinentwickelt haben, wenn wir ein wenig hinweisen auf das, was aus dem Menschen in der Zu­kunft werden kann, und was schon heute aus ihm werden kann, wenn er aus der Bewußtseinsseele hinaus seine Seele entwickelt eben zu dem, was wir ein höheres, seherisches Bewußtsein nennen können.

Die gewöhnliche Bewußtseinsseele läßt uns nur jene Außenwelt begreifen, welche dem Sinnesleben gegenüber-steht. Wenn der Mensch hinter den Schleier der Sinnenwelt dringen will, muß er sein Seelenleben höher hinaufentwik~ kein, muß er die Entwickelung in sich selber fortsetzen. Dann macht er die große Erfahrung, daß es so etwas gibt, wie eine Erweckung der Seele, etwas, was sich vergleichen läßt im niederen Seelenleben mit der Operation eines Blindgeborenen, der vorher nichts gewußt hat von Licht und Farben und nachher hereinbrechen sieht die lichtvolle, farbige Welt. So ist es mit dem, der durch die entsprechen­den Methoden seine Seele zu höherer Entwickelung bringt und der dann den Augenblick erlebt, wo das, was sonst nicht genannt wird in unserer Umgebung, was uns aber immer umschwirrt, hereintritt als eine Fülle von Wesen­heiten und Tatsachen in unserem Seelenleben, weil wir uns ein neues Organ erworben haben.

Wenn sich der Mensch bewußt durch Schulung zu sol­chem Sehertum entwickelt, nimmt er sein volles Ich in die­ses Sehertum mit hinauf; das heißt er bewegt sich innerhalb der geistigen Wesenheiten und Tatsachen, die unserer sinn­lichen Welt zugrunde liegen, so wie er sich zwischen Tischen und Stühlen in der Sinnenwelt bewegt. Was ihn als sein

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früheres Ich geleitet hat durch Empfindungsseele, Verstan­desseele und Bewußtseinsseele, das nimmt er in eine höhere Region des menschlichen Seelenlebens mit hinauf.

Wenden wir jetzt von dem hellseherischen Bewußtsein, das durchleuchtet und durchglüht ist vom Ich des Menschen, den Blick wieder zurück auf das gewöhnliche Seelenleben. In der verschiedensten Weise lebt das Ich des Menschen in drei Seelengliedern. Haben wir einen Menschen, der ganz und gar in den Trieben, Begierden und Leidenschaften lebt, die in seiner Empfindungsseele aufsteigen, ohne daß er im Grunde etwas dazu tut, so sagen wir: er ist hingegeben an seine Empfindungsseele, und das Ich ist noch sehr schwach in ihm tätig. Da hat das Ich keine besondere Gewalt; es folgt sozusagen den Trieben, Begierden und Leidenschaften der Empfindungsseele. Wir können sagen: innerhalb jener Gewalten, die wie die Meereswogen der Seele auftauchen aus der Empfindungsseele, steht als eine schwache Leuchte das Ich da und vermag noch wenig gegenüber dem Wogen der Triebe und Willensimpulse. - Freier und selbständiger arbeitet das Ich schon in der Verstandesseele oder Gemüts-seele. Da kommt der Mensch schon mehr zu sich, weil die Verstandesseele sich nur dadurch entwickeln kann, daß der Mensch das, was er in seiner Empfindungsseele innerlich erlebt, im ruhigen, inneren Seelenleben verarbeitet. Der Mensch kommt in der Verstandesseele zu seinem Ich, das heißt zu sich selber. Das Ich wird immer leuchtender und leuchtender und kommt dann zur vollständigen Klarheit, so daß der Mensch sich sagen kann: Ich habe mich erfaßt! Ich bin zum eigentlichen Selbstbewußtsein gekommen! Zu dieser Klarheit kann das Ich erst in der Bewußtseinsseele kommen. Da zeigt sich die vordringende Stärke des Ichs,

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wenn wir hinaufdringen von der Empfindungsseele durch die Verstandesseele zur Bewußtseinsseele.

Wenn sich aber der Mensch in seinem Ich über die Be­wußtseinsseele hinausentwickeln kann zum hellsichtigen Bewußtsein, gleichsam zu höheren Seelengliedern, so wer-den wir es auch begreiflich finden, wenn der Seher, zurück-blickend in die Menschheitsentwicklung, uns sagt: Gerade­so, wie das Ich hinaufsteigt zu höheren Seelengliedern, so ist es auch in die Empfindungsseele hineingekommen von einem untergeordneten Gliede der Menschennatur. - Wir haben schon darauf hingewiesen, wie die Gesamtheit des menschlichen Innern - Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und Bewußtseinsseele - sich entwickelt in der Gesamtheit der menschlichen Hüllen, die wir bezeichnen als physischen Leib, Ätherleib und astralischen Leib oder Empfindungsleib. Muß es da nicht begreiflich erscheinen, wenn nun die Geisteswissenschaft uns zeigt, daß das Ich, bevor es sich hinaufentwickelt hat durch die Empfindungs-seele bis zur Bewußtseinsseele, eigentlich in untergeordneten, noch wenig seelischen Gliedern des Menschen, in den äuße­ren menschlichen Hüllen tätig war? Bevor das Ich in der Empfindungsseele war, war es im Empfindungsleib tätig; noch früher im Ätherleib und im physischen Leib. Da war es noch mehr ein solches Ich, das den Menschen von außen lenkte und leitete. Wenn wir uns von dieser Wirksamkeit eine Vorstellung machen wollen, können wir etwa sagen:

Wenn wir den Menschen vor uns haben in seinen drei Hül­len, sehen wir das Ich wirksam, indem es den Menschen leitet und lenkt. Aber da ist der Mensch noch nicht fähig, zu sich Ich zu sagen, noch nicht fähig, in sich selber seinen Wesensmittelpunkt zu finden. Da kommen wir zu einem

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Ich, das noch in dem Dunkel des Leibeslebens waltet. Aber legen wir uns jetzt die Frage vor: Ist dieses Ich, das in die­ser urfernen Vergangenheit im Menschen gewaltet hat und die äußere Leiblichkeit aufgebaut hat, eigentlich unvoll­kommener zu denken als dasjenige Ich, das wir heute selbst in unserer Seele tragen?

Wir blicken heute auf unser Ich als auf den eigentlichen inneren Sammelpunkt unseres Wesens, das uns als Men­schen unsere Innerlichkeit gibt, und das sich in Zukunft durch Schulung in unendlicher Weise vervollkommnen kann. Wir sehen in ihm den Inbegriff unserer menschlichen Wesen­heit und zugleich dasjenige, was uns Gewähr gibt für unsere Menschenwürde. Als wir nun dieses Ich noch nicht spürten, als es noch an uns arbeitete aus den dunklen geistigen Ge­walten der Welt heraus, war es da unvollkommener, als es jetzt in uns ist? - Das könnte nur derjenige sagen, der bloß abstrakt denken wollte.

Wir blicken zum Beispiel auf unseren physischen Leib als auf etwas, was in urferner Vergangenheit aus der gei­stigen Welt heraus gebildet worden ist, das aber doch da sein mußte, damit die Seele darinnen wohnen kann. Nur materialistischer Sinn könnte glauben, daß dieser physische Leib nicht aus dem Geiste heraus ist. Aber wir blicken das mit zugleich auf etwas, was als geistige Schöpfung dem­jenigen vorangehen mußte, was wir jetzt unser Innenleben nennen. Denn unser Innenleben muß während des Erden-daseins in einem Leibe wohnen, und der mußte vorher zu­bereitet sein. Wenn wir den Leib auch nur äußerlich be­trachten, werden wir uns sagen müssen: Was ist dieser menschliche Leib doch für ein Wunderwerk an Vollkom­menheit! Wer auch nur als Anatom oder Physiologe zum

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Beispiel das menschliche Herz anschaut in seinem Wunder-bau, der wird sagen: Was ist aller menschlicher Verstand, was ist alle technische Geschicklichkeit, verglichen mit dem, was sich uns als Weisheit im Bau des menschlichen Herzens darstellt! Was ist alle unsere Ingenieurtechnik, die Brücken-gerüste und dergleichen aufbaut, gegen das Gerüst des menschlichen Oberschenkelknochens, das sich uns darstellt als ein wunderbares Gerüst von hin- und hergehenden Balkenlagen, wenn wir es durch das Mikroskop betrachten! Es ist ein schier unermeßlicher Hochmut, wenn der Mensch glauben wollte, daß er auch nur im allergeringsten Grade das erreicht hätte, was als Weisheit hineingelegt ist in den Bau des äußeren physischen Leibes. Und wenn wir unser Seelenleben betrachten - gehen wir nur bis zu den Trieben, Begierden und Leidenschaften - und fragen wir: Wie wirken diese? Was tun wir nicht alles, um von unserm Innern her­aus den weisheitsvoll organisierten Bau unseres Leibes zu untergraben? dann wird der, der unbefangen das Weisheits~ werk des menschlichen Hüllenbaues betrachtet, sagen müs­sen: Unendlich viel weiser ist der Bau unseres Leibes als das, was wir in unserm Innern tragen, von dem wir die Hoffnung hegen, daß es sich immer vollkommener gestalten wird, was aber heute im Grunde noch recht unvollkommen ist. - Aber nimmermehr können wir etwas anderes glau­ben, auch wenn wir nicht hellseherisch sind, wenn wir nur unbefangen das betrachten, was sich vor das äußere Auge hinstellt.

Muß nicht jene weisheitsvolle Tätigkeit, welche das leib­liche Gehäuse des Menschen aufgebaut hat, damit dieses von einem Ich bewohnt werde, von derselben Natur und Wesenheit etwas haben, was das Ich selbst seiner Natur

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und Wesenheit nach ist? Müssen wir nicht das, was an un­sern Hüllen gearbeitet hat, uns mit einem Ich-Charakter, nur mit einem unendlich vollkommeneren Ich-Charakter denken? Wir müssen sagen: Etwas, das mit unserem Ich verwandt ist, hat durch urferne Zeiten hindurch gebaut an einem solchen Gehäuse, das von einem Ich bewohnt werden kann. - Wer das nicht glauben will, mag sich etwas anderes einbilden; aber er mag sich auch einbilden, daß ein mensch­liches Haus, das gebaut ist, damit ein Mensch darinnen wohnen kann, nicht von einem Menschengeiste aufgeführt worden ist, sondern sich durch bloße Naturkräfte zusam­mengefügt habe. Das eine ist so richtig wie das andere, wenn man es nur unbefangen betrachtet. Daher blicken wir auf eine urferne Vergangenheit, wo Geistiges mit einer un­endlich vollkommenen Ich-Natur an unsern Hüllen ge­arbeitet hat, und da heraus arbeitete sich das Ich erst zum heutigen Bewußtsein herauf. Wie im Unterbewußten war es verborgen in Urzeiten in diesem Gehäuse.

Wenn wir diese Entwickelung betrachten seit jener ur­fernen Vergangenheit, wo das Ich wie im dunklen Mutter-schoß der äußeren Hüllen drinnen war, so finden wir, daß es zwar von sich nichts wußte, dafür aber näher stand jenen geistigen Wesenheiten, die an unsern Hüllen gebaut haben, die mit dem Ich verwandt, aber nur unendlich vollkomme­ner sind als das Ich selbst. Daher wird es begreiflich er­scheinen, daß das Seher-Bewußtsein zurückweist auf eine Zeit, wo der Mensch zwar noch nicht das Ich-Bewußtsein hatte, aber dafür im Schoße des geistigen Lebens selber war, und wo auch das heutige Seelenleben ganz anders war, noch näher den Seelenkräften, aus denen das Ich hervor­gegangen ist. Wenn wir zurückgehen in die Vergangenheit

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der Menschheitsentwicklung, finden wir auf dem Grunde aller menschlichen Entwickelung ein ursprüngliches hell­sichtiges Bewußtsein, das nur nicht von einem Ich durch­leuchtet war, sondern dumpf und traumhaft wirkte; und diesem Bewußtsein erst entsprießt das Ich des Menschen. Was sich der Mensch mit seinem Ich erst in der Zukunft wieder erringen wird, das finden wir in jener urfernen Vergangenheit ohne das Ich. - Hellsichtiges Bewußtsein ist aber damit verbunden, daß der Mensch geistige Tatsachen und geistige Wesenheiten in seiner Umgebung sieht. Das ist es, was uns die Geisteswissenschaft zeigt: daß der Mensch, bevor er zum heutigen Bewußtsein gekommen ist, in seinem Seelenzustande in einem traumhaften Hellsehen war, wo er der geistigen Welt näher war, sie schaute, wenn auch nur in einer ähnlichen Weise wie im Traum. Das ist der Ur­zustand der Menschheit. Da war der Mensch, weil er eben noch nicht von einem Ich durchglüht war, noch nicht ange­wiesen, in seinem Innern zu bleiben, wenn er etwas Geisti­ges erblicken wollte; sondern da erblickte er das Geistige um sich herum und erblickte sich als Glied der geistigen Welt; und was er tat, hatte in seinem Anschauen noch einen geistigen Charakter. Wenn er etwas dachte, war es nicht so wie heute, wo der Mensch sagt: Jetzt denke ich! sondern er hatte den Gedanken durch Hellsichtigkeit vor sich. Wenn er ein Gefühl zu entwickeln hatte, hatte er nicht nur in sein Inneres zu schauen, sondern das Gefühl war etwas, was aus-strahlte von ihm, wodurch er sich eingliederte in seine ganze geistige Umgebung.

So lebte der Mensch der Vorzeit in bezug auf seine Seele. Und aus diesem traumhaft-hellseherischen Bewußt­sein mußte sich der Mensch entwickeln, um zu sich selber

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zu kommen, um jenen Mittelpunkt zu finden, der heute noch unvollkommen ist, der aber in der Zukunft immer vollkommener werden wird, wo der Mensch mit dem Ich in die geistige Welt hineinsteigen wird.

Wenn wir nun in jene Urzeiten der Menschheit zurück-leuchten mit den Methoden, die wir hier charakterisiert haben, und welche dem hellseherischen Bewußtsein zur Verfügung stehen, was sagt uns dann der Seher über das ursprüngliche menschliche Bewußtsein, zum Beispiel wenn der Mensch eine schlimme Tat begangen hatte? Da stellte sich die schlimme Tat nicht dar als etwas, was der Mensch mit seinem Innern taxieren konnte, sondern er sah sie in ihrer ganzen Schädlichkeit und Schändlichkeit wie ein Ge­spenst vor seiner Seele stehen. Und wenn das Gefühl für die schlechte Tat in der Seele auftauchte, so war die Folge die, daß die betreffende Tat in ihrer Schändlichkeit als geistige Wirklichkeit an den Menschen herantrat. Da war der Mensch gleichsam umgeben von der Anschauung des Schlimmen seiner Tat.

Dann kam der Mensch immer mehr und mehr in die Zeit hinein, wo das alte traumhafte Hellsehen schwand und wo sich das Ich immer mehr und mehr geltend machte. In­dem der Mensch seinen Mittelpunkt in seinem Innern fand, erlosch das alte Hellseherbewußtsein; dafür aber tauchte immer deutlicher das Selbstbewußtsein auf. Was er früher vor sich hatte als Anschauung seiner bösen Tat - und auch seiner guten Tat -, das wurde in sein Inneres verlegt. Es spiegelte sich gleichsam das, was er früher hellseherisch geschaut hatte, in seinem Innern.

Was waren das nun für Gestalten, die der Mensch im traumhaften Hellsehen erblickte als geistige Gegenbilder

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seiner schlechten Tat? Es war das, was ihm die geistigen Mächte seiner Umgebung zeigten als etwas, wodurch er die Weltordnung gestört, zerrüttet hatte. Das war im Grunde keine schlimme Wirkung im rechten Sinne des Wortes; es war eine heilsame Wirkung. Es war gleichsam die Gegen­wirkung der Götter, die den Menschen emporheben woll~ ten, indem sie ihm die Wirkung seiner Tat zeigten, um ihm zu ermöglichen, die schädliche Folge seiner Tat zu beseiti­gen. So war es zwar etwas Furchtbares, wenn die Wirkung der schlimmen Tat vor dem Menschen stand, aber im Grunde war es eine heilsame Wirkung des Weltengrundes, aus dem der Mensch selbst herauskam. Als dann die Zeit kam, wo der Mensch in sich seinen Ich-Mittelpunkt fand, da wurde diese Anschauung in das Innere verlegt und trat als Wir­kung seiner Tat im Spiegelbilde im Innern auf. Wenn unser Ich zuerst zum Vorschein kommt, ist es zunächst schwach innerhalb der Empfindungsseele vorhanden, und der Mensch muß sich langsam erst hinaufarbeiten, um das Ich nach und nach zur Vollkommenheit zu bringen. Fragen wir uns ein­mal: Was wäre geschehen in dem Augenblick der Entwicke­lung, als die hellseherische Anschauung der Taten des Men­schen von außen verschwand, wenn nicht innerlich etwas aufgetreten wäre in dem noch schwachen Ich, was zugleich wie ein Gegenbild jener wohltätigen Wirkung erschien, die dem Menschen früher vor Augen trat, wenn er die Wirkung seiner Tat hellseherisch schaute?

Der Mensch hätte sein schwaches Ich gehabt; er wäre aber hin und her gerissen worden in der Empfindungsseele durch seine eigenen Leidenschaften wie in einem uferlosen, aufgepeitschten Meere. Was trat beim Menschen in diesem großen weltgeschichtlichen Augenblick aus dem Äußeren

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in das Innere? Wenn es der große Weltengeist war, der als heilsame Gegenwirkung die schädliche Wirkung einer Tat vor das hellseherischeBewußtsein stellte, der demMenschen zeigte, was er auszubessern hatte, dann war es nachher auch dieser Weltengeist, der sich als ein Mächtiges im Innern des Menschen kundgab, als das Ich selber noch schwach war. So zog sich der früher in dem heliseherischen Anschauen sprechende Weltengeist in das menschliche Innere in bezug auf dasjenige zurück, was er zur Korrektur der gestörten Weltordnung zu sagen hatte. Das Ich ist noch schwach. Über diesem Ich wacht aber der Weltengeist; und er läßt sich vernehmen als etwas, was jederzeit wachend über dem Ich steht und über das urteilt, worüber das Ich noch nicht urteilen könnte! Hinter diesem schwachen Ich steht etwas wie ein Abglanz des mächtigen Weltengeistes, der früher im hellsichtigen Bewußtsein dem Menschen die Wirkung seiner Taten gezeigt hatte.

So nahm der Mensch, als dann das alte Hellsehen hin-schwand, von dem, was der Weltengeist selber wirkte, nur noch einen Abglanz in seinem Innern wahr. Dieser Ab­glanz des korrigierenden Weltengeistes, der neben dem Ich wachend steht, erschien dem Menschen als das ihn über­wachende Gewissen! So sehen wir, daß es wahr ist, wenn ein naives Bewußtsein davon spricht, daß das Gewissen die Stimme des Gottes im Menschen sei. Aber wir sehen zugleich, daß uns die Geisteswissenschaft in der Entwik~ kelung des Menschen den Moment zeigt, wo das Äußere in das Innere getreten ist, und wo das Gewissen entstanden ist.

Was ich jetzt gesagt habe, kann rein geschöpft werden aus den Anschauungen der geistigen Welt. Man braucht

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keine äußere Geschichte dazu; das muß ganz innerlich ge­schaut werden. Wer es schauen kann, der empfindet es als eine Wahrheit von unwiderleglicher Gewißheit. Fragen wir aber jetzt einmal aus einem Zeitbedürfnis heraus:

Könnte uns vielleicht auch eine äußere Geschichte etwas zeigen, was sich wie eine Bestätigung dessen darstellt, was jetzt aus dem Tatbestand des inneren Schauens hervor­geholt ist?

Was aus Seherbewußtsein herrührt, kann man an den äußeren Tatsachen immer prüfen. Wer so etwas behauptet, braucht nicht besorgt zu sein, daß es den äußeren Tatsachen widerspricht. Nur ungenaues Prüfen könnte das vielleicht erleben. Aber es soll nur auf eines hingewiesen werden, was zeigen kann, wie die äußeren Tatsachen durchaus das be~ statigen, was jetzt als ein Tatbestand aus dem hellsichtigen Bewußtsein hergeleitet worden ist.

Es ist gar nicht so lange her, wo wir den Augenblick der Entstehung des Gewissens wahrnehmen können. Wenn wir zurückgehen bis ins fünfte und sechste Jahrhundert der vorchristlichen Zeitrechnung, treffen wir in Griechen~ land einen gewaltigen Dichter der griechischen Dramatik:

Aeschylos. Er stellt uns etwas sehr Merkwürdiges dar; merk­würdig aus dem Grunde, weil dasselbe später von einem anderen griechischen Dichter anders dargestellt worden ist. Aeschylos stellt dar den aus Troja heimkehrenden Aga~ memnon, der beim Eintreffen in seiner Heimat von seiner Gattin Klytemnästra ermordet wird. Agamemnon wird gerächt von seinem Sohn Orest, der, nachdem ihm die Göt­ter dazu den Rat gegeben haben, die Mutter tötet, die den Vater ermordet hat. Was ist nun die Folge dieser Tat für Orest? Durch die Wirkung des Muttermordes preßt sich

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aus seinem Innern etwas heraus - das wird uns bei Aeschylos dargestellt -, was ihn fähig macht, das zu schauen, was während dieser Jahrhunderte normalerweise nicht mehr geschaut werden konnte; ahnormalerweise läßt die Gewalt solcher Tat wie ein altes Erbstück noch einmal das alte Hellsehen erstehen. Orest konnte sagen: Apollo, der Gott selber ist es, der mir Recht gibt, daß ich meinen Vater an meiner Mutter gerächt habe. Alles, was ich getan habe, spricht für mich. Aber das Blut der Mutter wirkt nach! Und im zweiten Teil der « Orestie » wird uns gewaltig dar­gestellt, wie das Erbstück des alten Hellsehens erwacht, wie sie herankommen, die Rachegöttinnen, die Erinnyen, die späteren Furien der Römer. Die äußere Gestalt der Wir­kung des Muttermordes sieht Orest im traumhaften Hell-sehen vor sich. Apoll selbst gibt ihm Recht; aber es gibt noch etwas Höheres. Das heißt: Aeschylos wollte darauf hinweisen, daß es eine noch höhere Weltordnung gibt; und er konnte es nur zeigen, indem er Orest in diesem Augen­blick hellsichtig werden läßt. Noch nicht ist Aeschylos so weit, um das zu zeigen, was wir heute eine innere Stimme nennen. Aber, namentlich wenn man den Agamemnon stu­diert, sagt man: Aeschylos ist bis zu dem Punkt gekommen, wo aus dem ganzen menschlichen Seelenleben so etwas her­ausquellen müßte wie das Gewissen; ganz so weit ist er nur noch nicht. Er stellt vor Orest hin, was noch nicht zum Ge­wissen geworden ist: die Bilder des traumhaften Hell­sehens. Aber wir merken schon, wie er hart am Rande ist, zum Gewissen vorzudringen. Aus jedem Wort, das er zum Beispiel der Klytemnästra in den Mund legt, kann man förmlich herausfühlen: Jetzt sollte hingewiesen werden auf die Vorstellung, die wir mit dem Gewissen bezeichnen!

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Aber es kommt nicht dazu. In diesem Jahrhundert kann der große Dichter nur zeigen, wie früher schlechte Taten sich vor die menschliche Seele hingestellt haben.

Und nun gehen wir ein Menschenalter weiter; wir gehen von Aeschylos über Sophokles zu Euripides, der nur kurze Zeit später denselben Tatbestand behandelt. Mit Recht ist von Forschern darauf hingewiesen worden - aber nur von der Geisteswissenschaft kann es ins rechte Licht gesetzt wer den -, daß er den Tatbestand so hinstellt, daß er für die Auffassung des Orest, wenn von Traumbildern gesprochen wird, diese nur - ähnlich wie bei Shakespeare - etwas sind wie Schattenbilder des inneren Gewissens.

Da können wir gleichsam mit Händen greifen, wie das Gewissen für die Dichtkunst erobert wird. Wir sehen, wie Aeschylos, der große Dichter, noch nicht vom Gewissen spricht, während Euripides, sein Nachfolger, schon davon spricht. Wenn wir dies vor Augen haben, konnen wir ver~ stehen, warum menschliches Denken, menschliches irdisches Wissen auch nur ganz langsam sich hinaufarbeiten konnte zu einem Begriff vom Gewissen. Die Kraft, die im Ge­wissen wirkt, hat auch gewirkt in alten Zeiten, wo sich die Bilder, welche die Wirkungen der Taten des Menschen dar~ stellten, dem heliseherischen Schauen zeigten. Es ist die Kraft nur von außen nach innen gezogen. Aber was gehörte dazu, um sie auch zu empfinden? Das Moralische hätte man auch haben können gleichsam als Niederschlag dessen, was das menschliche Bewußtsein schon früher hatte. Um aber diese Kraft als eine innere zu empfinden, mußte man die ganze menschliche Entwickelung mitmachen, die sich den Gewissensbegriff erst nach und nach erobert hat. In dieser Zeit sehen wir zum Beispiel den großen, hehren Denker

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Sokrates stehen. Warum sollte Sokrates nicht in der Lage sein, vor allem zu sprechen, wie sich der Mensch Tugenden aneignen kann? Warum sollten nicht seine Reden den tief~ sten Eindruck machen können in bezug auf das, was sie uns als Moral vergegenwärtigen können? Und warum sollte nicht trotzdem für die Philosophie seiner Zeit der Ge~ wissensbegriff noch nicht erobert worden sein, da wir doch sehen, wie in dieser Zeit die Menschenseele erst dazu drängt, den Gewissensbegriff als den Gott, der im eigenen Innern spricht, zu entdecken? Wir werden es gerade begreiflich finden, daß Sokrates noch nicht vom Gewissen spricht, weil diese menschliche Seelenkraft damals erst von außen in das Innere hineingezogen ist.

Da sehen wir im Gewissen etwas, was sich mit dem Men­schen heranentwickelt, was der Mensch sich erringt. Wie aber muß sich dieses Gewissen zeigen? Wo muß es sich am allerintensivsten darstellen als das, was es ist? Dort, wo der Mensch mit seinem Ich noch schwach in die Ich-Entwick­lung hineingetreten ist! Das ist etwas, was wir nachweisen können in der menschlichen Entwickelung. In Griechenland selbst waren schon die Menschen etwas weiter, so daß dort die Ich-Entwicklung schon hinaufgelangt war bis zur Ver­standesseele. Wenn wir aber von der griechischen Zeit zu-rückgehen - davon weiß die äußere Geschichte nichts, Plato und Aristoteles wußten es aus der hellseherischen Anschauung heraus -, wenn wir zu dem Ägyptertum und Chaldäertum kommen, so finden wir, daß selbst die höchste Kultur etwas ist, was nicht mit einem innerlich selbständigen Ich errungen wird. Was wir aus Ägyptens und Chaldäas Heiligtümern hervorgehen sehen, das unterscheidet sich gerade dadurch von der heutigen Wissenschaft, daß wir heute die Wissenschaft

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in der Bewußtseinsseele erfassen; in der vorgriechi~ schen Zeit aber verdankte man alles den Eingebungen der Empfindungsseele. In Griechenland selber schreitet man dazu vor - und darauf beruht der Fortschritt -, daß sich das Ich hinaufentwickelt von der Empfindungsseele zur Verstan~ des~ oder Gemütsseele. Wir leben heute in der Epoche der Entwickelung der Bewußtseinsseele. Innerhalb dieser Ent­wickelung tritt also das eigentliche Ich-Bewußtsein erst so recht auf. Wer wahrhaftig die Menschheitsentwicklung be­trachtet, kann geradezu verfolgen, wenn er von der orien­talischen Kultur hinübergeht zur westlichen Kultur, daß das Fortschreiten der Menschheit so ist, daß ein immer größeres Freiheitsgefühl und eine immer größere Selbstän­digkeit auftritt. Während sich der Mensch früher ganz ab­hängig fühlte von dem, was ihm die Götter eingaben, tritt im Westen zuerst die Verinnerlichung der Kultur auf.

Das zeigt sich zum Beispiel daran, wie gerade Aeschylos danach ringt, das Bewußtsein vom Ich heraufzuholen in die menschliche Seele. An der Grenze von Orient und Okzident sehen wir Aeschylos stehen, das eine Auge nach dem Orient gerichtet, mit dem andern nach dem Okzident blickend, herausholend aus der menschlichen Seele, was sich später namentlich in der Vorstellung, dem Begriff des Ge­wissens zusammenfaßt. Wir sehen, wie Aeschylos darnach ringt, aber noch nicht in der Lage ist, die neue Form des Gewissens dramatisch zu verkörpern. Wenn man nur im­mer vergleichen will, wirft man auch alles leicht durch­einander. Man muß nicht nur vergleichen, man muß auch unterscheiden. Das ist das Wesentliche, daß im Westen alles darauf angelegt war, das Ich heraufzuholen aus der Empfindungsseele in die Bewußtseinsseele. Dumpf beschlossen

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bleibt das Ich im Osten als ein Unfreies. Im We­sten dagegen wachsen die Menschen heran, bei denen das Ich immer mehr sich hinaufringt in die Bewußtseinsseele. Wenn auch die Entwickelung zunächst so verläuft, daß das alte traumhafte Hellseherbewußtsein zum Schweigen gebracht wird, so ist doch alles dazu angelegt, das Ich auf­zuwecken, und als Wächter des Ich, als die Gottesstimme im Innern, das Gewissen entstehen zu lassen. Und Aeschylos ist der Eckstein zwischen der östlichen und der westlichen Welt; er blickt mit einem Auge nach dem Osten, mit dem andern nach dem Westen. Daher verlief der Gang der Menschheitsentwicklung in der Weise, wie wir es eben sehen konnten.

In der östlichen Welt hatten sich die Menschen ein leben­diges Bewußtsein ihres Herkommens von dem göttlichen Weltengeiste bewahrt. Aus diesem Bewußtsein heraus konnten die Verständnisse gewonnen werden für das, was einige Jahrhunderte danach geschah, nachdem die Mensch­heit in Vielen - wie in Aeschylos - darnach gerungen hatte, etwas zu finden, was im Innern als Gottesstimme spricht. Denn da hatte sich zugetragen, daß jener Impuls in die Menschheit trat, den wir bei aller Geistesbetrachtung in der Erd-~ und Menschheitsentwicklung ansehen müssen als den größten, der jemals gekommen ist, und den wir als den Christus-Impuls bezeichnen.

Durch den Christus-Impuls wurde die Menschheit erst in die Möglichkeit versetzt, zu begreifen, daß der Gott, der der Schöpfer der Dinge, der der Schöpfer auch der äußeren Hüllen des Menschen ist, in unserm Innern ver­standen und begriffen werden kann. Nur dadurch, daß die Menschheit die Gott-Menschheit des Christus Jesus

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begriff, wurde sie fähig zu begreifen, daß der Gott etwas sein kann, was zu uns in unserm eigenen Innern sprechen kann. Damit der Mensch in seinem Innern finden konnte Gott~Natur, dazu war notwendig, daß als äußeres histo~ risches Ereignis der Christus in die Menschheitsentwick~ lung hineintrat. Wäre nicht der Gott, der Christus, in dem Menschenleib des Jesus von Nazareth anwesend gewesen; hätte er nicht ein für allemal gezeigt, daß der Gott im Innern des Menschen erfaßt werden kann, weil er einmal in der Menschheit anwesend war; wäre er nicht als der Sie­ger über den Tod angesehen worden in dem Mysterium von Golgatha, so hätte niemals der Mensch begreifen kön­nen die Innewohnung der Gottheit in seinem Innern. Wer behaupten wollte, daß der Mensch die innere Durchgottung begreifen könnte ohne einen äußeren historischen Christus Jesus, der mag auch behaupten, daß wir Augen hätten, wenn es keine Sonne gäbe in der Welt. Das wird ewig wahr bleiben, daß es eine Einseitigkeit ist, wenn Philosophen sagen: ohne Augen könnten wir kein Licht sehen; also müssen wir das Licht von den Augen ableiten. Einer sol­chen Vorstellung muß immer der Satz Goethes entgegen~ gehalten werden: das Auge sei am Lichte für das Licht gebildet! Wenn keine Sonne den Raum durchleuchtete, würden sich nicht aus der menschlichen Organisation die Augen herausorganisiert haben. Die Augen sind Geschöpfe des Lichtes, und ohne die Sonne könnte nie ein Auge die Sonne wahrnehmen. Kein Auge ist fähig, die Sonne wahr-zunehmen, ohne die Kraft zum Wahrnehmen erst von der Sonne erhalten zu haben. Ebensowenig gibt es ein inneres Begreifen und Erkennen der Christus-Natur ohne einen äußeren historischen Christusimpuls. Was die Sonne ist im

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Weltenall für das Sehen, das ist der historische Christus Jesus für das, was wir die Durchdringung mit der Gott-

Natur in uns selber nennen. Um dies zu begreifen und zu verstehen, waren die Ele­mente gegeben in all dem, was vom Orient herüber kam; es mußte nur auf eine höhere Stufe gehoben werden. Die Elemente zum Begreifen des Gottes, der sich verbindet mit der Menschennatur, konnten sich allmählich entwickeln aus der orientalischen Strömung heraus. Begreifen, entgegen­nehmen, was dieser Impuls gebracht hat, dazu waren die Seelen im Westen reif; in jenem Westen, wo sich am inten­sivsten das entwickelt hat, was aus der Außenwelt in die menschliche Innenwelt hineingestiegen ist, und was als Ge­wissen wacht über ein gewöhnliches schwaches Ich. So hat sich die Seelenkraft so vorbereitet, daß das Gewissen ent­stand, das nun sagt: In uns lebt der Gott, der denjenigen erschien, welche drüben im Osten die Welt hellseherisch durchschauen konnten; in uns lebt das Göttliche!

Aber was sich so vorbereitete, hätte nicht zum Bewußt­sein kommen können, wenn nicht in diesem Hervorgehen des Gewissens selber schon der innerliche Gott wie in der Morgenröte vorausgesprochen hätte. So sehen wir, wie das äußere Verständnis für die Gottesidee des Christus Jesus im Orient geboren wird, - wie ihm aber entgegen­kommt im Westen, was das menschliche Bewußtsein als das Gewissen ausbildete. Wir sehen zum Beispiel, wie imRömer­tum gerade in der Zeit, als die christliche Zeitrechnung be­ginnt, immer mehr und mehr vom Gewissen gesprochen wird, und je weiter wir nach Westen kommen, desto deut­licher ist es im Keime oder im Bewußtsein vorhanden.

So arbeiten Osten und Westen sich gegenseitig in die

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Hände. Wir sehen die Sonne der Christus-Natur im Osten aufgehen; und wir sehen, wie sich das Christus~Auge im menschlichen Gewissen vorbereitet im Westen, um den Christus zu verstehen. Daher sehen wir den Siegeszug des Christentums nicht nach Osten, sondern nach Westen hin sich entwickeln. Im Osten breitet sich dafür ein Religions~ bekenntnis aus, das die letzte Konsequenz - wenn auch eine höchste - des Ostens ist: der Buddhismus ergreift die östliche Welt. Das Christentum ergreift die westliche Welt, weil sich das Christentum erst sein Organ im Westen ge­schaffen hat. Da sehen wir das Christentum an das ge­knüpft, was dem Westen der allertiefste Kulturfaktor ge­worden ist: den Gewissensbegriff gegliedert an das Chri­stentum.

Nicht durch eine äußerliche Geschichtsbetrachtung, son­dern indem wir innerlich die Tatsachen betrachten, kom­men wir allein zu einem Erkennen der Entwickelung. Was heute ausgesprochen ist, wird noch viele ungläubige Gemü­ter finden. Aber die Zeit drängt dazu, den Geist in der äußeren Erscheinung zu erkennen. Das vermag aber nur derjenige, der zunächst wenigstens diesen Geist dort zu er~ blicken vermag, wo er sich durch einen klar sprechenden Boten ankündigt. Das Volksbewußtsein sagt: Wenn das Gewissen spricht, spricht der Gott in der Seele. Das höchste geistige Bewußtsein zeigt uns: Wenn das Gewissen spricht, spricht wirklich der Weltengeist! Und die Geisteswissen­schaft zeigt den Zusammenhang des Gewissens mit der größten Erscheinung in der Menschheitsentwicklung, mit dem Christus-Ereignis. Kein Wunder daher, wenn für das moderne Bewußtsein dasjenige, was mit dem Gewissens-namen belegt wird, dadurch geadelt wird, dadurch in eine

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höhere Sphäre hinaufgehoben wird. Wenn gesagt wird, es wird etwas aus « Gewissen » getan, so fühlt man, daß das als zum Wichtigsten der Menschheit gehörig betrachtet wird.

So zeigt sich uns auf ungezwungene Art, daß das mensch­liche Gemüt recht hat, wenn es vom Gewissen spricht als von dem « Gotte im Menschen » Und wenn Goethe sagt, daß es für den Menschen das Höchste sei, wenn sich « Gott­Natur ihm offenbare», so müssen wir uns klar sein, daß sich der Gott dem Menschen nur im Geiste offenbaren kann, wenn die Natur uns auf ihrer geistigen Grundlage erscheint. Daß sie uns so erscheinen kann, dafür ist gesorgt in der Menschheitsentwicklung: auf der einen Seite durch das Christus-Licht, das Licht von außen, und auf der an­dern Seite durch das göttliche Licht in uns selber, durch das Gewissen. Daher darf ein Charakter-Philosoph wie Fichte wirklich vom Gewissen sagen, daß es die höchste Stimme ist in unserm Innern. Daher haben wir auch das Bewußtsein, daß an diesem Gewissen unsere individuelle Würde hängt. Wir sind Menschen dadurch, daß wir ein Ich-Bewußtsein haben; und was sich im Gewissen uns zur Seite stellt, das stellt sich unserm Ich zur Seite. Das Ge­wissen ist daher auch etwas, was wir als ein heiligstes, in­dividuelles Gut ansehen, in das uns keine äußere Welt hineinzureden hat, und wodurch wir Richtung und Ziel uns selber vorsetzen können. Daher ist das Gewissen für den Menschen etwas, was er als ein Allerheiligstes ansehen muß, von dem er weiß, es weist auf ein Höchstes, aber auch auf ein Unantastbares im menschlichen Innern hin. Da soll ihm niemand hineinsprechen, wo ihm sein Gewissen spricht!

So ist Gewissen auf der einen Seite eine Gewähr für den

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Zusammenhang mit den göttlichen Urkräften der Welt, und auf der andern Seite die Gewähr dafür, daß wir in unserm eigensten Individuellsten etwas haben, was wie ein Tropfen aus der Gottheit ausfließt. Und der Mensch kann wissen: Spricht das Gewissen in ihm, so spricht ein Gott!

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DIE MISSION DER KUNST

Die Betrachtungen dieses Winter-Zyklus über das mensch­liche Seelenleben sollen abgeschlossen werden und ausklin­gen mit einigem, was gerade im Zusammenhang mit den vorangegangenen Darstellungen gesagt werden kann über jenes Gebiet menschlichen Seelenlebens, in das sich hinein-ergießen so reiche, so gewaltige Schätze des menschlichen Innern. Es sollen unsere Betrachtungen ausklingen in einige Anschauungen über das Wesen und die Bedeutung der Kunst in der menschlichen Entwickelung. Und zwar, da das Gebiet der Kunst so umfassend ist, soll unsere Betrach­tung angelehnt werden nur an die Entwickelung der Dicht­kunst im Laufe der Menschheitsentwicklung, - und auch da ist es wohl selbstverständlich, daß wir mit unseren Be­trachtungen nur haltmachen können bei den höchsten Gip­feln des geistigen Lebens auf diesem Gebiete.

Man könnte nun sehr leicht die Frage aufwerfen: Was haben denn alle jene Seelen-Betrachtungen, die wir im Verlaufe dieses Winters angestellt haben, und die vor allen Dingen darauf hinzielten, Wahrheit und Erkenntnis zu suchen über die geistige Welt, was haben alle diese Betrach­tungen zu tun mit dem Gebiet menschlichen Schaffens, das sich vor allen Dingen ausleben will im Elemente der Schön­heit? Und in unserer Zeit könnte sehr leicht der Stand­punkt vertreten werden, daß alles, was sich durch Wissen und Erkennen auslebt, weit, weit abstehen müsse von dem, was sich auslebt durch die Kunst. In fest umschriebenen Gesetzen der Erfahrung und der Logik - so glaubt man

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wohl - müsse alles Wissen und alle Wissenschaft wandeln; in mehr willkürlichen Gesetzen des Innern, des Herzens, der Phantasie bewege sich das künstlerische Element. Wahrheit und Schönheit werden gerade im Urteil unserer Zeitgenossen vielleicht weit, weit auseinandergerückt wer­den. Und dennoch: gerade die großen führenden Persön­lichkeiten auf dem Gebiete des künstlerischen Schaffens haben immer gefühlt, daß sie mit wahrer Kunst etwas zum Ausdruck bringen wollen, was herausfließt aus denselben Quellen des Menschendaseins, ja aus den tiefsten Unter­gründen des Menschendaseins, wie auch Wissen und Er­kenntnis.

Um nur einiges anzuführen, sei hingewiesen auf Goethe, der ja nicht nur ein Sucher nach dem Schönen war, sondern auch ein Sucher nach dem Wahren; der in seiner Jugend auf allen möglichen Wegen versuchte, sich Wissen von der Welt, Antwort auf die großen Rätselfragen des Daseins zu erwerben. Bevor Goethe seine italienische Reise angetreten hatte, die ihn zu einem Lande von ersehnten Idealen füh­ren sollte, hatte er in Weimar mit seinen Freunden viel studiert, um seinem Ziel nach Erforschung der Wahrheit näher zu kommen, so zum Beispiel auch den Philosophen Spinoza. Und gewaltige Eindrücke hatten auf seine Seele die Ausführungen Spinozas über die Gottes-Idee gemacht; jene Ausführungen dieses neuzeitlichen Philosophen, der in allen Erscheinungen des Lebens die einheitliche Substanz sucht. Und Goethe glaubte mit Merck und anderen Freun­den, aus Spinoza etwas zu vernehmen wie solche Töne, die aus allen uns umgebenden Erscheinungen ankündigen die Quellen des Daseins, die ihm geben könnten etwas wie Be­friedigung eines faustischen Strebens. Aber Goethes Geist

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war zu reich, zu inhaltvoll, um in den begrifflichen Aus­einandersetzungen der Werke Spinozas ein ihm genügendes Bild von Wahrheit und Erkenntnis zu gewinnen. Was er da gefühlt hat, und was er eigentlich wollte nach den Sehn-suchten seines Herzens, das wird uns am klarsten, wenn wir ihn verfolgen während der italienischen Reise; wie er die großen Kunstwerke anschaut, die ihm einen Nachklang der Kunst des Altertums geben, und aus ihnen das heraus-fühlt, was er vergeblich zu fühlen gehofft hatte aus den Begriffen Spinozas. Deshalb schreibt er nach der Betrach­tung dieser Kunstwerke an seine weimarischen Freunde:

« So viel ist gewiß, die alten Künstler haben ebenso große Kenntnis der Natur und einen ebenso sichern Begriff von dem, was sich vorstellen läßt, und wie es vorgestellt wer­den muß, gehabt, als Homer. Leider ist die Anzahl der Kunstwerke der ersten Klasse gar zu klein. Wenn man aber auch diese sieht, so hat man nichts zu wünschen, als sie recht zu erkennen und dann in Frieden hinzufahren. Diese hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Natur-werke von Menschen nach wahren und natürlichen Geset­zen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebil­dete fällt da zusammen; da ist die Notwendigkeit, da ist Gott. » Er glaubte, wie er sagte, zu erkennen, daß die gro­ßen Künstler, die solches geschaffen haben, aus ihren Seelen heraus nach denselben Gesetzen verfuhren, nach denen die Natur selber verfährt. Was will das anders sagen, als daß Goethe glaubte zu erkennen, daß die Gesetze der Natur sich hinaufleben in die menschliche Seele und hier Kraft gewinnen, damit das, was sich auf andern Stufen als Ge-setze der Natur im mineralischen, pflanzlichen und tieri­schen Reich auslebt, wenn es seinen Durchgang genommen

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hat durch die Menschenseele, sich auslebt in den schaffenden Kräften dieser menschlichen Seele. Deshalb fühlte Goethe die wirkende Naturgesetzmäßigkeit wieder in diesen Kunstwerken und schrieb deshalb an seine weimarischen Freunde: « Alles Willkürliche, Eingebildete fällt da zusam­men; da ist Notwendigkeit, da ist Gott! » Da sehen wir denn auch in einem solchen Augenblick Goethes Herz be­wegt von der Anschauung, daß sich in der Kunst nur dann deren Höchstes offenbart, wenn sie herausquillt aus den­selben Grundlagen, aus denen auch alles Wissen und alle Erkenntnis herausquillt. Und wir fühlen dann, wie tief es aus Goethes Seele gesprochen ist, wenn er später einmal den Ausspruch tut: « Das Schöne ist eine Manifestation ge­heimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen geblieben! » So sieht Goethe in der Kunst eine Offenbarung von Naturgesetzen, eine Sprache, durch die ausgesprochen wird, was auf andere Weise durch die Erkenntnis erlangt wird in andern Forschungsgebieten.

Und wenn wir von Goethe zu einer neueren Persönlich­keit gehen, die ebenso suchte, eine Mission in die Kunst hineinzulegen und mit der Kunst der Menschheit etwas zu geben, was mit den Quellen des Daseins zusammenhängt -wenn wir zu Richard Wagner kommen, finden wir in sei­nen Schriften, in denen er sich selber klar zu werden ver­suchte über Wesen und Bedeutung des künstlerischen Schaffens, manche ähnlichen Andeutungen über die innere Verwandtschaft von Wahrheit und Schönheit, von Erkennt­nis und Kunst. So sagt er mit Anlehnung an Beethovens Neunte Symphonie, daß etwas aus diesen Klängen tönt, was wie Offenbarung ist aus einer andern Welt, und was doch so verschieden ist von all dem, was von uns in den

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bloß vernunftgemäßen oder logischen Formen aufgefaßt würde. Aber für diese Offenbarungen durch die Kunst gelte das eine zum mindesten: daß sie auf unsere Seele mit einer überzeugenden Kraft wirken und unsere Gefühle durchdringen mit einer Empfindung von Wahrheit, gegen welche eigentlich alles logisierende und bloß vernünftige Erkenntnisvermögen nicht aufkommen kann. Und ein an­dermal sagt Richard Wagner mit Bezug auf die sympho­nische Musik, daß aus den Instrumenten dieser Musik etwas herausklänge, wie wenn sie Organ wären der Schöp­fungsgeheimnisse; denn sie offenbarten etwas wie die Ur­gefühle der Schöpfung, nach denen sich das Chaos ordnete, und die bei der Harmonisierung des Welten-Chaos wirk­ten, lange bevor wohl ein menschliches Herz vorhanden gewesen sei, um diese Gefühle der Schöpfung zu verneh­men. - Also Wahrheit, eine geheimnisvolle Erkenntnis, eine Offenbarung, die sich dem an die Seite stellen kann, was man sonst Erkenntnis und Wissen nennt, sieht auch Richard Wagner in den Offenbarungen der Kunst.

Eines darf auch noch erwähnt werden: Wer im Sinne der Geisteswissenschaft vor die großen Kunstwerke der Mensch­heit tritt, der hat das Gefühl, daß aus ihnen etwas spricht, was eine andere Offenbarung ist des Wahrheitssuchens der Menschheit. Und der Geisteswissenschafter fühlt sich ver­wandt dem, was aus der Kunst spricht. Ja, es ist keine Übertreibung: Er fühlt sich den Offenbarungen des Künst­ler-Geistes verwandter als so manchem, was sonst heute als sogenannte geistige Offenbarung leichten Herzens hin­genommen wird.

Woher kommt es, daß wahrhaft künstlerische Persön­lichkeiten der Kunst eine solche Mission zuschreiben, daß

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sich das Herz des Geisteswissenschafters so hingezogen fühlt gerade zu den geheimnisvollen Offenbarungen der großen Kunst?

Wir werden eindringen in das, was Antwort auf diese Fragen geben kann, wenn wir mancherlei von dem zu­sammenfassen und anwenden, was in den Vorträgen dieses Winter-Zyklus vor unsere Seele getreten ist.

Wenn wir die Bedeutung und Aufgabe der Kunst er­kennen wollen in dem Sinne, mit dem wir es den ganzen Winter hindurch in diesen Vorträgen gehalten haben, daß wir uns Antwort geben - nicht nach menschlichen Meinun­gen und nach der Willkür unseres klügelnden Verstandes, sondern so, wie uns die Tatsachen der Welt- und die Menschheitsentwicklung selber antworten -, dann müssen wir die Frage, die wir haben, richten an die Entwickelung und Entfaltung der Kunst selber in der Menschheitsent­wicklung. Daher wollen wir uns von dem, was die Kunst gewesen ist, was die Kunst geworden ist, einmal sagen las­sen ihre Bedeutung für die Menschheit. - Allerdings, wenn wir die Anfänge der Kunst betrachten wollen, wie sie zu­nächst als Dichtkunst dem Menschen nahetritt, so müssen wir nach gewöhnlichen Begriffen weit zurückgehen. Aber wir wollen zunächst in bezug auf die Dichtkunst nur so weit zurückgehen, als menschliche physische Dokumente uns führen können. Wir wollen zurückgehen bis zu der­jenigen, heute für viele legendenhaften Gestalt, mit der sich die Kunst des Abendlandes als Dichtkunst einleitet: zu Homer, von dem die griechische Dichtkunst ihren Aus­gangspunkt nimmt, und dessen Schaffen uns erhalten ist in den beiden großen Gesängen, in den beiden großen er­zählenden Dichtungen der « Ilias » und der « Odyssee».

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Merkwürdig ist es gleich, wenn wir die beiden Dich­tungen beginnen auf uns wirken zu lassen, daß derjenige oder - da wir heute nicht über die Frage nach der Persön­lichkeit uns ergehen wollen - diejenigen, von denen diese Dichtungen stammen, uns gleich im Anfange ein unpersön­liches Element ankündigen:

« Singe, o Muse, vom Zorn mir des PeleidenAchilleus...», so beginnt die « Ilias», die erste homerische Dichtung; und wieder: « Singe mir, Muse, den Mann, den vielgereisten,...» beginnt die zweite Dichtung, die « Odyssee». Derjenige, von dem diese Verse geflossen sind, will also darauf hin­weisen, daß er das, was aus seinem Munde spricht, eigent­lich einer höheren Kraft verdankt, daß es ihm irgendwoher kommt, und daß er am besten den Tatbestand seiner Seele bezeichnet, wenn er sich nicht darauf beruft, was diese Seele selber zu sagen hat, sondern was ihr eingegeben wird von einer Macht, welche für sie - das spüren wir, wenn wir Homer nur ein bißchen verstehen - nicht nur ein Symbol war, sondern etwas ganz Gegenständliches und Wesen­haftes. Wenn heute der Mensch wenig dabei fühlt, wenn Homer sagt: « Singe, o Muse ... », dann ist das nicht die Schuld des Umstandes, daß Homer nur ein Sinnbild geben will, nur umschreiben will, was in seiner Seele vorgeht; sondern es ist vielmehr die Schuld des modernen Menschen, der in seiner Seele die Erfahrungen nicht mehr hat, aus denen herausgeflossen ist eine so unpersönliche Dichtung wie die des Homer. Verstehen allerdings können wir diese Unpersönlichkeit im Beginne der abendländischen Dicht­kunst nur, wenn wir uns fragen: Was mag denn diesem Beginne der abendländischen Dichtkunst vorangegangen sein? Woraus mag sie selber geflossen sein?

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Da kommen wir, wenn wir im geisteswissenschaftlichen Sinne die Entwickelung der Menschheit betrachten, zu den alten Fragen nach den Formen des menschlichen Bewußt­seins überhaupt. Wir haben bei unsern Betrachtungen der Menschheitsentwicklung öfters betont, daß sich die Kräfte der menschlichen Seele im Laufe der Jahrtausende geändert haben, und daß alle unsere Seelenkräfte einmal einen An­fang genommen haben. Wenn wir in die Vergangenheit zurückgehen, kommen wir zu Menschen, deren Seelen mit ganz anderen Kräften ausgestattet sind als die Seelen der heutigen Menschen. Wir haben betont, daß in urferner Vergangenheit, in die uns allerdings keine äußere Ge­schichte, sondern allein die geisteswissenschaftliche For­schung zurückführt, das ganze menschliche Bewußtsein an­ders gewirkt hat, und daß als eine natürliche Kraft der menschlichen Seele ein uraltes, traumhaftes Hellsehen allen Menschen eigen war. Bevor die Menschenseelen in das ma­terielle Leben so weit hinunter gestiegen sind, daß sie die Welt in der heutigen Weise anschauten, war ihnen die gei­stige Welt etwas durchaus Wirkliches und Wesenhaftes, das sie um sich herum wahrnahmen. Aber wir haben davon gesprochen, daß sie die geistige Welt nicht wahrnahmen in der Art des geschulten hellseherischen Bewußtseins, das verknüpft ist mit einem klar ausgesprochenen Mittelpunkt des menschlichen Seelenlebens, durch den sich der Mensch als ein Ich, als ein Selbst erfaßt. Wenn wir zurückgehen in urferne Vergangenheit, dann ist das Ich-Gefühl, das ge­worden ist, das sich entwickelt hat durch die Jahrtausende und Aberjahrtausende, noch nicht vorhanden. Dafür aber, daß der Mensch diesen Mittelpunkt in seinem Innern nicht hatte, waren seine geistigen Sinne nach außen aufgeschlossen,

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und er sah eine geistige Welt wie in einer Art realem Traum, der geistige Wirklichkeiten wiedergab. Aber es war eben doch eine Art traumhaftes, Ich-loses hellseherisches Bewußtsein.

Hineingesehen hat der Mensch in die geistige Welt, aus der sein eigentlicher innerer Mensch gekommen ist in ur­ferner Vergangenheit. Und in gewaltigen Bildern - wie in Traumbildern - standen vor seiner Seele die Kräfte, welche hinter unserem physischen Dasein stehen. In dieser geisti­gen Welt sah der Urmensch seine Götter, sah er sich ab­spielen die Tatsachen und Geschehnisse zwischen seinen Götter-Wesen. Und es ist tatsächlich ein Irrtum, wenn die heutige Forschung glaubt, daß die Göttersagen der ver­schiedenen Völker nur ein Spiel der « Volksphantasie »seien. Wenn man sich vorstellen will, daß in urferner Ver­gangenheit die menschliche Seele in ähnlicher Weise wie heute gewirkt hat, nur daß sie sich damals mehr in Phan­tasie erging als in dem in feste Gesetze eingeschnürten Verstand, und daß sich die Gestalten, die in den Götter-sagen erhalten sind, aus der Phantasie heraus geschaffen haben, dann ist das eigentlich eine Phantasie; dann phanta­sieren diejenigen, die einen solchen Glauben haben. Für den Menschen der Urzeit waren die Vorgänge, welche sich in den Mythologien darstellen, Wirklichkeiten, Realitäten. Mythen, Sagen, selbst Märchen und Legenden sind heraus-geboren aus einer ursprünglichen Fähigkeit der mensch­lichen Seele. Das hängt eben damit zusammen, daß das menschliche Ich in urferner Vergangenheit noch nicht so wirkte wie heute, daß der Mensch noch nicht seinen festen Mittelpunkt hatte, durch den er bei sich und in sich ist. Und weil er diesen Mittelpunkt noch nicht hatte, schloß er sich

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auch nicht in seinem Ich, in seiner eng umgrenzten Seele ab, trennte sich noch nicht so, wie später von der Umgebung. Er lebte in seiner Umgebung darinnen als ein Glied, das dazugehörte, während der heutige Mensch sich als Wesen abgetrennt fühlt von der Außenwelt. Und wie der Mensch heute fühlen kann, daß in seinen physischen Organismus hineinströmt und herausströmt zur Unterhaltung seines Lebens die physische Kraft, so fühlte der Mensch der Urzeit mit seinem hellseherischen Bewußtsein, daß geistige Kräfte in ihn aus- und einziehen. Er fühlte eine innige Wechsel­wirkung mit den Kräften der großen Welt. Ja, er konnte sagen: Wenn in meiner Seele etwas vorgeht, wenn ich etwas denke, fühle oder will, dann bin ich im Grunde nicht ein eingeschlossenes Wesen, sondern ein Wesen, in das hinein-wirken die Kräfte der Wesen, die ich schaue. Und diese Wesen, die ich schaue, die draußen sind, die schicken in mich hinein innere Kräfte, um mich anzuregen, Gedanken zu haben, Empfindungen zu haben, Willensimpulse zum Ausdruck zu bringen. - So fühlte der Mensch im Schoße der geistigen Welt, daß in ihm göttlich-geistige Mächte dachten; er fühlte, wenn seine Gefühle auf- und abwogten, daß darinnen geistige Mächte wirkten; und wenn sein Wille etwas vollbrachte, fühlte er, daß sich hinein ergossen in ihn göttlich-geistige Mächte mit ihrem Wollen, mit ihren Zielen. Der Mensch fühlte sich in den Urzeiten als ein Ge­fäß, durch das sich geistige Mächte zum Ausdruck brachten.

Damit weisen wir auf eine ferne Urzeit hin, die sich aber durch allerlei Zwischenstufen ausdehnte bis zu den Zeiten Homers. Leicht ist herauszufinden, wie sich Homer nur als eine Art Fortsetzer des Urbewußtseins der Mensch­heit ausnimmt. Dafür brauchen wir nur einige Züge aus

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der Wenn auch Homer nicht davon ausgeht, so lag diesem Kampf doch nicht bloß etwas zugrunde, was in allen jenen Leidenschaften und Begierden, Begriffen und Vorstellun­gen, die vom menschlichen Ich ausgehen, sich als Gegner­schaft abspielte. Waren es bloß die Leidenschaften der Tro­janer als Persönlichkeiten und als Volk gewesen, waren es bloß die Leidenschaften der Griechen als Persönlichkeiten oder Volk gewesen, welche da miteinander kämpften? Wa­ren bloß die Kräfte, die vom menschlichen Ich ausgingen, dort auf dem Kampfplatze? Nein! Die Sage, die uns die Verbindung anzeigt zwischen Urbewußtsein und homeri­schem Bewußtsein, erzählt uns, daß bei einem Fest die drei Göttinnen Hera, Pallas Athene und Aphrodite sich um den Preis der Schönheit stritten, - und daß ein menschlicher Kenner der Schönheit, Paris, der Sohn des trojanischen Königs, zu entscheiden hatte, welche die schönste sei. Und Paris hatte der Aphrodite den Apfel zugeworfen, den Preis der Schönheit, und sie hatte ihm dafür das schönste Weib auf Erden versprochen: Helena, die Gattin des Königs Menelaus von Sparta. Paris konnte Helena nur durch einen Raub erringen. Und weil die Griechen den Raub rächen wollten, rüsteten sie zum Kampfe gegen das jenseits des Ägäischen Meeres wohnende Volk der Trojaner. Dort spielte sich der Kampf ab.

Weswegen entbrennen die menschlichen Leidenschaften und alles, was Homer von der « Muse » schildern läßt? Sind es nur Dinge, die sich hier in der physischen Welt unter

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den Menschen abgespielt haben? Nein! Das griechische Be­wußtsein zeigt uns, daß hinter dem, was sich unter Men­schen zuträgt, der Streit der Göttinnen steht. - Es sucht also der Grieche noch mit seinem damaligen Bewußtsein die Ursachen dessen, was sich in der physischen Welt ab­spielt, und sagt: Ich kann hier die Kräfte nicht finden, welche die Menschenkräfte aufeinanderplatzen lassen! Ich muß hinaufgehen, dahin, wo Götter-Kräfte und Götter-Mächte einander gegenüberstehen. Die göttlichen Mächte, wie sie damals in Bildern geschaut wurden, wie wir es eben beschrieben haben, spielten hinein in den Kampf der Men­schen. Da sehen wir also herauswachsen aus dem Urbe­wußtsein der Menschheit, was uns als erstes großes Pro­dukt der Dichtkunst entgegentritt: die « Ilias » des Homer. Daher können wir sagen: In Verse gebracht, in mensch­licher Weise dargestellt vom Standpunkte eines späteren menschlichen Bewußseins aus, finden wir bei Homer noch einen Nachklang dessen, was das Urbewußtsein der Menschheit gesehen hat. Und nichts anderes ist da gesche­hen, als daß wir in der Periode vor Homer zu suchen haben jenen Punkt in der Entwickelung der Menschheit, wo sich für das Volk, das sich dann in der griechischen Welt zum Ausdruck brachte, zugeschlossen hat das hellsichtige Be­wußtsein, so daß gleichsam nur ein Nachklang davon zu­rückgeblieben ist.

Ein Mensch der Urzeit hätte gesagt: Ich sehe meine Götter kämpfen in der geistigen Welt, die meinem hell­sichtigen Bewußtsein offenliegt! So hat der Mensch der homerischen Zeit nicht mehr hineinschauen können; aber eine Erinnerung daran war noch lebendig. Und wie sich der Mensch inspiriert fühlte von den Götterwelten, in

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denen er drinnen war, so fühlte der Dichter der Homeri­schen Epen noch in seiner Seele fortwalten dieselben gött­lichen Kräfte, die früher der Mensch in sich hineinspielen fühlte. Daher spricht er: Die die Seele inspirierende Muse in mir sagt das!So schließt sich direkt die Homerische Dich­tung an den richtig verstandenen Mythos der Urzeit an. Wenn wir so Homer verstehen, sehen wir in ihm etwas auftreten, was wie ein Ersatz für die alten hellseherischen Kräfte in der menschlichen Seele wirkte. Die alte Hell­seherkraft hatte für das gewöhnliche Menschenbewußtsein durch ihr Zurückgehen das Tor zu den geistigen Welten zugeschlossen. Aber in der Entwickelung der Menschheit ist etwas zurückgeblieben wie ein Ersatz für das alte Hell-sehen. Und das ist die dichterische Phantasie bei Homer. So haben die lenkenden Weltenmächte das unmittelbar hell­seherische Anschauen dem Menschen entzogen und ihm dafür einen Ersatz gegeben, - etwas, was ähnlich wie das alte Hellsehen in der Seele leben und in der Seele eine gestaltende Kraft hervorrufen kann.

Die dichterische Phantasie ist eine Abschlagszahlung der die Menschheit lenkenden Mächte für das Hellsehen in urferner Vergangenheit.

Nun wollen wir uns noch an etwas anderes erinnern. -In dem Vortrage über «Das menschliche Gewissen» war gezeigt worden, wie an den verschiedenen Orten der Erd-entwicklung in ganz verschiedener Weise das Zurückgehen der alten hellseherischen Kräfte der Menschen stattgefun­den hat. Im Orient finden wir noch verhältnismäßig spät ein altes Hellsehen in den Seelen der Menschen vorhanden. Und wir haben auch betont, daß mehr gegen den Westen hinüber die hellseherischen Fähigkeiten bei den Völkern

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Europas weniger vorhanden sind. Das ist aber auch des­halb der Fall, weil bei diesen Völkern bei verhältnismäßig noch untergeordneten anderen Seelenkräften und Seelen-fähigkeiten ein starkes Ich-Gefühl im Seelenmittelpunkte sich geltend machte. Dieses Hervortreten des Ich-Gefühls in den verschiedenen Gegenden Europas entwickelte sich aber in der verschiedensten Weise, - anders im Norden als im Westen, anders aber namentlich in Südeuropa. Be­sonders in Sizilien und Italien entwickelte sich in den vor-christlichen Zeiten das Ich-Gefühl am allerintensivsten. Als sich im Orient noch lange die Seelenkräfte in einem Außer-sich-Sein des Menschen, ohne ein Ich-Gefühl, fortgesetzt hatten, waren in den genannten Gegenden Europas Men­schen, die ein starkes Ich-Gefühl entwickelten, weil sie nicht mehr teilhaftig waren des alten Hellsehens. In dem­selben Maße, als sich dem Menschen außen die geistige Welt entzieht, lebt das Innere, das Ich-Gefühl, auf. Und namentlich in den heutigen italienischen und sizilianischen Gegenden entwickelte sich stark das Ich-Gefühl des Men­schen. - Wie verschieden mußten daher in gewissen alten Zeiten die Seelen der asiatischen Völker - und die Seelen jener Völker, die auf den gekennzeichneten Gebieten ge­wohnt haben, gewesen sein. Drüben in Asien sehen wir noch, wie in gewaltigen Traumbildern die Weltengeheim­nisse sich vor der Seele entrollen, wie der Mensch sein gei­stiges Auge nach außen richtet und sich vor ihm abrollen die Taten der Götter. Und in dem, was dieser Mensch er­zählen kann, haben wir etwas zu sehen, was wir nennen können: die Urerzählung der der Welt zugrunde liegenden geistigen Tatsachen. Als das alte Hellsehen abgelöst wurde durch den späteren Ersatz, durch die Phantasie, da entwickelte

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sich dort besonders das anschauliche Gleichnis, das Bild. - Bei den westlichen Völkern dagegen, in Italien und Sizilien, entwickelte sich etwas, was aus einem in sich gefestigten Ich heraussproß, was eine Uberkraft entwickeln kann. Bei diesen Völkern ist es die Begeisterung, was sich der Seele entringt, ohne daß sie eine unmittelbare geistige Anschauung hat; die Ahnungen der menschlichen Seele sind es, die hinaufgehen zu dem, was die Seele ja nicht sehen kann. Da haben wir denn nicht die Nacherzählungen dessen, was man als Taten der Götter gesehen hat. Aber in dem inbrünstigen Hinlenken der Seele in dem mensch­lichen Wort oder in dem Gesange zu dem, was man nur ahnen kann, quillt aus der Begeisterung das Urgebet, das Preislied für jene göttlichen Gewalten, die man nicht sehen kann, weil das hellseherische Bewußtsein hier weniger aus­gebildet ist. Und in Griechenland, in dem Lande dazwi­schen, strömen die beiden Welten zusammen. Da finden sich Menschen, welche Anregungen von beiden Seiten her empfangen: Da kommt von Osten her die bildhafte An­schauung, und von Westen kommt herüber die Begeiste­rung, die im Hymnus sich hingibt an die geahnten göttlich-geistigen Mächte der Welt. Da wurde innerhalb der grie­chischen Kultur möglich durch das Zusammenfließen der beiden Strömungen der Fortgang der homerischen Dich­tung, deren Zeit wir zu suchen haben im achten bis neunten Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung, zu dem, was wir dann bei Aeschylos finden, drei bis vier Jahrhun­derte später in der griechischen Kultur.

Aeschylos stellt sich uns so recht dar als eine Persönlich­keit, auf die allerdings nicht mehr gewirkt hat die volle Kraft der bildhaften Anschauung des Ostens, die überzeugende

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Kraft, die zum Beispiel bei Homer noch als ein Nach­klang gegeben war des alten Anschauens der Götter-Taten und ihres Hereinwirkens in die Menschheit. Der Nach-klang war schon sehr schwach;so schwach, daß inAeschylos' Seele zunächst gefühlsmäßig etwas auftrat wie eine Art Unglaube an das, was früher in ihrem ursprünglichen hell­seherischen Zustande die Menschen in Bildern über die Götterwelt gesehen haben. Bei Homer finden wir es noch, daß er durchaus weiß, wie das menschliche Bewußtsein einst hinaufgekommen ist zu den Gewalten, die als gött­lich-geistige Gewalten hinter dem stehen, was menschliche Leidenschaften und Gefühle ausmachen in der physischen Welt. Daher schildert Homer nicht nur einen Kampf, der sich abspielt, sondern wir sehen sogar, wie die Götter ein­greifen. Zeus, Apollo greifen ein, wo die menschlichen Lei­denschaften wirken, und bringen etwas zum Ausdruck. Die Götter sind eine Realität, die der Dichter hineinwirken läßt in die Dichtung.

Wie ist das anders geworden bei Aeschylos! Auf ihn hat schon mit einer besonderen Gewalt gewirkt das andere, was vom Westen herüberkam: das menschliche Ich, die innere Geschlossenheit der menschlichen Seele. Deshalb ist Aeschylos zuerst imstande, den Menschen hinzustellen, der aus seinem Ich heraus handelt und sich loszulösen beginnt mit seinem Bewußtsein von den in ihn einströmenden Göttergewalten. An die Stelle der Götter, die wir bei Ho­mer noch finden, tritt bei Aeschylos der handelnde Mensch

- wenn auch erst in seinem Anfang. Daher wird Aeschylos der Dramatiker, der den handelnden Menschen in den Mittelpunkt der Handlung stellt. Während unter dem Ein­fluß der bildhaften Phantasie des Ostens das Epos ent­- stehen

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mußte, entwickelte sich unter dem Einfluß des sich im Westen geltend machenden persönlichen Ich das Drama, das den handelnden Menschen in den Mittelpunkt stellt. -Nehmen wir das Beispiel des Orest, der den Muttermord auf sich geladen hat und nun die Furien erblickt. Ja, Homer spielt noch hinein; so schnell vergehen die Dinge nicht. Aeschylos ist sich noch bewußt, daß einmal die Götter von den Menschen in den Bildern geschaut worden sind; aber er ist nahe daran, das aufzugeben. Ganz charakteristisch ist es, daß Apollo es ist, der noch in Homers Dichtung mit voller Macht wirkt, der den Orest anstiftet zum Mutter-mord. Nachher aber behält der Gott nicht mehr recht; nach­her regt sich das menschliche Ich, und es erweist sich, daß in Orest sich das menschliche Ich, der innere Mensch gel­tend macht. Apollo wird sogar geradezu unrecht gegeben; er wird abgewiesen. An dem, was er hereinströmen lassen will, wird gerade gezeigt, daß er nicht mehr die vollstän­dige Gewalt über Orest haben kann. Daher war auch Aeschylos der berufene Dichter für eine solche Gestalt wie den «Prometheus », der gerade jener göttliche Held ist, der darstellt die Befreiung des Menschentums von den gött­lichen Mächten und sich titanisch gegen sie auflehnt.

So sehen wir mit dem erwachenden Ich-Gefühl, das her­übergetragen wird durch die Geheimnisse der Menschheits­entwicklung aus dem Westen, und das sich begegnet in der Seele des Aeschylos mit den Erinnerungen der bildhaften Phantasie des Orients, das Drama seinen Anfang nehmen. Und ganz interessant ist es, daß uns die Überlieferung wunderbar bestätigt, was wir jetzt rein aus der geistes-wissenschaftlichen Erkenntnis heraus zu gewinnen ver­suchten.

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Da gibt es eine wunderbare Überlieferung, die halb rechtfertigt den Aeschylos, daß er keine Mysterien-Geheim­nisse verraten haben könne - dessen war er angeklagt -, da er gar nicht in den Eleusinischen Mysterien eingeweiht war. Er ist gar nicht darauf ausgegangen, etwas darzustel­len, was er hätte aus den Tempel-Geheimnissen gewinnen können, und aus dem heraus Homers Dichtungen geflossen sind. Er steht den Mysterien in gewisser Beziehung fern. Dagegen wird erzählt, daß er auf Sizilien, in Syrakus, auf­genommen habe jene Geheimnisse, die sich beziehen auf das Hervorgehen des menschlichen Ichs. Dieses Hervor-gehen des Ichs prägt sich in anderer Weise dort aus, wo wir die Orphiker entfalten sehen die alte Form der Ode, des Hymnus, den die menschliche Seele hinaufschickt zu den nicht mehr gesehenen - zu den nur geahnten göttlich-geisti­gen Welten. Da hat die Kunst einen Schritt vorwärts ge­macht. Da sehen wir, daß sie ganz naturgemäß heraus-gewachsen ist aus der alten Wahrheit, daß sie aber den Weg gemacht hat zum menschlichen Ich. Und daß sie so geworden ist, wie sie ist, weil sie erfassen sollte das den­kende, strebende und wollende menschliche Ich. Indem der Mensch von einem Leben in der Außenwelt hineinging in sein eigenes Inneres, wurden aus den Gestalten der Home­rischen Dichtung die dramatischen Persönlichkeiten des Aeschylos, entstand neben dem Epos das Drama.

So sehen wir fortleben die uralten Wahrheiten in ande­rer Form in der Kunst, sehen durch die Phantasie wieder­gegeben, was das alte Hellsehen hat gewinnen können. Und was sich die Kunst aus den alten Zeiten bewahrt hat, das sehen wir angewendet auf das zu sich selbst gekommene menschliche Ich, auf die menschliche Persönlichkeit.

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Und jetzt machen wir einen gewaltigen Schritt vorwärts. Gehen wir um Jahrhunderte weiter, bis ins dreizehnte, vierzehnte Jahrhundert der nachchristlichen Zeit zu jener gewaltigen Gestalt, die in der Mitte des Mittelalters uns in so ergreifender Art hinaufführt in die Region, die das menschliche Ich erlangen kann, wenn es sich aus sich heraus hinaufarbeitet zu der Anschauung der göttlich-geistigen Welt: gehen wir zu Dante. Dieser hat uns in seiner « Com­media » ein Werk geschaffen, über das Goethe, nachdem er es wiederholt auf sich hat wirken lassen, da es ihm im Alter wieder in derÜbersetzung eines Bekannten vor Augen trat, die Worte niederschrieb, in denen er dem Übersetzer seinenDank für die Zusendung derÜbersetzung ausdrückte:

«Welch hoher Dank ist Dem zu sagen,

Der frisch uns an das Buch gebracht,

Das allem Forschen, allen Klagen

Ein grandioses Ende macht! »

Welche Schritte ist nun die Kunst gegangen von Aeschy­los bis zu Dante? Wie stellt uns Dante wieder eine göttlichgeistige Welt dar? Wie führt er uns durch die drei Stufen der geistigen Welt, durch Hölle, Fegefeuer und Himmel, durch die Welten, die hinter dem sinnlichen Dasein des Menschen liegen?

Da sehen wir, wie allerdings in derselben Richtung man möchte sagen: der Grundgeist der Menschheitsentwick­lung weitergearbeitet hat. Bei Aeschylos sehen wir noch klar, daß er überall die geistigen Mächte noch hat: es treten dem Prometheus die Götter entgegen, Zeus, Hermes und so weiter; dem Agamemnon treten die Götter entgegen. Da ist noch der Nachklang der alten Schauungen, dessen, was

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das alte, hellsehende Bewußtsein in uralten Zeiten aus der Welt heraussaugen konnte. Ganz anders Dante. Dante zeigt uns, wie er rein durch Versenkung in die eigene Seele, durch die Entwickelung der in der Seele schlummernden Kräfte und durch die Besiegung alles dessen, was die Ent­faltung dieser Kräfte hindert, imstande geworden ist « in des Lebens Mitte», wie er charakteristisch sagt, das heißt im fünfunddreißigsten Jahre, seinen Blick hinzuwenden in die geistige Welt. Während also die Menschen mit dem alten Hellseher-Bewußtsein den Blick hinausrichteten in die geistige Umgebung, während es bei Aeschylos noch so war, daß er wenigstens rechnete mit den alten Götter-gestalten, sehen wir in Dante einen Dichter, der hinunter-steigt in die eigene Seele, der ganz in der Persönlichkeit und ihren inneren Geheimnissen verbleibt, und der durch den Weg dieser persönlichen Entwickelung hineinkommt in die geistige Welt, die er in so gewaltigen Bildern in der « Com­media » entwickelt. Da ist die Seele der einzelnen Dante-Persönlichkeit ganz allein. Da nimmt sie nicht Rücksicht darauf, was von außen offenbart ist. Niemand kann sich vorstellen, daß Dante in einer ähnlichen Weise schildern könnte wie Homer oder Aeschylos; daß er aus Überliefe­rungen übernommen hätte die Gestalten des alten Hell­sehens; sondern Dante steht auf dem Boden dessen, was im Mittelalter entwickelt werden kann ganz innerhalb der Kraft der menschlichen Persönlichkeit. Und wir haben vor uns, was wir schon öfter betont haben, - daß der Mensch dasjenige, was seinen hellseherischen Blick trübt, überwin­den muß. Das stellt uns Dante dar in anschaulichen Bildern der Seele. Wo der Grieche noch Realitäten gesehen hat in der geistigen Welt, da sehen wir bei Dante nur noch Bilder,

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- Bilder derjenigen Seelenkräfte, die überwunden werden müssen. Diejenigen Kräfte, die aus der Empfindungsseele

- wie wir dieses Seelenglied zu nennen pflegen - kommen, und die niedere Kräfte sein und das Ich von der Entwicke­lung zu höheren Stufen abhalten können, müssen über­wunden werden. Darauf weist Dante hin; und ebenso müs­sen überwunden werden diejenigen Kräfte der Verstandes-seele und Bewußtseinsseele, welche die höhere Entwicke­lung des Ichs hindern können. Auf die gegenteiligen Kräfte aber, insofern sie gute sind, weist schon Plato hin: Weisheit, die Kraft der Bewußtseinsseele; Starkmut in sich selber, die Kraft, welche der Verstandes- oder Gemütsseele entstammt, und Mäj'igkeit, dasjenige, was die Empfindungsseele in ihrer höchsten Entfaltung erreicht. Wenn das Ich durch­geht durch eine Entwickelung, die getragen ist von der Mäßigkeit der Empfindungsseele, von der Starkheit oder inneren Geschlossenheit der Verstandes- oder Gemütsseele, von der Weisheit der Bewußtseinsseele, dann kommt es all­mählich zu höheren Seelen-Erlebnissen, die in die geistige Welt hinaufführen. Aber jene Kräfte müssen erst überwun­den werden, welche der Mäßigkeit, der inneren Geschlos­senheit und der Weisheit entgegenarbeiten. Der Mäßigkeit wirkt entgegen die Unmäßigkeit, die Gefräßigkeit; sie muß überwunden werden. Daß sie bekämpft werden muß, und wie man ihr begegnet, wenn der Mensch durch seine eigenen Seelenkräfte in die geistige Welt eintreten will, das stellt Dante dar. Eine Wölfin ist für Dante das Bild für die Unmäßigkeit, für die Schattenseiten der Empfindungsseele. Dann begegnen uns die Schattenseiten der Verstandesseele als der Entwickelung widerstrebende Kräfte: Was nicht in sich geschlossener Starkmut ist, was sinnlos aggressive Kräfte

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der Verstandesseele sind, das tritt uns in Dantes Phantasie als ein zu Bekämpfendes in dem Löwen entgegen. Und die Weisheit, die nicht nach den Höhen der Welt hinaufstrebt, die sich nur als Klugheit und Schlauheit auf die Welt rich­tet, tritt uns in dem dritten Bilde, in dem Luchs, entgegen. Die «Luchs-Augen» sollen darstellen Augen, die nichtWeis­heits-Augen sind, die in die geistige Welt hineinsehen, son­dern Augen, die nur auf die Sinnenwelt gerichtet sind. Und nachdem Dante zeigt, wie er sich gegen solche der Ent­wickelung widerstrebenden Kräfte wehrt, schildert er uns, wie er hinaufkommt in die Welten, die hinter dem sinn­lichen Dasein liegen.

Einen Menschen haben wir in Dante vor uns: auf sich selbst gestellt, in sich selber suchend, aus sich selber heraus­gestaltend die Kräfte, welche in die geistige Welt hinein­führen. So ist das, was in dieser Richtung schafft, aus der Außenwelt ganz in das menschliche Innere hineingezogen.

So schildert in Dante ein Dichter, was in dem Innersten der menschlichen Seele erlebt werden kann. Da hat die Dichtung auf ihrem Weiterschreiten das menschliche Innere um ein weiteres Stück ergriffen, ist intimer geworden mit dem Ich, hat sich wiederum mehr hineingezogen in das menschliche Ich. - So standen die Gestalten, die uns Homer geschaffen hat, eingesponnen in das Netz der göttlich-geistigen Gewalten; so fühlte sich Homer selbst noch dar­innen eingesponnen, indem er sagt: Die Muse singe das, was ich zu sagen habe! Dante steht vor uns - ein Mensch, allein mit seiner Seele, die jetzt weiß, daß sie aus sich selber die Kräfte entfalten muß, die in die geistige Welt hinein­führen sollen. Wir sehen es namentlich immer unmöglicher werden, daß die Phantasie sich anlehnt an das, was von

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außen hereinspricht. Und wie hier nicht mehr bloß Mei­nungen wirken, sondern Kräfte, die im Seelenleben des Menschen tief begründet sind, das mag aus einer kleinen Tatsache hervorgehen.

Ein Epiker wollte in der neueren Zeit der Dichter werden einer heiligen Erzählung: Klopstock, ein Mensch tief reli­giöser Natur, mit sogar tieferen Untergründen wie Homer, und der daher bewußt für die neuere Zeit das sein will, was Homer für das Altertum gewesen ist. Er versuchte, Homers Sinnesart zu erneuern. Aber nun will er wahr gegen sich sein. Da kann er nicht sagen: « Sing mir, o Muse...», son­dern er muß seinen « Messias » beginnen: « Singe, unsterb­liche Seele, der sündigen Menschen Erlösung, .. » So sehen wir in der Tat, wie in denjenigen, auf die es ankommt, der Fortschritt im künstlerischen Schaffen in der Menschheit wohl vorhanden ist.

Gehen wir bei unseren Riesenschritten wiederum ein paar Jahrhunderte weiter. Schauen wir hinauf von Dante zu einem großen Dichter des sechzehnten bis siebzehnten Jahrhunderts, zu Shakespeare. Da sehen wir wieder an Shakespeare einen merkwürdigen Fortschritt, - Fortschritt jetzt hier im Sinne des « Fortschreitens » gemeint. Wie man Shakespeares Schaffen sonst werten will, das ist Sache des Gefühls, das ist Kritik. Hier handelt es sich nicht um Kritik, sondern um Tatsachen; nicht auf das Höherstellen des einen oder des andern kommt es an, sondern auf das notwendige gesetzmäßige Fortschreiten.

Wir sehen die Menschheitsentwicklung auf unserem Ge­biete, indem sie fortschreitet von Dante zu Shakespeare, merkwürdige Richtungen nehmen. Was ist uns bei Dante besonders aufgefallen? Ein Mensch steht mit sich, mit sei- nen

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Offenbarungen der geistigen Welt auf seine Art allein; er schildert das, was er als ein großes Erlebnis - aber in sei­ner Seele - erlebt hat. Können Sie sich vorstellen, daß die­ser eine Mensch, Dante, mit derselben Wahrheit wirken würde, wenn er uns fünf- bis sechsmal nacheinander seine Visionen schildern würde, einmal so, das andere Mal so? Oder haben Sie nicht das Gefühl: Wenn ein Dichter wie Dante so etwas schildert, dann ist die Welt, in die sich der Dichter dabei hineinversetzt, eine solche, die man eigentlich nur einmal schildern kann? Das hat Dante daher auch getan. Es ist die Welt eines Menschen, eines Augenblickes aber auch, in dem der Mensch eins wird mit dem, was für ihn die geistige Welt ist. Man müßte daher sagen: Dante lebt sich ein in das Menschlich-Persönliche. Und er tut es so, daß dieses Menschlich-Persönliche sein eigenes ist. Dar­auf ist er noch angewiesen, dieses eigene Menschlich-Per­sönliche nach allen Seiten hin zu durchqueren.

Jetzt gehen wir zu Shakespeare. - Shakespeare schafft eine Fülle von Gestalten; er prägt alle möglichen Gestalten:

einen Othello, einen Lear, Hamlet, eine Cordelia, Des­demona. Aber diese Shakespeare-Gestalten sind so geprägt, daß wir hinter ihnen nichts Göttliches unmittelbar sehen, wenn das geistige Auge sie in der physischen Welt sieht, mit rein menschlichen Eigenschaften, mit rein menschlichen Impulsen. Dasjenige wird in ihrer Seele gesucht, was un­mittelbar entspringt aus der Seele in bezug auf Denken, Fühlen und Wollen. Einzelne menschliche Individualitäten sind es, die Shakespeare schildert. Aber schildert er sie so, daß er in jeder Individualität Shakespeare ist, wie Dante der Mensch allein ist, der sich in seine Persönlichkeit hinein vertieft? Nein! Shakespeare ist wieder einen Schritt weitergegangen;

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er hat den Schritt gemacht, der noch weiter in das Persönliche hineingeht, nicht nur zu der einen Persön­lichkeit, sondern zu den verschiedenen Persönlichkeiten. Shakespeare verleugnet sich jedesmal selbst, wenn er Lear, Hamlet und so weiter schildert, und er ist nie versucht, zu sagen, was er für Vorstellungen hat, sondern er ist als Shake­speare vollständig ausgelöscht und lebt ganz auf in den verschiedenen Gestalten mit seiner Schaffenskraft, in den Persönlichkeiten. Stellt uns Dante in seinen Darstellungen die Erlebnisse einer Persönlichkeit dar, die Erlebnisse die­ser einen Persönlichkeit bleiben müssen, so stellt Shake­speare die aus dem inneren menschlichen Ich hervorgehen­den Impulse in den verschiedensten Gestaltungen dar. Dante ist von der menschlichen Persönlichkeit ausgegangen; aber dabei bleibt er und durchdringt die geistige Welt. Shake­speare ist in der Art um ein Stück weitergegangen, daß er aus der eigenen Persönlichkeit wieder herausgeht und hin­einkriecht in die einzelnen dargestellten Persönlichkeiten; er taucht ganz in sie unter. Er schafft nicht das, was in sei­ner Seele lebt, sondern was in den beobachteten Persönlich­keiten lebt. So schafft er uns viele Individualitäten, viele einzelne Persönlichkeiten der Außenwelt; aber so, daß er sie alle aus ihrem eigenen Mittelpunkt heraus schafft.

Also auch da sehen wir, wie die Kunstentwicklung wei­terschreitet. Nachdem sie ihren Ursprung in urferner Ver­gangenheit genommen hat von jenem Bewußtsein, in dem ein Ich-Gefühl noch gar nicht vorhanden war, ist sie in Dante dazu gekommen, den einzelnen Menschen zu erfas­sen, so daß das Ich sich selber zu einer Welt wird. Jetzt ist bei Shakespeare die Kunst so weit, daß die andern Jche die Welt des Dichters sind. Daß dieser Schritt gemacht werden

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konnte, dazu war notwendig, daß die Kunst auch s0-zusagen herunterstieg aus den geistigen Höhen, aus denen sie eigentlich entsprungen ist, in die physisch-sinnlichen Realitäten des Daseins. Und diesen Schritt gerade macht die Kunst von Dante auf Shakespeare. Versuchen wir, von dieser Seite her die beiden Gestalten, Dante und Shake­speare, nebeneinander zu stellen:

Mögen leichtherzige Ästhetiker es tadeln und Dante einen « Lehr-Dichter » schelten: wer Dante versteht und ihn mit seinem ganzen Reichtum auf sich wirken lassen kann, der fühlt es gerade als die Größe Dantes, daß alle mittelalterliche Weisheit und Philosophie aus Dantes Seele spricht. Zur Entwickelung einer solchen Seele, welche die Dichtung des Dante schaffen sollte, war notwendig der Un­terbau der ganzen mittelalterlichen Weisheit. Diese wirkte zunächst auf die Dante-Seele, und sie ersteht wieder bei jener Erweiterung der Dante-Persönlichkeit zu einer Welt. Daher aber kann die Dichtung Dantes, zunächst voll ver­ständlich, von ganzer Wirkung nur für diejenigen sein, die in den Höhen dieses mittelalterlichen Geisteslebens drin­nen stehen. Da erst sind die Tiefen und Subtilitäten der Dante-Dichtung zu erreichen.

Einen Schritt herunter hat Dante allerdings gemacht. Er versuchte, das Geistige herunterzuführen in die niederen Schichten. Das hat er dadurch erreicht, daß er seine Dich­tung nicht wie andere seiner Vorgänger in der lateinischen Sprache abgefaßt hat, sondern in der Volkssprache. Er steigt hinauf bis in die höchsten Höhen des geistigenLebens, aber er steigt hinunter in die physische Welt bis zu einer einzelnen Volkssprache. - Shakespeare muß noch weiter hinuntersteigen. Über die Art, wie Shakespeares große

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dichterische Gestalten entstanden sind, geben sich die heu­tigen Menschen mannigfaltigsten Phantasien hin. Wenn man dieses Heruntersteigen der Dichtung in die alltägliche Welt, die auf den Höhen des Daseins heute noch ziemlich verachtet ist, verstehen will, muß man sich folgendes vor die Seele halten: Man muß sich vorstellen ein kleines Thea­ter in einer Londoner Vorstadt, wo Schauspieler spielten, die man heute wahrhaftig nicht zu besonderen Größen rech­nen würde, außer Shakespeare selber. Wer ging in dieses Theater hinein? Diejenigen, die verachtet wurden von den höheren Gesellschaftsklassen Londons! Es war nobler, in London in der Zeit als Shakespeare seine Dramen auf­führte, zu Hahnenkämpfen und ähnlichen Veranstaltungen zu gehen als in dieses Theater, wo man aß und trank und die Schalen der Eier, die man gegessen hatte, auf die Bühne warf, wenn einem das Aufgeführte nicht gefiel; wo man nicht nur im Zuschauerraum saß, sondern auch auf der Bühne selber, und wo die Schauspieler mitten hindurch spielten durch das Publikum. Dort, vor einem Publikum, das zu der untersten Klasse der Londoner Bevölkerung ge-hörte, wurden zuerst aufgeführt die Stücke, von denen sich heute die Menschen so leicht vorstellen, daß sie gleich in den Höhen des geistigen Lebens gewaltet hätten! Höchstens die unverheirateten Söhne, die sich gestatten durften, an gewisse obskure Orte zu gehen, wenn sie Zivilkleidung trugen, die gingen manchmal da hinaus in dieses Theater, wo Shakespeare-Stücke gegeben wurden. Anständig wäre es nicht gewesen für einen anständigen Menschen, in ein solches Lokal zu gehen. So war zu dem Empfinden, das so­zusagen aus den naivsten Impulsen heraus kam, die Dich­tung heruntergestiegen.

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Kein Menschliches war fremd dem Genius, der hinter den Shakespeareschen Stücken steht, der nun seine Gestal­ten schuf in dieser Periode der menschlich-künstlerischen Entwickelung. So ist die Kunst heruntergestiegen selbst in bezug auf solche Äußerlichkeiten aus dem, was sich in dem schmalen Strom der menschlichen Führerschaft fühlt, zu dem, was allgemein Menschliches ist, was ganz unten im alltäglichen menschlichen Leben breit dahinströmt. Und wer tiefer sieht, der weiß, daß so etwas notwendig war wie ein Heruntertragen eines Geistesstromes aus den Höhen, um so etwas Lebensfähiges zu schaffen, wie es uns ent­gegentritt in den ganz individuellen Gestalten Shakespea­rescher Figuren.

Und jetzt gehen wir in die Zeiten, die der unsrigen schon näher liegen: zu Goethe. Versuchen wir, bei ihm anzu­knüpfen an diejenige Gestalt seines dichterischen Schaffens, in welche er hineingelegt hat alle seine Ideale, seine Be­strebungen und Entbehrungen durch sechzig Jahre hin­durch, - denn so lange hat er an seinem « Faust » gearbeitet. Alles, was sein reiches Leben erfahren hat im Innersten der Seele und im Verkehr mit der Außenwelt, und um was es gestiegen ist von Erkenntnis-Stufe zu Erkenntnis-Stufe zu einer immer höheren Lösung der Weltenrätsel, das ist alles in die Gestalt des Faust hineingesenkt, uns von dort wieder entgegenkommend. Was ist dichterisch der « Faust »für eine Gestalt?

Bei Dante konnten wir sagen: Was er uns schildert, schil­dert er als einzelner Mensch aus einer eigenen Vision her­aus. Das ist aber bei Goethe in bezug auf den Faust nicht der Fall. Goethe schildert nicht aus einer Vision heraus; er macht gar keinen Anspruch darauf, daß ihm das offenbart

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worden war in einer besonders festlichen Zeit, wie es für Dante in bezug auf die « Commedia » der Fall ist. Goethe zeigt an jeder Stelle seines Faust, daß die Dinge, die darin dargestellt sind, innerlich erarbeitet sind. Und während Dante genau die Erlebnisse so haben mußte, daß sie in die­ser einseitigen Weise dargestellt werden konnten, können wir sagen, daß die Erlebnisse, die Goethe darstellt, zwar individueller Natur sind, aber daß er das, was er innerlich erlebte, wieder umsetzte in die objektive Faust-Natur. Was Dante darstellt, ist sein persönlichstes inneres Erlebnis. Bei Goethe sind es zwar auch persönliche Erlebnisse; aber was die dichterische Figur des « Faust » tut und leidet in der Dichtung, das ist doch nicht Goethes Leben! Das war in keiner Zeit mit Goethes Leben zusammenfallend! Das ist die freie dichterische Umschöpfung dessen, was Goethe in seiner Seele erlebt hat. Während man Dante identifizieren kann mit seiner « Commedia », müßte man fast einen Literarhistoriker-Verstand haben, wenn man sagen wollte, der Faust ist Goethe! Was Goethe erlebt hat, hat er mit gro­ßer Genialität hineingeheimnist in diese dichterische Figur. Solche Behauptungen: Goethe ist Faust! - Faust ist Goethe! sind nur ein Spiel mit Worten. Faust ist zwar eine einzelne Gestalt, aber wir könnten uns nicht denken, daß eine Ge­stalt wie der « Faust » in so vielen Exemplaren geschaffen würde, wie Shakespeare seine Gestalten geschaffen hat. Das Ich, das Goethe in seinem « Faust » darstellt, kann nur ein­mal hingestellt werden. Neben dem Hamlet konnte Shake­speare noch andere Gestalten schaffen: Lear, Othello und so weiter. Man kann zwar neben dem « Faust » einen «Tasso » oder eine « Iphigenie » dichten; aber man ist sich doch des Unterschiedes bewußt, der zwischen diesen Dichtungen

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besteht. -Faust ist nicht Goethe. Faust ist im Grunde jeder Mensch. Was in seinen tiefsten Sehnsuchten lebte, das hat Goethe auch in den Faust hineingearbeitet. Aber er hat wirklich eine Gestalt geschaffen, die sich ganz loslöst als dichterische Persönlichkeit von seiner eigenen Persönlich­keit. Er hat sie so individualisiert, daß wir nicht - wie bei Dante - eine individuelle Vision vor uns haben, sondern eine Gestalt, die in jedem von uns in gewisser Weise lebt. Das ist der weitere Fortschritt der Dichtkunst zu Goethe. -Shakespeare konnte Gestalten schaffen bis zu einer solchen Individualisierung, daß er selber untertauchte in die Ge­stalten und aus ihren Mittelpunkten heraus schuf. - Goethe konnte nicht eine zweite ähnliche Gestalt neben die Faust-gestalt hinstellen. Er schafft zwar eine Gestalt, die indivi­dualisiert ist; aber es ist nicht ein individualisierter einzel­ner Mensch. Diese Gestalt ist individualisiert in bezug auf jeden einzelnen Menschen. Shakespeare ist hinuntergestie­gen in den seelischen Mittelpunkt des Lear, des Othello, des Hamlet, der Cordelia und so weiter. Goethe ist hin­untergestiegen in das, was in jedem einzelnen Menschen ein höchstes Menschliches ist. Daher aber schafft er eine Gestalt, die für jeden einzelnen Menschen gilt. Und diese Gestalt löst sich wieder los von der dichterischen Persönlichkeit selbst, welche sie schuf, so daß sie als reale, objektive Außen-gestalt vor uns steht im Faust.

Das ist wieder ein Fortschritt der Kunst auf dem Wege, den wir charakterisieren konnten. Von dem geistigen An­schauen einer höheren Welt geht die Kunst aus und ergreift immer mehr und mehr das menschliche Innere. Sie wirkt am intimsten nur im menschlichen Innern, wo es ein Mensch für sich, mit sich zu tun hat: in Dante. Bei Shakespeare

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steigt das Ich wieder heraus aus diesem Innern in die an­dern Seelen hinein. Bei Goethe geht das Ich heraus, taucht in das Seelische jeder Menschenseele unter, aber nun - so ist der Faust eben - als das, was sich in jeder einzelnen in­dividuellen Seele als typisch gleich findet. Ein Herausgehen des Ichs haben wir im Faust. Und weil das Ich nur aus sich herausgehen kann und anderes Seelisches verstehen kann, wenn es die Seelenkräfte in sich entfaltet und untertaucht in das andere Geistige, so ist es natürlich, daß beim Fort­schritt des künstlerischen Schaffens Goethe dazu geführt wurde, nicht nur die äußeren physischen Taten und Erleb­nisse der Menschen zu schildern, sondern das, was jeder Mensch erleben kann als Geistiges, was jeder Mensch findet in der geistigen Welt, wenn er sein eigenes Ich aufschließt dieser geistigen Welt.

Aus der geistigen Welt ist die Dichtung in das mensch­liche Ich hineingegangen, hat in Dante das menschliche Ich im tiefsten Innern erfaßt. Bei Goethe sehen wir das Ich wieder aus sich herausgehen und in die geistige Welt sich hineinleben. Wir sehen die geistigen Erlebnisse der alten Menschheit hineintauchen in die Ilias und Odyssee, und wir sehen in Goethes Faust die geistige Welt wieder her-aussteigen und vor den Menschen hingestellt werden. So lassen wir auf uns wirken das gewaltige geistige Schluß­tableau des Faust, wo der Mensch wieder die geistige Welt erreicht, nachdem er untergetaucht ist und sich von innen nach außen entfaltete und durch die Entfaltung der geisti­gen Kräfte eine geistige Welt vor sich hat. Es ist etwas wie eine ganz erneuerte, aber eben fortgeschrittene Wieder­holung eines Chores der Urtöne: Aus dem Unvergäng­lichen der geistigen Welt tönt heraus das, was die Mensch- heit

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als Ersatz für das geistige Schauen erlangt hat, was sie in der Phantasie in der menschlichen Vergangenheit empfangen und in vergänglicher Gestalt hinstellen konnte. Aus dem Unvergänglichen heraus sind die vergänglichen Gestalten von Homers und Aeschylos' Poesie geboren wor­den. Wieder aus dem Vergänglichen in das Unvergängliche steigt die Dichtung hinauf, indem der mystische Chor am Schlusse des Faust ausklingt in das: «Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis! » Da steigt, wie Goethe gezeigt hat, die menschliche Geisteskraft aus der physischen wieder in die geistige Welt hinauf.

Gewaltige Schritte haben wir das künstlerische Bewußt­sein durch die Welt und ihre Persönlichkeiten in der Dich­tung gehen sehen. Vom Geistigen, wo sie ihre ursprüngliche Erkenntnis-Quelle hatte, geht die Kunst aus. Das geistige Anschauen zieht sich immer mehr und mehr zurück, wie sich die äußere Sinnenwelt immer mehr vor dem Menschen ausbreitet, und wie sich damit immer mehr und mehr das menschliche Ich entwickelt. Der Mensch muß bei diesen Schritten der Weltentwicklung diesem Gange von der gei­stigen Welt zur Sinnenwelt, zur Ich-Welt folgen. Würde er diese Schritte nur äußerlich wissenschaftlich gehen können, so hätte er nur ein verstandesmäßiges Begreifen in der äu­ßeren Wissenschaft. Es wird ihm aber zunächst ein Ersatz gegeben. Was das hellseherische Bewußtsein nicht mehr sehen kann, das schafft - wie in einem schattenhaften Abglanz -die menschliche Phantasie. - Die Phantasie muß nun den Weg der Menschheit mitgehen, bis in das menschliche Selbst-gefühl, bis zu Dante. Niemals aber kann der Faden ab­reißen, der den Menschen an die geistige Welt knüpft, auch nicht wenn die Kunst heruntertaucht bis in die Vereinzelung

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des menschlichen Ichs. Die Phantasie nimmt der Mensch auf seinem Weg mit und schafft in der Zeit, als der Faust ent­steht, aus ihr heraus wieder die geistige Welt.

Damit steht der Goethesche Faust am Ausgangspunkt einer Zeit, wo es sich uns deutlich zeigt, wie die Mensch­heit wieder einmündet in die Welt, aus der ursprünglich auch die Kunst entsprossen ist. So ist es die Kunst, welche die Mission hat für die Menschen, die in der Zwischenzeit nicht durch höhere Schulung in die geistige Welt hinein­kommen können, die Fäden weiter zu spinnen von der Ur­geistigkeit zu der Zukunft-Geistigkeit. Und schon ist die Kunst so weit fortgeschritten, daß sich der Ausblick in die geistige Welt in der Phantasie wieder ergibt; aus jener Phantasie, aus der es der zweite Teil des Goetheschen Faust tut. Da heraus mag die Ahnung ergehen, daß die Mensch­heit vor dem Punkt der Entwickelung steht, wo sie wieder Erkenntnis aus der geistigen Welt haben muß, wo sie mit ihren Kräften untertauchen muß, erkennend, in die geistige Welt. So hat die Kunst den Faden fortgesponnen, hat den Menschen erahnend mit Hilfe der Phantasie hinaufgeführt in die geistige Welt und vorgearbeitet dem, was wir Geistes­wissenschaft nennen, wo mit vollem Ich-Bewußtsein und heller Klarheit der Mensch wieder hineinschauen wird in die geistige Welt, aus der auch die Kunst herausgeflossen ist, - und in welche die Kunst hineinfließt, die als eine Zu­kunfts-Perspektive vor uns steht. Hinzuführen, soweit das heute schon möglich ist, zu dieser Welt, zu der - wie wir das an Beispielen der Kunst gesehen haben - sich alle mensch­liche Sehnsucht hinentwickelt, das ist die Aufgabe der Gei­steswissenschaft, und das ist auch die Aufgabe der Aus­führungen gewesen, die dieser Winterzyklus gebracht hat.

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So sehen wir, wie in einer gewissen Beziehung diejenigen richtig fühlen, die auch als Künstler fühlen, daß das, was sie der Menschheit zu geben haben, Offenbarungen sind der geistigen Welt. Und die Kunst hat die Mission, in derjeni­gen Zeit Offenbarungen der geistigen Welt zu geben, in der die unmittelbaren Offenbarungen nicht mehr möglich waren. So durfte Goethe sagen gegenüber den Werken der alten Künstler: Da ist Notwendigkeit, da ist Gott! Sie bieten Offenbarungen geheimer Naturgesetze, die ohne die Kunst nicht gefunden werden können. Und so durfte Richard Wagner sagen: aus den Klängen der Neunten Symphonie höre er die Offenbarungen einer andern Welt, gegen welche niemals das bloß vernünftige Bewußtsein aufkommen kann. Die großen Künstler fühlten, daß sie den Geist, aus dem alles Menschliche hervorgegangen ist, von der Vergan­genheit tragen durch die Gegenwart in die Zukunft. Und so dürfen wir auch solchen Worten aus tiefstem Verstande zustimmen, die ein sich Künstler fühlender Dichter gespro­chen hat: « Der Menschheit Würde ist in eure Hand ge­geben! »

Damit versuchten wir, das Wesen und die Mission der Kunst im Verlaufe der Menschheitsentwicklung zu schil­dern und zu zeigen, daß die Kunst nicht so abgesondert stehe dem Wahrheitssinn der Menschen, wie man das heute so leicht glauben könnte, sondern daß vielmehr Goethe recht hatte, wenn er sagte, er lehne es ab, von der Idee der Schönheit und der Wahrheit als von gesonderten Ideen zu sprechen; es gibt eine Idee: die des wirksamen, gesetzmäßi­gen Göttlich-Geistigen in der Welt! und Wahrheit und Schönheit sind ihm zwei Offenbarungen der einen Idee. -Überall finden wir bei Dichtern und auch bei sonstigen

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Künstlern anklingen dieses Bewußtsein, daß in der Kunst ein geistiger Urgrund des Menschendaseins spricht. Dagegen sagen uns aus ihren Gefühlen heraus immer wieder tiefere Künstlernaturen, daß ihnen durch die Kunst die Möglich­keit gegeben worden ist, zu fühlen, daß das, was sie aus­sprechen, zugleich eine Botschaft aus dem geistigen Leben an die Menschheit selber ist. Und dadurch fühlen die Künst­ler, auch wenn sie Persönlichstes zum Ausdruck bringen, ihre Kunst hinaufgehoben zu dem allgemeinen Menschen­tum. Und daß sie wahre Menschheits-Künstler sind, wenn sie in den Gestalten und Offenbarungen ihrer Kunst ver­wirklichen das Wort, das Goethe im Chorus mysticus er­klingen läßt: «Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis! »Und wir können auf Grund der geisteswissenschaftlichen Betrachtungen hinzufügen: Die Kunst ist berufen, das Gleichnis des Vergänglichen zu durchtränken mit der Bot­schaft von dem Ewigen, von dem Unvergänglichen!

Das ist ihre Mission!

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HINWEISE

Die im Winter 1909/10 von Rudolf Steiner im Architektenhaus zu Berlin öffentlich gehaltenen Vorträge wurden von Frau Marie Steiner in den Bänden «Metamorphosen des Seelenlebens» und «Pfade der Seelenerlebnisse» 1928 und 1929 herausgegeben.

Einzelne Vorträge dieser Reihe waren auch in anderen Städten München, Stuttgart, Hamburg, Leipzig, Nürnberg, Prag, Weimar, Bonn gehalten worden. Für den Abdruck der Vorträge «Die Mission des Zornes» und «Der menschliche Charakter» haben offensichtlich die Nachschriften der in München am 5. 12. 1909 und am 14. 3. 1910 mit gleichem Thema gehaltenen Vorträge gedient. In der vorliegenden Ausgabe wurden diese Texte bei­behalten; die Berliner Nachschriften sind in den beiden Fällen unvollständiger.

Zu Seite

9 «Geheimnisvoll am lichten Tag...»: Faust, 1. Teil, Nacht

51 Karl Wilhelm Solger (17801819) ab 1811 Professor für Philo­sophie in Berlin

Robert Zimmermann (18241898) Prag, Ästhetiker und Philo­soph, Vertreter der Herbartschen Schule, Professor in Wien

64 «Was fruchtbar ist allein ist wahr!»: «Vermächtnis» (Gott und Welt)

65 «Eine falsche Lehre läßt sich nicht widerlegen, denn sie beruht ja auf der Überzeugung, daß das Falsche wahr sei; aber das Gegenteil kann, darf und muß man wiederholt aussprechen.» Sprüche in Prosa

80 «Ganz und gar bin ich ein armer Wicht...»: Sprüche in Reimen, Sprichwörtlich

81 «Hier wirds Erreichnis»: Das Zitat aus dem Faust ist so wieder­gegeben, wie es von Rudolf Steiner im Vortrag gesprochen wurde. In dem Aufsatz «Goethes Faust als Bild seiner esoterischen Welt­anschauung», abgedruckt in «Goethes Geistesart in ihrer 0ff en­barung durch seinen Faust und durch das Märchen », 6. Auflage Dornach 1956, hat Rudolf Steiner zu diesem Zitat 1918 folgende Anmerkung gemacht:

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«Der Verfasser dieser Ausführungen bekennt sich zu der von Ad. Rudolf im Archiv für neuere Sprachen LXX 1883 vorge­brachten Ansicht, daß die Schreibung nur auf einem Hörfehler des Goethes Diktat Schreibenden beruht, und daß das richtige Wort ist.» 1928 wurde eine Handschrift Goethes mit der Schreibweise «Ereignis» aus der Goethe­Sammlung von A. Kippenberg als Faksimiledruck bekannt, die gegen diese Annahme spricht.

82 in den letzten Vorträgen: bezieht sich auch auf «Die Mission der Geisteswissenschaft einst und jetzt», 14. Oktober 1909, vgl. «Pfade der Seelenerlebnisse».

127 «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geistes­wissenschaft» 1907, 3 I.34. Tausend Dornach 1947, 35.64. Tau­send Stuttgart 1948

132 Karl von Rotteck (17751840) Freiburg i. B.: Allgemeine Welt­geschichte, 9 Bde. 18 121827

148/9 Goethe: Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns. 1805, «Antikes» und «Schönheit»

183 Zu Goethes Märchen und Faust vgl. auch Rudolf Steiner:

«Goethes Geistesart in ihrer Offenbarung durch seinen Faust und durch das Märchen » 1902, 6. Auflage Dornach 1956 und «Geisteswissenschaftliche Erläute­rungen zu Goethes Faust», 1. Faust der strebende Mensch, II. Das Faust-Problem. Die romantische und die klassische Walpurgis­nacht. 2. Auflage, Freiburg 19551956

190 Bartholomäus von Carneri (18211909) vgl. auch Rudolf Steiner:

«Vom Menschenrätsel», 4. Auflage Dornach 1957, 5. 109 ff.

191 Paul Rée (18491901): «Die Illusion der Willensfreiheit», 1885 vgl. auch Rudolf Steiner «Die Philosophie der Freiheit», 1. Ka­pitel: Das bewußte menschliche Handeln

195 «Was ist Mystik?» Vortrag vom 10. Februar 1910, abgedruckt in «Die Pfade der Seelenerlebnisse»: Die Mission der Geistes­wissenschaft einst und jetzt Die Askese und die Krankheit Buddha und Christus Einiges über den Mond in geisteswissen­schaftlicher BeleuchtungLachen und Weinen Was ist Mystik? Das Wesen des Gebetes Der positive und der negative Mensch Acht öffentliche Vorträge, gehalten zwischen dem 14. Oktober 1909 und 10. März 1910 im Architektenhaus zu Berlin. 3. Auf­lage Dornach 1957

221 «Soviel ist gewiß . . .»: Italienische Reise, Rom 6. September 1787

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222 «Das Schöne ist eine Manifestation geheimer Naturgesetze. . .» Sprüche in Prosa

237 «Welch hoher Dank ist dem zu sagen...» Zahme Xenien, 23. Juli 1824

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.